Europäische Methodenlehre: Handbuch für Ausbildung und Praxis [2nd rev. ed.] 9783899498455, 9783899496345

This handbook presents methodological questions of European law, especially questions relating to European private law,

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Europäische Methodenlehre: Handbuch für Ausbildung und Praxis [2nd rev. ed.]
 9783899498455, 9783899496345

Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsübersicht
§ 1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht
1. Teil: Grundlagen
§ 2 Juristenmethode in Rom
§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie: Römische Grundlagen und Bedeutung des 19. Jahrhunderts
§ 4 Die Rechtsvergleichung
§ 5 Die ökonomische Theorie
§ 6 Vom Wert ökonomischer Argumente bei Gesetzgebung und Rechtsfindung für den Binnenmarkt
2. Teil: Allgemeiner Teil
Abschnitt 1 Rechtsquellen
§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts
Abschnitt 2 Primärrecht
§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung
Abschnitt 3 Sekundärrecht
§ 10 Systemdenken und Systembildung
§ 11 Die Auslegung
§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln
§ 13 Die Rechtsfortbildung
Abschnitt 4 Mitgliedstaatliches Recht
§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung
§ 15 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien
§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien
3. Teil: Besonderer Teil
Abschnitt 1 Methodenfragen in einzelnen Rechtsgebieten
§ 17 Europäisches Vertragsrecht
§ 18 Europäisches Arbeitsrecht
§19 Europäisches Gesellschaftsrecht
§ 20 Kapitalmarktrecht
§ 21 Europäisches Kartellrecht
Abschnitt 2 Methodenfragen in der Rechtsprechung
§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH
§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)
Abschnitt 3 Perspektiven anderer Mitgliedstaaten
§ 24 Frankreich
§ 25 Vereinigtes Königreich
§ 26 Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Italien
§ 27 Spanien
§ 28 Polen
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de Gruyter Studium

Europäische Methodenlehre Handbuch für Ausbildung und Praxis Herausgegeben von Karl Riesenhuber

2., neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage

De Gruyter

Herausgeber: Professor Dr. Karl Riesenhuber, M.C.J., Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Deutsches und Europäisches Handels- und Wirtschaftsrecht an der Ruhr-Universität Bochum.

Zitiervorschlag: Kirchner, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, 2. Aufl., § 5 Rn 55

broschierte Ausgabe: ISBN 978-3-89949-634-5 gebundene Ausgabe: ISBN 978-3-89949-633-8 eISBN 978-3-89949-845-5

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Datenkonvertierung/Satz: Werksatz Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier ● Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Die freundliche Aufnahme der ersten Auflage und die Entwicklungen in Gesetzgebung, Rechtsprechung und, besonders, in der Literatur ließen eine Neuauflage des Werkes ratsam erscheinen. Fragen der europäischen Methodenlehre beschäftigen die Rechtsanwender in der Praxis zunehmend häufig, und auch die wissenschaftliche Erörterung der damit verbundenen Grund- und Einzelfragen hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Das Grundkonzept des Handbuchs ist unverändert. Einem allgemeinen Teil, in dem Grundfragen der Methodenlehre systematisch erörtert werden, ist ein besonderer Teil nachgestellt, der diese für einzelne Rechtsgebiete exemplarisch erörtert und, wo angezeigt, rechtsgebietsspezifisch vertieft. Die Rechtsprechung der obersten deutschen Bundesgerichtshöfe wie des EuGH ist anschließend systematisch ausgewertet. Alle Kapitel sind indes aktualisiert und überarbeitet, teilweise auch völlig neu verfasst. Anregungen aus dem Leserkreis und von Rezensenten haben Herausgeber und Autoren dabei gern berücksichtigt. Auf die Anregung einer Rezension geht auch die Aufnahme von Länderberichten zur Methodendiskussion in anderen Mitgliedstaaten zurück. Das Handbuch behält damit seine in der ersten Auflage bewusst gewählte Perspektive des „deutschen Rechtskreises“, weist aber zugleich auf – teils signifikant andere – Perspektiven anderer Mitgliedstaaten hin. War schon mit der ursprünglichen Perspektive keine Verengung auf eine rein nationale Lehre intendiert, so sollen die Länderberichte zu einer weiteren Intensivierung der internationalen Diskussion beitragen. Der Vertrag von Lissabon ist umfassend berücksichtigt, auf die bisherige Rechtslage wird aber durchgehend ebenfalls noch Bezug genommen, um die Arbeit mit älteren Urteilen, Rechtsakten und Dokumenten zu erleichtern. Für die Mitwirkung an der Neuauflage danke ich meinen Mitarbeitern, die mich bei der Redaktion tatkräftig unterstützt haben, Frau Referendarin Sarah Rohde, Herrn Assessor Frank Rosenkranz, Herrn Referendar Johannes Schmiegel, Frau cand.iur. Ulrike Koch, Frau cand.iur. Sina Krefft, Frau cand.iur. Sandra Rösler und Frau stud. iur. Eva Strippel. Herrn Assessor Alexander Jüchser, jetzt Mitarbeiter in Bonn, danke ich für seinen spontanen und selbstlosen „Feuerwehreinsatz“. Besonderen Dank möchte ich Herrn Assessor Stefan Wichary aussprechen, der die Fäden der Redaktion zuverlässig in den Händen gehalten und die Verzeichnisse selbständig überarbeitet hat und mit dem ich zahlreiche inhaltliche wie redaktionelle Fragen erörtert habe. Bochum, im Juni 2010

Karl Riesenhuber

V

Inhaltsübersicht Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur §1

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. V . IX . XXIX . XXXI . LI

Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht Riesenhuber . .

1

1. Teil: Grundlagen §2 §3 §4 §5 §6

Juristenmethode in Rom Harke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie: Römische Grundlagen und Bedeutung des 19. Jahrhunderts Baldus . . . . Die Rechtsvergleichung Schwartze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ökonomische Theorie Kirchner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Wert ökonomischer Argumente bei Gesetzgebung und Rechtsfindung für den Binnenmarkt Franck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9 26 112 132 159

2. Teil: Allgemeiner Teil Abschnitt 1 Rechtsquellen §7

Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts Köndgen

. . . . . . . .

189

Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts Pechstein/Drechsler . . Die primärrechtskonforme Auslegung Leible/Domröse . . . . . . . . . . .

224 250

Abschnitt 2 Primärrecht §8 §9

Abschnitt 3 Sekundärrecht § 10 § 11 § 12 § 13

Systemdenken und Systembildung Grundmann . . . . . Die Auslegung Riesenhuber . . . . . . . . . . . . . . . Die Konkretisierung von Generalklauseln Röthel . . . Die Rechtsfortbildung Neuner . . . . . . . . . . . . . .

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285 315 349 373

§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung Roth . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 15 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien Habersack/Mayer . . . . § 16 Die Vorwirkung von Richtlinien Hofmann . . . . . . . . . . . . . . . . .

393 425 462

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Abschnitt 4 Mitgliedstaatliches Recht

VII

Inhaltsübersicht

3. Teil: Besonderer Teil Abschnitt 1 Methodenfragen in einzelnen Rechtsgebieten § 17 § 18 § 19 § 20 § 21

Europäisches Vertragsrecht Schmidt-Kessel . . . . Europäisches Arbeitsrecht Rebhahn . . . . . . . . . Europäisches Gesellschaftsrecht Windbichler/Krolop Kapitalmarktrecht Kalss . . . . . . . . . . . . . . . Europäisches Kartellrecht Ackermann . . . . . . . .

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487 511 554 605 631

§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH Stotz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB) Schmidt-Räntsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abschnitt 2 Methodenfragen in der Rechtsprechung

679

Abschnitt 3 Perspektiven anderer Mitgliedstaaten § 24 § 25 § 26 § 27 § 28

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720 748 778 797 816

Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

837

VIII

Frankreich Babusiaux . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vereinigtes Königreich Schillig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Italien Caponi / Piekenbrock Spanien Albiez Dohrmann /Sánchez Lorenzo . . . . . . . . . . . . . . . . Polen Ernst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

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. V . XXIX . XXXI . LI

§ 1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht Karl Riesenhuber I. Europa und Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

II. Gegenstände einer Europäischen Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2

III. Begriff der Europäischen Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5

IV. Der Vertrag von Lissabon

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5

I. Intuition oder Plan? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entscheidungsbegründungen und Fallanknüpfung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Systematische Rechtsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9 9 12

II. Deduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Juristenregeln als Subsumtionsbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesetzesauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 13 16

III. Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fortentwicklung des Juristenrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fortbildung des Gesetzesrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19 20 23

IV. Zusammenfassung

24

1. Teil: Grundlagen § 2 Juristenmethode in Rom Jan Dirk Harke

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie: Römische Grundlagen und Bedeutung des 19. Jahrhunderts Christian Baldus I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemstellung: Entscheidungsmechanismen und Transparenzmechanismen 2. Rechtsvergleichender Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Untersuchungsgegenstand und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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28 28 29 32

II. Römische Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Normbildung und interpretatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37 37

IX

Inhaltsverzeichnis 2. Der klassische Jurist als Ausleger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Aussagen der klassischen Jurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40 41

III. Hermeneutische Positionen um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Spätes Gemeines Recht und geistiges Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Veränderungen zwischen Aufklärung und Romantik: Grundlinien der Methodenlehre Savignys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Überblick: Folgeentwicklungen im deutschen und französischen Rechtsdenken

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45 45

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46 51

IV. Kernpunkte der Methodenlehre Savignys 1. Vorlesungen . . . . . . . . . . . . . . 2. Der „Beruf“ . . . . . . . . . . . . . . 3. Das „System“ . . . . . . . . . . . . .

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52 53 60 64

V. Deutsche Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert 1. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Überblick zu einzelnen Autoren . . . . . . . 3. Grundlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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73 73 74 84

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84

VI. Fortwirkungen im 20. Jahrhundert

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VII. Französische Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Überschneidungsbereiche . . . . . . . . . . 1. Auswahl und Problemstruktur . . . . . . 2. Nicht behandelte Rechtsordnungen . . . 3. Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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92 92 93 96

IX. Folgerungen für Europäisches Privatrecht und Gemeinschaftsprivatrecht 1. Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Perspektiven: Systembildung und differenzierte Integration . . . . . . 3. Zur Rolle der Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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XI. Epilog: Was kann historische Auslegung sein?

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X. Zusammenfassung

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§ 4 Die Rechtsvergleichung Andreas Schwartze I. Einleitung – Stellung und Funktionen der rechtsvergleichenden Methode

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II. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Entstehung von Europäischem Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primärrechtliche Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundärrechtliche Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Herkömmliche Rechtsangleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Neuartige Regelungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

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115 116 117 118 121

III. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Anwendung von Europäischem Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auslegung von Europäischem Privatrecht durch den EuGH . . . . . . . . . . . 2. Auslegung von Europäischem Privatrecht durch nationale Gerichte . . . . . . .

123 123 126

IV. Der Einsatz der Rechtsvergleichung in Forschung und Lehre zum Europäischen Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wissenschaftliche Projekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Juristische Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

128 129 130

V. Ausblick – Rechtsvergleichung in einem zunehmend integrierten Rechtsraum

X

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131

Inhaltsverzeichnis

§ 5 Die ökonomische Theorie Christian Kirchner I. Problemstellung und Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

134

II. Grundüberlegungen zur Integration ökonomischer Theorieansätze in Interpretationsansätze rechtlicher Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135

III. Grundüberlegungen zur am Normzweck ausgerichteten Interpretationsmethode rechtlicher Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

136

IV. Ökonomische Zielorientierung europäischen Unionsrechts: Implikation für die Methodik der Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ökonomische Zielorientierung europäischen Unionsrechts . . . . . . . . . . . 2. Methodische Implikationen der ökonomischen Zielorientierung des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Methodische Antworten in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Ein ökonomischer Ansatz für vergleichende Wirkungsanalysen . . . . . . . . 1. Hypothesenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unabhängige und abhängige ,ökonomische‘ Variable . . . . . . . . . . . . 3. Wirkungsweise der Änderung von Restriktionen (unabhängigen Variablen) 4. Rechtliche Regelungen als unabhängige Variable . . . . . . . . . . . . . . 5. Änderung von Restriktionen bei Konstanz der Präferenzen . . . . . . . . . 6. Annahme eigennutzorientierten Rationalverhaltens . . . . . . . . . . . . . 7. Methodologischer Individualismus/Prinzipal-Agent-Verhältnis . . . . . . 8. Wirkungsanalyse auf der Grundlage des ökonomischen Theorieansatzes .

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143 143 143 143 143 144 145 145 146

VII. Integration des ökonomischen Ansatzes in den rechtswissenschaftlichen Interpretationsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

146

V. Methodische Defizite herkömmlicher Ansätze . . . . . 1. Methodische Defizite des Zweck-Mittel-Paradigmas 2. Methodische Defizite von Wirkungsanalysen . . . . 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VIII. Wahl des ökonomischen Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ökonomische Analyse des Rechts: Verwendung des neoklassischen Ansatzes 3. Ökonomische Theorie des Rechts: Institutionenökonomischer Ansatz . . . . a) Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Annahmen der Institutionenökonomik in der positiven Theorie . . . . . c) Unterschiedlicher normativer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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147 147 148 149 149 150 151

IX. Zwischenfazit: Eine institutionenökonomische Interpretationsmethode für das europäische Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

153

X. Legislative Rechtsfortbildung: Der Beitrag der ökonomischen Theorie 1. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Positive Analyse von Normsetzungsverfahren . . . . . . . . . . . . 3. Normative Fragestellung aus institutionenökonomischer Sicht . . . 4. Ökonomische Problematik von Komitologieverfahren . . . . . . . XI. Ausblick

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154 154 155 156 157

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157

XI

Inhaltsverzeichnis

§ 6 Vom Wert ökonomischer Argumente bei Gesetzgebung und Rechtsfindung für den Binnenmarkt Jens-Uwe Franck I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Utilitarismus und Wohlfahrtsökonomik . . . . . 2. Posners „everyday pragmatism“ . . . . . . . . . 3. Kritik konsequentialistischer Denkweise (Hayek) 4. Ausdifferenzierung des ökonomischen Ansatzes a) Neue Institutionenökonomik . . . . . . . . . b) Behavioural Law and Economics . . . . . . . c) Economics of Happiness . . . . . . . . . . . 5. Zwischensumme . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Ausgestaltung der Rechtsregeln für den Binnenmarkt . . . . . . . . . . . . 1. Wirtschaftsverfassung und Wohlfahrtsgewinne durch die Integration der mitgliedstaatlichen Märkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aussicht auf Wohlfahrtsgewinne und Binnenmarktkompetenz . . . . . . 3. Zur Wahl der Regelungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorteile einheitlicher Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vorteile dezentraler Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verarbeitung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse (Behavioural Economics) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Ökonomische Argumente und Rechtsfindung für den Binnenmarkt . . . . . . 1. Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Zögerlichkeit des EuGH, explizit ökonomisch zu argumentieren . . .

178

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181 181 183 186

I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Autonomie der europäischen Rechtsquellenlehre . . . . . . . . . . . . . 2. Mehrstufigkeit und Mehrdirektionalität: einige Grundbegriffe . . . . . . . . 3. Grundfragen einer Rechtsquellenlehre des Europäischen Privatrechts . . . . a) Der Marktbürger als Adressat europäischer Rechtsquellen: von der „Drittwirkung“ zur „Horizontalwirkung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vom klassischen zum „regulatorischen“ Privatrecht – und wieder zurück?

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2. Teil: Allgemeiner Teil Abschnitt 1 Rechtsquellen § 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts Johannes Köndgen

II. Das Primärrecht, insbesondere die Grundfreiheiten als Rechtsquelle des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Grundfreiheiten als Grenze und Inpflichtnahme mitgliedstaatlicher Privatrechtsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Geltung der Grundfreiheiten unter Privatrechtssubjekten (Horizontalverhältnis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Geltung sonstigen Primärrechts in Privatrechtsbeziehungen . . . . . . . .

XII

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Inhaltsverzeichnis III. Das Privatrecht in der sekundärrechtlichen Rechtsquellenproduktion . . . . . . 1. Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Richtlinien als „unvollkommene“ Rechtsquelle . . . . . . . . . . . . . . . aa) Richtlinien als „medialisierte“ Rechtssetzung . . . . . . . . . . . . . bb) Richtlinien als fragmentarische Rechtssetzung . . . . . . . . . . . . . b) Die Unvollkommenheit des Richtlinienprivatrechts . . . . . . . . . . . . aa) Mindestharmonisierung oder Vollharmonisierung? . . . . . . . . . . bb) Defizite bei den Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Unmittelbare Wirkung von Richtlinien als Ausnahme . . . . . . . . . c) Die Bedeutung der Begründungserwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Verordnung über Gebühren beim grenzüberschreitenden Geldtransfer und bei grenzüberschreitender Mobilfunknutzung . . . . . . . . . . . . . b) Die Verordnung über die Societas Europea . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ein Europäisches Vertragsgesetzbuch als Verordnung? . . . . . . . . . . . 3. Gemeineuropäische Rechtsprinzipien des Privatrechts . . . . . . . . . . . .

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IV. „Indirekte“ Wirkungen von Unionsrecht: primär- und sekundärrechtskonforme Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Europäisches Soft Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mitteilungen und Aktionspläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Interpretative“ Mitteilungen der Kommission . . . . . . . . . . . . . . b) Empfehlungen und Aktionspläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Expertenrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Delegation auf Fachleute: Ausführungsrichtlinien unter dem sog. Lamfalussy-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Koregulierung“: Codes of Best Practice . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Résumé und Ausblick

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Abschnitt 2 Primärrecht § 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts Matthias Pechstein/Carola Drechsler I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

225

II. Rechtliche Unterscheidung zwischen intergouvernementalem und supranationalem Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsnatur des supranationalen Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsnatur des intergouvernementalen Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . .

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III. Anzuwendende Methodengrundsätze im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Auslegungsmethoden im supranationalen Unionsrecht . . . 1. Stellung des EuGH im Rahmen von Auslegungsfragen . 2. Einzelne Auslegungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . a) Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung b) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . c) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . d) Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Rechtsvergleichende Methode . . . . . . . . . . . . . 3. Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander . . . . .

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XIII

Inhaltsverzeichnis V. Auslegungsmethoden im intergouvernementalen Unionsrecht 1. Auslegung völkerrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . 2. Auslegungsmethoden gem. Art. 31 WVK . . . . . . . . . a) Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung b) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . c) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergänzende Auslegungsmittel Art. 32 WVK . . . . . . . . a) Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsvergleichende Auslegung . . . . . . . . . . . . . 4. Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander . . . . . .

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VI. Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VII. Zusammenfassung

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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung Stefan Leible/Ronny Domröse I. Funktion, Begriff und Spielarten der primärrechtskonformen Auslegung . . . . . . II. Die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts . . . . . . . 1. Das primäre Unionsrecht als Maßstab für die Auslegung abgeleiteten Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die möglichen Bezugspunkte im primären Unionsrecht . . . . . . . . . . . b) Die Auswahl des richtigen Bezugspunkts im Primärrecht: grundfreiheitenund grundrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bindung der Unionsorgane an die Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . bb) Grundfreiheitenkonforme Auslegung und Mindestharmonisierung . . cc) Grundfreiheitenkonforme Auslegung bei Totalharmonisierung . . . . . (1) Feststellung einer beschränkenden Wirkung totalharmonisierender Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Unterscheidung zwischen grundfreiheiten- und grundrechtskonformer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung abgeleiteten Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Rechtmäßigkeitsvermutung abgeleiteten Unionsrechts . . . . . . . . . b) Der Systemgedanke, der Vorrang des primären Unionsrechts und die Respektierung der Autorität des Unionsgesetzgebers . . . . . . . . . . . . 3. Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre . 4. Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts . . . . . . . . . . 1. Das primäre Unionsrecht als Maßstab für die Auslegung nationalen Rechts . a) Die möglichen Bezugspunkte im primären Unionsrecht . . . . . . . . . . b) Die Begrenzung des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts auf den Anwendungsbereich des primären Unionsrechts . . . . .

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Inhaltsverzeichnis 2. Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts . a) Der Wille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers bei der „Umsetzung“ primärrechtlicher Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Begründung auf der Grundlage des Systemdenkens? . . . . . . . . . . . . . . c) Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts und die Rücksichtnahme auf die mitgliedstaatliche Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre . . 4. Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nationales Recht des forum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nationales Recht anderer EU-Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Exkurs: Das primäre Unionsrecht als Gegenstand der Konformauslegung? 1. Primärrechtskonforme Auslegung des Primärrechts . . . . . . . . . . . 2. Sekundärrechtskonforme Auslegung des Primärrechts . . . . . . . . . 3. National-verfassungskonforme Auslegung des Primärrechts . . . . . .

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I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abschnitt 3 Sekundärrecht § 10 Systemdenken und Systembildung Stefan Grundmann II. Gesamtsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zweiebenensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zuordnung zentrale und dezentrale Regelsetzung: Bewertung und Zukunft 2. Eckpunkte-, zunehmend auch Alternativmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Eckpunktemodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Alternativmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Modell der materiellen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Freiheit – vom liberalen Freiheitskonzept zum Konzept materieller Freiheit b) Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Einführung zu den Einzelgebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Wichtige Systemfragen im Europäischen Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . 1. Von der Vertragsrechtsregulierung zum flächendeckenden Vertragsrechtsansatz a) Vertragsrechtsregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auf dem Weg zum flächendeckenden Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . 2. Ausstrahlwirkung: Frage der Generalisierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vom Verbraucherrecht zum allgemeinen Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . b) Vom Besonderen Teil zum Allgemeinen Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Beitrag des Akademischen Referenzrahmens . . . . . . . . . . . . . . d) Wettbewerb der Formen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einzelne Systemgedanken, vor allem: Besonderes Gewicht des Informationsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis a) Besonderes Gewicht des Informationsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Überblick zu weiteren Systemgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Wichtige Systemfragen im Europäischen Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . 1. Leitidee: Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften und Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften a) Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften . . . b) Betonung des Außenverhältnisses auch durch prononcierte Kapitalmarktorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften 2. Ausstrahlwirkung: Wettbewerb und Kompatibilität der Formen . . . . . . . a) Wettbewerb der Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kompatibilität der Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Generalisierbarkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Besonderes Gewicht des Informationsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ausblick

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§ 11 Die Auslegung Karl Riesenhuber I. Autonome Auslegung

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II. Ziel der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kriterien der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die grammatikalische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausgangspunkt für die Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wortlaut und Sprachenvielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Relativität der Rechtsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der sprachliche Bedeutungszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . b) Der rechtlich-systematische Bedeutungszusammenhang . . . . . . . . . c) Systematische Auslegung unter Berücksichtigung von Regelungsvorschlägen und -entwürfen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die historische und genetische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zugängliche Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Exkurs: Die Rechtsnatur der Begründungserwägungen . . . . . . . . . d) Grundsätzliche Irrelevanz eines „Vorbildrechts“ . . . . . . . . . . . . . e) Die Beachtung der vorbestehenden Regelungssituation in den Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Regelungszweck und Angleichungszweck . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Teleologische Auslegung und „praktische Wirksamkeit“ (effet utile) . . c) Die „Dynamik“ des Europäischen Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . d) Leitbilder als Hilfsmittel der teleologischen Auslegung . . . . . . . . .

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V. Einzelne Auslegungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „In dubio pro consumente“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sind Ausnahmeregeln „eng“ auszulegen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Rangfolge der Auslegungskriterien

XVI

Inhaltsverzeichnis

§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln Anne Röthel I. Methodengerechtigkeit und Kompetenzordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Konkretisierung in der gemeinschaftlichen Kompetenzordnung . 1. Institutionelle Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auslegungsbefugnis des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsfortbildungsbefugnis des EuGH . . . . . . . . . . . 2. Materielle Begründung der Konkretisierungskompetenz . . . a) Begriffliche Verweisungen auf das mitgliedstaatliche Recht b) Rechtsangleichungsintention . . . . . . . . . . . . . . . . c) Anwendung auf die Klausel-Richtlinie . . . . . . . . . . .

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IV. Konkretisierungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gemeinschaftsautonome Konkretisierungsmethode . . . . . . . . . . 2. Konkretisierung durch Auslegung am Beispiel der Klausel-Richtlinie 3. Maßstäbe der Rechtsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Referenzordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Erfordernis einer gemeinschaftsautonomen Referenzordnung . bb) Sekundärrechtliche Referenzordnungen . . . . . . . . . . . . b) Prinzipien und Leitbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Auf dem Weg zum Referenzrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Aufgabenwahrnehmung durch den EuGH . . . . . . . . . . . 1. Océano . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiburger Kommunalbauten . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grundannahmen der EuGH-Rechtsprechung . . . . . . . . 4. Weiterführungen: Konkretisierung und Vollharmonisierung

V. Konkretisierung als Prozess

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§ 13 Die Rechtsfortbildung Jörg Neuner I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Terminologie des Gemeinschaftsrechts . . . . . 2. Zur Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts . . . 3. Zur Besonderheit des Gemeinschaftsrechts . . . . . II. Die Befugnis zur Rechtsfortbildung 1. Die rechtsprechende Gewalt . . 2. Die gesetzgebende Gewalt . . . 3. Die faktische Gewalt . . . . . .

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III. Die Schranken der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . 1. Die Bindung an das Gesetz . . . . . . . . . . . . . a) Die kompetentielle Dimension . . . . . . . . . aa) Das institutionelle Gleichgewicht . . . . . . bb) Die konkurrierende Regelungszuständigkeit b) Die inhaltliche Dimension . . . . . . . . . . . . aa) Die Wortsinngrenze . . . . . . . . . . . . . bb) Die gesetzgeberische Regelungsabsicht . . . c) Die zeitliche Dimension . . . . . . . . . . . . . aa) Die Vorwirkung . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Rückwirkung . . . . . . . . . . . . . .

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XVII

Inhaltsverzeichnis 2. Die Bindung an das Präjudiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Grundsatz der Entscheidungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Grundsatz des Vertrauensschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Methodik der Rechtsfortbildung . . . 1. Die Rechtsfindung praeter legem . . . . a) Die Lückenfeststellung . . . . . . . . aa) Das externe System . . . . . . . bb) Das interne System . . . . . . . b) Die Maßstäbe der Lückenausfüllung aa) Der Gleichheitssatz . . . . . . . bb) Das Primärrecht . . . . . . . . . c) Die Grenzen der Lückenausfüllung . aa) Analogieverbote . . . . . . . . . bb) Unausfüllbare Lücken . . . . . . 2. Die Rechtsfindung contra legem . . . . a) Die Feststellung der Nichtigkeit . . . b) Die Folgen der Nichtigkeit . . . . . . c) Die Einzelfallgerechtigkeit . . . . . .

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V. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

392

Abschnitt 4 Mitgliedstaatliches Recht § 14 Die richtlinienkonforme Auslegung Wulf-Henning Roth I. Unionsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auslegung der lex fori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaats . . . . . . 2. Richtlinien- und unionsrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . 3. Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Richtlinienkonforme Auslegung und unmittelbare Anwendbarkeit 5. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. „Auslegung“ und Rechtsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Methodische Vorgaben für die nationalen Gerichte . . . . . . . . a) „So weit wie möglich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Umsetzungsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Methodische Gleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Schranken einer richtlinienkonformen Auslegung . . . . . . . . . a) Allgemeine Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Richtlinienkonforme Auslegung auch zu Lasten des Einzelnen? c) Schranken des nationalen (Verfassungs-)Rechts . . . . . . . .

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II. Die Umsetzung im nationalen (deutschen) Recht . . . . . . . . . . . . . . 1. Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung kraft nationalen Rechts . . a) Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wille des deutschen Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Berücksichtigung im Rahmen der klassischen Auslegungsmethoden . . 3. Richtlinienkonforme Auslegung als interpretatorische Vorrangregel . . 4. Richtlinienkonforme Auslegung und ihre Grenzen im nationalen Recht 5. Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . .

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XVIII

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. . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhaltsverzeichnis a) Grundlage: Bindung an die Richtlinie über Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Lücke als Voraussetzung der Rechtsfortbildung? . . . . . . . . . . c) Die Instrumente der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Grenzen der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Normenkollisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Unmittelbar anwendbares Richtlinienrecht . . . . . . . . . . bb) Nicht unmittelbar anwendbares Richtlinienrecht . . . . . . .

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I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Grundtatbestand der überschießenden Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . 2. Die überschießende Umsetzung als Rechtsproblem . . . . . . . . . . . . . . . .

426 426 429

§ 15 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien Mathias Habersack/Christian Mayer

II. Tatbestand und europarechtliche Zulässigkeit der überschießenden Umsetzung 1. Fallgruppen überschießender Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Persönlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verbraucherschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Handels-, Bilanz- und Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Lauterkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sachlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Örtlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abgrenzung der überschießenden Umsetzung gegenüber verwandten Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inhaltliche Übererfüllung von Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Fakultative Umsetzung, opt-out . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Textgleiche Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur europarechtlichen Zulässigkeit von überschießender Umsetzung und inhaltlicher Übererfüllung von Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Auslegung des nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus Gemeinschaftsrecht? . . . . . . . . a) Unmittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung auch im Überschussbereich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtsprechung des EuGH zu TRIPS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Keine Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus nationalem Recht . . . . . . . 4. Kriterien zur Auslegung der Norm im Überschussbereich . . . . . . . . . a) Auslegung als interpretatorische Gesamtabwägung . . . . . . . . . . . b) Bedeutung des gesetzgeberischen Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vermutung für einheitliche Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Gründe für eine gespaltene Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verfassungskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Überwiegende Bedeutung der Sachentscheidung und erhebliche Abweichung von dieser durch die richtlinienkonforme Auslegung . cc) Zusätzliche Auslegungsgesichtspunkte, die nur im überschießenden Bereich der Norm vorhanden sind . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Überschießende Umsetzung und Internationales Privatrecht . . . . . . . . . . . . .

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V. Zur Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . .

458

XIX

Inhaltsverzeichnis 1. Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Präzisierung der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vorlagemöglichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien Christian Hofmann I. Einleitung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

II. Allgemeine Grundsätze zur Wirkung von EU-Richtlinien 1. Umsetzungspflicht nach Ablauf der Umsetzungsfrist . 2. Graduelle Entfaltung von Rechtswirkung . . . . . . . 3. Keine Bindungswirkung durch Richtlinienvorschläge .

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III. Das sog. Frustrationsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Vorgaben in der Rechtssace Inter-Environnement Wallonie . . . b) Die Vorgaben in den Rechtssachen ATRAL, Mangold und Stichting 2. Keine generelle Sperrwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsfolgen des Frustrationsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Keine Auswirkungen auf die Horizontalwirkung von Richtlinien . . .

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IV. Die Bedeutung der Vorwirkung für die Auslegung nationalen Rechts . . . . . . 1. Umsetzung durch den Gesetzgeber vor Ablauf der Umsetzungsfrist . . . . . . 2. Auslegung während des Laufs der Umsetzungsfrist vor legislativem Tätigwerden a) Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Adeneler . . . . . . . . . . b) Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Berechtigung und Verpflichtung der Rechtsprechung zu richtlinienkonformer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Geteiltes Meinungsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . c) Nationale Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Europäische Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Die Vorwirkung von Richtlinien bei der Anwendung nationaler Vorschriften durch die Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zusammenfassung

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3. Teil: Besonderer Teil Abschnitt 1 Methodenfragen in einzelnen Rechtsgebieten § 17 Europäisches Vertragsrecht Martin Schmidt-Kessel I. Vertragsrecht als Topos im Europäischen Rechtssystem . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vertragsrecht statt Obligationenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Begriffskern und Unschärfen am Begriffsrand . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Methoden des Unionsrechts im Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Normative Besonderheiten des Vertragsrechts und deren Konsequenzen für das methodische Instrumentarium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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XX

Inhaltsverzeichnis 1. Instrumentarium des Vertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ergänzungsfunktion des dispositiven Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwingendes Recht als Grenze der Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Vertragsauslegung . . . . . . . . . . . . . 1. Parteiwille als maßgebliches Kriterium . 2. Objektivierungen . . . . . . . . . . . . a) Bestimmung des Auslegungsmaterials b) Risikozuweisungen . . . . . . . . . .

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V. Zum Umgang mit dispositivem Vertragsrecht . . . . . . . . 1. Anpassung der Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beschränkte Bedeutung des klassischen Kanons . . . . . a) Wortlaut und Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . b) Telos der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Systemgestützte Erwägungen . . . . . . . . . . . . . 3. Auswirkungen auf die Rechtsquellenlehre . . . . . . . . 4. Parteidispositives, aber staatenzwingendes Vertragsrecht

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VII. Ausblick: Methodenfragen im Umgang mit dem Gemeinsamen Referenzrahmen 1. Funktionen des Gemeinsamen Referenzrahmens . . . . . . . . . . . . . . . 2. Systembildung durch den Gemeinsamen Referenzrahmen . . . . . . . . . . 3. Zur künftigen Auslegung des Instruments . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Anwendungsfragen bei zwingendem Vertragsrecht 1. Vertragsfreiheit als Auslegungsdirektive . . . . 2. Anwendung des etablierten Kanons? . . . . . . 3. Zur Leitbildfunktion des dispositiven Rechts . 4. Verbot der Analogie? . . . . . . . . . . . . . .

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§ 18 Europäisches Arbeitsrecht Robert Rebhahn II. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unterschiede je nach Rechtsquelle oder Rechtsgebiet? 2. Verweis auf Vorjudikatur . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schlussanträge der Generalanwälte . . . . . . . . . . 4. Einheitliche Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Ausgewählte Entscheidungen und Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff des Arbeitnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

541 541

III. Zu den verschiedenen Argumenten . . . . . . . . . 1. Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtstextzusammenhang . . . . . . . . . . . . 3. Kompetenzkonforme Interpretation? . . . . . . . 4. Regelungszweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Inneres System und favor laboris als Argumente? 6. Pragmatische Schlüsse . . . . . . . . . . . . . . 7. Entstehungsgeschichte und Rechtsvergleichung . 8. Allgemeine Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . a) Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . . . . . c) Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . .

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XXI

Inhaltsverzeichnis 2. 3. 4. 5. 6.

Verbot der Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundfreiheiten und Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . Individualarbeitsrecht: Arbeitszeit, Betriebsübergang, Nachweis Kollektives Arbeitsrecht und Mitwirkung der Sozialpartner . . Unmittelbare Wirkung von Richtlinien . . . . . . . . . . . . .

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V. Richter und Urteilsstile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht Christine Windbichler/Kaspar Krolop I. „Gesellschaftsrecht“ im europäischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eingrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Europäische Regelungsdichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dynamik der Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aktuelle Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Allgemeine Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Methodische Aspekte der aktuellen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . 4. Besonderheiten des Gesellschaftsrechts und die Frage der Systemkonvergenz II. Anwendungsbeispiel: Die verdeckte Sacheinlage . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Praktisches Ausgangsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Interessenlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Inferent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Gesellschaft selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Gläubiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Übrige Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ökonomische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtlicher Einstieg: Nationales Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . a) Forderungseinbringung als Sacheinlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Lästigkeit“ des Sacheinlageverfahrens und der Versuch der Vermeidung c) Die Lehre von der verdeckten Sacheinlage als Reaktion . . . . . . . . . 3. Erschließung der europäischen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorlage beim EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) 1. Fragenkreis: Mindest- oder Höchstnorm . . . . . . . . . . . . . bb) 2. Fragenkreis: Rechtfertigung allgemeinen Umgehungsschutzes . . b) Methodische Erträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Europäische und nationale Entwicklungsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . 1. Europäische Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesellschaftsrecht allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kapitalaufbringungsschutz im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kollisionsrechtliche Ebene: Wahlfreiheit hinsichtlich des Gesellschaftsstatuts a) Gewährleistung der Wahlfreiheit des Gesellschaftsstatuts . . . . . . . . . b) Bestimmung der Reichweite des Gesellschaftsstatuts . . . . . . . . . . . . aa) Die Einordnung nach nationalem Kollisionsrecht: Fallbeispiel Insolvenzverschleppungshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die europarechtliche Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis 3. Verzahnung von europäischer und nationaler Ebene: Methodenfragen bei der SE a) Das Verhältnis der Vorgaben in der SE-VO zum nationalen Recht . . . . . . b) Die doppelte Dimension von Satzungsstrenge und Satzungsautonomie bei der SE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Stellung der Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer bei der SE in der Normenhierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Nationale Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesellschaftsrecht allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kapitalaufbringungsschutz im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) SE als besondere Herausforderung im Wettbewerb der Rechtsordnungen . . 5. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 20 Kapitalmarktrecht Susanne Kalss I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Junges dynamisches Rechtsgebiet . . . . . . . . . . . . . . . 1. Dramatische Änderung des Markts . . . . . . . . . . . . 2. Das neue kapitalmarktrechtliche Normsetzungsverfahren 3. Die Rolle von CESR bei der Normsetzung und -auslegung 4. Besonderheiten für die Interpretation der Normen . . . . 5. CESR – Dritte Regelungsebene . . . . . . . . . . . . . . . 6. Exkurs: Internationale Rechnungslegungsstandards . . . .

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III. Effizienz als Maßstab des Kapitalmarktrechts

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IV. Kapitalmarktrecht – Eine Querschnittsmaterie 1. Öffentliches – Privates Recht . . . . . . . . 2. Wohlverhaltensregeln – eine Doppelnatur . 3. Auslegung der Regelungen mit Doppelnatur 4. Vertragliche Regelungen . . . . . . . . . . 5. Schutzgesetzcharakter von Normen . . . . 6. Gespaltene Interpretation . . . . . . . . . .

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V. Resümee

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§ 21 Europäisches Kartellrecht Thomas Ackermann I. Die Quellen des EU-Kartellrechts . . . . . . . . . . . 1. Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Kartellverordnung . . . . . . . . . . . . . . b) Gruppenfreistellungsverordnungen . . . . . . . c) Die Fusionskontrollverordnung . . . . . . . . . 3. Bekanntmachungen und Leitlinien der Kommission

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II. Die Interpretation EU-kartellrechtlicher Normen . . . . . . . . . . . . . . . 1. Autonome Begrifflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Bedeutung ökonomischer Erkenntnisse für die Kartellrechtsanwendung 3. Das Verhältnis der europäischen zur nationalen Anwendungsebene: Das Kohärenzgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Rolle der europäischen Judikative: Einschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte durch Beurteilungsspielräume? . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis III. Die Ausstrahlung des EU-Kartellrechts auf das mitgliedstaatliche Kartellrecht 1. Vorrang des EU-Kartellrechts und autonome Anpassung des mitgliedstaatlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die europarechtsorientierte Auslegung des deutschen Kartellrechts . . . . a) Europarechtsorientierung als Resultat der Auslegung angeglichener GWB-Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vorlagemöglichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dynamische Verweisung auf Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abschnitt 2 Methodenfragen in der Rechtsprechung § 22 Die Rechtsprechung des EuGH Rüdiger Stotz I. Die Herausforderung – Über Heterogenität zur Einheitlichkeit II. Die Auslegung nationalen Rechts

III. Die Auslegung des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Auslegungskanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Auslegung“ durch den Gerichtshof und „Anwendung“ durch das nationale Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unionsrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Die Bedeutung von Präjudizien V. Ausblick

§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB) Jürgen Schmidt-Räntsch I. Mögliche Gegenstände der Auslegung durch die OGB 1. Öffentliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zivil- und Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . 3. Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Auslegungskompetenz der OGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auslegungsmonopol des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auslegung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anwendung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gültigkeit des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorlagerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entscheidungserhebliche Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vorlagezeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vorlageberechtigte Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Vorlageermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vorlagepflicht der OGB gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV/234 Abs. 3 EG a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausnahmen von der Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Klärung durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Offenkundigkeit der Auslegung des EU-Rechts . . . . . . . . cc) Klärung anhand der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . c) Verstöße gegen die Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vorlageverfahren vor den OGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis a) Form und Anlass der Vorlage b) Inhalt des Vorlagebeschlusses aa) Tenor . . . . . . . . . . . bb) Begründung . . . . . . . cc) Praxis der OGB . . . . . c) Technische Abwicklung . . . 5. Vorlageverfahren vor dem EuGH a) Schriftliches Vorverfahren . . b) Mündliche Verhandlung . . . c) Urteil des EuGH . . . . . . .

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III. Auslegungssituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorabentscheidungsersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abwehr von Vorabentscheidungsersuchen . . . . . . . . . 3. Anwendung unmittelbar geltenden Gemeinschaftsrechts . a) Primäres Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . b) Verordnungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Öffentliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Richtlinien und (Rahmen-)Beschlüsse . . . . . . . . . . 4. Anwendung von Umsetzungsvorschriften . . . . . . . . . a) Umsetzungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auslegung von Umsetzungsvorschriften . . . . . . . . aa) EU-konformeAuslegung . . . . . . . . . . . . . . bb) Überschießende Umsetzung . . . . . . . . . . . . c) Sonderfall: Umsetzung durch Generalklauseln . . . . . 5. Anwendung ausfüllungsbedürftiger nationaler Vorschriften 6. Haftung für verspätete Umsetzung von EU-Recht . . . . a) EU-rechtliche Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Amtshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Überbrückung von Umsetzungsdefiziten . . . . . . . . . . a) Allgemeine Folgen von Umsetzungsdefiziten . . . . . . b) Überbrückung durch Rechtsprechung . . . . . . . . .

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IV. Auslegungsmethoden . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . 2. Wortlautauslegung . . . 3. Systematische Auslegung 4. Historische Auslegung . 5. Teleologische Auslegung

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V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abschnitt 3 Perspektiven anderer Mitgliedstaaten § 24 Frankreich Ulrike Babusiaux . . . . . . . . . . . . .

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II. Zum Verhältnis von nationalem französischen Recht und Gemeinschaftsrecht . . . 1. Primäres Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundäres Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I. Die europäische Rechtsangleichung als Rechtsquellenfrage

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XXV

Inhaltsverzeichnis III. Die Veränderung der richterlichen Funktion als Methodenproblem . . . . . . . . 1. Das traditionelle Verständnis der jurisdiktionellen Funktion . . . . . . . . . . 2. Der nationale Richter als Anwender des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . a) Unmittelbarkeitsgrundsatz (immédiateté) und Auslegungshoheit des EuGH b) Anwendungsvorrang (primauté) des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . aa) Gewaltenteilung im Gerichtswesen und Gemeinschaftsrecht . . . . . . bb) Die Parteiautonomie und die Berücksichtigung des Gemeinschaftsrechts von Amts wegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die (notwendige) Koordination von Rechtsquellen nationalen und gemeinschaftsrechtlichen Ursprungs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die primärrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die sekundärrechts-, insbesondere richtlinienkonforme Auslegung . . . . . c) Das Gemeinschaftsrecht als Inspirationsquelle der Rechtsfortbildung . . .

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IV. Zusammenfassung und vergleichende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 25 Vereinigtes Königreich Michael Schillig I. Vorbemerkung

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II. Fallrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vertikale und horizontale Dimension der Präjudizienbindung 2. Methodik des Fallrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsschöpfung durch die Gerichte? . . . . . . . . . . . . .

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IV. Innerstaatlicher Anwendungsbefehl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Europäisches Privatrecht und nationale Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Auslegung Europäischen Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorlagepraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die klassische Auslegung nach dem Wortlaut . . . . 2. Die moderne Auslegung nach Sinn und Zweck . . . 3. Auslegung und Präjudizienbindung . . . . . . . . .

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VI. Richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts . . . . . 1. Spezifisches Umsetzungsrecht . . . . . . . . . . . . . . 2. Sonstiges Recht im Anwendungsbereich einer Richtlinie 3. Common law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Überschießende Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . 5. Vorwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 26 Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Italien Remo Caponi / Andreas Piekenbrock I. Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Akzeptanz der EU in Italien . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Teilnahme Italiens am Aufbau Europas . . . . . . . . 2. Bedeutung der gubernativen Rechtsetzung in Italien . . . 3. Jedes Europa rettet Italien! . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis 4. Gemeinschaftsrecht in Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Informationslücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gemeinschaftsrecht und italienisches Recht . . . . . . . . . 1. Der Standpunkt des Verfassungsgerichtshofs . . . . . . 2. Die Doktrin der „controlimiti“: Stand der Dinge . . . . 3. Die Doktrin der „controlimiti“: Kritische Aspekte . . .

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IV. Die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts durch nationale Rechtsakte . . . . . . . . 1. Das „Gemeinschaftsrechtsgesetz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rolle der Regionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

786 786 786

V. Auslegung von Rechtsnormen: Grundlagen und aktuelle Tendenzen . . . . . 1. Gesetzliche Auslegungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Rechtsprechung des italienischen Kassationshofs . . . . . . . . . . aa) Erster Fall: Schmerzensgeld bei Persönlichkeitsrechtsverletzung . . bb) Zweiter Fall: Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen bei Wachkomapatienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gemeinsamkeiten und Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Kassationshof als ‚faktischer Verfassungsgerichtshof‘ . . . . . . . d) Notwendigkeit einer Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . .

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787 787 788 789 789 789

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VI. Auslegung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Schluss

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793 796

§ 27 Spanien Klaus Jochen Albiez Dohrmann/Sixto Sánchez Lorenzo I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Europäische Methodenlehre in Spanien . . . . . . . . . . . . 1. Vorrang des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . 2. Der besondere Rechtspluralismus . . . . . . . . . . . . . 3. Auslegung und Rechtsfortbildung des Gemeinschaftsrechts 4. Die Rolle der Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Soft Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nicht-legislatorische und präventive Harmonisierung b) Die primärrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . 2. Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Umsetzungstechniken . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wirkungen nach der Umsetzungsfrist . . . . . . . . . c) Die Vorwirkung von Richtlinien . . . . . . . . . . . . d) Die nichtrichtlinienkonforme Auslegung . . . . . . .

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798

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799 799 800 802 804 805

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806 806 806 807 808 808 813 814 815

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§ 28 Polen Ulrich Ernst . . . . . . . . . . . . . . .

816

II. Rechts- und Gerichtssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I. Polen – Junger Mitgliedstaat und Transformationsland

817

XXVII

Inhaltsverzeichnis III. Beschäftigung mit Methodenfragen in Wissenschaft und Praxis 1. Organisation von Forschung und Lehre . . . . . . . . . . . 2. Abstrakter Ansatz der überkommenen Rechtstheorie . . . . 3. Verhältnis von Rechtsprechung und Lehre . . . . . . . . . . IV. Allgemeine Fragen europäischer Methodenlehre . . . . . . . . 1. Europarecht als Untersystem des polnischen Rechts . . . . 2. Vorlage nach Art. 267 AEUV/234 EG . . . . . . . . . . . . 3. Zeitliche Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sprachprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Europakonforme Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . .

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818 818 819 821 822 822 824 827 829 831

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VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Europäische Methodenfragen in ausgewählten Rechtsgebieten

XXVIII

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Autorenverzeichnis Dr.iur., LL.M., Professor an der Ludwig-MaximiliansUniversität München Klaus Jochen Albiez Dohrmann Dr.iur., Professor an der Universität Granada Ulrike Babusiaux Dr.iur., Professorin an der Universität Zürich Christian Baldus Dr.iur., Professor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Remo Caponi Dr.iur., Professor an der Universität Florenz Ronny Domröse Wiss. Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) Carola Drechsler Dr.iur., Juristin am Unabhängigen Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein Ulrich Ernst Dr.iur., magister prawa, adiunkt an der JagiellonenUniversität Krakau Jens-Uwe Franck Dr.iur., LL.M., LL.M.oec., Akademischer Rat an der Ludwig-Maximilians-Universität München Stefan Grundmann Dr.iur. Dr.phil., LL.M., Professor an der HumboldtUniversität zu Berlin Mathias Habersack Dr.iur., Professor an der Eberhard Karls Universität Tübingen Jan Dirk Harke Dr.iur., Professor an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Richter am Oberlandesgericht Nürnberg Christian Hofmann Dr.iur., LL.M. oec.int., Privatdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin Susanne Kalss Dr.iur., LL.M., Professorin an der Wirtschaftsuniversität Wien Christian Kirchner Dr.iur., Dr.rer.pol., LL.M., Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin Johannes Köndgen Dr.iur., Professor an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität, Bonn Kaspar Krolop Dr.iur., wiss. Assistent an der Humboldt-Universität zu Berlin Stefan Leible Dr.iur., Professor an der Universität Bayreuth Christian Mayer Dr.iur., M.Jur., Richter am Amtsgericht Mainz Jörg Neuner Dr.iur., Professor an der Universität Augsburg Matthias Pechstein Dr.iur., Professor an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) Andreas Piekenbrock Dr.iur., Professor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Thomas Ackermann

XXIX

Autorenverzeichnis

Robert Rebhahn Karl Riesenhuber Wulf-Henning Roth Anne Röthel Michael Schillig Martin Schmidt-Kessel Jürgen Schmidt-Räntsch Andreas Schwartze Sixto Sánchez Lorenzo Rüdiger Stotz

Christine Windbichler

XXX

Dr.iur., Professor an der Universität Wien Dr.iur., M.C.J., Professor an der Ruhr-Universität Bochum Dr.iur., LL.M., Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn Dr.iur., Professorin an der Bucerius Law School, Hamburg Dr.iur., LL.M., Rechtsanwalt in London, Lecturer am King’s College London Dr.iur., Professor am European Legal Studies Institute der Universität Osnabrück Dr.iur., Richter am Bundesgerichtshof Dr.iur., LL.M., Professor an der Leopold-FranzensUniversität Innsbruck Dr.iur., Professor an der Universität Granada Dr.iur., LL.M., Honorarprofessor an der RWTH Aachen, Generaldirektor der Generaldirektion Bibliothek, Wissenschaftlicher Dienst und Dokumentation am Gerichtshof der Europäischen Union Dr.iur., LL.M., Professorin an der HumboldtUniversität zu Berlin

Abkürzungsverzeichnis A.A./a.A. A.C. a.E. a.F. A.M./a.M. aaO ABGB abgedr. ABI.

Abl./abl. Abs. abw. AcP ADC AEGRR AEUV

AG AGB AGBG AGG AHGB ähnl. AJDA AktG All E.R. Am. Econ. Rev. ANAnh. Anm. AnwBl

andere(r) Ansicht Law Reports, Appeal Cases ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite) am Ende alte Fassung anderer Meinung am angegebenen Ort (österreichisches) Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch abgedruckt 1. für Veröffentlichungen vor dem 1. Februar 2003: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften (Jahr Reihe Nummer des Dokuments/Seite); 2. für Veröffentlichungen ab dem 1. Februar 2003: Amtsblatt der Europäischen Union (Jahr Reihe Nummer des Dokuments/Seite) ablehnend Absatz abweichend Archiv für die civilistische Praxis (Jahrgang [Jahr], Seite) Anuario de Derecho Civil (Jahr, Seite) Akademischer Entwurf eines Gemeinsamen Referenzrahmens; s.a. DCFR Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, konsolidierte und umbenannte Fassung des Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft mit den Änderungen durch den Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 1. Aktiengesellschaft; 2. Amtsgericht; 3. als Fundstelle: Die Aktiengesellschaft (Jahr, Seite) Allgemeine(n) Geschäftsbedingungen Gesetz zur Regelung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (österreichisches) Allgemeines Handelsgesetzbuch ähnlich/e Actualité Juridique de Droit Administratif (Jahr, Seite) Aktiengesetz All England Law Reports ([Jahr] Teilband, Seite) American Economic Review (Jahrgang [Jahr], Seite) ArbeitnehmerAnhang Anmerkung Anwaltsblatt (Jahr, Seite)

XXXI

Abkürzungsverzeichnis

AöR AP Appl. ArbG ArbGG ArbRB ARC ARSP Art. ARUG ASCOLA Ass. AuAS Aufl. ausdr. ausf. Ausg. AuslInvestmG

Außenwirtschaft AWD AWG AWV B.C.C. B.I.M.J. b2b b2c BaFin BAG BAGE BB Bd. Bde. BE bearb. BeckRS Begr. BEHG Beil. Benelux ber. bes.

XXXII

Archiv für öffentliches Recht (Jahrgang [Jahr], Seite) Arbeitsrechtliche Praxis (Nummer zu Norm) Application; s. EGMR Arbeitsgericht Arbeitsgerichtsgesetz Der Arbeits-Rechts-Berater (Jahr, Seite) Accounting Regulatory Committee Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (Band [Jahr], Seite) Artikel Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie Academic Society for Competition Law Assemblée du contentieux, s.a. C.E. Ausländer- und asylrechtlicher Rechtsprechungsdienst (Jahr, Seite) Auflage ausdrücklich ausführlich Ausgabe Gesetz über den Vertrieb ausländischer Investmentanteile und über die Besteuerung der Erträge aus ausländischen Investmentanteilen Außenwirtschaft – Schweizerische Zeitschrift für internationale Wirtschaftsbeziehungen (Jahrgang [Jahr], Seite) Außenwirtschaftsdienst (Jahr, Seite); seit 1975 RIW (siehe dort) Außenwirtschaftsgesetz Verordnung zur Durchführung des Außenwirtschaftsgesetzes British Company (Law) Cases ([Jahr] – Seite) Boletín Informativo del Ministerio de Justicia (Nummer, Monat Jahr) business to business business to comsumer Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht Bundesarbeitsgericht amtliche Entscheidungssammlung des Bundesarbeitsgerichts (Band, Seite) Betriebs-Berater (Jahr, Seite) Band Bände Begründungserwägung(en) (vgl. Art. 296 AEUV/253 EG) bearbeitet Beck-Rechtsprechung (Jahr, Nummer) 1. Begründung; 2. bei Literaturangaben: Begründer (schweizerisches) Börsen- und Effektenhandelsgesetzes Beilage Belgien, Niederlande, Luxemburg berichtigt besonders

Abkürzungsverzeichnis

Beschl. BeschlE Bespr. BFH BFH/NV BFHE BGB BGBl. BGH BGH-Report BGHSt BGHZ BGer BIZ BKR Blutalkohol BörseG Brüssel I-VO Brüssel IIa-VO BSG BSGE Bsp. BT-Drs. Buchholz Bull. civ. Bull. d’information Bull. crim. BÜRL

BÜRL 1977

Beschluss, s.a. Urt. Beschlussempfehlung Besprechung Bundesfinanzhof Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs (Jahr, Seite) amtliche Entscheidungssammlung des Bundesfinanzhofs (Band, Seite) Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt (ggfs. Jahr Teil, Seite) Bundesgerichtshof BGH-Report, Schnelldienst zur Rechtsprechung des BGH (Jahr, Seite) amtliche Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (Band, Seite ggf. Randnummer) amtliche Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (Band, Seite ggf. Randnummer) (schweizerisches) Bundesgericht Bank für Internationalen Zahlungsausgleich Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht (Jahr, Seite) Blutalkohol (Jahr, Seite) (österreichisches) Börsegesetz identisch mit EuGVVO (siehe dort) identisch mit EuEheVO (siehe dort) Bundessozialgericht amtliche Entscheidungssammlung des Bundessozialgerichts (Band, Seite) Beispiel Bundestags-Drucksache (Legislaturperiode/Nummer der Vorlage, Seite) Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Ordnungsziffer Norm, Nummer) Bulletin des arrêts de la Cour de cassation en matière civile (ggf. Band, Nummer, ggf. Seite) Bulletin d’information de la Cour de cassation (Datum, Seite) Bulletin des arrêts de la Cour de cassation en matière criminelle (ggf. Band, Nummer, ggf. Seite) Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (Betriebsübergangsrichtlinie) Richtlinie 77/187/EWG des Rates vom 14. Februar 1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung der Ansprüche der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen (Betriebsübergangsrichtlinie 1977)

XXXIII

Abkürzungsverzeichnis

BVerfG BVerfGE

Bundesverfassungsgericht amtliche Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts (Band, Seite) BVerwG Bundesverwaltungsgericht BVerwGE amtliche Entscheidungssammlung des Bundesverwaltungsgerichts (Band, Seite) bzgl. bezüglich bzw. beziehungsweise C.A. (französischer) Cour d’appel C.civ. (französischer) Code civil C.E. (französischer) Conseil d’État C.trav. (französischer) Code du travail CA Companies Act 2006 ca. cirka Cambr.L.J. Cambridge Law Journal (Jahrgang [Jahr], Seite) Cass. 1. (französische) Cour de Cassation; 2. (italienischer) Corte di cassazione Cass. Ass. (französische) Cour de Cassation, Assemblé plénière Cass. civ. (französische) Cour de Cassation, Chambre civile (ggf. unter Angabe der Zahl der Kammer) Cass. crim. (französische) Cour de Cassation, Chambre criminelle Cass. com. (französische) Cour de Cassation, Chambre commerciale Cass. mixte (französische) Cour de Cassation, Chambre mixte Cass. soc. (französische) Cour de Cassation, Chambre sociale Cc (spanischer) Código Civil, s.a. port. CC CCE Communication et Commerce électronique (Jahr, Nummer) CCom (spanischer) Código de Comercio CE (spanische) Constitución Española CESR Comitee of European Securities Regulators (= Ausschusses der EU-Wertpapierregulierungsbehörden) CFR Common Frame of Reference (= Gemeinsamer Referenzrahmen), s.a. GRR und DCFR Ch. Law Reports, Chancery Division ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite) CISG Convention on the International Sale of Goods vom 11. April 1980; auch UN-Kaufrecht oder Wiener Kaufrecht genannt CISG-online Urteilsdatenbank unter www.cisg-online.ch (Nr.) Cl. & Fin. Clark & Finelly’s House of Lords Reports ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite), s.a. H.L.C. CLOUT Case Law on UNCITRAL Texts CMLR Common Market Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) Colum. J. Transnat’l L. Columbia Journal of Transnational Law (Jahrgang [Jahr], Seite) Colum. L. Rev. Columbia Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) Concurrences Revue des droits de la concurrence (Jahr, Seite) Cons. const. (französischer) Conseil constitutionnel

XXXIV

Abkürzungsverzeichnis

Cons. Stato Const. Cornell L. Rev. Corr. giur. Corte cost. CPI CYELP d.h. DB DCFR déc. Der Konzern

ders. DGRN dies. diff. Dig. Dir. pubbl. comp. europeo Diss. DLRL

DM DNotZ DÖV DPMA Dr Soc DRiZ DStR dt. DVBl. DZWiR E.H.R.L.R. E.L.Rev. E.L.Rep. E.R. E-SPE-VO

EB ebd.

(italienischer) Consiglio di Stato (französische) Verfassung der Fünften Republik von 1958 Cornell Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) Corriere giuridico (Jahr, Seite) (italienischer) Corte costituzionale Competition Policy International (Jahrgang [Jahr], Seite) Croatian Yearbook of European Law and Policy (Jahrgang [Jahr], Seite) das heißt Der Betrieb (Jahr, Seite) Draft Common Frame of Reference, s.a. CFR und AEGRR décision (Nummer Datum), s.a. Cons. const. Der Konzern, Zeitschrift für Gesellschaftsrecht, Steuerrecht, Bilanzrecht und Rechnungslegung der verbundenen Unternehmen (Jahr, Seite) derselbe (spanische) Dirección General de los Registros y del Notariado dieselbe/n differenzierend(en) Digesten Diritto pubblico comparato europeo (Jahr, Seite) Dissertation Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (Dienstleitungsrichtlinie) Deutsche Mark Deutsche Notar-Zeitschrift (Jahr, Seite) Die öffentliche Verwaltung (Jahr, Seite) Deutsches Patent- und Markenamt Droit Social (Jahr, Seite) Deutsche Richterzeitung (Jahr, Seite) Deutsches Steuerrecht (Jahr, Seite) deutsch(e) Deutsches Verwaltungsblatt (Jahr, Seite) Deutsche Zeitschrift für Wirtschafts- und Insolvenzrecht (Jahr, Seite) European human rights law review (Jahr, Seite) European Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) European Law Reporter (Jahr, Seite) Englisch Reports ([Jahr] Band – Seite) Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Privatgesellschaft vom 25. Juni 2008 Erläuternde Bemerkungen (Gesetzesbegründung, Österreich) ebenda

XXXV

Abkürzungsverzeichnis

EBLR EBOR ECA ECJ ECLR ecolex EComRL

Economica ECTIL EDP EFRAG EFSL EG

EGBGB EGMR EGV

EGZPO EHUG Einl. EJ L. & Econ. EKG ELJ EMRK

endg engl. EPA EPS ERA Forum ERCL

XXXVI

European Business Law Review (Jahr, Seite) European Business Organization Law Review (Jahr, Seite) European Communities Act 1972 European Competition Journal (Jahr, Seite) European Competition Law Review (Jahr, Seite) ecolex – Fachzeitschrift für Wirtschaftsrecht (Jahr, Seite) Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“) (E-Commerce-Richtlinie) Economica (Jahr [Jahr], Seite) European Centre of Tort and Insurance Law Europa e diritto privato (Jahr, Seite) European Financial Reporting Advisory Group European Financial Services Law (Jahrgang [Jahr], Seite) 1. Europäische Gemeinschaft; 2. nach Bezeichnung eines Artikels: EG-Vertrag, Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, konsolidierte Fassung mit den Änderungen des am 16. April 2003 unterzeichneten Vertrags von Athen Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EG-Vertrag, Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, konsolidierte Fassung mit den Änderungen des am 7. Februar 1992 unterzeichneten Vertrags über die Europäische Union (Maastrichter Fassung) Gesetz betreffend die Einführung der Zivilprozeßordnung Gesetz über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister Einleitung European Journal of Law and Economics (Jahrgang [Jahr], Seite) Einheitliches Kaufgesetz European Law Journal (Jahrgang [Jahr], Seite) Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention) vom 4. November 1950, idF der Bekanntmachung vom 17. Mai 2002 endgültig (als Zusatz zu KOM- und SEK-Dokumenten), s.a. KOM und SEK englisch(e) Equal Pay Act 1970 Europejski Przegla˛d Sa˛dowy (Heftnummer/Jahr, Seite) Europäische Rechtsakademie Forum (Jahr, Seite) European Review of Contract Law (Band [Jahr], Seite)

Abkürzungsverzeichnis

ERPL

ESC EU

EuEheVO

EuG EuGH EuGH-Satzung EuGH-VerfO EuGRZ EuGVÜ

EuGVVO

EuInsVO EuR EuroAS EUV

EUV a.F. EuZA EuZW EvBl evtl. EVÜ

EWCA Civ

European Review of Private Law – Revue européenne de droit privé – Europäische Zeitschrift für Privatrecht (Jahrgang [Jahr], Seite) European Securities Comitee (= EU-Wertpapierausschuss) 1. Europäische Union; 2. nach Bezeichnung eines Artikels: EU-Vertrag, Vertrag über die Europäische Union, konsolidierte Fassung mit den Änderungen des am 16. April 2003 unterzeichneten Vertrags von Athen Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000; s.a. Brüssel IIa-VO Gericht Erster Instanz; s.a. EuGH Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, s.a. EuG Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union Verfahrensordnung des Gerichtshofes des Europäischen Union Europäische Grundrecht-Zeitschrift (Jahr, Seite) Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. September 1968 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen; s.a. Brüssel I-VO Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über das Insolvenzverfahren Europarecht (Jahr, Seite) Informationsdienst Europäisches Arbeits- und Sozialrecht (Jahr, Seite) EU-Vertrag seit Vertrag über die Europäische Union, konsolidierte Fassung mit den Änderungen durch den Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007; s.a. EU, EUV a.F., AEUV EU-Vertrag, Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 (Maastricht-Vertrag); s.a. EU, EUV Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht (Jahr, Seite) Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (Jahr, Seite) (österreichisches) Evidenzblatt der Rechtsmittelentscheidungen, veröffentlicht in der ÖJZ (Jahr/Nummer) eventuell(en) Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht aufgelegt zur Unterzeichnung am 19. Juni 1980 in Rom England and Wales Court of Appeal (Civil Division) Decisions (neutral citation) ([Jahr] – Fallnummer)

XXXVII

Abkürzungsverzeichnis

EWG

1. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft; 2. nach Bezeichnung eines Artikels: Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag) vom 25. März 1957; s.a. AEUV, EG, EGV EWHC (Comm) England & Wales High Court (Commercial Court) Decisions (neutral citation) ([Jahr] – Fallnummer) EWiR Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht (Jahr, Seite) EWIV Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung EWIV-VO Verordnung (EWG) Nr. 2137/85 des Rates vom 25. Juli 1985 über die Schaffung einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV) EWR Europäischer Wirtschaftsraum EWS Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (Jahr, Seite) EZB Europäische Zentralbank f., ff. folgende (singular/plural) F. bei Entscheidungen eines U.S. Courts of Appeals: Federal Reporter (Band – Serie Seite [Gericht Entscheidungsjahr]) FamRZ Zeitschrift für das gesamte Familienrecht (Jahr, Seite) FARL Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz (Fernabsatzrichtlinie) FFH Fauna-Flora-Habitat FG Festgabe FGO Finanzgerichtsordnung FIW Forschungsinstitut für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb e.V. FKVO Fusionskontrollverordnung FMA (österreichische) Finanzmarktaufsicht Fn. Fußnote Fordham Int’l LJ Fordham International Law Journal Foro it. Il Foro italiano (Jahr Abteilung, Seite) fortgef. fortgeführt franz. französisch(e) frdl. freundlicher FS Festschrift FSAP Financial Services Action Plan FSMA Financal Services and Markets Act G. it. Giurisprudenza italiana (Jahr, Seite) GA Generalanwalt, Generalanwältin Ga. J. Int’l & Comp. L. Georgia Journal of International and Comparative Law (Jahrgang [Jahr], Seite) GASP Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik GbR Gesellschaft bürgerlichen Rechts GD Generaldirektion (der Europäischen Kommission) GeS Zeitschrift für Gesellschafts- und Steuerrecht (Jahr, Seite) Ges. Gesetz

XXXVIII

Abkürzungsverzeichnis

GesRZ GewO GG ggf. Giur.cost. Giur. it. GLJ GmbH GmbHG GmbHR GPR GRCh

grds. GRR grundl. GrünhutsZ GRUR Int. GRUR GS GSVP GVO GWB H.L.C. h.L. h.M. Hastings Int’l & Comp. L. Rev. HGB HLL HRA Hrsg. hrsgg. HtWRL

HVertrRL

Der Gesellschafter – Zeitschrift für Gesellschafts- und Unternehmensrecht (Jahr, Seite) Gewerbeordnung Grundgesetz gegebenfalls Giurisprudenza costituzionale (Jahr Abteilung, Seite) Giurisprudenza italiana (Jahr Abteilung, Seite) German Law Journal (Jahrgang [Jahr], Seite) Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung GmbH-Rundschau (Jahr, Seite) Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht (Jahr, Seite) Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung grundsätzlich Gemeinsamer Referenzrahmen; s.a. AEGRR und CFR grundlegend Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart (Jahrgang [Jahr], Seite) Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Internationaler Teil (Jahr, Seite) Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (Jahr, Seite) Gedächtnisschrift Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik Gruppenfreistellungsverordnung Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Clark & Finelly’s House of Lords Reports New Series ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite), s.a. Cl. & Fin. herrschende(n) Lehre herrschende(n) Meinung Hastings International and Comparative Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) Handelsgesetzbuch Handbuch der Lateinischen Literatur der Antike Human Rights Acts 1998 Herausgeber(in) herausgegeben Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen (Haustürgeschäfterichtlinie) Richtlinie 86/653/EWG des Rates v. 18.12.1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten betreffend die selbstständigen Handelsvertreter (Handelsvertreterrichtlinie)

XXXIX

Abkürzungsverzeichnis

HWiG I.C.R. i.d.F. i.E. I.Erg./i.Erg. i.e.S. i.O. i.S. i.S.d. i.Ü. i.w.S. IAS IAS-VO

IASB ICC idF idR IFRIC IFRS IFRS-VO

IGH IJ ILJ insbes. InsO Int’l Comp. Corp. LJ Int’l Rev. L. & Econ. Internat. IPR IPRax IPRspr.

IStR iSv iVm IVRA

XL

Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften Industrial Cases Reports ([Jahr] – Seite) in der Fassung im Einzelnen im Ergebnis im engeren Sinne im Original im Sinne im Sinne des/der im Übrigen im weiteren Sinne International Accounting Standard (ggf. Nummer); International Accounting Standards Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Juli 2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards International Accounting Standards Board International Chamber of Commerce in der Fassung in der Regel International Financial Reporting Interpretations Committee International Financial Reporting Standards Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Juli 2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards Internationaler Gerichtshof Institutiones des Justinian The Industrial Law Journal (Jahr, Seite) insbesondere Insolvenzordnung International and Comparative Corporate Law Journal (Jahrgang [Jahr], Seite) International Review of Law and Economics (Jahrgang [Jahr], Seite) Internationles Internationales Privatrecht Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrecht (Jahr, Seite) Die deutsche Rechtsprechung auf dem Gebiete des Internationalen Privatrechts (Entscheidungssammlung) (Jahr, Nummer) Internationales Steuerrecht (Jahr, Seite) im Sinne von in Verbindung mit Rivista internazionale di diritto romano e antico (Jahrgang [Jahr], Seite)

Abkürzungsverzeichnis

IVU

Integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung J. Econ. Bahav. & Org. Journal of Economic Behavior & Organization (Jahrgang [Jahr], Seite) J. Int’l Econ. L. Journal of International Economic Law J. L. Econ. & Org. Journal of Law, Economics and Organization (Jahrgang [Jahr], Seite) J. Law & Econ. Journal of Law & Economics (Jahrgang [Jahr], Seite) J. Leg. Stud. Journal of Legal Studies (Jahrgang [Jahr], Seite) JbFfSt Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht (Jahr, Seite) JbJZ Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler (Tagungsjahr, Seite) JBl. Juristische Blätter (Jahr, Seite) JBL The Journal of Business Law (Jahr, Seite) JCE Journal of Comparative Economics (Jahrgang [Jahr], Seite) JCLE Journal of Competition Law & Economics (Jahr, Seite) JCLS Journal of Corporate Law Studies (Jahrgang [Jahr], Seite) JCP 1. Journal of Consumer Policy (Jahrgang [Jahr], Seite); 2. Juris-Classeur périodique (la semaine juridique) (Jahr, Sektion Ordnungsziffer, ggfs. Seite) Jh. Jahrhundert JherJb Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts (Jahrgang [Jahr], Seite) JR Juristische Rundschau (Jahr, Seite) JuMoG Justizmodernisierungsgesetz JUR Repertorio de resoluciones no publicadas en CD/DVD – Aranzadi/Westlaw (Jahr/Nummer, ggfs. Randnummer) juris Urteilsdatenbank im Online-Rechtsportal www.juris.de Jura Juristische Ausbildung (Jahr, Seite) JuS Juristische Schulung (Jahr, Seite) JZ Juristenzeitung (Jahr, Seite) K.B. The Law Reports, King’s Bench (England and Wales) ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite) K&R Kommunikation und Recht (Jahr, Seite) Kap. Kapitel KapRL Zweite Richtlinie des Rates vom 13. Dezember 1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (77/91/EWG) (Kapitalrichtlinie) KG Kammergericht (Berlin) KGRL Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter (Kaufgewährleistungs-Richtlinie)

XLI

Abkürzungsverzeichnis

KOM

KPP krit. KSchG KWG L.Q.R. La Notaría LEC LeGes

LG LGDCU LIEI Lit. lit. LJ LMG

LOPJ LRE LS LSA Ltd. LugÜ

LVersRL

m. M.E./m.E. M.P. m.umf.N. MaBV

maW MDR

XLII

KOM-Dokumente: Legislativvorschläge und sonstige Mitteilungen der Europäischen Kommission an den Rat und/oder die anderen Organe sowie die entsprechenden vorbereitenden Dokumente ([Jahr] Nummer, ggf. Seite) Kwartalnik Prawa Prywatnego (Heftnummer/Jahr, Seite) kritisch (österreichisches) Konsumentenschutzgesetz Kreditwesengesetz Law Quarterly Review (Jahrgang [Jahr], Seite) La Notaría ([Heftnummer] Jahr, Seite) (spanisches) Ley de Enjuiciamiento Civil Gesetzgebung & Evaluation – Mitteilungsblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Gesetzgebung und der Schweizerischen Evaluationsgesellschaft (Jahr, Seite) Landgericht Ley para Defensa de los Consumidores y Usarios vom 19. Juli 1984 Legal Issues of European Integration (Jahrgang [Jahr], Seite) Literatur litera Lord Justice; Lady Justice (österreichisches) Bundesgesetz über den Verkehr mit Lebensmitteln, Verzehrprodukten, Zusatzstoffen, kosmetischen Mitteln und Gebrauchsgegenständen (Lebensmittelgesetz) (spanisches) Ley Orgánica del Poder Judicial Sammlung lebensmittelrechtlicher Entscheidungen (Band, Seite) Leitsatz; Leitsätze ley de sociedades anónimas = (spanisches) Aktiengesetz Company Limited by Shares Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, geschlossen in Lugano am 16. September 1988 Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen (Lebensversicherungsrichtlinie) mit meines Erachtens Dziennik Urze˛dowy Rzeczpospolitej Polskiej „Monitor Polski“ (Jahr / Heftnummer / Positionsnummer) mit umfangreichen Nachweisen Verordnung über die Pflichten der Makler, Darlehensund Anlagenvermittler, Anlageberater, Bauträger und Baubetreuer mit anderen Worten Monatsschrift für Deutsches Recht (Jahr, Seite)

Abkürzungsverzeichnis

MERL

MiFID Mio. MLR MoMiG MR Mskr. mwN n.F. N.F. Nachw. NBW NCPC Ndr. NJOZ NJW NJW-RR NotBZ NS NuR NVwZ NZA NZA-RR NZG NZBau NZM ÖBA OG OGB OGH oHG/OHG OIR ÖJZ OLG ORDO Orig. OSNC OSNP

Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.6.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie) Markets in Financial Instruments Directive Millionen The Modern Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen Master of the Rolls Manuskript(s) mit weiteren Nachweisen neue Fassung bei Universitätsreden: Neue Folge (Jahrgang, Seite) Nachweis(e) Nieuw Burgerlijk Wetboek Nouveau Code de Procédure Civile Nachdruck Neue Juristische Online-Zeitschrift (Jahr, Seite) Neue Juristische Wochenschrift (Jahr, Seite) Neue Juristische Wochenschrift – Rechtsprechungsreport (Jahr, Seite) Zeitschrift für die notarielle Beratungs- und Beurkundungspraxis (Jahr, Seite) Nationalsozialistisch(en) Natur + Recht (Jahr, Seite) Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (Jahr, Seite) Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (Jahr, Seite) Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht – Rechtsprechungsreport (Jahr, Seite) Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht (Jahr, Seite) Neue Zeitschrift für Baurecht Neue Zeitschrift für Miet- und Wohnungsrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für das gesamte Bank- und Börsenwesen (Jahr, Seite) (polnisches) Oberstes Gericht (Sa˛d Najwyz˙ szy) Oberste Gerichtshöfe des Bundes (österreichischer) Oberster Gerichtshof offene Handelsgesellschaft Orbis Iuris Romani (Jahrgang [Jahr], Seite) Österreichische Juristen-Zeitung (Jahr, Seite); s.a. EvBl Oberlandesgericht Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Jahrgang [Jahr], Seite) Original Orzecznictwo Sa˛du Najwyz˙szego. Izba Cywilna (Heftnummer/ Jahr, Seite) Orzecznictwo Sa˛du Najwyz˙ szego. Izba Pracy, Ubezpieczen´ Spo∏ecznych i Spraw Publicznych (Heftnummer/Jahr, Seite)

XLIII

Abkürzungsverzeichnis

OSP OTK-A Pace Int’l L. Rev. para. PECL PEICL PHRL

PIN PiP PJZS PKG plc. plnVerf port. CC pr.ALR PRRL Q.B. Q.B.D. QJE RabelsZ RdA RDCE RdL RDT RDUE RdW Rec. Rec. Dalloz Rec. Dalloz Chron. RefE RefE-EGBGB

Reg. reg. RegE Rép. droit civil

XLIV

Orzecznictwo Sa˛dów Polskich (Heftnummer/Jahr, Seite) Orzecznictwo Trybuna∏u Konstytucyjnego – Serie A (Heftnummer/Jahr, Seite) Pace International Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) paragraph Principles of European Contract Law Die Principles of European Insurance Contract Law Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte (Produkthaftungsrichtlinie) Persönliche Identifikationsnummer Pan´stwo i Prawo (Heftnummer/Jahr, Seite) Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (österreichisches) Pensionskassengesetz public limited company polnische Verfassung von 1997 (portugiesischer) Código Civil, s.a. Cc Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen (Pauschalreiserichtlinie) Law Reports, Queen’s Bench ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite), s.a. Q.B.D., K.B. Law Reports, Queen’s Bench Division ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite), s.a. Q.B., K.B. The Quarterly Journal of Economics (Jahrgang [Jahr], Seite) Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht (Jahrgang [Jahr], Seite) Recht der Arbeit (Jahr, Seite) Revista de Derecho Comunitario Europeo (Jahr, Seite) Recht der Landwirtschaft (Jahr, Seite) Revue de Droit du Travail (Jahr, Seite) Revue du Droit de l’Union Européenne (Jahr, Seite) Österreichisches Recht der Wirtschaft (Jahr, Seite) Recueil des décisions du Conseil constitutionnel (Seite); Recueil des décisions du Conseil d’Etat (Seite) Recueil Dalloz (Jahr, Seite); seit 1999: Recueil le Dalloz (Jahr, Seite) Recueil Dalloz (Jahr) Chronique (Seite) Referentenentwurf EGBGB nach dem Referentenentwurf eines Gesetzes zum Internationalen Privatrecht der Gesellschaften, Vereine und juristischen Personen; s.a. EGBGB Register regulation Regierungsentwurf Répertoire de droit civil ([Jahr], Nummer)

Abkürzungsverzeichnis

Rép. droit communautaire Resp.civ.e prev. RFDA RFDC RG RGD RGZ

Répertoire de droit communautaire ([Jahr] Nummer)

Responsabilità civile e previdenza (Jahr, Seite) Revue française de droit administratif (Jahr, Seite) Revue française de droit constitutionnel (Jahr, Seite) Reichsgericht Revista General de Derecho amtliche Entscheidungssammlung des Reichsgerichts in Zivilsachen (Band, Seite) RIW Recht der Internationalen Wirtschaft – Betriebs-Berater International (Jahr, Seite) RJ Repertorio de Jurisprudencia (Jahr/Nummer, ggfs. Randnummer) RJCA Repertorio de Jurisprudencia de lo Contencioso-Administrativo (Jahr/Nummer, ggfs. Randnummer) RL Richtlinie Rn. Randnummer (s.a. Tz.) Rom I-VO Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) Rom II-VO Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II) RPEiS Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Spo∏eczny (Heftnummer/Jahr, Seite) RRa ReiseRecht aktuell (Jahr, Seite) RRJ Revue de la Recherche Juridique (Jahr, Seite) Rs. Rechtssache(n) Rspr. Rechtsprechung RTC Repertorio del Tribunal Constitucional – amtliche Entscheidungssammlung des spanischen Tribunal Constitucional (Jahr, Nummer, ggfs. Randnummer) RTD civ. Revue trimestrielle du droit civil (Jahr, Seite) S. 1. Satz; 2. Seite; 3. Siehe s. siehe s.a. siehe auch s.o. siehe oben S.r.o. Spolecˇnost s rucˇením omezeny´m (tschechische GmbH) s.u. siehe unten s.v. sub verbo SAE Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen (Jahr, Seite) SARG Standards Advice Review Group SavZRG – Germ. Abt. – Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte – Germanistische Abteilung – (Jahrgang [Jahr], Seite) SavZRG – Rom. Abt. – Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte – Romanistische Abteilung – (Jahrgang [Jahr], Seite) sc. scilicet (nämlich, gemeint ist)

XLV

Abkürzungsverzeichnis

SCE SchiedsVZ SchlA SDA SDHI SE SECOLA SE-VO SEBG sec. SEEG SEK SGA SGG SIC Slg.

SLIM sog. SPE SPE-VO Sps. SS Stan. L. Rev. Stat.L.R. StGB str. stud.iur. StudZR sub SUP SVN Syst. Darst. SZ TA TC TGI TS tschech. HGB

XLVI

Societas Cooperativa Europaea Zeitschrift für Schiedsverfahren (Jahr, Seite) Schlussanträge(n) Sex Discrimination Act 1975 Studia et Documenta Historiae Iuris (Jahrgang [Jahr], Seite) Societas Europea Society of European Contract Law Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE) Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft (SE-Beteiligungsgesetz) section Gesetz zur Einführung der Europäischen Gesellschaft SEK-Dokumente: interne Arbeitsdokumente der Europäischen Kommission ([Jahr] Nummer, ggf. Seite) Sale of Goods Act 1979 Sozialgerichtsgesetz Standing Interpretations Committee Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs (Teil I) und (seit dem 15. November 1989) des Gerichts Erster Instanz (Teil II) (bis zum 14. November 1989: Jahr, Seite ggf. Randnummer, ab dem 15. November 1989: Jahr, TeilSeite ggf. Randnummer) Simpler Legislation for the Internal Market sogenannte(n) Societas Privata Europaea Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Privatgesellschaft; s.a. E-SPE-VO Spiegelstrich Sommersemester Stanford Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) Statute Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) Strafgesetzbuch streitig, strittig studiosus iuris Studentische Zeitschrift für Rechtswissenschaft (Jahr, Seite) (lat.) unten Strategische Umweltprüfung Satzung der Vereinten Nationen Systematische Darstellung Entscheidungen des österreichischen Obersten Gerichtshofs in Zivilsachen (Band/Nummer) (franzözisches) Tribunal administratif (spanisches) Tribunal Constitucional (franzözisches) Tribunal de grande instance (spanisches) Tribunal Supremo tschechisches Handelsgesetzbuch

Abkürzungsverzeichnis

TSJ TSRL

TUPE TVG Tz. TzBfG u.a. U. Chi. L. Rev. u.ö. U.Pa.J.Int’l Econ.L. U.S. u.U. UAbs. uam UCC UCTA UG UGP UKHL UKlaG UKSC umstr. UN UN-Kaufrecht UNIDROIT unstr. unveröff. UP UPR UrhG Urt. USA Usf./usf. UTCCR

(spanisches) Tribunal Superior de Justicia Richtlinie 2008/122/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Januar 2009 über den Schutz der Verbraucher im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Teilzeitnutzungsverträgen, Verträgen über langfristige Urlaubsprodukte sowie Wiederverkaufs- und Tauschverträgen (Timesharingrichtlinie) Transfer of Undertakings (Protection of Employment) Regulations 1981 Tarifvertragsgesetz Textziffer; s.a. Rn. Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (Teilzeit- und Befristungsgesetz) 1. unter anderem; 2. und andere University of Chicago Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) und öfter University of Pennsylvania Journal of International Economic Law (Jahrgang [Jahr], Seite) 1. United States; 2. als Fundstelle: (Jahrgang) United States Supreme Court Reports (Seite [Jahr]) unter Umständen Unterabsatz und andere(s) mehr Uniform Commercial Code Unfair Contract Terms Act 1977 Unternehmergesellschaft unlautere Geschäftspraktiken United Kingdom House of Lords Decisions (neutral citation) ([Jahr] – Fallnummer) Gesetz über Unterlassungsklagen bei Verbraucherrechts- und anderen Verstößen United Kingdom Supreme Court Decisions (neutral citation) ([Jahr] – Fallnummer) umstritten United Nations identisch mit CISG (siehe dort) Institut international pour l’unification du droit unstreitig unveröffentlichte UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts; s.a. UNIDROIT Umwelt- und Planungsrecht (Jahr, Seite) Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte Urteil(s) United States of America Und so fort. Unfair Terms in Consumer Contracts Regulations 1999

XLVII

Abkürzungsverzeichnis

UVP UVR UWG v. v.a. Vaugh. verb. Rs. verb. SchlA VerbrKrG VerfGH VfGH VfSlg

Vgl./vgl. VIZ VO Vorbem VwGO VwGH VwSlg

W.L.R. WAG wbl. WiB WIRO

WM World Comp WpHG WpÜG WRP WS WSA WuB

WuW WuW/E DE-R WVG

XLVIII

Umweltverträglichkeitsprüfung Umsatzsteuer- und Verkehrssteuer-Recht (Jahr, Seite) Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb 1. bei Datum: vom; 2. bei Namen: von; 3. bei angloamerikanischen Gerichtsentscheidungen: versus vor allem Vaughan’s Common Pleas Reports (Jahr – Seite) verbundene Rechtssachen; s.a. Rs. verbundene Schlussanträge; s.a. SchlA Verbraucherkreditgesetz (polnischer) Verfassungsgerichtshof (Trybunał Konstytucyjny) (österreichischer) Verfassungsgerichtshof amtliche Sammlung der Erkenntnisse und wichtigsten Beschlüsse des (österreichischen) Verfassungsgerichtshofes (Nummer/Jahr) vergleiche Zeitschrift für Vermögens- und Investitionsrecht (Jahr, Seite) Verordnung (ggfs. [Organisation] Nummer/Jahr) Vorbemerkung Verwaltungsgerichtsordnung 1. ohne Ortsangabe: (österreichischer) Verwaltungsgerichtshof; 2. mit Ortangabe: amtliche Sammlung der Erkenntnisse und Beschlüsse des (österreichischen) Verwaltungsgerichtshofes (Nummer Teil/Jahr) Weekly Law Reports ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite) (österreichisches) Wertpapieraufsichtsgesetz Wirtschaftsrechtliche Blätter (Jahr, Seite) Wirtschaftsrechtliche Beratung (Jahr, Seite) Wirtschaft und Recht in Osteuropa – Zeitschrift zur Rechtsund Wirtschaftsentwicklung in den Staaten Mittel- und Osteuropas (Jahr, Seite) Wertpapier-Mitteilungen (Jahr, Seite) (Jahrgang) World Competition (Seite [Jahr]) Wertpapierhandelsgesetz Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz Wettbewerb in Recht und Praxis (Jahr, Seite) Wintersemester Wirtschafts- und Sozialausschuß Entscheidungssammlung zum Wirtschafts- und Bankrecht (Ordnungsziffer Rechts- und Teilgebiet §/Art. Rechtsakt Ordnungsziffer der Entscheidung) Wirtschaft und Wettbewerb (Jahr, Seite) Wirtschaft und Wettbewerb/Entscheidungssammlung Deutschland Rechtsprechung (Seite ggfs. Randnummer) (polnisches) Woiwodschaftsverwaltungsgericht

Abkürzungsverzeichnis

WVK Yale L. J. YEL z.B./Z.B. z.T. ZBB ZDRL

ZESAR ZEuP ZEuS ZfA ZFR ZfRSoz ZfRV ZfVB ZG ZGB ZGR ZGS ZHR Ziff. ZIP ZJS ZLR ZNR ZöR ZPO ZSchwR ZUM Zust./zust. zutr. ZVerzRL

ZVglRWiss

Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 Yale Law Journal (Jahrgang [Jahr], Seite) Yearbook of European Law (Jahrgang [Jahr], Seite) zum Beispiel/Zum Beispiel zum Teil Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft (Jahr, Seite) Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über Zahlungs-dienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2002/65/EG, 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/EG (Zahlungsdiensterichtlinie) Zeitschrift für Europäisches Sozial- und Arbeitsrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für Europäisches Privatrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für Europarechtliche Studien (Jahr, Seite) Zeitschrift für Arbeitsrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für Finanzmarktrecht (Jahr/Beitragsnummer, ggfs. Seite) Zeitschrift für Rechtssoziologie (Jahrgang [Jahr], Seite) Zeitschrift für Rechtsvergleichung (Jahr, Seite) Zeitschrift für Verwaltung Judikaturbeilage (Jahr/Nummer) Zeitschrift für Gesetzgebung (Jahr, Seite) 1. (polnisches) Zivilgesetzbuch; 2. (schweizerisches) Zivilgesetzbuch Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für das gesamte Schuldrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht (Jahrgang [Jahr], Seite) Ziffer Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für das Juristische Studium (Jahr, Seite) Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte (Jahrgang [Jahr], Seite) Zeitschrift für öffentliches Recht (Jahrgang [Jahr], Seite) Zivilprozessordnung Zeitschrift für Schweizerisches Recht (Jahr, Seite) Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht (Jahr, Seite) zustimmend zutreffend Richtlinie 2000/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 2000 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft (Jahrgang [Jahr], Seite)

XLIX

Abkürzungsverzeichnis

zw. ZWeR ZZP

L

zweifelnd Zeitschrift für Wettbewerbsrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für Zivilprozess (Jahrgang [Jahr], Seite)

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre

Adrian, Axel, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre – Die begrifflichen und („fuzzy“-)logischen Grenzen der Befugnisnormen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und die Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, Berlin 2009 AnwaltKommBGB-Bearbeiter Dauner-Lieb, Barbara/Heidel, Thomas/Ring, Gerhard (Hrsg.), AnwaltKommentar zum BGB – Band 1: Allgemeiner Teil und EGBGB, hrsgg. v. Thomas Heidel, Rainer Hüßtege, Heinz-Peter Mansel und Ulrich Noack, Bonn 2005 – Band 2: Schuldrecht, Teilband 1: §§ 241 bis 610 BGB, hrsgg. v. Barbara Dauner-Lieb und Werner Langen, Bonn 2005 Anweiler, Die AuslegungsAnweiler, Jochen, Die Auslegungsmethoden des Gemethoden des Gerichtshofs richtshofs der Europäischen Gemeinschaften, Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1997 Bamberger/Roth-Bearbeiter Bamberger, Heinz Georg/Roth, Herbert (Hrsg.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 1: §§ 1– 610 BGB, CISG, 2. Auflage, München 2007 v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Prin- v. Bar, Christian / Clive, Eric / Schulte-Nölke, Hans u. a. ciples, Definition and Model for the Study Group on a European Civil Code and ReRules of European Private Law – search Group on EC Private Law (Acquis Group) Outline Edition (Hrsg.), Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law – Draft Common Frame of Reference (DCFR), München 2009 v. Bar/Clive, Principles, Definition v. Bar, Christian / Clive, Eric (Hrsg.), Principles, Definiand Model Rules of European tions and Model Rules of European Private Law. Draft Private Law – Full Edition Common Frame of Reference (DCFR). Full Edition, 6 Bände, München 2009 Bengoetxea, Legal Reasoning Bengoetxea, Joxerramon, The Legal Reasoning of the European Court of Justice – Towards a European Jurisprudence, Oxford 1993 Bleckmann, Europarecht Bleckmann, Albert, Europarecht: das Recht der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaften, bearb. von Martin Coen, Rolf Eckhoff und Hanns Eiden, 6. Auflage, Köln u.a. 1997 v. Bogdandy/Bast-Bearbeiter v. Bogdandy, Armin/Bast, Jürgen (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht – Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2. Auflage, Heidelberg 2009 Buck, Auslegungsmethoden Carsten Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gedes EuGH richtshofs der Europäischen Gemeinschaft, Frankfurt am Main 1998

LI

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

Bydlinski, Juristische Methodenlehre Calliess/Ruffert-Bearbeiter

Bydlinski, Franz, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage, Wien, New York 1991 Calliess, Christian/Ruffert, Matthias, Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 3. Auflage, München 2007 Canaris, Die Feststellung von Canaris, Claus-Wilhelm, Die Feststellung von Lücken Lücken im Gesetz im Gesetz – Eine methodologische Studie über Voraussetzungen und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung praeter legem, 2. Auflage, Berlin 1983 Canaris, Systemdenken und Canaris, Claus-Wilhelm, Systemdenken und SystembeSystembegriff griff in der Jurisprudenz – entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, 2. Auflage, Berlin 1983 Dederichs, Die Methodik Dederichs, Mariele, Die Methodik des EuGH. Häufigdes EuGH keit und Bedeutung methodischer Argumente in den Begründungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, Baden-Baden 2004 Drexl, Die wirtschaftliche Selbst- Drexl, Josef, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des bestimmung des Verbrauchers Verbrauchers – Eine Studie zum Privat- und Wirtschaftsrecht unter Berücksichtigung gemeinschaftsrechtlicher Bezüge, Tübingen 1998 Ehlers-Bearbeiter Ehlers, Dirk (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Auflage, Berlin 2009 Eidenmüller, Effizienz als Rechts- Eidenmüller, Horst, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufprinzip lage, Tübingen 2005 Engisch, Einführung in das Engisch, Karl, Einführung in das juristische Denken, juristische Denken hrsgg. und bearb. von Thomas Würtenberger und Dirk Otto, 10. Auflage, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 2005 Erman-Bearbeiter Erman, Walter (Begr.), BGB – Handkommentar mit AGG, EGBGB (Auszug), ErbbauRG, HausratsVO, LPartG, ProdHaftG, UKlaG, VAHRG und WEG, hrsgg. von Harm Peter Westermann, 12. Auflage, Köln 2008 Fikentscher, Methoden des Fikentscher, Wolfgang, Methoden des Rechts in vergleiRechts I chender Darstellung, Band I: Frühe und religiöse Rechte – Romanischer Rechtskreis, Tübingen 1975 Fikentscher, Methoden des Fikentscher, Wolfgang, Methoden des Rechts in vergleiRechts II chender Darstellung, Band II: Anglo-amerikanischer Rechtskreis, Tübingen 1975 Fikentscher, Methoden des Fikentscher, Wolfgang, Methoden des Rechts in vergleiRechts III chender Darstellung, Band III: Mitteleuropäischer Rechtskreis, Tübingen 1976 (Nachdruck 2002) Fikentscher, Methoden des Fikentscher, Wolfgang, Methoden des Rechts in vergleiRechts IV chender Darstellung, Band IV: Dogmatischer Teil, Tübingen 1977 Franzen, Privatrechtsangleichung Franzen, Martin, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, Berlin 1999 Gebauer/Wiedmann-Bearbeiter Gebauer, Martin/Wiedmann, Thomas (Hrsg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluß – Die richtlinienkonforme Auslegung des BGB und anderer Gesetze – Erläuterung der wichtigsten EG-Verordnungen, Stuttgart/ München/Hannover/Berlin/Weimar/Dresden 2005

LII

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

Grabitz/Hilf-Bearbeiter

v. d. Groeben/SchwarzeBearbeiter

GroßkommAktG-Bearbeiter

Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht Grundmann, European Company Law Grundmann/Kerber/Weatherill, Party Autonomy Hager, Rechtsmethoden in Europa Mathias Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode Hüffer Jauernig-Bearbeiter

Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen

Kilian, Europäisches Wirtschaftsrecht

Grabitz, Eberhard (Begr.), Das Recht der Europäischen Union, fortgef. von Meinhard Hilf, Loseblattsammlung, Stand: Oktober 2009, München – Band I–III: EUV/EGV, hrsgg. von Martin Nettesheim – Band IV: Sekundärrecht – A. Verbraucher- und Datenschutzrecht, hrsgg. von Manfred Wolf, B. Öffentliches Auftragswesen, hrsgg. von Kay Hailbronner Groeben, Hans von der/Schwarze, Jürgen (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Auflage, Baden-Baden 2004 Hopt, Klaus J./Wiedemann, Herbert (Hrsg.), Aktiengesetz – Großkommentar, begründet von Wilhelm Gadow und Eduard Heinichen, 4. Auflage, Berlin/New York seit 1992 in Einzellieferungen Gruber, Urs Peter, Methoden des Internationalen Einheitsrechts, Tübingen 2004 Grundmann, Stefan, Europäisches Schuldvertragsrecht – Das europäische Recht der Unternehmensgeschäfte, Berlin/New York 1999 Grundmann, Stefan, Europäisches Gesellschaftsrecht – Eine systematische Darstellung unter Einbeziehung des Kapitalmarktrechts, Heidelberg 2004 Stefan Grundmann, European Company Law – Organization, Finance and Capital Markets, unter Mitarbeit von Florian Möslein, Antwerpen/Oxford 2007 Grundmann, Stefan/Kerber, Wolfgang/Weatherill, Stephen (Hrsg.), Party Autonomy and the Role of Information in the Internal Market, Berlin/New York 2001 Hager, Günter, Rechtsmethoden in Europa, Tübingen 2009 Habersack, Mathias, Europäisches Gesellschaftsrecht – Einführung für Studium und Praxis, 3. Auflage, München 2006 Heiderhoff, Bettina, Gemeinschaftsprivatrecht, 2. Auflage, München 2007 Henninger, Thomas, Europäisches Privatrecht und Methode – Entwurf einer rechtsvergleichend gewonnenen juristischen Methodenlehre, Tübingen 2009 Hüffer, Uwe, Aktiengesetz, 8. Auflage, München 2008 Jauernig, Othmar, Bürgerliches Gesetzbuch mit Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, Kommentar, 13. Auflage, München 2009 Kieninger, Eva-Maria, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt – Studien zur Privatrechtskoordinierung in der Europäischen Union auf den Gebieten des Gesellschafts- und Vertragsrechts, Tübingen 2002 Kilian, Wolfgang, Europäisches Wirtschaftsrecht, 3. Auflage, München 2008

LIII

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht Kramer, Methodenlehre Langenbucher-Bearbeiter Larenz, Methodenlehre

Larenz/Canaris, Methodenlehre Lenz/Borchardt-Bearbeiter

Müller/Christensen, Juristische Methodik I Müller/Christensen, Juristische Methodik II MünchKommAktG-Bearbeiter

MünchKommBGB-Bearbeiter

LIV

Koch, Hans-Joachim/Rüßmann, Helmut, Juristische Begründungslehre – Eine Einführung in Grundprobleme der Rechtswissenschaft, München 1982 Körber, Torsten, Grundfreiheiten und Privatrecht, Tübingen 2004 Kramer, Ernst A., Juristische Methodenlehre, 2. Auflage, Bern/Wien/München 2005 Langenbucher, Katja (Hrsg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, 2. Auflage, Baden-Baden 2008 Larenz, Karl, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, Berlin/Heidelberg/New York/London/Paris/ Tokyo/Hongkong/Barcelona/Budapest 1991 Larenz, Karl/Canaris, Claus-Wilhelm, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Studienausgabe), 3. Auflage, 1995 Lenz, Carl Otto/Borchardt, Klaus-Dieter (Hrsg.), EUund EG-Vertrag. Kommentar zu dem Vertrag über die Europäische Union und zu dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 4. Auflage, Köln 2006 Müller, Friedrich/Christensen, Ralph, Juristische Methodik, Band I: Grundlagen, Öffentliches Recht, 10. Auflage, Berlin 2009 Müller, Friedrich/Christensen, Ralph, Juristische Methodik, Band II: Europarecht, 2. Auflage, Berlin 2007 Münchener Kommentar zum Aktiengesetz – Band 1: §§ 1–75, 3. Auflage, hrsgg. von Wulf Goette und Mathias Habersack, München 2008 – Band 2: §§ 76 – 117, MitbestG, DrittelbG, 3. Auflage, hrsgg. von Wulf Goette und Mathias Habersack, München 2008 – Band 7: §§ 222–277, 2. Auflage, hrsgg. von Bruno Kropff und Johannes Semler, Müchen 2001 – Band 9 Halbband 2: §§ 329–410 AktG, SE-VO, SEBG, Europäische Niederlassungsfreiheit, Die Richtlinien zum Gesellschaftsrecht, 2. Auflage, hrsgg. von Bruno Kropff, Johannes Semler, Wulf Goette und Mathias Habersack, München 2006 Säcker, Franz Jürgen/Rixecker, Roland (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 5. Auflage – Band 1/Teilband 2: Allgemeiner Teil: §§ 1–240. ProstG, München 2006 – Band 1/Teilband 2: Allgemeines Gleichbehandlungsgetz – AGG, München 2007 – Band 2: Schuldrecht – Allgemeiner Teil: §§ 241–432, München 2007 – Band 3: Schuldrecht – Besonderer Teil I: §§ 433–610, Finanzierungsleasing, HeizkostenV, BetriebskostenV, CISG, München 2007 – Band 4: Schuldrecht – Besonderer Teil II: §§ 611–704 EFZG, TzBfG, KSchG, München 2009 – Band 6: Sachenrecht: §§ 854–1296, Wohnungseigentumsgesetz, Erbbaurechtsgesetz, München 2009

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

– Band 10: Internationales Privatrecht, Rom I-Verordnung, Rom II-Verordnung, Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche (Art. 1–24), München 2010 Neuner, Die Rechtsfindung Neuner, Jörg, Die Rechtsfindung contra legem, 2. Aufcontra legem lage, München 2005 Neuner, Privatrecht und SozialNeuner, Jörg, Privatrecht und Sozialstaat, München staat 1999 Oppermann/Classen/Nettesheim, Oppermann, Thomas/Classen, Claus Dieter/Nettesheim, Europarecht Martin, Europarecht – ein Studienbuch, 4. Auflage, München 2009 Palandt-Bearbeiter Palandt, Otto (Begr.), Kommentar zum Bügerlichen Gesetzbuch, 69. Auflage, München 2010 Pawlowski, Methodenlehre Pawlowski, Hans-Martin, Methodenlehre für Juristen, 3. Auflage, Heidelberg 1999 Pechstein/Koenig, Die EuroPechstein, Matthias/Koenig, Christian, Die Europäische päische Union Union, 3. Auflage, Tübingen 2000 Potacs, Auslegung im öffentPotacs, Michael, Auslegung im öffentlichen Recht, lichen Recht Baden-Baden 1994 Rauscher-Bearbeiter Rauscher, Thomas (Hrsg.), Europäisches Zivilprozessrecht mit Insolvenzverordnung und Vollstreckungsverordnung – Kommentar, 2 Bände, 2. Auflage, München 2006 Richter/Furubotn, Neue InstiRichter, Rudolf/Furubotn, Eirik G., Neue Institutionentutionenökonomik ökonomik, 3. Auflage, Tübingen 2003 Riesenhuber, System und Riesenhuber, Karl, System und Prinzipien des EuropäPrinzipien ischen Vertragsrechts, Berlin 2003 Riesenhuber, Europäisches VerRiesenhuber, Karl, Europäisches Vertragsrecht, 2. Auftragsrecht lage, Berlin 2006 Riesenhuber, Europäisches Riesenhuber, Karl, Europäisches Arbeitsrecht, HeidelArbeitsrecht berg 2009 Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre Röhl, Klaus F./Röhl, Hans Christian, Allgemeine Rechtslehre – Ein Lehrbuch, 3. Auflage, Köln/Berlin/Bonn/ München 2008 Rüthers, Rechtstheorie Rüthers, Bernd, Rechtstheorie – Begriff, Geltung und Anwendung des Rechts, 4. Auflage, München 2008 Schäfer/Ott, Lehrbuch der Schäfer, Hans-Bernd/Ott, Claus, Lehrbuch der ökonoökonomischen Analyse mischen Analyse des Zivilrechts, 4. Auflage, Berlin/Heidelberg/New York/Barcelona/Hongkong/London/Mailand/Paris/Singapur/Tokio 2005 Schlechtriem/SchwenzerSchlechtriem, Peter/Schwenzer, Ingeborg (Hrsg.), KomBearbeiter mentar zum Einheitlichen UN-Kaufrecht – Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über Verträge über den internationalen Warenkauf – CISG, 5. Auflage, München 2008 Schmidt-Kessel, Der Gemeinsame Schmidt-Kessel, Martin (Hrsg.), Der Gemeinsame ReReferenzrahmen ferenzrahmen – Entstehung, Inhalte, Anwendung, München 2009 Schuppert/Pernice/Haltern, Schuppert, Gunnar Folke / Pernice, Ingolf / Haltern, Europawissenschaft Ulrich (Hrsg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2005 Schwarze-Bearbeiter Schwarze, Jürgen, (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Auflage, Baden-Baden 2009

LV

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

Staudinger-Bearbeiter

v. Staudinger, Julius (Begr.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen – Buch 1: Allgemeiner Teil, §§ 164–240, Neubarbeitung, Berlin 2009 – Buch 2: Recht der Schuldverhältnisse, Einleitung zum Schuldrecht; §§ 241–243, Neubarbeitung, Berlin 2009 – Buch 2: Recht der Schuldverhältnisse, §§ 305–310; UKlaG, Neubarbeitung, Berlin 2006 – Buch 2: Recht der Schuldverhältnisse, §§ 433–487; Leasing, Neubarbeitung, Berlin 2006 – Buch 2: Recht der Schuldverhältnisse, Wiener UNKaufrecht (CISG), Neubarbeitung, Berlin 2005 Streinz-Bearbeiter Streinz, Rudolf (Hrsg.), EUV/EGV, Kommentar, München 2003 Streinz, Europarecht Streinz, Rudolf, Europarecht, 8. Auflage,Heidelberg 2008 Schübel-Pfister, Sprache und Schübel-Pfister, Isabel, Sprache und GemeinschaftsGemeinschaftsrecht recht – Die Auslegung der mehrsprachig verbindlichen Rechtstexte durch den Europäischen Gerichtshof, Berlin 2004 Vogenauer, Die Auslegung von Vogenauer, Stefan, Die Auslegung von Gesetzen in Gesetzen in England und auf England und auf dem Kontinent – Eine vergleichende dem Kontinent Untersuchung der Rechtssprechung und ihrer historischen Grundlagen, 2 Bände, Tübingen 2001 Walter, Rechtsfortbildung Walter, Konrad, Rechtsfortbildung durch den EuGH. durch den EuGH Eine rechtsmethodische Untersuchung ausgehend von der deutschen und französischen Methodenlehre, Berlin 2009 Zippelius, Methodenlehre Zippelius, Reinhold, Juristische Methodenlehre, 10. Auflage, München 2006 Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung Zweigert, Konrad/Kötz, Hein, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Auflage, Tübingen 1996

LVI

§ 1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht Karl Riesenhuber

Übersicht I. Europa und Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rn. 1

II. Gegenstände einer Europäischen Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2–9

III. Begriff der Europäischen Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10

IV. Der Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11–13

Literatur: Axel Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre – Die begrifflichen und („fuzzy“-)logischen Grenzen der Befugnisnormen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und die Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (2009); Joxerramon Bengoetxea, The Legal Reasoning of the European Court of Justice – Towards a European Jurisprudence (1993); Wolfgang Buerstedde, Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts – Ein Leitfaden (2006); Christoph Busch u.a. (Hrsg.), Europäische Methodik: Konvergenz und Diskrepanz europäischen und nationalen Privatrechts, JbJZ 2009; Axel Flessner, Juristische Methode und europäisches Privatrecht, JZ 2002, 14–23; Günter Hager, Rechtsmethoden in Europa (2009); Thomas Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode – Entwurf einer rechtsvergleichend gewonnenen juristischen Methodenlehre (2009); Martijn Hesselink, A European Legal Method? – On European Private Law and Scientific Method, ELJ 15 (2009), 20– 45; Clemens Höpfner/Bernd Rüthers, Grundlagen einer europäischen Methodenlehre, AcP 209 (2009), 1–36; Katja Langenbucher, Europarechtliche Methodenlehre, in: dies. (Hrsg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts (2. Aufl. 2008); Thomas M.J. Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration – Zur Notwendigkeit einer europäischen Gesetzgebungs- und Methodenlehre (1999); Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Band II: Europarecht (2003).

I.

Europa und Methodenlehre

Der zur ersten Auflage hervorgehobene Befund gilt auch heute noch: In vielen Lehrbüchern zum nationalen Recht sucht man das Stichwort Europa nach wie vor vergebens, ebenso in vielen Büchern zur Methodenlehre. Manchmal findet sich dort nicht mehr als ein Hinweis oder die Erörterung von Einzelfragen auf wenigen Seiten oder sogar nur in einer Fußnote. Auf der anderen Seite stoßen Lehre und vor allem die Praxis immer häufiger auf Methodenfragen im Zusammenhang mit dem Europäischen Recht. Tatsächlich findet man in der Literatur zunehmend Hinweise auf eine spezifische Methodenlehre. So ist schon in den 1970er Jahren der „Beginn einer Karl Riesenhuber

1

1

Einführung

Methodenlehre des Rechts der EWG“ beobachtet worden.1 Gerade auch im Hinblick auf die Rechtsangleichung in Europa ist von einer „harmonisierenden Auslegung“2 sowie von einer „international brauchbaren Auslegung“3 gesprochen worden. Man hat ein „europäisches Gemeinrecht der Methode“ 4 gefordert. Eine „europarechtliche Methodenlehre“, zu der neben methodischen Fragen wie der Auslegung und Rechtsfortbildung auch materiell-rechtliche Fragen gerechnet werden, ist konzipiert und näher ausgeführt worden.5 Man hat auf das Verhältnis von „juristischer Methode und Europäischem Privatrecht“ hingewiesen6 und die Ausbildung einer „gemeineuropäischen Methodenlehre“ gefordert und als Programm formuliert.7 In der Rechtsprechung des EuGH stellt man die Entwicklung einer eigenständigen Methodik fest.8 Gleichzeitig ist indes gerade auch die Rechtsprechung des Gerichtshofs immer wieder Anlass für Kritik wegen eines Mangels an Methode, damit auch eines Mangels an Rationalität, Vorhersehbarkeit und Nachvollziehbarkeit.9

II. 2

Gegenstände einer Europäischen Methodenlehre

In der Tat wirft das Europäische Recht – wie jedes Recht – seine eigenen Methodenfragen auf.10 Bevor diese im Einzelnen erörtert werden, sind zunächst einige Grundlagen zu legen. Nur in Einzelpunkten kann dabei freilich auf die reiche und vielfältige Geschichte des Rechtsdenkens in Europa eingegangen werden.11 Exemplarisch dafür stehen hier zwei Kapitel, die freilich grundlegende Fragen von andauernder Bedeu-

1 Fikentscher, Methoden des Rechts III, S. 784–786: „Es kann nicht ausbleiben, dass auch das Recht der EWG eine eigene Methodik entwickelt.“ Als Forderung formuliert von Behrens, EuZW 1994, 289; auch Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration (freilich weithin rechtspolitisch; zu Einzelfragen der Methodenlehre S. 66–76). 2 Odersky, ZEuP 1994, 1–4. 3 Berger, FS Sandrock (2000), S. 49–64. 4 Berger, ZEuP 2001, 4–29. 5 Langenbucher, in: Ackermann u.a. (Hrsg.), Tradition und Fortschritt im Recht, JbJZ 1999, 65, 67; dies., in: dies. (Hrsg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts (2. Aufl. 2005), S. 1–40; auch Müller/Christensen, Juristische Methodik II. 6 Flessner, JZ 2002, 14–23. S.a. Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts. 7 Häberle, EuGRZ 1991, 261, 272; ders., Europäische Rechtskultur (1994), S. 66; ähnlich Kramer, in: Assmann/Brüggemeier/Sethe (Hrsg.), Unterschiedliche Rechtskulturen – Konvergenz des Rechtsdenkens (2001), S. 31–47; jetzt Vogenauer, ZEuP 2005, 234–263. 8 Herresthal, ZEuP 2009, 600, 602 f. 9 Eindringlich Rebhahn, in diesem Band, § 18 Rn. 77; auch Hesselink, ELJ 15 (2009), 20, 36 ff. (der freilich der Methodenlehre ein Hegemoniestreben im „power struggle between judges, legislators and professors“ unterstellt [mir zweifelhaft] und sich [zustimmungswürdig] für einen Dialog aller beteiligter Gruppen, „an open method of coordination“, ausspricht). 10 M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569–597; jetzt Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 235–240, mit Hinweis auf die Notwendigkeit einer einheitlichen Methodenlehre. 11 S. dazu noch Fikentscher, Methoden des Rechts I (S. 375–586 – Romanischer Rechtskreis), II (S. 1–150 – Englischer Rechtskreis), III (Mitteleuropäischer Rechtskreis); Larenz, Methodenlehre, S. 9–185; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (2. Aufl. 1967).

2

Karl Riesenhuber

§ 1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht

tung betreffen. Zum einen wird die „Juristenmethode in Rom“ erörtert: Fragen des Systemdenkens, der Auslegung und der Rechtsfortbildung im römischen Recht (§ 2). Zum anderen wird die zentrale Frage der Gesetzesbindung und des Verhältnisses von Auslegung und Analogie in historischer und vergleichender Sicht erörtert (§ 3). Zu den Grundlagen der Methodenlehre des Europäischen Rechts gehört weiterhin die Rechtsvergleichung (§ 4). In einem Rechtssystem das auf den vielfältigen Traditionen der Mitgliedstaaten aufbaut und an dessen gesetzgeberischer Gestaltung und richterlicher Anwendung und Fortbildung Juristen aus verschiedenen Ländern mitwirken, ist die Rechtsvergleichung ein naheliegendes Werkzeug. Doch ist umstritten, welche Rolle sie im Rahmen der Methodenlehre spielt. Ähnlich verhält es sich bei der ökonomischen Theorie (§§ 5, 6). Soweit das Recht der Europäischen Union primär auf die Herstellung eines Binnenmarktes ausgerichtet ist, so versteht sich, dass ökonomische Erwägungen eine verhältnismäßig größere Rolle spielen können. Doch auch hier wird die Bedeutung für die Methodenlehre kontrovers diskutiert.

3

Nach diesen Grundlagen sind die Rechtsquellen des Europäischen (Privat-) Rechts zu bestimmen (§ 7). Sie finden sich im Primärrecht und im Sekundärrecht. Beide Bereiche weisen Besonderheiten auf und sind daher auch gesondert zu untersuchen. Zunächst ist die Auslegung und Fortbildung von primärem Unionsrecht zu erörtern (§ 8). Ebenfalls dem primärrechtlichen Bereich kann man auch die primärrechtskonforme Auslegung zurechnen (§ 9). Sie betrifft zwar nicht das Primärrecht selbst, sondern das Sekundärrecht und das nationale Recht, doch ist sie primärrechtlich determiniert.

4

Das Europäische Privatrecht findet sich überwiegend im Sekundärrecht. Gerade für den Bereich des Privatrechts ist hier zunächst das grundlegende Thema der Systembildung zu untersuchen (§ 10), denn es ist nach wie vor umstritten, ob die Rechtsetzung der Europäischen Union im Privatrecht als System begriffen werden kann. Zudem weist das System aber durch seine Verbindung mit dem nationalen Recht Besonderheiten auf. Und nicht zuletzt ist es geradezu andauernd in der Entwicklung befindlich.

5

Für die Praxis stehen drei methodische Einzelfragen im Vordergrund. Praktisch jeder europarechtlich beeinflusste Fall wirft Fragen der Auslegung des Sekundärrechts auf; sie sind in vielem ähnlich zu beantworten wie im nationalen Recht, doch gibt es schon hier Besonderheiten (§ 11). Öfter finden sich im Sekundärrecht Generalklauseln; prominente Beispiele sind die Klauselrichtlinie, die Handelsvertreter-Richtlinie und jetzt die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken. Auch bei der Konkretisierung von Generalklauseln im Gemeinschaftsrecht stellen sich teilweise besondere Fragen, der EuGH beginnt hier, eine eigene Methodik zu entwickeln (§ 12). Und endlich wirft auch die Rechtsfortbildung im Sekundärrecht Fragen auf. Hier gilt es besonders, die Legitimation der Rechtsfortbildung zu ergründen und ihre Grenzen zu bestimmen (§ 13).

6

Da es sich bei dem System des Europäischen (Privat-) Rechts um ein „Zwei-EbenenSystem“ handelt, bei dem das Unionsrecht und die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zusammenwirken, wirft auch die Umsetzung des Unionsrechts im nationalen Recht spezifische Fragen auf. Das betrifft besonders die Umsetzung von Richtlinien.

7

Karl Riesenhuber

3

Einführung

Vor allem stellt sich die Frage, ob und inwieweit das mitgliedstaatliche Recht richtlinienkonform ausgelegt werden kann und muss (§ 14). Hier wirken europarechtliche Anforderungen und mitgliedstaatliche Methodenlehre zusammen. Darüber hinaus wirft aber auch die sogenannte überschießende Umsetzung von Europarecht neben rechtlichen auch methodische Fragen auf (§ 15). Es geht insbesondere darum, ob nationales Recht, dass über den Anwendungsbereich der Richtlinien hinaus diesen entsprechend geregelt ist, europarechtskonform auszulegen ist und ob die mitgliedstaatlichen Gerichte dem EuGH Auslegungsfragen im Hinblick auf die überschießende Umsetzung vorlegen dürfen. Ein Querschnittsthema, das primär im nationalen Recht Bedeutung entfaltet, ist schließlich die Frage nach der Vorwirkung von Richtlinien (§ 16): Inwieweit sind sie schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist auch für die Rechtsfindung von Bedeutung?

8

Fragen der Methodenlehre werden in diesem Band nicht nur theoretisch untersucht, sondern in einem Besonderen Teil auch exemplarisch für einzelne Teilgebiete des Privatrechts vertieft: für das Europäische Vertragsrecht (§ 17), das Europäisches Arbeitsrecht (§ 18), das Europäische Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht (§§ 19, 20) sowie das Europäische Kartellrecht (§ 21). Weiterhin wird erörtert, wie der Europäische Gerichtshof (§ 22) und die obersten deutschen Gerichtshöfe (§ 23) mit Methodenfragen des Europäischen Rechts umgehen. Das bietet nicht nur die Möglichkeit, Methodenaussagen zu überprüfen. Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, inwieweit spezielle Rechtsgebiete spezielle Methodenfragen aufwerfen. Bei alledem geht es nicht nur darum, die vorgefundene Praxis zu resümieren.12 Auch an dieser Stelle soll „der Verzwergung der Rechtswissenschaft zur Rechtsprechungskunde“ entgegengewirkt werden.13 Methodenlehre wird – wie aus dem nationalen Bereich bekannt – nicht als eine empirische Beschreibung verstanden, sondern vielmehr als eine Lehre von der rechtlich richtigen, rationalen, überzeugenden und vorhersehbaren Rechtsfindung.

8a

Europäische Methodenlehre ist kein deutsches Reservat. Mit Recht wird im Schrifttum hervorgehoben, dass sich ein „Wettstreit der nationalen Methoden“ herausbilden muss.14 Institutionell angelegt ist ein solcher Wettstreit in der migliedstaatlich-pluralen Besetzung: „Der Gerichtshof besteht aus einem Richter je Mitgliedstaat“, Art. 19 Abs. 2 S. 1 EUV/221 Abs. 1 EG (jetzt ähnlich für das EuG Art. 19 Abs. 2 UAbs. 1 EUV). Ein solcher Wettstreit setzt zuerst voraus, die migliedstaatlich unterschiedlichen Herangehensweisen offenzulegen. Zu diesem Zweck sind mit dieser Auflage Kapitel mit Länderberichten über Frankreich (§ 24), England (§ 25), Italien (§ 26), Spanien (§ 27) und Polen (§ 28) eingefügt. Hier werden die Grundlagen der nationalen Methodenlehre vorgestellt und die europarechtliche Methodendiskussion der Länder erörtert.

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Methodenlehre ist damit – ungeachtet mancher Vorurteile – eine ausgesprochen praktische Disziplin. Methodenfragen stellen sich schon den Organen der Europäischen 12 Das kritisiert mit Recht Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 243. 13 So für das nationale Schuldrecht Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II/2 (13. Aufl. 1994), S. V f. 14 Herresthal, ZEuP 2009, 600, 602.

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§ 1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht

Union, wenn sie das Primärrecht anwenden, z.B. das Kartellrecht und die Grundfreiheiten. Methodenfragen stellen sich aber auch den mitgliedstaatlichen Gesetzgebern, z.B. wenn sie Richtlinien umsetzen: Wie sind diese auszulegen? Welche Folgen hat eine überschießende Umsetzung? Vor allem muss der Rechtsanwender mit Methodenfragen umgehen. Welche Anforderungen stellt das Primärrecht, und sind Sekundärrecht oder mitgliedstaatliches Recht ggf. primärrechtskonform auszulegen? Was bedeutet das Sekundärrecht und ist das mitgliedstaatliche Recht etwa richtlinienkonform auszulegen? Wem steht die Befugnis zu, Generalklauseln zu konkretisieren: Kommt eine Vorlage an den EuGH in Betracht? Usf.

III. Begriff der Europäischen Methodenlehre Diese Methodenfragen werden am besten mit dem Begriff der Europäischen Methodenlehre umschrieben.15 Dass es dabei um eine Methodenlehre des Europäischen Rechts geht, wie der Begriff der „europarechtlichen Methodenlehre“ hervorheben soll, versteht sich hier so wie bei dem allgemeinen Begriff der Methodenlehre. Die Kennzeichnung als „gemeineuropäisch“ weist auf der anderen Seite eher auf die Gemeinsamkeiten der nationalen Methoden europäischer Staaten (oder auch der Mitgliedstaaten) hin.16 Das ist zwar insoweit treffend, als das Europäische Recht weithin17 eine einheitliche (all-„gemeine“) Methodenlehre verlangt. Indes könnte der Begriff zu der Fehlvorstellung verleiten, es ginge um eine in den europäischen (Mitglied-) Staaten einheitliche Methodenlehre, die auch für das autonom-nationale Recht Geltung beansprucht. Ist auch nicht auszuschließen, dass es zukünftig zu einer solchen Konvergenz der nationalen Methoden kommen wird, so ist das doch derzeit nicht abzusehen.

IV.

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Der Vertrag von Lissabon

Mit dem am 1. Dezember 2009 in Kraft getreteten Vertrag von Lissabon erfahren Europa und das Europarecht grundlegende Änderungen. Schon äußerlich ist der bisherige EU-Vertrag (EU) in den EU-Vertrag Lissaboner Fassung (EUV) aufgegangen, der bisherige EG-Vertrag (EG) im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen 15 Ebenso Häberle, Europäische Verfassungslehre (4. Aufl. 2006), S. 270–272; Köndgen, GPR 2005, 105. Auch Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 323 ff. et passim, spricht von einer „europäischen Methodenlehre“, möchte sie aber stärker rechtsvergleichend fundieren, nämlich auf gemeinsame Grundsätze der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen stützen. 16 Ungeachtet weithin bestehender Übereinstimmung unterscheidet sich daher die von Vogenauer, ZEuP 2004, 234–263 skizzierte „gemeineuropäische“ Methodenlehre von dem vorliegenden Ansatz darin, dass dort Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte zentrale Bedeutung beigemessen wird (S. 246–252) und die „konstruktiv-dogmatischen“ Elemente erst „zu guter Letzt“ eine Rolle spielen (S. 253). 17 Bei der richtlinienkonformen Auslegung geht es hingegen um die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an die mitgliedstaatliche Methodenlehre. Karl Riesenhuber

5

11

Einführung

Union (AEUV). Dahinter stehen sachliche Gründe. Die Europäische Union hat nunmehr eigene Rechtspersönlichkeit (Art. 47 EUV) und tritt als Rechtsnachfolgerin an die Stelle der Europäische Gemeinschaft (Art. 1 Abs. 3 S. 3 EUV). Damit wird jedoch nicht etwa das gesamte Unionsrecht zu einer eigenständigen supranationalen Rechtsordnung, als welche das Recht der Europäischen Gemeinschaft mit seinem Anwendungsvorrang gegenüber den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen anzusehen war. Vielmehr bleibt mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik auch weiterhin ein – wenn auch kleinerer – Teil der Unionspolitiken der intergouvernementalen Zusammenarbeit vorbehalten.18

12

Mit den Änderungen durch den Vertrag von Lissabon sind teilweise neue methodische Fragen verbunden. Darüber hinaus haben wir es aber auch mit neuen Begriffen zu tun. Bezeichnete man das Recht der Europäischen Gemeinschaft als Gemeinschaftsrecht, so liegt es nahe, nunmehr vom Unionsrecht zu sprechen. Da freilich das Unionsrecht Lissaboner Fassung nicht dieselben Gegenstände hat wie vordem das Gemeinschaftsrecht (soeben, Rn. 11), können hier Missverständnisse auftreten. Mit dem Oberbegriff des Europarechts kann man sich nicht in jedem Fall behelfen. Abgeleitete Begriffe (gemeinschaftsautonome Auslegung, gemeinschaftsrechtskonforme Rechtsfindung) werfen weitere Fragen auf. Derzeit, kurz nach Inkrafttreten des Lissaboner Vertrags, zeichnet sich eine allgemein akzeptierte Begriffsbildung noch nicht ab. Im Mittelpunkt der Erörterung in diesem Buch steht zudem vielfach die bisherige Rechtsprechung mit ihrer etablierten Diktion; auch künftig werden europarechtliche Methodenfragen in vielen Fällen noch die alte Rechtslage vor dem 1. Dezember 2009 betreffen. Jedenfalls der Bereich des Privatrechts, das in diesem Band besondere Aufmerksamkeit erfährt, wird in vielen Bereichen bis auf weiteres von Rechtsakten beherrscht, die auf der Grundlage des alten EG-Vertrags und seiner Kompetenznormen ergangen sind.

13

Diesem Nebeneinander von sachlichen Änderungen und andauernder Relevanz des bisherigen Rechts trägt die Darstellung in unterschiedlicher Weise Rechnung. Vorschriften des Primärrechts werden darin stets in neuer und alter Fassung zitiert, so dass z.B. die Grundnorm über die Rechtsakte der Europäischen Union (bisher: Europäischen Gemeinschaft) zitiert wird als Art. 288 AEUV/249 EG. Im Hinblick auf die Terminologie werden die bisherigen Begriffe – auch aus Gründen sprachlicher Konvenienz – gleichberechtigt neben neuen Kreationen verwandt, also neben Unionsrecht und unionsrechtsautonomer Auslegung auch weiterhin von Gemeinschaftsrecht, gemeinschaftsautonomer Auslegung o.ä. gesprochen. Damit sollen die inhaltlichen Änderungen durch den Vertrag von Lissabon nicht ignoriert, sondern die Arbeit mit diesem Band durch Anlehnung an den bekannten Begriff erleichtert werden. Auch wo die etablierten Begriffe verwendet werden, ist freilich nicht auf das Gemeinschaftsrecht a.F. vor Lissabon Bezug genommen, sondern auf das Primärrecht in der Lissaboner Fassung (Rn. 11). Dort, wo es auf die trennscharfe Unterscheidung ankommt, wie insbesondere in § 8 über die Auslegung und Fortbildung des Primär-

18 Eingehend Pechstein/Drechsler, in diesem Band, § 8 Rn. 4.

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Karl Riesenhuber

§ 1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht

rechts, wird freilich auf die Abgrenzung von intergouvernementaler Zusammenarbeit und supranationaler Rechtsordnung nicht verzichtet. Auch die Bezeichnung der Judikative hat sich geändert. Nach Art. 19 EUV „umfasst“ der „Gerichtshof der Europäischen Union“ „den Gerichtshof, das Gericht und Fachgerichte“. Für den „Gerichtshof“ wird trotzdem die Bezeichnung EuGH beibehalten, das frühere „Gericht erster Instanz“ und jetzige „Gericht“ wird unverändert als EuG bezeichnet.

Karl Riesenhuber

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14

1. Teil: Grundlagen § 2 Juristenmethode in Rom Jan Dirk Harke

Übersicht I. Intuition oder Plan? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entscheidungsbegründungen und Fallanknüpfung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Systematische Rechtsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rn. 1–7 1–4 5–7

II. Deduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Juristenregeln als Subsumtionsbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesetzesauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8–17 8–11 12–17

III. Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fortentwicklung des Juristenrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fortbildung des Gesetzesrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18–33 19–30 31–33

IV. Zusammenfassung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

Literatur: Tomasz Giaro, Über methodologische Werkmittel der Romanistik, SavZRG – Rom. Abt. – 105 (1988), 181–262; Jan Dirk Harke, Argumenta Iuventiana, Entscheidungsbegründungen eines hochklassischen Juristen (1999); Franz Horak, Rationes decidendi, Entscheidungsbegründungen bei den älteren römischen Juristen bis Labeo (1969); Max Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse (1962), S. 49–78; Rolf Knütel, Zur Rechtsfindung der Römer, in: Alfred Söllner u.a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze (2005), S. 475–499; Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Ein Fragment, Bd. 2 (2006), S. 45–52.

I.

Intuition oder Plan?

1.

Entscheidungsbegründungen und Fallanknüpfung

Folgt man der Ansicht zweier der bedeutendsten Romanisten des 20. Jahrhunderts, war die Rechtsfindung in Rom eher eine Sache des Gefühls als das Produkt rationaler Vorgehensweise. Franz Wieacker schreibt die Entscheidungen der römischen Juristen in erster Linie ihrem „Judiz“ zu.1 Dieses sei zwar das Ergebnis eines Lernprozesses, 1 Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 45 f. Jan Dirk Harke

9

1

1. Teil: Grundlagen

unterscheide sich aber doch erheblich von der planmäßigen Entscheidungsfindung moderner Prägung, zumal der römische Jurist in erster Linie Ähnlichkeitsurteile zwischen einem schon entschiedenen und einem noch zu entscheidenden Fall getroffen habe.2 Noch weiter geht Max Kaser, der den römischen Quellen zwar in vielfacher Hinsicht kohärente Regelungsbereiche entnimmt, ihre Genese jedoch auf die „Intuition“ der römischen Juristen zurückführt.3 Sie hätten den zu lösenden Fall „unmittelbar erfasst“ und sich bei seiner Entscheidung in erster Linie auf ihre Erfahrung und ihr Sachgefühl verlassen 4.5 Zwar mache sich in der späten Republik eine gewisse Hinwendung zur Theorie bemerkbar; diese Tendenz sei jedoch rasch zugunsten einer Orientierung an Leitfällen überwunden worden,6 die Regeln, soweit sie überhaupt gebildet wurden, nur als Erfahrungsaussagen zugelassen habe.7 Wichtiger als das Argument sei für die römischen Rechtswissenschaftler stets die Autorität, also das Ansehen des Juristen gewesen, der denselben oder einen ähnlichen Fall schon entschieden habe.8

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Das von Kaser und Wieacker gezeichnete Bild der römischen Jurisprudenz wird schon durch die bloße Zahl der überlieferten Entscheidungsbegründungen in Frage gestellt. Hätten die römischen Juristen ihre Falllösungen mehr erahnt als abgeleitet, dürfte es in den überlieferten Auszügen aus ihren Schriften kaum Argumentationen geben. Zwar ist nicht zu leugnen, dass es unter den Werken der römischen Jurisprudenz reine Entscheidungssammlungen gab, die sich wie etwa die in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts entstandenen Responsen des Scaevola durch eine regelrechte Begründungsabstinenz auszeichnen.9 Hieraus auf eine intuitive Rechtsfindung zu schließen wäre gleichwohl ebenso falsch wie anzunehmen, dass die französische Cour de Cassation ihre Entscheidungen weniger rational träfe als der deutsche Bundesgerichtshof, der deutlich größeren Begründungsaufwand als das oberste französische Zivilgericht treibt. Im juristischen Diskurs können durchaus auch Entscheidungen, die mit wenigen Argumenten unterlegt oder gar überhaupt nicht begründet sind, einen Beitrag zur planmäßigen Rechtsfindung leisten, sofern sie nur von Fachkollegen rezipiert werden, für die sich alle oder zumindest die meisten Schritte der Falllösung von selbst verstehen. Darf man Begründungslücken also von Vornherein nicht

2 Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 48 ff. 3 Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 49, 54. 4 Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 54 f. Ebenso heute noch Waldstein/ Rainer, Römische Rechtsgeschichte (10. Aufl. 2005), Rn. 33.12. 5 Ähnlich Bund, Untersuchungen zur Methode Julians (1965), S. 178 ff., der den römischen Juristen ein konkretes Denken jenseits von Systemzusammenhängen attestiert. Etwas anders ist der Ansatz von Viehweg, Topik und Jurisprudenz (5. Aufl. 1974), S. 26 ff., der den römischen Juristen ein zwar rationales, aber unstetes „Problemdenken“ bescheinigt, das im Gegensatz zu einem „Systemdenken“ stehe; hiergegen nachdrücklich Horak, Rationes decidendi, S. 44 ff. 6 Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 67. 7 Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 60. 8 Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 55. 9 Hierauf beruft sich denn auch Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 55.

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Jan Dirk Harke

§ 2 Juristenmethode in Rom

als Zeichen für intuitives Entscheiden ansehen, bedeutet die Existenz von Begründungen durchaus einen Beweis für eine rationale Falllösungstechnik. Dass es in den Quellen des römischen Rechts viele Entscheidungsbegründungen gibt,10 konnte im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts, als auch die Theorie von der intuitiven Rechtsfindung der Römer entstand, nur deshalb verborgen bleiben, weil man im Zuge einer völlig übersteigerten Textkritik die meisten der überlieferten Argumente für das Werk nachträglicher Textbearbeitung erklärt hatte.11 War diese Kritik zunächst noch von dem Ziel getragen, die überlieferten Begründungen durch Erwägungen zu ersetzen, die man in der modernen Forschung für die eigentlich ausschlaggebenden Gesichtspunkte hielt, hatte man die klassischen Quellen schließlich doch zu einem Torso gemacht, so dass in dem Moment, in dem man den willkürlichen Charakter der modernen Unterstellungen erkannte, nichts anderes übrigblieb, als die Entscheidungen der römischen Juristen einer weitgehend intuitiven Rechtsfindung zuzuschreiben. Geht man dagegen von der Echtheit des überlieferten Textes als Regel aus, findet man Entscheidungsbegründungen in großer Zahl, die die Rationalität der römischen Jurisprudenz außer Frage stellen. So enthalten die rund 1000 Fragmente, in denen Entscheidungen der bis zur Zeitenwende tätigen Juristen überliefert sind, annähernd 300 Begründungen.12 Und beim hochklassischen Juristen Celsus, der in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts wirkte, kommen auf etwa 280 Textauszüge fast 100 Begründungen.13 Stellt man in Rechnung, dass viele der Argumente einer Kürzung durch späteres Zitat14 oder der Redaktion der klassischen Texte im Zuge der byzantinischen Kodifikation zum Opfer gefallen sind, muss man für die Originalschriften der römischen Juristen mit einer noch deutlich höheren Begründungsdichte rechnen.

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Dabei sind noch gar nicht die Zeugnisse einer Fallanknüpfung durch unkommentierte Bezugnahme auf einen Vergleichsfall mitgezählt, wie sie auch und gerade in den Werken mit geringerer Argumentationshäufigkeit vorkommt. Zwar kann man sie nicht Entscheidungsbegründung im eigentlichen Sinne nennen, weil ja gerade das tertium comparationis zwischen Haupt- und Vergleichsfall unbenannt bleibt.15 Die Rechtsfindung erfolgt jedoch auch hier nicht intuitiv, sondern planmäßig, weil sich der Jurist, der einen Vergleichsfall heranzieht, ja von der Prämisse leiten lässt, dass wesentlich Gleiches gleich, wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln ist. Dies gilt

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10 Dies übersehen Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 55 und Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 49. 11 Den Zusammenhang zwischen der Intuitionsthese und der Interpolationenkritik stellt, allerdings mit etwas anderer Tendenz, auch Knütel, GS Heinze, S. 477 f. heraus. 12 Horak, Rationes decidendi, S. 289. 13 Harke, Argumenta Iuventiana, S. 17 f. 14 Dies belegt die Verteilung der Entscheidungsbegründungen im Werk des Celsus, wo zwei Drittel der Argumente auf die Originalauszüge aus seinen digesta entfallen, die aber bloß die Hälfte des überlieferten Materials ausmachen, während der Rest aus Zitaten durch spätere Juristen, vor allem durch den Spätklassiker Ulpian besteht; vgl. Harke, Argumenta Iuventiana, S. 18. 15 Bund, Untersuchungen zur Methode Julians (1965), S. 124 ff., Harke, Argumenta Iuventiana, S. 29. Jan Dirk Harke

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1. Teil: Grundlagen

sowohl in dem Fall eines gewöhnlichen Analogieschlusses als auch im Fall einer reductio ad absurdum; 16 denn hier wie dort strebt der Jurist danach, eine Regel aufzustellen oder zu widerlegen, die zwar nicht als solche benannt ist, sich aber doch am Vergleichsfall bewährt oder durch ihn falsifiziert wird.17 2.

Systematische Rechtsfindung

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Sind nicht nur ausdrückliche Entscheidungsbegründungen, sondern auch Fallanknüpfungen ohne weitere Erläuterung Ausdruck rationaler Rechtsfindung, verwundert nicht, dass wir in den Quellen des klassischen römischen Rechts auch Zeugnisse einer systematischen Ableitung von Entscheidungen finden. Ein gutes Beispiel18 hierfür bietet Celsus’ Traktat zu der kaufähnlichen Vereinbarung über den Austausch des Eigentums an einem Sklaven gegen Geld:

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D 12.4.16 Cels 3 dig Dedi tibi pecuniam, ut mihi Stichum dares: utrum id contractus genus pro portione emptionis et venditionis est, an nulla hic alia obligatio est quam ob rem dati re non secuta? in quod proclivior sum: et ideo, si mortuus est Stichus, repetere possum quod ideo tibi dedi, ut mihi Stichum dares. finge alienum esse Stichum, sed te tamen eum [tradidisse] : repetere a te pecuniam potero, quia hominem accipientis non feceris: et rursus, si tuus est Stichus et [pro evictione eius promittere] non vis, non liberaberis, quo minus a te pecuniam repetere possim. Ich habe dir Geld gegeben, damit du mir Stichus übereignest. Ist dies zumindest teilweise ein Kauf, oder entsteht keine andere Verpflichtung als die auf Rückgewähr dessen, was zu einem bestimmten Zweck gegeben worden ist, wenn der Zweck nicht eingetreten ist? Hierzu neige ich mehr. Und daher kann ich zurückfordern, was ich dir gegeben habe, damit du mir Stichus gibst, wenn Stichus gestorben ist. Nimm an, der Sklave sei fremd, aber von dir durch mancipatio übereignet worden: Ich kann das Geld von dir zurückfordern, weil du den Sklaven nicht zu meinem Eigentum gemacht hast. Und umgekehrt, wenn der Sklave dir gehört, aber du ihn nicht durch mancipatio übereignen willst, wirst du nicht davon befreit, dass ich von dir das Geld zurückfordern kann.

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Da der römische Kaufvertrag den Verkäufer nicht zur Übereignung einer Kaufsache verpflichtete (s.u. Rn. 20 ff.), kann Celsus die Abrede, gegen Geldzahlung das Eigentum an einem Sklaven zu übertragen, bestenfalls teilweise (pro portione) als Kauf gelten lassen und entscheidet sich sogar dafür, es als atypisches Tauschgeschäft anzusehen, das sich nicht den anerkannten Vertragsarten zuordnen lässt. Hieraus folgt, dass der Teil, der Geld vorgeleistet hat, um das Eigentum an dem Sklaven zu erlangen, nur einen Kondiktionsanspruch hat, wenn ihm das Eigentum an den Sklaven nicht verschafft wird.19 Ist diese Lösung für ihn auch insofern nachteilig, als er ein

16 Hierzu Giaro, OIR 11 (2006), 31 ff. 17 Anders als Horak, Rationes decidendi, S. 17 ff. und Knütel, GS Heinze, S. 498 würde ich daher die Bedeutung der Intuition auch für den „Entdeckungszusammenhang“ nicht überschätzen wollen. 18 Andere führt Knütel, GS Heinze, S. 479 ff. auf, der insbesondere zeigt, wie die römischen Juristen ein Prinzip bis hin zum Grenzfall verfolgen, in dem seine Geltung zweifelhaft wird. 19 Zur Deutung dieser Grundentscheidung und zum Umfang der Textveränderung durch die byzantinischen Redaktoren ausführlich Harke, Argumenta Iuventiana, S. 49 ff.

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§ 2 Juristenmethode in Rom

Klagerecht erst durch Vorleistung erwirbt, erweist sie sich im Fall der Leistungsstörung doch in mehrfacher Hinsicht als günstiger: Stirbt der Sklave vor der Übereignung, kann er den Geldbetrag zurückfordern, während er als Käufer ab Vertragsschluss die Preisgefahr trüge (periculum emptoris)20 und keine Erstattung des Kaufpreises verlangen könnte. Gehört der Sklave nicht dem Veräußerer, kann der Erwerber ebenfalls umgehend eine Rückzahlung des Geldes fordern, wohingegen er als Käufer nur dann einen Anspruch gegen den Veräußerer hätte, wenn ihm der Sklave von seinem wahren Eigentümer wieder abgenommen worden wäre. Derselbe Unterschied besteht schließlich im dritten Fall, in dem der Veräußerer zwar Eigentümer des Sklaven ist, diesen aber nur übergeben und nicht übereignen will: Der Erwerber kann hier ebenfalls den gezahlten Geldbetrag zurückverlangen, während ihm, wenn er Käufer wäre, mangels Anspruchs auf Übereignung ein schätzbares Interesse am Eigentumserwerb fehlte, da der Sklave ihm ja schon übergeben worden ist und ihm nicht mehr mit Erfolg streitig gemacht werden kann. Die Lösungen aller drei Fallgestaltungen ergeben sich aus der Grundentscheidung gegen die Anwendung des Kaufrechts und für die Gewährung einer Zweckverfehlungskondiktion. Celsus stellt sie an den Anfang, um dann planmäßig Schlussfolgerungen zu ziehen, die den Unterschied von Kauf- und Kondiktionsrecht deutlich machen.

II.

Deduktion

1.

Juristenregeln als Subsumtionsbasis

Die systematische Ableitung von Falllösungen aus der Zuordnung einer Vereinbarung zu einem Geschäftstyp, wie sie Celsus für den Austausch von Geld und Sacheigentum vornimmt, beweist, dass die Rechtsfindung auch in einer weitgehend ungeschriebenen Rechtsordnung keineswegs auf die Fallanknüpfung beschränkt oder auch nur konzentriert ist. Deduktive Rechtsfindung ist hier ebenso möglich und häufig,21 nimmt ihren Ausgang aber eben nicht vom Gesetzesrecht, sondern von den Regeln, die die Jurisprudenz aufgestellt hat.22 Dass diese auch in Rom nicht völlig losgelöst vom Gesetz tätig wurde, aber weiten Spielraum durch die hiervon gelassenen Lücken hatte, zeigt der Fall des Celsus: Die Regel, dass der Austausch zweier Sachen mit dem Ziel des beiderseitigen Eigentumserwerbs kein Kaufvertrag war und auch nicht wie ein solcher behandelt wurde, hat sich in der Diskussion der beiden großen römischen Juristenschulen, der Sabinianer und der Prokulianer, herausgebildet, die im ersten Jahrhundert n. Chr. entstanden sind. Während die Sabinianer für die Anwendung des Kaufrechts eintraten, weil der Tausch die Vor- oder Urform des Kaufs sei, meinten

20 S.u. Rn. 20 ff. 21 Richtig Giaro, SavZRG – Rom. Abt. – 105 (1988), 180, 207 ff.; vgl auch ders., Römische Rechtswahrheiten (2007), S. 433 ff. und Harke, Argumenta Iuventiana, S. 39 ff. 22 Dass weniger das Juristenrecht als die kaiserliche Rechtsprechung die Ursache für einen regelrechten Rechtspositivismus der hochklassischen Jurisprudenz gelegt habe, glaubt dagegen Klami, Sacerdotes iustitiae (1978), S. 70 ff. Jan Dirk Harke

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1. Teil: Grundlagen

die Prokulianer, zu denen auch Celsus gehörte, der Tausch könne keinesfalls wie ein Kaufvertrag behandelt werden. Denn es sei unklar, wer die Rolle des Käufers und wer die Rolle des Verkäufers übernehmen solle; und es könnten auch nicht beide zugleich jeweils Käufer und Verkäufer sein, da den einen mit der Zahlungspflicht ja auch eine Verpflichtung zur Übereignung treffe, während der andere die Sache nur übergeben müsse:

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Gai 3.141 Item pretium in numerata pecunia consistere debet. nam in ceteris rebus an pretium esse possit, veluti homo aut toga aut fundus alterius rei pretium esse possit, valde quaeritur. nostri praeceptores putant etiam in alia re posse consistere pretium; unde illud est, quod vulgo putant per permutationem rerum emptionem et venditionem contrahi, eamque speciem emptionis venditionisque vetustissimam esse; argumentoque utuntur graeco poeta homero, qui aliqua parte sic ait: … diversae scholae auctores dissentiunt aliudque esse existimant permutationem rerum, aliud emptionem et venditionem; alioquin non posse rem expediri permutatis rebus, quae videatur res venisse et quae pretii nomine data esse, sed rursus utramque rem videri et venisse et utramque pretii nomine datam esse absurdum videri. … Ebenso muss der Preis in Geld bestehen. Es ist aber sehr umstritten, ob der Preis für eine Sache in etwas anderem als in Geld bestehen kann, ob zum Beispiel ein Sklave oder eine Toga oder ein Grundstück der Preis sein können. Unsere Lehrer sind der Ansicht, dass der Preis auch in einer anderen Sache bestehen kann. Hier liegt der Grund für die landläufige Auffassung, dass auch durch den Tausch von Sachen ein Kauf zustande komme und dass der Tausch die älteste Art des Kaufs sei. Zum Beweis führen sie den griechischen Dichter Homer an, der an einer Stelle sagt: … Die Lehrer der anderen Schule widersprechen und glauben, dass Tausch und Kauf verschiedene Dinge seien; sonst könne einerseits im Nachhinein nur schwer bestimmt werden, welche Sache verkauft und welche als Preis gegeben sei; andererseits sei es unsinnig, jede der beiden Sachen zugleich als Kaufsache und als Kaufpreis anzusehen. …

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Einen gesetzlichen Anknüpfungspunkt hat die Auseinandersetzung über die Ähnlichkeit oder Verschiedenheit von Kauf und Tausch nur insofern, als im Edikt des römischen Gerichtsmagistrats Rechtsschutz für die Parteien eines Kaufvertrags verheißen wird und ihnen die Käufer- (actio empti) und die Verkäuferklage (actio venditi) zugebilligt werden. Alles Weitere und insbesondere die Antwort auf die Frage, was denn ein Kauf sei und wozu er verpflichte, war im Einzelfall dem Richter, im Allgemeinen der Rechtswissenschaft überlassen, die eine Vorgabe bloß dadurch erhielt, dass die Beurteilung der Parteipflichten nach den Klagformularen dem Gebot der guten Treue (bona fides) unterlag. Für das Problem, ob der Verkäufer nur die Übergabe und nicht auch die Übereignung der Kaufsache schuldete und wie sich dies auf die Einordnung des Tauschs auswirkte, war diese Vorgabe unergiebig. Die Divergenz von Käufer- und Verkäuferpflicht, die für die Prokulianer entscheidend gegen die Anwendung des Kaufrechts sprach, hatte ihre Wurzel in der ursprünglichen Struktur des Kaufvertrags,23 der anfangs nicht Distanz-, sondern Bargeschäft war, also im sofortigen Aus-

23 Vgl. zum „Barkaufprinzip“ oder „Veräußerungscharakter“ des römischen Kaufs Ernst, SavZRG – Rom. Abt. – 96 (1979), 216 ff. und Wolf, IVRA 52 (2001), 29 ff., ferner Harke, Römisches Recht (2008), Rn. 8.1 ff.

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§ 2 Juristenmethode in Rom

tausch der beiderseitigen Leistungen bestand und die Funktion hatte, einen Rechtsgrund für den Verbleib dieser Leistungen beim jeweiligen Empfänger zu bieten. Als man hieraus allmählich ein Verpflichtungsgeschäft machte, indem man zunächst einer Seite, die schon vorgeleistet hatte, dann unabhängig hiervon aufgrund der bloßen Vereinbarung eine Klage auf die Leistung des anderen Teils einräumte, sparte man den Eigentumserwerb des Käufers von den geschaffenen Obligationen aus und beließ die entsprechende Leistung des Verkäufers gewissermaßen im Rechtsakt des Kaufvertrags: Schon mit seinem Abschluss hatte der Verkäufer das Eigentum an der Kaufsache dem Käufer zugestanden. Zwar hatte dieser so noch keine Rechtsposition erlangt, die Dritten gegenüber wirksam gewesen wäre; im Verhältnis der Vertragsparteien galt er jedoch schon als Inhaber der Kaufsache, so dass den Verkäufer nur noch die Verpflichtung zu ihrer Übergabe traf. Dieser Vorstellung, die sich aus der Weiterentwicklung des Kaufs vom Bar- zum Distanzgeschäft als reines Juristendogma entwickelt hatte, entsprang auch die Zuweisung der Preisgefahr an den Käufer (periculum emptoris), die Celsus mit seiner Entscheidung gegen das Kaufrecht dem an der Übereignung des Sklaven interessierten Teil gerade ersparte. Auch die von Celsus befürwortete Alternative eines Anspruchs auf Rückzahlung des Geldbetrags war mit dem Gesetz nur über eine Kette von Schlüssen verbunden, die wiederum reines Juristenwerk waren: Im Edikt des Gerichtsmagistrats fand sich lediglich die Klage mit Namen condictio aufgeführt, deren abstrakte Formel sie vielfältig verwendbar machte. Statt sie zum Universalinstrument für den Anspruch auf Leistung zu machen, beschränkten die römischen Juristen sie aber auf zwei Grundfälle, zum einen auf die Verpflichtung aus einem Vermächtnis und einem abstrakten Schuldversprechen, für die schon ihr Vorgänger im alten römischen Zivilprozess zuständig war, zum anderen auf die Verpflichtung aus ungerechtfertigter Bereicherung. Diese trat wiederum in zwei Varianten auf: Auf der einen Seite stand die vertragliche Verpflichtung zur Rückzahlung eines Darlehens, dessen Verbleib beim Darlehensnehmer nach dem Ende der Laufzeit des Darlehens ohne Rechtsgrund war; auf der anderen Seite gab es die nicht durch Vertragsschluss begründete Verpflichtung zur Herausgabe dessen, was unberechtigt erlangt worden war. Sie zerfiel wiederum in zwei Tatbestände, einerseits die Rückgewährpflicht aus unberechtigtem Eingriff (iniusta causa), insbesondere wegen Diebstahls, andererseits die Pflicht zur Erstattung einer rechtsgrundlosen Leistung (datio sine causa).24 Einen Unterfall dieses zweiten Tatbestands, dessen prominenter Anwendungsfall die irrtümliche Leistung auf eine Nichtschuld war, bildete nun die nicht von einer der Vertragsarten erfasste Leistung in Erwartung einer Gegenleistung, die der schon erfolgten Zuwendung ihren Rechtsgrund hätte geben können, dann aber ausblieb. Dass ihr Ausfall einen Rückgewähranspruch auslöst, ist also wiederum das Ergebnis einer Einordnung des zu entscheidenden Falles in ein Dogmensystem, das auf minimaler gesetzlicher Vorgabe durch die römische Jurisprudenz entwickelt worden war. Es verdient die Bezeichnung „Deduktion“ oder

24 Hierzu Harke, Römisches Recht (2008), Rn. 11.10 ff. Jan Dirk Harke

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1. Teil: Grundlagen

auch „Subsumtion“ nicht weniger als der heutige Schluss auf eine Falllösung aus dem Gesetzesrecht.25 2.

Gesetzesauslegung

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Bestand das römische Recht überwiegend aus Juristendogmen, deren Verständnis sich mangels feststehenden Wortlauts und Kenntnis ihrer Urheberschaft zwangsläufig nur nach ihrem vernünftigen Sinn richten konnte, gab es in Rom – vor allem im Bereich der außervertraglichen Haftung – doch auch Gesetzesrecht,26 bei der sich ein breiteres Interpretationsspektrum eröffnete.27 Genutzt wurde es nicht anders als heute durch Ermittlung des Ziels der gesetzlichen Bestimmung. Dabei war es auch hier der vernünftige Sinn einer Regel, oder modern gesprochen: die objektiv-teleologische Interpretation, die im Vordergrund stand,28 während sich eine Rücksicht auf die konkreten Vorstellungen des Gesetzgebers nur selten findet. Der Grund hierfür ist einfach: Gesetzgeberische Absichten waren entweder wie vor allem in der Gesetzgebung der römischen Kaiser durch Senatsbeschluss zum Teil des Gesetzestextes selbst oder seiner Einleitung gemacht und damit ihrerseits Gegenstand der Interpretation nach objektiven Gesichtspunkten; oder sie waren mangels Dokumentation nur noch schwer oder gar nicht greifbar und bloß aus dem sozialen Kontext der Gesetzgebung zu erschließen. Ein Fall einer solchen Auslegung, die nach moderner Terminologie als subjektiv-teleologisch gelten könnte, ist wiederum im Werk des Celsus überliefert, der sich mit der Haftung des Eigentümers eines Sklaven für eine von diesem verübte Untat beschäftigt:

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D 9.4.2 Ulp 18 ed Si servus sciente domino occidit, in solidum dominum obligat, ipse enim videtur dominus occidisse: si autem insciente, noxalis est, nec enim debuit ex maleficio servi in plus teneri, quam ut noxae eum dedat. (1) Is qui non prohibuit, sive dominus manet sive desiit esse dominus, hac actione tenetur: sufficit enim, si eo tempore dominus, quo non prohibeat, fuit, in tantum, ut Celsus putet, si fuerit alienatus servus in totum vel in partem vel manumissus, noxam caput non sequi: nam servum nihil deliquisse, qui domino iubenti obtemperavit. … Celsus tamen differentiam facit inter legem Aquiliam et legem duodecim tabularum: nam in lege antiqua, si servus sciente domino furtum fecit vel aliam noxam commisit, servi nomine actio est noxalis nec dominus suo nomine tenetur, at in lege Aquilia, inquit, dominus suo nomine tenetur, non servi. utriusque legis reddit rationem, duodecim tabularum, quasi voluerit servos dominis in hac re non obtemperare, Aquiliae, quasi ignoverit servo, qui domino paruit, periturus si non fecisset. …29

25 Zu eng scheint mir daher der Begriff der Subsumtion bei Horak, Rationes decidendi, S. 84 ff., der deduktive Entscheidungen häufig den abgesonderten „Wahrscheinlichkeitsbegründungen“ zuweist. Dass Fallentscheidungen unscharf sind, bedeutet noch nicht, dass man ihnen den Charakter der Deduktion absprechen kann. 26 Zu dessen Rolle und seiner Bedeutung für die Tätigkeit der Juristen eingehend Baldus, in diesem Band, § 3 Rn. 12 ff. 27 Dieses wurde auch ausgenutzt; vgl. Giaro, Römische Rechtswahrheiten (2007), S. 460. 28 Vgl. Vonglis, La lettre et l’esprit de la loi (1961), S. 180 und Medicus, in: ders./Seiler (Hrsg.), Studien im römischen Recht (1973), S. 77 ff. 29 Hierzu ausführlich Harke, Argumenta Iuventiana, S. 70 ff.

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§ 2 Juristenmethode in Rom Hat ein Sklave mit Wissen seines Eigentümers getötet, macht er diesen in vollem Umfang (aus der lex Aquilia) haftbar; denn der Eigentümer wird so angesehen, als habe er selbst getötet. Hat der Sklave dagegen ohne Wissen seines Eigentümers getötet, greift die Noxalhaftung ein, und der Eigentümer haftet für die Untat des Sklaven nur mit der Einschränkung, dass er ihn dem Geschädigten ausliefern und sich so befreien kann. (1) Wer den Sklaven nicht an seiner Tat gehindert hat, haftet mit der Klage (aus der lex Aquilia), und zwar unabhängig davon, ob er der Eigentümer bleibt oder diese Rechtsstellung aufgibt; denn es genügt, dass er Eigentümer zu dem Zeitpunkt war, in dem er die Tat nicht verhindert hat. Dies geht, wie Celsus glaubt, so weit, dass die Noxalhaftung, wenn der Sklave ganz oder zum Teil veräußert oder freigelassen wird, nicht dem Sklaven folgt. Denn der Sklave, der nur dem Befehl seines Herrn gefolgt sei, habe nichts verbrochen. … Celsus differenziert zwischen der lex Aquilia und dem Zwölftafelgesetz. Denn nach dem älteren Gesetz greift auch dann, wenn der Sklave mit Wissen des Herrn einen Diebstahl oder eine andere Untat begangen hat, die Noxalhaftung ein, und der Eigentümer hafte nicht für eigenes Unrecht, während nach der lex Aquilia der Eigentümer für die eigene Tat verantwortlich sei, nicht für die des Sklaven. Er gibt auch für jedes der beiden Gesetze den Gesetzeszweck an: Das Zwölftafelgesetz habe gewollt, dass die Sklaven ihren Herrn in diesem Fall nicht gehorchen, die lex Aquilia habe einen Sklaven, der dem Befehl seines Eigentümers folgt, entschuldigt, da er zu sterben drohte, wenn er es nicht getan hätte. …

Nach einem Satz des 450 v. Chr. geschaffenen Zwölftafelgesetzes haftete der Eigentümer eines Sklaven zwar für dessen Delikte, aber nur mit der Einschränkung, dass er sich durch die Auslieferung des Sklaven befreien konnte. Diese sogenannte Noxalhaftung traf ihn nur so lange, wie er Eigentümer des Sklaven war, und ging mit dessen Übereignung auf seinen Erwerber, bei einer Freilassung des Sklaven auf diesen selbst über. Etwas anderes galt, wenn der Sklave die Tat auf Geheiß oder zumindest mit Wissen des Eigentümers verübt hatte. In diesem Fall haftete der Eigentümer, der sich des Sklaven wie eines Instruments bedient hatte, aufgrund der 286 v. Chr. entstandenen lex Aquilia selbst. Nach Ansicht von Celsus 30 konkurrierte diese Eigenhaftung des Sklavenherrn nicht mit der älteren Noxalhaftung, so dass diese auch nicht auf dem Sklaven lasten und mit seiner Veräußerung oder Freilassung übergehen konnte. Als Grund für den Wegfall der Noxalhaftung beruft sich Celsus auf die unterschiedliche gesetzgeberische Absicht, die hinter dem Zwölftafelgesetz und der lex Aquilia stehe: Während die dem Sklaven anlastende Haftung aus dem älteren Gesetz auf der Erwägung beruhe, ein Sklave solle sich dem Befehl seines Herrn zur Untat widersetzen, liege der Eigenhaftung des Herrn nach der lex Aquilia die Erwägung zugrunde, ein Sklave könne sich der Anordnung seines Eigentümers kaum entziehen; er sei deshalb gewissermaßen entschuldigt und von einer ihn betreffenden Haftung ausgenommen. Für diese Auffassung spricht in der Tat der soziale Hintergrund der beiden Gesetze, der in der Behandlung des Sklaven als Objekt eines Delikts zum Ausdruck kommt: Während er im älteren Zwölftafelgesetz immerhin noch als ein – gegenüber einem Freigeborenen freilich geringwertiger – Mensch behandelt wurde,31 stand er in

30 Sie war, wie der Fortgang des Textes zeigt, nicht durchsetzungsfähig, sondern musste der gegensätzlichen Auffassung Julians weichen, die den Beifall Marcells und Ulpians fand. 31 Vgl. XII-T 8.3: Manu fustive si os fregit libero CCC, si servo CL poenae sunto. („Hat jemand mit der Hand oder mit einem Stock einem Freien einen Knochen gebrochen, soll die Strafe 300 Ass betragen, hat er den Knochen eines Sklaven gebrochen, 150 Ass.“ Jan Dirk Harke

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1. Teil: Grundlagen

der lex Aquilia auf einer Stufe mit Tieren und Sachen. Diesem Wandel seiner sozialen Rolle entsprach es, wenn ihm zunächst Eigenverantwortung zugemutet, später erspart werden sollte.

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Unter den Zeugnissen objektiv-teleologischer Interpretation gibt es in den römischen Quellen auch solche, die man nach moderner Terminologie einer systematischen Gesetzesauslegung zuordnen würde. Richtig verstanden, handelt es sich bei ihr ebenso wenig um ein eigenständiges Interpretationskriterium wie bei der sogenannten Auslegung nach dem Wortlaut. Die Bedeutung eines Wortes lässt sich stets in zweifacher Weise ermitteln: Entweder man geht vom allgemeinen Sprachgebrauch aus, wie er sich aus der Perspektive des Rechtsanwenders darstellt; dann ist die Wortlautauslegung bloß ein Unterfall der objektiv-teleologischen Interpretation. Oder man geht vom individuellen Sprachgebrauch des Urhebers einer gesetzlichen Bestimmung aus; dann bemüht man sich darum, die subjektive Zwecksetzung des Gesetzgebers zu ermitteln. Entsprechendes gilt für die systematische Gesetzesauslegung: Zieht man eine andere Bestimmung desselben oder eines Gesetzes heran, das mit dem auszulegenden in einem Kontext steht, um hieraus auf seinen Zweck zu schließen, ist man dem Willen des Gesetzgebers auf der Spur. Blickt man auf die korrespondierenden Bestimmungen, um einen Widerspruch zwischen ihnen und der auszulegenden Norm zu vermeiden, trägt man an das Gesetz die Prämisse heran, ein vernünftiger Gesetzgeber widerspreche sich nicht selbst, und forscht so wieder nach dem objektiven Zweck des Gesetzes. Ein hervorragendes Beispiel für diese zweite Variante der systematischen Auslegung bietet die Interpretation des dritten Kapitels der lex Aquilia durch die römischen Juristen:

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D 9.2.27.13, 15 f. Ulp 18 ed Inquit lex ‚ruperit‘. rupisse verbum fere omnes veteres sic intellexerunt ‚corruperit‘. … (15) Cum eo plane, qui vinum spurcavit vel effudit vel acetum fecit vel alio modo vitiavit, agi posse Aquilia Celsus ait, quia etiam effusum et acetum factum corrupti appellatione continentur. (16) Et non negat fractum et ustum contineri corrupti appellatione, sed non esse novum, ut lex specialiter quibusdam enumeratis generale subiciat verbum, quo specialia complectatur: quae sententia vera est. Das Gesetz sagt: ‚zerrissen hat‘. Fast alle alten Juristen haben den Ausdruck: ‚zerrissen haben‘, in der Bedeutung: ‚beschädigt haben‘, verstanden. … (15) Gegen denjenigen aber, der Wein verschnitten, ausgegossen, zu Essig gemacht oder auf eine andere Weise verdorben hat, kann, wie Celsus sagt, aus der lex Aquilia geklagt werden, weil auch ausgegossener oder zu Essig gemachter Wein vom Begriff ‚beschädigt‘ erfasst ist. (16) Und er leugnet nicht, dass die Ausdrücke ‚zerbrochen‘ und ‚verbrannt‘ ebenfalls von der Bezeichnung ‚beschädigt‘ erfasst werden. Es sei jedoch nicht ungewöhnlich, dass ein Gesetz erst spezielle Begriffe aufzähle und dann einen generellen Begriff aufführe, der die speziellen umfasse. Diese Ansicht ist richtig.32

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In ihrem dritten Kapitel, das seit der Rezeption des römischen Rechts im Mittelalter zur Grundlage der Deliktshaftung schlechthin werden sollte,33 ordnete die lex Aquilia an, dass jemand den Schaden zu ersetzen hat, den er einem anderen dadurch zufügt,

32 Hierzu ausführlich Harke, Argumenta Iuventiana, S. 60 ff. 33 Hierzu etwa Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 953 ff.

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§ 2 Juristenmethode in Rom

dass er dessen Sache widerrechtlich verbrennt, zerbrochen oder zerrissen hat. Um die Haftung von diesen Tathandlungen zu lösen, begriffen schon die Juristen der römischen Republik das Verb rumpere, das eigentlich „zerreißen“ heißt, im Sinne von corrumpere, was „beschädigen“ bedeutet und damit jede körperliche Einwirkung auf die betroffene Sache abdeckt. War rumpere damit zu einem umfassenden Tatbestand geworden, stellte sich unweigerlich die Frage nach dem Verhältnis zu den beiden anderen im Gesetz genannten Tatvarianten des Verbrennens (urere) und Zerbrechens (frangere). Celsus beantwortet sie, indem er sie zu Spezialtatbeständen erklärt, die das Gesetz gleichsam als Beispiele der Generalnorm voranstelle. So entzieht er das neue Verständnis der lex Aquilia dem Vorwurf, einen Widerspruch in das Gesetz hineinzutragen, und zeigt, dass sie nach wie vor dem Anspruch kohärenter Gesetzgebung gerecht wird.

III. Rechtsfortbildung Begnügte man sich mit der Feststellung, die römische Jurisprudenz sei, wenn auch auf anderen Grundlagen, ähnlich deduktiv vorgegangen wie die moderne Rechtswissenschaft, wäre dies nur die halbe Wahrheit. Schon um zu den Regeln zu gelangen, aus denen sich später Falllösungen deduktiv entwickeln ließen, bedurfte es rechtsschöpferischer Tätigkeit, die auf die Herausbildung neuer oder die Falsifizierung alter Juristenregeln angelegt war. Anders als das Gesetzesrecht konnten sie unter Berufung auf übergeordnete Wertmaßstäbe wie Güte (benignitas)34, Menschlichkeit (humanitas)35, Billigkeit (aequitas) oder Nützlichkeit (utilitas)36 ohne Weiteres vernachlässigt werden.37 Die römischen Juristen machten von dieser Möglichkeit auch tatsächlich Gebrauch, allerdings in höchst unterschiedlichem Maße 38 und in ihrer Gesamtheit eher selten. Nicht anders als in der heutigen Rechtsliteratur dienten Wertungen statt zur Rechtsschöpfung oder -kritik eher dazu, das bestehende Normenprogramm plausibel zu machen.

34 Hierzu Wubbe, FG Herdlitczka (1972), S. 295 ff., Baldus, Regelhafte Vertragsauslegung nach Parteirollen im klassischen römischen Recht und in der modernen Völkerrechtswissenschaft (1998), S. 591 ff., Harke, Argumenta Iuventiana, S. 114 ff. 35 Baldus wie vorige Fn., S. 623 ff. 36 Hierzu Ankum, Utilitatis causa receptum, Symbolae juridicae et historicae (1968), S. 1 ff., Harke, Argumenta Iuventiana, S. 118 ff. 37 Mit „Vorgegebenheiten“ im Allgemeinen befasst sich Waldstein, in: Temporini/Haase (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. II.15 (1976), S. 1 ff. 38 Eine große Rolle spielen offene Wertungen im Werk des Spätklassikers Papinian; vgl. Manthe, OIR 10 (2005), 143 ff. Verschwindend sind sie dagegen bei Celsus, von dem gerade die Definition des Rechts als einer ars boni et aequi (D 1.1.1pr.) stammt; vgl. Harke, Argumenta Iuventiana, S. 109 ff. gegen Scarano Ussani, Valori e storia nella cultura giuridica fra Nerva e Adriano (1979) und Cerami, Annali del Seminario Giuridico della Università di Palermo. Dipartimento di Storia del Diritto 38 (1985), 5 ff. Eine zeitliche Tendenz hin zu offenen Wertungen beobachtet Wieacker, SavZRG – Rom. Abt. – 94 (1977), 1, 13 ff.; vgl. auch ders., Römische Rechtsgeschichte, S. 50. Jan Dirk Harke

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18

1. Teil: Grundlagen

1.

Fortentwicklung des Juristenrechts

19

Weitaus größere Bedeutung als dem Rekurs auf Wertmaßstäbe kam im Bereich des Juristenrechts zwei Faktoren zu, die von den römischen Juristen, wenn überhaupt, dann nur ansatzweise als Entscheidungskritierien benannt und in aller Regel einfach vorausgesetzt wurden: zum einen der Rücksicht auf den Geschäftsgebrauch, zum anderen dem Gebot der Gleichbehandlung, das unausgesprochen jeder Entscheidung über die Anwendung oder Vernachlässigung einer Rechtsregel in einem noch nicht entschiedenen Fall zugrunde liegt.39 Wie diese beiden Faktoren zusammenwirkten und die Ausbildung eines neuen Rechtsprinzips zeitigten, zeigt eindrucksvoll die Entwicklung der Rechtsmängelhaftung: 40

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Dass die römischen Juristen sich zu keiner Zeit dazu durchringen konnten, dem Käufer ein Recht auf Verschaffung des Eigentums an der Kaufsache zu geben,41 hatte seinen guten Grund darin, dass sich in der Praxis ein Äquivalent herausgebildet hatte, dessen Übernahme in das Kaufrecht weitaus einfacher war als dessen völlige Umgestaltung durch Einführung eines Übereignungsanspruchs: Im Anschluss an eine vermutlich auf das Zwölftafelgesetz zurückgehende Haftung des Verkäufers einer durch Ritualgeschäft veräußerten fremden Sache vereinbarten die Parteien eines Kaufvertrags regelmäßig in Form eines selbständigen Schuldversprechens (stipulatio), dass der Verkäufer für einen Rechtsmangel Gewähr zu leisten habe. Dies bedeutete, dass er, wenn dem Käufer die Sache abgenommen wurde, einen Geldbetrag zu leisten hatte, der entweder im doppelten oder einfachen Kaufpreis bestand oder dem Interesse entsprach, das der Käufer daran hatte, die Kaufsache zu behalten. Versprechen dieser Art wurden derart üblich, dass die römischen Juristen ab Beginn des zweiten Jahrhunderts n. Chr. annahmen, mangels abweichender Vereinbarung habe der Käufer kraft des Gebots der guten Treue (bona fides) einen Anspruch darauf, dass der Verkäufer eine solche Garantie abgibt. Der Inhalt des zu erzwingenden Versprechens variierte. Wo es dem örtlichen Geschäftsgebrauch entsprach, konnte der Käufer die Abgabe einer Zusage zur Zahlung des doppelten Kaufpreises verlangen:

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D 21.1.31.20 Ulp 1 ed aed cur Quia adsidua est duplae stipulatio, idcirco placuit etiam ex empto agi posse, si duplam venditor mancipii non caveat: ea enim, quae sunt moris et consuetudinis, in bonae fidei iudiciis debent venire.

39 Mit den theoretischen Stellungnahmen der römischen Juristen zur Rechtsfindung durch Fallanknüpfung und Regelbildung befasst sich vor allem Vacca, Metodo casistico e sistema prudenziale (2005). Da sich die überlieferten Fragmente aus den Digestentiteln 1.3, 50.16 und 50.17 meist auf einen oder wenige Sätze beschränken und der ursprüngliche Kontext dieser Aussagen unklar ist, darf man ihren Wert für die methodologische Analyse nicht überschätzen. 40 Hierzu Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht (19. Aufl. 2008), Rn. 41.25 ff., Harke, Römisches Recht (2008), Rn. 8.14. 41 Richtig Ernst, Rechtsmängelhaftung (1995), S. 12 ff. gegen Rabel, Die Haftung des Verkäufers wegen Mangels im Rechte, Bd. I: Geschichtliche Studien über den Haftungserfolg (1902), S. 76 ff., der immerhin eine Entwicklung hin zu einer Rechtsverschaffungspflicht erkennt.

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Jan Dirk Harke

§ 2 Juristenmethode in Rom Da die Stipulation des doppelten Kaufpreis ständig vorgenommen wird, ist die Ansicht herrschend, dass auch aus dem Kauf geklagt werden könne, falls der Verkäufer eines Sklaven keine Sicherheit in Höhe des Doppelten geleistet hat. Was Sitte und Gebräuchen entspricht, ist nämlich von Klagen auf Treu und Glauben erfaßt.

Im Übrigen hatte er nur ein Recht darauf, dass der Verkäufer ihm durch eine sogenannte stipulatio habere licere für den Fall einer Entwehrung der Kaufsache den Ersatz des Interesses versprach, das der Käufer am ungestörten Besitz der Kaufsache hatte:

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D 19.1.11.8 Ulp 32 ed Idem Neratius, etiamsi alienum servum vendideris, ... ait et ex empto actionem esse, ut habere licere emptori caveatur, sed et ut tradatur ei possessio.

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Neraz sagt ferner, es sei allgemein anerkannt, dass auch dann, wenn du einen fremden Sklaven verkauft hast, … die Kaufklage dafür gegeben sei, dass dem Käufer durch Stipulation der ungestörte Besitz des Sklaven versprochen und dieser übertragen wird.

Hatte der Käufer die Sache schon an ihren wahren Eigentümer abgeben müssen, musste sich das nutzlos gewordene Recht auf Abgabe einer Eviktionsgarantie in einen Anspruch auf Zahlung des Betrags wandeln, den der Verkäufer hätte versprechen müssen. Denn andernfalls hätte er gerade davon profitiert, dass er das geschuldete Versprechen noch nicht abgegeben hatte:

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PS 2.17.2 Si res simpliciter traditae evincantur, tanto venditor emptori condemnandus est, quanto si stipulatione pro evictione cavisset.

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Hat er (der Verkäufer) die Sachen einfach übergeben und sind sie dann (dem Käufer) entwehrt worden, muss der Verkäufer dem Käufer in den Betrag verurteilt werden, in dessen Höhe er dem Käufer durch Stipulation für die Entwehrung Sicherheit geleistet hätte.

Gab es demnach eine regelrechte Garantiehaftung aufgrund des Kaufvertrags, konnte dies nicht ohne Auswirkung auf die Entscheidung der Fälle bleiben, in denen dem Käufer die Kaufsache zwar nicht regelrecht abgenommen worden, der Kauf aber für ihn aber doch ebenso wertlos war. Ein Beispiel bildet der Fall, dass dem Käufer die Kaufsache schon aufgrund eines Vermächtnisses geschuldet war, aus dem ein Anspruch auf ihre Übereignung gegen den Verkäufer bestand. Der Jurist Julian, Zeitgenosse des Celsus und bedeutendster Vertreter der römischen Hochklassik, sprach sich dafür aus, dem Käufer unter diesen Umständen die Rückforderung des Kaufpreises zu gestatten. Denn nachdem der Verbleib der Kaufsache beim Käufer zum Gegenstand des Kaufvertrags gemacht geworden war, stellte er einen wesentlichen Teil der Leistung des Verkäufers dar, so dass er bei ihrem Ausfall auch den Kaufpreis nicht mehr beanspruchen könne, ohne das Gebot der guten Treue (bona fides) zu missachten:42

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D 30.84.5 Iul 33 dig Qui servum testamento sibi legatum, ignorans eum sibi legatum, ab herede emit, si cognito legato ex testamento egerit et servum acceperit, actione ex vendito absolvi debet,

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42 Hierzu Harke, OIR 11 (2006), 63, 76 ff.; anders Ernst, Rechtsmängelhaftung (1995), S. 34 ff. Jan Dirk Harke

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1. Teil: Grundlagen quia hoc iudicium fidei bonae est et continet in se doli mali exceptionem. quod si pretio soluto ex testamento agere instituerit, hominem consequi debebit, actione ex empto pretium reciperabit, quemadmodum reciperaret, si homo evictus fuisset. quod si iudicio ex empto actum fuerit et tunc actor compererit legatum sibi hominem esse et agat ex testamento, non aliter absolvi heredem oportebit, quam si pretium restituerit et hominem actoris fecerit. Wer einen Sklaven, der ihm in einem Testament vermacht war, in Unkenntnis dieser Verfügung von dem Erben gekauft hat und, nachdem er von dem Vermächtnis erfahren hat, mit der Testamentsklage vorgegangen ist und den Sklaven erhalten hat, ist von der Verkäuferklage freizusprechen, weil sie auf Treu und Glauben gerichtet und ihr die Arglisteinrede inhärent ist. Hat er aber nach Zahlung des Kaufpreises die Testamentsklage angestellt, wird er den Sklaven erlangen; und aus dem Kauf erhält er den Kaufpreis ebenso wie in dem Fall zurück, dass der Sklave evinziert wird. Hat er aber aus dem Kauf geklagt, dann festgestellt, dass ihm der Sklave vermacht ist, und schließlich die Testamentsklage erhoben, ist der Erbe nur freizusprechen, wenn er den Kaufpreis zurückgibt und dem Kläger den Sklaven übereignet.

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Die hinter dieser Entscheidung stehende ratio erzwang noch eine weitere Konsequenz: War der Verbleib der Kaufsache beim Käufer wesentliche Gegenleistung für den vom Verkäufer vereinnahmten Kaufpreis, ließ sie sich ohne Verstoß gegen das Gebot der guten Treue auch nicht mehr abbedingen. Dies bedeutete, dass der Verkäufer den Kaufpreis im Fall einer Entwehrung der Kaufsache selbst dann zurückzahlen musste, wenn er ausdrücklich nur Gewähr dafür übernommen hatte, dass die Kaufsache dem Käufer weder von ihm selbst noch von seinen Erben streitig gemacht werde. Und sogar wenn der Verkäufer jegliche Haftung für Rechtsmängel ausgeschlossen hatte, sollte er bei einer Entwehrung der Kaufsache den Kaufpreis nicht behalten dürfen, weil der Käufer ja auch der Gegenleistung entbehrte:

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D 19.1.11.18 Ulp 32 ed Qui autem habere licere vendidit, videamus quid debeat praestare. et multum interesse arbitror, utrum hoc polliceatur per se venientesque a se personas non fieri, quo minus habere liceat, an vero per omnes. nam si per se, non videtur id praestare, ne alius evincat: proinde si evicta res erit, sive stipulatio interposita est, ex stipulatu non tenebitur, sive non est interposita, ex empto non tenebitur. sed Iulianus libro quinto decimo digestorum scribit, etiamsi aperte venditor pronuntiet per se heredemque suum non fieri, quo minus habere liceat, posse defendi ex empto eum in hoc quidem non teneri, quod emptoris interest, verum tamen ut pretium reddat teneri. ibidem ait idem esse dicendum et si aperte in venditione comprehendatur nihil evictionis nomine praestatum iri: pretium quidem deberi re evicta, utilitatem non deberi: neque enim bonae fidei contractus hac patitur convenitone, ut emptor rem amitteret et pretium venditor retineret. … Sehen wir zu, wofür einstehen muss, wer eine Sache zum ungestörten Besitz verkauft hat. Ich glaube, dass es einen großen Unterschied macht, ob der Verkäufer lediglich verspricht, dass weder durch ihn noch durch seine Rechtsnachfolger bewirkt werde, dass der Käufer nicht ungestört besitzen kann, oder ob er aber verspricht, dass dies durch niemanden geschehe. Verspricht er nur, dass nichts durch ihn selbst geschehe, steht er nicht dafür ein, dass ein Dritter die Sache evinziert. Julian schreibt jedoch im 15. Buch seiner Digesten, es lasse sich die Ansicht vertreten, dass der Verkäufer mit der Kaufklage auch dann, wenn er ausdrücklich erklärt, es werde weder von ihm noch von seinen Erben bewirkt, dass der Käufer die Sache nicht ungestört besitzen könne, zwar nicht auf das Interesse des Käufers, wohl aber darauf hafte, dass er den Kaufpreis zurückerstatte. An derselben Stelle meint er, dasselbe sei zu sagen, wenn in den Vertrag ausdrücklich aufge-

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Jan Dirk Harke

§ 2 Juristenmethode in Rom nommen wird, dass wegen Eviktion nicht gehaftet werde. In diesem Fall werde allerdings nur der Kaufpreis geschuldet, nicht das Interesse. Ein Vertrag nach Treu und Glauben dulde nämlich keine Vereinbarung mit der Wirkung, dass der Käufer die Sache verliert und der Verkäufer den Kaufpreis behält.

Aus dem Geschäftsgebrauch, den Käufer durch eine Garantie gegen das Risiko eines Rechtsmangels abzusichern, war so, vermittelt durch mehrere Schlüsse aus dem Grundsatz der Gleichbehandlung, ein zwingender Inhalt des Kaufvertrags geworden. Dass der Käufer außer der Übergabe der Kaufsache erwarten konnte, diese zu behalten, war nun Gegenstand einer neuen Juristenregel geworden, die den alten Grundsatz, dass der Käufer keinen Anspruch auf Eigentumsverschaffung hatte, praktisch entwertete.43 2.

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Fortbildung des Gesetzesrechts

Ähnlich frei wie mit den eigens aufgestellten Regeln gingen die römischen Juristen mit dem Gesetzesrecht um. Motor der Rechtsentwicklung war auch hier wieder das Gebot der Gleichbehandlung wesentlich gleichgelagerter Fälle. Es gab den Ausschlag dafür, dass die römischen Juristen dem Gerichtsmagistrat empfahlen, eine Klage nach dem Vorbild eines gesetzlichen Anspruchs zu gewähren, um zu vermeiden, dass eine unerhebliche Abweichung vom gesetzlichen Tatbestand zu einer Rechtsschutzlücke führte. Besonders groß war die Zahl solcher nachgebildeter Klagen im Bereich der außervertraglichen Haftung. War die Schadensersatzpflicht aus der lex Aquilia durch das weite Verständnis des Tatbestandsmerkmals rumpere im Sinne von corrumpere auch von der Festlegung auf bestimmte Tathandlungen gelöst (s.o. Rn. 16 ff.), war sie doch immer noch an das Erfordernis einer körperlichen Einwirkung auf die geschädigte Sache oder den verletzten Sklaven gebunden. Hatte jemand den Schaden ohne eine körperliche Berührung, etwa durch Freiheitsentzug oder durch den Drang zu übermäßiger Anstrengung von Sklaven oder Tieren, verursacht, konnte der Geschädigte gegen ihn mit einer „analogen Klage“ (actio utilis) vorgehen, die nach dem Vorbild der „direkten Klage“ (actio directa) aus der lex Aquilia gewährt wurde:

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IJ 4.3.16 Ceterum placuit, ita demum ex hac lege actionem esse, si quis praecipue corpore suo damnum dederit. ideoque in eum qui alio modo damnum dederit, utiles actiones dari solent: veluti si quis hominem alienum aut pecus ita incluserit ut fame necaretur, aut iumentum tam vehementer egerit ut rumperetur, aut pecus in tantum exagitaverit ut praecipitaretur, aut si quis alieno servo persuaserit ut in arborem ascenderet vel in puteum descenderet, et is ascendendo vel descendendo aut mortuus fuerit aut aliqua parte corporis laesus erit, utilis in eum actio datur. sed si quis alienum servum de ponte aut ripa in flumen deiecerit et is suffocatus fuerit, eo quod proiecerit corpore suo damnum dedisse non difficiliter intellegi poterit ideoque ipsa lege Aquilia tenetur. sed si non corpore damnum fuerit datum neque corpus laesum fuerit, sed alio modo damnum alicui contigit, cum non sufficit neque directa neque utilis Aquilia, placuit eum qui obnoxius fuerit in factum actione teneri: veluti si quis, misericordia ductus, alienum servum compeditum solverit, ut fugeret.

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43 Dass die Fallanknüpfung der Herausbildung und Bewährung von Juristenregeln dient, macht auch Knütel, GS Heinze, S. 488 ff., 497 geltend. Jan Dirk Harke

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1. Teil: Grundlagen Im Übrigen hat sich die Meinung durchgesetzt, dass nach diesem Gesetz eine Klage nur gegeben ist, wenn jemand den Schaden vornehmlich durch körperliche Einwirkung zugefügt hat. Deshalb pflegt man gegen den, der den Schaden auf andere Weise zugefügt hat, analoge Klagen zu gewähren. Eine solche wird zum Beispiel gegen den gewährt, der einen fremden Sklaven oder fremdes Vieh einsperrt, so dass sie verhungern, oder ein Zugtier so heftig antreibt, dass es Schaden nimmt, oder Herdenvieh so antreibt, dass es zugrunde geht, oder einen fremden Sklaven überredet, auf einen Baum oder in einen Brunnen zu steigen, wenn der Sklave beim Hinaufklettern oder Hinabsteigen entweder zu Tode kommt oder sich an irgendeinem Körperteil verletzt. Stößt aber jemand einen fremden Sklaven von einer Brücke oder vom Ufer in den Fluss und ertrinkt dieser, kann man unschwer erkennen, dass er, indem er stößt, den Schaden durch körperliche Einwirkung verursacht und deshalb aus der lex Aquilia selbst haftet. Wird der Schaden jedoch nicht durch körperliche Einwirkung zugefügt und auch kein Körper verletzt, sondern entsteht jemandem auf andere Weise ein Schaden, haftet der Schuldige, weil weder die unmittelbare noch eine analoge aquilische Klage in Betracht kommt, nach allgemeiner Meinung mit einer auf den Sachverhalt zugeschnittenen Klage: wie zum Beispiel, wenn jemand aus Mitleid einem fremden Sklaven die Fesseln löst, damit er fliehen kann.

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Der byzantinische Kaiser Justinian, der von dieser Praxis der römischen Prätoren berichtet, ging selbst noch einen Schritt weiter und ließ eine „auf den Sachverhalt zugeschnittene Klage“ (actio in factum) zu, falls jemand ohne körperliche Beeinträchtigung einer Sache oder eines Sklaven einen Schaden erlitten hatte. So führt er eine Ersatzpflicht für reine Vermögensschäden ein, die im klassischen römischen Recht eigentlich nur Gegenstand vertraglicher Ansprüche und der Klage wegen arglistiger Schädigung (actio de dolo) waren. Die zu diesem Zweck gewährte actio in factum ist ein schon im klassischen Recht gebräuchliches Instrument und ebenso wie die actio utilis in aller Regel das Produkt eines Analogieschlusses,44 der jedoch weiter reicht als bei der actio utilis und daher auch nicht durch einfache Umgestaltung des Formulars der gesetzlichen Klage auskommt, sondern auf die Nennung des anspruchsbegründenden Tatbestands im Klageformular angewiesen ist.45 Die so eröffnete Freiheit im Umgang mit dem Gesetzesrecht war hier wie dort geborgt von der Rechtssetzungsbefugnis des Gerichtsmagistrats, der das bestehende Gesetzesrecht ergänzen und korrigieren konnte, und von dieser Befugnis auf Empfehlung der ihn beratenden Rechtsgelehrten Gebrauch machte.

IV. 34

Zusammenfassung

Die Rechtsfindung war in Rom nicht der Intuition überlassen, sondern verlief planmäßig, zuweilen gar systematisch. Ausgangspunkt der Deduktion war weniger das

44 Wesel, Rhetorische Statuslehre und Gesetzesauslegung der römischen Juristen (1967), S. 133 f. hält ihn für eine Zwischenstufe zwischen der sogenannten „identifizierenden Interpretation“, bei der man nicht wagte, sich über den Gesetzeswortlaut hinwegzusetzen, und der Argumentationsstufe, bei der man sich mit dem Sinn eines Gesetzes offen gegen dessen Wortlaut stellen konnte. 45 Zu den actiones in factum und ihrem Verhältnis zu den actiones utilis eingehend Gröschler, Actiones in factum (2002).

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Jan Dirk Harke

§ 2 Juristenmethode in Rom

lückenhafte Gesetzesrecht, bei dessen Anwendung die römischen Juristen in aller Regel auf seinen vernünftigen Sinn, gelegentlich aber auch auf die Absicht des historischen Gesetzgebers achteten. Im Zentrum der Entscheidungsfindung standen die Regeln des Juristenrechts, die ein dichtes Netz subsumtionsfähiger Sätze bildeten. Anders als das Gesetzesrecht war diese Regelungsmasse jedoch einem steten Wandel unterworfen, indem die römischen Juristen neue Regeln entwarfen, die ältere entweder ergänzten oder sogar obsolet machten. Triebfeder dieser Rechtsentwicklung waren zwei Faktoren: die Rücksicht auf den Geschäftsgebrauch und der Grundsatz der Gleichbehandlung, der unausgesprochen jeden Schluss von einer feststehenden Entscheidung oder einer schon geschaffenen Regel auf einen noch ungelösten Fall steuerte. Eine vergleichbare Freiheit bei der Fortbildung des Gesetzesrechts erlangten die römischen Juristen dadurch, dass der römische Gerichtsmagistrat auf ihre Empfehlung hin Rechtsschutz in Anlehnung an gesetzliche Ansprüche gewähren konnte, womit die Gesetzesbindung praktisch beseitigt war.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie: Römische Grundlagen und Bedeutung des 19. Jahrhunderts Christian Baldus *

Übersicht I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemstellung: Entscheidungsmechanismen und Transparenzmechanismen 2. Rechtsvergleichender Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Untersuchungsgegenstand und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Römische Tradition . . . . . . . . . . . . 1. Normbildung und interpretatio . . . . 2. Der klassische Jurist als Ausleger . . . 3. Aussagen der klassischen Jurisprudenz

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22–36 22–27 28–30 31–39

III. Hermeneutische Positionen um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Spätes Gemeines Recht und geistiges Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . 2. Veränderungen zwischen Aufklärung und Romantik: Grundlinien der Methodenlehre Savignys . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Überblick: Folgeentwicklungen im deutschen und französischen Rechtsdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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40–54 40

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41–50

IV. Kernpunkte der Methodenlehre Savignys 1. Vorlesungen . . . . . . . . . . . . . . 2. Der „Beruf“ . . . . . . . . . . . . . . 3. Das „System“ . . . . . . . . . . . . .

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51–54

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V. Deutsche Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert 1. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . 2. Überblick zu einzelnen Autoren . . . . . . . 3. Grundlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. 111–141 . 111 . 112–139 . 140, 141

VI. Fortwirkungen im 20. Jahrhundert

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Rn. 1–11 1 2–9 10–21

55–110 56–72 73–84 85–110

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142–149

* Erste Auflage unter Mitarbeit von Dr. Magnus Dorweiler, jetzt Rechtsanwalt in Frankfurt, und Lea Tochtermann, jetzt Rechtsreferendarin. Unter den kritischen Lesern der ersten Auflage ist außer den Rezensenten vor allem Herrn Kollegen Jan Schröder (Tübingen) sehr zu danken. Für die zweite Auflage habe ich außer neuen Savigny-Editionen u.a. Ergebnisse eines von Frau Wiss. Mitarbeiterin Susanne Lösch organisierten Seminars im SS 2009 sowie eines laufenden Dissertationsprojekts (Wiss. Mitarbeiter Benjamin Herzog) verwertet. Für weitere Recherchen und Kritik danke ich neben Herrn Herzog namentlich den Wiss. Mitarbeiterinnen Lena Kunz und Johanna Stremnitzer sowie Frau stud. iur. Laura Diebold (alle Heidelberg). Die Nachweise beanspruchen keine Vollständigkeit; sie sind hinsichtlich älterer Werke nicht den allgemeinen Zitierregeln des Bandes angepasst.

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Christian Baldus

§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie VII. Französische Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . 150–159 VIII. Überschneidungsbereiche . . . . . . . . . . 1. Auswahl und Problemstruktur . . . . . . 2. Nicht behandelte Rechtsordnungen . . . 3. Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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160–183 160–164 165–172 173–183

IX. Folgerungen für Europäisches Privatrecht und Unionsprivatrecht 1. Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Perspektiven: Systembildung und differenzierte Integration . 3. Zur Rolle der Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . .

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184–211 184–190 191–201 202–216

X. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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XI. Epilog: Was kann historische Auslegung sein?

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Literatur: Guido Alpa, La cultura delle regole. Storia del diritto civile italiano (2000); Emil Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik (2. Aufl. 2004); Francesco Arcaria (Hrsg.), IVS e TEXNH. Dal diritto romano all’informatica giuridica. Scritti di Nicola Palazzolo. I. Diritto romano (2008); Charles Aubry/Charles Rau, Cours de droit civil français d’après la méthode de Zachariae (4. Aufl. 1869); Christian Baldus, Historische und vergleichende Auslegung im Gemeinschaftsprivatrecht. Zur Konkretisierung der „geringfügigen Vertragswidrigkeit“, in: Christian Baldus/Peter-Christian Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht. Zur Leistungsfähigkeit der deutschen Wissenschaft aus romanischer Perspektive (2006), S. 1–24; Christian Baldus, Maxime post constitutionem quae hoc induxit: Vorüberlegungen zur historischen Auslegung bei den römischen Juristen, in: Gedenkschrift für Franciosi: Philía. Studi in memoria di Gennaro Franciosi (2007), Bd. I, S. 167–189; Christian Baldus, „Historische Auslegung“ in Rom? Der Umgang römischer Juristen mit dem Normtext als Methodenfrage, in: Seminarios Complutenses de Derecho Romano 20–21 (2007/2008), S. 85–110; Christian Baldus, So far as is reasonably practicable oder verschuldensunabhängige Haftung: Generalklausel und historische Auslegung im Gemeinschaftsprivatrecht. Zugleich eine Anmerkung zu EuGH C-127/05 (Kommission gegen Vereinigtes Königreich), in: Peter-Christian Müller-Graff/Lájos Vékás (Hrsg.), Privatrechtsreform in Deutschland und Ungarn (2009), S. 139–159; Christian Baldus/Friederike Vogel, Gedanken zu einer europäischen Auslegungslehre, in: Maximilian Wallerath (Hrsg.), Festschrift für Krause (2006), S. 237–252 (vgl. dies., Annuaire de droit européen 2 (2004, aber 2006), 1013–1026; Anuario de la Facultade de Derecho de la Universidade de La Coruña 10 (2006), 77–89); Franco Bianco, Introduzione all’ermeneutica (5. Aufl. 2007); Carlo Augusto Cannata, Per una storia della scienza giuridica europea I (1997); Francisco Cuena Boy, Sistema jurídico y Derecho Romano. La idea de sistema jurídico y su proyección en la experiencia jurídica romana (1998); Francisco Cuena Boy, Una storia dell’interpretazione, Index 2005, 7–77; Marcello Maria Fracanzani, Analogia e interpretazione estensiva nell’ordinamento giuridico (2003); Gedenkschrift für Franciosi: Philía. Studi in memoria di Gennaro Franciosi (4 Bde. 2007); François Gény, Méthode d’interprétation et sources du droit privé positif, Bd. 1 (2. Aufl. 1919); Alejandro Guzmán Brito, Historia de la interpretación de las normas en el derecho romano (2000); Günter Hager, Rechtsmethoden in Europa (2009); Thomas Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode. Entwurf einer rechtsvergleichend gewonnenen juristischen Methodenlehre (2009); Clemens Höpfner, Die systemkonforme Auslegung (2008); Clemens Höpfner/Bernd Rüthers, Grundlagen einer europäischen Methodenlehre, AcP 209 (2009), 1–36; Ulrich Huber, Savignys Lehre von der Auslegung der Gesetze in heutiger Sicht, JZ 2003, 1–17; Matthias Klatt, Theorie der Wortlautgrenze. Semantische Normativität in der juristischen Argumentation (2004); Cosimo Cascione/Carla Masi Doria (Hrsg.), Festschrift für Labruna: Studi in onore di Luigi Labruna (2007); Dario Mantovani, L’editto come codice e da altri punti di vista, in: AA.VV., La codificazione del diritto dall’antico al moderno (1998), S. 129–178; Stephan Meder, Mißverstehen und Verstehen (2004); Stephan Christian Baldus

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1. Teil: Grundlagen Meder, Rechtsgeschichte (3. Aufl. 2008); Stephan Meder, Grundprobleme und Geschichte der juristischen Hermeneutik, in: Marcel Senn/Barbara Fritschi (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Hermeneutik (2009) S. 19–37; Massimo Nardozza, Tradizione romanistica e ‚dommatica‘ moderna. Percorsi della romano-civilistica italiana nel primo Novecento (2007); Elvira Quadrato, „Tenere … vim ac potestatem“: l’interpretazione della legge in Celso (D. 1.3.17), Index 25 (2007), 141–150; Filippo Ranieri, Das Europäische Privatrecht des 19. und 20. Jahrhunderts. Studien zur Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung (2007); Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre (3. Aufl. 2008); Joachim Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny (1984); Joachim Rückert, Savignys Hermeneutik – Kernstück einer Jurisprudenz ohne Pathologie, in: Jan Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie (2001), S. 287–327; Joachim Rückert, Die Historische Rechtsschule nach 200 Jahren – Mythos, Legende, Botschaft, JZ 2010, 1–9; Aldo Schiavone, Ius. L’invenzione del diritto in Occidente (2005), (frz. Ius. L’invention du droit en Occident (2009); Jan Schröder, Analogie in der juristischen Methodenlehre der frühen Neuzeit, SavZRG – Germ. Abt. – 114 (1997), 1–55; Jan Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule (2001); Jan Schröder, Entwicklungstendenzen der juristischen Interpretationstheorie von 1500 bis 1850, in: ZNR 24 (2002), 52–64; Jan Schröder, Gab es im deutschen Kaiserreich einen Gesetzespositivismus?, in: Wolfgang Baumann/Hans-Jürgen von Dickhuth-Harrach/Wolfgang Marotzke (Hrsg.), Festschrift für Otte (2005), S. 571–586; Jan Schröder, Rechtsbegriff und Auslegungsgrundsätze im frühen 20. Jahrhundert: Anmerkungen zum Streit zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ Interpretationsstheorie, in: Ulrich Wackerbarth/Thomas Vormbaum/HansPeter Marutschke (Hrsg.), Festschrift für Eisenhardt (2007), S. 125–137; ders., Zur Geschichte der juristischen Methodenlehre zwischen 1850 und 1933, Rechtsgeschichte (2008), 160–175; Waclaw Uruszczak/Paulina Swiecicka/Andrzej Kremer (Hrsg.), Leges sapere. Studia i prace dedykowane Profesorowi Januszowi Sondlowi w piecdziesiata rocznice pracy naukowej (Studies and Essays dedicated to Professor Janusz Sondel on his 50th anniversary of scientific work), (2008); Letizia Vacca, La „svolta adrianea“ e l’interpretazione analogica, in: Nozione formazione e interpretazione del diritto dall’età romana alle esperienze moderne. Ricerche dedicate al professor Filippo Gallo (1997), S. 441–479; Letizia Vacca, L’interpretazione analogica nella giurisprudenza classica, in: Cosimo Cascione/Carla Masi Doria (Hrsg.), Festschrift für Labruna: Studi in onore di Luigi Labruna (2007), Band VII, S. 5727–5746; Friedrich Carl von Savigny, Pandektenvorlesung 1824/1825, hrsgg. von Horst Hammen (1993); Friedrich Carl von Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, eingeleitet und hrsgg. von Aldo Mazzacane (Neuausg./2. Aufl. 2004); Friedrich Carl von Savigny, Politik und Neuere Legislationen. Materialien zum „Geist der Gesetzgebung“. Aus dem Nachlaß hrsgg. von Hidetake Akamatsu/Joachim Rückert (2000); Friedrich Carl von Savigny, Pandekten. Obligationenrecht, Allgemeiner Teil. Nach Savignys Vorlesungsmanuskript hrsgg. von Martin Avenarius (2008); Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I (1840); C.S. Zachariae, Cours de Droit Civil Français, t. premier – Traduction par Aubry et Rau (1839); Karl Salomo Zachariä, Versuch einer allgemeinen Hermeneutik des Rechts (1805); Karl Salomo Zachariä, Handbuch des Französischen Civilrechts. Erster Band (4. Aufl. 1837).

1

I.

Einführung

1.

Problemstellung: Entscheidungsmechanismen und Transparenzmechanismen

Der folgende Text fragt geschichtlich nach einem zentralen Problem der heutigen juristischen Methode und nach dessen Hintergründen: nach der Gesetzesbindung des Richters und hier nach der Abgrenzung von Auslegung und Analogie. Zentral ist diese Abgrenzung für die Gegenwart aus praktischen wie aus verfassungsrechtlichen

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

Gründen. Der Richter soll auf seine Funktion als Rechtsanwender beschränkt werden. Er soll sich nicht zum Gesetzgeber aufschwingen dürfen. Doch müssen auch solche Fälle entschieden werden, deren Lösung nicht als eindeutig gilt. Das Gesetz nimmt für sich potentielle Vollständigkeit in Anspruch: Es verspricht umfassenden Rechtsschutz. Für Fälle, in denen das Gesetz nicht zu passen scheint, sieht die Rechtsordnung einen Mechanismus vor, der richterliche Entscheidung und zugleich eine spezifische Kontrolle über die richterliche Entscheidungsfindung ermöglicht. Ein solcher Mechanismus wird auch durch ein noch so präzise gefasstes gesetzliches System nicht entbehrlich. Das lehrt die Erfahrung mit den großen Kodifikationen. Ebenso hat sich gezeigt, dass es nicht genügt, prozedurale Bindung des Richters über die Pflicht zur Rückfrage etwa bei einer Gesetzgebungskommission zu schaffen (référé législatif).1 2.

Rechtsvergleichender Überblick

Allgemein kann man diesen Mechanismus als Rechtsfortbildung bezeichnen. Die kontinentalen Rechtsordnungen nennen seine zentrale Erscheinungsform Analogie oder auch „analog(isch)e Auslegung“. Der erste Begriff, sprachlich unterschieden von der Auslegung, ist im deutschen Rechtskreis verbreitet (vgl. Rn. 55–149), die „analoge Auslegung“ im romanischen (vgl. Rn. 150–183). 1958 konnte man alle Rechtsordnungen der soeben gegründeten EWG diesen beiden Rechtsfamilien zuordnen. Daher liegt eine spezifische Prägung des acquis communautaire aus diesen Traditionen nahe. Gemeinsam ist ihnen der Versuch, diese Technik von der schlichten Auslegung abzugrenzen; eine Abgrenzung, die vom jeweiligen Verständnis des Rechtssystems und der Auslegungsmethode geprägt ist. Dabei wird zwischen äußerem System als formaler Ordnung (vor allem) der Gesetze und innerem System als Widerspruchsfreiheit der Lösungen und Entscheidungen zu trennen sein.

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Nach der im deutschen Rechtsraum heute dominierenden Sicht sieht der Abgrenzungsversuch wie folgt aus: Das – potentiell vollständige – systematisch gesetzte Recht bildet den Regelfall der Norm, der Richter schafft kein Recht; die Analogie operiert in der Gesetzeslücke. Neuerer deutscher Tradition entspricht es, die Auslegung diesseits, die Analogie jenseits der sog. Wortlautgrenze anzusiedeln und beide scharf zu trennen; neuerer französischer Tradition hingegen, eine interprétation par analogie von anderen Formen der Auslegung zu unterscheiden.

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Beiden Traditionen gelingt die Abgrenzung schlecht. Die Wortlautgrenze bereitet der deutschen Rechtskultur praktische wie theoretische Probleme; im romanischen Den-

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1 Das beginnt bereits bei Justinian (unten, Rn. 36). Zum référé législatif zuletzt Meder, JZ 2005, 477, 480 f.; zur Blütezeit des Glaubens an den Wert von Gesetzeskommissionen vgl. Alvazzi del Frate, L’interpretazione autentica nel XVIII secolo (2000); ders., Giurisprudenza e référé législatif in Francia nel periodo rivoluzionario e napoleonico (2005); ders., RHD 2008, 253–262. In deutscher Sprache Miersch, Der sogenannte référé législatif (2000). Es gab durchaus Gesetzesautoren, die nicht der Illusion folgten, Auslegung könne durch ein gutes Gesetz entbehrlich werden; vgl. zu Zeiller und dem ABGB Mertens, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen (2004), S. 259 ff. Christian Baldus

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1. Teil: Grundlagen

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ken sind bereits die Grundkategorien der Unterscheidung streitig. Und doch beobachtet man namentlich in Deutschland mit besonderer Skepsis, wie Auslegung und Rechtsfortbildung beim EuGH ineinanderfließen. (Manche flüchten sich gleich in ein anderes, nämlich angloamerikanisch geprägtes Konzept der „Rechtsfortbildung“, das aber für den Kontinent möglicherweise nicht passt).2 So ist zu prüfen, welche geschichtlichen Umstände das jeweilige Verständnis der Normanwendung prägen. Wir werden sehen, dass deutsche wie französische Sicht auf Vorstellungen der juristischen Neuzeit zurückgehen, grob vereinfacht: die deutsche auf das frühe 19. Jh., die französische auf die davor liegenden Jahrhunderte. Keine von beiden folgt im Ansatz dem römischen Verständnis, wiewohl beide zahlreiche Versatzstücke der römischen Tradition verwerten. Aus dieser Art der Verwertung gemeinsamer Tradition resultieren punktuelle oder auch nur scheinbare Verbindungen, die den Grundunterschied verschleiern. Die Distanz zur römischen Methodentradition ist leicht zu erklären: Das römische Recht kreist nicht – wie die heutigen kontinentalen Rechte – um das Gesetz in einer auch äußerlich systematisierten Rechtsordnung. Vielmehr steht das innere System im Vordergrund, entstanden namentlich aus der Gutachtertätigkeit der Juristen (u. Rn. 23–30). Deshalb stellen sich in Rom weithin andere Methodenfragen als heute in den römisch geprägten Privatrechtssystemen.3 Aber auch in die Zukunft führt kein gerader Weg: Beide kontinentalen Traditionslinien sind national gewachsen und daher auch mit den Besonderheiten des Unionsrechts überfordert. In der Integrationsgemeinschaft Europas passen einige Systemvoraussetzungen nicht mehr, die auf nationaler Ebene noch im 19. Jahrhundert realisierbar schienen. Die englische Tradition, weniger systemorientiert und stärker jurisprudentiell 4 geprägt, weist einige Parallelen zur römischen auf und hat sich auch genetisch nicht so isoliert von Kontinentaleuropa entwickelt, wie man lange glaubte;5 neuerdings zeigt 2 Emblematisch für die Gefahren eines solchen Vorgehens die Folgeentscheidung des Bundesgerichtshofs zu EuGH v. 17.4.2008, Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2865; BGHZ 179, 27–43 – Quelle (dazu wohlwollend W.-H. Roth, in diesem Band, § 14 Rn. 53 f.); vgl. etwa Pfeiffer, NJW 2009, 412 f.; Gebauer, GPR 2009, 82–86; Baldus, GPR 2009, 53; mit Recht kritisch zur Besprechung des BGH-Urteils von Möllers/Möhring, JZ 2008, 919–924: Höpfner, JZ 2009, 403 ff. (nicht widerlegt im Schlusswort von Möllers, JZ 2009, 405 f.). Abgewogen zu Konzept und Spielarten der modernen Rechtsfortbildung Hager, Rechtsmethoden in Europa. Vgl. in diesem Band noch Pechstein/Möhring, § 8 Rn. 54–59; Neuner, § 13, passim; W.-H. Roth, § 14 Rn. 46–60. 3 Vgl. schon hier Vacca, FS Labruna (2007), VII 5727–5746. 4 „Jurisprudentiell“ in einem der kontinentalen Sinne des Wortes: bezogen auf die gelehrte Praxis, ähnlich dem römischen iuris prudentia, vgl. dann mit Betonung des praktischen Aspekts frz. jurisprudence; nicht wie das stärker theoretisch und universitär konnotierte dt. Jurisprudenz oder erst recht das engl. jurisprudence (i.S. etwa von John Austin). Aus der Lit. statt aller L. Lombardi, Saggio sul diritto giurisprudenziale (1967). 5 Grundlegend Zimmermann, ZEuP 1993, 4–51; weitergeführt etwa in Zimmermann, JZ 2007, 1–12 mwN. Umfassend Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent. Eine vergleichende Untersuchung der Rechtsprechung und ihrer historischen Grundlagen (2001); vgl. noch die folgenden Fn. Pointierte Gegenposition zu Zimmermann: Osler, The Fantasy Men, Rechtsgeschichte 2007, 169–192.

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Christian Baldus

§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

sich Konvergenz in Methodenfragen; in historischen Zusammenhang mag England aber beiseite bleiben, soweit es um die Frage geht, welche Vorstellungen die Juristen der entstehenden EWG seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts prägen konnten. Eine weitere Überlegung kommt hinzu: Die Methode der Auslegung und die Rolle der Analogie hängen auch vom Grad der äußeren Systematisierung ab. Der Schritt von der lediglich inhaltlich strukturierten, wertungssensiblen und diskussionsoffenen Kasuistik, also vom inneren System, zur Schaffung einer subsumtionsfähigen Formalstruktur ist dem Kontinent gelungen, dem englischen Recht hingegen bislang nur in Teilen (und dies unter dem Druck gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben). Es verbleibt damit – bei oft großem Pragmatismus der einzelnen Lösung – auf einer Entwicklungsstufe, die gewisse strukturelle Parallelen zum römischen Recht aufweist, verbunden freilich mit historischen Besonderheiten inhaltlicher Art, die einer transparenten Systembildung entgegenstehen. Den auf dem Kontinent gelungenen Schritt zur Kodifikation rückgängig zu machen, verspricht keinerlei Vorteil.6 Das ist für die Praxis klar und steht folglich auch politisch nicht in Zweifel.

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Man mag also kasuistische Momente dort aufnehmen, wo sie passen: bei den großen Streitfragen, deren Lösung auch der kontinentale Jurist nicht einem rein deduktiv begriffenen System entnehmen will, bei denen in der Tat jedes Instrument transparenter Wertung willkommen ist. Dort entsteht notwendig Kasuistik, jedenfalls bis der Gesetzgeber sich entscheidet nachzukodifizieren. Das bedeutet übrigens auch, dass man den reichen Schatz römischrechtlicher Erfahrungen nicht ignorieren sollte, der hinter den kontinentalen Gesetzbüchern steht – die ja weithin nichts sind als systematisierte römische Kasuistik. Dieser Vorbehalt zugunsten der Kasuistik ist zu machen. Es ist weiterhin zu erinnern an die spezifischen historischen Determinanten der englischen Auslegungslehre.7 Hingegen konzentrieren die folgenden Ausführungen sich auf die

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6 Vgl. freilich Meder, JZ 2005, 477, 483: Das Fortleben von Juristenrecht im common law wirke sich unter den Bedingungen von Globalisierung und Funktionswandel des Staates günstig aus. 7 Am Ausgang der Divergenz steht bekanntlich der Umstand, dass in einem richterrechtlich geprägten System gesetzliche Festlegungen (als ausnahmsweise Äußerungen des souveränen Parlamentsgesetzgebers) ursprünglich eng und nicht teleologisch ausgelegt wurden. Hier fand der Satz statuta sunt stricte interpretanda, entwickelt für eine ganz andere historische Situation, eine neue Bedeutung. Freilich hat sich die englische Rechtsordnung teleologischen Erwägungen geöffnet, nicht zuletzt unter dem Einfluss des Gemeinschafts-, jetzt des Unionsrechts. Wohin dieser Prozess führt, ist noch nicht abzusehen. Für eine Bestandsaufnahme zum common law vgl. Schillig, in diesem Band, § 25; MacCormick/Summers, Interpreting Statutes (1991); Manchester/Salter/Moodie, The Dynamic of Precedent in Statutory Interpretation (2. Aufl. 2000); Kramer, in: Assmann/Brüggemeier/Sethe (Hrsg.), Unterschiedliche Rechtskulturen – Konvergenz des Rechtsdenkens (2001), S. 34 ff.; an neueren Entscheidungen vgl. namentlich Pepper v. Hart ([1993] 1 All E.R. 42; unter Aufgabe der exclusionary rule, so dass Erklärungen bei der parlamentarischen Beratung nunmehr verwertet werden können) und dazu Manchester/Salter/Moodie, The Dynamic of Precedent in Statutory Interpretation (2. Aufl. 2000), S. 58–76. Parallele Entwicklungen zeigt die Vertragsauslegung (für eine Darstellung der Diskussion über den shift of interpretation vgl. McKendrick, Contract Law Christian Baldus

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1. Teil: Grundlagen

kontinentale, klassisch-systembildende Tradition8 – zumal denkbar ist, dass die englische Tradition sich gerade dann in diese systematische Linie stellen wird, wenn ihre Begriffe und Lösungen besondere Bedeutung für das Unionsprivatrecht erlangen sollten.9 3.

Untersuchungsgegenstand und Grenzen

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Die historisch-vergleichende Umschau kann hier nur punktuell vertieft werden. Es geht für die Zwecke der europäischen Methodenlehre auch nur in zweiter Linie darum, von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat festzustellen, welche Methodentraditionen die Integration beeinflussen.10 Zunächst ist – wie schon angedeutet – nach den großen Linien zu fragen, die seit Gründung der Gemeinschaft im Hintergrund der Rechtsanwendung stehen, auch wenn die Differenzierungen und Überschneidungen des 20. Jahrhunderts vieles modifiziert haben. Dies sind einerseits die deutsche Pandektenwissenschaft, andererseits die vom Code Civil geprägte Rechtskultur.

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Das bedeutet zeitliche Beschränkungen des Untersuchungszeitraumes ebenso wie inhaltliche Schnitte: dass diese beiden Traditionen nicht näher bis ins 20. Jahrhundert hinein verfolgt werden, aber auch, dass die Wege zwischen den gemeinsamen römischen Wurzeln und der Kodifikationsbewegung um 1800 nicht nachgezeichnet wer(5. Aufl. 2003), S. 202 ff.). Monographisch jetzt Gisewski, Methodik der Auslegung im kontinentaleuropäischen und angelsächsischen Recht (2008). Einen analytischen Überblick zur Analogie mit Bezügen zur Judikatur des EuGH gibt Langenbucher, Cambr.L.J. 57 (1998), 481–521. Vergleichend aus italienischer Sicht Ferreri, GS Gorla I (1994), S. 586–605. Insgesamt lässt sich eine gewisse Methodenkonvergenz beobachten: So wie die kontinentale Rechtswissenschaft den Erkenntniswert richterlicher Kasuistik höher schätzt als früher, so öffnet sich die englische einer Zweckorientierung; vgl. Kramer (wie vor), passim. 8 Auch Manchester/Salter/Moodie; The Dynamic of Precedent in Statutory Interpretation (2. Aufl. 2000); S. 77 betonen die Prägung des Luxemburger Argumentations- und Urteilsstils durch die sechs Gründerstaaten. 9 Dazu Schmidt-Kessel, in diesem Band, § 17 Rn. 50 (problematisch). S. aber unten Rn. 176, 193–197. Das Problem liegt insbesondere darin, dass die traditionelle Terminologie des common law aus Sachgründen nicht geeignet ist, klassische Zivilrechtsmaterien in auch für den Kontinent verständlicher Weise zu fassen. (Für ökonomische Aspekte des Kartellrechts, Weinpanschen und Fischfang mag anderes gelten.) Mit einem juristischen „Brussels English“ ohne reales Referenzsystem aber ist erst recht niemandem gedient. Das belegen auch diverse in englischer Sprache erarbeitete Rechtssetzungsvorschläge. Aus privatrechtlicher Sicht kann daher dem vereinzelt von deutscher (!) Seite vorgetragenen Plaidoyer für das Englische als Einheitssprache Europas (Schilling, ZEuP 2007, 754–784; unter dem durchaus irreführenden Titel „Eine neue Rahmenstrategie für die Mehrsprachigkeit – Rechtskulturelle Aspekte“) nicht gefolgt werden. Der Akademische Entwurf für einen Gemeinsamen Referenzrahmen (Vgl. noch Schwartze, in diesem Band, § 4 Rn. 36 ff.; Röthel, ebd., § 12 Rn. 39a, b; SchmidtKessel, ebd., § 17 Rn. 45–51.) bemüht sich, diesem Problem durch Definitionen zu entrinnen; ob mit Erfolg, ist umstritten (kritisch etwa Geraldes Ferreira, Anuario da Facultade de Dereito da Universidade da Coruña (2008), S. 501–517; Vaquer, ERPL 2009, 487–512). S. noch u. Rn. 153–157. 10 Für den Versuch einer umfassenden Bestandsaufnahme jetzt Henninger, Europäisches Privatrecht; die Arbeit konnte nur noch punktuell berücksichtigt werden. Non vidi: Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH; vgl. demnächst die Rez. Babusiaux in GPR.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

den können; schließlich, dass manche Rechtsquellen und manche wissenschaftlichen Bewegungen, die für die spätere Entwicklung in einzelnen Staaten Bedeutung erlangen sollten, nicht zu diskutieren sind. Für eine umfassende Bestandsaufnahme, die alle diese Lücken nicht aufwiese, namentlich die nationalen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts erfasste und systematisierte, fehlt es überdies an hinreichenden Vorarbeiten; darauf ist gegen Ende zurückzukommen (Rn. 184 f.). Selbstverständlich ist die Untersuchung auch räumlich beschränkt: dem Ausgangspunkt nach auf Deutschland und Frankreich, die beiden Kerne kodifikatorischer Tradition im 19. Jahrhundert. Was aber wird aus einem französisch geprägten Text, wenn man ihn pandektistisch interpretiert? Das geschah vor allem in weiten Teilen Südwesteuropas und Lateinamerikas. (Ähnliche Fragen lassen sich für die Pandektisierung von Naturrechtskodizes stellen, wie in Österreich geschehen.) Diese Überschneidungen versprechen reiche Erkenntnis. Hier können sie nur andeutungsweise thematisiert werden, nämlich am Beispiel Italiens als des historisch ersten dieser Überschneidungsbereiche. Italien hat weiterhin die anderen maßgeblich beeinflusst und wurde (schon wegen der spachlichen Nähe) geradezu zum Transmissionsriemen für die Verbindung von französisch beeinflusster Gesetzeslage und pandektistischer Dogmatik auf der Iberischen Halbinsel wie in Lateinamerika (näher Rn. 165–183).

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Im Mittelpunkt der Betrachtung muss also das 19. Jahrhundert in Mitteleuropa stehen. Die Rechtswissenschaft dieser Zeit arbeitet ältere Elemente auf, vor allem aus der römischen Tradition, und passt sie den neuen Anforderungen an. Sie modernisiert, bündelt und systematisiert die Elemente und Instrumente des Privatrechts. So setzt sie die dogmatischen, konzeptuellen und systematischen Standards für das 20. Jahrhundert. Sie versieht den sich flächendeckend durchsetzenden Nationalstaat mit seinem privatrechtlichen Instrumentarium. Dadurch wirkt (in der Rechtsgeschichte noch stärker als in der allgemeinen Geschichte) das 19. Jahrhundert fort. Das gilt für die deutsche Pandektenwissenschaft ebenso wie für die vergleichbar stilprägenden Bewegungen in anderen Staaten.

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Speziell für die juristische Methodenlehre kommt hinzu: Methoden konstituieren Wissenschaften; selbst hängen sie von Erkenntnisziel und sonstigen Aufgaben der jeweiligen Wissenschaft ab. Die Rechtswissenschaft – als textorientierte Geisteswissenschaft wie als praktische, anwendungsorientierte Sozialwissenschaft – kann ihre Methode sicher nicht den Naturwissenschaften entnehmen. Ebenso wenig lassen sich die Methoden empirischer Sozialwissenschaften heranziehen, denn Gegenstand und Anwendung der Rechtswissenschaft sind normativer Art. Aber auch Methoden solcher Geisteswissenschaften, deren Ziel allein im Beschreiben und Verstehen von Entwicklungen liegt,11 passen für die Rechtswissenschaft nicht ohne weiteres: Es geht zwar dem Rechtshistoriker, nicht aber dem Juristen im allgemeinen primär darum nachzuvollziehen, wie eine bestimmte Norm geworden ist. Im Vordergrund steht immer

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11 Zum Verständnis der neueren Rechtsgeschichte ist das im 19. Jahrhundert gewachsene Verständnis der Geisteswissenschaften zugrundezulegen, nicht das (derzeit vorherrschende) Konzept der Kulturwissenschaften. Die Frage nach der Einordnung der Rechtswissenschaft in solche Kategorien ist auch hochschulpolitisch überformt. Christian Baldus

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1. Teil: Grundlagen

die Normanwendung in der Gegenwart (und auch der Rechtshistoriker untersucht auch Normanwendung, nur eben in der Vergangenheit). Das Recht hat seine eigene Realität und will die außerrechtliche Realität beeinflussen, es lebt in der Anwendung. Auch zur Verbesserung dieser Anwendung wird das Werden der Norm untersucht: Die Rechtsgeschichte hat nicht allein, aber auch dienende Funktion. Soweit Auslegung nun einen geschichtlichen Aspekt aufweist, muss entschieden werden (und zwar aus der Sicht der Gegenwart), wieviel Raum das geltende Recht diesem Aspekt geben will.

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Diese Sondersituation der Rechtswissenschaft wirkt sich auf Verständnis und Gewicht der historischen Auslegung aus (dazu Rn. 209 ff., 218–222), aber auch auf die Rezipierbarkeit geisteswissenschaftlicher Methoden. Eine Verstehenslehre, die etwa für die Philologie oder die Theologie entwickelt worden ist, aber auch eine Verstehenslehre, die für alle Wissenschaften oder zumindest alle Geisteswissenschaften gelten will (zu einem solchen Versuch Rn. 180), passt für die Rechtswissenschaft möglicherweise nicht oder nicht unverändert. Das normative Anwendungsmoment ist den meisten anderen Wissenschaften fremd.

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Die Autoren, denen wir die heutige Auslegungslehre im Kern verdanken, vor allem Savigny, lebten im frühen 19. Jahrhundert. Sie lebten mitten in der Zeit, in der aus verschiedenen fachbezogenen Hermeneutiken und Auslegungslehren eine allgemeine Auslegungslehre entstand, unter starken philosophischen Einflüssen. Allenthalben wurden Auslegungskanones entwickelt und diskutiert; die Juristen fügten sich mit ihren Entwürfen nur in einen größeren Zusammenhang ein.12 Wie weit welche juristischen Autoren durch welche nichtjuristischen Einflüsse geprägt waren, ist nicht immer zu ermitteln und kann jedenfalls in einem juristischen Handbuchbeitrag nicht ausgelotet werden. Nur muss man sich klarmachen, dass zwar Savignys Privatrecht im Wesentlichen unser Privatrecht ist (weil er es geprägt hat und weil es von seit römischer Zeit durchlaufenden inhaltlichen Kontinuitäten geprägt ist), aber Savignys geistige und politische Welt ganz und gar nicht die unsrige. In dieser seiner Welt jedoch sollte das Privatrecht funktionieren – und zwar so, dass auch die Interessen der Juristen selbst gewahrt blieben.

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Das setzt erhebliche Fragezeichen hinter den Versuch, überkommene Auslegungskategorien tout court auf die Gegenwart zu übertragen. Zugleich erklärt es, warum wir schlecht neue Kategorien erfinden können. Wenn wir dazu neigen, trotz dieser philosophischen, geschichtlichen und praktischen Fragezeichen Sicherheit in Auslegungskanones zu suchen oder zu postulieren, dann auch wegen der Notwendigkeit, das überkommene Privatrecht in vorhersehbarer und belastbarer Weise weiterzuentwickeln: Dass Juristen sich zumeist weniger auf Methodenreflexion einlassen als Vertreter anderer Fächer, hängt auch mit der legitimen Anwendungsorientierung ihrer Arbeit zusammen. Juristische Methode, soll sie mit dem gelebten Recht zu tun haben, also rechtswissenschaftlich bleiben, kann nicht jeden Zweifel aus den Nachbarwissen-

12 Für eine geschichtlich angelegte Einführung in Hermeneutik und Auslegungslehre vgl. nur Bianco, Introduzione all’ermeneutica.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

schaften aufnehmen. Sie muss im Zweifel der Praktikabilität Vorrang geben; eine nicht praktikable Methode ist in diesem Sinne gerade nicht wissenschaftlich. Das erlangt Bedeutung etwa für die Wortlautauslegung im Gemeinschaftsrecht (u. Rn. 20). Immer zwingend sind aus juristischer Sicht hingegen Vorgaben aus dem Rechtssystem selbst und hier aus höherrangigen Stufen der Rechtsordnung, also Gemeinschaftsrecht und Verfassungsrecht. Heute stellt sich eine scharfe Trennung von Auslegung und Analogie als im Kern verfassungsrechtlich motiviert dar.13 Darin setzt sich aufklärerisches Denken fort. Der Gesetzgeber sichert sein Rechtssetzungsmonopol methodologisch, auf der Verfahrensebene, indem er dem Richter Überschreitungen der Sphäre, innerhalb derer er auslegen darf, nur im gleißenden Licht der Analogieprüfung gestattet. Das betrifft nicht nur Systeme, die von der Wortlautgrenze ausgehen.

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Im Kern geht es für jede Tradition um einen Transparenzmechanismus, der die Debatte, namentlich eine Überprüfung durch die Obergerichte und gegebenenfalls durch den Gesetzgeber fördert: Der Richter soll bei der Analogiebildung nach deutschem Verständnis offen sagen, dass und warum er weiter geht als der Gesetzgeber.14 Er soll einen transparenten Diskussionsprozess eröffnen, in dem die Richtigkeit seines Vorgehens besser überprüft werden kann als bei schlichter Subsumtion: durch Rechtsmittelinstanzen und durch den Gesetzgeber. Dieser kann sodann souverän entscheiden, wie er sich zu der als problematisch angesehenen Rechtsfrage stellt – ob er die Ausdehnung der Rechtsfolge kodifikatorisch nachvollzieht oder durch abweichende Gesetzgebung ausdrücklich missbilligt oder aber der richterlichen Rechtsfortbildung freien Lauf lässt, indem er nichts unternimmt.

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Zur Realisierung dieses Transparenzmechanismus scheint sich auf den ersten Blick die Wortlautgrenze durchaus anzubieten; allein die rechtstheoretischen Bedenken gegen sie sind alt (die Aussage, ein Wortlaut sei klar, ist selbst schon ein Auslegungsergebnis).15 Im Gemeinschaftsrecht kommt die ungelöste, mit jeder Erweiterung zunehmende Problematik der Gleichberechtigung aller Amtssprachen hinzu,16 weiterhin die Forderung des EuGH, die Grenzen nationaler Methodenlehre auszuschöpfen, wo

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13 Der verfassungsrechtliche Aspekt wird zu Recht auch in Schulen betont, die ansonsten zu anderen Ergebnissen kommen als hier vertreten: Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 77 I (S. 603 ff.); Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 6. 14 Nicht notwendig: weiter als der historische Gesetzgeber. Methodisch lautet die Frage, ob die (planwidrige) Lücke historisch oder teleologisch zu bestimmen ist. Die besseren Argumente (namentlich: Kohärenz mit der Lehre von der Auslegung) sprechen für das teleologische Kriterium; vgl. Kramer, Methodenlehre, S. 168; Börsch, JA 2000, 117 ff.; deutlich positivistisch geprägte Orientierung am Willen des historischen Gesetzgebers in der österreichischen Tradition hingegen bei Rüffler, in: Jud u.a. (Hrsg.), Prinzipien des Privatrechts und Rechtsvereinheitlichung, JbJZ 2000, 111–149. 15 Zur Problematik des sens clair bei Savigny u. Rn. 41 ff., 58, 69; vorab Meder, Mißverstehen, S. 18–24; vgl. in rechtstheoretischer Hinsicht Klatt, Theorie der Wortlautgrenze (2004). Differenzierend Kramer, Methodenlehre, S. 47 ff. 16 Vgl. nur Baldus, GPR 2003/2004, 114 f.; weitere Nachweise zum Sprachenproblem bei Vogel, GPR 2005, 20 f. sowie 120 f.; näher Baldus/Vogel, Annuaire de droit européen 3 (2004, aber 2006), 1013–1026; dies., FS Krause (2006), S. 237–252; Pozzo, in: Ioriatti Ferrari (Hrsg.), Interpretazione e traduzione del diritto (2008), S. 73–112. Christian Baldus

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1. Teil: Grundlagen

gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung erforderlich ist:17 Eine Wortlautgrenze deutschen Stils gibt es eben nicht überall.

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22

Aus der Sicht eines Gesetzgebers, der gestalten will, bleibt ein praktisches Grundproblem: Es ist der Richter selbst, der entscheidet, ob er auslegt oder Analogieschlüsse zieht. Der Richter, jedenfalls das letztinstanzliche Gericht, hat, rechtstheoretisch gesprochen, die Anwendung der Metaregel in der Hand; ein noch so perfektes Gesetz kann ihn nicht völlig fesseln. Einer Entscheidung der letzten Instanz über die Zulässigkeit einer Analogie 18 kann der Gesetzgeber nur ex post entgegentreten – es sei denn, er führe den historisch mehrfach gescheiterten Mechanismus des référé législatif ein (vgl. Rn. 1). Deshalb ist historisch zu beleuchten, ob die Erfahrungen der das Europarecht prägenden Rechtsordnungen dafür sprechen, den skizzierten Transparenzmechanismus gerade jenseits einer Wortlautgrenze anzusiedeln, oder ob sich Gründe dafür finden, die richterliche Auslegung, namentlich die teleologische, großzügiger zu definieren. Dann wäre man bei der „extensiven“, vielleicht bei der „analog(isch)en Auslegung“. Zur Genese dieser Konzepte u. III.

II.

Römische Tradition19

1.

Normbildung und interpretatio

Das römische Recht kennt Gesetze. Die philologisch richtige Übersetzung lex ist aber zu eng für das, was funktional Gesetz war: Neben die eher punktuell erlassenen

17 Die Grenze richtlinienkonformer Auslegung wird von den methodischen Möglichkeiten des jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsanwenders bestimmt. Es besteht lediglich eine Vorzugsregel. Das heißt: Richtlinienkonforme Auslegung ist nur insoweit möglich, als diese Methodenlehre es dem Richter erlaubt, auszulegen (und ggf., über Auslegung im deutschen Verständnis hinaus, Analogien zu ziehen), auch wenn das Europarecht weitergehende Ergebnisse verlangt; im Konfliktfall kann diese Grenze zur Staatshaftung führen. Vgl. aus der neueren Rechtsprechung etwa EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis 403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 114; EuGH v. 4.7.2006 – Rs.C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057, Rn. 108–111; dazu namentlich W.-H. Roth, in diesem Band, § 14 Rn. 26, 29, 31 ff., 44 f. Wenn der BGH in der Quelle-Entscheidung von abweichenden Prämissen ausgeht, indem er sich selbst zur Rechtsfortbildung ermächtigt, dann findet sich eine Grundlage für solches Vorgehen jedenfalls nicht in der Rechtsprechung des EuGH. Das Gemeinschaftsrecht gibt dem nationalen Richter einen solchen Freibrief nicht. Vgl. nochmals oben Fn. 2. 18 In diesem Zusammenhang erlangt die prozessuale Frage Bedeutung, ob die letzte Instanz nur kassieren oder auch in der Sache entscheiden, wenigstens aber inhaltliche Vorgaben machen kann. Dazu bereits – in Orientierung am französischen Modell – Savigny (siehe unten, Fn. 195, 285). Hervorgehoben bei Rückert, JZ 2010, 1, 8; vgl. S. 3, 5 zur politischen Verortung der Protagonisten. 19 Zu den Grundlagen vgl. etwa Liebs, Römisches Recht (6. Aufl. 2004), S. 17–103; Kunkel/ Schermaier, Römische Rechtsgeschichte (14. Aufl. 2005), Harke, in diesem Band, § 2, passim; monographisch noch Baldus, Regelhafte Vertragsauslegung nach Parteirollen (1998). Die methodologische Entwicklung der römischen Rechtswissenschaft in politischem und verfassungsrechtlichem Kontext synthetisiert und diskutiert Schiavone, Ius (Besprechung in deutscher Sprache: Baldus, GPR 2006, 182 f.); Guzmán Brito, Historia; dazu ausführlich Cuena Boy, Index 2005, 7–77.

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Christian Baldus

§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

Volksgesetze (leges und plebiscita) aus republikanischer Zeit treten im Prinzipat kaiserliche Normierungen im Zusammenwirken mit dem Senat (senatus consulta, orationes) und administrative bzw. richterliche Verfügungen (constitutiones) des Kaisers. Seit frühester Zeit werden Normen auch ausgelegt, im einerseits formalistisch wirkenden, andererseits höchst kreativen Wege der interpretatio: Der Wortlaut ist zu respektieren, ein „Wille des historischen Gesetzgebers“ hingegen wird nicht gesucht,20 sondern es kommt auf das sinnvolle Funktionieren des Gesetzes an. Die Nähe zur modernen objektiv-teleologischen Auslegung wird deutlich.21 Regelfall der Normbildung ist das Gesetz jedoch bereits quantitativ nicht.22 Entsprechend gering ist der Quellenbestand zur Gesetzesauslegung, namentlich im Vergleich zur gut dokumentierten Auslegung von Testamenten oder Verträgen (von „Rechtsgeschäften“ zu sprechen, stellt bereits ein systematisierendes Weiterdenken antiker Ansätze dar: auch eine einheitliche Auslegungslehre kennt Rom insoweit nicht). Spätere Zeiten haben immer wieder versucht, römische Aussagen zur Testaments- oder Vertragsauslegung für die Gesetzesauslegung fruchtbar zu machen, oft ohne Hinweis auf den abweichenden Bezugspunkt (vgl. Rn. 118 f., 125, 202, 242). Solange der Gesetzgeber zugleich eine natürliche Person war, lag dies immerhin näher als unter Bedingungen parlamentarischer Gesetzgebung. Dominant sind in der Republik zwei andere Faktoren der Normbildung: die schöpferische Rechtsfindung der Juristen in Privatgutachten (responsa) sowie der allmähliche Ausbau eines Rechtsbehelfssystems durch den Prätor. Dieses beruht auf den actiones, publiziert im prätorischen Edikt. Der Prätor kann im Edikt vorhandene actiones 23 ge-

20 Ein Beispiel solcher interpretatio bietet der Zwölftafelsatz XII 4,2 (Si pater filium ter venum duit, filius a patre liber esto: Wenn der Vater den Sohn dreimal verkauft hat, soll der Sohn vom Vater frei sein). Ursprünglich ging es wohl um eine Sanktion für Väter, die – modern gesprochen – das Kindeswohl missachteten: Die väterliche Gewalt wurde aufgehoben, der Sohn wurde selbst vermögensfähig und konnte (soweit er volljährig war) autonom im Rechtsverkehr auftreten. Alsbald nutzte die interpretatio der für den Zivilprozess zuständigen Priester, der pontifices, den Satz als Grundlage für die rechtsgeschäftliche Emanzipation, also für die bewusste Herbeiführung eigener Vermögensfähigkeit des Sohnes im Zusammenwirken zwischen dem Vater und einem Strohmann, der den Sohn dreimal pro forma „kaufte“. Vgl. Humbert (Hrsg.), Le Dodici Tavole (2005), nach Reg. 21 Vgl. Harke, in diesem Band, § 2 Rn. 12–17. Näher zu „Gaio e la legum interpretatio“ jetzt R. Quadrato, FS Labruna (2007), VII, S. 4557– 4603. 22 Näher Santucci, La legge nell’esperienza giuridica romana, in: Vincenti (Hrsg.), Inchiesta sulla legge nell’Occidente giuridico (2005), S. 33–58; dt. in: Studi per Giovanni Nicosia (2007), VII, S. 283–305. Diverse Aufsätze in der romanistischen FS für die italienische Corte costituzionale: Tradizione romanistica e Costituzione (dir. Labruna, Baccari e Cascione, 2006) (Rez. in deutscher Sprache: Baldus, Der Staat 2010, S. 633–637). 23 Actio bezeichnet neben der Klage auch den heutigen materiellen Anspruch in dem Sinne, wie Bernhard Windscheid ihn 1856 begründet hat (Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts, vom Standpunkte des heutigen Rechts (1856)) und wie er Eingang in § 194 BGB fand. Die Übersetzung mit „Klage“ vermeidet jedenfalls das Missverständnis, es sei allein oder primär um dieses – modern gesprochen – materielle Moment gegangen. Zur Entwicklung nach wie vor grundlegend Kaufmann, JZ 1964, 482–489; Pugliese, Actio e diritto subiettivo Christian Baldus

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1. Teil: Grundlagen

brauchen oder weiterentwickeln, aber auch neue geben: jeweils in einer Klageformel (daher spricht man vom Formularverfahren). Die formula als Entscheidungsprogramm für den Richter (iudex) strukturiert den einzelnen Prozess. Die actio ist zunächst Klage; da aber ein von Prozess unabhängiges materielles Zivilrecht zunächst nicht existiert,24 entsteht die Zivilrechtsdogmatik materiell wie prozessual im Wesentlichen um das Edikt herum.

24

Ist der Fall von einer bestehenden actio erfasst, wird diese direkt angewandt. Wo eine ganz neue actio (noch) nicht gegeben werden soll, gewährt der Prätor bisweilen Rechtsbehelfe nach dem Vorbild (ad exemplum) eines anerkannten Rechtsbehelfs oder für den jeweiligen Sachverhalt (in factum). Häufig erscheint für Klagen, mit denen ein anerkannter Rechtsbehelf (dann zur Abgrenzung ggf. als actio directa bezeichnet) auf neue, gleich zu bewertende Situationen ausgedehnt wird, auch der Begriff der actio utilis25, im Deutschen oft mit „analoge Klage“ übersetzt. Hier liegt jedenfalls eine funktionelle Wurzel der Analogie, wenngleich die Römer eine entsprechende Theorie nicht entwickelt haben.26 Bei diesem Wachstumsprozess sind wiederum die Juristen maßgeblich beteiligt, als Berater des Prätors (der keine rechts-

(Ndr. 2006); Guzmán Brito, Acto, negocio, contrato y causa en la tradición del derecho europeo e iberoamericano (2005). 24 Schon deswegen verbieten sich modernisierende Einordnungen des Edikts. Vgl. Mantovani, L’editto, S. 129–178. 25 Wie die genannten Begriffe systematisierbar sind, ist str. Näher Harke, in diesem Band, § 2 Rn. 31 ff. mwN und Fascione, Storia del diritto privato romano (2006), S. 201 ff. 26 Burdese, in: AA. VV., Ricerche dedicate al professor Filippo Gallo (1997), S. 61, 70 (bezogen auf den sogleich zu besprechenden Gegensatz von verba und voluntas bei der Normauslegung in der Zeit des Prinzipats): „Quanto a interpretazioni che superano il testo letterale della legge in vista della sua ragionevole funzione, esse possono pervenire a riconoscerle una portata più ristretta ma di solito più estesa rispetto al significato letterale sino a ricorrere al procedimento analogico, che il pensiero romano utilizzava da antico tramite non solo interpretazioni giurisprudenziali ma anche interventi legislativi e pretori, pur non pervenendo a teorizzarlo o anche soltanto ad autonomamente qualificarlo.“ Burdese gelangt auch für das geltende Recht zu der Auffassung, eine qualitative Unterscheidung zwischen „interpretazione estensiva del dettato della norma e interpretazione analogica quale applicazione di una norma stabilita per un caso o materia a casi affini o materie analoghe“ sei ein Mythos: „Esista o meno un dettato normativo che imponga all’interprete il ricorso all’analogia, a quest’ultima è sempre inevitabile riferirsi, come avviene di fatto sinanco in ordine agli statutes nell’ambito dei sistemi di common law, in virtù di un principio di razionalità intesa quale coerenza del sistema normativo“ (S. 76). Das führt zum einen zur Rechtslage in den romanischen Ländern (zu Italien u. sub VIII. 3.), zum anderen auf die bekannte Frage, welche Argumentationsformen nur im formal geschlossenen System zulässig sind und welche auch dem offenen System eignen. Vgl. noch Hackl, FS Seiler (1999), S. 117–127. – Wieder andere Aspekte berührt die Begriffsgeschichte des Wortes analogía, das in der hellenistischen Kultur durchaus hermeneutische Inhalte kennt; vgl. Bianco, Introduzione, S. 15 f. (Schule von Alexandria) u.ö.

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Christian Baldus

§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

fachliche Vorbildung besitzen muss) oder der Parteien. Das Recht entsteht mithin jurisprudentiell.27 Juristen sind typischerweise also nicht abhängig tätige, einer generell-abstrakten Gesetzgebung unterworfene Rechtsanwender, sondern Angehörige der Führungsschicht, die als Gutachter, Politiker, Berater mehr oder minder intensiv Rechtsfragen erörtern und selbst fortentwickeln. Die oft zitierten rhetorischen Figuren von verba und voluntas, von mens und sententia28 sind dabei nach heute herrschender Auffassung nicht systematisch zu überhöhen: Wie so viele Versatzstücke aus der Philosophie und Rhetorik verwendet der römische Jurist – als wissenschaftlich denkender Praktiker – solche Figuren dort, wo sie ihm einer sinnvollen Falllösung dienlich scheinen, aber nicht als systematische Entscheidungsvorgabe.29 Erst recht gibt es keine Tendenz dahin, ein und dieselbe Denkfigur im Zweifel auf alle Rechtsfragen gleichermaßen anzuwenden. Beispielsweise erscheinen die genannten Auslegungstopoi gern im Testamentsrecht, ohne dass dies notwendig etwas für die Vertragsauslegung30 oder gar für diejenige von Gesetzen besagte. Das Recht entsteht solcherart als inneres System,31 als diskursive Ausarbeitung widerspruchsfreier Entscheidungs- und Argumentationszusammenhänge von Fall zu Fall32; ein äußeres, formalisiertes System vermisst die Praxis nicht, und gerade der Gedankenreichtum des inneren Systems ist es, der sachlich bis heute das europäische Privatrecht prägt. Erst im Prinzipat werden der jurisprudentiellen Rechtsentwicklung wirksame Grenzen gezogen: Der Kaiser intensiviert die Normgebung, und er bindet die Gutachterjuristen an sich. Diese fahren in ihrer alten Methode fort, räumen der kaiserlichen Autorität aber immer größeres Gewicht ein. Parallel verlagert sich die juristische Innovation immer weiter aus der Sphäre des – politisch nunmehr unbedeutenden – Prätors in die des Kaisers, der mit Unterstützung seiner Juristen neue Verfahren und Zuständigkeiten schafft, wo es ihm opportun erscheint (die sog. cognitio extra ordi-

27 Grundlegend (nicht nur zur Antike) Lombardi, Saggio sul diritto giurisprudenziale (1967), dort auch zur Begrifflichkeit. 28 S. sogleich Rn. 31 f. 29 So jedenfalls die h.M.; anders Behrends in verschiedenen Arbeiten seit SavZRG – Rom. Abt. – 95 (1978), 187–231; zuletzt SavZRG – Rom. Abt. – 125 (2008), 25–107. Grundlegend zu Rhetorik, Philosophie und Systemdenken bei Cicero und den Juristen Accademia Nazionale dei Lincei, Colloquio Italo-Francese: La filosofia greca e il diritto romano I/II (1976/1977); weiterhin Bona, SDHI 46 (1980), 282–382; dazu online die nota di lettura in deutscher Sprache von Cuena Boy, in: Rivista di Diritto Romano VI (2006, aber 2007), http://www. ledonline.it/rivistadirittoromano/allegati/dirittoromano06bona. Jetzt Knütel, GS Heinzen (2005), S. 475–499; ders., FS Miquel (2006), S. 523–555. Neuestens monographisch zu Rhetorik und Politik bei Quintilian: Scarano Ussani, Il retore e il potere (2008). 30 Vgl. Harke, Römisches Recht (2008), § 5 Rn. 19, S. 63 f. (bei im einzelnen von der h.M. abweichender Konzeption). 31 So die h.M.; für die Gegenmeinung, die auch am inneren System zweifelt, mwN Cuena Boy, Sistema jurídico. 32 Zentral ist der Begriff des ius controversum. Darüber zuletzt Cantarone, GS Franciosi (2007), S. 405–463; Bretone, “Ius controversum” nella giurisprudenza classica (2008, aber 2009). Christian Baldus

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1. Teil: Grundlagen

nem, das Kognitionsverfahren, welches das hoch- und spätrepublikanische Formularverfahren schrittweise ablöst).

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Um das Jahr 130 kommt es zu einer Maßnahme des Kaisers Hadrian, die das Verhältnis von Norm und Anwendung nachhaltig prägen wird: 33 Er lässt – durch den Juristen Salvius Iulianus – das seit einiger Zeit schon erstarrte Edikt in endgültiger Form niederlegen. Derselbe Kaiser beschleunigt den Prozess der Anbindung wichtiger Juristen an die Verwaltung; juristische Entscheidungsaufgaben werden immer weiter in kaiserlichen Behörden zentralisiert und diese mit den besten Juristen besetzt. Insbesondere verfassen sie für den Kaiser rescripta, Antworten auf Eingaben Privater zu laufenden Verfahren oder anderen Rechtsfragen. So leiten die Juristen ihr politisches Gewicht nunmehr überwiegend vom princeps ab, und die kaiserliche Normsetzung kann nicht mehr lediglich als Teil eines insgesamt jurisprudentiellen Rechts behandelt werden.34 2.

Der klassische Jurist als Ausleger

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Mit den Veränderungen des zweiten Jahrhunderts nach Christus wurden die Juristen jedoch nicht unselbständige Teile der kaiserlichen Justizbürokratie. Vielmehr nutzten sie ihre typische Doppelstellung zu einem durchaus souveränen Umgang mit dem sich verdichtenden Kaiserrecht: Sie sind einerseits Mitarbeiter der kaiserlichen Kanzlei oder Mitglieder des consilium principis, andererseits aber wie ihre republikanischen Vorgänger Rechtsgutachter und (teils in größerem Umfang als diese) Rechtslehrer. In dieser mehrfachen Funktion können sie die Entscheidungen (constitutiones, vor allem rescripta) des Kaisers respektieren, zugleich aber den Umstand nutzen, dass sie selbst an den Entscheidungsprozessen maßgeblich beteiligt sind. Sie können daher auch die Reskripte mit einer gewissen Freiheit interpretieren.35 Zwischen responsum und rescriptum bestehen Parallelen,36 beginnend mit der Frage-Antwort-Struktur: Wie der privat gutachtende Jurist auf eine quaestio mit dem responsum antwortet, so der Kaiser (faktisch zumeist der für ihn tätige Jurist) mit seinem Reskript auf einen libellus des Privaten. Offen bleiben mag hier, ob man sagen kann, das Reskript habe sich in der Kaiserzeit funktionell an die Stelle des responsum gesetzt;37 jedenfalls prägt das Gutachten als Denkform die westliche Rechtsentwicklung.

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Die Auslegungspraxis bleibt damit ambivalent, aus traditionellen wie aus institutionellen Gründen. Sie changiert zwischen Fortbildung des Juristenrechts und Anwen33 Zum Folgenden ausführlich Vacca, La „svolta adrianea“. Zum Edikt nochmals Mantovani, L’editto. 34 Zu diesem Problemkreis vgl. nur Paricio, Valor de las opiniones jurisprudenciales en la Roma clásica (2001), namentlich S. 115–134 (= ders., De la justicia y el derecho (2002), S. 189–207); für eine Gesamtschau Schiavone, Ius; weiterhin Baldus, GS Franciosi (2007), S. 167–189; Zoz, GS Franciosi (2007), S. 2877–2905. 35 Vgl. Baldus, GS Franciosi (2007), S. 167–189 (186 f.); ders., „Historische Auslegung“ in Rom?. 36 Vgl. Crifò, Lezioni di storia del diritto romano (4. Aufl. 2005), Nr. 65, S. 318. 37 Dazu, namentlich zur prozessualen Seite, Arcaria, in: ders., S. 133–152. Mehr spricht für ein Zusammenspiel.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

dung zentralisierter Normsetzung. Die römischen Juristen stehen nicht in der strukturellen Distanz zur Normentstehung, die für den modernen (zumal konstitutionellen und gewaltenteilenden) Staat typisch ist; entsprechend anders gehen sie mit dem Recht um. Überspitzt gesagt: Der römische Jurist vergisst auch dort, wo er für den Kaiser tätig ist, nie den Primat des Gutachtens, und zwar des Gutachtens als Rechtsquelle. Die innere Verbindung von Rechtsquellenlehre, juristischen Handlungsformen und Auslegungsmethode wird bereits in Rom deutlich. Der Unterschied zur modernen Lehre von der juristischen Auslegung ist evident: Zumeist wird heute die Sphäre der Rechtssetzung von derjenigen der Rechtsauslegung und Rechtsanwendung getrennt; auch die Rechtsanwendung wird als Ergebnis eines Verstehensprozesses, nicht eines Normsetzungsprozesses gedacht. Diese klassische Trennung stößt sich freilich an hermeneutischen Aussagen zur aktiven Rolle des interpretierenden (und vor allem bei der Rechtsauslegung auch anwendenden) Subjekts.38 Einfacher gesagt: Was der Ausleger in der Norm finden wird, das kann der Normgeber nicht vollständig kontrollieren. Rom hat theoretische Reflexionen hierzu kaum anzubieten; es fehlt für die römische Rechtserfahrung bereits an der strikten Trennung von Rechtssetzung einerseits, Auslegung und Anwendung andererseits, und generell legt die römische Rechtswissenschaft mehr Wert auf konkrete Problemlösungen als auf Theorie. Ganz fehlen solche Reflexionen jedoch nicht. 3.

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Aussagen der klassischen Jurisprudenz

Aus der Hochklassik, näher: der Zeit Hadrians39 stammen einige Aussagen namentlich des Ediktsredaktors Iulianus 40 über Normsetzung und Normanwendung, die – in gewisser Vereinfachung – als repräsentativ für die klassische Vorstellung betrachtet werden dürfen. Mehrfach heißt es, ein Gesetz oder ein Senatsbeschluss könne nicht

38 Vgl. Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, passim; kurz Meder, Grundproblem, S. 21 f. Zu beachten ist freilich, dass auch aus der Sicht einer allgemeinen Hermeneutik das applikative Moment für die juristische Hermeneutik geradezu kennzeichnend ist (vgl. Angehrn, S. 48 f., zu den theologischen Wurzeln der subtilitas applicandi und zum Weiterdenken dieses Ansatzes bei Gadamer; s. auch S. 186; Meder, wie vor, S. 27 ff.). Nunmehr Meder, Ius non scriptum (2. Aufl. 2009), S. 177 ff. 39 Die Hochklassik umfasst (nach in Deutschland üblicher Periodisierung) das zweite nachchristliche Jahrhundert bis zum Tode des Mark Aurel (180). Ihr Kennzeichen sind politisch die im Sachtext beschriebenen Annäherungsprozesse zwischen Kaiser und Rechtswissenschaft, dogmatisch und methodologisch ist es die sogenannte Problemata-Literatur, mit der das römische Privatrecht zu besonders anspruchsvollen Rechtsfiguren und Problemlösungen gelangt. Die Frühklassik (1. Jahrhundert nach Christus) setzt in Denkformen und Tätigkeiten der Juristen noch stärker republikanische Traditionen fort, in der Spätklassik (die mit der Severerzeit um 200 zusammenfällt) sind die Juristen so gut wie ausnahmslos in kaiserlichen Diensten tätig und primär am Ordnen und Fortentwickeln der entstandenen Dogmatik interessiert. 40 Grundlegend zu Julian Bund, in: Temporini (Hrsg.), ANRW II 15 (1976), 408–454. Näher zu einem anderen Hochklassiker, Celsus, Harke, in diesem Band, § 2 Rn. 3, 5–14 (zur juristischen Methode in Rom) sowie Quadrato, FS Labruna (2007), VII S. 4557–4603 (vor allem begriffsgeschichtlich; mit weiteren Quellen). Christian Baldus

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1. Teil: Grundlagen

alle denkbaren Fälle erfassen; seit längerer Zeit schon gab man dem Sinn, der mens oder sententia, großes Gewicht bei der Normanwendung;41 und im 15. Buch seiner digesta trifft Julian eine Aussage, welche fast vierhundert Jahre später von Kaiser Justinian an prominenter Stelle in das Corpus Iuris Civilis eingefügt werden sollte und die seither immer wieder in methodologischen Schriften zitiert wird (D. 1,3,12): 42 Non possunt omnes articuli singillatim aut legibus aut senatus consultis comprehendi: sed cum in aliqua causa sententia eorum manifesta est, is qui iurisdictioni praeest ad similia procedere atque ius ita dicere debet. Die Gesetze und Senatsbeschlüsse können nicht alle Einzelfälle enthalten. Ist aber in einem Fall klar, was sie meinen, so muss derjenige, der der Rechtsprechung vorsteht, zum Ähnlichen fortschreiten und dementsprechend Recht sprechen.43

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Ein Beispiel für dieses Vorgehen bietet Julian selbst in einer Entscheidung zum Senatusconsultum Macedonianum 44. Dieser Senatsbeschluss bezog sich auf Darlehen an filii familias, Haussöhne45. Solche Darlehen waren danach unwirksam, sofern keine Anweisung (iussum) des Vaters oder Großvaters vorlag, das Geld anzunehmen.46 Im zu entscheidenden Fall nun hatte der Vater den Sohn angewiesen. Er unterstand aber selbst noch der Gewalt seines eigenen Vaters. Ein solches iussum genügt nach Julian nicht zur Wirksamkeit des Darlehens, weil der Vater selbst nicht frei war, Darlehen ohne iussum seines Vaters aufzunehmen: Das Senatusconsultum ist über seinen Wortlaut hinaus, der von Söhnen spricht (etiamsi verbis senatus consulti filii continerentur), anzuwenden. Genau formuliert Julian: „hinsichtlich des Enkels ist dasselbe zu beachten“, in persona nepotis idem servari debere. Von mens, sententia und Ähnlichem sagt

41 Die Literatur ist kaum überschaubar; grundlegend Wesel, Rhetorische Statuslehre und Gesetzesauslegung der römischen Juristen (1967); Vonglis, La lettre et l’esprit de la loi dans la jurisprudence classique et la rhétorique (1968). Die heute h.M. beurteilt das Gewicht rhetorischer Argumente zurückhaltend, s.o. bei Rn. 25. 42 Auf den ursprünglichen Zusammenhang der Quelle und auf sonstige methodengeschichtlich relevante Texte der Zeit kann hier nicht eingegangen werden. Für eine Einordnung in Julians gesamtes corpus vgl. Guzmán, Historia, S. 271–274 u.ö., und zuletzt Vacca, FS Labruna (2007), S. 5740 ff. 43 Ähnliche Übersetzung bei Behrends/Knütel/Kupisch/Seiler, Corpus Iuris Civilis, II (1995) a.h.l.: „Es können nicht alle Fallvarianten einzeln von den Gesetzen oder Senatsbeschlüssen erfasst werden; wenn aber deren Sinn und Zweck auf irgendeinen [neuen] Fall zutreffen, dann muss derjenige, der für die Rechtsprechung zuständig ist, zur Bildung einer analogen Regel fortschreiten und danach Recht sprechen.“ 44 D. 14,6,14 (Iul. 12. dig.). Vgl. Wacke, SavZRG – Rom. Abt. – 112 (1995), 239–329. 45 Die Übersetzung „Minderjährige“ wäre falsch: Es bestand durchaus eine Unterscheidung nach Altersgrenzen zwischen Volljährigen und Minderjährigen (näher Knothe, Die Geschäftsfähigkeit der Minderjährigen in geschichtlicher Entwicklung (1983)). Auch der volljährige Römer aber war nicht vermögensfähig, sofern sein Vater (bzw. Großvater väterlicherseits) noch lebte (und ihn nicht emanzipiert hatte, dazu o. bei Fn. 20). Im übrigen wurde der Minderjährige durch einseitige Unwirksamkeit bestimmter Rechtsgeschäfte sowie durch die Möglichkeit einer restitutio in integrum geschützt, also durch andere Konstruktionen als heute. – Quellen und grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis Großvater/Enkel im römischen Recht bei Rodríguez Montero, GS Franciosi (2007), S. 2325–2336. 46 Dazu umfassend Wacke, SavZRG – Rom. Abt. – 112 (1995), 239–329.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

er hier 47 freilich nichts, sondern gibt im Folgenden den Sachgrund48 für die Gleichbehandlung des Enkels mit einem Sohn.49 Hier wird deutlich, wie eng das – aus der rhetorischen Argumentationslehre50 bekannte51 – argumentum a simili mit der Frage nach dem Rechtssystem und mit derjenigen nach den Kompetenzen des Rechtsanwenders verbunden ist. Aber Julians Perspektive ist der modernen genau entgegengesetzt: Wo der Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts, insoweit aufgeklärten Denkmodellen folgend, überzogene Freiheit des Richters fürchtete, wo der heutige EU-Mitgliedstaat EuGH-Rechtsprechung angreift, weil er die Tragweite einer Richtlinie zu großzügig ausgelegt sieht, da geht die Kritik jeweils von der Vorstellung eines vollständigen gesetzten Systems aus, das der Rechtsanwender im Regelfall lediglich zu konkretisieren habe. In Rom hingegen legt der kaiserliche Zugriff auf das Recht erst die Grundlagen für eine solche – im Kern positivistische – Vorstellung; er relativiert die alte Vorstellung, das Zivilrecht sei primär Juristenrecht. Diese Vorstellung lebt während der gesamten Klassik fort. Sie drückt sich in Wendungen wie denen aus, das ius civile bestehe in sola prudentium interpretatione,52 und die Juristen seien conditores iuris. Dabei bleiben dem auslegenden Juristen erhebliche Freiräume, und auch methodische Regeln für das Vorgehen ad similia gibt Julian an der zitierten Stelle nicht vor.

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Die Entscheidung muss in das Gesamtsystem passen, aber dieses System ist in Rom ein inneres System (Rn. 25), nicht auf gesetzte Normen beschränkt und in ständiger Entwicklung begriffen. Zu beobachten ist dabei, wie die Spätklassiker durch schrittweise Systembildung auch methodische Erneuerung ermöglichen.53

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47 Vgl. jedoch D. 1,3,12 (Iul. 15. dig.) und dazu Vacca, FS Labruna (2007), S. 5731 f. 48 Dogmatische (seltener philosophische) Gründe werden zwar nicht immer expliziert, aber es gibt sie immer; nur waren sie für die Zeitgenossen oft selbstverständlich, und außerdem können die uns vorliegenden Texte gekürzt sein. Dass die Römer meist begründungslos und stets intuitiv entschieden hätten, ist ein Vorurteil; vgl. Harke, Römisches Recht (2008), § 1 Rn. 18, S. 14 f.; ders., in diesem Band, § 2 Rn. 1 ff., 34; zeitgeschichtliche Deutung dieses Vorurteils jetzt bei Knütel, GS Heinzen (2005), S. 475–499. Die Aufdeckung der Gründe einer Entscheidung dient vor allem der Frage, ob diese Entscheidung argumentativ oder in der Wertung für das geltende Recht fruchtbar gemacht werden kann; sie geschieht in der Digestenexegese, dem Herzstück römischrechtlicher Forschung und Lehre. Dazu Baldus, FS Sondel (2008), S. 87–101; ältere Version (in spanischer Sprache) in FS Samper Polo (2007), S. 95–107. 49 Zur Stelle Wacke, SavZRG – Rom. Abt. – 112 (1995), 239, 260. 50 Welches Gewicht diese für das Verständnis römischen Rechtsdenkens hat, ist streitig. Angesichts des technischen Charakters römischer Jurisprudenz darf jedenfalls nicht unbedacht aus der Präsenz rhetorischer Bildungselemente auch bei den Juristen auf die Deutung von Rechtstexten geschlossen werden; vgl. Fn. 29, 41. 51 Eine ganz andere Frage ist, woher es geschichtlich stammt. Mittelalter und frühe Neuzeit jedenfalls verorten die Argumentationslehre zunächst in der Logik, nicht in der Rhetorik (frdl. Hinweis von Jan Schröder, Tübingen). 52 D. 1,2,12 (Pomponius libro singulari enchiridii). Zum Begriff der interpretatio in diesem Text Nörr, in: Temporini (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW) II 15 (1976), S. 497–604, jetzt in aktualisierter italienischer Version: ders., in: Fino e Stolfi (Hrsg.), Rivista di Diritto Romano (2002), estratto, S. 1–88 (30 ff.). 53 Ein Beispiel aus einem zentralen Bereich des Zivilrechts bietet die lange Zeit umstrittene Abgrenzung von morbus und vitium im Sachmängelrecht: Nachdem Ulpian, aufbauend auf über Christian Baldus

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1. Teil: Grundlagen

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Entsprechend bereitet eine Qualifikation dieser und verwandter römischer Aussagen mit dem Begriff „Analogie“ 54 Probleme, wenn man Analogie im Sinne der heutigen deutschen Lehre versteht, also als Lückenfüllung: Es geht nicht um einen Ergänzungsmechanismus für ein im Prinzip geschlossenes System, und den kaiserlichen Spitzenjuristen wird der belassene und unvermeidliche Freiraum schon deshalb genügt haben, weil sie der Macht nahe genug standen, um bereits die Normsetzung beeinflussen zu können.55

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Zusammengefasst: Die Tätigkeit der römischen Juristen wird erst im Prinzipat primär Rechtsanwendung, so wie die Rechtsquellen erst in dieser Zeit mehr oder minder einheitlich den Charakter zentraler Vorgaben annehmen. Zur Entwicklung einer geschlossen hieran orientierten Methodenlehre ist es bis zur Spätklassik nicht gekommen, und später in der Antike erst recht nicht.

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Justinian nimmt das julianische Gedankengut zur Analogie zwar auf,56 aber in einer durchaus etatistisch zu nennenden Veränderung57 und ergänzt um einen frühen référé législatif, dem ebenso wenig Erfolg beschieden war wie späteren Versuchen dieser Art.58

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Die hier grundgelegten Gedanken prägen die spätere Begrifflichkeit, doch unterdes wandelte sich das Recht. In der Neuzeit wird das staatliche Gesetz zum Paradigma;

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zwei Jahrhunderten Suche nach Kriterien, bestimmte Sachmängel unter einen Oberbegriff (vitium corporis) bekommen hat, kann er das Nebeneinander der beiden Begriffe im Edikt als bloße Klarstellung deuten (D. 21,1,1,7; Ulp. 1. ed. aed. cur.): Ortu, ‚Aiunt aediles …‘. Dichiarazioni del venditore e vizi della cosa venduta nell’editto de mancipiis emundis vendundis (2008), 159 ff., 188 f. Weitere Nachweise (zum vitium animi, D. 21,1,65 pr.) bei Baldus, SDHI 76 (2010), im Druck. Vgl. nochmals Burdese, in: Ricerche dedicate al professor Filippo Gallo (1997), S. 61; näher Vacca, La „svolta adrianea“, S. 441, 444–454. Dort wird auch deutlich, dass die romanische Rede von der „interpretazione analogica“ am Qualifikationsproblem kaum etwas ändert. Vgl. Franciosi, Manuale di storia del diritto romano (2. Aufl. 2001), S. 246 f.; Baldus, GS Franciosi (2007), S. 185 f. Constitutio Tanta § 18: „(…) non desperamus quaedam postea emergi negotia, quae adhuc legum laqueis non sunt innodata. si quid igitur tale contigerit, Augustum imploretur remedium (...) et hoc non primum a nobis dictum est, sed ab antiqua descendit prosapia: cum et ipse Iulianus (...) in suis libris hoc rettulit, ut, si quid inperfectum inveniatur, ab imperiali sanctione hoc repleatur. et non ipse solus, set et divus Hadrianus in compositione edicti et senatus consulto, quod eam secutum est, hoc apertissime definivit, ut, si quid in edicto positum non invenitur, hoc ad eius regulas eiusque coniecturas et imitationes possit nova instruere auctoritas. Die Erwähnung des Julian wird üblicherweise bezogen auf D. 1,3,11 (90. dig.): Et ideo de his, quae primo constituuntur, aut interpretatione aut constitutione optimi principis certius statuendum est. Man beachte freilich die Parallele von interpretatio und constitutio (nicht etwa eine Unterordnung der ersteren unter die kaiserliche Rechtsssetzung) sowie das komparativische certius; näher Vacca, La „svolta adrianea“, S. 456–459; dies., FS Labruna (2007), S. 5734 ff. Dazu sowie zu Unterschieden zwischen lateinischer und griechischer Fassung nochmals Vacca, La „svolta adrianea“, S. 475–479. Der référé ist angeordnet in der constitutio Tanta § 18 (remedium Augustum, s.o. Fn. 56), vgl. auch das sog. Kommentierungsverbot in § 21 (über dessen Tragweite Kunkel/Schermaier, Römische Rechtsgeschichte (13. Aufl. 2001), S. 225 f.). Zur Aufklärung oben Fn. 1.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

um 1800 wünscht man das klare und systematische Gesetz herbei, schon weil das späte gemeine Recht mit seinen zahlreichen Rechtsquellen, Normenkomplexen und Zuständigkeiten gänzlich unübersichtlich geworden war.59 An dieser Stelle setzen unsere weiteren Betrachtungen an, im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts und dann zur gleichen Zeit in Frankreich, wo in Gestalt des Code civil von 1804 bereits eine für das ganze Jahrhundert stilbildende Kodifikation gelungen war.

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[bleibt frei]

III. Hermeneutische Positionen um 1800 1.

Spätes Gemeines Recht und geistiges Umfeld

Vom 18. zum 19. Jahrhundert hin entsteht eine allgemeine Hermeneutik und werden die speziellen Hermeneutiken (der Theologie, der Philologie, der Rechtswissenschaft) fortentwickelt.60 Dieser Prozess wirkt sich auf die Lehre von der Auslegung auch der juristischen Texte aus.61 So lässt sich die frühe Pandektenwissenschaft zeitlich in eine Umbruchphase der Hermeneutik und der Auslegungslehre einordnen. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts hatte ein sehr weites Verständnis der Interpretation vorgeherrscht: Auslegung könne den Wortlaut erklären, ihn unter- oder überschreiten; eine den Wortlaut überschreitende (extensive) Auslegung könne aber auch über den konkreten Sinn des Gesetzes hinausgehen, wenn nur eine „ähnliche“ ratio zu ermitteln sei. Diese Auslegung aus dem „ähnlichen“ Grund stieß ab dem späten 17. Jh. auf Ablehnung. Doch blieb eine Über- oder Unterschreitung des Wortlauts nach dem Sinn des jeweiligen Gesetzes zulässig, wobei man mit Thomasius nunmehr die „grammatische“ Auslegung (aus den Worten des Gesetzes) von der „logischen“ (aus anderen Umständen) unterschied.62 Diese Bildung juristischer Kanones fügt sich in eine Vielzahl ähnlicher Versuche vor allem in Theologie und Philologie ein.

59 Überblick bei Meder, Rechtsgeschichte (3. Aufl. 2008), S. 250 f. Zum Verständlichkeitspostulat etwa Meder, SavZRG – Germ. Abt. – 123 (2006), 428–435, veröffentlicht auch im Internet unter www.koeblergerhard.de. 60 Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, S. 47 ff.; Bianco, Introduzione, insb. S. 51–90. 61 Zum Verhältnis von Hermeneutik und Interpretation monographisch Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, passim; etwas anders Meder, Grundprobleme, S. 20 f.: seit dem 17. Jahrhundert „Unterscheidung zwischen Hermeneutik als Theorie und Interpretation als Praxis der Auslegungskunst“; Hermeneutik heute als weiterer Begriff, da sie „ – über die Interpretation einzelner Textstellen hinaus – auf eine grundlegende Analyse dessen zielt, was wir ‚Verstehen‘ nennen“. 62 Vgl. zu dieser Entwicklung und auch zum Folgenden Schröder, Recht als Wissenschaft (2001); kurz ders., ZNR 2002, 52–64; zum Fortleben dieser und anderer naturrechtlicher bzw. aufklärerischer Unterteilungsschemata (authentische, usuale, doktrinelle Auslegung, innerhalb der logischen die extensive und die restriktive) um die Mitte des 19. Jahrhunderts, ders, Recht als Wissenschaft (2001), S. 226 ff. In der italienischen Literatur wird das Schema interpretazione autentica – giurisprudenziale – dottrinale bisweilen als der Sache nach römisch angesehen: Bianco, Introduzione, S. 19 (zu Rechtsquellen).

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1. Teil: Grundlagen

2.

Veränderungen zwischen Aufklärung und Romantik: Grundlinien der Methodenlehre Savignys

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Es ist dann im Wesentlichen der frühe Savigny, der die Auslegung in gewisser Weise, aber auch nur in gewisser Weise auf den Wortsinn beschränkt. Inwieweit man hierin eine Wortlautgrenze sehen kann, ist ebenso umstritten wie die Frage, ob spätere Werke (vor allem das „System“) in der Kontinuität dieser Erwägungen stehen oder eher als Relativierungen, als Rückkehr zu Modellen zu deuten sind, die extensive Auslegung auch jenseits des Wortlauts kennen. Savigny will den Gedanken des Gesetzgebers rekonstruieren. Interpretation in diesem Sinne ist „Reconstruction des Gedankens, welchen das Gesetz aussprechen soll, insofern dieser Gedanke aus dem Gesetz selbst unmittelbar erkennbar ist“ 63. Diese Erwägung ist näher zu betrachten und in ihren Zusammenhang einzufügen. Dabei haben wir die Umbruchsituation der Jahre um 1800 zu betrachten: Denkfiguren der Auslegung werden unter anderem in zweierlei Hinsicht abgelöst, einerseits hinsichtlich hermeneutischer Grundansätze,64 andererseits – aber in geringerem Maße, als der moderne Betrachter es erwarten sollte – hinsichtlich der Kontrolle richterlichen Handelns.

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Die Hermeneutik der Aufklärung geht davon aus, dass der Sinn eines Textes prinzipiell erkennbar sei. Man müsse beispielsweise eine Rechtsnorm, wenn ihr Sinn dunkel sei, daraufhin untersuchen, was der Gesetzgeber habe sagen wollen,65 und zwar im Sinne einer Text und Ausleger verbindenden zeitlosen Vernunft; bei richtiger Anwendung der Auslegungsregeln lasse sich dieser Sinn erschöpfend bestimmen.66 Dazu werden die oben genannten Kategorien eingesetzt. Diese Position trägt in mancher

63 von Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), das wörtliche Zitat auf S. 94, vgl. schon 93: „Interpretation = Reconstruction des Gesetzes“). Zum „System“ s.u. Rn. 86–109. Die folgenden Aussagen stehen unter dem Vorbehalt, dass noch nicht alle bekannten Savigny-Handschriften ediert sind (besonders wichtig bei diesem Autor, weil er vor dem „System“ einige Jahrzehnte lang keine größeren Schriften publiziert hat); vgl. den Editionsplan bei Rückert, in: von Savigny, Pandektenvorlesung, S. V–XIII (VIII–XI), und Hammen, aaO, S. XXXIII–XLIV (XXXIVf.). Zum „rekonstruktiven Verstehen“ iSd modernen Hermeneutik s. Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, S. 72–91. 64 Vgl. zum Folgenden in Auseinandersetzung mit einigen überkommenen Meinungen Meder, Mißverstehen. Teilweise andere Akzente etwa bei Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny (1984), S. 353 f.: „Tendenzen wie Universalität, Gewißheit, Idealismus in den Voraussetzungen“ bezeichneten die hermeneutische Wende, in die Savigny einzuordnen sei. Auch die Abkehr von der Auslegung allein der „dunklen“ Stellen wird nicht im Sinne allgemeinerer Unsicherheit, sondern größerer Sicherheit gedeutet: „Die Ergebnisse dieses Verfahrens erhalten denn auch die Würde einer ganz anderen, besseren Gewißheit als das frühere Deuten dunkler Stellen. Sie haben Teil an der notwendigen und objektiven Qualität des Gegenstandes Recht. Schwierigkeiten werden als subjektive oder bloß positive Hindernisse gedeutet, die an der prinzipiellen Eindeutigkeit und Gewißheit nichts ändern“ (S. 351; Hervorhebungen i.O.). 65 Auch wegen dieses subjektiven Ansatzes neigt die Aufklärung zur authentischen Auslegung und zum référé législatif: Meder, Mißverstehen, S. 20 f. 66 Kurz Meder, Grundprobleme, S. 24 f.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

Hinsicht noch Thibauts Theorie der logischen Auslegung67 von 1799, weithin auch Zachariäs Versuch einer allgemeinen Hermeneutik des Rechts68 von 1805. Sie gerät ins Wanken vor allem unter dem Einfluss Kants, der die Rolle des erkennenden Subjekts im Erkenntnisprozess betont.69 Savigny, wie auch immer er philosophiegeschichtlich einzuordnen sei, nimmt diese Einsicht auf70 und setzt sie in eine neue Hermeneutik auch der Rechtswissenschaft um: Jede Norm ist in ihrem Zusammenhang auslegungsfähig, vollständiges Verstehen nicht möglich.71 Daher bekämpft 67 Thibaut, Theorie der logischen Auslegung (1799), namentlich § 9, S. 27–46. Dazu auch Otte, in: Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie (2001), S. 191–201: Thibaut als dem mos geometricus verhafteter Gesetzespositivist (S. 193, 196 f.), der den tradierten Auslegungskategorien folge (S. 192 f.); freilich sehe auch er bereits die klaren Stellen für auslegungsfähig an (S. 194; Meder, Mißverstehen, S. 19 Fn. 6, meint zur 2. Aufl. der „Theorie“ wohl dasselbe, obwohl er schreibt „dunkle“). Die extensive Interpretation wird insoweit eingeschränkt, als die beigezogenen Gründe aus dem Gesetz selbst erhellen müssen (S. 195). 68 Zachariä, Versuch einer allgemeinen Hermeneutik des Rechts. Ihm zufolge können nur die dunklen Stellen ausgelegt werden (S. 160; weitere Stellen sind nachgewiesen bei Meder, Mißverstehen, S. 18 f. mit Fn. 6). Zur Charakterisierung Schröder, Recht als Wissenschaft (2001), S. 218, unter Hinweis darauf, dass Zachariä, insoweit modern, die Analogie von der „logischen“ Auslegung trennte – und damit „auf der Grundlage der alten Hermeneutik zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie die neue exegetische Richtung“ kam. Auch dieser Faden ließe sich für Zachariäs Fortwirkung in Frankreich aufnehmen. 69 Im weiteren ist es vor allem Schleiermacher, der neue Standards setzt (und einige Gedanken prägt, die möglicherweise zumindest mit Erwägungen des späten Savigny korrespondieren). Zu ihm und seinen Vorläufern vgl. nur Bianco, Introduzione, v.a. S. 71–85. 70 Wie weit philosophischer und speziell kantischer Einfluss Savigny im einzelnen geprägt hat, ist auch mit dem Grundlagenwerk von D. Nörr, Savignys philosophische Lehrjahre (1994) noch nicht abschließend geklärt. Vgl. bei Nörr (jeweils primär für die Zeit bis 1800) namentlich S. 25 f. (anfängliche Orientierung an Kant), S. 73–98 (Kritik an Kant), S.133–137 (zum Wahrheitskonzept Savignys), S. 139 f. u.ö. (Orientierung an Jacobi, der selbst aber kein philosophisches System bilden wollte), S. 196 ff. (erkenntnistheoretischer Optimismus), S. 291 ff. (Grundhaltung), S. 327–331 (Kant oder Fichte?). Weiterhin Mazzacane, in: ders. (Hrsg.), Savigny. Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 1, 39–42. Namentlich zum Einfluss der „Kritik der Urteilskraft“ (1790) Meder, Mißverstehen, S. 52–62; vgl. auch Nörr, S. 268 f. Zuletzt Rückert, Historische Rechtsschule, S. 4 f. In Arbeit ist eine Heidelberger phil. Diss. „Zum Einfluss der praktischen Philosophie Kants auf die Privatrechtslehre des F.C. von Savigny“. – Konziser Überblick zur Geschichte der Savigny-Literatur bis 1960 bei Strauch, Recht, Gesetz und Staat bei Friedrich Carl von Savigny (1960), S. 109 ff., 112–115; S. 111 vermerkt Strauch, dass seinerzeit keine „ausführliche Darlegung seiner Anschauungen über Staat und Politik“ vorgelegen habe (S. 111 f. Nachweise zu beiläufigen Aussagen) – namentlich unter dem Aspekt der Beziehungen von Methode und Verfassungsrecht in der Tat bemerkenswert. S. 115–121 zu Savignys religiösen Auffassungen. 71 Den geistigen Hintergrund der neuen Lehre diskutiert Meder, Mißverstehen, S. 9–12, 28–62 u.ö. Seine Formulierung, für die moderne Hermeneutik sei das Verstehen die Ausnahme und das Missverstehen die Regel, geht recht weit; vgl. differenzierend die Besprechung von Lege, JZ 2005, 566, 567. Stärker an den romantischen Wurzeln Savignys orientiert erklärt Schröder, Recht als Wissenschaft (2001), S. 211, die Erkenntnis, jede Norm sei auslegungsbedürftig: „Man entdeckt die historische Dimension der Auslegung, die Individualität jeder geschichtlichen Epoche und die Schwierigkeit, frühere Zeiten vor dem eigenen Erkenntnishorizont zu verstehen.“ Christian Baldus

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Savigny (wiewohl er in vielem durchaus Thibaut72 und Zachariä73 folgt)74 noch 1840 den „fast allgemein herrschende[n] Begriff der Auslegung als einer Erklärung dunkler Gesetze“:75 Dieser sei willkürlich und reduziere die Auslegung auf „die zufällige Natur einer bloßen Abhilfe von einem Übel, woraus von selbst folgt, dass sie in demselben Verhältnis entbehrlicher werden muss, als die Gesetze vollkommener werden“;76 in Wahrheit solle sie auch bei „nicht mangelhaften, also nicht dunklen Stellen den ganzen Reichthum ihres Inhalts und ihrer Beziehungen (…) enthüllen“.77 Ebenso lehnt er die zeitgenössischen Kategorien von deklaratorischer, extensiver, restriktiver, authentischer usw. Auslegung ab (näher Rn. 56).

72 Vgl. die Hinzufügung in Savignys Manuskript zur Marburger Methodenvorlesung von 1802 (u. Rn. 56–59): Dort wird Thibaut (wie oben Fn. 67) zitiert; vgl. Mazzacane (Hrsg.), Savigny. Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 94. 73 Das belegt etwa die Pandektenvorlesung zum Obligationenrecht, die in ihrer ersten Fassung auf die Jahre 1809/1810 zurückgeht und dann über 33 Jahre hinweg überarbeitet worden ist (vgl. Avenarius, in: ders. (Hrsg.), von Savigny, Pandekten. Obligationenrecht, Allgemeiner Teil (2008), S. 1, 3, 25). Dort vermerkt Savigny zu Beginn des § 75 (Interpretation der Willenserklärung): „hier nur das allgemeine, subsidiäre (im Orig. unterstrichen, vgl. Avenarius, S. 25) für die Verträge“, und nachgetragen ist von Savignys Hand: „leg. Zachariä Hermeneutik p. 93 p“ (Avenarius, S. 257). Savigny hat Zachariäs Werk also (jedenfalls an dieser Stelle) vermutlich nicht schon zur ersten Ausarbeitung des Mskr. benutzt, obwohl es bereits 1805 erschienen war. Zur Auslegung von Normen und zu „dunklen Stellen“ in ihnen steht in diesem § nichts. Allerdings lautet der erste Satz: „Alle Theile des Römischen Rechts, so auch die Verträge, voll von Interpretationsfällen“ (Avenarius, S. 256); und bei Willenserklärungen wird auf der ersten Ebene zwischen klaren und unklaren unterschieden: Die klaren seien „kein Fall für Interpretation“ (S. 257). Savigny überträgt seine Ablehnung der Lehre von der Auslegungsbedürftigkeit nur der „dunkeln“ Stellen jedenfalls 1809/1810 anscheinend also nicht auf Willenserklärungen. Möglicherweise gibt es eine Entwicklung von hier bis zu der 1821/ 1824 getroffenen Aussage, die Auslegung sei „in wesentlichen gleich bey Gesetzen, Schriften von Juristen (Pandekten), Rechtsgeschäften“, vgl. Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 273 – und weiter zu anderen Autoren, vor allem zu Windscheid (u. Rn. 132–136). 74 In der Methodologievorlesung des Sommers 1809 steht freilich auch, bei sonstigen bibliographischen Angaben, der Kommentar des Gothofredus zum Codex Theodosianus sei „das Vollkommenste, was überhaupt von juristischer Interpretation existiert, das einzige Werk, woraus man die Kunst der Interpretation im Ganzen und Großen lernen kann“: Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 232. 75 Savigny, System I, S. 318. 76 Savigny, System I, S. 318. Vgl. noch die spitze Zusammenfassung S. 319: „Wenn man übrigens diese willkührliche Beschränkung der Auslegung auf dunkle Gesetze zusammenhält mit der oben aufgeführten Meynung, nach welcher wiederum sehr dunkle Gesetze durch Justinian der Auslegung entzogen seyn sollen (§ 48), so ergiebt sich daraus die sonderbare Folge, dass Gesetze weder zu klar noch zu dunkel seyn dürfen, dass sie sich vielmehr auf einem schmalen Raume mittelmäßiger Dunkelheit befinden müssen, um als Gegenstände der Auslegung gelten zu können.“ S. freilich noch in der Pandektenvorlesung von 1824/1825 (S. 4) zum „exegetische[n]“ Element „bei der Behandlung der Rechtswissenschaft“ (so die anonyme Nachschrift): „Die exegetische Thätigkeit als Nachhülfe durch Interpretation bei einem dunkeln unvollkommenen Gesetze“ (wird nicht weiter ausgeführt). 77 Savigny, System I, S. 319.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

Auslegung ist demnach nicht ein festen Regeln unterworfenes Streben nach umfassender und abschließender Erklärung eines bestimmten Rechtssatzes. Vielmehr muss man sich ohne die Sicherheit solcher fester Regeln in den Rechtssatz hineinversetzen, um seinen Inhalt so gut als möglich zu ermitteln. Dazu dienen Elemente, die bekannten Auslegungskanones,78 welche im Verbund anzuwenden sind, nicht als mechanisches und hierarchisches Schema. Es sind dies nicht die heute „kanonischen“ vier (Wortlaut, Geschichte, System, Telos), sondern Grammatik, Logik, Geschichte und System, wobei das historische Element präzise lediglich meint „den zur Zeit des gegebenen Gesetzes für das vorliegende Rechtsverhältniß durch Rechtsregeln bestimmten Zustand. In diesen Zustand sollte das Gesetz auf bestimmte Weise eingreifen, und die Art dieses Eingreifens, das was dem Recht durch dieses Gesetz neu eingefügt worden ist, soll jenes Element zur Anschauung bringen“.79

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Savignys historisches Element hat also nichts zu tun mit einer Fixierung des Gesetzesinhalts auf die Materialien. Schon gar nicht trägt es das heute beliebte „Verwerfungsargument“, dem zufolge nicht Ergebnis der Auslegung sein kann, was im Gesetzgebungsverfahren vorgeschlagen, aber verworfen wurde: Dieses Argument80 ist besonders eng mit der Personalisierung „des Gesetzgebers“81 und seines Meinungsbildungsprozesses verbunden. Vielmehr geht es Savigny um das Regelungsziel, das mit Hilfe eines durchaus objektiven Datums bestimmt wird, nämlich der vorigen Regelungssituation.

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Man beachte dabei das systematische Moment in der Wendung „neu eingefügt“:82 Hier geht es nicht nur um subjektive Absichten. Vielmehr nimmt der Blick auf das Eingefügte seinen Ausgang bei dem System, in das eingefügt wird. Zugleich kann der objektive Zweck der Einfügung an dieser Stelle behandelt werden (u. Rn. 62 ff.).

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Es geht Savigny um das zu lösende Problem, in den Kategorien der allgemeinen Hermeneutik gesprochen: um die gestellte Frage, deren Verstehen das Verstehen der im Text gegebenen Antwort ermöglicht.83 Damit lässt Savigny die Tür zu einer (kritischen) Verwertung des historischen Regelungsumfeldes offen. Die Parallele zur mis-

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78 Zu ihnen vgl. u. Rn. 58; weiterhin Huber, JZ 2003, 1–17. 79 Savigny, System I, S. 213 f., 214. Dahinter steht eine zeitbedingt andere Vorstellung vom Zweck des Gesetzes (aaO Fn. a) und der Rolle des Gesetzgebers als heute; jedenfalls geht es Savigny darum, die innere Seite des auszulegenden Textes und damit die Grammatik gegenüber der äußeren, gegenüber dem traditionell logisch genannten Element aufzuwerten (Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 214 f.). 80 Näher u. Rn. 71, 210. In EuGH v. 14.6.2007 – Rs. C-127/05 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, Slg. 2007, I-04619 hat der EuGH sich gehütet, diesem Argument zu folgen. Vgl. Baldus, So far, S. 150 ff., 156. 81 Dazu statt aller Meder, Grundprobleme, S. 31 f. Dass hier ein schwacher Punkt der Lehre von der subjektiv-historischen Auslegung liegt, sehen auch ihre Verteidiger; vgl. die Nuancierungen bei Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 13. 82 Bei Savigny selbst changiert das „Eingreifen“ zwischen Geschichte, System und Zweck. S.u. Fn. 102 zu den vier Elementen in der Fassung der Landshuter Methodenvorlesung vom SS 1809. 83 Vgl. Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, S. 105 ff. Christian Baldus

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chief rule des common law (die freilich mit dem besonderen Stellenwert des Parlamentsgesetzes in England zusammenhängt)84 fällt auf. Zugleich gibt Savigny dem Text sein eigenes Recht gegenüber dem bloßen Meinen des Gesetzgebers und stellt sich damit durchaus auf die Grundlage klassischer Hermeneutik.85

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Mit Savignys Kritik an den Engführungen der Aufklärungshermeneutik war der alte Schematismus gebrochen, aber kein neues, allseits anerkanntes Verfahren geschaffen. Das wird besonders deutlich an der bereits erwähnten Frage, ob auch klare Normen auszulegen seien oder nur „dunkle“.86 Letztere Ansicht, also die sens clair-Regel, konnte sich in Deutschland im Ergebnis jedenfalls auf der rechtstheoretischen Ebene nicht durchsetzen; das mag auf Savignys Einfluss beruhen, auch wenn, wie sogleich zu zeigen sein wird, das Meinungsbild im 19. Jahrhundert alles andere als eindeutig war. Hingegen erhielt sie sich relativ unangefochten im französischen (und englischen) Recht, von wo sie in das internationale und europäische Recht gelangte.87

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Deutlich wird die Unsicherheit aber auch an der gleichsam spiegelbildlichen Problematik, die im Zentrum unserer Betrachtungen stehen soll: wo nämlich die Auslegung endet, ob es extensive Auslegung in dem Sinne geben kann, dass der Wortlaut überschritten wird, inwieweit Analogien gezogen werden können, ob man diese als Auslegung oder als Rechtsfortbildung anzusehen hat. Die Leistungsfähigkeit des Wortlauts zeigt sich sozusagen an der unteren ebenso wie an der oberen Grenze der Auslegung: bei der Auslegungsbedürftigkeit „klarer“ Texte wie dort, wo die Auslegungstauglichkeit eines Textes angesichts weitgehender Auslegungsvorschläge mittels der „Wortlautgrenze“ bestimmt werden soll. In methodologischer Hinsicht ist das Problem dieser beiden Grenzen dasselbe: Ob man einen Text überhaupt interpretieren und ob man etwas Bestimmtes in ihn hineinlesen darf, das kann beides am Wortlaut nur dann gemessen werden, wenn dieses Kriterium wirklich einen sicheren Führer darstellt.

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Damit ist zugleich die heute praktisch und rechtspolitisch im Vordergrund stehende Frage berührt, wie weit die Handlungsmöglichkeiten des Richters gehen. Hier handelt Savigny, so darf man vermuten, politisch unter den Bedingungen des fortwirkenden aufgeklärten Absolutismus, der weitgehender Richterfreiheit eben misstraute,

84 Vgl. Gisewski, Methodik der Auslegung im kontinentaleuropäischen und angelsächsischen Recht (2008), S. 111 f.; Schillig, in diesem Band, § 25 Rn. 16. Zum Unionsrecht Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 39. 85 Vgl. Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, S. 63: „Zu verstehen ist der mitgeteilte Sinn, nicht das Meinen als subjektiver Akt“; weiterhin S. 75 u.ö. 86 Zur sens clair-Regel nochmals o. Fn. 15; in historischer Hinsicht weiterhin Schott, in: Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie (2001), S. 155–189. Die Unterscheidung von dunkler Einzelstelle und verständlichem Zusammenhang als mittelalterliches und frühneuzeitliches Paradigma geht auf Augustinus zurück: Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, S. 46; vgl. Bianco, Introduzione, S. 30, 31. 87 Meder, Mißverstehen, S. 17 f.; zum differenzierten Gebrauch der plain meaning rule in der Judikatur des IGH vgl. Baldus, Regelhafte Vertragsauslegung nach Parteirollen (1998), S. 153–185, 175 u.ö.

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philosophisch aber in dem Bewusstsein, dass es eben auch auf die Fähigkeiten des Interpreten ankomme. Daraus resultiert eine gewisse innere Spannung: Das Abgehen von der strikt regelgeleiteten Aufklärungshermeneutik und die Aufwertung der Rolle des Interpreten führten dazu, dass Savigny dem Wortlaut eine nur eingeschränkte Rolle bei der Abgrenzung verschiedener Formen richterlicher Rechtserkenntnis einräumte. Inwieweit diese Spannung dazu beigetragen hat, dass Savignys Auslegungslehre im ganzen 19. Jahrhundert umstritten blieb,88 ist hier nur anzudeuten. Diese Lehre konnte jedenfalls, das steht fest, nicht so prägend wirken wie viele dogmatische Ansätze Savignys. 3.

Überblick: Folgeentwicklungen im deutschen und französischen Rechtsdenken

Festzuhalten bleibt, bevor einige Details erörtert werden, ein historisches Paradoxon: Savigny trägt dazu bei, dass der Wortlaut nur begrenzte Bedeutung hat; er unterminiert den Glauben an die sens clair-Regel und bezieht auch die „klaren“ Fälle in den Bereich des Auszulegenden ein. Andererseits trennt er jedenfalls sprachlich Auslegung und Analogie (näher Rn. 65–68, 95, 100 ff., 117). Das kann man als Wurzel der heute in Deutschland üblichen sachlichen Unterscheidung beider Institute lesen. Damit bedurfte die Historische Schule eines Abgrenzungskriteriums – das sie bei ihrem Gründer freilich so eindeutig nicht fand. Wir werden sehen, dass dieses Kriterium bei Savigny zunächst nicht etwa die Wortlautgrenze war. Eine Wortlautorientierung bei ihm kann anhand bestimmter früher Texte konstruiert werden (vgl. Rn. 69); als „Wortlautgrenze“ fasst er selbst sie jedenfalls nicht. Auf der anderen Seite bleibt die klassische, regelgeleitete Aufklärungshermeneutik in Deutschland präsent, was ihre Umsetzung in einzelne juristische Auslegungsregeln betrifft, und zwar bis zum heutigen Tag. Noch stärker lebt sie in Frankeich fort, wo man naturrechtliche und rationalistische Tradition in der Form fortführt, in der Zachariä rezipiert wird. Die letztgenannte Richtung – dies ist hervorzuheben – trennt nicht anhand einer Wortlautgrenze zwischen extensiver Auslegung und Analogie, obwohl sie, der älteren Hermeneutik folgend, klare Wortlaute für denkbar hält. Zachariä werden wir uns beim französischen Recht näher ansehen, denn dort hat er nachhaltigen Einfluss gehabt.

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Damit entsteht in der deutschen Historischen Rechtsschule eine bemerkenswerte methodische Unübersichtlichkeit und in Frankreich eine vergleichsweise einheitliche Auffassung zur Zulässigkeit der interprétation par analogie; das Aufkommen methodologischer Modernisierungsbewegungen in beiden Ländern ändert an diesem Befund für lange Zeit nichts: Die Freirechtsschule bleibt minoritär, die école de la libre recherche scientifique setzt sich durch, sieht aber gleichfalls kein Bedürfnis für eine strikt wortlautorientierte Trennung von Auslegung und Analogie (vgl. Rn. 156 ff.).89

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88 Dazu sogleich sub V. Auch in diesem Sinne haben wir es jedenfalls mit einem „langen 19. Jh.“ zu tun: Die vor Erlass des BGB geführte Diskussion wirkte nach 1900 fort (was hier nicht verfolgt werden kann; knapp Rn. 142–149). – Zur Entstehung der aufgeklärten Klarheitsideale und zu ihrer langsamen Auflösung im Zuge des 19. Jh. vgl. Mertens, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen (2004), S. 354–361, 380–406 u.ö. 89 Dazu jetzt Babusiaux, in diesem Band, § 24 Rn. 2.

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Beide Rechtskulturen und damit Europa stehen weiterhin vor fortdauernden Anwendungsproblemen: Je weiter sich in Deutschland später die Lehre von der Wortlautgrenze durchsetzt, desto deutlicher stellt sich die – im Ansatz eben nicht gelöste – Frage, ob es einen klaren Wortlaut überhaupt geben könne; je mehr sich in Frankreich die Vorstellung verfestigt, es gebe „analogische Interpretation“ oder „Interpretation durch Analogie“, desto mehr fragt sich, warum und gegebenenfalls wie man diese von sonstigen Formen der Auslegung zu unterscheiden habe.

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Mit diesen Widersprüchen ging der Kontinent in die europäische Integration. Überspitzt ließe sich sagen: Wenn es in diesem Felde ein verbindendes Element der kontinentaleuropäischen Tradition gibt und zugleich eines, das die großen Systeme des Kontinents voneinander spaltet, dann ist es gerade die Unklarheit der Abgrenzung zwischen Auslegung und Analogie. Das heißt nicht, dass man eine rechtsstaatlich leistungsfäige Methode nicht erstreben sollte; es heißt aber, dass selbst dem 19. Jahrhundert, im Ausgangspunkt noch geprägt vom aufklärerischen Misstrauen gegen den Richter und zugleich kulturelle Blütezeit eines gewissen Positivismus,90 das Problem dieser Grenze durchaus vor Augen stand91 und dass die historische Erfahrung jedenfalls keine sichere Lösung für dieses Problem bereitstellt. Einige Grundzüge der Entwicklung sollen im folgenden dargestellt werden.

IV. 55

Kernpunkte der Methodenlehre Savignys

Bei Savigny unterscheidet man traditionell eine frühe Phase, gekennzeichnet durch die Marburger Methodologievorlesungen von 1802/1803, und die Hermeneutik im ersten Band des „System des heutigen römischen Rechts“ von 1840; neuere Forschungen legen freilich die Annahme nahe, dass seine Gedanken sich nur graduell verändert haben.92 Einzelheiten sind streitig; nicht abschließend geklärt ist namentlich der Einfluss philosophischer Konzepte.93 Eine wichtige Übergangsphase zeigt sich in den mittlerweile edierten Materialien zu seinen Landshuter Vorlesungen von 1809/ 1810. Die Bedeutung der (lange unpublizierten) frühen Vorlesungstexte ergibt sich

90 Freilich lässt sich kaum nachweisen, dass das späte 19. Jh. einen solchen Positivismus in dem Maße kannte, das zu unterstellen man aufgrund der allgemeinen geistesgeschichtlichen Entwicklung geneigt ist. Vgl. Schröder, FS Otte (2005), S. 571–586. 91 Wenig hilfreich zu alldem Höltl, Die Lückenfüllung der klassisch-europäischen Kodifikationen (2005); vgl. Baldus in SavZRG – Germ. Abt. – 124 (2007), 677–680, auch zugänglich unter www.koeblergerhard.de. 92 Mazzacane, in: ders. (Hrsg.), Savigny. Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 20, Fn. 81, führt die Theorie der Interpretation als „beeindruckendes Beispiel“ an, „wobei dieselben Grundsätze fast wörtlich vorkommen, von 1802 bis 1840“. Die in Landshut (bis 1810) eingeleitete, in Berlin deutlich sichtbare Entwicklung habe vielmehr darin gelegen, dass die Methodologievorlesung sich immer stärker von ihrer traditionellen propädeutischen Verbindung mit einer enzyklopädischen Einführung gelöst habe und zu einer integrierten Einleitung in die Dogmatik des „heutigen römischen Rechts“ geworden sei (aaO S. 18 ff.). Non vidi: Trombetta, Savigny e il sistema: alla ricerca dell’ordine giuridico (2008). 93 Oben Fn. 70.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

auch daraus, dass Savigny im „Beruf“ 1814 zwar nur wenige Andeutungen methodologischer Art macht (näher u. Rn. 73–84), diese aber bis zur Veröffentlichung des „Systems“ 1840 seine einzigen an prominenter Stelle erschienenen Aussagen zu Methodenfragen darstellen; und die Materialien zum „Beruf“ lassen erkennen, dass diese Andeutungen nach Savignys eigenen Vorstellungen im Wesentlichen auf die Methodenvorlesungen von Marburg und Landshut zurückgehen.94 1.

Vorlesungen

Savigny betont immer wieder seine Ablehnung der aufklärerischen Schemata, und zwar aus methodologischen Gründen. So heißt es in der Marburger Methodenvorlesung des Winters 1802:95

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Begriff der Interpretation: 96vorerst ist ganz wegzudenken von 2 gewöhnlichen Eintheilungen: authentica, usualis, doctrinalis – Erklärung des Irrthums declarativa, extensiva, restrictiva sie sezt voraus ein gegebenes, einen Text – welches ist dieses unmittelbar gegebene? 97

Es folgen Ausführungen zur Textkritik, dann erscheint der berühmte Hinweis auf die „Rekonstruktion“:98 Gesetz soll einen Gedanken aussprechen um ihn objectiv zu machen und zu erhalten. Dieser Gedanke also soll nachgedacht, der Inhalt des Gesetzes nacherfunden werden. Interpretation = Reconstruction des Gesetzes. Wer es erklärt, muß es sich selbst wieder künstlich entstehen lassen,99 er muß sich selbst auf den Standpunct des Gesetzgebers stellen.100

94 Vgl. Akamatsu/Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen (2000), S. 101, 114. 95 Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 93. Weithin den folgenden Zitaten vergleichbar sind die Aussagen in Savignys „Anleitung zu einem eignen Studium der Jurisprudenz“ (ebenfalls WS 1802/1803): in der gleichen Ausgabe (ed. Mazzacane) S. 137, 143 ff.; näher zur interpretatio extensiva und restrictiva aaO 163–168; S. 167 f. Unterscheidung von der Analogie, und zwar unter Hinweis auf die Gesetzesbindung, die den modernen Richter vom Prätor („der Gesezze geben konnte“, S. 167, zu D. 1,3,13) unterscheide. 96 Bei den folgenden drei Zeilen (bis restrictiva) handelt es sich um eine von Savigny selbst vorgenommene Hinzufügung. 97 Kursive: im Original unterstrichen, vgl. Mazzacane, in: ders. (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 57, 66 f. Ebenso in den folgenden wörtlichen Zitaten. 98 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 93. Später immer wieder in ähnlicher Form, s. etwa S. 143 f., 217, 251. 99 Möglicherweise hiermit verwandt ist die in der theologischen Hermeneutik des 18. Jahrhunderts anzutreffende Vorstellung, der Interpret solle beim Adressaten der Interpretation den Gedankengang wiedererstehen lassen, den der Autor des interpretierten Textes hatte; vgl. zu dieser Vorstellung Bianco, Introduzione, S. 58. 100 Dazu eine selten beachtete Parallele im Kapitel über „Akademische Methodik“ der Landshuter Methodenvorlesung vom Sommer 1809: Der akademische Lehrer habe die Aufgabe, „die Methode der Wissenschaft selbst mitzutheilen – das geschieht, indem sich der Lehrer

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1. Teil: Grundlagen

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Das führt Savigny (mit erneuter Attacke gegen das überkommene Kategoriensystem)101 zu den vier Elementen, dem grammatischen, logischen, historischen und systematischen (vgl. bereits Rn. 44). In der Marburger Methodenvorlesung102 heißt es weiter:

künstlich auf den Standpunct der Zuhörer sezt, indem er seinen Vortrag gleichsam vor ihren Augen entstehen lässt, vor ihnen erfindet“ (ab jetzt eine spätere Hinzufügung:) „und gelegentlich sie selbst erfinden lässt: so wird die Methode unmittelbar mitgetheilt, die wir aus jedem Buch nur erst künstlich und schwer extrahiren müssen“. Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 245 (vgl. schon S. 135; in der Grimm’schen Mitschrift S. 196; 259). 101 Zumindest die Terminologie ist aber noch nicht stabil. Vgl. Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 93: „Zuerst also: logischer Theil der Interpretation, dann grammatischer und historischer (nicht logische pp. Interpretation, denn jede Interpretation ist alles dieses zugleich).“ 102 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 94. Leicht verändert in der Landshuter Version vom SS 1809 (aaO S. 215, 217), eingeleitet durch Ausführungen zur Textkritik: „Das Gesetz soll irgend ein Rechtsverhältniß fixieren, also irgend einen Gedanken (einen einzelnen Satz, oder eine Reihe von Sätzen) aussprechen, um ihn objectiv zu machen und zu erhalten. Durch die Intepretation [sic] soll dieser Gedanke nachgedacht, der Inhalt des Gesetzes nacherfunden werden. Also Interpretation = Reconstruction des Gesetzes. Ein Gesetz interpretiren also heißt, sich auf den Standpunct des Gesetzgebers stellen, und so das Gesetz auf eine künstliche Weise wieder entstehen lassen. Wie ist dies möglich? die vollständige Einsicht in das Gesetz beruht auf 4 Stücken, die man kennen muß: innerer, logischer Zusammenhang der Gedanken – Medium der Darstellung – historischer Zusammenhang – systematischer Zusammenhang. Also ist die Interpretation zusammengesetzt aus 4 Elementen: 1. Logisches Element – genetische Darstellung der Gedankenreihe. 2. Grammatisches Element – Darstellung der hier angewandten Sprachgesetze. 3. Historisches Element – Darstellung des historischen Puncts, in welchen das Gesetz eingreift. 4. Systematisches Element – Darstellung des Puncts im System, in welchen das Gesetz eingreift, und des Resultats welches das Gesetz liefert für die Kenntniß des ganzen Systems. Also nicht viererlei Interpretationen, sondern immer nur Eine Interpretation, immer componirt aus diesen 4 Elementen – indessen kann in einzelnen Fällen Ein Element vorherrschend seyn, besonders schwierig und wichtig.“ Es folgt ein Beispiel (D. 6,2,6; Paul. 19.ed.), in dem das geschichtliche Element nur als dogmengeschichtliches verstanden werden kann (ducere/traditio einer res mancipi als Sachverhaltserklärung, S. 217 f.). Vgl. die Mitschrift, die wir Jakob Grimm verdanken (Wesenberg (Hrsg.), von Savigny, Juristische Methodenlehre, nach der Ausarbeitung des Jakob Grimm (1951), S. 41): „Was ist für den Fall Rechtens, wenn die Gesetzgebung über einen einzelnen Punkt schweigt? Es ist kein einziger möglicher Fall bestimmt in der Gesetzgebung enthalten, sondern jeder muss erst unter eine höhere Regel subsumiert werden. Hat aber eine solche Subsumtion nicht statt, so ist zu unterscheiden zwischen Zivil- und Kriminalrecht. a) Im Zivilrecht. Hier muss offenbar die Regel vom Juristen künstlich aufgesucht werden, wonach der Fall entschieden wird, und zwar teils durch bloße Folgerung aus einer ganz allgemeinen Regel, teils kann sich in der Gesetzgebung eine spezielle Regel finden, die einen ähnlichen Fall bestimmt. Diese reduziert man nun auf eine höhere Regel und entscheidet nach dieser (höheren) dann den gegebenen nicht entschiedenen Fall. Dies heißt das Verfah-

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie Logischer Theil = genetische Darstellung des Gedankens103 den das Gesetz ausspricht. Grammatischer Theil = Darstellung des Mediums wodurch der Gedanke ausgesprochen worden. Historischer Theil = Darstellung des historischen Gegenstands den das Gesetz bestimmt, vermittelst der Darstellung des Moments überhaupt, in welchen das Gesetz fällt – Beyspiele.104 Beide lezte sind blos Bedingungen des ersten, welcher die eigentliche Interpretation unmittelbar enthält. Ferner: das Gesetz selbst soll objectiv seyn, d.h. es soll sich selbst aussprechen, also müssen alle Prämissen der Interpretation im Gesetz oder in allgemeinen Kenntnissen liegen, damit die Interpretation selbst allgemein und nothwendig sey. – Dadurch der Satz näher zu bestimmen: „man soll sich auf des Gesetzgebers Standpunct stellen“ – nämlich nur insofern das aus dem Gesetz selbst unmittelbar möglich ist.

Von dort kehrt Savigny alsbald zur Idee der „Rekonstruktion“ und zur Ablehnung der Aufklärungshermeneutik zurück:

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Nun also: Interpretation = Reconstruction des Gedankens, welchen das Gesetz aussprechen soll, insofern dieser Gedanke aus dem Gesetz selbst unmittelbar erkennbar ist. Widerlegung des gewöhnlichen Begriffs: Interpretation = Erklärung eines dunkeln Gesetzes. – NB.105 aus diesem die Eintheilung der Interpretation in logische p. entstanden. Die weiteren Punkte betreffen wieder Textkritik106.

Die Landshuter Methodenvorlesung von 1809107 greift diese Gedanken auf und entwickelt Gedanken ausführlicher, die einige Jahre vorher nur angedeutet waren:108 den Zusammenhang von Auslegungsgegenstand und richtiger Kategorienbildung, den Begriff der ratio legis sowie die Unzulässigkeit der Analogie.

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Wie die verschiedenen Grundfehler der Aufklärungshermeneutik aus seiner Sicht zusammenhängen, entwickelt Savigny mit den folgenden Worten: 109

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ren durch Analogie, das sehr nahe an die vorhin getadelte Operation grenzt. Allein bei der falschen wird von außen etwas hinzugetan, hier aber die Gesetzgebung aus sich selbst ergänzt.“ Vgl. die editorische Anmerkung von Mazzacane, in: ders. (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 94, Fn. b: „verändert aus: Analyse genetischer Darstellung des Inhalts“. Auch hier sind 1802 also die Konzepte noch im Fluss. In diesem Satz sind die Worte „des historischen Gegenstands den das Gesetz bestimmt, vermittelst der Darstellung“ später von Savigny hinzugefügt worden. Dieser Zusatz (bis „entstanden“) ist ebenfalls eine spätere Hinzufügung. Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 94 f. Ebenso, punktuell, die Pfandrechtsvorlesung von 1810: „dunkle Stellen“, vgl. Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 250 („nicht Erklärung von dunklen Gesetzen“); die „4 Stücke“ (S. 251, mit dem bemerkenswerten Hinweis „historisch – eben so wie System“) Vgl. den Hinweis von Mazzacane, in: ders. (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 222 Fn. 6. Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 221.

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1. Teil: Grundlagen 1.) Falscher Begriff der Interpretation: „Erklärung eines dunkeln Gesetzes“ – dadurch wird die Interpretation etwas blos zufälliges, bey einem trefflichen Gesetz könnte sie gar nicht vorkommen, da sie gerade umgekehrt bey dem trefflichsten Gesetz am thätigsten und fruchtbarsten ist.110 Auf diesen falschen Begriff gründen sich zwey Eintheilungen: a) grammatische und logische, je nachdem die Dunkelheit durch Grammatik oder durch irgend eine andere, höhere Operation gehoben wird – aber jede Interpretation ist grammatisch und logisch zugleich, ja noch mehrere, obgleich Ein Element vorherrschend seyn kann (…) b) authentica, usualis (beide zusammen legalis) und doctrinalis – Interpretation ist gar nicht die Sache des Gesetzgebers, sondern des Juristen und Richters.111

Damit steht der Rechtsanwender im Zentrum des Geschehens. Er bekommt durchaus keine absolute Freiheit (wie sich auch bei der Analogie zeigen wird), aber er wird nicht an ein subjektives Meinen des Gesetzgebers gebunden. Das ist zentral.

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Der Jurist steht für Savigny eben nicht so weit unter dem Gesetzgeber wie der Theologe unter Gott (oder dem Verfasser eines Schrifttextes); und er ist nicht so ausschließlich am geschichtlichen Inhalt eines Textes interessiert wie der historisch orientierte Philologe. Verstünde der Jurist sich so, verzichtete er auf ein zentrales Element jener Entscheidungsfreiheit, die für den römischen Juristen kennzeichnend und identitätsbestimmend war. Savigny, gewiss ein konservativ und monarchisch gesonnener Mann, stellt sich den Juristen nicht als ein bloßes Medium des von anderen und Höheren bestimmten Sinnes vor.

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Das führt zum – aus heutiger Sicht missverständlichen – Begriff der ratio des Gesetzes: Savigny versteht unter der ratio legis nicht etwa einen objektiven und folglich bindenden Gesetzeszweck, sondern ein subjektiv-historisches Moment, das er gerade nicht in den Vordergrund stellen will. Es kommt eben nicht allein darauf an, was der (personale) Gesetzgeber subjektiv wollte. Hier erklärt sich, warum der moderne Leser einen Begriff der „ratio legis“ im heutigen, objektiven, Sinne bei Savigny nicht findet (wohl aber das objektive Element der Auslegung, nur anders benannt). Die Passage lautet: 112 2.) Falscher Grundsatz: man muß auf die Absicht des Gesetzgebers (nicht blos des Gesetzes) sehen, auf den Grund des Gesetzes (ratio legis, Zweydeutigkeit von ratio). Man behandelt also das Gesetz als Schlußsatz, sucht den Obersatz auf, und macht nach diesem das Gesetz selbst weiter oder enger, als es nach den Worten wirklich ist – interpretatio declarativa, extensiva, restrictiva. Eigentlich also nicht Interpretation, sondern Berichtigung des Gesetzes aus seinen Gründen unter dem Schein der Interpretation (….).113 110 Der Anschluss mit „da“ ist nach heutigen sprachlichen Maßstäben verwirrend. Savigny meint in dieser Notiz (das gesamte Manuskript war nicht zur Veröffentlichung bestimmt) einen Gegensatz zwischen der angegriffenen und seiner eigenen Ansicht. Zu dem, was 1824/25 in der Pandektenvorlesung beim Hörer ankam, s.o. Fn. 76. 111 Im Folgenden führt Savigny aus, eine „Interpretation“ durch den Gesetzgeber sei keine: entweder trage sie nichts Neues bei, oder es ändere sich die Norm selbst. 112 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 222. 113 Zum letzten Halbsatz verweist Savigny auf Beccaria, nimmt also wiederum klassisch-aufklärerische Positionen auf.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

Dass Zwecküberlegungen Savigny nicht fremd sind, zeigt die Passage zur Gesetzesumgehung in der Obligationenvorlesung114 (sogleich, Rn. 71). Deshalb führt auch die These in die Irre, Savigny habe den Zweck als Auslegungsmittel verkannt, und erst Jhering habe ihn entdeckt.115 Selbstverständlich kannte Savigny den Zweck der Sache nach, so wie schon die Römer ihn kannten; so steht Jherings revolutionärer Gestus in einer gewissen Spannung zum realen Neuigkeitswert seines Ansatzes. Savigny hat freilich keinen gesonderten Kanon als „teleologische Auslegung“ benannt. Das ist schon deswegen von begrenzter Bedeutung, weil seine Kanones eben keine schematisch abzuarbeitenden technischen Schritte sind. Wer Savigny unterstellt, Zweckdenken sei ihm fremd gewesen, der unterschätzt ihn nicht nur als Rechtsdogmatiker und Rechtspolitiker; er liest auch die Kanones als etwas, was sie erklärtermaßen gerade nicht sein wollen – sozusagen mit den Augen der von Savigny gerade überwundenen Hermeneutik oder mit denen späterer Schematisierung.

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Nähere Behandlung findet nun auch die Analogie. Hier nennt Savigny diese Figur zwar sprachlich eine „Interpretation“, lehnt sie aber noch deutlicher als vorher ab. Er unterscheidet (unter Berufung auf mehrere römische Stellen, die verba und Sinn eines Gesetzes begrifflich gegenüberstellen).116 Es gebe eine zulässige Auslegung des auf einen Einzelfall bezogenen Gesetzes als allgemeine Regel; unzulässig sei hingegen „die Analogie, d.h. die nothwendige Ergänzung der Gesetzgebung117 wo sie schweigt (…) Jenes nun ist unerlaubt, weil es dem allgemeinen Zweck des Gesetzes und der Interpretation widerspricht. Dieser Zweck ist, irgend ein Rechtsverhältniß zu fixiren, objectiv zu machen, also seine Beurtheilung aller Willkühr, allem Zufall individueller Ansicht zu entziehen – das ist nur möglich dadurch, dass man sich genau an das bindet, was das Gesetz als Regel ausspricht.“118 Solche Ergänzung aber sei unzulässig selbst dann, wenn der „Grund des Gesetzes“ im Gesetz selbst genannt sei.

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Es folgen Beispiele unzulässiger Analogiebildung aus dem Kaufrecht, Erbrecht und Strafrecht. Eines dieser Beispiele ist die später so genannte laesio enormis.119 In C. 4,44,2 (a. 293) gehen Diocletian und Maximian von dem klassischen Prinzip ab, dass die Angemessenheit eines Kaufpreises nicht kontrolliert wird, und gewähren

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114 Edition n. Lit.-Verz. Vgl. nochmals o. Fn. 73. 115 Die Genese dieses Vorurteils lohnte eine selbständige Betrachtung. 116 D. 1,3,17 (Cels. 26. dig.): verba/vis und potestas, dazu aus heutiger Sicht Quadrato, l’interpretazione della legge in Celso, D. 1,3,29 (Paul. l. sg. leg. Cinc.): verba/sententia; C. 1,14,5 (Theod./Valent., a. 439): verba/voluntas. 117 Ursprünglich statt „der Gesetzgebung“: „des Systems“. Vgl. Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 222, Fn. k. 118 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 222 f. 119 Von den Vätern des BGB gegen das gemeine Recht abgelehnt, der Sache nach rezipiert in der herrschenden Auslegung zu § 138 BGB. Vgl. Becker, Die Lehre von der laesio enormis in der Sicht der heutigen Wucherproblematik (1993). – Vgl. die in ihrer Abgekürztheit nicht mehr eindeutig aufzulösende Klammerbemerkung Savignys in Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 226: Dort sah er ein variiertes Beispiel vor, nämlich dass Diocletian auf eine (fiktive) alte lex hätte zurückgreifen können.

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1. Teil: Grundlagen

dem Verkäufer ein Rückabwicklungsrecht120, wenn der Preis den Wert um mehr als die Hälfte unterschreitet: Diocletian beschränkt sich also – wohl aus Gründen der wirtschaftlichen Lage der Verkäufer in der Krise am Ende des 3. Jahrhunderts – auf den Schutz des Verkäufers; Erweiterungen sind jüngeren Datums. Savigny nun greift gerade diese Erweiterungen als unzulässige interpretatio extensiva an: Eine Regel bestehe durchaus, nämlich die „Unverlezlichkeit der Verträge“, und von dieser dürfe in anderen Fällen als dem ausdrücklich genannten (Käufer, andere Vertragstypen) nicht abgewichen werden.121

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Zulässig sei eine Analogie nur in gesetzlich nicht entschiedenen Fällen: Dann habe der Richter das Gesamtsystem in den Blick zu nehmen, das seinerseits aus den „Resultaten der Interpretation (…) in ihrem innern und nothwendigen Zusammenhang“ bestehe;122 er solle „entscheiden nach Analogie, indem er die Gesetzgebung aus sich selbst ergänzt, indem er in anderen Gesetzen die höhere Regel aufsucht, aus welcher der gegebene Fall zu entscheiden ist – Unterschied von der oben verworfenen interpretatio extensiva: hier ist gar nicht von der Interpretation die Rede, es wird gar nicht behauptet, dass der gegebene Fall in irgend einem Gesetz entschieden, sondern dass er vergessen sey, und dass er consequenterweise so entschieden werden müße.“

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Es geht also, modern gesprochen, um eine unbewusste Lücke. Einzelne Gesetze können nur dann zur Füllung dieser Lücke herangezogen werden, wenn sie „nicht selbst auf ganz speziellen Gründen beruhen“,123 und auch dann nicht diese Gesetze als solche, sondern im Wege der „Abstraction zu einer höheren Regel“124. Zu „eigentlichen Neuerungen“ aber sei der heutige Jurist anders als der römische „nie berechtigt“.125

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Damit sind im Zuge der Methodenvorlesungen zwei Punkte genannt, die vorsichtig in die Richtung einer Art von Wortlautgrenze deuten, wohlgemerkt für ein „Gesetz“, das im Regelfall das römische war 126: Dass das Gesetz „sich selbst aussprechen“ soll, dass „man sich auf des Gesetzgebers Standpunct stellen“ soll, „nur insofern das aus dem Gesetz selbst unmittelbar möglich ist“, setzt eine semantische Grenze der Norm-

120 Wahlweise kann der Käufer bis zum iustum pretium nachzahlen. 121 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 223. 122 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 224, 226. Kursive wiederum im Original unterstrichen. 123 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 226 (Savigny weist auf D. 1,3,14 hin). 124 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 226. Deutlich allgemeiner gehalten eine Notiz (aaO rubriziert als „Fragment Methodologie, S. 290): „Methodologie – es ist nicht interpretatio restrictiva oder extensiva, sondern erlaubt, wenn man Stellen der alten Juristen durch Beziehung auf das sichere System ergänzt – so bei fructuum perceptio, so bey L. 1 pr. de pign. [D. 20.1.1,pr.](s. Pfandrecht).“ 125 AaO. 126 Es geht hier um die „der Dogmatik des Heutigen Römischen Rechts verpflichtete Hermeneutik“, nicht um eine rechtshistorische Lehre vom Verstehen. Zu letzterer (und zu dieser wichtigen Unterscheidung) Avenarius, Tradition, Vorverständnis und Wirkungsgeschichte der Quellen, in: ders. (Hrsg.), Hermeneutik der Quellentexte des Römischen Rechts (2008), S. 18 f.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

aussage voraus. Gleiches gilt für den Gedanken, dass Dinge nicht aus das Gesetz erkennbar sein können, dass es also auch schweigen kann. Mit diesem Gedanken ist immerhin gesagt, dass es ein solches Schweigen identifizierbar geben kann – und dass es nicht Aufgabe des Interpreten ist, das beharrlich schweigende Gesetz mit allen Mitteln zum Reden zu bringen. Bemerkenswert ist in der Landshuter Methodenvorlesung noch der Hinweis, dass die „eigentliche Kunst des Gesetzgebers“ die sei, „in dem Gesetz recht viel finden zu lassen“, denn nur dies sichere Vollständigkeit der Gesetzgebung; das verweist auf die wenige Jahre später im „Beruf“ (u. Rn. 74) geäußerten Zweifel an der aufklärerischen Vorstellung vom vollständigen Gesetz. Weiter meint Savigny, dass „die Kunst des Gesetzgebers – die des Interpreten ist, recht viel im Gesetz zu finden. Die Anwendung hängt aber großentheils von der formellen Vortrefflichkeit der Gesetzgebung selbst ab – je trefflicher diese, desto dankbarer und fruchtbarer das Geschäft des Interpreten“.127 Hier wird deutlich, wie Savigny für sich ein gutes Gesetz mit verbleibender Freiheit des Juristen vereinbaren kann. In diesem Punkt hatten sich die Verhältnisse seit römischer Zeit so weit verändert, dass unter den neuen rechtspolitischen Verhältnissen die kreative Rolle des Juristen anders gedacht und gesichert werden musste.

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In der Vorlesung zum Obligationenrecht (ab 1809/10)128 finden sich kaum Aussagen zur Gesetzesauslegung. Savigny notiert aber zur Gesetzesumgehung (fraus legis)129 „hier also ein Fall, wo die Erforschung des Zwecks des Gesetzes praktisch wichtig ist (bey der Interpretation nicht)“130 und verweist an dieser Stelle nach „oben“. Das ist zu deuten131 als Verweis auf den Allgemeinen Teil der Pandektenvorlesung (fol. 28r).132

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Das Bild aus den frühen Vorlesungen steht beim derzeitigen Stand der Forschung unter dem Vorbehalt weiterer Editionen: Gerade weil Savigny aus der ursprünglich gesonderten methodologisch-enzyklopädischen Einführung einen Teil der Pandekten-, also der Zivilrechtsvorlesung gemacht hat, kann sich in verschiedenen Quellen noch etwas verbergen – mögen diese auch (als Manuskripte) nicht zur Veröffentlichung bestimmt gewesen sein oder (als Mitschriften) vielleicht von wenig kundiger Hand

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127 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 219. 128 Zur Edition vgl. oben Fn. 67. 129 Im § 81 (Von unerlaubten Verträgen). Vgl. Avenarius (Hrsg.), von Savigny, Pandekten. Obligationenrecht, Allgemeiner Teil (2008), S. 266. 130 Kursive im Zitat stehen für Unterstreichungen im Orig., s.o. Fn. 97. 131 So Avenarius (Hrsg.), von Savigny, Pandekten. Obligationenrecht, Allgemeiner Teil (2008), S. 266, Fn. 707. 132 Die Passagen etwa auf S. 107, 217 der hier verwendeten Ausgabe der methodologischen Schriften Savignys (ed. Mazzacane) sind nicht dem fol. 28 des Landshuter Manuskripts zum Allgemeinen Teil entnommen, in Übereinstimmung mit dem editorischen Ziel, nicht jede Aussage aufzunehmen, die auch methodologischen Inhalts sein könnte. Vgl. Mazzacane, in: ders. (Hrsg.), Savigny. Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), 57, 58 f.

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1. Teil: Grundlagen

stammen.133 Unter diesem Vorbehalt aber ist das Bild relativ klar: Savigny teilt insoweit Grundanliegen der Aufklärung, als er dem Gesetz methodisch Vorrang vor Spekulationen über subjektive Zwecksetzungen des Gesetzgebers gibt. Der Objektivierung dient vor allem die Reflexion über die Eingriffssituation, die Savigny in der Gesetzgebung sieht, wie aus den vier Elementen (o. Rn. 58) resultiert. Damit ist am Ende doch wieder der Interpret am Zuge, weil bei ihm die Beurteilung liegt: Er muss sagen, ob das Gesetz (als kontingentes historisches Ereignis) etwas gewollt habe – er darf aber nicht jenseits der vier Elemente unter dem Vorwand der „Dunkelheit“ des Gesetzes Argumente hinter diesem Ereignis hervorziehen. Mit aller Vorsicht lässt sich das hier aufscheinende Konzept wie folgt beschreiben: Die Unterscheidung zwischen Auslegung und Analogie erfolgt nicht nach einer so bezeichneten Wortlautgrenze, sondern über die Bestimmung dessen, was man – modern – vielleicht eine Lücke nennen könnte. Lücke ist, was der Gesetzgeber „vergessen“ hat, wobei man sich jedoch das „Vergessen“ nicht psychologisierend vorstellen muss und auch nicht aufgrund hinter dem Gesetz liegender Zweckerwägungen, sondern anhand der Grundsätze für die Auslegung: Eine historische und systematische Analyse der Gesetzgebungssituation kann ergeben, dass eine Norm nötig ist. Die Erwägung, dass in einem RegelAusnahme-System im Zweifel die Regel durchgreift, kommt zwar vor, steht aber der Annahme einer so verstandenen Lücke nicht entgegen. Denn den potentiell allumfassenden Codex legt Savigny gerade nicht zugrunde; die Regeln der römischen Juristen sind Regeln für Teilgebiete, nicht Teile eines allumfassenden Systems, in dem es eigentlich keine Lücken geben kann. 2.

Der „Beruf“

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Die Schrift, mit der Savigny vielleicht am stärksten auch auf ein nicht spezialisiertes Publikum gewirkt hat, ist „Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“134. Die Kenntnis dieser Schrift kann auch bei solchen Juristen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterstellt werden, die Savignys Vorlesungen nicht gehört haben. Ein vergleichbares Gewicht hat dann erst wieder das ganz anders geartete „System“ (ab 1840) erlangt. Im „Beruf“ finden sich immerhin Andeutungen.

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Im Zusammenhang seiner Ausführungen über die Unmöglichkeit, in einem Gesetz alle denkbaren Fälle zu regeln, spricht Savigny die „leitenden Grundsätze“135 des Rechts an, die zu erkennen das eigentlich Wissenschaftliche an juristischer Arbeit ausmache. Werde ein Gesetzbuch in Zeiten erlassen, die solche Grundsätze nicht zutreffend zu erkennen vermöchten, so komme es zu Unzuträglichkeiten:136 „Die

133 Zum Problem der Edierung unveröffentlichter Schriften bei Savigny zuletzt mit Nachw. Avenarius (Hrsg.), von Savigny, Pandekten. Obligationenrecht, Allgemeiner Teil (2008), S. 1–11. 134 Hier zitiert nach der heute maßgeblichen Edition von erster Auflage (1814) und „Vorrede der zweyten Ausgabe“ von 1828: Akamatsu/Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen (2000), S. 215–300, 301–304. 135 Vgl. dazu auch Nörr, Lehrjahre, S. 265 f. 136 Savigny, Beruf, S. 22 der Originalausgabe = Akamatsu/Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen (2000), S. 226.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

Rechtspflege wird scheinbar durch das Gesetzbuch, in der That aber durch etwas ganz anderes, was außer dem Gesetzbuch liegt, als der wahrhaft regierender Rechtsquelle, beherrscht werden“137. Diese „wahrhaft“ oder „eigentlich“ regierende Rechtsquelle komme „unter den verschiedensten Namen, bald als Naturrecht, bald als jurisprudence, bald als Rechtsanalogie“ vor.138 Das fügt sich zum oben Rn. 70 Referierten. Im Weiteren stellt Savigny vor, was die Methode der römischen Juristen kennzeichne (deren Qualität man anerkennen müsse, auch wenn man über Inhalte verschiedener Meinung sein könne)139:

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„das Festhalten am Herkömmlichen, ohne sich durch dasselbe zu binden, wenn es einer neuen, volksmäßig herrschenden Ansicht nicht mehr entsprach. Darum zeigt die Geschichte des Römischen Rechts bis zur classischen Zeit überall allmähliche, völlig organische Entwicklung. Entsteht eine neue Rechtsform, so wird dieselbe unmittelbar an eine alte, bestehende angeknüpft, und ihr so die Bestimmtheit und Ausbildung derselben zugewendet. Dieses ist der Begriff der Fiction, für die Entwicklung des Römischen Rechts höchst wichtig und von den Neueren oft lächerlich verkannt: so die bonorum possessio neben der hereditas, die publiciana actio neben der rei vindicatio, die actiones utiles neben den directae. Und indem auf diese Weise das juristische Denken von der größten Einfachheit zur mannigfaltigsten Ausbildung ganz stetig und ohne äußere Störung oder Unterbrechung fortschritt, wurde den Römischen Juristen auch in der späteren Zeit die vollendete Herrschaft über ihren Stoff möglich, die wir an ihnen bewundern.“140

Selten wird die Nähe von Methodenlehre und Rechtsquellenlehre so deutlich wie hier. Savigny hütet sich aber davor, das Methodische auf konkrete Anwendungsfragen herunterzubrechen – in einer rechtspolitischen Kampfschrift nicht verwunderlich. Vielmehr dient ihm das römische Recht, dazu, ein Gegenbild zur kodifikatorischen Tendenz aufzubauen. Ohne Rückprojektionen war dies freilich nicht möglich. Dass auch Rom punktuell Gesetzgebung kannte, dass eine linear-organische Entwicklung in dieser Form in Rom nicht stattfand, dass die Fiktionen des römischen Rechts vielleicht wirtschaftlichen Bedürfnissen entsprachen, aber nicht einem allgemeinen „Volkswillen“ entsprangen, sondern das Werk einer hochqualifizierten Funktionselite waren, das alles wusste Savigny natürlich genau.

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So benennt er auch das Element in der römischen Fiktion nicht ausdrücklich, das in der Tat die Übertragung dogmatischer Bestimmtheit ermöglichte: Die fictio setzt immer am Prozess an. Es werden bestehende actiones, soweit irgend möglich, nur verändert; und der klassische Formularprozess war durch das Edikt geregelt, funktionell betrachtet also in einem Gesetz (dem freilich die äußere Systematik späterer Zeiten

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137 Savigny, Beruf, S. 22 f. der Originalausgabe = Akamatsu/Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen (2000), S. 226. 138 Savigny, Beruf, S. 23 der Originalausgabe = Akamatsu/Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen (2000), S. 227. 139 Savigny, Beruf, S. 35 der Originalausgabe = Akamatsu/Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen (2000), S. 233. 140 Savigny, Beruf, S. 32 f. der Originalausgabe = Akamatsu/Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen (2000), S. 231 f.

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1. Teil: Grundlagen

fehlte).141 Der einzelne Jurist hatte in spätrepublikanischer und klassischer Zeit durchaus die Freiheit, das Edikt entsprechend zu interpretieren; aber „allgemeine Grundsätze“, denen er dabei hätte folgen können und wollen, gab es kaum. Sein Denken nahm, wie Savigny selbst an verschiedener Stelle ausführt,142 den Ausgang vom einzelnen Fall, der dann in das entstehende innere System anderer Fälle eingefügt wurde.143

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Wenn man überhaupt historische Parallelen ziehen wollte, dann müssten sie wohl eher zur Einzel- als zur Gesamtanalogie führen (u. Rn. 106): Ob eine bestimmte Konstellation bei der einen actio ebenso zu behandeln sei wie bei der anderen, wo bereits Einigkeit bestand, pflegte die Römer weit mehr zu interessieren als „allgemeine Grundsätze“. Diese entstanden erst bei solcher Fallanalyse, und nicht „organisch“ von frühester Zeit an, sondern vor allem seit spätrepublikanischer Zeit unter griechischem Einfluss.144

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Wenn es eines Beweises dafür bedürfte, dass Savigny all dies klar vor Augen stand, dann lieferten ihn seine Jahr für Jahr leicht fortentwickelten Notizen zur Methodenvorlesung: Nicht zusammengefasste Inhalte des römischen Rechts aus „Institutionencompendien“ sollten die Studenten lernen, sondern System und Methode, und zwar an ausgewählten Originaltexten, um sich später bei Bedarf in beliebige Quellen einarbeiten zu können;145 sie sollten selbst an den Normtexten arbeiten können146 – der Ansatz, der seit 200 Jahren mutatis mutandis in Deutschland als Prinzip guter Juristenausbildung gilt.147 Er schlug also ein didaktisches Prinzip vor, das gerade von der naturrechtlichen Konstruktion und akademischen Vermittlung „leitender Grundsätze“ abwich.

141 Vgl. zu alldem nochmals Rn. 26 f. 142 Etwa im „Beruf“, S. 30 der Originalausgabe = Akamatsu/Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen (2000), S. 231. 143 Zum Problem nochmals o. Rn. 14–18. 144 Dementsprechend setzen moderne Analysen des antiken Rechts nicht bei principia generalia an, sondern bei exegetischer Aufarbeitung der Quellen, in denen Verbindungen zwischen Einzelpunkten hergestellt werden. Näher Baldus, FS Martini (2008), S. 145–156. 145 Die preußische und die französische Studienreform in Savignys Zeit litten nach seiner Meinung an demselben Fehler: der Versuch, den Geist des römischen Rechts durch eine „allgemeine Übersicht seiner Grundsätze“ zu vermitteln: Institutionenvorlesung 1808/1809, nach Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 213. Vgl. die Passagen zur Juristenausbildung in beiden Ländern im „Beruf“: Akamatsu/ Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen (2000), S. 287–290 (138–143 der Originalausgabe). 146 Am Ende der Einleitung zur Pandektenvorlesung 1811 hatte Savigny als letztes von drei Zielen der Vorlesung genannt: „im Ganzen citirte Quellen durchlaufen – am vollkommensten gelungen, wenn der Zuhörer nichts vom Lehrer gelernt zu haben glauben könnte, aber mit Quellen vertraut“: Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2004), S. 256. 147 Dazu und zu den aus dem sog. Bologna-Prozess resultierenden Gefahren vgl. Baldus/ Finkenauer/Rüfner (Hrsg.), Juristenausbildung in Europa zwischen Tradition und Reform (2008), (mit sechs historischen Beiträgen).

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

So blieb, rechtspolitisch gesprochen, die Kompetenz dazu, solche Grundsätze zu konstruieren und zu postulieren, am Ende in der Hand der Juristen. Im „Beruf“ ging es darum, die gesetzliche Fixierung solche Grundsätze abzuwehren, angeblich wegen der Unfähigkeit der Zeit hierzu. Pro forma spricht das Gesetz, dessen Qualität nach Savigny ja an seiner Auslegungsfähigkeit abzulesen ist,148 in der Sache der Jurist, der das Gesetz als prinzipiell vollständiges akzeptiert149 und nicht über Grenzen der einzelnen Norm hinausgeht, wohl aber selbst festlegt, was die „allgemeinen Grundsätze“ seien. Der Unterschied zu Rom ist damit – wenigstens zu argumentativen Zwecken – minimiert.

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Hätte Savigny hier eine konkrete methodologische Folgerung ziehen wollen, so hätte diese wohl lauten müssen: Keine Einzelanalogie, weil der Jurist das nicht darf (wie in den Methodenvorlesungen näher ausgeführt); Gesamtanalogie nur bei Lücken des Systems insgesamt, und hier nach leitenden Grundsätzen, die zwar nicht der Gesetzgeber der Zeit finden kann, wohl aber anscheinend im Bedarfsfall der einzelne Jurist. Ganz kohärent ist das nicht, und jedenfalls hätten sich rechtspolitische Fragen gestellt. Dann aber war es klug, es im „Beruf“ bei Andeutungen zu lassen und Methodenfragen gerade nicht ins Zentrum zu stellen.

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Gegen Ende des „Berufs“ erscheint das Thema ein letztes Mal, und zwar hinsichtlich des Code civil 150: Es komme eine „Art von Ergänzung (…)“ nicht vor, „die organische nämlich, welche von einem gegebenen Punkt (also von einem Grundsatz des Gesetzbuchs) mit wissenschaftlicher Sicherheit auf einen nicht gegebenen schließt“151. „Grundsatz“: Der „Punkt“, von dem auszugehen sei, ist also nicht etwa die Grundlage der Einzelanalogie, sondern ein Prinzip, eher der modernen Gesamtanalogie ähnlich – wohl aber ist der „nicht gegebene Punkt“ in der Tat ein Punkt, nämlich eine Lücke.

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„Punkt“ ist hier also ein schillernder Begriff. Savigny hütet sich aber auch hier, eine eigene Theorie vorzulegen, sondern beklagt nur das Fehlen einer solchen Theorie: „Unsere Juristen haben davon unter den Namen Analogie und argumentum legis etwas beschränkte Begriffe, und auch bey den Franzosen findet sich einmal beyläufig eine Ahnung davon“152; Savignys Fußnote dazu führt nicht zu deutscher Literatur,

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148 Vgl. nochmals Rn. 70. 149 „Kein einzelner Fall ist ganz in den Gesetzen bestimmt, sondern er ist immer unter einer allgemeinen Regel enthalten – zuweilen ist er selbst das nicht auf den ersten Blick – aber das Gesetz muß auf alle Rechtsfragen Antwort geben – also?“: Methodenvorlesung von 1802/ 1803, Akamatsu/Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen (2000), S. 101, 108. 150 Parallelaussagen zum ABGB und pr.ALR fehlen. 151 Savigny, Beruf, S. 74 = Akamatsu/Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen (2000), S. 253. 152 Savigny, Beruf, S. 74 f. = Akamatsu/Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen (2000), S. 253. Christian Baldus

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1. Teil: Grundlagen

sondern auf den discours préliminaire, und dort wird die (modern gesprochen) Gesamtanalogie geradezu als Normalfall dargestellt.153

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Savigny vermeidet es im „Beruf“ also bewusst, die Konsequenzen seiner Ansicht für Auslegung und Analogie darzustellen. Die aufklärerische Kritik am Richter, dem niemand ins Dickicht der unkodifizierten Normen folgen könne, wird nicht defensiv angegangen. Vielmehr kontert Savigny durch Kritik an den Gesetzbüchern, die aus dieser Kritik erwachsen waren. Seinem rechtspolitischen Ziel, dem Richter auch unter den nunmehr herrschenden Bedingungen Bewegungsfreiheit zu lassen, war damit am besten gedient.

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In diesem Sinne befasst das achte Kapitel des „Berufs“ („Was wir thun sollen wo keine Gesetzbücher sind“) sich mehr mit technischen Fragen denkbarer Reformen. Es enthält aber immerhin die Aussage, mechanische Gesetzesanwendung ohne Interpretation sei ganz abzulehnen; annähern solle man sich hingegen dem anderen Extrem, das überdies an die „älteste Deutsche Gerichtsverfassung“ anschließe [!]: „dass für jeden Rechtsfall der Richter das Recht zu finden hätte, wobey durch die Sicherheit einer streng wissenschaftlichen Methode dennoch alle Willkühr ausgeschlossen wäre“154. Das folgende Kapitel aber, über die Lage in Ländern, die bereits kodifiziert hatten, sagt zu solchen Fragen nichts, sondern konzentriert sich auf die Juristenausbildung. 3.

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Das „System“

Ähnlich wie in der Methodenvorlesung, aber mit etwas anderen Akzenten,155 schreibt Savigny im „System“:156 „Jedes Gesetz ist dazu bestimmt, die Natur eines Rechtsverhältnisses festzustellen, also irgend einen Gedanken (…) auszusprechen, wodurch das Daseyn jenes Rechtsverhältnisses gegen Irrthum und Willkühr gesichert werde. Soll dieser Zweck erreicht werden, so müssen Die, welche mit dem Rechtsverhältniß in Berührung kommen, jenen Gedanken rein und vollständig auffassen. Dieses geschieht, indem sie sich in Gedanken auf den Standpunkt des Gesetzgebers versetzen, und dessen Thätigkeit in sich künstlich wiederholen, also das Gesetz in ihrem Denken von Neuem entstehen lassen. Das ist das Geschäft der Auslegung, die wir daher bestimmen können als die Reconstruction des dem Gesetze innewohnenden Gedankens.“

153 AaO Fn. 1 zu S. 75 (S. 253): In den meisten Fällen sei das Urteil « moins l’application d’un texte précis que la combinaison de plusieurs textes qui conduisent à la décision bien plus qu’ils ne la renferment », und in dieser « immensité d’objets divers (…) on ne peut pas plus se passer de jurisprudence que de lois ». 154 Savigny, Beruf, S. 130 = Akamatsu/Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen (2000), S. 283. 155 Welches Gewicht die sogleich zu beschreibenden Akzentverschiebungen haben und worauf sie zurückgehen, ist sehr streitig. Dieser Frage ist hier nicht grundsätzlich nachzugehen. Zu denkbaren Einflüssen der 1838 erschienenen Hermeneutikvorlesung Schleiermachers vgl. zuletzt Avenarius, in: ders. (Hrsg.), Hermeneutik der Quellentexte des Römischen Rechts (2008), S. 9, 18; weiterhin o. Fn. 69. 156 Savigny, System I, S. 212 f.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

Die berühmte Darstellung der einzelnen Auslegungselemente im „System“ nun lautet: 157

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„Das grammatische Element der Auslegung hat zum Gegenstand das Wort, welches den Übergang aus dem Denken des Gesetzgebers in unser Denken vermittelt. Es besteht daher in der Darlegung der von dem Gesetzgeber angewendeten Sprachgesetze. Das logische Element geht auf die Gliederung des Gedankens, also auf das logische Verhältniß, in welchem die einzelnen Theile desselben zu einander stehen. Das historische Element hat zum Gegenstand den zur Zeit des gegebenen Gesetzes für das vorliegende Rechtsverhältniß durch Rechtsregeln bestimmten Zustand. In diesen Zustand sollte das Gesetz auf bestimmte Weise eingreifen, und die Art dieses Eingreifens, das was dem Recht durch dieses Gesetz neu eingefügt worden ist, soll jenes Element zur Anschauung bringen. Das systematische Element endlich bezieht sich auf den inneren Zusammenhang, welcher alle Rechtsinstitute und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verknüpft (…). Dieser Zusammenhang, so gut als der historische, hat dem Gesetzgeber gleichfalls vorgeschwebt, und wir werden also seinen Gedanken nur dann vollständig erkennen, wenn wir uns klar machen, in welchem Verhältniß dieses Gesetz zu dem ganzen Rechtssystem steht, und wie es in das System wirksam eingreifen soll.“

Diese Elemente verstehen sich nicht im Sinne eines Gesamtkanons mit Ausschlussund Vorrangregeln,158 sondern im Sinne einzelner Kanones, mittels derer der Interpret sich in den Text hineindenkt. Das wird im „System“159 gleichfalls deutlich: „Mit diesen vier Elementen ist die Einsicht in den Inhalt des Gesetzes vollendet. Es sind also nicht vier Arten der Auslegung, unter denen man nach Geschmack und Belieben

157 Savigny, System I, S. 213 f. Zum Kontext und zu dem, was bei der Diskussion dieses (gern isoliert oder jedenfalls unhistorisch gebrauchten) Passus zu bedenken ist, berechtigte Hinweise bei Rückert, in: ders. (Hrsg.) unter Mitarbeit von Laudenklos u.a., Fälle und Fallen in der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny (1997), S. 25 ff. Im übrigen ist die Rede von „Savignys vier Elementen“ in neueren Publikationen erstaunlich oft auf Wortlaut, Geschichte, System und Telos im heutigen Sinne bezogen, was zeigt, dass nicht einmal die „beliebtesten Traditionszitate“, wie Rückert S. 25 sie treffend nennt, nachgelesen zu werden pflegen. Hilfreich daher die Neuauflage von Adomeit/Hähnchen, Rechtstheorie für Studenten (5. Aufl. 2008), S. 44. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass nicht nur deutsche Autoren dazu neigen, die vier gemeinhin genannten Elemente oder doch eine „similar list“ auch für Europa zu postulieren; vgl. die Nachw. bei Dann, GLJ 2005, 1453, 1462. 158 Solche Regeln bekämpft Savigny (wohlgemerkt als eine seinerzeit herrschende Ansicht) für das Verhältnis von grammatischer und logischer Auslegung weiterhin im „System“ (I S. 319 f.). Sein Grund gegen feste Rangregeln ist nach Rückert (Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny (1984), S. 352 f.) das Bemühen um ganzheitliche Erfassung des „einheitlichen Gegenstandes“ hinter konkreten Texten (oder einer bestimmten Textart), das durch textartspezifische Rangregeln gefährdet sei. Bei der Lektüre einiger späterer Autoren des 19.Jh. drängt sich freilich der Eindruck auf, dass dort eine „Gesamtbetrachtung“ aus weitaus prosaischerem Grunde postuliert wird: wegen der methodologischen Unsicherheit hinsichtlich einzelner Kriterien (u. Rn. 140). Schröder, Recht als Wissenschaft (2001), S. 236, sieht die Gleichwertigkeit des grammatischen Elements mit den anderen beim frühen Savigny gerade darin, dass eine Überschreitung des Wortlautes nicht in Frage gekommen sei. 159 Savigny, System I, S. 215.

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1. Teil: Grundlagen wählen könnte, sondern es sind verschiedene Thätigkeiten, die vereinigt wirken müssen, wenn die Auslegung gelingen soll. Nur wird freylich bald die eine, bald die andere wichtiger seyn und sichtbarer hervortreten, so dass nur die stete Richtung der Aufmerksamkeit nach allen diesen Seiten unerläßlich ist, wenngleich in vielen einzelnen Fällen die ausdrückliche Erwähnung eines jeden dieser Elemente als unnütz und schwerfällig unterlassen werden kann, ohne Gefahr für die Gründlichkeit der Auslegung.“

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„Nachvollziehen“ und „Rekonstruktion“ 160 bezeichnen also nicht den Versuch, den historischen Gedanken des Gesetzgebers im Sinne der subjektiven Auslegungstheorie161 abschließend zu ermitteln, sondern sie sollen gerade eine zeitgemäße Normanwendung ermöglichen.162 Jedenfalls im Ergebnis gewinnt der Richter so einige Handlungsfreiheit. Deswegen handelt es sich auch nicht um eine subjektiv-historische Auslegung im heutigen163 Sinne; 164 die historische Auslegung Savignys trägt einige der Funktionen, die wir heute der objektiv-teleologischen, an Sinn und Zweck orientierten Auslegung zuweisen (Rn. 45, 62 ff.).

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Das leuchtet aus dem Grundanliegen der Historischen Schule unmittelbar ein: Geht es nicht darum, die Unübersichtlichkeit der bestehenden Rechtsquellen möglichst schnell und umfassend durch ein einheitliches Zivilgesetzbuch zu beheben, sondern darum, aus diesen überkommenen Quellen ein organisches Ganzes entstehen zu lassen, dann müssen sie durch geschichtlich bewusstes Durchdenken für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden. Dazu aber braucht der Jurist methodische Bewegungsfreiheit.

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Mit den politischen Rahmenbedingungen geht Savigny also souverän um: So wie er den „deutschen Volksgeist“ nicht in (Pseudo-) Germanischem, sondern im römischen Recht suchte und damit die Entscheidungsspielräume der Juristen legitimierte, so verfährt er auch bei der Auslegung.

160 Zum geistigen Hintergrund Meder, Mißverstehen, S. 24–27. 161 Ob man Savigny ihr zurechnen kann, ist str.; Nachweise zur Kontroverse und Argumente für die These, Savignys Ansatz könne sinnvoll weder subjektiv noch objektiv genannt werden, bei Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny (1984), S. 354 ff.; weiterhin ders., in: ders. (Hrsg.) unter Mitarbeit von Laudenklos u.a., Fälle und Fallen in der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny (1997), S. 49 u.ö.; Schröder, Recht als Wissenschaft (2001), S. 225, 242; jüngst Meder, Mißverstehen, S. 124–129: Ausgelegt werde bei Savigny das Gesetz zu dem Zweck einer Konkretisierung des gesetzgeberischen Gedankens für die Gegenwart (S. 126). 162 Vgl. Meder, Grundprobleme, S. 26 mit Fn. 22: Es komme Savigny „weniger auf die Rekonstruktion des ursprünglichen Inhalts einer Rechtsquelle als auf die Ermittlung ihres gegenwärtigen Sinnes an“. 163 Die Vielfalt der Definitionen und Verständnisse hinsichtlich dieses Kanons ist hier nicht wiederzugeben; vgl. differenzierend etwa Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 78 III, 79 I (S. 619 f., 627 f.). Gemeinsam ist den meisten, dass ermittelt werden soll, was die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Personen wollten. Genau dort setzen Zweifel an; vgl. u. XI. (Epilog). 164 Vgl. nochmals Huber, JZ 2003, 1–17; Meder, Mißverstehen, S. 124. Zur weiteren Entwicklung der historischen Auslegung (vor allem der zeitgenössischen Gesetze) vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 232 f.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

[bleibt frei]

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[bleibt frei]

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Dass die Grenze der Auslegungskunst aber gerade im Sinne der Lehre vom Wortlaut (im heute diskutierten Sinne) grammatisch zu bestimmen sei, ist nicht gesagt; es folgt auch nicht daraus, dass im „System“ das grammatische Element als „die Darlegung der von dem Gesetzgeber angewendeten Sprachgesetze“ bestimmt wird:165 Der Begriff der „Sprachgesetze“ ist weiter als der des „Wortlauts“. Überdies unterfällt auch das grammatische Element der genannten Metaregel, der zufolge eine Zusammenschau aller Kanones erforderlich ist und Vorrang eines Elements nicht angenommen werden kann.

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So tendieren neuere Forschungen, gerade unter Einbeziehung auch des späteren Savigny, zu einigen Relativierungen: Es gehe um den (in sich wiederum schwankend bestimmten) Gedanken, nicht um den Begriff; und Savigny diene die Wortlautgrenze nur zur Abgrenzung der Auslegung „von der gänzlich offenen Fortbildung des Rechts“166.

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Umso mehr fragt sich, wo dann die Grenzen der Analogie liegen sollen. Dieses Institut hatte bemerkenswerte Veränderungen durchgemacht:167 Das 16. und 17. Jahrhundert kennt die Analogie der Sache nach im Rahmen der juristischen Topik, als Ähnlichkeitsschluss, verwendet den Begriff analogía aber nicht in diesem Sinne. Mit dem Niedergang der Topik als wissenschaftlicher Methode im 17. und 18. Jahrhundert geht diese Zuordnung des Ähnlichkeitsschlusses verloren; er überlebt diesen Niedergang als einziger Topos, den die Juristen noch akzeptieren. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts bekommt er auch den Namen Analogie, jedoch ohne sachlichen Unterschied zur „ausdehnenden Auslegung“.

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Erst indem man zu Beginn des 19. Jahrhunderts damit beginnt, den sprachlich möglichen Sinn als Grenze der Auslegung zu identifizieren, kann sich der Analogieschluss als definierter Bestandteil des juristischen Methodeninstrumentariums jenseits dieser Grenze etablieren. Zuerst wird überhaupt eine Unterscheidung zwischen Auslegung und Analogie eingeführt, oft mit Andeutungen, die bereits in die Richtung der Wortlautgrenze weisen, oft auch unter Kritik an den bisherigen Kategorien der restriktiven, deklarativen und extensiven Auslegung oder daran, dass diese Kategorien nicht entschlossen genug beseitigt würden; dann wird die Wortlautgrenze als maßgeblich identifiziert. Dieser Prozess aber findet, wie zu zeigen sein wird, jedenfalls bei den Pandektisten noch nicht seinen Abschluss.

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Savigny fördert diese Entwicklung; und er bemüht sich im „System“ auch um die Bestimmung einer Grenze der Analogie. Diese ist systematisch aus dem positiven Recht zu bestimmen: Analogie ist nur in Gesetzeslücken möglich, und das Ergebnis darf

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165 Savigny, System I, S. 214. 166 So Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, S. 41–45. 167 Zum Folgenden ausführlich Schröder, SavZRG – Germ. Abt. – 114 (1997), 1–55. Über die antike Begrifflichkeit bereits o. Rn. 26 a.E.

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1. Teil: Grundlagen

anderen Normen nicht widersprechen.168 Fraglich ist, welche Tragweite dieser Ansatz in erst entstehenden Systemen hat: Setzt er Vollständigkeit des Systems voraus (die Savigny nicht bestreitet169)? Oder ist lediglich Widerspruchsfreiheit unter den vorhandenen Systemelementen verlangt? 170 Diese Frage stellte sich im frühen 19. Jahrhundert, weil es darüber stritt, ob genug System für eine Kodifikation existiere.

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Aus vergleichbaren Gründen ist ihr für das Unionsprivatrecht171 nachzugehen: Auch hier entsteht ein System; aber anders172 als das von Savigny gemeinte und konstruierte System ist es bereits nach seinem eigenen Selbstverständnis noch fragmentarisch. Es wird ergänzt durch die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, die aber kompetenzrechtlich gegen einen unbeschränkten Zugriff des Unionsprivatrechts abgesichert sind; es kann nicht – wie Savignys „heutiges römisches Recht“ – einen vorhandenen und zugriffsfähigen umfassenden Normenbestand durch Auslegung und Systembildung in ein geschlossenes Ganzes überführen. Ob unter diesen Bedingungen die strenge Theorie von der (planwidrigen) Lücke als Voraussetzung der Analogie ebenso passt wie im mitgliedstaatlichen Recht,173 ist aus modernrechtlicher Sicht fraglich; und ebenso fraglich ist, ob Savigny die Frage bejaht hätte. Hingegen passt das Kriterium des Widerspruchs zur vorhandenen Norm als Grenze der Analogie möglicherweise bereits im (noch) fragmentierten Gemeinschaftsprivatrecht (Rn. 215).

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Kommen wir auf die hier im Vordergrund stehende Frage nach der technischen Abgrenzung von Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert zurück. An der Unzulässigkeit extensiver Auslegung (im Sinne einer Korrektur des gesetzlichen Gedankens) hält Savigny dem Grundsatz nach auch im „System“ fest.174 Freilich unterscheidet er 168 Savigny, System I, S. 294: „(…) das ganze Verfahren nach Analogie beruht ja lediglich auf dem inneren Zusammenhang des Rechtssystems“; vgl. Meder, Mißverstehen, S. 155 ff., und zum Systemdenken bereits aufgrund der Methodologievorlesungen Schröder, SavZRG – Germ. Abt. – 114 (1997), 1, 45. 169 Vgl. nochmals o. Fn. 149. 170 Diesen Aspekt betont – in Kenntnis des von Savigny selbst verwendeten Lückenbegriffs – Meder, Mißverstehen, S. 155 ff., wo er am Sinn der Unterscheidung zwischen gesetzesimmanenter und gesetzesübersteigender Rechtsfortbildung zweifelt: Savignys Gedanken harmonierten mit heutigen Mindermeinungen, welche die Analogie aus der Rechtsfortbildung aussondern und letzteren Begriff auf Entscheidungen contra legem beschränken wollen; „Kriterien für das Vorliegen einer Rechtsfortbildung würden nicht Lücke oder Analogie, sondern die Relationen von Kontrarität und Kontradiktion bieten“ (S. 156). 171 Ob der Begriff des Gemeinschaftsprivatrechts nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon noch zutreffe, ist streitig. Vgl. aus der Diskussion in der Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht (GPR) zunächst Müller-Graff, GPR 2008, 105; weitere Stellungnahmen in Vorbereitung. Im Folgenden wird im Zweifel der Begriff „Union“ verwandt. 172 Vgl. nochmals Schröder, SavZRG – Germ. Abt. – 114 (1997), 1, 45. 173 Dafür prononciert Neuner, in diesem Band, § 13 Rn. 1, 27–39; vgl. hier Rn. 193–197. 174 So knapp Meder, Mißverstehen, S. 137 gegen eine verbreitete Meinung, vgl. für diese etwa Bühler, in: Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie (2001), S. 331. Die Gründe hierfür sieht Meder darin, dass Savigny einerseits über die Analogie alle erforderliche Freiheit geschaffen und andererseits den Versuch unternommen habe, Kritik an den weiten Grenzen seiner Auslegungslehre vorzubeugen, indem er eine gesetzeskorrigierende Auslegung als solche nicht mehr zugelassen habe.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

nicht primär nach dem Wortlaut, sondern maßgeblich nach dem Grund des Korrekturbedarfs. Dass dies zu mannigfachen Abgrenzungsproblemen führt, sieht Savigny selbst sehr deutlich. In § 37 heißt es zur „Auslegung mangelhafter Gesetze“ abschließend:175 „Ist nun also der specielle Gesetzgrund zur Berichtigung des Ausdrucks zulässig, der generelle unzulässig, so muss zugleich daran erinnert werden, dass es zwischen diesen beiden Arten von Gründen keine scharfe Gränze giebt (§ 34). Durch die mancherley allmäligen Übergänge, die sich hierin bilden, wird oft die Möglichkeit wahrer Auslegung zweifelhaft, und die Unterscheidung derselben von Fortbildung des Rechts schwierig werden. Dagegen ist es durchaus keinem Zweifel unterworfen, dass das dritte oben angegebene Hülfsmittel, der innere Werth des Resultats (§ 35), auf die Erkenntnis und Verbesserung des unrichtigen Ausdrucks niemals angewendet werden darf. Denn es ist einleuchtend, dass darin nicht eine Ausgleichung des Ausdrucks mit dem Gedanken, sondern eine versuchte Verbesserung des Gedankens selbst, enthalten seyn würde. Dieses kann als Fortbildung des Rechts heilsam seyn, von einer Auslegung kann es nur den Namen an sich tragen.“

An anderer Stelle176 formuliert er die Gegenposition so: Ausdehnende oder einschränkende Auslegung sei „eine Berichtigung des wirklichen Gedankens (…) durch Zurückführung auf denjenigen Gedanken, den das Gesetz hätte enthalten können“; dies unter ausdrücklicher Abstraktion vom realen Bewusstsein des realen, personifizierten Gesetzgebers:177

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„Dabey ist es gleichgültig, ob der Gesetzgeber mit Bewusstseyn einen logischen Fehler gemacht hat, oder ob er nur versäumte, an die consequenten Anwendungen des Grundes zu denken, wodurch man ihn jetzt berichtigt; in welchem letzterem Falle man also voraussetzt, er würde unfehlbar eben so verfügt haben, wenn man ihn nur auf diese Consequenzen aufmerksam gemacht hätte.“

Das aber sei unzulässige, dem Ausleger als solchem, namentlich dem Richter nicht gestattete Rechtsfortbildung, eine „Gränzverwirrung zwischen wesentlich verschiedenen Thätigkeiten“178 – Savigny freilich lehnt sie wiederum nicht wegen einer Überschreitung der Wortlautgrenze ab, sondern wegen eines Übergriffs auf den Gesetzesinhalt. Hingegen setzt er den „bloßen Buchstaben“ mit dem „Schein des Gesetzes“ gleich.179 Damit ist die Grenze von Auslegung und Analogie ausdrücklich nicht über den Wortlaut bestimmt. Darin liegt eine Akzentverschiebung gegenüber den frühen

175 Savigny, System I, S. 240. Dass durch die Möglichkeit, einen unrichtigen Ausdruck im Wege der Auslegung zu korrigieren, die Abgrenzung von Auslegung und Analogie bei Savigny wieder unsicher wurde, betont Schröder, Recht als Wissenschaft (2001), S. 221. Vgl. zur Struktur der Ausführungen im „System“, Rückert, in: ders. (Hrsg.) unter Mitarbeit von Laudenklos u.a., Fälle und Fallen in der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny (1997), S. 47 ff. 176 Savigny, System I, S. 321. 177 Savigny, System I, S. 321. 178 Savigny, System I, S. 322. 179 Savigny, System I, S. 322.

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Ausführungen zur Methodenlehre, freilich keine so radikale Wende, wie oftmals behauptet worden ist.180

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Die Analogie nun akzeptiert Savigny zum einen als Schaffung eines dem positiven Recht bislang unbekannten Instituts, zum anderen „und viel häufiger, wenn in einem schon bekannten Rechtsinstitut eine einzelne Rechtsfrage neu entsteht. Diese wird zu beantworten seyn nach der inneren Verwandtschaft der diesem Institute angehörenden Rechtssätze, zu welchem Zweck die richtige Einsicht in die Gründe der einzelnen Gesetze (§ 34) sehr wichtig sein wird“.181

Freilich: Für Savigny ist „analogische Rechtsfindung“ nicht gleichbedeutend mit Rechtsfortbildung, sondern „Anstoß zur Fortbildung des Rechts, z.B. durch Gesetzgebung, in welchem Fall sie mit größerer Freyheit geübt werden kann“.182

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Die Abgrenzung zur Auslegung ist fließend, aber wiederum in anderem Sinn und anderer Begrifflichkeit als heute: Unmittelbar im Anschluss heißt es „Sie kann aber auch vorkommen (so wie wir sie hier betrachten) als eine Art reiner Auslegung, etwa indem einem Richter zuerst das neue Rechtsverhältnis oder die neue Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt wird.“183

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Es versteht sich, dass von diesem Ausgangspunkt die Kategorien andere sein müssen als bei der modernen Dichotomie von Auslegung diesseits, Analogie jenseits der Wortlautgrenze. Vielmehr unterscheidet Savigny, wie gesehen, danach, ob ein unrichtig gewählter Ausdruck aus dem „wirklichen Gedanken“ des Gesetzes korrigiert wird (ausdehnende Auslegung)184 oder ob eine Lücke vorliegt, so „dass es an dem wirklichen Gedanken irgend eines leitenden Gesetzes gänzlich fehlt, und wir suchen uns über diesen Mangel durch die organische Einheit des Rechts hinweg zu helfen“185: nämlich anhand von „solchen Bestandtheilen der Rechtstheorie (…), die selbst schon auf dem künstlichen Wege der Abstraction entstanden waren“ 186.

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Wir befinden uns also, modern gesprochen, im Felde der Gesamtanalogie, getragen vom Systemgedanken (vgl. bereits Rn. 78). Für Savigny geht es nicht um Sonderformen der Anwendung gesetzten Rechts, sondern um das Rechtssystem insgesamt. Für

180 Dazu nur Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny (1984) S. 356 ff.: Die Auslegungslehre im „System“ sei als Fortführung und Entfaltung der älteren Ansätze zu verstehen, zwar mit Akzentverschiebungen, dies aber auch mit Blick auf die veränderten politischen Verhältnisse: Der im „System“ verstärkte Rekurs auf den „Gedanken“ des Gesetzes habe der Sicherung von Auslegungsfreiheit gedient; ein Bedürfnis danach, Kritik an den Gesetzen gerade auf methodologischem Wege zu bekämpfen, habe Savigny in den 1830er Jahren nicht gesehen. Vgl. jetzt Rückert, JZ 2010, 1, 3, 4 f., 8. 181 Savigny, System I, S. 291. 182 Savigny, System I, S. 291 f. 183 Savigny, System I, S. 292. 184 Eine allgemeine Regel des Inhalts, nach dem Grund des Gesetzes sei zwar eine Ausdehnung, aber keine Einschränkung zulässig, bekämpft Savigny als nicht begründbar (System I, S. 321 f.). 185 Savigny, System I, S. 293. 186 Savigny, System I, S. 292.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

den heutigen Leser ist dies nicht leicht wahrzunehmen, da er das System des jeweils anzuwendenden Rechts stets instrumentell einsetzt: Er reduziert, mit „Savignys Auslegungsmethode“ in der Hand, die systematische Betrachtung auf eine Technik zur Deutung positiven Rechts. Savigny mit seinem umfassenderen Rechts- und Systembegriff passt in diese instrumentelle Sichtweise schlecht. Die Wurzeln seiner Konzeption können hier weder in philosophischer 187 noch in historischer Hinsicht ausgeleuchtet werden. Savigny selbst nimmt „die Römer“ zunächst für seine Begriffsbildung in Anspruch, nennt insoweit freilich keine Juristen.188 Er äußert sich dann durchaus traditionell zur Unzulässigkeit der Analogiebildung aufgrund von Ausnahmesätzen189 und kommt von hier aus auf die Römer zurück, denen er einleitend bescheinigt, sie hätten

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„von der Ergänzung des Rechts durch Analogie sehr richtige Ansichten, nur unterscheiden sie in der Anwendung derselben nicht überall die Fortbildung des Rechts von der reinen Auslegung; von dieser Vermischung werden die Gründe weiter unten angegeben werden“.190

Diese „Gründe“ sieht Savigny darin, dass die Auslegungspraxis der römischen Juristen nicht immer auf der Höhe ihrer eigenen Theorie gewesen sei.191 Die Erklärung hierfür sei wiederum wörtlich wiedergegeben192, weil sie einerseits durchaus sensibel Besonderheiten Roms aufnimmt, andererseits modernes Kompetenzdenken rückprojiziert193 und schließlich das historische Selbstverständnis Savignys erkennen lässt:

187 Vgl. nochmals oben Fn. 72. Meder, Mißverstehen, S. 94 f. u.ö. Savigny, System I, S. 291, Fn. (a), beruft sich für „das eigentliche Wesen der Analogie“ auf „Stahl Philosophie des Rechts II.1. S. 166“ (= F. J. Stahl, Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht, II (1833); vgl. Meder, Mißverstehen, S. 155, 170). Zu Stahl und Savigny Nörr, Savignys philosophische Lehrjahre (1994), nach Reg., insb. S. 291–295. 188 Savigny, System I, wie vor: Varro, Gellius, Isidor – also immerhin Personen, die zwar keine iuris prudentes im üblichen Sinn waren, aber doch juristische Interessen kultivierten. 189 Savigny, System I, S. 293. 190 Savigny, System I, S. 294 f. 191 Aus der heutigen Sicht des römischen Rechts als einer hochentwickelten Kasuistik mit innerem System und wenig Theorie wirken derartige Aussagen merkwürdig, gerade wenn sie von einem so vorzüglichen Kenner der Quellen wie Savigny kommen. Hier zeigt sich eben die spezifische Perspektive des 19.Jahrhunderts, die weit über Savigny hinaus wirkte und die zu streng dekontextualisierender Lektüre pandektistischer Texte zwingt, wenn man etwas anderes sucht als die Perspektive dieser Zeit, namentlich Erkenntnis über antikes Recht. Pandektistische Texte sagen in aller Regel mehr über das BGB aus, das dann auf ihrer Grundlage entstanden ist, als über die römische Antike, auf die sie sich beziehen. Dazu grundsätzlich Avenarius, in: ders. (Hrsg.), Hermeneutik der Quellentexte des Römischen Rechts (2008), S. 9, 10. Zu modernen Sichtweisen der römischen Auslegungslehre vgl. nochmals Baldus, Regelhafte Vertragsauslegung nach Parteirollen (1998), und Harke, in diesem Band, § 2 Rn. 1 ff. 192 Savigny, System I, S. 297 ff. 193 Zu der inneren Spannung zwischen dem ius der Juristen und bewusster Rechtsgestaltung durch – modern gesprochen – verfassungsrechtliche Instanzen in Rom vgl. nochmals Schiavone, Ius, passim.

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1. Teil: Grundlagen „[Die Praxis der römischen Juristen] geht oft weit über die Gränzen wahrer Auslegung hinaus, und nimmt den Character einer wahren Fortbildung des Rechts an. Insbesondere geben sie ausdehnende Erklärungen aus dem Grund des Gesetzes, die nicht blos den Ausdruck berichtigen, sondern das Gesetz selbst verbessern sollen, was also nicht mehr Auslegung ist (…) Diese Widersprüche erklären sich aus der eigenthümlichen Stellung der Römischen Juristen, welche allerdings auch die Fortbildung des Rechts unmittelbarer in ihre Hände legte, als dieses bey uns angenommen werden kann (§ 19). (…) Indessen mögen auch schon die alten Juristen selbst die unsichere Gränze erkannt haben, die dadurch zwischen ihrem eigenen Beruf, und den Befugnissen des Prätors oder gar des Kaisers entstehen musste; so scheint es zu erklären, wenn sie es in manchen Stellen unbestimmt lassen, ob eine Erweiterung des Rechts durch sie selbst, oder vielmehr durch den Prätor oder Kaiser zu bewirken sey. – Aber selbst abgesehen von dieser größeren Freyheit, die den Römischen Juristen, in Vergleichung mit den unsrigen, eingeräumt war, hatten sie auch ausgedehntere Mittel der Auslegung, indem sie der Entstehung ihrer Rechtsquellen so nahe standen, also unmittelbar wissen konnten, wie mancher an sich nicht hinreichend bestimmte Ausdruck gemeint war, und in welchem Sinn er gleich von seinen Urhebern angewendet wurde.194 – In allen diesen Beziehungen stehen wir anders als sie, besonders wenn wir nicht unsere einheimischen Gesetze, sondern die uns so fern stehenden Justinianischen auszulegen haben. Unsere Lage ist darin ungleich schwieriger; aber hier (…) ist die durch die Schwierigkeit gebotene Anstrengung nicht ohne Frucht geblieben. Der Begriff und die Gränze wahrer Auslegung ist dadurch unter uns zu einer schärferen Ausbildung gelangt, als jemals bey den Römern, denen eine gleiche Nothwendigkeit nicht auferlegt war.“

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Im folgenden geht es namentlich um den référé législatif bei Justinian.195 Savigny sucht also in den römischen Quellen das, was seine Zeit beschäftigt; und dort sucht oder findet er einiges zum „Zweifel“ als Voraussetzung für die Pflicht zur Anfrage an den Kaiser, aber nichts zur Wortlautgrenze.196 Die aus moderner Sicht naheliegende Verbindung von Richterbindung und Glauben an den Wortlaut ist bei ihm gedanklich vorgezeichnet, aber jedenfalls nicht zu Ende geführt. Das erspart ihm auch einige Probleme dieser Verbindung.

194 Das hiermit aufgeworfene Sachproblem darf als bislang ungelöst gelten; einige Hinweise bei Baldus, GS Franciosi (2007), S. 167–189. 195 Zu Justinian vgl. Rn. 37. An späterer Stelle nimmt Savigny den Gedanken des référé in rechtsvergleichender und rechtspolitischer Hinsicht nochmals auf und leitet aus den Abgrenzungsproblemen zwischen „reiner Auslegung und eigentlicher Fortbildung des Rechts“ her, es sei „wünschenswerth, dass irgend eine hoch stehende Gewalt vorhanden sey, in welcher beide Befugnisse vereinigt angetroffen werden“; Ansätze hierfür bieten ihm zeitgenössisch die Cour de Cassation (vgl. u. Fn. 285), historisch „der Prätor und die Juristen“ (also kumuliert, vgl. o. Rn. 21, 23). 196 Der Gemeinschaftsrechtler liest mit einem gewissen Vergnügen die Ausführungen zur Spannung zwischen Vorlagepflicht und Überlastung der Entscheidungsinstanzen: „Geist und Kenntnis werden bei dem Richter, dem die Auslegung gestattet ist, nicht einmal das Bedürfnis einer Anfrage entstehen lassen. In Justinians Reich mögen sich die Richter, denen er die Auslegung verboten hatte, durch Gedankenlosigkeit und Willkühr geholfen haben, ohne zu häufigeren Anfragen zu schreiten, als der Kaiser zu erledigen im Stande war“ (Savigny, System I, S. 309). – Zur Entscheidung neuer Fragen durch den Kaiser nach der constitutio Tanta: Mantovani, L’editto, S. 141.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

So lässt sich resümieren: Die Rechtsfortbildung ist auch nach dem späten Savigny in gewissen Grenzen gestattet,197 nur unterscheidet er sie nicht nach dem Wortlautkriterium von der Auslegung. Eine entsprechende Unterscheidung hat sich, wie im nächsten Abschnitt (V.) zu zeigen sein wird, auch im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts in Deutschland nicht sicher etablieren können. Es gibt also in der deutschen Rechtswissenschaft keine einheitlich in die Richtung dieses Kriteriums weisende Tradition; und, wie wir weiter sehen werden, auch in der französischen (VII.) sowie den Überschneidungsgebieten französischer und deutscher Tradition nicht (VIII.). Hier liegt ein historischer Grund dafür, dass es vermutlich nicht gelingen wird, die auf eben dieser Unterscheidung beruhende deutsche Methodenlehre zur Gänze nach Luxemburg zu „exportieren“198 – auch wenn die Rahmenbedingungen sich seit den Zeiten Friedrich Carls von Savigny verändert haben. Denktraditionen haben ihr Eigengewicht und wirken bisweilen auch „unterirdisch“ fort; 199 umso mehr, je weniger man sie sich bewusst macht.

V.

Deutsche Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert

1.

Voraussetzungen

Die Entwicklung bis in die ersten Jahrzehnte des BGB ist unübersichtlich und kann hier nur im Überblick nachgezeichnet werden.200 Es entstehen zahlreiche Streitfragen, aber keine einheitliche Linie zu unserem Problem, schon gar nicht in dem von Savigny angeregten Sinne. Dabei schlägt sich auch der Umstand nieder, dass die Analogie erst im frühen 19. Jh. überhaupt ihren Platz außerhalb des üblichen Kanons der Argumentationsfiguren und jenseits der Auslegung zu finden beginnt.201 Zuerst wird überhaupt eine Unterscheidung zwischen Auslegung und Analogie eingeführt, oft mit Andeutungen, die bereits in die Richtung der Wortlautgrenze weisen,202 oft auch

197 Vgl. Meder, Mißverstehen, S. 94 f. 198 Zugespitzt zum Problem – auch in Reaktion auf die Diskussionen der in der 1. Aufl. dieses Handbuches dokumentierten Tagung – Köndgen, GPR 2005, 105. 199 Diese Erfahrung hat Knütel in die Metapher vom „Gitter“ der Kodifikationen gebracht, durch das alles hindurchfließe, was die neuen Normen aufzufangen nicht geeignet seien (Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht (19. Aufl. 2008), § 1 Rn. 37, S. 12 f.); in ähnlicher Richtung mit Nachweisen aus der neueren Literatur Meder, JZ 2006, 477, 482 f. 200 Vgl. zunächst Schröder, Recht als Wissenschaft (2001), S. 218 ff. Im übrigen sei der Verweis auf eine spätere Publikation gestattet. Dort werden inbesondere zeitgenössische Spezialschriften zu diskutieren sein, die nicht rechtzeitig zu beschaffen bzw. auszuwerten waren. Weitere Hinweise bei Schröder, Recht als Wissenschaft (2001), S. 217 f. Aufschluss verspricht auch die neuere Sekundärliteratur zu einzelnen Pandektisten; vgl. nur Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid (1989, Ndr. 1999); Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“ (2004); Henkel, Begriffsjurisprudenz und Billigkeit. Zum Rechtsformalismus der Pandektistik nach G.F.Puchta (2004). 201 Oben Rn. 96 f. und nochmals Schröder, SavZRG – Germ. Abt. – 114 (1997), 1, 35–39. 202 Vgl. etwa Gönner, Deutsches Staatsrecht (1805), S. 23 (zur Analogie: „der Rechtssatz darf weder geradehin noch mittelbar in dem Gesetze schon liegen“).

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1. Teil: Grundlagen

unter Kritik an den bisherigen Kategorien der restriktiven, deklarativen und extensiven Auslegung 203 oder daran, dass diese Kategorien nicht entschlossen genug beseitigt würden 204; aber erst allmählich wird die Wortlautgrenze als maßgeblich identifiziert.205 Bisweilen erscheinen die Kategorien auch nebeneinander. 2.

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Überblick zu einzelnen Autoren

Hufeland kennt die Wortlautgrenze 206 und ausdrücklich diesseits derselben die drei Arten der Auslegung 207. Sachlich folgt daraus für ihn die Ablehnung jenes Terminus, der in manchen romanischen Rechten bis heute existiert: „Die Ausdehnung208 ist nie Auslegung; eins widerspricht dem anderen geradezu. Darum heben in dem so verstandenen Ausdruck ausdehnende Auslegung (sc. über die „mögliche Bedeutung der gesetzlichen Worte hinaus“) Beiwort und Hauptwort sich gegenseitig auf; es ist die reinste contradictio in adjecto.“ 209

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Dem folgen alsbald weitere Autoren, teils unter Berufung auf andere,210 teils unter Hervorhebung der Neuigkeit, die in ihrer Lehre liege.211 Da zugleich ein – wenngleich

203 Hingegen trägt noch deutlich später und in strafrechtlichem Zusammenhang Binding keine Bedenken, die Analogie nach gemeinem Recht für grundsätzlich zulässig zu halten und für die Anwendung des StGB eine Umgehung des Analogieverbotes „optima fide durch sog. ausdehnende Auslegung“ zu empfehlen: Binding, Handbuch des Strafrechts, Erster Bd. (1885), S. 219. 204 Vgl. etwa Schoemann, Handbuch des Civilrechts (1806), S. 71–75; günstiger zu Thibaut: S. 75 f. 205 So etwa bei Schoemann, Handbuch des Civilrechts (1806), S. 85 (wörtliches Zitat sogleich im Sachtext). 206 „Keine Auslegung kann über den Wortverstand hinausgehen, den nemlich die gesetzliche Vorschrift in ihrer jetzigen Stelle und Verbindung haben kann“: Hufeland, Lehrbuch des in den deutschen Ländern geltenden gemeinen oder subsidiarischen Civilrechts, I (1808), S. 23. 207 Hufeland, AaO S. 24: „Alle Auslegung (…) kann nach verschiedenen Graden des Umfangs, den der gewöhnliche Wortverstand hat, ausdehnend, bloss erklärend, oder einschränkend seyn“ (dort Verweis auf Zachariä und Thibaut). Hufeland begründet dieses Nebeneinander später ausführlich aus der Mehrdeutigkeit der Worte: Über den eigentümlichen Geist des römischen Rechts im Allgemeinen und im Einzelnen mit Vergleichungen neuer Gesetzgebung, I (1814), S. 62 ff. 208 Unterschieden von der ausdehnenden Auslegung innerhalb des Wortsinnes, die beibehalten wird: Hufeland, Lehrbuch des in den deutschen Ländern geltenden gemeinen oder subsidiarischen Civilrechts, I (1808), S. 24 (Nr. 36, unter Bezug auf Thibaut und Zachariae); ders., Über den eigentümlichen Geist des römischen Rechts im Allgemeinen und im Einzelnen mit Vergleichungen neuer Gesetzgebung, I (1814), S. 63. 209 Hufeland, Über den eigentümlichen Geist des römischen Rechts im Allgemeinen und im Einzelnen mit Vergleichungen neuer Gesetzgebung, I (1814), S. 64. 210 Der Sache nach, ausgehend von der in claris-Regel, Schweppe, Das römische Privatrecht in seiner heutigen Anwendung, Erster Bd. (4. Aufl. 1828), S. 36 ff. (S. 37: „jetzt ist man ziemlich allgemein damit einverstanden, dass die wahre Interpretation auf Ausmittlung dessen, was der Gesetzgeber dachte, zu beschränken sei“); auch begriffliche Trennung nach dem „möglichen Wortsinn nach dem weitesten oder engsten Gebrauche“ bei v. Wening-Ingenheim, Lehrbuch des Gemeinen Civilrechts, Bd. 1 (1822), S. 29 (unter ausdrücklicher Bezug-

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

nicht abschließendes212 – System des positiven Rechts postuliert wird, findet die Analogie nunmehr ihre Grundlage in logischen, nicht mehr in hermeneutischen Erwägungen.213 Freilich: Das sozusagen staatsrechtliche Moment, der Wunsch nach Kontrolle des Richters, nenne man dieses Moment nun positivistisch,214 gewaltenteilend oder etatistisch, wird erstaunlich selten angesprochen. Immerhin finden wir bei Schoemann 215 1806 die Sätze: „Nicht dem individuellen Gutdünken des vom Staate niedergesetzten Richters, sondern dem Urtheile der gesetzgebenden Gewalt, in so ferne es der Constitution seiner Rechte gilt, ist der Staatsbürger unterworfen: was der Gesetzgeber ausspricht, das ist die objectiv erkennbare Stimme des Staates und aller einzelnen Mitglieder desselben, durch deren Representanten verkündet. Diese alleingebietende Stimme der Regentschaft wird und kann nur vermittelst angenommener und ausgesprochener Sprachzeichen objectiv und sicher erkennbar seyn (…) Demnach besteht die Pflicht des interpretirenden Richters ausschliesslich in der Reconstruction des von der Gesetzgebung ausgesprochenen Gedanken; und der darin begriffenen verkündeten Regel; der Begriff der Interpretation lösst sich also in die nackte Entwicklung der gesetzlichen Vorschrift, so wie diese objektiv ausgesprochen ist, auf … Es folgt hieraus von selbst, dass es keine logische der grammatischen contradistinguierte Interpretation, keine Extensiv- keine Restrictiv- auch keine Interpretation nach dem Grunde des Gesetzes gibt.“

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214 215

nahme auf Hufeland und Schweppe); beide mit römischen Quellen, die dem einen oder anderen procedere zugeordnet werden. Vgl. Schaffrath, Theorie der Auslegung constitutioneller Gesetze (1842), S. 24 f.: „Auch bei der Auslegung eines Gesetzes darf man daher die Gründe und Mittel derselben oder der Erkennbarkeit des Willens der gesetzgebenden Gewalt nur aus dem G e s e t z e s e l b s t schöpfen. Diese nothwendige Begrenzung der Auslegung übergehen nicht nur fast alle Lehrer der Auslegung der Gesetze, sondern es verletzen sie auch alles Ausleger derselben. Alle, außer T hibaut (not. 1.) bemühen sich nur die principia cognoscendi, die Gründe und Mittel der Auslegung z u h ä u f e n , aber nicht, sie zu begrenz en“. (Der Verweis auf Thibaut führt zu dessen Theorie der logischen Auslegung von 1806, § 9.13, S. 27–41.) Im folgenden erklärt Schaffrath die Materialien für lediglich bestätigenden Wertes (S. 37 f.) und setzt sich mit denjenigen römischen Quellen auseinander, die üblicherweise für eine nicht strikt an den verba orientierte Auslegung herangezogen wurden (S. 42 f.). Nahezu alle relevanten Autoren des 19. Jahrhunderts lassen namentlich das Gewohnheitsrecht als Rechtsquelle zu. Vgl. Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“ (2004), S. 141–165 u.ö.; jetzt Meder, Ius non scriptum (2008; Rez. Stolfi, GPR 2009, 133; Neuaufl. 2009, non vidi). Schröder, SavZRG – Germ. Abt. – 114 (1997), 1, 34–38, 45–54 (namentlich zur Rolle Hufelands, Savignys und Kants; dazu jetzt näher Meder, Mißverstehen, passim). Vgl. etwa Hufeland, Über den eigentümlichen Geist des römischen Rechts im Allgemeinen und im Einzelnen mit Vergleichungen neuer Gesetzgebung, I (1814), S. 184 f. zur Analogie als zulässigem, von der Auslegung streng zu trennendem Mittel der „Ausdehnung“. Mit dem (jungen) Savigny und dem (späten) Hufeland ist es der „Wortverstand“, der die Grenze der Auslegung zieht, und das System, das den nunmehr hierdurch abgezirkelten Bereich der Analogie ausfüllt. Differenzierungen bei Schröder, FS Otte (2005), S. 571–586. Schoemann, Handbuch des Civilrechts (1806), S. 78 f.

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1. Teil: Grundlagen

Und weiter: „Die möglichste Sicherheit der Rechte der Unterthanen ist Hauptzweck, auf welchen eine gute Gesetzgebung mittelbar berechnet sein muss: darum kann allein die ausgesprochene Absicht des Gesetzgebers gesetzliche Norm seyn, aber keineswegs der Beweggrund, wenn er gleichwohl ausgesprochen ist, und eine andere, etwa weitere oder engere Absicht des Gesetzgebers, als die vermittelst der Sprachzeichen ausgesprochene ist, ahnen lassen dürfte.“216

115

Diese Position scheint geradewegs zur heutigen Betonung der Wortlautgrenze zu führen. Sie bleibt anscheinend jedoch isoliert. Das mag auch mit dem übermächtigen Einfluss Savignys zusammenhängen: Dieser schließt die von ihm selbst in den Methodenvorlesungen andeutungsweise geöffnete Tür zu einer Unterscheidung von Auslegung und Rechtsfortbildung nach der Wortlautgrenze im „System“ wieder. Dazu seien gleich noch einige Bemerkungen angeschlossen.

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Dogmengeschichtliche Kausalitäten bleiben im einzelnen zu überprüfen. Dafür genügt auch ein lückenloser Zitatnachweis nicht; wer Savigny positiv erwähnt, kann seine ganz eigenen Gründe gehabt haben, ihm zu folgen; wer ihn ausdrücklich ablehnt, kann auf anderem Wege zu verwandten Lösungen gekommen sein; und auch wer ihn nicht zitiert, hat manche seiner Schriften doch gewiss gelesen; und viele hatten ihn auch als Studenten gehört – für die Vorlesungen, soweit ihre Inhalte nicht in den „Beruf“ oder sonstige kleinere Schriften eingegangen waren, vor 1840 der einzige Verbreitungsweg. Savignys lange Phase ohne größere dogmatische Publikationen vor 1840 erlangt auch insoweit Bedeutung für die Rezeptionsgeschichte.217

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Dass Savigny im „System“ die ausdehnende Auslegung kennt, sahen wir bereits. In dieser Perspektive dient Analogie der Lückenfüllung; sie wird verstanden als „das Verhältniß der durch dieses Verfahren gefundenen Rechtssätze zu dem gegebenen positiven Recht“, durch die „wir jede wahrgenommene Lücke auszufüllen haben“.218 Damit freilich muss Savigny Auslegung im engeren Sinne und „Auslegung vermittelst der Analogie“219 voneinander abgrenzen; und hier kommt (auch der Sache nach) keine Wortlautgrenze zu Hilfe: Den Unterschied sieht Savigny im „wirklichen Gedanken“ des Gesetzes. Bei der ausdehnenden Auslegung berichtige der Jurist den „unrichtig gewählten Ausdruck eines Gesetzes aus dessen wirklichen Gedanken“, bei der Analogie fehle es an einem solchen Gedanken.220 Die Unterscheidung bezieht sich

216 217 218 219 220

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Schoemann, Handbuch des Civilrechts (1806), S. 84 f. Vgl. nochmals Fn. 63. Savigny, System I, S. 291. Savigny, System I, S. 293. Savigny, System I, S. 292 f. Zu der Frage, was der Rekurs auf den Gedanken rechtspolitisch bedeute, s. nochmals Rückert Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny (1984), S. 353 f.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

also auf die voluntas, nicht auf die verba legis. Das stößt, wie vielfach beobachtet worden ist, auf theoretische wie praktische Bedenken.221 Dennoch wurde Savignys Unterscheidung von Auslegung im engeren Sinne und „Auslegung vermittelst der Analogie“ vielfach aufgegriffen und weitergeführt, sowohl bei späteren Autoren der deutschen Pandektistik als auch im Ausland.222 Die folgende Übersicht kann nur diese Unterscheidung hervorheben. Eine systematische Untersuchung hätte sie in sonstige Spannungsfelder einzubetten, die bei Lektüre der pandektistischen Werke deutlich werden: Manche argumentieren stärker historisch und zum römischen Recht, andere mehr aus dem im 19. Jh. entstehenden System und auch zur Auslegung neuer Gesetze; manche lehnen sich (unter dem Schlagwort vom Willen des Gesetzgebers223) stärker an die Rechtsgeschäftslehre an,224 andere mehr an öffentlich-rechtliche Erwägungen; viele bringen Detailkorrekturen an der überkommenen Terminologie an, bleiben aber dem traditionellen Schema der Auslegungsformen (grammatisch, logisch usw.)225 in unterschiedlicher Genauigkeit treu, bisweilen in ausdrücklicher Auseinandersetzung mit Savigny. Auch das strenge oder billige Recht wird erörtert, weiterhin die Frage, ob die Analogie nicht ein Drittes sei, ein Phänomen zwischen Auslegung und Anwendung; und es erscheint die Spannung zwischen Richterbindung und Verbot der Rechtsverweigerung. Eine solche systematische Lektüre hätte namentlich neuere Forschungsergebnisse zur Rechtsquellenlehre der Pandektenwissenschaft und zu den realen historischen Grundlagen des Schlagworts von der „Begriffsjurisprudenz“ 226 beizuziehen.

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[bleibt frei]

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221 Vgl. nur Chanos, Begriff und Geltungsgrundlagen der Rechtsanalogie im heutigen juristischen Methodenstreit (1994), S. 21 f. 222 Zu Frankreich und Italien s.u. VII., VIII.3. 223 Dass hinter diesem Schlagwort um die Mitte des 19.Jahrhunderts zumeist keine kohärente Theorie steht, zeigt Schröder, Recht als Wissenschaft (2001), S. 224 f. 224 Vgl. bereits von Savigny, Pandektenvorlesung 1824/25, S. 60. Die antiken Quellen freilich legen hier eine gewisse Vorsicht nahe (o. Rn. 22), wie beispielsweise von Keller durchaus sah: Pandekten. Aus dem Nachlasse des Verf. hrsgg. von Emil Friedberg (1861), § 14, S. 26 Fn. 1 (zu D. 33,10,7,2; Cels. 19. dig.). Weniger vorsichtig sind dann manche Stimmen kurz nach Erlass des BGB. Bei Danz, Die Auslegung der Rechtsgeschäfte (2. Aufl. 1906), S. 85, steht der schöne Satz: „Wenn es sich um die Auslegung von Willenserklärungen des Gesetzgebers handelt, so spricht man von ausdehnender Auslegung und von Analogie (…)“. Für ein Beispiel ausführlicher Begründung dieser Parallelität vgl. Hölder, Kommentar zum Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs (1900), Einl. S. 16 ff., 20 (gegen die Unterscheidung von ausdehnender Auslegung und Analogie nach einer Wortsinngrenze); zu § 133, 299 f. 225 Eine weitere mit der unsrigen verbundene Frage ist die, ob man die logische Auslegung auch bei grammatischer Eindeutigkeit, also immer verlangt. Das bejahen von den im Folgenden Zitierten etwa Baron und Dernburg. 226 Vgl. nur Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“ (2004); Henkel, Begriffsjurisprudenz und Billigkeit. Zum Rechtsformalismus der Pandektistik nach G.F.Puchta (2004); Rückert, Rechtsgeschichte (2005), S. 122–139, 127–138. Christian Baldus

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1. Teil: Grundlagen

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Die von Savigny postulierte Art der Trennung zwischen Analogie und Auslegung vertritt auch Göschen.227 Erxleben228 lässt eine Berichtigung des Wortinhalts zu229 und hebt eine der römischen Lehre von der Auslegung der Rechtsgeschäfte230 entlehnte Formulierung hervor, die auch bei Puchta 231 später eine prominente Position einnehmen wird: „Und lässt sich zwar die Abweichung des Wortsinns von dem Willen des Gesetzes sicher erkennen, ist aber dieser Wille im Inhalt des vorhandenen Quellencomplexes nirgends in solcher Weise zum Vorschein gekommen, dass er rechtlich berücksichtigt werden kann, so gilt das Wort des Gesetzes nicht, weil es dem Willen des Gesetzgebers nicht entspricht, eben so aber auch der Wille nicht, weil er entweder überall nicht oder doch nicht in genügender Weise objectiv erkennbar geworden ist, und kann folgeweise das Gesetz selbst keine Anwendung finden.“232

121

Ebenso bleiben bei der überkommenen Einteilung der Auslegungsformen und der Zulässigkeit einer „ändernden“, „korrigierenden“ usw. Auslegung Mühlenbruch 233, Arndts 234 und Dernburg 235. Weitere Mittelpositionen finden sich etwa bei Ba-

227 Vorlesungen über das gemeine Civilrecht von Göschen. Aus dessen hinterlassenen Papieren Erxleben (Hrsg.), Erster Bd. (1838) §§ 20, 22 (S. 67–70, 75–80). Bemerkenswert ist, dass Göschen nur in diesem Punkte Thibaut kritisiert (S. 69 f.); generell wird das überkommene Schema der Auslegungsformen ausführlich referiert, aber punktuellen Einwänden gegenübergestellt. 228 Gegenüber der auf Göschens Vorlesungen zurückführenden Darstellung deutlich verändert; Erxleben, Einleitung in das römische Privatrecht (1854), § 14, S. 50–56. 229 Erxleben, Einleitung in das römische Privatrecht (1854), § 14, S. 53. 230 D. 34,5,3 (Paul. 14. quaest., Text nach Mommsen/Krüger): In ambiguo sermone non utrumque diximus, sed id dumtaxat quod volumus. itaque qui aliud dixit quam vult, neque id dicit quod vox significat, quia non vult neque id quod vult, quia id non loquitur. Zur ambiguitas vgl. in der neueren Romanistik zuletzt Baldus, Regelhafte Vertragsauslegung nach Parteirollen (1998), S. 683–693; monographisch Krampe, Die Unklarheitenregel (1983); ders. SavZRG – Rom. Abt. – 1983, 185–228; neuestens Staffhorst, Die Teilnichtigkeit von Rechtsgeschäften im klassischen römischen Recht (2006), S. 89. 231 Unten Rn. 126 f. 232 Erxleben, Einleitung in das römische Privatrecht (1854), S. 54. 233 Mühlenbruch’s Lehrbuch des Pandecten-Rechts (…), 4. Aufl. hrsgg. von Madai, Erster Theil (1844), § 53, S. 129 ff. (authentische, Usual- und doctrinelle Interpretation); § 58, S. 136 ff. (grammatische Interpretation als Grundlage, dem entschiedenen Willen des Gesetzgebers gegenüber aber nachrangig); jeweils ausgehend von der Notwendigkeit, dunkle Stellen auszulegen; vgl. auch § 60 (S. 139 ff.) zur grammatischen Auslegung, § 64 (S. 147 f.) zur Analogie; letztere in der Bearbeitung von Madais auch unter Verweis auf Savigny erläutert. 234 Arndts (später: A. Ritter von Arnesberg), Lehrbuch der Pandekten (6. Aufl. 1868), (vgl. noch die 10. und 11. Aufl., 1879/1883, jeweils besorgt von Pfaff und Hofmann), § 7, S. 8. Savignys Hermeneutik wird gleichwohl in Bezug genommen: § 6 Anm. 4 (S. 7 in der 6. Aufl.). 235 Dernburg, Pandekten, Erster Bd. (1884; vgl. von den weiteren Auflagen noch die 2. von 1888), §§ 34 f., 38, S. 73 ff., 84 f.: Dernburg argumentiert nicht zuletzt aus dem Geltungsgrund des jeweils angewandten Rechts; Auslegung nach dem Sinn entspreche der aequitas, solche nach dem Wort dem ius strictum; extensive Auslegung sei unterstellte Verwirklichung des gesetzgeberischen Willens, Analogie neues Recht. Ausdrücklich wendet sich Dernburg freilich gegen Windscheids (unten näher zu besprechende) Vorstellung, „hinter dem Sinne,

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

ron 236, Brinz 237 und Vangerow 238. Selten nur wird das Wortlautproblem übergangen.239 Nur wenige Monographien aus der Pandektenwissenschaft betreffen Methodenfragen; auf sie ist hier nicht näher einzugehen. Zu nennen sind die „Beiträge zur Hermeneutik des Römischen Rechts“ aus der Feder des Würzburger Professors J.J. Lang 240.

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So lässt sich die Hauptlinie der frühen Pandektenwissenschaft möglicherweise dahingehend lesen, Ergebnisse jenseits des Wortsinns seien zwar möglich, aber nicht mehr als Auslegung, sondern als systemgetragene Analogie – dies jedoch nur solange, als nicht die neuerliche Erweiterung des Auslegungsbegriffs (soweit man hier denn eine

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welchen der Gesetzgeber hat ausdrücken wollen, dessen vermeintlichen eigentlichen Gedanken hervorzuziehen, um so Fehler des Gedankens des Gesetzgebers zu korrigiren“ (S. 77, vgl. Fn. 11; etwas milder die 2. Aufl. von 1888, S. 77, unter Hinweis auf Kohler, und unverändert die 7. Aufl. 1902 sowie die 8. von 1911, fortgeführt von Sokolowski). Bei der Analogie wird namentlich der Systemgedanke betont (S. 84). Baron, Pandekten (3.Aufl. 1879, vgl. auch die 9. Aufl. 1896), § 6, S. 15–19: Man solle den Begriff „auslegen“ verwenden, weil „interpretieren“ römisch auch die Analogie umfasse; grammatische und logische Auslegung (diese bezogen auf Geschichte, Savigny, System I und Zweck der Normen) seien stets zu verbinden, die logische Auslegung finde also immer statt, und im Konfliktfall setze sich die logische als „Prüfstein der grammatischen“ durch. Brinz, Lehrbuch der Pandekten, Erster Bd. (2. Aufl. 1873), §§ 28 ff., 32 (S. 117–123, 124– 129): Unzweideutige Gesetze auszulegen sei „bloße Schularbeit“, die Einteilung in grammatische und logische Auslegung eine „Vermengung der Auslegung und Anwendung, dazu von Anlaß und Mittel“; die (sogenannte) extensive Auslegung sei analoge Rechtsanwendung, die restriktive Korrektur (S. 119), letztere von der Auslegung unterschieden und ausnahmsweise bei einem „logischen Fehlgriff“ des Gesetzgebers zulässig (S. 122 f.). Hinsichtlich der analogischen Schlussfolgerung (Interpretation, nicht Auslegung) betont Brinz die Generalisierung des analog anzuwendenden Satzes gegenüber der bloßen Ähnlichkeit; nicht erfasst sind der absichtlich (dann arg. a contrario) und der versehentlich (dann Korrektur) zu eng gefasste Satz; den Begriff der Lücke lehnt Brinz ab (S. 127 ff.). von Vangerow, Leitfaden für Pandekten=Vorlesungen, Erster Bd. (1848; vgl. auch Lehrbuch der Pandekten, Erster Bd. (7. Aufl. Neuausg., 1876) gleiche Paragraphenzählung), §§ 24 f., S. 37–44: Thibaut fasse die Auslegung zu weit, Hufeland zu eng; maßgeblich sei der Wille des Gesetzgebers; die Auslegung beginne bei der grammatischen, wenn aber der wirkliche Wille aus den Worten des Gesetzes nicht ermittelbar sei, dann komme man zur logischen; hier lässt Vangerow neben der deklaratorischen und restriktiven die extensive zu, wenn der Gesetzgeber sich „ungenauer Weise zu eng ausgedrückt“ habe; hingegen sei ein „von dem möglichen Wortsinn ganz verschiedenes Resultat“ nicht zulässig (S. 42, 40). Gegen Hofacker (nur für die interpretatio extensiva sei ein gleicher, für die Analogie hingegen ein lediglich ähnlicher Gesetzesgrund zu verlangen) lässt Puchta die Analogie nur bei Gleichheit der Gründe zu (S. 43). Savignys Vier-Elemente-Lehre hält Vangerow mit einigen anderen für überflüssig, weil logisches, historisches und systematisches Element nichts anderes seien als logische Auslegung im überkommenen Sinne (7. Aufl., S. 51). Nur Andeutungen finden sich bei Keller, Pandekten (1861) – der übrigens in der Bestimmung der Auslegungsformen als grammatisch, logisch, systematisch und historisch strikt Savigny folgt und die rechtspolitische Skepsis gegenüber der Richterfreiheit erwähnt, S. 26 f. –; ebensowenig festzulegen ist die (gründlich überarbeitete) Neuauflage von Lewis (1866), vgl. § 15, S. 41. Stuttgart 1857.

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1. Teil: Grundlagen

echte Zäsur zwischen frühem und spätem Savigny sehen will) eine solche Unterscheidung wiederum weniger dringlich erscheinen ließ.241

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Wie sich dies im einzelnen zum Rekurs auf den „Willen des Gesetzgebers“ verhielt, wie dabei Methode und Rechtspolitik zusammenspielten, kann hier wiederum nicht vertieft werden. Unklarheiten folgen namentlich daraus, dass dieser Wille in unterschiedlichem Maße durch personalisierende Formulierungen bezeichnet wurde, so dass bisweilen Assoziationen zur rechtsgeschäftlichen Auslegung aufkommen konnten.242

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Die weiteren Autoren des 19. Jahrhunderts fügen dem bisher Dargestellten wenig Neues hinzu. Das gilt selbst für Puchta. Er betont im Rahmen seiner Rechtsquellenlehre,243 für „das gesetzliche Recht“ sei „das bedeutendste Erkenntnismittel das Wort, in welches es gefasst, die Urkunde, in welcher es niedergelegt ist“, und weiter: „(…) der Sinn muss aus den Worten genommen werden können, er muss diesen gemäß seyn, denn Gesetz ist der in Worten ausgesprochene Wille des Gesetzgebers. Würde sich ergeben, dass der Gesetzgeber etwas ganz anderes gewollt, als was er ausgesprochen hat, so würde sein Wille nicht gelten, weil er nicht ausgesprochen ist, und die Worte nicht, weil sie den Willen des Gesetzgebers nicht enthalten“.244

241 Vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft (2001), S. 239 f. mwN zum zeitgenössischen Meinungsbild; auch zu Puchta (sogleich). 242 Vgl. nochmals Schröder, Recht als Wissenschaft (2001), S. 224 f. Ausdrücklich parallelisiert etwa Brinz, Lehrbuch der Pandekten (1873), § 29, S. 120. Ohne solche Parallelsetzung, gleichwohl personalisierend, behandelt Regelsberger, FG der Göttinger Juristen-Fakultät für Jhering (1892, Ndr. 1970), S. 52 die Frage (im Zusammenhang der analogen Ausdehnung von ius singulare, auch in Auseinandersetzung mit Savigny): Das Ergebnis der ausdehnenden Auslegung sei vom „Schöpfer des Gesetzes als Inhalt gewollt (…) Sie weist nach, dass bloss eine Unvollkommenheit im Ausdruck vorliegt. Die Analogie geht davon aus, dass sich der Gesetzgeber der grösseren Tragweite seiner Anordnung nicht bewusst war und sie folglich nicht gewollt hat. Jene schreitet nur über den Buchstaben, diese über den Willen des Gesetzes hinaus. Darum ist Analogie Anwendung, nicht aber Auslegung des Gesetzes.“ 243 Zu dieser zuletzt Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“ (2004) und Henkel, Begriffsjurisprudenz und Billigkeit. Zum Rechtsformalismus der Pandektistik nach G.F.Puchta (2004). Angesichts der Rolle, die Puchta Gewohnheitsrecht und Wissenschaft zuwies, bereitete es ihm selbstverständlich keine Probleme, dem geschriebenen Gesetz relativ enge Schranken zu ziehen. Deswegen ist seine Aussage mit Vorsicht zu verwerten: Für ihn waren Auslegung und Analogie des postiven Rechts eben nicht die einzigen Mittel zur Rechtsgewinnung (vgl. auch die folgenden Fn.). 244 Puchta, Cursus der Institutionen, Erster Bd. (1841), S. 40 f.; dort S. 37 die drei Rechtsquellen: unmittelbare Volksüberzeugung, Gesetzgebung, Wissenschaft. Die Wissenschaft erscheint hier nicht als (bloße) Quelle von Erkenntnissen über mögliche Analogien. Vielmehr: „Auch das Gewohnheitsrecht und das gesetzliche, in den Rechtssätzen nämlich, die einer inneren Begründung fähig sind, müssen diese durch die Wissenschaft erhalten; wir werden durch diese Behandlung erst, wodurch wir uns der inneren Gründe bewusst werden, des richtigen Verständnisses des unmittelbaren Volksrechts und der Gesetze sicher“ (S. 45). – Aus dem Gesagten folgt bei Puchta (in Abwendung von Savignys Lehre) eine klare Aufwertung der subjektiven Vorstellungen des Gesetzgebers gegenüber dem objektiven Ent-

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

Grammatische und logische Interpretation sind nach Puchta nicht trennbar.245 Die antipositivistische Grundhaltung ist mit Händen zu greifen, und so zeigt sich: Auch und gerade wer in der Pandektistik nicht an das Gesetz als primäres Mittel rechtlicher Steuerung glaubte,246 beschränkte sehr wohl die Tragweite der Wortlautauslegung. Wie Puchta sich genau die Analogie vorstellte, namentlich im Verhältnis zum System- und zum Konsequenzgedanken, wird in der Spezialliteratur noch erörtert.247

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Josef Kohler behält die Kategorien der restriktiven und extensiven Auslegung bei und zieht dem Wortlaut weite Grenzen,248 unterscheidet Auslegung im allgemeinen aber scharf von der Analogie als „Neubildung auf Grund von Rechtsprincipien, welche ihrerseits allerdings aus dem Gesetze abstrahirt sind“ 249.

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Insgesamt jedoch schlägt jedenfalls seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das Pendel gegenüber jener Wortlautorientierung zurück, die man in der Methodenvorlesung angedeutet sehen mag. In Savignys „System“ finden wir schon wieder einen recht großzügigen Umgang mit den Grenzen der Auslegung; 250 und so bleibt es im Wesentlichen bis zu Windscheid, in dessen Pandekten eine wirklich exakte Grenzziehung nicht auszumachen ist.

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Einiges spricht dafür, eben in der Zwiespältigkeit der Auslegungslehre des späten Savigny einen maßgeblichen Grund dafür zu sehen, dass sie nicht vollständig rezipiert wurde251 und warum seine Großzügigkeit im Umgang mit dem Gesetzeswortlaut eher Anklang fand als sein Begriff der Interpretation252 – in anderen Worten: warum

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stehungszusammenhang der Norm (und für die römischen Quellen ein Bedeutungsgewinn des Wortlauts); vgl. Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“ (2004), S. 361–368 (364, 367). Puchta, Cursus der Institutionen, Erster Bd. (1841), S. 42, freilich mit der Einschränkung, dass die sens clair-Regel richtigerweise besage, bei Identität von Wortlaut und Sinn dürfe von dem so gewonnenen Ergebnis nicht abgewichen werden. Vgl. noch den Hinweis bei Puchta, Cursus der Institutionen, Erster Bd. (1841), S. 40, es sei „eine bloße Illusion, wenn man geglaubt oder behauptet hat, das Recht bloß dadurch, dass es in die Form von Gesetzen gebracht wird, gewisser, unbestrittener, und für Jedermann erkennbarer zu machen“. Vgl. Henkel, Begriffsjurisprudenz und Billigkeit. Zum Rechtsformalismus der Pandektistik nach G. F. Puchta (2004), S. 86–106 (die Aussagen S. 99 zum antiken Juristenrecht, in dessen Tradition Henkel, ebd., S. 97 ff., Puchta sieht, wären weiter zu diskutieren; ebenso S. 158 zur Regel ambiguitas contra stipulatorem). Umfassend auch zum Kontext Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“ (2004), S. 205, 222–230, 306 ff., 416 ff., 427–433; 361–368 u.ö. zur zentralen Abweichung von Savigny: Puchta privilegierte den Willen des historischen Gesetzgebers. Kohler, GrünhutsZ 13 (1886), 1, 42–47. In seiner Einführung in die Rechtswissenschaft (5. Aufl. 1919) spielt das Thema übrigens keine nennenswerte Rolle. Kohler, GrünhutsZ 13 (1886), 1, 48 f.; sodann (bis S. 56) zu fehlerhaft gezogenen Analogien. Oben Rn. 100. Schröder, Recht als Wissenschaft (2001), S. 222; oben Rn. 50. Schröder, Recht als Wissenschaft (2001), S. 223.

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1. Teil: Grundlagen

Savigny auch in Deutschland hier nicht so stark prägen konnte wie in vielen anderen Feldern.

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Bei Windscheid finden wir, wie so oft, die meisten Traditionen der Pandektenwissenschaft gebündelt, freilich unter geringem argumentativem Aufwand und in geradezu auffälligem Bemühen darum, nichts Neues zu schaffen: Die grammatische Auslegung ist die „auf die Sprachgesetze gegründete“, ihr steht die logische gegenüber.253 Die logische Auslegung hat eine gegenüber der grammatischen berichtigende Funktion (als einschränkende, ausdehnende, abändernde Interpretation). Hier nun sieht sich Windscheid der zeitgenössischen Streitfrage gegenüber, ob eine abändernde Auslegung überhaupt zulässig sei, wiewohl die Worte des Gesetzgebers sich mit dem Sinn nicht deckten.

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Er greift Puchtas oben erwähnte Formulierung254 auf, um eine nicht ganz klare Mittelposition einzunehmen: „Nur muss, was die abändernde Auslegung angeht, die Beschränkung hinzugefügt werden, dass auch sie, in gleicher Weise wie dieß die einschränkende und ausdehnende Auslegung thut, den Ausdruck des Gesetzgebers immer nur in dieser oder jener einzelnen Beziehung verbessern kann; entsprechen die von dem Gesetzgeber gebrauchten Worte dem Sinne, welchen er hat ausdrücken wollen, überhaupt nicht, so gilt zwar nicht, was er gesagt hat, weil er es nicht hat sagen wollen, aber auch nicht, was er hat sagen wollen, weil er es nicht gesagt hat.“ 255

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Was „überhaupt nicht entsprechen“ bedeutet, sagt Windscheid nicht. Er führt aber im Anschluss aus, „die höchste und edelste Aufgabe der Auslegung“ sei es, „hinter dem Sinne, welchen der Gesetzgeber hat ausdrücken wollen, dessen eigentlichen Gedanken hervorzuziehen“; dies sei Auslegung und als solche zulässig, weil nur ausgesprochen werde, was der Gesetzgeber „selbst ausgesprochen haben würde, wenn er auf die Punkte, welche er sich nicht zum Bewusstsein gebracht hat, aufmerksam geworden wäre“, immer unter der Voraussetzung, dass „in der vom Gesetzgeber abgegebenen Erklärung, wenn auch kein vollständig entsprechender Ausdruck seines eigentlichen Gedankens, doch jedenfalls ein Ausdruck überhaupt gefunden werden kann“ 256. Die hypothetische Erwägung zum „Bewusstsein“ des Gesetzgebers jedenfalls gleicht auffällig derjenigen, die Savigny im „System“ bekämpft hatte.257

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Dass dieses Vorgehen von der zuvor beschriebenen logischen Auslegung nicht klar abzugrenzen sei, sagt Windscheid selbst.258 Dass man es nach anderer Meinung auch als 253 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1867), § 21, S. 51; 54: „Eine jede Auslegung, welche über das durch Anwendung der Sprachgesetze gefundene Resultat hinausgeht, pflegt man eine logisc h e zu nennen“. 254 Zitiert ist Puchta hier nicht. 255 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1867), § 21, S. 53. Naheliegenden Verbindungen zur Rechtsgeschäftslehre ist hier nicht nachzugehen (vgl. Rn. 124). 256 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1867), § 22, S. 54. Wiederum stellt sich die Frage nach rechtsgeschäftlichen Parallelen (etwa im Sinne einer „Andeutungstheorie“). 257 Oben Rn. 101. 258 Wie vor, S. 55: „(…) die Frage: hat der Gesetzgeber nicht gesagt, was er hat sagen wollen, oder hat er nicht gedacht, was er hat denken wollen? wird sehr häufig nicht mit Sicherheit beantwortet werden können.“ In Fn. 2 folgen Beispiele.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

(Gesetzes-)Analogie bezeichnen könne,259 referiert er ohne weitere Kritik als „Ausdehnung des Gesetzes wegen Gleichheit des Grundes“, den man auch Prinzip nennen könne.260 Dann erst und getrennt hiervon, nämlich bei der Rechtsanalogie, erscheint die Gesetzeslücke als Analogievoraussetzung.261 Windscheid bleibt also an der zentralen Stelle unpräzise. Die folgenden Entwicklungen gehen denn auch stärker von anderen Spätpandektisten aus, die sich darum bemühen, die Erkenntnisse des 19. Jahrhunderts zu sichten und zu bündeln, so Dernburg 262 und Regelsberger 263. Vor der Dogmatisierung einer Wortlautgrenze hüten aber auch sie sich – nicht zuletzt deswegen, weil auch ihre Methodenlehre von der Auslegung des justinianischen Rechts ausgeht, mögen auch Beispiele aus dem zeitgenössischen positiven Recht bereits bei ihnen zu finden sein.

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Eine entscheidende Zäsur bildet dann das Inkrafttreten des BGB. Mit diesem Ereignis endet für Deutschland legislatorisch das 19. Jahrhundert. Die Wissenschaft hatte das neue Recht teilweise schon antizipiert, wie eine Vielzahl von vergleichenden Dissertationen zum alten und neuen Recht belegt.264 Die Praxis stellte sich unterschiedlich schnell, insgesamt aber ohne größere Probleme auf die neue Lage ein. Nun galt ein umfassendes und modernes Gesetz, geschaffen von einem konstitutionellen Gesetzgeber. Damit wurden viele Erwägungen hinfällig, die sich bis 1900 auf das justinianische „Gesetz“ bezogen hatten; es entstand mehr Raum, auch in der Methodenlehre, für die theoretischen Vorstellungen der Zeitgenossen vom Recht. Das wird zu Beginn des nächsten Kapitels kurz zu skizzieren sein (Rn. 142 f.).

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Welche Rolle das pandektistische Traditionsgut für die weiteren methodologischen Entwicklungen noch spielte, ist bislang nicht vollständig ermittelt. Zu beachten ist jedenfalls eine doppelte Abwendung auf dogmatischer Ebene: Es war nicht nur ein großer Teil der Wissenschaft vom Zivilrecht, der sich jetzt verselbständigte und nicht mehr historisch – im Wesentlichen also pandektenrechtlich – verstehen wollte; es war

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259 Die Rechtsanalogie bespricht er im folgenden § 23. 260 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1867), § 22, S. 56. 261 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1867), § 23, S. 57. Das späte 19. Jahrhundert streitet gerade im hier berührten Feld intensiv über Begriffe; vgl. im Zusammenhang des ius singulare über den „ganz unglückliche[n] Ausdruck ,Gesetzesanalogie‘ “ Eisele, JherJb (1885), 119, 124 f.; der Angriff richtete sich vor allem gegen Wächter, dessen Gegenüberstellung von Rechts- und Gesetzesanalogie sich jedenfalls begrifflich durchsetzen sollte (vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft (2001), S. 255). 262 Vgl. Dernburg, Pandekten (1884), I S. 73–77, vorsichtig: die extensive Interpretation „unterstellt dem Gesetz Dinge, welche der Wortsinn nicht zu erfassen scheint“; aber „der Interpret würde auf eine schlüpfrige Bahn gerathen und seine Aufgabe verkennen, wenn er dieselbe darin suchen wollte, hinter dem Sinne, welchen der Gesetzgeber hat ausdrücken wollen, dessen vermeinten eigentlichen Gedanken hervorzuziehen, um so Fehler des Gedankens des Gesetzgebers zu korrigieren“ (mit Fn. 11: ausdrücklich gegen Windscheid, vgl. o. Rn. 135). 263 Regelsberger, Pandekten (1893), I S. 140–161 (aber noch nicht mit der heutigen Wortlautgrenze, vgl. S. 159 f.). Vgl. o. Fn. 242. 264 Vgl. Fn. 267.

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1. Teil: Grundlagen

auch ein guter Teil der Wissenschaft vom römischen Recht, der sich nicht mehr mit geltenden Normen befassen wollte. Diese letztere Tendenz, in anderen Ländern schon früher anzutreffen, ermöglichte neue Erkenntnisse in der Rechtsgeschichte, trug aber auch zum Geschichtsverlust der Zivilistik bei.265 Die spezifisch methodologischen Konsequenzen dieser Auseinanderentwicklung bleiben zu erforschen. 3.

Grundlinien

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Die überkommenen Kategorien von grammatischer und logischer, deklaratorischer, extensiver und restriktiver Auslegung werden bei den meisten Autoren beibehalten. Savignys vier Kategorien werden nur von einigen Autoren rezipiert, von anderen ausdrücklich abgelehnt und von wieder anderen in das alte Schema eingebaut. In der Frage, ob ein eindeutiges Ergebnis der Wortlautauslegung die logische entbehrlich mache oder gar verbiete, nimmt die Zustimmung zu Savignys These vom Miteinander aller Methoden im Laufe der Zeit zu, oft unter Hinweis auf die begrenzte Leistungsfähigkeit der Sprache. Das ist ein weiteres Indiz für die Unsicherheit in der Wortlautfrage: Wo präzise Kriterien nicht gewonnen werden können oder sollen, flieht der Jurist gern in eine „Gesamtbetrachtung“. Die Abgrenzung zwischen ausdehnender Auslegung und Analogie wird oft diskutiert, orientiert sich aber nur bei wenigen an einer Wortlautgrenze. Eher wird zunächst abgehandelt, was extensive Interpretation sei, und sodann die Analogie als Ähnlichkeitsschluss eingeführt. Verbreitet ist die Formulierung, bei der Analogie gehe der Rechtsanwender auch über den Willen des Gesetzgebers hinaus. In einem Wort: Es zeigt sich ein dogmatisch nicht überzeugend bewältigtes Nebeneinander von ausdehnender Auslegung und Analogie.

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Die Vorstellung, eine strenge und rechtssichere Abgrenzung zwischen beiden Phänomen sei prägend für die deutsche Rechtskultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, trifft also nicht zu; auch nicht für jene Mehrheitsströmung, die es ausdrücklich ablehnte, den Richter im Sinne der Freirechtsschule weithin von der Normbindung freizustellen.

VI. Fortwirkungen im 20. Jahrhundert 142

Die strenge Betonung des Unterschiedes von Auslegung und Analogie setzt sich erst unter dem BGB wirklich durch, und auch dies nicht ohne Debatten. Die frühen Lehrbücher und Kommentare können an dieser Stelle ebensowenig verfolgt werden266 wie 265 Vgl. R. Zimmermann, FS Seiler (1999), S. 1–39. 266 Hier besteht Forschungsbedarf, ebenso wie zu den zeitgenössischen Versuchen, die dogmatischen Umbrüche von 1900 durch vergleichende Untersuchungen (s. Rn. 139) zu bewältigen, aber auch zu beeinflussen. Dazu ist am Heidelberger Institut eine Datenbank im Aufbau. Die Lehrbuchliteratur reflektiert die kodifikationsbedingten Veränderungen durchaus, ändert deshalb aber nicht notwendig ihre methodischen Kategorien; vgl. statt aller Crome, System des Deutschen Bürgerlichen Rechts (1900), S. 96–108. Noch Enneccerus schreibt, nach Warnungen vor „Wortinterpretation und Formalismus“ (S. 113): „Die Analogie unterscheidet sich begrifflich scharf von der ausdehnenden Auslegung. Diese stellt nur den Ge-

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

der Beitrag der Freirechtsschule zu unserem Problem. Den derzeitigen Erkenntnisstand hat jüngst Schröder resümiert: 267 Die Koexistenz von subjektiver und objektiver Auslegungstheorie 268 im frühen 20. Jahrhundert erkläre sich aus dem Nebeneinander der zeitgenössischen Rechtsbegriffe. Zwar habe die Mehrheit der Autoren zu einem rechtstheoretischen Voluntarismus tendiert. Doch finde sich innerhalb dieser Orientierung zum ersten eine objektivistische Tendenz, wo das Recht als Versuch begriffen werde, Vernunft und Gerechtigkeit zu realisieren („idealistische Willenstheorie“, so bei einigen Freirechtlern). Dieser Richtung sei es freilich schwer gefallen, konsensfähige Maßstäbe zu finden. Zum zweiten habe die Auffassung des Rechts als eines kausal erklärbaren sozialen Phänomens subjektivistische Ansätze gefördert („soziologische Willenstheorie“, namentlich in der Tübinger Schule der Interessenjurisprudenz). Die Reine Rechtslehre schließlich in ihrer „unpolitischen“ Selbstbeschränkung habe auch der juristischen Auslegung nur geringen Raum gegeben. Das RG, um die frühe Praxis kurz zu skizzieren, hat sich gelegentlich zum Problem geäußert, schon vor 1900. So lehnte es in seinem Urteil vom 28. April 1882 die Anwendung einer patentrechtlichen Norm auf einen nicht geregelten Fall ab; nicht unter Hinweis auf die Wortlautgrenze, sondern auf den Ausnahmecharakter der Norm (greift also den alten und zweifelhaften Satz exceptio est strictissimae applicationis 269 danken des Gesetzes gegenüber dem zu engen Ausdruck dar; die Analogie dagegen entwickelt den Gedanken weiter, sie ist eine Fortbildung des Rechts in der vom Zwecke eingeschlagenen Richtung. Im Einzelfalle wird freilich oft zweifelhaft bleiben, ob es sich noch um ausdehnende Auslegung oder schon um Analogie handelt“ (Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Einleitung, Allgemeiner Teil (12. Bearbeitung 1928), S. 117). Die Kommentatoren beschränken sich bisweilen im wesentlichen auf allgemeine Bemerkungen und Verweisungen (so die Einleitung zum Planck’schen Kommentar (4. Aufl. 1913), S. XLIV ff.). 267 Schröder, FS Eisenhardt (2007), S. 125–137; vgl. auch ders. Rechtsgeschichte 2008, 160–175. 268 Zu hermeneutisch und historisch begründeten Zweifeln am Gegensatz von subjektiver und objektiver Theorie vgl. Meder, Grundprobleme, S. 36 f.: Weil der Interpret produktiv tätig ist, führt die Antithese zwischen Subjektiv und Objektiv in die Irre; dass er produktiv tätig ist, ist für Savigny kein Problem, denn er kennt nicht nur das gesetzte Recht als Rechtsquelle (zum letztgenannten Punkt näher Meder, Ius non scriptum (2. Aufl. 2009) nach Reg.). Das Gemeinschaftsrecht kann hier anknüpfen, und zwar von den gemeinsamen Überlieferungen der Mitgliedstaaten und vom Richterrecht des EuGH her. 269 Oder: singularia non sunt extendenda (nicht „extenda“, vgl. Henninger, Europäisches Privatrecht (Zitate nach Reg.). Vgl. Liebs, Römische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter (7. Aufl. 2007), Nr. 40, S. 220 (mit verwandten brocardica); Domingo/Rodríguez Antolín, Reglas jurídicas y aforismos (2000), § 2 Nr. 628, S. 125 = dies./Ortega, Principios de Derecho Global (2003) Nr. 691, S. 227. Zweifelhaft ist der Satz vor allem deswegen, weil die entscheidende Weichenstellung in der Bestimmung dessen liegt, was Ausnahme sein soll. Vgl. in diesem Band, Riesenhuber, § 11 Rn. 61–66; Baldus, Regelhafte Vertragsauslegung nach Parteirollen (1998), S. 120 ff.; aus der dort zitierten Lit. namentlich Schilling, EuR 1996, 44–57. Andere Begründung bei Würdinger, JuS 2008, 949, 950: Dynamik der Rechtsordnung, Einzelfallgerechtigkeit; der Satz sei falsch. Vorsichtiger Schneider, JA 2008, 174–177: Umkehrschluss und keine Analogie, wenn Wortlaut oder Systematik dies verlangen. Die bei Würdinger (S. 949 Fn. 6) angeführten Papinianstellen (23. quaest., D. 41,2,44,1; 9. resp., D. 40,5,23,3) beziehen sich auf Fragen des ius singulare, das nach dem oben Rn. 12 ff., 19 Gesagten nicht mit der Ausnahme in einer systematisch gefassten Rechtsordnung gleichgesetzt werden kann. Näher zum ius singulare Wubbe, FS Waldstein (1993), S. 451–469. Christian Baldus

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auf).270 In der Entscheidung vom 9. Oktober 1888 verlangt es ohne weitere Problematisierung für die Gesetzesanalogie „die wesentliche Gleichheit des vom Gesetze entschiedenen Falles (…) mit dem, auf den dasselbe zur analogen Anwendung kommen soll“.271 Das Urteil vom 2. Februar 1889 schließlich betrifft Konkursrecht, also eine relativ junge Norm gesetzten Rechts, und hier die Frage einer Gleichstellung von Sicherungsübereignung und (geregeltem) Pfandrecht, also ein Umgehungsproblem; das RG äußert sich in untypischer Breite und Grundsätzlichkeit zu den Grenzen gesetzlicher Konkretisierung,272 zieht hieraus aber keine abstrakten Schlüsse für die Technik der analogen Rechtsanwendung.273

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Der Nationalsozialismus bewirkte auch im Felde der Methodenlehre einen Verfall der deutschen Rechtskultur, die bis dahin große Teile Europas beeinflusst hatte. Es ist umstritten, ob das prägende Phänomen im pervertierten Gebrauch von Auslegungstechniken274 oder in schlicht falscher Rechtsanwendung275 gelegen hat. Dies zu klären, muss vor allem den seit einiger Zeit laufenden systematischen Feldstudien über die Rechtsprechung einzelner Gerichte überlassen bleiben.276 Zentral ist jedenfalls der Aufstieg der Generalklauseln zu Instrumenten einer politisierten (Un-)Billigkeitskor-

270 RGZ 7, 62, 64. 271 RGZ 21, 185, 187. 272 „Es ist eine für den Gesetzgeber nicht erfüllbare Aufgabe, jedes allgemeine Gesetzesprinzip mit solcher Klarheit in einem Satze auszusprechen, dass sich aus diesem Satze durch einfache Schlussfolgerung die Konsequenzen für alle besonders gearteten, von dem betreffenden Prinzipe beherrschten Fälle entwickeln lassen. Es ist ferner nicht die Aufgabe des Gesetzgebers, für jedes sich gestaltende Lebensverhältnis eine besondere Norm zu setzen. Es ist schließlich nicht des Gesetzgebers Sache, an alle juristisch-technisch möglichen Formen zu denken, vermöge welcher (einer Rechtsprechung,welche an dem Buchstaben des Gesetzes haftet, gegenüber) die Ziele des Gesetzes vereitelt werden könnten. Es ist vielmehr Sache der Jurisprudenz und vor allem Pflicht der (die Jurisprudenz mit unmittelbar in die Lebensverhältnisse eingreifender Kraft bethätigenden) Judikatur die (nicht in einer allgemeinen Norm konzentriert in dem Gesetze ausgesprochenen) Grundprinzipien des Gesetzes zu Tage zu fördern und auf die im Leben hervortretenden, im Gesetze nicht besonders hervorgehobenen, unter das betreffende Prinzip fallenden Fälle anzuwenden, namentlich aber nich[t] zu dulden, dass im öffentlichen Interesse wurzelnde Rechtsprinzipien in ihrer lebendigen Wirkung, sei es absichtlich vereitelt, sei es auch nur objektiv gelähmt werden durch Rechtsakte, welche (trotz Verschiedenheit in der juristisch-technischen Form) im wesentlichen dasselbe sachliche Resultat (in bezug auf die bestimmten für die Erreichung der Ziele des Gesetzes relevanten Beziehungen für das praktische erzeugen, gegen welche (…) das Gesetz Verbote gerichtet hat (…)“. 273 RGZ 24, 45, 49 f. 274 So die bekannte These von Rüthers: zusammengefasst in seiner Rechtstheorie, S. 358–361, Rn. 557–562 mwN. 275 Dafür Luig, NJW 1992, 2536–2539. 276 Vgl. statt aller Arntz/Haferkamp/Szöllösi-Janze, Justiz im Nationalsozialismus: Positionen und Perspektiven (2006), weiterhin http://www.uni-koeln.de/jur-fak/inp/jik/doktorarbeiten. html.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

rektur.277 Ein klassisches Beispiel ist die Karriere des § 242, der im römischen Recht keineswegs ein „das ganze Rechtsleben beherrschendes Prinzip“ darstellte (sondern ein spezifisches Instrument für die Konsensualverträge).278 Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer oft beschriebenen Kontinuität 279: Nicht zuletzt weil die Protagonisten zu einem guten Teil dieselben waren wie vor 1945, blieben auch Kernelemente ihres Umgangs mit dem Zivilrecht erhalten, bisweilen mit terminologisch variierten Begründungen. Weder zeigte sich eine Neufundierung der Methodenlehre aus der kurzlebigen „Renaissance des Naturrechts“ in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts, noch gelang es neuen Systementwürfen im Gefolge der Auseinandersetzungen von 1968, ein anderes Verständnis des Verhältnisses von Recht und Interpret durchzusetzen. Was speziell das Verhältnis von Auslegung und Analogie angeht, finden sich sowohl an der Wortlautgrenze orientierte Konzepte als auch solche, die andere Gedanken des 19. Jahrhunderts (teilweise wörtlich) aufnehmen280. Wissenschaft und Praxis tendierten jedenfalls dazu, Kontinuität mit dem Gesetz und mit seinen Auslegungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts zumindest zu behaupten; je theoretischer abweichende Konzepte281 fomuliert wurden, desto weniger Einfluss hatten sie auf die Praxis. Das gilt selbst für international so einflussreiche Ansätze wie den von Kelsen formulierten.282 Aus der Sicht einer praktischen Methodenlehre (oben Rn. 17) können sie also vernachlässigt werden.

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Es blieb im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts nach Konsolidierung des Rechtsstaates bei den angeblich savignyanischen „vier Auslegungsmethoden“ Wortlaut, Geschichte, System und télos, wobei von diesen Kanones der geschichtliche als nachrangig283 galt und die Dubiosität der Wortlautgrenze in der Praxis selten thematisiert wurde. Das spricht dafür, dass die Praxis ein Instrument wie die Wortlautgrenze braucht und dass eine strikte Rückbindung jedenfalls an Gesetzgebungsmaterialien

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277 Dazu etwa Haferkamp, Das Bürgerliche Gesetzbuch während des Nationalsozialismus und in der DDR (2005), S. 17 ff. Lange unbeachtet blieb die Rechtsetzung im Nationalsozialismus. Diese Lücke füllt jetzt Mertens’ gleichnamige Monographie (2009), die auch über das engere Thema hinaus wesentliche Aspekte der NS-Rechtsgeschichte erschließt. Über die Generalklauseln dort S. 98–105. Vom selben Autor vgl. zu den Generalklauseln im 19. Jh. Mertens, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen (2004), S. 375–380. Zur heutigen europäischen Methodendiskussion Baldus/Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht (2006), historisch dort Andrés Santos, S. 93–114. 278 Dazu am Beispiel des Eigentumsschutzes MünchKomm-Baldus, Vor § 985 BGB Rn. 24–28; § 985 BGB Rn. 65–73; § 1004 BGB Rn. 116. 279 Vgl. Rüthers, Rechtstheorie, S. 365, Rn. 373. 280 Vgl. etwa für eine „ausdehnende Auslegung“ jenseits der Wortlautgrenze (aber innerhalb des gesetzgeberisch Gewollten) Bartholomeyczik, Die Kunst der Gesetzesauslegung (2. Aufl. 1960), S. 79 ff. 281 Hier nicht im Einzelnen nachzuweisen. 282 In der Reinen Rechtslehre (2. Aufl. 1960) erklärt Kelsen knapp (und konsequent zu seinen Prämissen) die „sogenannten Interpretationsmethoden“ einschließlich der Analogie für wertlos (S. 349 f.). 283 Die vieldiskutierte Rangfrage resultiert aus den Problemen, die ein fester Kanon erzeugt. Repräsentativ für die in Deutschland stilprägenden Debatten Canaris, FS Medicus (1999), S. 25–61. Christian Baldus

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1. Teil: Grundlagen

für praktische Zwecke nicht taugt. Gegenpositionen284 zu dieser Hintanstellung des konkreten Gesetzgeberwillens, die vor dem Missbrauchspotential der „objektiven“ Auslegung ex nunc nach dem télos warnen, konnten sich nicht durchsetzen. Geschichtlich lässt diese Entwicklung sich lesen als Ausdruck eines Grundvertrauens in Richter und kodifiziertes Recht: nicht der schlechteste Befund.

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Die Praxis gewann erst durch den zunehmenden Einfluss des Europarechts in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts stärkeres Interesse an der Methodendiskussion.285 Da den Vorgaben des EuGH nicht zu entrinnen war und da, positiv formuliert, manche Entscheidungen auch erst unter diesem Einfluss möglich wurden, suchte man die Neuigkeiten im überkommenen System zu begreifen und handhabbar zu machen. Relativ zügig setzte sich die Position durch, dass auch aus Gemeinschaftsrecht keine Berechtigung folgt, gegen innerstaatliche Methoden zu entscheiden (sondern dass im Extremfall bei national richtigen, europarechtlich aber falschen Urteilen Staatshaftung eintritt).286 Was aus der europarechtlichen Überformung für den Methodenkanon insgesamt folgt, ist Thema dieses Bandes. Speziell zur sogenannten historischen Auslegung vgl. Rn. 209 ff., 218–222.

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Savignys Gedanken werden mithin erst im 20. Jahrhundert in gewisser Weise und nur in gewisser Weise zu Ende gedacht (wie es auch in anderen Feldern geschehen ist); mit allen Folgeproblemen, deren bekanntestes die Frage ist, wie denn eine – einmal akzeptierte – Wortlautgrenze rechtslogisch und rechtspraktisch zu bestimmen sei. Wo und wie genau möglicherweise die vorsavigny’sche Hermeneutik fortwirkt, ist hier nicht zu behandeln.

VII. Französische Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert 150

Unter dem Code civil kam es zunächst zu einer Neuorientierung der Rechtswissenschaft. Man spricht traditionell von der école de l’exégèse, welche das gesamte 19. Jh. beherrscht und einem sowohl ahistorischen als auch antisystematischen Legalismus gehuldigt habe. An der Richtigkeit dieses Bildes bestehen mittlerweile erhebliche

284 So angelegt Rüthers, Rechtstheorie, passim; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1–36. 285 Weiterführend zu dieser Sichtweise N. Graf Vitzthum, GPR 2009, 129–132. Sie dürfte es sein, die auch über die außereuropäische Verwertbarkeit der in Europa erzielten Ergebnisse entscheidet; vgl. die Besprechung aus Lateinamerika, wo vielleicht das wichtigste Forum für neuere europäische Entwicklungen liegt: Nordmeier/Wingert Ody, Revista de Direito do Consumidor 69 (2009), 385–396. 286 Nicht gelöst ist mit dieser – richtigen – Grundentscheidung das bisweilen erscheinende Folgeproblem einer Wettbewerbsverzerrung zwischen Privaten durch falsche Rechtsanwendung, die dann nur durch Schadensersatz kompensiert wird, ohne dass der rechtswidrig Begünstigte seinen Vorteil hergeben müsste. Dazu ausführlich Baldus/Becker, EuR 1999, 375–394. Fälle kommen vor allem aus dem Bereich des Bereicherungsrechts bei Beihilfenrückforderung; vgl. Tereskiewicz, GPR 2010, 11–15.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

Zweifel;287 für unsere Zwecke ist jedenfalls wichtig, dass in die Hochzeit der exegetischen Schule ein zentraler Transfer aus der deutschen Rechtswissenschaft fällt, nämlich die Übersetzung des Handbuches zum französischen Zivilrecht von Zachariä von Lingenthal durch Aubry und Rau (1. Auflage 1838), aus der Schritt für Schritt das stilprägende Lehrbuch der Epoche wurde. Zachariä hatte auch im Handbuch im Wesentlichen die seinerzeit (jedenfalls vor Savigny) üblichen Kategorien übernommen: grammatische und logische Auslegung, letztere in der bekannten Dreiteilung.288 Er grenzt dann zwar formal von der Analogie ab, nicht aber nach dem Kriterium einer Wortlautgrenze: „Ausdehnende Auslegung“ soll auch die Anwendung des Gesetzes seinem Grunde nach, über den „Wortverstand“ hinaus, sein; doch wird begrifflich unterschieden: 289 Ein Anderes ist es, die Gesetze auslegen, ein Anderes, aus ihnen die Folgerungen ziehn, die sich aus denselben entweder unmittelbar oder mittelst eines Schlusses ableiten lassen; – so oft auch Beides verwechselt worden ist. (…) Der Schluss der Analogie. Was die Gesetze für einen bestimmten Fall verfügen, ist auch für andere diesem ähnliche Fälle anwendbar. Jedoch wird zur Anwendbarkeit dieses Schlusses nicht nur eine vollkommene Aehnlichkeit der Fälle, sondern auch das vorausgesetzt, dass die Verfügung nicht von den allgemeinen Grundsätzen des Rechts (nichta jure communi) abweiche.

287 Grundlegend Bürge, Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert (1991), aktualisiert und synthetisiert in: ders., RTD civ. 2000, 1–24; weitere Nachweise bei Kaiser, Rückwirkender Vermögensübergang? (2005), S. 169 f., namentlich: Gläser, Lehre und Rechtsprechung im französischen Zivilrecht des 19.Jahrhunderts (1996). Klassische Darstellung in deutscher Sprache: Fikentscher, Methoden des Rechts, I ab S. 425; S. 435 ff. die These, es sei die positivistische Tradition Frankreichs gewesen, die eine Rezeption pandektistischer Neuerungen verhindert habe; S. 453: nach der école [de la libre recherche] scientifique „gelten die im kontinentalen Recht, insbesondere auch im deutschen, klassischen methodischen Regeln der ausdehnenden und einschränkenden Auslegung, der Analogie und der Restriktion“; S. 464: Analogie als „allgemeines Denkverfahren der libre recherche“, vgl. noch S. 466; 471 f.: Der späte Gény habe den pandektistischen Auslegungskanon im wesentlichen übernommen, die Genealogie des Kanons bedürfe näherer Erforschung; S. 494 ff. zum Verhältnis Ihering/Gény – Die Jubiläumsliteratur zum bicentenaire 2004 ist unter methodengeschichtlichen Aspekten noch nicht ausgewertet; Sammelbesprechung zu dieser Literatur von Andrés Santos in Vorbereitung für GPR 2010. – Jetzt (auch zu geschichtlichen Aspekten) Babusiaux, in diesem Band, § 24. 288 Das kann hier ebensowenig vertieft werden wie einzelne Berührungspunkte mit Savigny. Auch Zachariä begreift die Auslegung als ars: „Die Auslegung führt den Nahmen einer Kunst, weil sie sich unmittelbar auf die Praxis bezieht“ (Versuch S. 5). – Savigny seinerseits verweist zum französischen Recht auf das Verbot des déni de justice (Art. 4 C.civ.) und problematisiert insbesondere die zeitgenössische Diskussion um die Kompetenzgrenzen der Cour de Cassation: Savigny, System I, S. 326 ff. (dies wird später Jhering aufgreifen, vgl. Rückert, Rechtsgeschichte (2005), 122–139, 137 f.); zu Abweichungen im rheinischen Recht 328 f. Zum Problem und seinem Hintergrund, dem Verbot des arrêt de règlement (Art. 5 C.civ.), jetzt einige Hinweise bei Höltl, Die Lückenfüllung der klassisch-europäischen Kodifikationen (2005), S. 155 ff., 198 ff. 289 Zachariä, Handbuch des Französischen Civilrechts, Erster Bd., S. 85.

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Es folgt eine Auflistung der weiteren „Schlüsse“ (argumentum a contrario, „a majori ad minus“ usw.) 290. Diese Formulierung spiegelt in der Sache noch die Auslegungslehre des 18. Jahrhunderts: Analogie als ein Topos unter vielen.

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In der Folgezeit bleibt die französische Fassung und dann Fortentwicklung von Aubry und Rau dicht an Zachariäs Vorgabe.291 Aubry et Rau übernehmen ab der ersten Auflage 292 und auch noch 1869 293 die Kategorien von grammatischer und logischer, erläuternder, ausdehnender und beschränkender Auslegung, wobei sie die anderen logischen Topoi in der Gliederung sogar noch näher an die Analogie heranrücken.

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Alldem ist in der ersten Auflage die sens clair-Regel vorgeschaltet,294 in späteren auch die Unterscheidung von gesetzgeberischem Gedanken und (präzisem, aber sachlich unvollkommenem) Ausdruck: Auslegung gebe es nicht nur bei unklarem Normtext, sondern auch, wenn „cette rédaction, quoique présentant un sens nettement déterminé, n’exprime pas exactement la pensée du législateur“ 295. Damit kann die Wortlautgrenze, obwohl es einen sens clair geben soll, auch eine Trennung von Auslegung und Analogie nicht leisten.

290 Die anderen in Stichworten (vgl. S. 86 f.): 2. exceptio firmat regulam in casis non exceptis. exceptio est strictissimae interpretationis; 3. Strafgesetz als Ausnahme in diesem Sinne (in dubio pro reo, Fn. 8); 4. arg. e contrario; qui dicit de uno, negat de altero; 5. arg. a maiore ad minus und umgekehrt; 6. ubi lex non distinguit, neque interpretis est distinguere. Zu exceptio firmat regulam vgl. (auch rezeptionsgeschichtlich) Nitsch, FS Labruna (2007), VI S. 3787– 3827. 291 Die deutsche Ausgabe entwickelt sich geringfügig weiter: Als einen schlechten Ausdruck für die Anwendung des Gesetzes seinem Grunde nach bezeichnet Zachariä-Crome in der 8.Aufl. (S.129) die „Analogie im weiteren Sinne“; die Analogie hingegen sei einer der Schlüsse, die „mangels besonderer unzweideutiger Verfügungen“ in Betracht kämen, und sie verlange vollkommene Ähnlichkeit der Fälle sowie Nichtabweichung von allgemeinen Grundsätzen. Soweit ersichtlich, war noch keine Differenzierung in diesem Sinne in der 7. Aufl. angelegt (diese hrsgg. von Dreyer, Erster Halbband (1886), vgl. S. 107). 292 Zachariae, Cours de Droit Civil Français, t. premier. Traduction par Aubry et Rau (1839) § 40, S. 79: „Il ne faut pas confondre, comme on le fait si souvent, l’interprétation de la loi avec les conséquences qui en découlent, soit immédiatement, soit par le moyen de l’argumentation. Les principaux raisonnemens à l’aide desquels on fait ressortir les conséquences d’une loi sont: 1° Celui de l’analogie. Les règles que la loi n’a établies que pour un cas déterminé, sont applicables à tous les cas analogues ou semblables, pourvu qu’il s’agisse de dispositions qui ne soient pas contraires aux principes de droit commun.“ Es folgt (bei Zachariä noch als eigener Punkt abgetrennt, s.o.) übergangslos die Regel exceptio firmat regulam …, sodann als Nr. 2 das arg. a contrario. 293 Aubry/Rau, Cours de droit civil français d’après la méthode de Zachariae (4.Aufl. 1869), § 40, S. 130; und nahezu unverändert noch die Bearbeitung von Bartin, Droit civil français, t. premier (6. Aufl. 1936), § 40, S. 244 f. 294 Zachariae, Cours de Droit Civil Français, t. premier (1839). Traduction par Aubry et Rau (1839), § 40, S. 78, in zurückhaltender Formulierung: Es habe schon (logische) Auslegung stattzufinden, aber „Les expressions de la loi sont-elles claires, on ne doit pas s’écarter du sens qu’elles présentent.“ 295 Aubry/Rau, Cours de droit civil français d’après la méthode de Zachariae (4. Aufl. 1869), § 40, S. 129.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie „Il ne faut pas confondre, comme on le fait si souvent, l’interprétation de la loi avec les conséquences qui en découlent, soit immédiatement, soit par le moyen de l’argumentation. Les principaux raisonnemens à l’aide desquels on fait ressortir les conséquences d’une loi sont: 1° Celui de l’analogie. Les règles que la loi n’a établies que pour un cas déterminé, sont applicables à tous les cas analogues ou semblables, pourvu qu’il s’agisse de dispositions qui ne soient pas contraires aux principes de droit commun.“ 296

Soweit hier also Abweichungen vom Modell Zachariäs festzustellen sind, gehen diese jedenfalls nicht in die Richtung einer Abgrenzung nach dem Wortlaut, so wie sie zur gleichen Zeit rechts des Rheins immerhin denkbar geworden war.

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Als sich in Frankreich eine freiere Auslegungsmethode durchsetzte, die von Raymond Saleilles und François Gény begründete école de la libre recherche scientifique, eine entfernte 297 Verwandte der Freirechtsschule, da postulierte diese neue Richtung ebenfalls keine Wortlautgrenze.

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„La plupart de nos auteurs français placent ces deux procédés [sc. analogie proprement dite und interprétation extensive de la loi] sur la même ligne. Or, cette confusion même décèle suffisamment, dans notre méthode traditionnelle, cette idée, résultant invinciblement de son postulat essentiel sur la plénitude a priori de la législation écrite (…), savoir que l’analogie ne peut être légitimée et pratiquée que comme un mode d’interprétation pure de la loi; idée, qu l’on expliquerait sans doute au moyen de la supposition, que le législateur, en consacrant une règle légale sur le fondement de telle raison juridique (ratio juris), aurait, par la même, approuvé toutes les conséquences de cette raison se retrouvent en d’autres cas; ce qui précisément correspond à l’induction fondamentale del’analogie.“ 298 „(…) raisonner par analogie du droit écrit, c’est emprunter à celui-ci un élément positif, que le jurisconsulte emploie, suivant les inspirations de sa pensée propre, pour le faire servir à des constructions indépendantes.“ 299

Freilich hält sie an der Vorstellung fest, es könne einen klaren Wortlaut geben: relevant für die Frage, ob auszulegen oder ob eine wissenschaftlich herzuleitende, eben freie Entscheidung zu treffen sei.300 Übrigens nahm Gény die Spätpandektistik für seine eigene Lehre in Anspruch: Auch die deutsche Wissenschaft habe die Lehre vom „caractère mixte“ der Analogie zwischen Rechtsanwendung und Rechtsschöpfung weithin aufgegeben; auch sie begreife nunmehr das positivrechtliche System als „fait social“, für dessen Lückenfüllung der Normtext nur ein „objektiver Anhaltspunkt“ sei.301

296 Zachariae, Cours de Droit Civil Français, t. premier. Traduction par Aubry et Rau (1839), § 40, S. 79. 297 Vgl. Babusiaux, in diesem Band, § 24 Rn. 2. 298 Gény, Méthode d’interprétation et sources du droit privé positif (2. Aufl. 1919), S. 308. 299 Gény, Méthode d’interprétation et sources du droit privé positif (2. Aufl. 1919), S. 314. 300 Vgl. Babusiaux, in diesem Band, § 24 Rn. 2 ff. mit Fn. 3. Neuere Lit. zur Auslegungslehre im geltenden französischen Recht ist hier, im historischen Teil, nicht nachgetragen. 301 Gény, Méthode d’interprétation et sources du droit privé positif (2. Aufl. 1919), S. 312.

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Das Ergebnis: In Frankreich vermochte sich eine strikte Richterbindung über die Wortlautgrenze auch später nicht zu etablieren, sehr wohl aber eine interprétation par analogie. Damit haben wir eine grundsätzliche Parallelität von deutscher und französischer Rechtsentwicklung im späten 19. Jahrhundert, die erst im 20. Jahrhundert abbricht, weil die deutsche Wissenschaft und Praxis – in Abwendung von Windscheid – nunmehr mit der Wortlautgrenze Ernst zu machen sucht. Zu diesem Zeitpunkt aber rezipierte Frankreich nicht mehr so viel deutsche Dogmatik, als dass jene neuerliche Wendung mitvollzogen worden wäre; und damit ging das Europa der Sechs methodologisch gespalten in die fünfziger Jahre (Rn. 48). Eine Theorie der Wortlautgrenze freilich, die in irgendeiner europäischen Rechtsordnung in größerem Umfang historisch erprobt gewesen wäre, gab es nicht.

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[bleibt frei]

VIII. Überschneidungsbereiche 1.

Auswahl und Problemstruktur

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Die aufgestellten Thesen lassen sich dort überprüfen, wo pandektistische Theorie auf französischen Gesetzestext traf 302. Das ist nicht nur, aber vor allem303 in Südeuropa der Fall: Die Kodizes, im 19. Jahrhundert nach französischem Muster geschrieben, wurden mit dem Aufstieg der Pandektenwissenschaft zunehmend in deren Licht gelesen. Man zog also eine Wissenschaft, die für römischrechtliche Quellen geschaffen worden war und der Einführung eines Zivilgesetzbuches zunächst entgegenwirken sollte, dann vorarbeitete, dazu heran, ein existierendes Gesetzbuch anzuwenden.

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Das ging so weit, dass gesetzesfremde Konstruktionen und Konzepte sich an die Stelle der gesetzlichen setzten: eine große Herausforderung für eine ursprünglich strikt am Gesetz orientierte Auslegungslehre wie die französische und ihre Ableger in den Rezeptionsgebieten des Code civil. Paradigmatisch dafür mag die Karriere des Begriffes „Rechtsgeschäft“ (negozio giuridico usw.) in Ländern stehen, deren Zivilgesetzbücher nicht von Rechtsgeschäft oder Willenserklärung, sondern von Obliga-

302 Allgemein zu diesem – für das Europäische Privatrecht – sehr aufschlussreichen Überschneidungsphänomen der Tagungsband von Baldus/Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht (2006), sowie die Berichte zum Trentiner Kolloquium „Agere in rem – Eigentumsschutz in Kontinentaleuropa: Theorie und Praxis“ von 2004 (Tagungsband erscheint voraussichtlich 2011): Giebel, ERPL 2005, 603–609; Roland, ZEuP 2006, 199 ff., Staffhorst, SavZRG – Rom. Abt. – 123 (2006), 533 ff. 303 Eine vollständige Übersicht über alle europäischen Rechtsordnungen kann hier nicht gegeben werden. Den Versuch einer solchen Umschau unternimmt Henninger Europäisches Privatrecht. Zu Lateinamerika vgl. oben Fn. 292 und unten Rn. 166 ff.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

tion und Vertrag als Grundkategorien ausgehen304 und das Rechtsgeschäft folglich als gesetzliche Kategorie nicht kennen.305 Aber: In der Rechtsgeschäftslehre wie in vielen dogmatischen Feldern war die pandektistische Tradition artikuliert und geschlossen, in der Methodenlehre nicht. Entsprechend konnte sich in den soeben genannten Rechten die französische Linie halten, was die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung angeht. Die Sachfragen wurden also pandektisiert, ohne dass dieser Prozess auch die Methodenlehre ins Kielwasser der deutschen gebracht hätte.

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Das mag sich auch damit erklären, dass die Pandektenwissenschaft naturgemäß immer beim Sachproblem in der einzelnen Quelle ansetzen musste. Es ist jedenfalls umso bemerkenswerter, als in manchen Ländern des romanischen Rechtskreises306 ausdrückliche gesetzliche Auslegungsregeln für Gesetze existieren, die im Ansatz nicht Aufklärungshermeneutik kodifizieren, sondern eine mehr oder minder stark an pandektistischen Modellen orientierte Auslegungsdogmatik. Die Bedeutung solcher kodifizierter Auslegungsregeln307 ist denn auch umstritten; ob sie ein Modell für das Gemeinschaftsprivatrecht abgeben, wird bislang kaum diskutiert.308

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Erst über Italien, später (im 20. Jahrhundert) auch direkt wanderten methodologische Vorstellungen der Pandektenwissenschaft weiter, namentlich auf die Iberische Halbinsel und nach Lateinamerika. Diese Entwicklungen können hier nicht näher erörtert werden; 309 immerhin seien sie kurz skizziert.

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2.

Nicht behandelte Rechtsordnungen

Sowohl Spanien 310 als auch Portugal versahen sich im 19. Jahrhundert (1889 bzw. 1867) mit Kodizes, die im Wesentlichen dem napoleonischen Modell folgten. Beide Länder nahmen sehr bald aber auch pandektenwissenschaftliche Methoden- und Systemvorstellungen auf. In Portugal führte dies zum Erlass eines neuen Código civil (in Kraft

304 Dies wiederum erklärt sich aus der insoweit bestehenden Koinzidenz von französischem Einfluss und römischrechtlicher Tradition; vgl. zu den genannten Kategorien im römischen Recht Falcone, „Obligatio est iuris vinculum“ (2003); Paricio, Contrato (2008; mit Rez. Baldus, GPR 2009, 140 f.). Zur italienischen Rekonstruktion historisch etwa Nardozza, Tradizione romanistica e ‚dommatica‘ moderna, S. 75 ff. 305 Entsprechend kontrovers ist heute der Nutzen des Begriffs. Das zeigen italienische Veröffentlichungen zum hundertjährigen Jubiläum des BGB 2000. In deutscher Sprache vgl. Ranieri, FS Rieg (2000), S. 703–720; hier zit. nach ders., Das Europäische Privatrecht, S. 151–166. – Zur Abwesenheit einer einheitlichen Lehre vom Rechtsgeschäft und seiner Auslegung in Rom bereits Rn. 22. 306 Beziehungsweise solchen, die ihm früher zuzuordnen waren. 307 Rechtsvergleichend Grabau, Über die Normen zur Gesetzes- und Vertragsinterpretation (1991). 308 Dezidiert und ambitioniert für ein solches Modell Henninger, Europäisches Privatrecht, passim (Vorschlag S. 445). 309 Hierzu sind Projekte in Arbeit. 310 Zur heutigen Rechtslage unter unionsrechtlichem Aspekt Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo, in diesem Band, § 27. Christian Baldus

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getreten 1967), der technisch und dem Aufbau nach dem BGB deutlich näher steht als dem Code civil.311 Aber auch in Spanien gewann die deutsche Wissenschaft erheblichen Einfluss.312 In beiden Ländern kam es so zu einer dogmatisch teils sehr anspruchsvollen Auseinandersetzung mit dem vorhandenen Gesetzestext.

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Diese wiederum strahlte auch nach Lateinamerika aus. Das ist nicht engeres Thema dieses Buches, aber zumindest perspektivisch bedeutsam.313 Keine Region (abgesehen vielleicht von Ostasien) setzt sich so intensiv mit kontinentaleuropäischer Rechtsdogmatik auseinander wie der lateinamerikanische Subkontinent, und kaum eine weist solche politische, ökonomische und kulturelle Dynamik auf. Es ist kein Zufall, dass beispielsweise das Zusammenspiel von Grundrechten und Privatrecht nirgends so viel diskutiert wird wie in Brasilien oder dass die neueste historische Gesamtdarstellung der römischen Auslegungslehre aus der Feder eines chilenischen Zivilisten und Romanisten stammt.314 Europa findet hier einen aufstrebenden Partner in der Entwicklung moderner Dogmatik. Nicht zu vergessen ist, dass (kontinental-) europäische Einflüsse heute auch315 über Lateinamerika in weitere Regionen ausstrahlen, so nach China.316

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Der europäische Einfluss wurde zuerst über die vor allem spanisch-portugiesische Kolonialzeit, sodann über französisches Recht vermittelt, das die gerade unabhängig gewordenen Staaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorzugsweise rezipierten. Seither haben einerseits die iberischen Rechtsordnungen und Rechtslehren wieder an Bedeutung gewonnen (schon wegen der sprachlichen Nähe), andererseits andere europäische Einflüsse, namentlich der italienische (in verschiedenen Staaten) und der deutsche (vor allem in Brasilien). Angloamerikanische Elemente finden sich in unterschiedlichem Umfang. Das Interesse an europäischen Entwicklungen auch und gerade im Bereich der Methodenlehre ist jedenfalls auffallend groß. 311 Vgl. etwa P. Mota Pinto, in: Baldus/Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht (2006), S. 115 ff. Ausführliche Erörterung des portugiesischen Allgemeinen Teiles mit beständiger Hinsicht auf den deutschen (und auf andere Rechtsordnungen): ders./Pinto Monteiro, Teoria Geral do Direito Civil (begr. v. C.A. da Mota Pinto) (2005). 312 Vgl. Andrés Santos, in: Baldus/Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht (2006), S. 93 ff. Zur Ausstrahlungswirkung der deutschen Wissenschaft um die Jahrhundertwende (aber nur bis 1933) schon Rn. 145. Emblematisch für die Selbstwahrnehmung der letzte Satz im Vorwort zu Josef Kohlers Einführung in die Rechtswissenschaft (5. Aufl. 1919, S. IV): „Die deutsche Rechtswissenschaft jedenfalls ist die erste der Welt und wird es bleiben.“ 313 Dort liegen manche Probleme freilich anders. So besteht angesichts nur zweier (überdies eng verwandter) Amtssprachen im Mercosul/Mercosur kein dem europäischen vergleichbares Sprachenproblem: Nordmeier/Wingert Ody, Revista de Direito do Consumidor 69 (2009), 385, 388. 314 Guzmán Brito, Historia de la interpretación de las normas en el derecho romano (2000), vgl. Fn. 19; vgl. von ihm auch die (einzige) Gesamtdarstellung der „Historia de la codificación civil en Iberoamérica“ (2006); zum chilenischen Recht ders., Las reglas del “Código Civil” de Chile sobre interpretación de las leyes (2007). 315 Der direkte Rezeptionsweg intensiviert sich parallel dazu, was auch die Grundlagen geltenden europäischen Privatrechts einschließt. Nicht zufällig wird viel deutschsprachige Literatur zum römischen Recht in Ostasien gekauft. 316 Vgl. Schipani, FS Sondel (2008), S. 499–508.

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Fragt man nun nach den spezifisch methodologischen Phänomenen in den Ländern iberischer Zunge, findet man teilweise importierte Konzepte, teilweise aber auch eigenständige Entwicklungen auf legislativer Ebene (so die Kodifizierung der sog. soziologischen Auslegung in Spanien317 und die Unterscheidung von interpretação und integração des Gesetzes in Portugal318). Für die deutsche (und die französische) Wissenschaft und Rechtspolitik bleibt eine Analyse dieser kritischen und kreativen Rezeption mitteleuropäischer Entwicklungen von großem Interesse. Eine solche Analyse setzt freilich voraus, dass die spezifischen Rezeptionsbedingungen gerade der Methodenlehre stärker herausgearbeitet werden als bisher (zum Problem für Italien u. Rn. 181). In gewisser Weise ein Hindernis für die Kommunikation bleibt der Umstand, dass Methodenlehre vielerorts als ein allein rechtstheoretisches Fach angesehen wird, sodass Bezüge zum praktizierten Recht nicht immer hergestellt werden.

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Ließe sich im gegebenen Rahmen zumindest Repräsentativität anstreben, wären von den anderen europäischen Rechtsordnungen jedenfalls noch die Niederlande zu betrachten. Hier ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein umfangreiches modernes Gesetzbuch entstanden, mit dem das niederländische Privatrecht einen weiteren Schritt aus dem romanischen Rechtskreis heraus getan hat.319 Traditionelle Rezeptionsoffenheit und lange dogmatische Tradition legen die Frage nahe, ob die Niederlande – ähnlich wie Portugal – eines derjenigen „Integrationsmodelle“320 darstellen, an denen die großen, oft sehr auf sich selbst fixierten Rechtsordnungen Europas etwas lernen können.

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Ebenso wäre weitere Erkenntnis aus den Rechtsordnungen einiger mittel- und osteuropäischer Reformstaaten zu gewinnen, die hier auch aus Gründen sprachlicher Zugänglichkeit beiseite bleiben mögen; beispielsweise das polnische Privatrecht stellt

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317 Art. 3.1 Cc idF von 1974: „Las normas se interpretarán según el sentido de sus palabras, en relación con el contexto, los antecedentes históricos y legislativos, y la realidad social del tiempo en que han de ser aplicadas, atendiendo fundamentalmente al espíritu y finalidad de aquéllas.“Vgl. aus der Lit. etwa De Castro y Bravo, ADC 1977, 809–858; J.L. de los Mozos, Metodología y ciencia en el derecho privado moderno (1977); Vallet de Goytisolo, ADC 1995, 1039–1088 (umfangreiche Diskussion auch ausländischer Autoren); Atienza, Sobre la analogía en el Derecho. Ensayo de análisis de un razonamiento jurídico (1986; auch zur Abgrenzung Auslegung/Analogie nach verschiedenen Autoren; eine Abgrenzung sei im Sinne der Rechtssicherheit nötig, präzise freilich nicht möglich: S. 183 f.); in den 90er Jahren finden sich verstärkt wieder Monographien: Pérez Álvarez, Interpretación y jurisprudencia. Estudio del artículo 3.1 del Código Civil (1994); Pérez Algar, La interpretación histórica de las normas jurídicas. Análisis del art. 3.1 del Código Civil (1995). 318 Art. 9 bzw. 10 port. CC. Zur Abgrenzung ziehen die meisten Autoren – trotz starken Einflusses der deutschen Theorie – nicht die Wortlautgrenze heran; vgl. nur Machado, Introdução ao Direito e ao Discurso Legitimador (1996), S. 122 ff.; de Oliveira Ascensão, O Direito – Introdução e Teoria Geral (9. Aufl. 1995), S. 430–433. 319 Für eine perspektivische Einordnung der niederländischen Erfahrungen vgl. Schoordijk, De privaatrechtelijke rechtscultuur van de twintuigste eeuw in context (2003). 320 Zu Problem und Kategorienbildung Baldus, in: ders./Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht, S. 14 f. Christian Baldus

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seit langem eine kreative Synthese verschiedener Modelle dar.321 Vgl. aber den Rechtsprechungsbericht von Ernst, in diesem Band, § 28.

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Italien

Italien ist der historisch erste Überschneidungsbereich, der auch als erster nachkodifiziert hat, und zwar unter maßgeblichem Einfluss pandektistisch denkender Romanisten. Der erste Codice civile ist von 1865, der zweite von 1942. Die Veränderungen in der französischen Auslegungslehre um 1900 kamen zu spät, um Italien prägen zu können: Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gingen die meisten jungen Forscher zu akademischen Auslandsaufenthalten nach Deutschland oder Österreich,322 und deutschsprachige Literatur wurde in großem Umfang übersetzt. Besonders wichtig ist die annotierte Übersetzung des Pandektenlehrbuchs von Windscheid durch Fadda und Bensa,323 also einen Romanisten und einen Zivilis321 Vgl. Dajczak/Knothe (Hrsg.), Deutsches Sachenrecht in der polnischen Gerichtspraxis (2005); Giaro, GS Franciosi (2007), S. 1075–1098; Wacke, FS Sondel (2008), S. 647–662 (mit umfangreicher Bibl.); monographisch Hamza, Wege der Entwicklung des Privatrechts in Europa (2007); Ernst, in diesem Band, § 28. 322 Emblematisch steht für die Orientierung italienischer Juristen der Zeit an Deutschland, aber auch für die Selbständigkeit und Produktivität dieser italienischen Wissenschaftler Contardo Ferrini (1859–1902): Auf ihn bezogen meinte Mommsen, dass im 20. Jahrhundert die Führungsrolle in der Romanistik von Deutschland auf Italien übergehen werde. Ferrini verstarb jung, aber nicht zuletzt aufgrund seiner Schriften sollte Mommsens Aussage sich als prophetisch erweisen. Vgl. Mantovani (Hrsg.), Contardo Ferrini nel I centenario della morte (2003), und hier vor allem die Beiträge von Casavola (Ritratto di Contardo Ferrini, S. 2, 8), Mantovani (Contardo Ferrini e le opere dei giuristi, S. 129–170) und Mantello (Contardo Ferrini e la Pandettistica, S. 177–200, v.a. 181 ff.). Die ganzen Folgewirkungen dieses geistigen Austausches, bei dem das römische Recht ein „settore trainante all’interno dell’area giuridica“ war (Mantovani, S. 141) nicht zuletzt in der spanisch- und portugiesischsprachigen Welt sind noch nicht ausgelotet. Vgl. zu den Fortbildungsaufenthalten die bei Mantovani (S. 140) referierte Statistik: Zwischen 1877 und 1891 förderte das Unterrichtsministerium 71 % Aufenthalte in Deutschland und 15 % in Österreich, aber nur 18 % in Frankreich. Zur Veränderung dieser Tendenz nach Inkrafttreten des BGB s. sogleich: Die italienische Zivilrechtswissenschaft war vor allem an den technischen Instrumenten der Pandektistik interessiert. Rückblickend lässt sich sagen, dass die italienische Romanistik hingegen ihren Aufstieg im 20. Jahrhundert zu einem guten Teil der Entscheidung verdankt, pandektistische Strukturen und generell die Nähe zum Zivilrecht zu verringern – zugunsten einer engeren Anlehnung an die altertumswissenschaftlichen Fächer. Möglich wurde dies durch die traditionell hohe Spezialisierung im akademischen Unterricht – mit allen guten und schlechten Folgen, die dieses Modell zu haben pflegt, für die betroffenen Teilfächer und für die Rechtskultur insgesamt (dazu für die Methodenlehre Caponi/Piekenbrock, in diesem Band, § 26 Rn. 39 ff.). 323 Windscheid, Diritto delle pandette. Traduzione dei professori Carlo Fadda e Paolo Emilio Bensa con note e riferimenti al diritto civile italiano (hier zit. n.d. Ausgabe 1925; die Anm. finden sich in den Bänden 4 und 5, 1926). Vgl. Ranieri, Das Europäische Privatrecht, S. 155. Über Bensa auch De Marini Avonzo, FS Labruna (2007), II S. 431–446.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

ten.324 Die zeitgenössische italienische Literatur kann hier nicht näher behandelt werden. Zu spät zum Prägen kam aber auch das Produkt der deutschen Pandektistik, das BGB. Die italienische Literatur interessiert sich deutlich weniger für das Gesetz als für die pandektistische Methode, die es hervorgebracht hatte.325 So besteht zwar bis heute eine italienische Tradition der Auseinandersetzung mit deutscher Dogmatik und Theorie, aber nicht mehr in derselben Breite und Tiefe wie im späten 19. Jahrhundert.326

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Die italienische Erfahrung ist möglicherweise von besonderem Interesse für die heutigen europäischen Rechtswissenschaften: 327 Seinerzeit legte Italien ein relativ junges und dem herrschenden europäischen Modell entsprechendes Gesetzbuch, den Codice civile von 1865, im Lichte einer fremden Dogmatik aus – der deutschen, die aus den kodifikationsfeindlichen Wurzeln Savignys unter dem Druck politischer Veränderungen immer mehr zur wissenschaftlichen Vorbereitung einer neuen Kodifikation wurde. Da diese Dogmatik nicht an ein existierendes Gesetzbuch gebunden war, sondern nur an die römischen Quellen, also an eine flexibel handhabbare Kasuistik, und da sie andererseits über exzellente Kenntnisse der um 1800 erlassenen Gesetzbücher verfügte, konnte sie relativ frei Konzepte und Systemstrukturen schaffen: wo sie es denn wollte. Solche Konzepte und Strukturen waren für die italienische Wissenschaft gerade dort von Interesse, wo der Codice civile besonders auslegungsbedürftig schien.

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Ob hier eine Parallele zum heutigen Interesse kontinentaler Rechtswissenschaft an englischen Gedanken und Methoden liegt, bleibt zu klären; namentlich ist nicht gesagt, dass die englische Rechtswissenschaft sich in einem vergleichbaren Maße wie seinerzeit die deutsche über außerhalb Englands bestehende Gesetzbücher orientieren und dass sie die Vorbereitung einer Kodifikation wirklich als Aufgabe akzeptieren wird. Vielleicht liegt hier – ganz anders als auf der Insel selbst von vielen gesehen – eine historische Chance für die englische Rechtswissenschaft, und vielleicht ist diese Wissenschaft dabei, diese Chance bereits wieder zu vertun: Sollte die weitere Privatrechtsintegration im großen Kreis auf ernsthafte Schwierigkeiten stoßen und sollte es in größerem Umfang zu differenzierter Integration328 kommen, liegen für die konti-

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324 Vgl. zur Wissenschaftsgeschichte der zeitgenössischen Jurisprudenz zuletzt Nardozza, Tradizione romanistica e ‚dommatica‘ moderna. 325 Vgl. Ranieri, Das Europäische Privatrecht, S. 163 f.; Überblick zum Einfluss übersetzter Werke in Italien ebd., S. 51–65. 326 Vgl. Troiano, in: Baldus/Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht (2006), S. 81–91; mit dem berechtigten Hinweis, dass es der deutschen Wissenschaft gut täte, ihren Blick wieder stärker auf die verschiedenen Nachbarrechtsordnungen zu werfen (S. 88 ff.). Ein Beispiel für nähere Auseinandersetzung mit deutscher Methodenlehre nach dem Zweiten Weltkrieg bietet Giovanni Orrù, Jus (1977), 298–427; ders., Richterrecht (1983). 327 Zum Folgenden aus romanistischer Sicht vgl. Baldus, SavZRG – Rom. Abt. – 128 (2011), im Druck. 328 Dazu Rn. 200 f.

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1. Teil: Grundlagen

nentalen Beteiligten an solchen Prozessen partieller und dafür intensiverer Integration andere Modelle näher als das englische.

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Art. 12 der disposizioni sulla legge in generale (sog. preleggi) versucht eine Rangfolge zu geben, die vom Wortsinn über den ähnlichen Fall hin zu allgemeinen Grundsätzen fortschreitet. Diese Vorschrift wird in der Literatur intensiver diskutiert als in der Praxis und kann heute nicht als maßgeblich angesehen werden (näher § 26 Rn. 35–38 mit übersetztem Normtext).

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Die Lehrbuchliteratur unterscheidet traditionell nach der Person des Interpreten interpretazione dottrinale, giudiziale, autentica; nach den Methoden interpretazione letterale (nach dem Wortlaut) und logica (nach der voluntas legis und unter Heranziehung von Geschichte und System); nach dem Ergebnis interpretazione dichiarativa, estensiva, restrittiva. Wir finden also ein recht getreues, wenngleich auch anhand neuerer Ansätze diskutiertes Abbild der gemeinrechtlichen, spätpandektistischen und dann französischen Doktrin.

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Die Analogie wird von der erweiternden Auslegung unterschieden, aber nach welchen Kriterien, ist kontrovers.329

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Die Spezialliteratur zur Methodenlehre330 nimmt in neuester Zeit wieder zu. Nach wie vor dominiert der theoretische Entwurf Emilio Bettis die Szene, der sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Auseinandersetzung vor allem mit der deutschen Lehre um eine allgemeine Hermeneutik der Geisteswissenschaften bemühte.331 Ob eine solche allgemeine Hermeneutik überhaupt möglich ist und ob sie auf die beson329 Vgl. nur Majello, in: Bessone (Hrsg.), Istituzioni di diritto privato (7. Aufl. 2000), cap. IV, S. 41, 42; Guastini, in: Trattato di diritto civile e commerciale già diretto da Cicu/Messineo/Mengoni, continuato da Schlesinger (2004). 330 Vgl. Ricci, Parola, verità, diritto. Sulla teoria dell’interpretazione di Emilio Betti (2006); Fracanzani, Analogia; Levi, L’interpretazione della legge: I principi generali dell’ordinamento giuridico (2006); Italia, L’interpretazione delle regole giuridiche nei sistemi normativi (2006); Chiassoni, Tecnica dell’interpretazione giuridica (2007), Ciaramelli, Legislazione e giurisdizione. Problemi di metodologia giuridica e teoria dell’interpretazione (2007). Non vidi: Modugno, Interpretazione giuridica (2009). In die Irre führt der Untertitel eines nicht einschlägigen Werkes: AA.VV. (Agnoli u.a.), Costruire l’Europa del diritto. Metodologia dell’interpretazione giuridica nel contesto del processo di integrazione europea (2008). Methodengeschichtlich etwa Amatucci, FS Labruna (2007), I S. 115–129. – Ein Schwerpunkt der heutigen Debatte ist die Frage, ob es überhaupt zuverlässige Maßstäbe der Auslegung gebe (negiert von einigen Rechtsvergleichern, diskutiert unter dem Begriff „nichilismo giuridico“); vgl. (zu Irti, Nichilismo giuridico, 2004) Gallo, in: Studi per Giovanni Nicosia (2007), III S. 469–510. 331 Vgl. von den in der vorigen Fn. Genannten vor allem Ricci; weiterhin Petrillo, La decisione giuridica. Politica, ermeneutica e giurisprudenza nella teoria del diritto di Emilio Betti (2005), sowie Spezialschrifttum, neuerdings etwa Ricci, Il linguaggio come perenne svolgimento creativo: interpretazione giuridica ed interpretazione drammatica in Emilio e Ugo Betti (2008); Nardozza, Tradizione romanistica e ‚dommatica‘ moderna, S. 61–82 (81 f.: nach Betti hat der Interpret regelmäßig nicht Lücken zu suchen, sondern Prinzipien). Nicht zufällig finden sich die Erwägungen von Falzea zur „Interpretazione giuridica“ im Zyklus der Betti-Vorlesungen von Camerino: Di Lucia/Mercogliano (Hrsg.), Lezioni Emilio Betti (2006), S. 26–32.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

deren Bedingungen der Rechtswissenschaft als anwendungsorientierter, normativer Geistes- und Sozialwissenschaft passt, lässt sich heute und ließ sich auch damals bezweifeln; auf die Zeitgenossen freilich hatte Betti großen Einfluss, und in Italien wirkt dieser Einfluss fort. Es sollte nicht vergessen werden, dass er in erheblichem Umfang in deutscher Sprache publizierte; eine aktuelle Darstellung der Wirkung, die diese deutschsprachigen Publikationen hatten, sowie der Gründe für die Grenzen solcher Wirkung existiert nicht. Statt aller neueren Versuche, der Abgrenzungsproblematik zwischen Auslegung und Analogie Herr zu werden, sei hier nur die breit angelegte Untersuchung von Fracanzani 332 zitiert: Das Rechtssystem bedürfe der Analogie, die anwendbar sei, wo das zu lösende Problem sich (objektiv) als analog zum geregelten Problem darstelle; hieraus folge im Gegenschluss, wo extensive Auslegung möglich sei.

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Die Gründe dafür, dass die italienische Theorie bei der Abgrenzung nicht – wie in anderen Zusammenhängen – zu einer Synthese pandektistischen und romanischen Denkens gelangt, führen wiederum in die Rezeption der Pandektenwissenschaft: Der Wortlautansatz, so wird vertreten, hätte der kreativen Funktion im Wege gestanden, mittels derer es dem Richter ermöglicht werden sollte, gesellschaftliche Erwartungen an das Recht zu realisieren.333 Freilich lässt sich beobachten, dass die Pandektenrechtsrezeption den ursprünglich dominanten französischen Einfluss auch in der Methodenlehre weit zurückgedrängt hat – so weit, dass zur Zeit der Überwindung der école de l’exégèse in Frankreich der Blick bereits primär nach Deutschland ging, Saleilles und Gény erst mit großer Verspätung aufgenommen wurden. In Italien wurde namentlich die – wie gesehen, für unser Problem ambivalente – Lehre Windscheids rezipiert, und diese hinderte den Reformgesetzgeber nicht daran, an der Freiheit zur „logischen Auslegung“ festzuhalten. Im einzelnen wird Forschungsbedarf konstatiert.334

182

Wie die Entwicklung im einzelnen auch verlaufen sei: Die italienische Lehre neigt dazu, die Auslegung weit zu fassen, möglicherweise auch deshalb, weil sie zwar einiges an pandektistischer Dogmatik übernommen hat, nicht aber die mit dem rechtspolitischen Hintergrund der deutschen Pandektistik durchaus vereinbare Sorge vor allzu großer Richterfreiheit.

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332 Fracanzani, Analogia e interpretazione estensiva nell’ordinamento giuridico (2003), mit ausfürlicher Diskussion von Rspr., in- und ausländischer Lit.; die zit. Stelle auf S. 288. 333 Vgl. Petrillo, La decisione giuridica. Politica, ermeneutica e giurisprudenza nella teoria del diritto di Emilio Betti (2005). 334 Vgl. ausführlich Alpa, La cultura delle regole, namentlich S. 110–173.

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1. Teil: Grundlagen

IX. Folgerungen für Europäisches Privatrecht und Gemeinschaftsprivatrecht335 1.

Fragen

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Für alle hier zumindest kursorisch betrachteten Rechtskulturen gilt: Eine moderne Methodengeschichte ist bislang nur in Teilen geschrieben. Dies wäre eine Methodengeschichte, die systematisch die rechtspolitischen, vor allem verfassungspolitischen Auffassungen der einzelnen Autoren in Beziehung zu ihren rechtstheoretischen Grundannahmen setzte, und zwar überprüft an einzelnen Privatrechtsfragen aus der Praxis.

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Die komparatistischen 336 wie die historischen 337 Grundlagen hierzu fehlen derzeit, werden in den letzten Jahren aber deutlich ausgebaut. Das lässt auch für die Möglichkeit hoffen, im nächsten Schritt Rezeptionsprozesse genauer zu verfolgen. Dann könnte man wenigstens für die wichtigsten kontinentalen Rechtsordnungen ermitteln, welche historischen Verbindungen bis in die Gegenwart fortwirken und eine Art Substrat für den methodologischen acquis communautaire (oder auch acquis commun) 338 bilden. Dann bekäme auch die bislang stark deutsch geprägte339 Diskussion zum geltenden Methodenkanon des Europarechts eine breitere rechtskulturelle Grundlage. Dass eine solche genetische Betrachtung funktionell bedingte Entscheidungen des 335 Zur Begrifflichkeit (Gemeinschaftsprivatrecht/Unionsprivatrecht) vgl. nochmals Fn. 171. 336 So auch Dann, GLJ 2005, 1453, 1460. Vgl. jetzt aber Henninger, Europäisches Privatrecht. 337 Hier sind zu nennen, pars pro toto für die römischen Grundlagen, zum einen die prosopographischen Grundlagenwerke von Kunkel (Herkunft und soziale Stellung der römischen Juristen (2. Aufl. 1967; Ndr. 2001 mit Vorwort von Liebs) bis Liebs, im HLL: Sallmann (Hrsg.), Die Literatur des Umbruchs. Von der römischen zur christlichen Literatur. 117 bis 284 n. Chr. Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, Bd. 4 (1997); Herzog (Hrsg.), Restauration und Erneuerung. Die lateinische Literatur von 284 bis 374 n. Chr. Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, Bd. 5 (1989). Zum zweiten ist die Suche vor allem italienischer und französischer Forscher nach der Individualität der Juristen im Projekt Scriptores Iuris Romani zu nennen; für die Grundlagen Schiavone, Ius. Zum dritten erforscht eine spanische Schule Wechselwirkungen zwischen politischer Methodengeschichte und dogmatischer Entwicklung; vgl. namentlich Paricio, De la justicia y el derecho (2002). Nimmt man alles zusammen, so hat man die Ausgangspunkte und maßgebliche Bausteine für eine politische Methodengeschichte der Jurisprudenz – und braucht „nur“ noch Zeit für viele Exegesen, was freilich das Entscheidende wäre; dazu Baldus, FS Martini (2008), S. 145–156; ders., FS Sondel (2008), S. 87–101. 338 Zur Begrifflichkeit aus neuerer Zeit etwa F. Zoll, GPR 2008, 106, 107 f. 339 Diese Prägung liegt auf der Hand (vgl. Dann, GLJ 2005, 1453, 1455; Baldus GPR 2009, 53), nicht aber ihre Ursachen, nach denen mit Recht gefragt wird (vgl. aus den Rez. zur ersten Auflage dieses Handbuches: Krebs, GPR 2009, 75, 75; Graf Vitzthum, GPR 2009, 129, 130). Man sollte diesen Zustand als Chance sehen: Es gibt neuere Entwicklungen, über die man sich gut in deutscher Sprache informieren kann. Das spricht für die Leistungsfähigkeit der deutschsprachigen Rechtswissenschaft, und von informierten Kreisen im Ausland wird eine kritische Auseinandersetzung mit eben dieser Wissenschaft gesucht – freilich auch angemahnt, dass diese Wissenschaft sich für ganz Europa und für alle seine Sprachen interessieren solle, wenn sie maßgeblich bleiben wolle. Näher die Beiträge in Baldus/MüllerGraff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht (mit Diskussions- und Tagungsberichten) (2006).

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

geltenden Gemeinschaftsprivatrechts als solche nicht präjudizieren kann, versteht sich; vielmehr muss eine historisch funktionell-vergleichende Betrachtung fragen, welche grundsätzlichen Rahmenbedingungen fortbestehen und welche sich geändert haben. Zu dem hier in den Vordergrund gestellten Problem nach dem Verhältnis von Auslegung und Analogiebildung lassen drei wichtige offene Fragen sich wie folgt formulieren:

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– Wenn Savigny eine Abgrenzung nach der Wortlautgrenze zumindest in der Tendenz wollte (was mit letzter Sicherheit nicht zu klären sein wird) und wenn seine Vorlesungen Generationen deutscher Pandektisten beeinflusst haben, warum findet dieses Abgrenzungsmodell dann so wenig Echo bereits in Deutschland selbst, aber auch bei den zahlreichen ausländischen Autoren, die sich seit nunmehr fast zweihundert Jahren auf Savigny berufen? – Wenn das 20. Jahrhundert die rechtstheoretischen und praktischen Bedenken gegen die Wortlautgrenze kennt, warum setzt sie sich dann in Deutschland gerade in diesem Jahrhundert durch? – Wie verhalten sich in allen zu untersuchenden Ländern die methodologischen Entwicklungen zum jeweiligen Wandel im Verfassungsrecht (typischerweise vom Absolutismus über den monarchischen Konstitutionalismus hin zur parlamentarischen Republik)? Die ersten zwei Fragen werden aktuell in der Suche nach einer gemeinsamen Methodentradition für die Abgrenzung von Auslegung und Rechtsfortbildung, die dritte findet ihren Niederschlag in den gemeinschaftsverfassungsrechtlichen Vorgaben für diese Abgrenzung. Will man die Möglichkeiten und Grenzen bestimmen, welche die Rechtsgeschichte für das Gemeinschaftsprivatrecht aufzeigen kann, so sind zunächst die Besonderheiten des Gemeinschaftsprivatrechts zu benennen. Es bedarf zwar wie jedes Element des Gemeinschaftsrechts einer Kontrolle der Kompetenzgrenzen auf methodischem Wege. Doch passen mindestens vier Paradigmen nicht, die für ein Zivilgesetzbuch des 19.Jahrhunderts selbstverständlich zugrunde gelegt wurden und die in unterschiedlicher Weise für das Analogieproblem herangezogen zu werden pflegen. Alle vier Unterschiede folgen aus Struktureigenschaften des Europarechts; lediglich ihre mögliche Relativierung ist spezifisch privatrechtlich zu bestimmen.

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– Erstens stellt das Unionsrecht kein prinzipiell geschlossenes System dar, sondern eine funktionelle Normierung zur Erreichung jener Ziele, die die EU als Zweckverband funktioneller Integration auf spezifisch privatrechtlichem Wege verfolgt. Noch existiert kein System des Gemeinschaftsprivatrechts, das den mitgliedstaatlichen vergleichbar wäre – in beachtlichen Ansätzen als inneres, nur sehr ansatzweise als äußeres.340

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340 Vgl. mwN etwa Busch/Kopp/McGuire/M. Zimmermann, GPR 2009, 150, 150 f. Christian Baldus

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1. Teil: Grundlagen

– Zweitens kennt die Gemeinschaft Funktionentrennung, aber keine Gewaltentrennung oder -teilung im mitgliedstaatlichen Sinne. Auch dies resultiert aus ihrem Charakter als Zweckverband. – Drittens ist ein „gesetzgeberischer Wille“, wie er mehr oder minder personalisierend auch in Ausführungen zu Auslegung und Analogie zu erscheinen pflegt, im Gemeinschaftsrecht noch schwieriger zu bestimmen als sonst. Entsprechend ist die in solchen Wendungen aufscheinende Annäherung an die Rechtsgeschäftslehre besonders problematisch.341 Rechtsgeschäftslehre verteilt Kommunikationsrisiko zwischen Privaten. Die Kommunikation des Staates mit seinen Bürgern ist schon anderer Natur. Die Kommunikationsprobleme aber, die bei der Schaffung und Durchsetzung supranationalen Rechts entstehen, sind vollends nicht mehr mit dem Modell von Wille und Erklärung zwischen Privaten zu begreifen. – Viertens wird das Wortlautproblem auf europäischer Ebene ganz anders praktisch als im Binnenraum der Mitgliedstaaten: Theoretisch sind alle Wortlaute gleichermaßen zu beachten, praktisch kann kein europäischer Rechtsanwender eine nennenswerte Zahl der Amtssprachen auch nur lesen.342 Damit wird ein Rückgriff auf die „Wortlautgrenze“ illusorisch.

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Einige dieser Punkte werden mit fortschreitender Integration an Bedeutung verlieren. Namentlich ist eine systematische Verdichtung gerade in Kernbereichen des Privatrechts im Gange. Andere Probleme aber werden bestehen bleiben, etwa das Nebeneinander verschiedener auslegungserheblicher Wortlaute. 2.

Perspektiven: Systembildung und differenzierte Integration

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Liegt die Lösung nun zwischen den Traditionen, jenseits von ihnen oder hinter ihnen? Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn man passende Elemente sucht und zusammenstellt. Rechtsfortbildung unbeschränkt in die Hand des Richters zu legen, ist auch im Europarecht nicht akzeptabel, nämlich aus Kompetenzgründen. Das gilt für das Gemeinschaftsprivatrecht ebenso wie für die anderen Teilbereiche des Europarechts. Freilich ist die Kompetenzfrage nicht so wie im Inneren eines Staates zu stellen (Schutz der Legislative gegen die Judikative), sondern unter Berücksichtigung der Natur und der Aufgaben der Union als Zweckverband funktioneller Integration.

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Man mag, staatsanalog gedacht, auch einen in Verordnung und Richtlinie ausgedrückten Volkswillen343 gegen die Judikative schützen wollen. Im Vordergrund aber

341 Näher Baldus, in: ders./Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht, S. 7 ff. Zur Parallelisierung von Rechtsgeschäft und Norm o., Rn. 22, mit Weiterverweisungen. Allgemein auch zum Folgenden Riesenhuber, in diesem Band, § 11 und Stotz, ebd., § 22; vgl. noch Schmidt-Kessel, in diesem Band, § 17 Rn. 30–33, 45 ff. 342 Vgl. nochmals Fn. 20. 343 Die Debatte um die Existenz eines europäischen Volks mag hier beiseite bleiben, wegen ihrer Unübersehbarkeit und wegen ihres aus privatrechtlicher wie aus historischer Sicht eher theoretischen Charakters. Es gibt jedenfalls mehr als einen Mitgliedstaat, der vergleichbare Definitionsprobleme im Inneren kennt – was auch immer beim gegenwärtigen Stand der Integration das Innere sei.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

muss eine andere, nicht staatsanaloge, Erwägung stehen: Diese Gesetzgebungsakte lassen beim jeweiligen Stand der Integration die jeweilige Inanspruchnahme der Union zugewiesener Funktionen erkennen. Jenseits dieser Grenze liegen Residualkompetenzen der Mitgliedstaaten und damit – im Privatrecht – umfangreiche Restbestände autonom entwickelter Systeme, die nicht gestört werden sollen. Wir haben es also mit potentiell geschlossenen staatlichen Systemen und einem strukturell offenen, transversal und zweckbezogen wirkenden europäischen System zu tun. Richterliche Entscheidungen in diesem System müssen vor allem darauf kontrolliert werden, ob sie die Funktionszuweisung an die Union überschreiten. Eine solche Kontrolle kann sich nicht den Richter im potentiell allzuständigen Staat zum Modell nehmen: weder den, der ein potentiell allumfassendes Gesetz anzuwenden hat, noch den, der kasuistische Lösungen selbst schaffen darf. Damit ist die Übertragbarkeit methodischer Lösungen zweifelhaft, die speziell für richterrechtliche Systeme entwickelt wurden, aber auch solcher, die für klassische Zivilkodifikationen entstanden sind.

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Fraglich ist, ob der Gemeinsame Referenzrahmen344 mit seinem Systembildungsanspruch an dieser Konstellation etwas ändern kann. Ein umfassender politischer GRR ist derzeit nicht zu erwarten, wohl aber die sog. Horizontalrichtlinie zum Verbraucherrecht, die teilweise Funktionen eines solchen Referenzrahmens übernehmen könnte; der vorliegende Entwurf hat unter technischen wie rechtspolitischen Gesichtspunkten durchaus gemischte Aufnahme gefunden,345 was sich nicht zuletzt mit systematischen Defiziten erklärt.346

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Sollte ein politischer GRR doch kommen, würde er jedenfalls für die systematische Auslegung Bedeutung erlangen – umso mehr, als seine Architektur und Ausführung es tatsächlich ermöglichen sollte, Begriffe und Bezüge auch in anderen Rechtsakten mit sinnvollem Inhalt zu füllen. Das bleibt abzuwarten.

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Umfassender vorbereitet und angelegt ist der Akademische Entwurf für einen Gemeinsamen Referenzrahmen.347 Dieses vieldiskutierte348 Projekt349 schreibt sich rechts-

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344 GRR; CFR für Common Frame of Reference; CCR für Cadre Commun de Référence; MCR für Marco Común de Referencia; usw. 345 Hier nicht näher zu diskutieren; verschiedene Punkte und Positionen etwa bei Effer-Uhe/ Watson, GPR 2009, 7–15; Jud/Wendehorst, GPR 2009, 68–71; Artz, GPR 2009, 171–177; Schmidt-Kessel, in: Jud/Wendehorst (Hrsg.), Neuordnung des Verbraucherprivatrechts in Europa? (2009); Howells/R. Schulze (Hrsg.), Modernising and Harmonising Consumer Contract Law (2009). 346 Eine „deep structure“ dürfte die sein, dass die Entwurfsverfasser den Kauf anscheinend für ein geeignetes Paradigma des Schuldvertrages halten. Das ist historisch wie rechtstatsächlich und folglich auch systematisch zweifelhaft. 347 Textausgabe: v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law – Outline Edition (2009), mit ausführlicher Einleitung S. 3–46. 348 Die Literatur ist kaum noch überschaubar. Vgl. nur die Sammelbände von Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen (2008); R. Schulze/von Bar/Schulte-Nölke (Hrsg.), Der akademische Entwurf für einen Gemeinsamen Referenzrahmen (2008); R. Schulze (Hrsg.), Common Frame of Reference and Existing EC Contract Law (2. Aufl. 2009); Wagner (Hrsg.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics

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1. Teil: Grundlagen

politisch in die Konkurrenz darum ein, wer das Gemeinschaftsprivatrecht inhaltlich und auch systematisch prägen wird, in welcher Sprache oder welchen Sprachen die Arbeiten stattfinden werden und wer Finanzierung für solche Arbeiten bekommen wird. In dieser Lage wird selbst die Frage politisch, ob man den AEGRR/DCFR wie ein Gesetz oder wie eine wissenschaftliche Äußerung zitieren solle.

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Geht man mit den Verf. des AEGRR/DCFR davon aus, dass das Werk zentrale gemeinsame Elemente des heutigen europäischen Privatrechts zuverlässig abbilde, dann liegt es auch nahe, es als Quelle systematischer Auslegung heranzuziehen: soweit das jeweils auszulegende Recht eine rechtsvergleichende Auslegung denn überhaupt zulässt.350

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Der AEGRR/DCFR geht von der Prämisse aus, eine Harmonisierung des Privatrechts sei (jedenfalls perspektivisch) im Kreise aller (derzeit 27) Mitgliedstaaten möglich. Die Zweifel an dieser Prämisse werden umso stärker, je mehr das europäisch gesetzte Privatrecht stark kulturell konnotierte oder aus sonstigen Gründen als (national oder regional) identitätsstiftend betrachtete Materien erfasst. Widerstände auch aus solchen Motiven stellen den Harmonisierungsgewinn in Frage. Für die besonders heikle, selbst in internationalprivatrechtlichem Zusammenhang konfliktgeladene Materie des Familienrechts trägt der Vertrag von Lissabon dieser Lage durch Sonderregeln Rechnung.351

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Im Hintergrund der rechtspolitischen Debatte steht die Grundsatzfrage, ob es in allen Gebieten letztlich die „beste“ Lösung gibt oder ob kulturelle Differenz auch im Recht bis zu einem bestimmten Punkt zumindest hingenommen werden muss. Die erste Richtung speist sich geschichtlich aus dem Fortschrittsoptimismus und dem europäischen Überlegenheitsgefühl der (namentlich französischen) Rechtsvergleichung um 1900, die zweite stellt sich eher postmodern als modern dar. Auch hier wirkt (beiderseits) das 19. Jahrhundert fort.352

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Nicht einfacher wird die Lage durch Erweiterungen der Gemeinschaft/Union, vor allem dann, wenn Staaten aufgenommen werden, die den bisher schon vorhandenen Rechtstraditionen technisch oder kulturell eher fern stehen.

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Der geschilderten Problematik trägt der Gedanke differenzierter Integration (intégration à la carte, à plusieurs vitesses) Rechnung: Bestimmte Gruppen von Mitgliedstaaten (oder auch Regionen) stehen einander kulturell und jedenfalls rechtsdogmatisch näher als anderen Mitgliedstaaten und Gruppen. In den sensiblen Feldern der Integration spricht daher vieles dafür, eine höhere Integration innerhalb solcher Gruppen zumindest als realistischen Schritt weg von der derzeitigen Zersplitterung anzusehen.

349 350 351 352

(2009). Überblick aus der Sicht der Entwurfsverfasser: Schulte-Nölke, NJW 2009, 2161, 2163 f. Kritisch unter verschiedenen Blickwinkeln etwa Geraldes Ferreira, Anuario da Facultade de Dereito da Universidade da Coruña 2008, 501–517; Vaquer, ERPL 2009, 487–512; Jansen/Zimmermann, NJW 2009, 3401–3406. Jetzt auf dem Weg zu teilweiser Realisierung als „28. Vertragsrechtsordnung“. Zum letztgenannten Problem u., letzte Fn. Ausführlich Navrátilová, GPR 2008, 144–155. Ein aktuelles deutschsprachiges Referenzwerk zu diesen Grundsatzfragen existiert nicht.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

Ob solche Schritte später in Lösungen auf der Ebene der gesamten Union münden können und sollen, ist eine weitere Frage.353 Das betrifft auch die Methodenlehre: Die – wie gesehen – im 19. Jahrhundert begründete methodische Unübersichtlichkeit in Europa wird zunehmend als Mangel empfunden. Eine gesamteuropäische Lösung dürfte aber schon deswegen kurzfristig nicht realisierbar sein, weil die Rechtsprechungsstile traditionell stark voneinander abweichen.354 Hingegen können Parallelen namentlich in der kritischen Verarbeitung pandektistischer Einflüsse durchaus dazu führen, dass die Praxis und Wissenschaft einzelner Mitgliedstaaten zu einem zielführenden Dialog imstande ist. 3.

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Zur Rolle der Rechtsgeschichte

Aus alldem resultiert eine differenzierte Einschätzung des römischen Rechts: Es ist der Hintergrund, vor dem alle untersuchten Mitgliedstaaten ihre Methodenlehre entwickelt haben und ohne den man sie nicht versteht; es hat andererseits durch die nationalen Kodifikationsprozesse seine im Kern richterrechtliche Struktur verloren und lediglich seine Wertentscheidungen und Denkfiguren in die modernen Gesetze gerettet. Vieles spricht dafür, dass die Ambivalenzen der pandektistischen Methodenlehre gerade mit der Fortgeltung von ius commune neben zeitgenössischem Gesetzesrecht in Deutschland zu tun haben. Hier könnte auch ein Grund dafür liegen, dass bestimmte Entwicklungen erst im 20. Jahrhundert stattfanden, so die Durchsetzung der sog. Wortlautgrenze.

202

Jedenfalls richtig bleit, was Savigny mit seiner Warnung vor „Institutionencompendien“ (Rn. 79) meinte – heute würde man vielleicht sagen „Skripten“: Kein Recht, auch kein historisches, lässt sich fruchtbar machen, wenn man nur ausgewählte Ergebnisse oder angebliche Prinzipien studiert. Die Methode des römischen (wie des gemeinen) Rechts findet sich und wird fruchtbar in der Quellenarbeit, ebenso seine Dogmatik und sein (inneres) System.355

203

Wer sich der Rechtsgeschichte so nähert, sieht: Römisches Recht als jurisprudentielle Ordnung steht (hier in der bekannten Parallele zum englischen) dem Grundsatz nach außerhalb einer gemeinsamen Methodentradition für die Anwendung positiven Gesetzesrechts. Gebraucht wird es unmittelbar für Norminhalte, für die Methode nur mittelbar. Es bildet insoweit eher einen (hilfreichen) Kontrast als ein Modell. Allenfalls ließe sich erwägen, ob in der Unzugänglichkeit der Erwägungen des historischen Gesetzgebers – cum grano salis – eine Parallele zwischen gemeinschaftsrechtlicher Auslegung und Reflexion der Pandektisten liegt: Schon letztere mussten System bilden, ohne sicher sagen zu können, was mit der Norm subjektiv intendiert gewesen war. Inwieweit die Untersuchung römischen Rechts schließlich geeignet ist, den Um-

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353 Zur Problematik Baldus/Jung (Hrsg.), Differenzierte Integration im Gemeinschaftsprivatrecht (2007); diese Bestandsaufnahme wird seit 2009 in größerem Rahmen fortgeführt: Projekt Convergence des Droits der Universitäten Basel, Heidelberg, Lausanne und Nancy, der nächste Tagungsband ist in Vorbereitung (Baldus/Müller-Graff (Hrsg.), 2010). 354 Grundlegend dazu mehrere Beiträge, in: Ranieri (Hrsg.), Das Europäische Privatrecht. 355 Hierüber zuletzt Baldus, AcP 210 (2010), 2–31. Christian Baldus

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1. Teil: Grundlagen

gang mit dem neuen Richterrecht der Gemeinschaft zu fördern, bleibt gleichfalls zu untersuchen.

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Es geht jedenfalls nicht um eine Entwicklung von der Herrschaft des Gesetzes hin zu derjenigen der Kasuistik. Zwar zeigt sich in Europa rechtsvergleichend eine Konvergenz, praktisch wie theoretisch; zwar öffnen sich die kontinentalen Rechtsordnungen auch theoretisch für den Gedanken des Richterrechts, und die englische geht mit dem steigenden Anteil an Gesetzesrecht in steigendem Maße teleologisch um; die Tendenz im Gemeinschaftsprivatrecht ist aber nicht die zu einer Auflösung strikter Normbindung in Fallrecht.

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Im Gegenteil: Waren bislang punktuelle legislatorische Eingriffe mit ebenso punktueller Rechtsprechung zum Einfluss des Primärrechts auf das nationale Privatrecht zu koordinieren, wird nunmehr zunehmend die systematische Leistungsfähigkeit als Qualitätsfaktor des Privatrechts erkannt, als Mittel zur Herbeiführung allseitigen Interessenausgleichs auch in nicht eindeutig geregelten Fällen. Ohne diese Erkenntnis wäre die Debatte um den AEGRR/DCFR nicht zu erklären. Je stärker das Gemeinschaftsrecht in klassische Bereiche des Privatrechts eindringt und weite Kreise im praktischen Leben betrifft, desto mehr hängt seine Akzeptanz davon ab, dass mittels einer überall nachvollziehbaren Methode kohärente Ergebnisse gewonnen werden.

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Damit scheidet ein Rückgriff auf solche Regeln aus, die für primär jurisprudentiell geprägte Rechtsordnungen entwickelt wurden. Römische wie englische Elemente wird man nur punktuell verwerten können, zumal für die römische Dogmatik bereits eine umfassende Systematisierung etwa in Gestalt des BGB vorliegt.

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So muss man dem EuGH eines bescheinigen: Seine vielgescholtene Tendenz dazu, ohne theoretische Grundlegung bisweilen näher am Normtext zu bleiben, bisweilen weiter über ein enges Wortverständnis hinauszugehen, ist nicht so schlecht, wie es die verengte Perspektive der jeweiligen nationalen Tradition erscheinen lässt. Der Vertrag gibt wenig vor, das Zusammenströmen verschiedener Traditionen in Luxemburg begünstigt eine gewisse Flexibilität. Vieles spricht dafür, dass das teleologische Moment weiter an Bedeutung gewinnen wird; vieles auch dafür, dass speziell im sich verdichtenden Gemeinschaftsprivatrecht die systematische Auslegung jenen Rang erreichen wird, der für das kontinentale Zivilrecht typisch ist.

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Schwierig zu beurteilen ist die Zukunft der historischen Auslegung,356 wie auch immer man diesen Begriff zu verstehen habe. Die nach wie vor verbreitete These, dieser Kanon sei im Gemeinschaftsrecht bedeutungslos, greift zu kurz: 357 Mittlerweile sind einige Materialien zum Gemeinschaftsrecht veröffentlicht; der EuGH greift bisweilen auf Argumente aus der Gesetzgebungsgeschichte zurück. Ein klares Muster 356 Vgl. v.a. Pechstein/Drechsler, in diesem Band, § 8 Rn. 1, 32 f., und Riesenhuber, ebd., § 11 Rn. 9, 30–39; weiterhin zur Rolle der Erwägungsgründe Köndgen, in diesem Band, § 7 Rn. 39–43; Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 36 f. 357 Aus öffentlich-rechtlicher Sicht auf das Gemeinschaftsrecht jetzt differenzierend Leisner, EuR 2007, 689–706: Die (auch bei Leisner klassisch verstandene) historische Auslegung sei von größerer Bedeutung als von der h.M. angenommen. Zu einem neueren Fall Baldus, So far, S. 144–147, 150 ff., 155 f.

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Christian Baldus

§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

lässt sich dabei jedoch nicht erkennen, und die in nationalstaatlichen Systemen gewachsenen Vorstellungen vom „Willen des Gesetzgebers“ lassen sich auch in diesem Felde sicher nicht unverändert auf die europäische Ebene übertragen. Eine denkbare Entwicklungsrichtung ist im Epilog (u. Rn. 218–221) beschrieben. Erheblichen Bedenken muss jedenfalls der Versuch begegnen, mittels einer (klassisch verstandenen) historischen Auslegung wirkliche oder angebliche Richterwillkür zu kontrollieren: In einem System, das von teleologischer Auslegung lebt, ist auf diesem Wege nichts zu erreichen.358 Es geht nicht (wie etwa in den Vereinigten Staaten) 359 um „progressivere“ oder „konservativere“ Deutung eines Verfassungstextes und auch nicht um den Missbrauch richterlicher Entscheidungsspielräume. Ebenso zweifelhaft ist der Rekurs auf das Verwerfungsargument (Rn. 45). Wenn sich Rechtsordnungen auf einen Integrationsprozess einlassen, dann ist noch evidenter als in klassischen Systemen (des Völkerrechts oder des innerstaatlichen Rechts), dass der Normtext und seine Entstehungsgeschichte nur begrenzt steuern können. Noch mehr als in klassischen Systemen ist Vertrauen zum Richter unvermeidbar,360 wenn man denn eine solche Integration überhaupt will. Besser als ein bremsender Rückgriff allein auf die Gesetzgebungsgeschichte ist es, historische Auslegung weiter zu fassen und das positive Steuerungspotential einer geschichtlichen Normbetrachtung zu nutzen: Gerade weil Europarecht nicht am grünen Tisch entsteht, sondern auf partikularen (aber verwandten) Erfahrungen aufbaut, darf der Rechtsanwender auch nach guten und schlechten Erfahrungen mit bestimmten Gedanken, Begriffen, Lösungen in den einzelnen Rechtstraditionen Europas fragen. Es gibt kein Axiom des Inhalts, dass solche Erfahrungen für die Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Begriffe unverwertbar seien; es liegt in einer solchen historischen Auslegung im weiteren Sinne keine Einschränkung des Prinzips, dass gemeinschaftsrechtliche Begriffe autonom auszulegen sind, sondern eine Anreicherung des Auslegungsmaterials.361 Zu weitergehenden Perspektiven vgl. den Epilog (Rn. 218–222). Die Wortlautgrenze jedenfalls, so und wo es sie denn gab, ist im Europarecht schon lange gefallen. Das wird deutlich an Entscheidungen des EuGH, in denen nebeneinander von „dem Wortlaut“ und von Divergenzen verschiedener Sprachfassungen die Rede ist. Ob das rechtstheoretisch oder praktisch-dogmatisch zu begrüßen sei, mag hier offenbleiben. Unbrauchbar – weil nur willkürlich durchzuführen – wären jedenfalls auch Variationen zur deutschen Idee von der Wortlautgrenze, so etwa ein Abstellen auf eine Mehrheit oder eine qualifizierte Minderheit von Wortlauten. Rechtshistorisch wird man sagen: Die Hermeneutik des frühen 19. Jahrhunderts hat die Dogmatik ungemein angeregt. Dass sie aber speziell in Deutschland zu einer Theorie 358 Grundsätzlich anders (und mit hoher Dichte der Begründung) Höpfner, Die systemkonforme Auslegung (2008); (dazu Baldus, GPR 2009, 101 f.) sowie Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1–36. 359 Zur dortigen Debatte zuletzt Brugger, JZ 2009, 609–621. 360 Die Bedeutung der Richterpersönlichkeit betont zu Recht Hager, Methoden in Europa (2009); (dazu Baldus, GPR 2009, 215 f.). 361 Näher Baldus, in: ders./Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht, S. 12–18. Christian Baldus

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1. Teil: Grundlagen

der Wortlautgrenze geführt hat, das ist eine Sonderentwicklung. Alle guten Erfahrungen mit dem didaktischen und rechtspolitischen Wert einer Suche nach „dem Wortsinn“ ändern nichts an dem geschichtlichen Befund, dass es sich hier um einen Sonderweg handelt, der sich selbst im einigermaßen gesetzesgläubigen späten 19. Jahrhundert nicht durchzusetzen vermochte. Diejenige römisch-pandektistische Tradition hingegen, die Rezeption gefunden hat und die große Teile Westeuropas verbindet, beurteilt das Verhältnis von Auslegung und Analogie weitaus großzügiger.

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Nur angedeutet werden kann hier eine denkbare Brücke: Wie wäre es, wenn die Kollision mit einem von mehreren Wortlauten den Übergang zu einem nicht mehr „Auslegung“ zu nennenden Verfahren indizieren oder gar erfordern könnte? Die derzeitige Praxis des Gerichtshofs ist anders,362 kann aber auch nicht als kohärent bezeichnet werden. Es versteht sich, dass jede „Wortlautgrenze“ mit dem logischen Zirkel fertig werden muss, der in der Behauptung liegt, ein Wortlaut sei klar. Fasst man aber – näher an der Praxis – als „klaren“ Wortlaut den, den alle mit der Sprache vertrauten und mit der Sache befassten Rechtsanwender für klar halten, ist dieses Problem entschärft. Dann indiziert die Abweichung verschiedener Wortlaute in offiziellen Sprachfassungen,363 dass der Interpret seine Wertungen besonders deutlich machen muss. Er muss ggf. insbesondere begründen, warum er meint, trotz des sprachlichen Widerspruchs zu einer Entscheidung berechtigt zu sein. Denn in solcher Situation liegt es näher als sonst, dass er Recht bereits fortbildet. Die Sprache dient in diesem Fall der Schärfung juristischer Aufmerksamkeit für denkbare Kompetenzüberschreitungen – des Gesetzgebers oder des Richters (Rn. 190 ff.).

214

Für eine solche Entwicklung bietet die Rechtsgeschichte kein exaktes Vorbild und keine Legitimation (schon weil sie generell nichts legitimieren kann und will). Wohl aber kann sie berichten: Die Grenzen der Auslegung werden seit mindestens zwei Jahrhunderten maßgeblich unter dem Aspekt bestimmt, dass der Richter seine Sphäre nicht unbeobachtet überschreiten soll.

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Ohne Zweifel bedarf auch die gemeinschaftsrechtliche Normanwendung methodischer Kontrolle, wenngleich in anderer Weise als die innerstaatliche Rechtsanwendung. Dafür kann man System und Telos heranziehen, vielleicht auch die Gesetzgebungsgeschichte, wie auch immer zu verstehen. Der sogenannte klare Wortlaut aber ist wohl nicht mehr als eine praktische Leitlinie für den Regelfall und ein Topos, der auch Missbräuchen zugänglich ist. Die europäische Rechtsgeschichte verlangt es nicht, auf ihn zurückzugreifen; eher mahnt sie zur Vorsicht. Was sie quer durch die Epochen verlangt hat, das ist ein Rechtsanwender, der offenlegt, wovon er spricht, wenn er die sententia legis anruft. Ob er richtig gesprochen hat, das entscheidet sich maßgeblich nach der Vereinbarkeit seiner Lösung mit anderen Normen: eine gut römische, eine savignyanische Erwägung, und auch eine für das sich verdichtende System des Gemeinschaftsprivatrechts. 362 Vgl. nochmals Pozzo in: Ioriatti Ferrari (Hrsg.), Interpretazione e traduzione del diritto (2008), S. 73–112. 363 Vgl. nur das Beispiel der goods nach Europarecht und englischem Recht Schillig, in diesem Band, § 25 Rn. 26; zum Binom goods and services/biens et services Baldus, GPR 2008, 1.

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

Wenn ein Mechanismus gefunden wird, der Transparenz richterlichen Handelns in den Grauzonen gesetzten Rechts fördert, dann ist das sehr wünschenswert. Das Gemeinschaftsprivatrecht ist kontinental strukturiert, und mit jeder legislativen und begrifflichen Verdichtung verstärkt sich dieser Charakter – unbeschadet der durchaus sinnvollen inhaltlichen Aufnahme sachgerechter Lösungen aus dem common law. Man wird also die Judikatur des EuGH genau darauf beobachten müssen, ob sie mit wachsender Verdichtung der Normen eher Anhaltspunkte für eine modernisierte Lehre von der Analogie nach deutschem Vorbild liefert oder ob unter dem Namen einer extensiven Auslegung vergleichbare Ergebnisse erzielt werden können. Die (jedenfalls in Deutschland) beliebte Beschimpfung der Luxemburger Richter ist bei alldem wenig hilfreich: Gemeinschaftsrechtliche wie geschichtliche Betrachtung lehren uns, dass ein Richter nicht mit Aussicht auf Erfolg an den Wortlaut gebunden werden kann.

X.

216

Zusammenfassung

Die Unterscheidung von Auslegung und Analogie dient in der deutschen Tradition zur Kontrolle richterlichen Handelns jenseits des Gesetzeswortlauts. In der romanischen Tradition ist die Abgrenzung zur so genannten erweiternden Auslegung diffus, eine Wortlautgrenze wird zumeist nicht gezogen. Beide Traditionen benötigen aus verfassungsrechtlichen Gründen einen Kontrollmechanismus, verfügen aber über keine gemeinsame Wurzel und keine leistungsfähige Lösung: Das römische Recht liefert Kategorien und Wertungsgesichtspunkte, aber keine geschlossene Abgrenzungssystematik, denn in Rom ist auch das private Rechtsgutachten Rechtsquelle, nicht nur das Gesetz; im 19. Jahrhundert setzen Savignys Ansätze zur Schaffung einer Wortlautgrenze sich nicht durch; schließlich bestehen prinzipielle rechtslogische Bedenken gegen die Lehre von der Wortlautgrenze. Das Gemeinschaftsprivatrecht als kodifiziertes System kontinentalen Typus braucht ebenfalls einen Kontrollmechanismus und kann sich folglich nicht am englischen case law orientieren. Es kann wegen der Vielzahl verbindlicher Wortlaute auch keine Wortlautgrenze postulieren. Nahe liegt eine Orientierung an römischen und savignyanischen Grundgedanken: Der Regelungszweck ist objektiv – heute auch anhand äußeren Systems – zu ermitteln; der Wortlaut ist kaum mehr als ein Ausgangspunkt der Auslegung und darf jedenfalls nicht zur Scheinbegründung für anderweitig gewonnene Ergebnisse dienen.

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XI. Epilog: Was kann historische Auslegung sein? Bisher war von der Geschichte der Auslegung und von dem üblichen Sinn des Kanons die Rede, den wir „historische Auslegung“ nennen.364 Dieses übliche Verständnis ist, wie dargetan, fragwürdig: Suche nach subjektiven Vorstellungen von

364 Das Folgende hoffe ich andernorts näher ausführen zu können. Vgl. einstweilen Baldus, Historische und vergleichende Auslegung. Christian Baldus

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1. Teil: Grundlagen

Personen der Vergangenheit, die wir mit dem Gesetzgeber identifizieren, dies oft auf der Grundlage unsicherer Quellen. Es kann nicht verwundern, dass dieser Auslegungskanon (den Savigny so nicht kennt) heute weithin als nachrangig gilt.

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Er ist nicht nur unhistorisch, er ist auch nicht zielführend: aus prinzipiellen Erwägungen nicht. Wir müssen uns nicht Personen aus der Vergangenheit unterwerfen, sondern nur dem Gesetz, und zwar dem heute geltenden Gesetz. Das folgt gerade aus einem geschichtlichen Verständnis von Recht und Rechtswissenschaft.

220

Die Bedenken vermeidet eine Auslegungsmethode, die in Anlehnung an Savigny nicht nach subjektiven Vorstellungen fragt, sondern nach dem Eingriff, nach der Veränderung, die das Gesetz historisch bewirken sollte. So betrachtet, ist historische Auslegung richtigerweise etwas Anderes: kein Kanon neben den anderen, sondern ein transversales Kriterium zur Schärfung der anderen. Wortlaut (soweit er denn trägt), System und Zwecksetzung sind zwar ex nunc zu ermitteln, aber nicht ahistorisch, sondern im Lichte der Vorgeschichte, Erlassgeschichte und Anwendungsgeschichte der Norm. Historische Auslegung hilft bei der Klärung des Wortlautes und des Systems, in dem die Begriffe stehen, bei der Aufklärung der historischen Regelungssituation und der späteren Anwendungssituationen; sie führt beim télos vor, was das Gesetz bewirken sollte und was es unter welchen Bedingungen bewirkt hat.

221

Die übliche Methode „historischer Auslegung“, der Blick in die Gesetzgebungsmaterialien, kann Teil dieser transversalen Arbeit an den drei Kanones Wortlaut, System und Zweck sein: dann, wenn kodifiziertes Recht auszulegen ist und aussagekräftige Materialien vorliegen. Historische Auslegung beschränkt sich aber nicht darauf. Sie stellt das Gesetz in seinen historischen Zusammenhang. Damit sichert sie das, was bei einer ungeschichtlichen Auslegung nach dem télos gefährdet sein kann: dass nicht subjektive Vorstellungen des Richters die Norm mit Inhalt füllen, sondern die guten oder schlechten Erfahrungen der Rechtsordnung.

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In Europa heißt das: die Erfahrungen aller Rechtsordnungen, die zum Werden der europäischen Norm beigetragen haben. Wer europäisches Recht anwendet, findet diese Erfahrungen unter dem anzuwendenden Text; sie sind der Hintergrund, vor dem dieser Text zu verstehen ist.365 Diesen Hintergrund aufzuhellen ist anspruchsvoll

365 Hier liegt der zentrale Unterschied zum Gedanken der rechtsvergleichenden Auslegung auf innerstaatlicher Ebene: Dieser muss damit fertig werden, dass der Richter verfassungsrechtlich nun einmal nur an das eigene Recht gebunden ist. Was dennoch innerstaatlich aus der Rechtsvergleichung gewonnen werden kann, ist nicht umfassend geklärt – umso erstaunlicher, als die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen auch den Austausch gerichtlicher Erfahrungen umfassen kann. Die Debatte wurde in der Nachkriegszeit angestoßen, harrt aber seit langem einer angemessenen Fortführung unter dem Blickwinkel der inzwischen realisierten Integration. Vgl. freilich Ranieri, in: Kaelble/Schriewer (Hrsg.), Vergleich und Transfer (2002), S. 179–208, hier zit. nach ders., Das Europäische Privatrecht, S. 185 ff.; Gisewski Methodik der Auslegung im kontinentaleuropäischen und angelsächsischen Recht (2008), S. 240–253; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 78 VII (S. 625 f.); die Beiträge in Heft 1 von Contratto e impresa/Europa 2008, mit Einleitung von Calvo. Vgl. auch Schoordijk, De privaatrechtelijke rechtscultuur van de twintuigste eeuw in context (2003), S. 44 ff.

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Christian Baldus

§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie

und verlangt ein gutes Zusammenspiel von Dogmatik, Methodik, Vergleichung und Geschichte. Schnell und billig ausgebildete Juristen werden das nicht leisten können. Am Ende könnte dies aber der einzige Weg zu wirklich autonomer Auslegung europäischer Konzepte sein, zur Befreiung aus bewussten oder unbewussten Vorurteilen und Vorverständnissen. Die Konzepte zeigen sich, wenn man sie historisch liest, in ihrer Bedingtheit, Begrenztheit und Offenheit: in ihrem Potential. Sie zeigen dem Rechtsanwender dann ihre maximale Leistungsfähigkeit für den historischen Moment, der da Gegenwart heißt. Diese vermessen zu können, ist ein366 zentrales Ziel europäischer Rechtsgeschichte.

366 Diesem Ziel logisch wie praktisch vorgelagert ist rechtsgeschichtliche Arbeit um der Rechtsgeschichte selbst willen, „kontemplative Rechtsgeschichte“. Dazu nochmals Andrés Santos, in: Baldus/Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht (2006), S. 93–114. Christian Baldus

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§ 4 Die Rechtsvergleichung Andreas Schwartze

Übersicht . . . .

Rn. 1–5

II. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Entstehung von Europäischem Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primärrechtliche Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundärrechtliche Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Herkömmliche Rechtsangleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Neuartige Regelungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6–20 7–9 10–20 13–17 18–20

III. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Anwendung von Europäischem Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auslegung von Europäischem Privatrecht durch den EuGH . . . . . . . . . . 2. Auslegung von Europäischem Privatrecht durch nationale Gerichte . . . . . .

21–34 23–29 30–34

IV. Der Einsatz der Rechtsvergleichung in Forschung und Lehre zum Europäischen Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wissenschaftliche Projekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Juristische Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35–41 36–38 39–41

I. Einleitung – Stellung und Funktionen der rechtsvergleichenden Methode

V. Ausblick – Rechtsvergleichung in einem zunehmend integrierten Rechtsraum

. .

42–44

Literatur: Klaus Peter Berger, Vom praktischen Nutzen der Rechtsvergleichung – Die „internationalbrauchbare“ Auslegung nationalen Rechts, in: Klaus Peter Berger u.a. (Hrsg.), Festschrift für Otto Sandrock (2000), S. 49–64; Albert Bleckmann, Die Rolle der Rechtsvergleichung in den Europäischen Gemeinschaften, ZVglRWiss 75 (1976), 106–124; Axel Flessner, Juristische Methode und europäisches Privatrecht, JZ 2002, 14–23; Stefan Grundmann/Karl Riesenhuber, Die Auslegung des Europäischen Privat- und Schuldvertragsrechts, JuS 2001, 529–536; Constantinos N. Kakouris, Use of the Comparative Method by the Court of Justice of the European Communities, Pace Int’l L. Rev. 6 (1994), 267–283; Hein Kötz, Alte und neue Aufgaben der Rechtsvergleichung, JZ 2002, 257–264; Jan Kropholler, Internationales Einheitsrecht – Allgemeine Lehren (1975), S. 254–258, 278–285; Marcus Lutter, Die Auslegung angeglichenen Rechts, JZ 1992, 593–607; Heinz-Peter Mansel, Rechtsvergleichung und europäische Rechtseinheit, JZ 1991, 529–534; Ralf Michaels, Stichwort: Rechtsvergleichung, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Bd. 2 (2009), S. 1265–1269; Walter Odersky, Harmonisierende Auslegung und europäische Rechtskultur, ZEuP 1994, 1–4; Werner Schroeder, Die Auslegung des EU-Rechts, JuS 2004, 180–186; Reiner Schulze, Vergleichende Gesetzesauslegung und Rechtsangleichung, ZfRV 1997, 183–197; Stig Strömholm, Rechtsvergleichung und Rechtsangleichung – Theoretische Möglichkeiten und praktische Grenzen in der Gegenwart, RabelsZ 56 (1992), 611–623.

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Andreas Schwartze

§ 4 Die Rechtsvergleichung

I.

Einleitung – Stellung und Funktionen der rechtsvergleichenden Methode

Auf den ersten Blick scheint es keinen Zweifel zu geben, dass die Rechtsvergleichung für das Europäische Privatrecht eine bedeutende Rolle spielt. Die Relevanz dieser Methode fällt besonders ins Auge, wenn man die nebeneinander stehenden nationalen Privatrechtssysteme in Europa, insbesondere in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU), betrachtet, die seit jeher reichhaltiges Material für die vergleichende Rechtswissenschaft geliefert und sich auch mittels deren Unterstützung gegenseitig befruchtet haben.1 Aber ähnliches gilt auch für das Europäische Privatrecht im engeren Sinne, nämlich für die privatrechtlichen Regeln der Europäischen Gemeinschaft (EG),2 die zum einen nicht unberührt von den Rechtsordnungen ihrer Mitgliedstaaten im „rechtsleeren Raum“ entwickelt werden können – vielmehr finden sich dort regelmäßig Bezüge zu den verschiedensten nationalen Bestimmungen, die manchmal bis zu einer Übereinstimmung im Wortlaut gehen –3 und die zum anderen auf die innerstaatlichen Privatrechte zurückwirken. Das lässt darauf schließen, dass zumindest bei der Entstehung, vermutlich dann aber auch bei der Anwendung des Europäischen Privatrechts die privatrechtlichen Regelungen der Mitgliedstaaten zur Kenntnis genommen und aus gemeinsamen, übergreifenden Perspektiven – hier: des Gemeinschaftsrechts – betrachtet werden, wie es die vergleichende Methode verlangt.4 Inwieweit eine wertende Betrachtung der vorgefundenen Lösungsmöglichkeiten, die nach überwiegender Auffassung einen weiteren Bestandteil der Rechtsvergleichung bildet,5 die Entscheidungen über konkrete Regelungen des Europäischen Privatrechts oder deren Auslegung beeinflusst, kann dagegen nur für den jeweiligen Einzelfall festgestellt werden.

1

Allerdings besteht insoweit kein grundlegender Unterschied zur Entwicklung in den mitgliedstaatlichen Privatrechten, denn auch dort wurde – und wird – die Rechtsvergleichung unabhängig vom Einfluss der europäischen Integration sowohl bei der

2

1 Zu diesen Rezeptionsvorgängen etwa Rainer, Europäisches Privatrecht (2007), S. 75 ff.; Glendon/Gordon/Osakwe, Comparative Legal Traditions (1994), S. 54 ff.; Constantinesco, Rechtsvergleichung, Bd. 2 (1972), S. 412 ff. 2 Diese sollen im Folgenden in Anschluss an Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 31 f., als „Europäisches Privatrecht“ bezeichnet werden. Flessner, JZ 2002, 14, 15, bezeichnet es als „Gemeinschaftsprivatrecht“. 3 So etwa Art. 2 lit. d) Alt. 3 KGRL, der vor allem mit nordischen Kaufgesetzen übereinstimmt, Schwartze, Europäische Sachmängelgewährleistung beim Warenkauf (2000), S. 98 f.; vgl. auch Grundmann/Bianca-Grundmann, EU-Kaufrechts-Richtlinie (2002), Art. 2 KGRL Rn. 34. Zu einem Beispiel aus dem Gesellschaftsrecht Lutter, JZ 1992, 593, 609. 4 Damit beginnt nach allgemeiner Ansicht erst die eigentliche Rechtsvergleichung, vgl. etwa Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 43; ähnlich Constantinesco, Rechtsvergleichung, Bd. 2 (1972), S. 277 ff. 5 So Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 46; a.A. Rabel, in: Rabel/Leser (Hrsg.), Gesammelte Aufsätze (1967), S. 3. Andreas Schwartze

113

1. Teil: Grundlagen

Gesetzgebung6 wie in der Rechtsprechung7 zur Unterstützung herangezogen. Diese Hilfsfunktion wird allgemein sogar als eigentliche Aufgabe der „angewandten“ oder „legislativen“ Rechtsvergleichung angesehen, welche die in erster Linie zweckfreier Erkenntnis dienende „wissenschaftlich-theoretische“ Rechtsvergleichung für die Praxis nutzbar macht.8

3

Während jedoch auf nationaler Ebene der Vergleich mit ausländischen Regelungen Reformen im Sinne einer inhaltlichen Weiterentwicklung des geltenden Rechts – sei es durch den Gesetzgeber oder den rechtsfortbildenden Richter – dient (Regelungsziel), dürfte für die Europäische Gemeinschaft die Rechtsvergleichung als Ausgangspunkt für die Zusammenführung der unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen unter einem „gemeinsamen Dach“ im Vordergrund stehen (Harmonisierungsziel).9 Besonders deutlich wird dies bei der Rechtssetzung der Gemeinschaft, wo im Bereich des Privatrechts die bislang noch dominierende Rechtsangleichung gerade auf die Nivellierung von Unterschieden zwischen den nationalen Regelungen abzielt.

4

Damit besitzt die Rechtsvergleichung für die Erarbeitung des Europäischen Privatrechts bislang eine ganz ähnliche Funktion wie in anderen Gebieten der Rechtsvereinheitlichung: So wurde mit Hilfe rechtsvergleichender Studien zunächst im Gefüge der neu gebildeten Nationalstaaten ein wesentlicher Teil der Bausteine zusammengetragen, welche für die Errichtung der Kodifikationsgebäude verwendet wurden,10 später sind dann auf dem Fundament derartiger Untersuchungen zu den nationalen Rechten wiederum internationale Einheitsrechte gegründet worden.11 Bei der Rechtsanwendung muss insbesondere ein unterschiedliches Verständnis internationalen Einheitsprivatrechts in den beteiligten Rechtsordnungen durch eine „autonome“, vom jeweiligen nationalen Recht unabhängige und daher andere Rechte mit einbeziehende

6 Zur Nutzung durch den deutschen Gesetzgeber Drobnig/Dopffel, RabelsZ 46 (1982), 253 ff.; Drobnig, RabelsZ 50 (1986), 610 ff. 7 Zur Verwendung in der deutschen Rechtsprechung Aubin, RabelsZ 34 (1970), 458 ff.; Reinhart, FS Juristische Fakultät Heidelberg (1986), S. 599 ff.; Mansel, JZ 1991, 529, 529 f.; rechtsvergleichend Drobnig/van Erp, The Use of Comparative Law by the Courts (1999). Für das komparative Sichten zur Gewinnung von „europäisch vertretbaren“ Lösungen Flessner, JZ 2002, 14, 19 f. 8 Vgl. nur Brand, JuS 2003, 1082, 1084; Rösler, JuS 1999, 1084, 1087 f.; Koch/Magnus/Winkler von Mohrenfels, IPR und Rechtsvergleichung (2004), S. 310 ff. 9 Damit wird allerdings weder ausgeschlossen, dass Regelungen ohne Vorbild in einem der Mitgliedstaaten neu entwickelt werden, noch dass Reformgesichtspunkte ebenfalls eine Rolle spielen. Zur Unterscheidung von Harmonisierungsfunktion und Regulierungsfunktion bei der Rechtsangleichung bereits Schwartze, Deutsche Bankenrechnungslegung nach Europäischem Recht (1991), S. 115; ähnlich unterscheidet in Regelungs- und Angleichungszweck Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 40 ff. 10 Etwa für das schweizerische ZGB durch Huber in seinem „System und Geschichte des schweizerischen Privatrechts“, 4 Bände (1886–1893). 11 Am prominentesten dürften die Vorarbeiten von Rabel, Das Recht des Warenkaufs I und II (1936, 1958), für das Einheitliche Kaufgesetz (EKG) und damit auch für das nachfolgende UN-Kaufrecht sein. Allgemein zum Einfluss der Rechtsvergleichung auf die Rechtsangleichung Strömholm, RabelsZ 56 (1992), 611 ff.

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Andreas Schwartze

§ 4 Die Rechtsvergleichung

Auslegung verhindert werden, ebenso wie für das Europäische Privatrecht eine einheitliche Anwendung zu sichern ist. Allerdings werden die mit der Verwendung der rechtsvergleichenden Methode im Gemeinschaftsrecht, speziell auf dem Gebiete des Privatrechts, verbundenen Fragen bisher kaum grundlegend behandelt.12 In den einschlägigen Kommentaren und Lehrbüchern zum Europarecht finden sich nur wenige Hinweise,13 in den Werken zum Europäischen Privatrecht wird das Thema zwar angerissen, aber meist nur kurz erörtert.14 Auch in die Literatur zu Methodenfragen hat es bislang noch wenig Eingang gefunden.15 Ich werde daher im Folgenden versuchen, den Einsatz der Rechtsvergleichung sowohl bei der Herausbildung des Europäischen Privatrechts (unten II.) wie auch bei dessen Anwendung (unten III.), darüber hinaus ergänzend im Bereich von Forschung und Lehre auf diesem Gebiet (unten IV.), möglichst umfassend darzulegen und die damit verbundenen Problemlagen herauszuarbeiten. Zum Schluss soll deutlich gemacht werden, inwieweit die Rechtsvergleichung im Europäischen Privatrecht methodisch eine besondere Stellung einnimmt bzw. worin diese besteht (unten V.).

II.

5

Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Entstehung von Europäischem Privatrecht

Der Einfluss der rechtsvergleichenden Methode auf die Rechtssetzung im Bereich des Europäischen Privatrechts ist bisher wissenschaftlich fast nicht thematisiert worden, während ihr Einfluss auf die Auslegung16 immerhin ein wenig mehr Beachtung gefunden hat. Das liegt sicherlich nicht unwesentlich daran, dass die Vorgehensweise der Legislative in Ausbildung und Praxis unterbewertet wird und sich die juristische 12 Dies kritisiert schon Bleckmann, ZVglRWiss 75 (1976), 106. 13 Unter Bezug auf die Verflechtung von innerstaatlichem Recht und Gemeinschaftsrecht allein zur Auslegung etwa Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 220 EG Rn. 47; Oppermann/Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 10 Rn. 35, 180, § 18 Rn. 5; Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 220 EG Rn. 16; Thun-Hohenstein/Cede/Hafner, Europarecht (2008), S. 72 zur Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze durch den EuGH, S. 82 zur Auslegung; speziell zum Verwaltungsrecht: Streinz, Europarecht, Rn. 200; zu den Grundrechten v. d. Groeben/Schwarze-Beutler, Art. 6 EUV Rn. 63. 14 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 47–51, 71; zur Auslegung Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 10a; bei der Auslegung nur kurz Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1. Teil Rn. 143, etwas häufiger im Zusammenhang mit der Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze aaO 1. Teil Rn. 184, 187, 189, 191; in Bezug auf die Hilfe bei der Kommentierung Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 65–75. Ähnlich wenig findet sich zu konkreten Gemeinschaftsrechtsakten, z.B. Grundmann/Bianca-Grundmann, EUKaufrechts-Richtlinie (2002), Art. 2 KGRL Rn. 12, Art. 8 KGRL Rn. 6. 15 Sehr kurz bei Zippelius, Methodenlehre, S. 58; Pawlowski, Methodenlehre, S. 117 Rn. 227; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 15; etwas mehr bei Kramer, Methodenlehre, S. 229–233 zur Lückenfüllung, sowie Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 385–387 zur Rechtsgewinnung, S. 461–463 zur Auslegung. Daher das Plädoyer für eine gemeineuropäische Methodenlehre von Vogenauer, ZEuP 2005, 234 ff. 16 Dazu unten, Rn. 21 ff.

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1. Teil: Grundlagen

Methode auf die Arbeit mit gegebenen Regelungen konzentriert. Inwieweit die Rechtsvergleichung bei der Anwendung des Europäischen Privatrechts eingesetzt werden kann, hängt jedoch zum Teil von ihrer Rolle bei der Rechtssetzung ab, so dass auch mit Blick auf die in der Praxis als wichtiger angesehenen Probleme der Interpretation und Fortbildung des Europäischen Privatrechts dieser Bereich zunächst zu untersuchen ist. 1.

Primärrechtliche Ebene

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Im EG-Vertrag selbst sind auch mit Mühe Regelungen mit privatrechtlichem Inhalt nur schwer zu entdecken, vielleicht einmal abgesehen vom Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft (Art. 101 AEUV/81 ff. EG), welches unmittelbar in die Wirksamkeit privater Verträge über konkretes Marktverhalten eingreift.17 Die vier Grundfreiheiten sowie die Kompetenznormen für die Rechtsangleichung, wie Art. 115 AEUV/94 EG und Art. 114 AEUV/95 EG oder Art. 55 Abs. 2 lit. g) AEUV/44 Abs. 2 lit. g) EG, wirken dagegen allenfalls mittelbar auf das Privatrecht ein, indem sie die Grundlage für eine negative18 oder aber eine positive Harmonisierung privatrechtlicher Vorschriften bieten, selbst jedoch keine inhaltlichen Vorgaben für diesen Bereich enthalten.

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Damit verbleiben im Primärrecht – neben der Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte 19 – allein die allgemeinen Rechtsgrundsätze, welche die Bestimmungen des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union bzw. des EG-Vertrages dort ergänzen, wo dieser Lücken aufweist. Ausdrücklich erfolgt ein Verweis auf derartige gemeinsame Prinzipien nur für den Bereich der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft (Art. 340 AEUV/288 Abs. 2 EG) 20, aber der Europäische Gerichtshof ergänzt auch in anderen – allerdings wie bei den Grundrechten meist nicht privatrechtlich gelagerten – Fällen das unvollständige Primärrecht unter Berufung auf Art. 19 Abs. 1 EUV/220 Abs. 1 EG.21 Um in allen Mitgliedstaaten vorfindbare Grundregeln für eine bestimmte Fragestellung zu ermitteln, müssen sämtliche nationalen Rechtsordnungen innerhalb der Gemeinschaft daraufhin untersucht werden.22 So hat der EuGH, immerhin im weiteren Bereich des Schadensersatzrechts, die Haftung der Mitgliedstaaten gegenüber den Bürgern aufgrund einer Verletzung des Gemeinschaftsrechts unter anderem mit dem Verweis auf die allgemeinen Haftungsgrund-

17 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 33, der außerdem noch das Diskriminierungsverbot des Art. 141 EG (jetzt Art. 157 AEUV) hinzurechnet. 18 Vom EuGH bisher abgelehnt, EuGH v. 24.1.1991 – Rs. C-339/89 Alsthom Atlantique, Slg. 1991, I–107; EuGH v. 13.10.1993 – Rs. C-93/92 CMC Motorradcenter, Slg. 1993, I-5009; dazu Foglar-Deinhardstein, ZfRV 2005, 22 ff. 19 Dazu etwa Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 385 ff. 20 Vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 387 ff. 21 Kakouris, Pace Int’l L. Rev. 6 (1994), 267, 273. Daig, FS Zweigert (1981), S. 401 nennt hier als weitere Beispiele die Frage, was unter einem „Gericht“ iSv Art. 177 EGV (jetzt Art. 267 AEUV/234 EG) zu verstehen ist, oder wann eine Willenserklärung als zugegangen gilt. Vgl. auch R. Schulze, ZfRV 1997, 183, 188; ders., ZEuP 1993, 442, 454 f. 22 Zu dieser Lückenfüllungsfunktion der Rechtsvergleichung bereits Bleckmann, ZVglRWiss 75 (1976), 106, 109 f.

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§ 4 Die Rechtsvergleichung

sätze in den nationalen Rechtsordnungen begründet.23 Welcher Rechtssatz dann aus den vorgefundenen Regelungen abzuleiten ist, bleibt allerdings der Bewertung durch den EuGH überlassen, die er an den Aufgaben und Zielen der Gemeinschaft ausrichtet. Damit nimmt er eine rechtsvergleichende Analyse24 vor, was dazu führt, dass kein gemeinsamer Nenner gesucht wird: Konkret hält der EuGH in der eben erwähnten Entscheidung kein Verschulden für erforderlich, obwohl diese Voraussetzung in vielen Mitgliedstaaten für die Staatshaftung verlangt wird.25 Abgesehen vom dargestellten engen Bereich der ausschließlichen Rechtssetzungsbefugnis der Gemeinschaft führt die vergleichende Ermittlung privatrechtlicher allgemeiner Rechtsgrundsätze jedoch nicht zu eigenständigem Gemeinschaftsrecht,26 sondern kann nur bei der Anwendung und Auslegung bestehender Rechtsakte helfen.27 Im Bereich der Primärrechtssetzung hat die Rechtsvergleichung für das Europäische Privatrecht daher nur geringe Bedeutung. 2.

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Sekundärrechtliche Ebene

Das Europäische Privatrecht im oben beschriebenen Sinne beruht bisher fast ausschließlich auf Rechtsakten des sekundären Gemeinschaftsrechts, vor allem auf Richtlinien und Verordnungen. Die früheren Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich des Internationalen Privat- und Prozessrechts, deren Abschluss im EG-Vertrag vorgesehen war (Art. 293 EG, in der Lissabonner Fassung aufgehoben), vor allem das noch bis Ende 2009 geltende Europäische Schuldvertragsübereinkommen (EVÜ) 28 sowie das ehemalige Europäische Gerichtsstand- und Vollstreckungsübereinkommen (EuGVÜ),29 bildeten eine Ausnahme: Bei ihnen handelte es sich um völkerrechtliche Verträge, die jedoch eng mit dem Gemeinschaftsrecht verknüpft waren (wie sich insbesondere an der eigens festgelegten Zuständigkeit des EuGH für

23 „… eine Ausprägung des in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten geltenden allgemeinen Grundsatzes, dass eine rechtswidrige Handlung oder Unterlassung die Verpflichtung zum Ersatz des verursachten Schadens nach sich zieht …“, EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 Brasserie du pêcheur, Slg. 1996, I-1029 Rn. 29; vgl. dazu Schroeder, JuS 2004, 180, 184. 24 Sog. „wertende“ Rechtsvergleichung, wie sie sich vor allem im Bereich der Grundrechte herausgebildet hat; dazu näher Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 393 ff; Schroeder, Grundkurs Europarecht (2009), § 15 Rn. 4; Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1.Teil Rn. 184 ff; v.Danwitz, ZESAR 2008, 57, 60 ff. 25 Schroeder, JuS 2004, 180, 184. Eine ähnlich selektive rechtsvergleichende Argumentation findet sich in EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 Köbler, Slg. 2003, I-10239 Rn.48 f., dazu v.Danwitz, ZESAR 2008, 57, 60. 26 So dezidiert Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1.Teil Rn. 182, Rn. 187 ff.; ähnlich Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 35. 27 Dazu unten, Rn. 23 ff. 28 Übereinkommen von Rom über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht v. 19.6.1980, konsolidierte Fassung, ABl. 1998 C 27/34. 29 Übereinkommen von Brüssel über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen v. 27.9.1968, konsolidierte Fassung, ABl. 1998 C 27/1.

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1. Teil: Grundlagen

die Auslegung dieser Instrumente zeigte). Sie wurden allerdings nach der Erweiterung der Gemeinschaftskompetenzen durch Art. 81 AEUV/65 EG als Verordnungen in das Sekundärrecht überführt.

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Mittels dieser Rechtsakte agieren die zuständigen Gemeinschaftsorgane bisher ähnlich wie nationale Gesetzgeber, indem sie bindende Regelungen für privatrechtliche Beziehungen aufstellen (unten a).

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Vor allem im Bereich des Vertragsrechts, aber in Ansätzen ebenso im Gesellschaftsrecht (etwa bei der Koordinierung der nationalen Corporate Governance-Kodizes durch ein europäisches Forum sowie bei der Bereitstellung eigenständiger europäischer Gesellschaftstypen), ist jedoch mittlerweile eine neuartige Strategie der Kommission zu erkennen, mit der sie sich aus der Rolle eines klassischen Rechtssetzers zurückzieht: Nach ihrem Aktionsplan zum Vertragsrecht30 sowie ihrer Mitteilung zum weiteren Vorgehen31 soll in Zukunft auf die herkömmliche Rechtsangleichung weitgehend verzichtet werden, vielmehr werden Regelungssysteme in Aussicht gestellt, an denen sich die privaten Parteien orientieren sollen (Gemeinsamer Referenzrahmen – GRR) oder vermittels derer sie ihre vertraglichen Beziehungen gestalten können (optionales Instrument). Damit operiert die Gemeinschaft wie „Formulierungsagenturen“ (formulating agencies), etwa UNIDROIT oder die International Chamber of Commerce (ICC), welche ohne legislative Befugnis im internationalen Wirtschaftsrecht den Akteuren einheitliche Bestimmungen an die Hand geben (unten b). Der Einfluss der Rechtsvergleichung soll für diese beiden unterschiedlichen Arten der Rechtssetzung im Europäischen Privatrecht getrennt dargestellt werden. a)

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Herkömmliche Rechtsangleichung

Üblicherweise wird dem Entwurf eines Rechtsaktes der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Privatrechts eine – regelmäßig eher kurz gehaltene – Bestandsaufnahme vorausgeschickt, in der die Regelungen des betroffenen Sachgebiets in den Mitgliedstaaten dargestellt werden32. Teilweise geschieht dies im Rahmen eines „Grünbuchs“, mit dem das Bedürfnis einer Maßnahme auf Gemeinschaftsebene begründet werden soll (so etwa zur Verbrauchsgüterkaufrichtlinie33 oder zur Umwelthaftungsrichtlinie,34 im Zivilprozessrecht zum Mahnverfahren,35 sehr viel detaillierter rechtsverglei-

30 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 12.2.2003 „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 C 63/1. 31 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 11.10.2004 „Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen“, KOM(2004) 651 endg. 32 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 33 Rn.14. 33 Grünbuch der Kommission v. 15.11.1993 über Verbrauchsgütergarantien und Kundendienst, KOM(1993) 509 endg. 34 Grünbuch der Kommission v. 14.3.1993 über die Sanierung von Umweltschäden, KOM(1993) 47 endg. 35 Grünbuch der Kommission v. 20.12.2002 über ein Europäisches Mahnverfahren und über Maßnahmen zur einfacheren und schnelleren Beilegung von Streitigkeiten mit geringen Streitwert, KOM(2002) 746 endg, S. 53 ff.

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§ 4 Die Rechtsvergleichung

chend sind dagegen die Berichte zum EuGVÜ36 sowie zum EVÜ37 verfasst). Damit wird auch bereits eine wichtige Funktion dieser Art der Darstellung der verschiedenen Rechtsordnungen deutlich: Den dort angeführten Regelungsunterschieden in den Rechten der Mitgliedstaaten werden negative Auswirkungen auf den Binnenmarkt zugeschrieben, so dass eine rechtsangleichende Maßnahme auf EG-Ebene zumindest sinnvoll erscheint und insoweit die Voraussetzungen der Kompetenzgrundlagen, etwa der Art. 114, 55 Abs. 2 lit. g) AEUV/95, 44 Abs. 2 lit. g), 293 EG, als gegeben angesehen werden können.38 Zur Rechtfertigung der Harmonisierung reicht jedoch regelmäßig das Aufzeigen von Unterschieden zwischen den nationalen Rechtsordnungen aus, ohne dass es einer vertieften inhaltlichen Bewertung dieser Regelungsdifferenzen bedarf.39 Somit kommt es auf einen als wesentlich angesehenen Bestandteil der Rechtsvergleichung gar nicht mehr an, sondern es bleibt bei der bloßen Darstellung unterschiedlicher Bestimmungen. Außerdem genügt in der Regel eine Gegenüberstellung der Gesetzeslage im Sinne einer Normenvergleichung, ohne dass noch auf Unterschiede in Rechtsprechung oder Rechtspraxis einzugehen ist. Schließlich ist auch die Auswahl der Rechtsordnungen begrenzt: Sie beschränkt sich auf die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft, weil nur sie für die Frage des Regelungsbedarfs ausschlaggebend ist. Diese letztlich aufgrund der begrenzten Einzelermächtigung des Gemeinschaftsgesetzgebers erforderliche Methode der Kompetenzbegründung erfordert daher nur eine reduzierte Art der Rechtsvergleichung. Eine weitere Funktion der Rechtsvergleichung bei der Angleichung des Privatrechts durch die Gemeinschaft könnte in der Orientierung der zu erlassenden Bestimmungen an in einzelnen Mitgliedstaaten geltenden Regelungen bestehen. Dies entspräche der klassischen Verwendung komparativer Studien bei der Rechtssetzung sowohl für Reformen auf nationaler Ebene40 wie bei der Schaffung internationalen Einheitsrechts.41 Ebenso wenig wie staatliche Gesetzgeber und internationale Regelsetzer ist die Gemeinschaft jedoch gehalten, ihre Rechtsvorschriften an denen von Mitgliedstaaten auszurichten. Unterschiede zwischen den mitgliedstaatlichen Privatrechten

36 Bericht von Herrn P. Jenard zu dem Übereinkommen v. 27.9.1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 1979 C 59/1 (Jenard-Bericht). 37 Bericht über das Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht von Herrn Mario Giuliano, Professor an der Universität Mailand, und Herrn Paul Lagarde, Professor an der Universität Paris I, ABl. 1980 C 282/1 (Giuliano-Lagarde-Bericht). 38 Ähnlich Bleckmann, ZVglRWiss 75 (1976), 106, 116 ff., der für die Rechtsangleichung allerdings den Nachweis verlangt, dass zumindest in einem Mitgliedstaat bereits eine Regelung vorhanden sein müsse. 39 Vgl. auch Michaels, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, S. 1268. Allenfalls muss noch festgestellt werden, ob das Ausmaß der Unterschiede die Gemeinschaftsziele in dem Maße beeinträchtigt, dass ein Tätigwerden auf EG-Ebene erforderlich ist. 40 So etwa bei der Erarbeitung des niederländischen „Nieuw“ Burgerlijk Wetboek, vgl. Hondius, AcP 191 (1991), 378, 394 f. 41 Dazu bereits Kropholler, Internationales Einheitsrecht, S. 254 ff.

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1. Teil: Grundlagen

können vielmehr auch dadurch entschärft oder ausgeglichen werden, dass in sämtlichen Rechtsordnungen völlig neuartige Bestimmungen eingeführt werden.

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Andererseits muss sich die Gemeinschaft bei der rechtsvergleichenden Ermittlung einer angemessenen Problemlösung im Bereich des Rechtsangleichungsakts nicht auf die Rechtslage in den Mitgliedstaaten beschränken, sondern kann auch „externe“ Regelungen berücksichtigen (so etwa bei der Abstimmung der europäischen Rechnungslegungsstandards mit den International Accounting Standards durch die IAS/ IFRS-Verordnung42 sowie die Änderung der Jahresabschluss-Richtlinien43 oder bei den vom US-amerikanischen System beeinflussten Überlegungen zum zukünftigen Kapitalschutz im Gesellschaftsrecht44) – immer vorausgesetzt, ihre Rezeption führt nicht zu Friktionen in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, deren negative Folgen die positiven Wirkungen der Rechtsangleichung überwiegen.

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Interessanterweise legt die Gemeinschaft ihre aus den Mitgliedstaaten übernommenen Anregungen für harmonisierende Bestimmungen weniger offen, als dies bei nationalen Gesetzgebungsprojekten oder Entwürfen internationalen Einheitsrechts der Fall ist.45 Anscheinend soll vermieden werden, dass die jeweilige Vorbildrechtsordnung als Grundlage für die Auslegung herangezogen und auf diese Weise das Gemeinschaftsrecht vom Recht einzelner Mitgliedstaaten geprägt wird. Das wäre mit der Vorstellung einer „autonomen“ Rechtsordnung auf der Ebene der EG nicht vereinbar.46 Vielfach wird allerdings von außen, d.h. durch Wissenschaft und Praxis, versucht, das Ausmaß der Übereinstimmung von Gemeinschaftsbestimmungen mit – meist nationalen – Vorschriften unter Zuhilfenahme der Rechtsvergleichung zu ermitteln: So wird etwa der Klauselrichtlinie ein prägender Einfluss des – mittlerweile in das BGB überführten – deutschen AGB-Gesetzes zugeschrieben, insbesondere beim Prinzip der Überprüfung von missbräuchlichen Klauseln in jedem Zivilverfah-

42 Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABl. 2002 L 243/1, inhaltlich ausgeführt durch Verordnung (EG) Nr. 1126/2008 der Kommission v. 3.11.2008, ABl. 2008 L 320/1. 43 Richtlinie 2003/51/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 18.6.2003 zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG, 83/349/EWG, 86/635/EWG und 91/674/EWG über den Jahresabschluss und den konsolidierten Abschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, von Banken und anderen Finanzinstituten sowie von Versicherungsunternehmen, ABl. 2003 L 178/16. 44 Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament v. 21.5.2003 „Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union – Aktionsplan“, KOM(2003) 284 endg, S. 21. 45 So auch Lutter, JZ 1992, 593, 602. 46 Davon abgesehen wäre es wohl auch politisch unklug, zumindest vor Verabschiedung der Rechtsakte die inhaltliche Nähe zum Recht bestimmter Mitgliedstaaten deutlich zu machen, da dies unter Umständen Abwehrreaktionen der übrigen, die weniger erfolgreich waren, zur Folge haben könnte. Ähnlich R. Schulze, ZfRV 1997, 183, 189. S.a. Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 38.

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§ 4 Die Rechtsvergleichung

ren sowie bei der Ausrichtung dieser Kontrolle an Treu und Glauben.47 Ähnlich wird der in der Bilanzrichtlinie verwendete „true and fair view“ dem englischen Recht zugeordnet.48 Sichtbar wird eine Verwendung rechtsvergleichender Methoden bei der herkömmlichen Rechtsangleichung daher meist ausschließlich in den zur Rechtfertigung der Harmonisierungsziele vorgenommenen Zusammenstellungen der Regelungsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, während ihr Einfluss auf die Inhalte und damit auf die Regelungsziele der Rechtsakte im Einzelnen erst nachträglich durch vergleichende Analysen zu entschlüsseln versucht wird. b)

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Neuartige Regelungsinstrumente

Im Aktionsplan für „ein kohärenteres Europäisches Vertragsrecht“ wurden die dort vorgeschlagenen Maßnahmen der Gemeinschaft soweit es den Inhalt, also das Regelungsziel betrifft, erstmals offen auf eine breite rechtsvergleichende Grundlage gestellt.49 So sollten als „Basisquellen“ für den Gemeinsamen Referenzrahmen „die geltenden nationalen Rechtsordnungen“ herangezogen werden.50 Dazu schienen auf den ersten Blick nur die der Mitgliedstaaten zu gehören, denn als Ziel wurde unter anderem ein „gemeinsamer Nenner“ ins Auge gefasst. Zumindest der Vergleich mit „geeigneten Drittstaaten“ wurde jedoch ebenfalls angeregt, da eine Annäherung der Vertragsrechte auch im Verhältnis zu diesen bezweckt war.51 Außerdem sollte es nicht beim bloßen Normenvergleich bleiben, vielmehr war ausdrücklich auch „die Rechtsprechung der nationalen Gerichte … und die bestehende Vertragspraxis“ zu berücksichtigen.52 Schließlich wurde der Vergleichsraum über die traditionelle Rechtsvergleichung hinaus vergrößert, indem Einheitsprivatrecht, sowohl in Form vorhandener Gemeinschaftsregelungen wie auch internationaler Instrumente, etwa das UN-Kaufrecht, mit einzubeziehen war,53 welches seinerseits wiederum auf rechtsvergleichenden Erwägungen beruht. Dabei wird wohl auch erwartet, dass Regelungen des internationalen Einheitsrechts aufgrund ihres neutralen Charakters den Mitgliedstaaten akzeptabel erscheinen,54 jedoch könnten die in ihnen enthaltenen Einflüsse aus 47 Daneben wird aber auch die französische Herkunft einiger Vorschriften vermutet, wie etwa beim Merkmal des erheblichen Ungleichgewichts, vgl. Grabitz/Hilf-Pfeiffer, A 5 (AGBRL) Vorbem. Rn. 32. Zum Einfluss des UN-Kaufrechts auf die Kaufgewährleistungsrichtlinie etwa Grundmann, AcP 202 (2002), 40 ff. 48 Vgl. Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 466. 49 So auch Schmidt-Kessel, in diesem Band, §17 Rn. 46, der von einer rechtsvergleichenden „Großstudie“ spricht. 50 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 12.2.2003 „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 C 63/1, Ziff. 63. 51 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 12.2.2003 „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 C 63/1, Ziff. 62. 52 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 12.2.2003 „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 C 63/1, Ziff. 63. 53 Nachweis wie vorige Fn. Dafür plädiert schon Kropholler, Internationales Einheitsrecht, S. 257 f., sofern ein vergleichbarer sachlicher (oder räumlicher) Bereich gegeben ist. 54 So Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 60. Andreas Schwartze

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1. Teil: Grundlagen

Rechtsordnungen außerhalb der Gemeinschaft das Gegenteil bewirken.55 Nach dem Aktionsplan wurde jedenfalls gegenüber der bisherigen Rechtsangleichung der Einfluss der – vergleichenden – Rechtswissenschaft erheblich vergrößert, denn deren Forschungstätigkeiten sollten mit einbezogen und wirtschaftlich gefördert werden.56 Dazu hat wohl auch beigetragen, dass die zunächst auf akademische Initiative hin geleisteten Vorarbeiten bereits umfangreiche Ergebnisse hervorgebracht hatten.57

18a

Der Gemeinsame Referenzrahmen basiert in seiner Entwurfsfassung (Draft Common Frame of Reference – DCFR)58 also auf intensiven rechtsvergleichenden Studien in den verschiedenen Forschungsgruppen des Joint Network on European Private Law (CoPECL).59 Es ist zu erwarten, dass bereits der DCFR bei der zukünftigen Entwicklung des Gemeinschaftsrechts berücksichtigt wird.60 Der eigentliche „politische“ Gemeinsame Referenzrahmen, der von der Europäischen Kommission auf der Grundlage des DCFR erarbeitet werden wird, soll dann ausdrücklich dem Ziel der Verbesserung des bestehenden und künftigen Gemeinschaftsrechts dienen.61

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Für das im Aktionsplan langfristig in Aussicht gestellte und nach der Mitteilung zum weiteren Vorgehen auf seine Zweckmäßigkeit zu überprüfende „optionale Instrument“, eine von den Parteien wählbare, neben die mitgliedstaatlichen Regelungssysteme tretende zusätzliche Vertragsordnung, wird eine mögliche Hilfestellung der Rechtsvergleichung bei der inhaltlichen Erarbeitung nicht näher beschrieben. Da es jedoch auf dem Gemeinsamen Referenzrahmen aufbauen soll,62 wird die dort eingesetzte vergleichende Methode auf diese Weise weitergehend genutzt.

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Vergleicht man den beschriebenen komparativen Aufwand für die neuartigen Regelungsinstrumente im Schuldrecht, insbesondere den DCFR (zum Gesellschaftsrecht

55 Auch die Modernität des Einheitsrechts, Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 60, ist relativ: Immerhin gibt etwa das UN-Kaufrecht von 1980 den Stand der Rechtsvergleichung vor mittlerweile mehr als dreißig Jahren wieder. 56 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 12.2.2003 „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 C 63/1, Ziff. 66 ff. 57 I.E. dazu unten, Rn. 36 ff. 58 v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition. 59 v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition, S. 47. 60 v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition, Introduction Nr. 8; s.a. Röthel, in diesem Band, § 12 Rn. 39a. 61 v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition, Introduction Nr. 59–64; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 11.10.2004 „Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen“, KOM(2004) 651 endg, S. 2 f. 62 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 12.2.2003 „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 C 63/1, Ziff. 95, vgl. auch Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 11.10.2004 „Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen“, KOM(2004) 651 endg, S. 21, v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition, Introduction Nr. 80.

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§ 4 Die Rechtsvergleichung

finden sich diesbezüglich keine näheren Hinweise) mit dem früher eher reduzierten Einsatz der Rechtsvergleichung bei der herkömmlichen Harmonisierung, dann wird dieser nun für das gesamte Gebiet des Privatrechts anscheinend als lohnend angesehen, während ihn die Gemeinschaft in der Vergangenheit bei den überschaubaren Einzelregelungen eher gescheut hat. Die neue Strategie bei der Entwicklung des Europäischen Privatrechts hat daher dazu geführt, dass die Bedeutung der Rechtsvergleichung in diesem Prozess erheblich zugenommen hat.

III. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Anwendung von Europäischem Privatrecht Während die Verwendung rechtsvergleichender Ansätze im Rahmen der Privatrechtssetzung der Gemeinschaft bisher in der Literatur nur wenig Beachtung gefunden hat, scheint die „rechtsvergleichende Auslegung“ etwas mehr Interesse zu wecken. Dies mag – wie oben bereits erwähnt – daran liegen, dass die Tätigkeit der Gerichte, die regelmäßig Normen interpretieren und damit laufend auf die Rechtsordnung einwirken, aus Sicht von Praxis und Lehre als wichtiger angesehen wird als der meist nur in größeren Abständen erfolgende Eingriff des Gesetzgebers.

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Da die Auslegung und Fortbildung des primären Gemeinschaftsrecht63 anderen Prinzipien folgt als die des auf sekundären Rechtsakten beruhenden Europäischen Privatrechts, wird hier nur letztere, d.h. im Wesentlichen die Interpretation von Richtlinien und Verordnungen mit privatrechtlichem Inhalt, auf ihren rechtsvergleichenden Hintergrund hin untersucht. Die Auslegungshoheit auch für diese Normen des Gemeinschaftsrechts liegt letztlich beim EuGH, weshalb dessen Tätigkeit zunächst behandelt wird (unten 1.). Die Gerichte der Mitgliedstaaten haben ebenfalls Europäisches Privatrecht anzuwenden und auch eigenständig auszulegen, solange sie diesbezüglich keine Zweifel haben, die sie gemäß Art. 267 AEUV/234 EG dem EuGH vortragen müssten. Darüber hinaus sind sie aber allein für das auf dem Gemeinschaftsrecht beruhende – in der Regel nach dessen Vorgabe angeglichene – jeweilige nationale Recht zuständig, bei dessen Anwendung die Rechtsvergleichung ebenfalls zum Einsatz kommen könnte (unten 2.).

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1.

Auslegung von Europäischem Privatrecht durch den EuGH

Bezieht sich der EuGH als Maßstab für seine Entscheidung auf ein nationales Recht, was nur dann möglich ist, wenn das anzuwendende Gemeinschaftsrecht im Ausnahmefall auf diese Rechtsordnung verweist,64 dann geht er keineswegs rechtsvergleichend vor, denn er stellt nicht mindestens zwei Regelungen einander gegenüber, um ihre Gemeinsamkeiten oder Unterschiede herauszuarbeiten. Vielmehr wendet er, ähnlich wie ein nationaler Richter aufgrund einer Anordnung durch eine Verweisungs-

63 Dazu Pechstein/Drechsler, in diesem Band, § 8. 64 Vgl. dazu Kohler/Knapp, ZEuP 2002, 701, 706 ff.; Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 4.

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1. Teil: Grundlagen

norm des Internationalen Privatrechts, von vornherein eine bestimmte Rechtsordnung an.

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Auch wenn der EuGH unterschiedliche Sprachfassungen eines Rechtsakts zur Interpretation bestimmter Begriffe heranzieht, liegt darin keine Rechtsvergleichung, denn es handelt sich ja um ein und dieselbe Regelung in gleichermaßen verbindlichen Versionen. Damit ist aus den verschiedenen Sprachen zunächst der genaue, „eigentlich“ beabsichtigte Wortlaut zu ermitteln,65 der dann zum Gegenstand weiterer Auslegung wird. Wenn allerdings die Begriffe jeweils unter Zuhilfenahme der Rechtsordnungen analysiert werden, denen sie entstammen, liegt eine Art indirekte Rechtsvergleichung vor.66 Rein linguistische Vergleiche wird man dagegen regelmäßig weiterhin der Auslegung nach dem Wortlaut zuordnen.67

25

Damit bleibt – wenn man von der oben bereits erörterten Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze absieht, welche als Lückenschließung der Rechtssetzung zugeordnet wurde – die Nutzung der Rechtsvergleichung durch den EuGH, um im Rahmen der gemeinschaftsautonomen Auslegung Erkenntnisse über mögliche Interpretationsvarianten des Europäischen Privatrechts zu gewinnen68 und vor allem die privatrechtliche Argumentationsbasis zu verbreitern. Dies ist deshalb erforderlich, weil der EuGH sich bei der Auslegung des EG-Rechts traditionellerweise ganz überwiegend an der Sichtweise des institutionellen Europarechts, im Bereich des Europäischen Privatrechts bisher vor allem an den Zielen des Binnenmarktes sowie der damit verbundenen Rechtsangleichung, kurz: dem Harmonisierungszweck, orientiert. Die in Rede stehenden Rechtsakte, also derzeit – abgesehen von den früher geltenden gemeinschaftsnahen Übereinkommen – Richtlinien oder Verordnungen, bezwecken jedoch daneben immer auch eine inhaltliche, genuin privatrechtliche Problemlösung im Sinne eines Regelungsziels.69 Daher sind Rechtsmeinungen und Streitpunkte aus dem von der Anpassung betroffenen Rechtsgebiet in die Auslegung mit einzubeziehen, um die Sachfragen angemessen zu klären. Während auf EG-Ebene derzeit vor allem eine übergreifende privatrechtliche Systematik fehlt, bieten die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten diesbezüglich einen reichen Fundus, der nicht unbeachtet bleiben sollte.

65 Lutter, JZ 1992, 593, 599, sieht darin bloße Textkritik. Vgl. auch Martiny, ZEuP 1998, 227, 239 ff. 66 R. Schulze, ZfRV 1997, 183, 190, Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 456. Häberle, JZ 1989, 913, spricht insoweit von der Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode. 67 Kohler/Knapp, ZEuP 2002, 701, 720 f., M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 574 ff., Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 49 (die sie allerdings alternativ der systematischen Auslegung zuordnet). So auch Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 15; ebenso bereits Kropholler, Internationales Einheitsrecht (1975), S. 266 ff. 68 Bei Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 533, als Inspirationsfunktion bezeichnet. Basedow, in: Zimmermann (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik (2000), S. 98, spricht von der horizontalen Funktion einer „komparativen Dogmatik“. 69 So steht etwa bei der Kaufgewährleistungsrichtlinie neben der Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt (BE 3) als Harmonisierungsziel die Stärkung des Vertrauens sowie ein Mindestmaß an Schutz für den Verbraucherkäufer (BE 5, 7) als Regelungsziel.

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Andreas Schwartze

§ 4 Die Rechtsvergleichung

Diese Art der Rechtsvergleichung ist jedoch auf die jeweils verwendete Auslegungsmethode abzustimmen. Im Rahmen der historischen Auslegung einer Richtlinie oder Verordnung könnten etwa die privatrechtlichen Anwendungserfahrungen aus denjenigen Mitgliedstaaten berücksichtigt werden, bei denen bereits vor Erlass des Gemeinschaftsrechtsakts ähnliche Bestimmungen galten;70 dies darf jedoch keinesfalls dazu führen, dass auf längere Sicht eine national geprägte Interpretation der gemeinschaftsrechtlichen Regelung nach bestimmten Vorbildern festgeschrieben wird, denn dies widerspräche dem bereits erwähnten autonomen Charakter des Gemeinschaftsrechts.71

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Für die systematische Auslegung, die sich ansonsten meist auf benachbartes Gemeinschaftsrecht – hier etwa: andere Richtlinien im Bereich des Privatrechts – bezieht, wurde zunächst angeregt, zusätzlich die Europäischen Vertragsgrundregeln der LandoKommission als Hilfsmittel heranzuziehen, wodurch die darin eingeflossene Rechtsvergleichung nutzbar gemacht würde.72 Die principles wurden mittlerweile in den DCFR eingearbeitet,73 so dass nunmehr zur Auslegung auf dieses aktuelle Regelwerk zurückgegriffen werden kann. Zwar wurde damit – ebenso wie durch die PECL – kein Gemeinschaftsrecht geschaffen, aber in Anlehnung an die US-amerikanischen Restatements bietet der DCFR ein privatrechtliches Argumentationsreservoir, welches leichter als die nationalen Rechtsordnungen zugänglich ist. Ebenso wie Regelungsentwürfe74 ergänzt er andere Auslegungsmittel. Auch im Europäischen Privatrecht könnten damit Lücken geschlossen werden, wie es für den DCFR angedeutet wird,75 während es in Art. 1:101 Abs. 4 PECL noch ausdrücklich vorgesehen wurde.76

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Ob darüber hinaus speziell bei der Auslegung von Richtlinien durch den EuGH im Wege der teleologischen Auslegung eine Einbeziehung des von den Mitgliedstaaten in

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70 Buerstedde, Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts (2006), S. 165, Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 16 f. Dies ist jedenfalls dort möglich, wo die Bestimmung, die Modell gestanden hat, hinreichend eindeutig zu erkennen ist, dazu etwa Gruber, Methoden des Internationalen Einheitsrechts (2004), S. 192 f, sowie oben, Rn. 16 bei Fn. 45. Für das UN-Kaufrecht wird unter diesen Umständen eine derartige nationale Einfärbung der Interpretation als Ausnahme von der autonomen Auslegung angeregt, Schlechtriem/ Schwenzer-Ferrari, Art. 7 CISG Rn. 10 mwN. 71 R. Schulze, ZfRV 1997, 183, 189; Lutter, JZ 1992, 593, 601 f. Vgl. auch Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 6. 72 Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 48, ebenso Berger, FS Sandrock, S. 60 f., zur Verwendung der UNIDROIT-Principles. Vgl. auch Rauscher-Staudinger, Einl. Brüssel I-VO Rn. 39. 73 Die PECL wurden bei der Erarbeitung des Gemeinsamen Referenzrahmens, dazu oben, Rn. 18 ff., berücksichtigt, v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition, Introduction Nr. 49. 74 Dazu Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 28 f. 75 v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition, Introduction Nr. 8. 76 Auch wenn in erster Linie an Lückenfüllung in einem nationalen Recht gedacht ist, v. Bar/ Zimmermann (Hrsg.), Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts (2002), S. 89 f. Vgl. dazu Schwartze, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung (2007), S. 149.

Andreas Schwartze

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1. Teil: Grundlagen

Erfüllung der Umsetzungsverpflichtung angeglichenen nationalen Rechts – einschließlich der jeweiligen Rechtsprechung und Lehre – sinnvoll ist,77 dürfte zweifelhaft sein. In diesem Fall bestünde nämlich die Gefahr, dass die Auslegung der Richtlinie, an deren Inhalt die mitgliedsstaatlichen Rechte auszurichten sind,78 von den Umsetzungsregeln in den Mitgliedstaaten beeinflusst wird. Dieser Zirkelschluss ist jedoch zu vermeiden.

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Festzuhalten bleibt, dass die Auslegungsmethoden in unterschiedlichem Maße Raum für eine Unterstützung durch die Rechtsvergleichung bieten, deren Anwendung in den Entscheidungen des EuGH jedoch nur selten offen gelegt wird.79 Allerdings ist auch bei der Anwendung des Europäischen Privatrechts das Gemeinschaftsorgan, hier der EuGH, nicht verpflichtet, rechtsvergleichende Analysen vorzunehmen. Insofern besteht kein Unterschied zu den nationalen Gerichten, die bei der Auslegung ihres heimischen Rechts daran ebenso wenig gebunden sind. 2.

Auslegung von Europäischem Privatrecht durch nationale Gerichte

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Für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch die Gerichte der Mitgliedstaaten gilt das oben zum EuGH Ausgeführte. Die Anwendung des an die Vorgaben vor allem von Richtlinien angepassten innerstaatlichen Rechts, bei dem es sich ebenfalls um Europäisches Privatrecht, allerdings in nationalem Gewande, handelt, steht jedoch allein den heimischen Gerichten zu, weshalb dieser Teil ihrer Tätigkeit hier getrennt zu untersuchen ist.

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Einhelligkeit besteht darüber, dass das vom Gemeinschaftsrecht beeinflusste nationale Privatrecht bei der Rechtsanwendung anders zu behandeln ist, als die allein auf innerstaatlichen Erwägungen gegründeten Rechtssätze. Dies beruht auf der Fortwirkung der europäischen Vorgaben im nationalen Recht.80 Damit wird es erforderlich, einer national geprägten Anwendung und Auslegung des gemeinschaftsrechtlich angeglichenen Rechts entgegenzuwirken und zu einer möglichst einheitlichen Interpre-

77 So Lutter, JZ 1992, 593, 604, Kakouris, Pace Int’l L. Rev. 6 (1994), 267, 274. 78 Siehe dazu sogleich, Rn. 31 ff. 79 Vgl. Rodriguez Iglesias, NJW 1999, 1, 8; Kakouris, Pace Int’l L. Rev. 6 (1994), 267, 275 ff.; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 533; Everling, ZEuP 1997, 802, der auf deutlichere Hinweise in den Schlussanträgen der Generalanwälte verweist, ebenso Hess, IPRax 2006, 348, 352, zum Europäischen Zivilprozessrecht, ähnlich Michaels, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, S. 1269; krit. zur vernachlässigten Rechtsvergleichung in Bezug auf deliktsrechtliche Entscheidungen B. Koch, in: Roth/ Hilpold (Hrsg.), Der EuGH und die Souveranität der Mitgliedstaaten (2008), S. 507. Beispiele bieten etwa GA Tizzano, SchlA v. 20.9.2001 – Rs. C-168/00 Simone Leitner, Slg. 2002, I-2631 Tz. 40–42, wo recht pauschal die Entwicklung in den Mitgliedstaaten zum Ersatz entgangener Urlaubsfreude verglichen wird, oder GA Darmin SchlA v. 2.12.1992 – Rs. C-172/91 Sonntag, Slg. 1993, I-1963 Tz. 28–40, der im Überblick die Art des Rechtsweges bei Schadensersatzansprüchen gegen Beamte in den damaligen 12 Mitgliedstaaten darstellt. S.a. Rebhahn, in diesem Band, § 18 Rn. 44; Stotz, in diesem Band, § 22 Rn. 7. 80 Zur richtlinienkonformen Auslegung W.-H. Roth, in diesem Band, § 14; zur primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts Leible/Domröse, in diesem Band, § 9 Rn. 38 ff.

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Andreas Schwartze

§ 4 Die Rechtsvergleichung

tation innerhalb der EG zu gelangen. Dazu kann vor allem ein Vergleich mit der Rechtsprechung in anderen Mitgliedstaaten zu einem Rechtsakt der Gemeinschaft oder zu den darauf beruhenden Umsetzungsbestimmungen beitragen81. Eine derartige „Beobachtung“ parallel ergangener Entscheidungen wird deshalb im internationalen Einheitsrecht vielfach durch spezielle teleologisch geprägte Auslegungsregeln angeregt. So verlangt etwa Art. 7 Abs. 1 CISG unter anderem, bei der Interpretation des Übereinkommens „seine einheitliche Anwendung … zu fördern“, wozu in erster Linie die Aufdeckung möglicher abweichender Auslegung durch die Ermittlung ausländischer Rechtsprechung beiträgt.82 Auch im europäisch verankerten Einheitsrecht wird dieser Grundsatz etwa in Art. 18 EVÜ für die Auslegung des Europäischen Vertragskollisionsrechts ganz ähnlich formuliert und verstanden,83 ebenso in den Europäischen Vertragsgrundregeln (Art. 1:106 Abs. 1 S. 2 PECL)84 sowie in Art. I.-1:102 Abs. 3 lit. a) DCFR. Wenn auch in den EG-Richtlinien entsprechende Anweisungen fehlen, so verlangt der Vorrang des selbstverständlich einheitlich anzuwendenden Gemeinschaftsrechts eine entsprechende rechtsvergleichend ausgerichtete Interpretation für das angeglichene Privatrecht der Mitgliedstaaten.85 Für den Vergleich heranzuziehen sind allerdings allein die Rechtsordnungen, für die eine einheitliche Auslegung verlangt wird, also die EG-Mitgliedstaaten (einschließlich wohl auch der EWR-Staaten).86 Diese haben in Erfüllung der Umsetzungsverpflichtung ihr nationales Recht angeglichen, so dass jeweils erkennbar wird, wie ihre Gesetzgeber und Gerichte die Zielvorgaben der Gemeinschaft verstehen. Dafür ist es allerdings erforderlich, den Gerichten die notwendigen Informationen über ausländische Gerichtsentscheidungen zugänglich zu machen. Der Aufbau entsprechender Datenbanken, ähnlich wie zum UN-Kaufrecht CLOUT oder UNILEX, steht jedoch noch am Anfang.87 Auch die aufbereitende Literatur fehlt bisher nahezu vollständig, da die Kommentare zu den nationalen Umsetzungsregelungen kaum auf ausländi-

81 Zudem können auf diese Weise mögliche Umsetzungswidersprüche des eigenen Rechts aufgedeckt werden, vgl. Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 9. Vgl. auch Michaels, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, S. 1269. 82 Schlechtriem/Schwenzer-Ferrari, Art. 7 CISG Rn. 17; Staudinger-Magnus, Art. 7 CISG Rn. 21; Kramer, Methodenlehre, S. 232. 83 Zur rechtsvergleichenden Orientierung an ausländischer Rechtsprechung etwa in: RummelVerschraegen, ABGB (Bd. 2, 3. Aufl. 2004), Art. 18 EVÜ Rn. 13. 84 Inhaltlich übereinstimmend Art. 1.6. UP. 85 Dafür auch Lutter, JZ 1992, 593, 604; Kötz, JZ 2002, 257, 258; Mansel, JZ 1991, 529, 531; Gruber, ZVglRWiss 101 (2002), 38, 42; weitergehend Odersky, ZEuP 1994, 1, 3 f. Zum dadurch entstehenden Aufwand skeptisch Berger, FS Sandrock, S. 60. Krit. Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen (2006), S. 34 f. 86 Die Schweiz oder andere, etwa osteuropäische, Staaten, in denen Gemeinschaftsrecht teilweise freiwillig übernommen wird („autonomer Nachvollzug“, dazu etwa Schnyder, in: Furrer (Hrsg.), Europäisches Privatrecht im wissenschaftlichen Diskurs (2006), S. 206), sind aus dieser Perspektive nicht in die rechtsvergleichenden Überlegungen mit einzubeziehen. 87 Eines der ersten Projekte dieser Art stellt die „JURE Database – JUrisdiction Recognition Enforcement“ zur EuGVVO, http://ec.europa.eu/civiljustice/jure/index.htm, dar, an der der Verfasser als zuliefernder Experte für österreichische Entscheidungen mitwirkt. Andreas Schwartze

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1. Teil: Grundlagen

sche Entscheidungen zu parallelen Normen in den anderen Mitgliedstaaten eingehen88.

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Inwieweit eine Pflicht der mitgliedstaatlichen Gerichte bezüglich dieser Art der Rechtsvergleichung angenommen werden kann, ist wie regelmäßig bei Auslegungsfragen nur schwer zu bestimmen: Zumindest sollte eine Auseinandersetzung mit dem Richtlinienverständnis in anderen Mitgliedstaaten erkennbar werden, die Bewertung unterliegt dagegen dem Ermessen der Richter. Natürlich besteht keine Bindung an die Entscheidungen ausländischer Gerichte, man sollte ihnen allerdings eine nicht unerhebliche persuasive authority zumessen.89

34

Da der Bestand des Europäischen Privatrechts in den letzten Jahren zugenommen hat, dürfte vor allem bei den Gerichten der Mitgliedstaaten die Zahl der Entscheidungen zum umgesetzten Recht ansteigen. Damit müsste auch die Bedeutung der rechtsvergleichenden Methode bei der Anwendung dieser Regelungen zunehmen.

IV.

35

Der Einsatz der Rechtsvergleichung in Forschung und Lehre zum Europäischen Privatrecht

Im Bereich der Wissenschaft tritt der bislang erörterte Anwendungsbezug der rechtsvergleichenden Methode in den Hintergrund. Dort dient sie weniger als Hilfsmittel, vielmehr erfüllt sie vor allem ihre primäre Funktion, die Erkenntnisse über rechtliche Normen zu bereichern und die Vielfalt möglicher Regelungsmodelle zu veranschaulichen.90 Dadurch eignet sie sich besonders für die juristische Ausbildung,91 wo sie allerdings wiederum eine unterstützende Aufgabe wahrnimmt und ihre praktische Verwertung dominiert. Beide Aspekte, Forschung wie Lehre, wirken sich im Gegenzug auf die zuvor dargestellte Rechtssetzung und Rechtsanwendung aus, soweit die Ergebnisse der wissenschaftlichen Rechtsvergleichung wahrgenommen werden und die rechtsvergleichend ausgebildeten Juristen ihre erworbenen Kenntnisse anwenden. In welchem Maße dies für das Europäische Privatrecht gilt, soll daher ergänzend dargestellt werden.

88 So wird etwa in deutschen Kommentierungen zum Widerrufsrecht bei Haustürgeschäften, welches in allen Mitgliedstaaten auf der Haustürgeschäfterichtlinie basiert, meist gar nicht auf die Rechtsprechung anderer EU-Mitglieder eingegangen, ein wenig mehr findet sich im traditionell stärker auf Nachbarrechtsordnungen Bezug nehmenden Österreich, vgl. etwa Fenyves/Kerschner/Vonkilch-Mayrhofer/Tangl, ABGB (3. Aufl. 2006), § 3 KSchG Rn. 23 Fn. 73, Rn. 35 Fn. 92, jeweils zur deutschen Rechtsprechung. 89 Ähnlich für das UN-Kaufrecht Schlechtriem/Schwenzer-Ferrari, Art. 7 CISG Rn. 24. 90 Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 14. 91 Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 20; vgl. auch Brand, JuS 2003, 1083, 1084.

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Andreas Schwartze

§ 4 Die Rechtsvergleichung

1.

Wissenschaftliche Projekte

Es drängt sich der Eindruck auf, dass in den letzten Jahren die wissenschaftlich fundierte Rechtsvergleichung mit Bezug zum Europäischen Privatrecht einen starken Aufschwung erlebt hat. Das liegt sicherlich daran, dass eine ganze Anzahl unterschiedlicher Forschungsgruppen oder akademischer Netzwerke gebildet wurden, die sich mit verschiedenen Aspekten dieser Materie befassen:92 Neben der bereits Anfang der Achtziger Jahre von Ole Lando (Kopenhagen) gegründeten, aber erst etwa zehn Jahre später an die Öffentlichkeit getretenen93 „Commission on European Contract Law“ beschäftigen sich sowohl die „Academia dei Giusprivatisti Europei“ unter dem Vorsitz von Giuseppe Gandolfi (Pavia) wie auch die von Stefan Grundmann (Berlin) geleitete „Gesellschaft für Europäisches Vertragsrecht (SECOLA)“ mit den Vertragsrechten der Mitgliedstaaten. Ein breiteres Gebiet bearbeiten sowohl die durch Christian von Bar (Osnabrück) geführte „Study Group on a European Civil Code“ mit ihren mittlerweile sieben Untergruppen (einschließlich des in Innsbruck beheimateten Restatement-Projekts zum Versicherungsvertrag) wie die von Hans Schulte-Nölke (Bielefeld) koordinierte „Acquis Group“, die sich am geltenden Privatrecht der Europäischen Gemeinschaft ausrichtet. Weitere derartige think tanks befassen sich mit dem Deliktsrecht („European Centre of Tort and Insurance Law – ECTIL“, geleitet von Helmut Koziol, Wien), dem Verfahrensrecht (Storme-Kommission, mittlerweile unter der Obhut von UNIDROIT) oder generell mit dem „Common Core of European Private Law“ (Mauro Bussani/Ugo Mattei, Trento).

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Allen diesen Gruppen ist gemeinsam, dass sie dezidiert rechtsvergleichend arbeiten, einige vorwiegend (Acquis Group) oder teilweise (SECOLA) innerhalb des von der Gemeinschaft erlassenen Privatrechts. Ebenfalls sämtliche Initiativen haben bereits umfangreiche Ergebnisse vorgelegt oder planen dies in naher Zukunft, wobei sowohl Regelungstexte entstanden sind – am bekanntesten bisher die Europäischen Vertragsgrundregeln der Lando-Gruppe, neuerdings jedoch der DCFR – wie auch monographisch-deskriptive Untersuchungen. Es war allerdings notwendig, die zwar personell teilweise verknüpften aber inhaltlich unabhängig voneinander operierenden Einheiten zu koordinieren oder zumindest die Früchte ihrer Arbeit zu konsolidieren,94 was innerhalb des zur Erarbeitung des Gemeinsamen Referenzrahmens errichteten „Joint Network on European Private Law – CoPECL“ weitgehend geschehen ist.

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Auf jeden Fall steht nicht zuletzt mit der voluminösen Full Edition des DCFR95 mittlerweile umfangreiches rechtsvergleichendes Material zur Verfügung, welches von Rechtssetzung und Rechtsprechung sowohl auf Gemeinschaftsebene als auch in den Mitgliedstaaten, aber ebenso von Rechtsanwendern wie etwa Vertragsparteien, ver-

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92 Dazu auch Schmidt-Kessel, RIW 2003, 481, 483 f., sowie ausführlich Riedl, Vereinheitlichung des Privatrechts in Europa (2004), S. 161 ff. 93 Lando, RabelsZ 56 (1992), 261 ff. 94 So für die Privatrechtsvereinheitlichung allgemein bereits die Forderung von Kramer, JBl. 1988, 477, 487. 95 v. Bar/Clive, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Full Edition, 6563 Seiten. Andreas Schwartze

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1. Teil: Grundlagen

wendet werden kann. In dem Maße, in dem dieses Angebot genutzt wird, steigt auch die Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Weiterentwicklung des Europäischen Privatrechts. Der Aktionsplan der Kommission zum Vertragsrecht, in dem die Einbeziehung der Europäischen Vertragsgrundregeln vorgesehen war und dessen Ausführung zum gewichtigen Teil dem „CoPECL“ übertragen wurde, hat wesentlich dazu beigetragen, die Vorteile einer wissenschaftlich fundierten Rechtsvergleichung umfassend auszuschöpfen – auch wenn einige der oben erwähnten Ressourcen dabei noch wenig genutzt bleiben. 2.

Juristische Ausbildung

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Eine ähnliche Entwicklung wie in der rechtsvergleichenden Forschung deutet sich in den juristischen Studiengängen an: Auf der Grundlage des DCFR sowie der vermehrt erscheinenden rechtsvergleichend angelegten Lehr- und Handbücher, vom „Europäischen Vertragsrecht“ (Kötz/Flessner sowie Kadner Graziano)96 oder Haftungsrecht 97 über das „Europäische Obligationenrecht“ (Ranieri)98 bis hin zum „Ius Commune Casebook – Contract Law“ (Beale u.a.) 99, wird eine Einbeziehung der verschiedenen Privatrechte der Mitgliedstaaten im Sinne eines „gemeineuropäischen Privatrechts“ in die Veranstaltungen zum innerstaatlichen Recht erleichtert100. Auf diese Weise gelangt die Rechtsvergleichung aus der Abgeschiedenheit der Wahl- oder Nebenfächer in das Zentrum des Rechtsunterrichts.

40

Darüber hinaus wurden bereits Studiengänge entwickelt, in denen die Grundlagen auch des Privatrechts ohne Beschränkung auf eine bestimmte nationale Rechtsordnung vermittelt werden, wie etwa das Beispiel der von Bremen, Oldenburg sowie Groningen getragenen „Hanse Law School“101 zeigt. Ähnlich wie in den USA wird in diesem Programm nicht mehr ein regionales (dort: Bundesstaaten-, hier: Mitgliedstaaten-)Recht gelehrt, sondern es werden die wesentlichen Elemente der europäischen Rechtsordnungen übergreifend dargestellt102.

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Auch auf diesem Feld, der Vermittlung des Europäischen Privatrechts, ist damit zu erwarten, dass die Bedeutung der Rechtsvergleichung zunimmt.

96 Bisher nur Kötz, Europäisches Vertragsrecht, Bd. I: Abschluss, Gültigkeit und Inhalt des Vertrages – Die Beteiligung Dritter am Vertrag (1996) bzw. Kadner Graziano, Europäisches Vertragsrecht (2008). 97 Brüggemeier, Haftungsrecht: Struktur, Prinzipien, Schutzbereich (2006). 98 Ranieri, Europäisches Obligationenrecht (3. Aufl. 2009). 99 Beale/Kötz/Hartkamp/Tallon, Cases, Materials and Text on Contract Law (2002). In der gleichen Reihe van Gerven/Larouche/Lever, Cases, Materials and Text on National, Supranational and International Tort Law (1998), sowie Beatson/Schrage, Cases, Materials and Text on Unjustified Enrichment (2003). 100 So auch Kadner Graziano, ZVglRWiss 106 (2007), 249, 269. 101 Das Programm findet sich unter http://www.jura.uni-bremen.de/typo3/cms405/index. php?id=273. 102 Befürwortend etwa Werro, in: Furrer (Hrsg.), Europäisches Privatrecht im wissenschaftlichen Diskurs (2006), S. 119.

130

Andreas Schwartze

§ 4 Die Rechtsvergleichung

V.

Ausblick – Rechtsvergleichung in einem zunehmend integrierten Rechtsraum

Die bisher vorgenommene Einschätzung der Bedeutung der Rechtsvergleichung für das Europäische Privatrecht, nach der diese insgesamt eher zunimmt, basiert auf der derzeitigen Situation, in der sich eine gemeinsame europäische Rechtsordnung noch im Werden befindet – wenn dieser Prozess anscheinend auch zunehmend an Dynamik gewinnt. Geht man davon aus, dass in der EU mehr und mehr einheitliches Recht entsteht, bis diese Entwicklung irgendwann einmal an ihr Ende kommt, dann sinkt allerdings die Relevanz eines Vergleichs nationaler Rechtsordnungen innerhalb der Gemeinschaft, weil es dafür zunehmend weniger Material gibt sowie ein geringeres Bedürfnis besteht. Ähnlich wie früher zwischen den nationalen Rechtsordnungen nach der jeweiligen internen Vereinheitlichung durch die Zivilrechtskodifikationen Rechtsvergleichung betrieben wurde, könnte jedoch für den Vergleich mit außerhalb der EU bestehenden Privatrechten ein Bedürfnis entstehen.

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Zumindest im Vertragsrecht, aber wohl auch im Gesellschaftsrecht, erscheint es nach der „Wende“ hin zu freiwilligen statt verpflichtenden Gemeinschaftsregelungen jedoch eher wahrscheinlich, dass in vielen Bereichen neben den derzeit 27 nationalen Regelungssystemen ein weiteres, europäisches Normengefüge dauerhaft etabliert wird. Auch für die Wahl zwischen diesen Rechtsordnungen müssen deren Vor- und Nachteile im Einzelfall verglichen werden, wodurch sich der Rechtsvergleichung ein zusätzliches Arbeitsfeld erschließt.

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Letztlich ist aber festzuhalten, dass die Anwendung der Rechtsvergleichung – abgesehen vom Ausnahmebereich der allgemeinen Rechtsgrundsätze 103 – in keinem der betrachteten Gebiete vorgeschrieben wird. Vielmehr hängt ihr Einsatz davon ab, dass die jeweiligen Nutzer (Gesetzgeber, Richter, Praktiker, aber auch Wissenschaftler, Studierende und Lehrende) sich von ihr Vorteile versprechen. Daher kann die künftige Bedeutung dieser Methode auch im Bereich des Europäischen Privatrechts langfristig nur schwer abgeschätzt werden.

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103 Siehe oben, Rn. 7 ff. Andreas Schwartze

131

§ 5 Die ökonomische Theorie Christian Kirchner

Übersicht I. Problemstellung und Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rn. 1–5

II. Grundüberlegungen zur Integration ökonomischer Theorieansätze in Interpretationsansätze rechtlicher Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6–9

III. Grundüberlegungen zur am Normzweck ausgerichteten Interpretationsmethode rechtlicher Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10–14

IV. Ökonomische Zielorientierung europäischen Unionsrechts: Implikation für die Methodik der Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ökonomische Zielorientierung europäischen Unionsrechts . . . . . . . . . . 2. Methodische Implikationen der ökonomischen Zielorientierung des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Methodische Antworten in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Methodische Defizite herkömmlicher Ansätze . . . . . . . . 1. Methodische Defizite des Zweck-Mittel-Paradigmas . . . 2. Methodische Defizite von Wirkungsanalysen . . . . . . . 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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20–24

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25–31 25–27 28–30 31

VI. Ein ökonomischer Ansatz für vergleichende Wirkungsanalysen . . . . . . . . 1. Hypothesenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unabhängige und abhängige ,ökonomische‘ Variable . . . . . . . . . . . . 3. Wirkungsweise der Änderung von Restriktionen (unabhängigen Variablen) 4. Rechtliche Regelungen als unabhängige Variable . . . . . . . . . . . . . . 5. Änderung von Restriktionen bei Konstanz der Präferenzen . . . . . . . . . 6. Annahme eigennutzorientierten Rationalverhaltens . . . . . . . . . . . . . 7. Methodologischer Individualismus/Prinzipal-Agent-Verhältnis . . . . . . . 8. Wirkungsanalyse auf der Grundlage des ökonomischen Theorieansatzes .

. . . . . . . . .

32–41 32 33 34 35–36 37 38 39–40 41

VII. Integration des ökonomischen Ansatzes in den rechtswissenschaftlichen Interpretationsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42–44

132

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18–19

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VIII. Wahl des ökonomischen Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ökonomische Analyse des Rechts: Verwendung des neoklassischen Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ökonomische Theorie des Rechts: Institutionenökonomischer Ansatz a) Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Annahmen der Institutionenökonomik in der positiven Theorie . . c) Unterschiedlicher normativer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . .

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15–24 15–17

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45–58 45

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46–48 49–58 49 50–53 54–58

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Christian Kirchner

§ 5 Die ökonomische Theorie IX. Zwischenfazit: Eine institutionenökonomische Interpretationsmethode für das europäische Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . X. Legislative Rechtsfortbildung: Der Beitrag der ökonomischen Theorie 1. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Positive Analyse von Normsetzungsverfahren . . . . . . . . . . . 3. Normative Fragestellung aus institutionenökonomischer Sicht . . 4. Ökonomische Problematik von Komitologieverfahren . . . . . . .

. . . . .

60–69 60–62 63 64–68 69

XI. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

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. . . . .

59

Literatur: James Buchanan, The Domain of Constitutional Economics, Constitutional Political Economy 1 (1990), 1–18; Carsten Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft (1998); Ronald H. Coase, The Firm, the Market and the Law, 1988; Ronald H. Coase, The Problem of Social Cost, J. Law & Econ. 3 (1960), 1–44; deutsch: in: Heinz-Dieter Assmann/Christian Kirchner/Erich Schanze (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Rechts (2. Aufl. 1993), S. 129–183; Martina R. Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung (1995); Horst Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (2. Aufl. 1998); Mathias Erlei/Martin Leschke/Dirk Sauerland, Neue Institutionenökonomik (2. Aufl. 2007); Horst Feldmann, Eine institutionalistische Revolution? (1995); Bruno S. Frey, Ökonomie ist Sozialwissenschaft (1990); Jack Hirshleifer, The Expanding Domain of Economics, American Economic Review 75 (1985), 53–78; Karl Homann, Die Legitimation von Institutionen, in: Wilhelm Korff u.a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 2 (1999); Karl Homann/Christian Kirchner, Ordnungsethik, in: Philipp Herder-Dorneich u.a. (Hrsg.), Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, Bd. 14 (1995), S. 189–211; Karl Homann/Andreas Suchanek, Ökonomik (2. Aufl. 2005); Gebhard Kirchgässner, Homo Oeconomicus (3. Aufl. 2008); Gebhard Kirchgässner, Ökonomie als imperial(istisch)e Wissenschaft, in: Philipp Herder-Dorneich u.a. (Hrsg.), Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, Bd. 7 (1988), S. 128–145; Christian Kirchner, Folgenberücksichtigung bei judikativer Rechtsfortbildung und Ökonomische Theorie des Rechts, in: Hagen Hof/Martin Schulte (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht III (2001), S. 33–43; Christian Kirchner, Gemeinwohl aus institutionenökonomischer Perspektive, in: Gunnar Folke Schuppert/Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – auf der Suche nach Substanz (2002), S. 157–177; Christian Kirchner, Europa als Wirtschaftsgemeinschaft, in: Gunnar Folke Schuppert/Ingolf Pernice/Ulrich Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft (2005), S. 375–427; Christian Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts (1997); Christian Kirchner, Rationality Assumptions in Law and Economics. A Reciprocal Learning Process, in: Fritjof Haft u.a. (Hrsg.), Bausteine zu einer Verhaltenstheorie des Rechts (2001), S. 445–448; Christian Kirchner, The difficult reception of law and economics in Germany, Int’l Rev. & econ. 11 (1991), 277–292; Christian Kirchner, Zur Ökonomik des legislatorischen Wettbewerbs im europäischen Gesellschaftsrecht, in: Andreas Fuchs u.a. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Immenga (2004), S. 607–625; Christian Kirchner/Harald Koch, Norminterpretation und ökonomische Analyse des Rechts, Analyse & Kritik, Zeitschrift für Sozialwissenschaften 11 (1989), 111–133; Christian Kirchner/Matthias Schmidt, Private Law-Making: IFRS, in: Peter Nobel (Hrsg.), International Standards and the Law (2005), S. 67–82; Franz Mayer, Europa als Rechtsgemeinschaft, in: Gunnar Folke Schuppert/Ingolf Pernice/Ulrich Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft (2005), S. 429–487; Thomas Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration (1999); Ingo Pies, Institutionenökonomik als Ordnungstheorie (2000); Ingo Pies, Normative Institutionenökonomik (1993); Richard A. Posner, Economic Analysis of Law (1. Aufl., 1973, 6. Aufl., 2002, 7. Aufl. 2007); Rudolph Richter/Eirik Furubotn, Neue Institutionenökonomik (3. Aufl. 2003); Stefan Voigt, Institutionenökonomik (2002); Wolfgang Weigel, Rechtsökonomik (2003).

Christian Kirchner

133

1. Teil: Grundlagen

I.

Problemstellung und Gang der Darstellung

1

Die Europäische Union (vormals die Europäische Gemeinschaft) ist eine Rechtsgemeinschaft,1 gerichtet auf Integration. Europäisches Unionsrecht (vormals Europäisches Gemeinschaftsrecht) ist damit vornehmlich Integrationsrecht. Es zielt auf die ökonomische, politische, rechtliche und soziale Integration der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Im Vordergrund steht die Realisierung des europäischen Binnenmarktes,2 also eine ökonomische Zielsetzung.

2

Diese ökonomische Zielorientierung des Unionsrechts sollte sich in einer ‚europäischen Methodenlehre‘ widerspiegeln. Das zentrale methodische Problem einer Integration der ökonomischen Theorie bei der Fortentwicklung des europäischen Unionsrechts scheint dort zu liegen, wo Auslegung des Rechts übergeht in judikative Rechtsfortbildung. Der Streit, ob und wie zwischen Normauslegung durch Gerichte und judikativer Rechtsfortbildung zu unterscheiden sei,3 ist hier nicht aufzugreifen. Es steht außer Frage, dass sowohl der Europäische Gerichtshof wie auch das Gericht Rechtsfortbildung betreiben, indem sie Primär- und Sekundärrecht der Union auslegen. Insbesondere die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs war und ist treibende Kraft im europäischen Integrationsprozess.4

3

Die von den Gerichten verwendeten Auslegungsmethoden sind ein wichtiger Faktor für die Rechtsfortbildung des europäischen Unionsrechts. Sie steuern bis zu einem gewissen Grad Richtung und Geschwindigkeit der judikativen Rechtsfortbildung. Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen steht deshalb die These, dass die gegenwärtig von den Gerichten angewandten und in der Literatur diskutierten Interpretationsmethoden Defizite aufweisen und dass diese darin begründet liegen, dass bisher die ökonomische Theorie in unzureichendem Maße Eingang in die Interpretationsmethodik gefunden hat. Dann gilt es in einem zweiten Schritt zu klären, wie eine Integration ökonomischer Ansätze in Interpretationsmethoden, die für die Fortentwicklung des europäischen Unionsrechts verwendet werden, zu erfolgen hat. Dabei ist entscheidend, welcher ökonomische Ansatz sich für eine solche Integration eignet. Zu trennen sind dabei positive und normative ökonomische Theorie. Während die erste als Realwissenschaft Wissen über Funktionszusammenhänge zwischen Änderungen rechtlicher Regelungen und den dadurch bewirkten Folgen (Wirkungsanalyse) produzieren kann, fragt die normative Theorie nach der wünschbaren Gestaltung rechtlicher Regelungen.

1 Vgl. Hallstein, in: Oppermann/Hallstein (Hrsg.), Europäische Reden (1979), S. 109; ders., Die Europäische Gemeinschaft (1979), S. 51–57; Zuleeg, NJW 1994, 545; Pernice, in: Zuleeg (Hrsg.), Der Beitrag Walter Hallsteins zur Zukunft Europas (2003), S. 56 ff.; Mayer, in: Schuppert/Pernice/Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, S. 429–487. 2 Kirchner, in: Schuppert/Pernice/Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, S. 398 f., 413–415. 3 Vgl. zu diesem Streit: Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 633–635; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 796–820; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 253–257. 4 Vgl. für viele Streinz, Europarecht, Rn. 494.

134

Christian Kirchner

§ 5 Die ökonomische Theorie

Neben die skizzierten methodischen Fragen der judikativen Rechtsfortbildung europäischen Unionsrechts treten solche der legislativen Rechtsfortbildung, also der Gesetzgebung. Der Beitrag der Ökonomik beruht hier auf der Tatsache, dass es sich bei ihr um eine individualistische Gesellschaftswissenschaft handelt, die nicht von Interessen von Kollektiven ausgeht, sondern von Individualinteressen. Deshalb wird nicht auf das ‚Unionsinteresse‘ oder auf ‚nationale Interessen‘ abgestellt, sondern auf die Interessen der Bürger. Dies hat weitreichende Konsequenzen für methodische Fragen der legislativen Normsetzung. Im Vordergrund der hier angestellten Überlegungen stehen allerdings methodische Fragen der judikativen Rechtsfortbildung.

4

Wenn nach einer ‚ökonomischen‘ Interpretationsmethode für das europäische Unionsrecht gesucht wird, geht es nicht um eine radikale Abkehr von herkömmlichen Interpretationsmethoden, sondern um ihre sinnvolle Fortentwicklung. Dabei wird es erforderlich sein, im ständigen Perspektivenwechsel – nämlich einmal aus der rechtswissenschaftlichen, dann aus der wirtschaftswissenschaftlichen Sichtweise – die derzeit bei der Auslegung von Unionsrecht vorherrschende teleologische Interpretationsweise zu analysieren, zu kritisieren und fortzuentwickeln. Entscheidend für das Gelingen eines derartigen Unterfangens ist nicht nur eine kritische Analyse traditioneller rechtswissenschaftlicher Methodik, sondern ebenso eine kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen theoretischen Ansätzen der Ökonomik. Der Schwerpunkt dieser Auseinandersetzung wird dabei auf den Unterschieden zwischen dem neoklassischen wohlfahrtstheoretischen und dem institutionenökonomischen Ansatz liegen. Dies ist dann auch die Grundlage für die Frage, wie sich die ökonomische Theorie für eine europäische Methodenlehre der legislativen Normsetzung fruchtbar machen lässt. Es ist innerhalb der Institutionenökonomik weiter zu differenzieren. Dabei gelangt die Subdisziplin Konstitutionenökonomik (ökonomische Theorie der Verfassung, constitutional economics) in den Blick, aus deren Perspektive sich Gesetzgebungsfragen oftmals grundlegend anders darstellen als in rechtswissenschaftlichen Ansätzen.

5

II.

Grundüberlegungen zur Integration ökonomischer Theorieansätze in Interpretationsansätze rechtlicher Regelungen

Rechtliche Regelungen, besonders solche des europäischen Unionsrechts, werden zielgerichtet eingesetzt, um bestimmte Zwecke – etwa die Realisierung des europäischen Binnenmarktes – zu erreichen. Ist im konkreten Fall zu entscheiden, wie solche Regelungen anzuwenden sind, können unterschiedliche Interpretationsvarianten zu einem je verschiedenen Zielerreichungsgrad führen. Dann liegt es nahe, der Variante den Vorzug zu geben, bei der die Zielerreichung besser gewährleistet erscheint.

6

Um eine gehaltvolle, nachprüfbare Aussage darüber machen zu können, wie sich verschiedene Interpretationsvarianten auf die Zielerreichung auswirken (vergleichende Wirkungsanalyse), ist es erforderlich, realwissenschaftlich vorzugehen. Da rechtliche Regelungen an Menschen adressiert sind und ihre Wirkung über Anreize und Sanktionen entfalten, sie damit Einfluss auf soziale Interaktionen nehmen, erscheint es ge-

7

Christian Kirchner

135

1. Teil: Grundlagen

raten, auf eine Sozialwissenschaft zuzugreifen, die es erlaubt, im Sinne einer positiven Analyse die erforderlichen gehaltvollen, nachprüfbaren Aussagen zu generieren.

8

Die Ökonomik ist diejenige Sozialwissenschaft, die in ihrer positiven Variante Aussagen darüber generiert, wie menschliche Akteure unter Knappheitsbedingungen in der sozialen Interaktion auf Änderungen von Anreizen und Sanktionen reagieren. Sie verwendet für solche positiven Analysen einen Satz von Annahmen (ökonomisches Paradigma): eigennutzorientiertes Rationalverhalten individuell handelnder Akteure. Setzt man das methodische Instrumentarium der Ökonomik ein, um zu klären, welche unterschiedlichen Wirkungen aus der Wahl unterschiedlicher Interpretationsvarianten folgen (Folgenberücksichtigung), so sind die gewonnenen Aussagen für die Interpretation rechtlicher Regelungen deshalb von Wert, weil der Zusammenhang zwischen Interpretation und Normzielerreichung erhellt wird. Der ökonomische Ansatz wird also im Rahmen einer folgenorientierten Norminterpretation eingesetzt.5

9

Während die Integration ökonomischer Ansätze der positiven Theorie in Interpretationsansätze rechtlicher Regelungen sich damit zuerst einmal recht einfach darstellt, erweist sich eine Integration normativer Ansätze erheblich schwieriger. Es geht darum, wie ökonomische Ansätze im Rahmen rechtlicher Güterabwägungen fruchtbar gemacht werden können. Hier ist die Wahl des ökonomischen Theorieansatzes deshalb von zentraler Bedeutung, da ein auf das Ziel der effizienten Ressourcenallokation gerichteter Ansatz sich nur schwer in normative rechtswissenschaftliche Ansätze einfügen lässt. Ob dieses Problem mit einem normativen Ansatz, der nach Lösungen sucht, die seitens der Regelungsadressaten als zustimmungsfähig erachtet werden (hypothetischer Konsens), lösbar ist, bedarf der sorgfältigen Prüfung.

III.

10

Grundüberlegungen zur am Normzweck ausgerichteten Interpretationsmethode rechtlicher Regelungen

In der herkömmlichen Methodendiskussion der Rechtswissenschaft steht der Zusammenhang zwischen Normziel und Interpretation im Zentrum der teleologischen Interpretationsmethode.6 Schließt diese vom Normzweck auf die angemessene Interpretation, so verwendet sie das Zweck-Mittel-Paradigma.7 Sie arbeitet mit der These, dass die Interpretation ein relevanter Faktor für die Erreichung des Normzwecks ist. Unterschiedliche Interpretationsvarianten stellen Mittel dar, die im Rahmen des

5 Vgl. Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 641–648; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 172, 227–236; Rottleuthner, Wissenschaften und Philosophie als Basis der Jurisprudenz (1980), S. 27 ff.; Kirchner, in: Hof/Schulte (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht III, S. 33; Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung; Wälde, Juristische Folgenorientierung (1979). 6 Vgl. für viele: Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 620–622; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 435–463; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 222–227; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 717–730. 7 Zum Zweck-Mittel-Paradigma: Streit, Theorie der Wirtschaftspolitik (2005), S. 270; Mertens/ Kirchner/Schanze, Wirtschaftsrecht (1978), S. 46 f.

136

Christian Kirchner

§ 5 Die ökonomische Theorie

Zweck-Mittel-Verhältnisses unter dem Gesichtspunkt einer möglichst genauen Zielerreichung eingesetzt werden. Dann geht es um zwei Probleme: (1) Mögliche methodische Defizite des Zweck-Mittel-Paradigmas, (2) Qualität der Analyse, ob und wieweit unterschiedliche Interpretationsvarianten sich zur Erreichung des Normzwecks eignen (Wirkungsanalyse).

11

Bezüglich der Verwendung des Zweck-Mittel-Paradigmas wird zu prüfen sein, ob und gegebenenfalls wie in der rechtswissenschaftlichen Methodendiskussion auf die in der Ökonomik vorgebrachten methodischen Einwände eingegangen wird.

12

Bezüglich der vorzunehmenden Wirkungsanalyse ist entscheidend, dass synthetischnomologische, also empirisch gehaltvolle, nachprüfbare Aussagen darüber gemacht werden können, wie sich unterschiedliche Interpretationsvarianten für die Zielerreichung eignen. Die Qualität dieser – positiven – Aussagen ist zentrales Element bei der Verwendung einer teleologischen Methode der Norminterpretation. Sie wiederum hängt vom verwendeten methodischen Ansatz ab.

13

Die zwei möglichen Schwachpunkte des skizzierten methodischen Vorgehens liegen zum einen in möglichen Defiziten des Zweck-Mittel-Paradigmas, zum anderen im für die Wirkungsanalyse gewählten theoretischen Ansatz.

14

IV.

Ökonomische Zielorientierung europäischen Unionsrechts: Implikation für die Methodik der Interpretation

1.

Ökonomische Zielorientierung europäischen Unionsrechts

Der Vertrag zur Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) (vormals Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschafts) stellt in der Präambel und in Art. 2 und 3 maßgeblich auf wirtschaftliche Zielsetzungen ab. Die Tätigkeit der Union erschöpft sich allerdings nicht darin. Dennoch ist unverkennbar, dass die wirtschaftliche Integration das Herzstück der europäischen Integration ist.8 Die Durchsetzung der Grundfreiheiten (Freizügigkeit von Personen, Waren, Dienstleistungen, Kapital und Niederlassungsfreiheit) zusammen mit dem am Binnenmarktziel orientierten Harmonisierungsprogramm (Art. 114, 115 AEUV) stellen sich ökonomisch als Instrumente der Integration der früher voneinander getrennten und gegeneinander abgeschotteten nationalen Märkte der Mitgliedstaaten dar.

15

Die Richtlinie gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV ist das wichtigste Instrument der Harmonisierung des Rechts der Mitgliedstaaten. Sie legt die Ziele verbindlich fest, überlässt den Mitgliedstaaten, an die sie gerichtet ist, jedoch die Wahl der Form und der Mittel. Das hat zur Konsequenz, dass – unabhängig von der Detailliertheit der Regelungen der Richtlinie, die den Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten stark einschrän-

16

8 Kirchner, in: Schuppert/Pernice/Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, S. 398 f., 413–415. Christian Kirchner

137

1. Teil: Grundlagen

ken kann – die Richtlinie entweder in ihren Regelungen explizit die Ziele nennt oder diese in den Erwägungsgründen aufführt.9

17

Sowohl das Primärrecht der Union wie auch das Sekundärrecht sind also stark ökonomisch zielorientiert. Der Grund dafür liegt darin, dass die Konstruktion der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, später der Europäischen Gemeinschaft, heute der Europäischen Union, so angelegt war, dass rechtliche Instrumente in Gestalt von Zweckprogrammen eingesetzt werden, um das wirtschaftliche Integrationsziel zu erreichen. Die Europäische Union ist deshalb Rechtsgemeinschaft, um Wirtschaftsgemeinschaft zu werden. Das muss sich auf den spezifischen Charakter der zielgerichtet eingesetzten rechtlichen Regelungen auswirken. 2.

Methodische Implikationen der ökonomischen Zielorientierung des Unionsrechts

18

Die ökonomische Zielorientierung des Unionsrechts erfordert ein besonderes Zusammenwirken zwischen europäischem Unionsrecht auf der einen Seite und dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten auf der anderen Seite. Dies ist durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts gekennzeichnet10, der damit gerechtfertigt wird, dass andernfalls das Integrationsziel verfehlt würde. Für die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bedeutet der Vorrang des Unionsrechts, dass sie (1) Unionsrecht in einer Art und Weise umzusetzen haben, dass die (unionsrechtlich definierte) Zielerreichung gewährleistet ist, (2) die Interpretation des in nationales Recht umgesetzten Unionsrechts sich an der unionsrechtlich definierten Zielsetzung orientiert, und (3) der nationale Gesetzgeber keine Regelungen erlässt, die dem Unionsrecht entgegenstehen oder dessen Wirkung behindern. Damit werden für Gebiete, die der unionsrechtlichen Regelung unterworfen sind, enge Grenzen für eine nationale Rechtsfortbildung seitens der Mitgliedstaaten gesetzt. Das gilt sowohl für die legislative wie für die judikative Rechtsfortbildung. Für letztere ist mit dem Vorabentscheidungsverfahren des Art. 267 AEUV/234 EG nicht nur eine spezifische Verfahrensnorm für die Behandlung von Auslegungsproblemen umgesetzten Unionsrechts geschaffen worden, sondern auch eine Kompetenznorm für den Europäischen Gerichtshof. Er hat es in der Hand, über seine Judikatur in Vorabentscheidungen die Zielerreichung des Unionsrechts zu sichern. Das gilt nicht nur für Sekundärrecht der Union, sondern auch für Primärrecht, soweit nämlich nationales Recht der Mitgliedstaaten mit diesem Primärrecht kollidiert.

19

Ist es sowohl Aufgabe der nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten wie auch des Europäischen Gerichtshofes und des Gerichts, bei der Rechtsfortbildung von Unionsrecht die Zielorientierung der betreffenden Regelungen nicht nur zu beachten, son-

9 Vgl. EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-97/96 Verband deutscher Daihatsu-Händler ./. Daihatsu Deutschland, Slg. 1997, I-6843 Rn. 22; EuGH v. 19.11.1996 Rs. C-42/95 Siemens ./. Nold, Slg. 1996, I-6017 Rn. 13; Kilian, Europäisches Wirtschaftsrecht, S. 156; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 531. 10 EuGH v. 3.6.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1253; vgl. Streinz, Europarecht, Rn. 168–225; Mayer, in: Schuppert/Pernice/Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, S. 458–462; Alter, Establishing the Supremacy of European Law (2001).

138

Christian Kirchner

§ 5 Die ökonomische Theorie

dern sie zum Leitstern der Interpretation zu machen, so muss sich dies in der gewählten Interpretationsmethode niederschlagen. 3.

Methodische Antworten in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und in der Literatur

Die in den Vorabschnitten dargelegte Problematik schlägt sich in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und in der Literatur nieder. Die Problemlösungen unterscheiden sich zwar in Nuancen, sind aber im Ansatz sehr wohl vergleichbar. Es wird eine Interpretationsmethode gewählt, die auf die Zielsetzung der Norm abstellt (teleologische Interpretationsmethode).11 Daneben wird auf die systematische Interpretationsmethode abgestellt12 sowie auf die dynamische.13

20

Nach der teleologischen Interpretationsmethode wird die Auslegung gesucht, die am besten dem Normzweck entspricht.14 Entscheidend ist dann zuerst, wie der Normzweck zu bestimmen ist. Während in der Methodendiskussion in Deutschland15 weithin im Sinne einer objektiv-teleologischen Interpretationsmethode auf die Position des objektivierten Gesetzgebers abgestellt wird,16 wird für die Auslegung europäischen Unionsrechts darauf verwiesen, dass die Integration ein fortschreitender Prozess sei und deshalb dieser Dynamik auch in der Interpretation Rechnung zu tragen sei, also eine ‚dynamische Interpretation‘ im Sinne integrationsfördernder Lösungen zu suchen seien; dieser Gedanke wird mit dem Grundsatz verbunden, die Auslegung habe der Norm praktische Wirksamkeit zu verleihen (effet utile).17

21

Allerdings wird dem entgegengehalten, dass mit der Einführung des Subsidiaritätsprinzips keineswegs einseitig auf eine fortschreitende Integration hinzuarbeiten sei, dass vielmehr ein Ausgleich zwischen den Interessen an der europäischen Integration

22

11 Vgl. EuGH v. 26.2.1975 – Rs. 67/74 Bonsignore ./. Oberstadtdirektor der Stadt Köln, Slg. 1975, 297 Rn. 5; EuGH v. 14.2.1980 – Rs. 84/79 Meyer Uetze ./. Hauptzollamt Berlin-Packdorf, Slg. 1980, 291 Rn. 5 ff.; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T. und Lanificio di Gavardo ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415; Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 202–230; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 531; Hommelhoff, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999), S. 37; Kilian, Europäisches Wirtschaftsrecht, Rn. 335; Lutter, JZ 1992, 593, 602 f.; Menzel, in: Paschke (Hrsg.), Deutsches und internationales Wirtschaftsrecht (1998), S. 60–62; Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration, S. 57; Streinz, Europarecht, Rn. 498. 12 Vgl. Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 177–201; Hommelhoff, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999), S. 34–36; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 531; Zuleeg, EuR 1969, 97, 102 f. 13 Vgl. Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 213–216; Meyer, Jura 1994, 455, 457; Zuleeg, EuR 1969, 97, 105 f. 14 Vgl. für viele: Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 620–622; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 435–463; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 222–227; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 717–730. 15 Kritisch insbes. Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 717–730. 16 Vgl. Kirchner, in: Hof/Schulte (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht III, S. 34. 17 Vgl. Bleckmann, NJW 1982, 1180; Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 208–211; Everling, JZ 2000, 217, 223; Kilian, Europäisches Wirtschaftsrecht, Rn. 355. Christian Kirchner

139

1. Teil: Grundlagen

und den Interessen der Mitgliedstaaten zu suchen sei.18 Damit eröffnen sich für denjenigen, der eine Norm des Unionsrechts auslegt und fortentwickelt, weite Spielräume, da nunmehr mit der Gewichtung der Interessen – entweder mehr Integration oder mehr Regelungskompetenz auf der Mitgliedstaatenebene im Sinne des Subsidiaritätsprinzips – der Norminterpret in der Lage ist, mit der Wahl des Normzwecks das Ergebnis der Auslegung zu steuern. Es besteht die Gefahr einer tautologischen Argumentation.

23

Die Gefahr tautologischer Argumentation ist ein Defizit der objektiv-teleologischen Interpretationsmethode nicht nur bei ihrer Anwendung auf die Auslegung des europäischen Unionsrechts. Dieses Defizit ist immer dort besonders groß, wo entweder mit inkonsistenten Zielkatalogen gearbeitet wird, wo aufgrund politischer Abstimmung die Ziele als Formelkompromisse formuliert sind oder wo besonders unbestimmte Zielsetzungen gewählt wurden, um der Entwicklung der Regelungsmaterie durch die Rechtsprechung keine zu engen Grenzen abzustecken. An diesen drei Beispielen zeigt sich, dass die Wahl der Interpretationsmethode ein entscheidender Faktor für die Abgrenzung der Gewalten Legislative und Judikative ist. Wird auf den objektivierten Normzweck einer Regelung für deren Interpretation abgestellt, so kann die Legislative gleichsam Normsetzungsbefugnis auf die Judikative verlagern. Umgekehrt kann die Judikative, insbesondere, wenn sie Argumente einer ‚dynamischen‘ Interpretation verwendet, ihren eigenen Rechtsfortbildungsspielraum autonom erweitern. Ohne wertend beurteilen zu wollen, ob die Entwicklung im europäischen Unionsrecht positiv oder negativ zu sehen ist, kann jedenfalls festgestellt werden, dass die Rolle des Europäischen Gerichtshofs als ‚Motor der Integration‘19 auf die ‚dynamische‘ Interpretationsmethode zurückzuführen ist, die dieser in wichtigen Urteilen herangezogen hatte.20

24

Die in der rechtswissenschaftlichen Methodendiskussion erörterten Defizite der objektiv-teleologischen Interpretationsmethode blenden zwei wichtige weitere methodische Defizite aus, nämlich die methodische Angreifbarkeit des Zweck-Mittel-Paradigmas und die Gefahr des Verzichts auf vergleichende Wirkungsanalysen unterschiedlicher Interpretationsvarianten.

25

V.

Methodische Defizite herkömmlicher Ansätze

1.

Methodische Defizite des Zweck-Mittel-Paradigmas

Das Zweck-Mittel-Paradigma21 ist ein Optimierungsprogramm. Es fragt alternativ, welches bestmögliche Ziel mit einem gegebenen Mitteleinsatz erreicht werden kann, oder wie ein gegebenes Ziel mit einem minimalen Mitteleinsatz erreicht werden kann. 18 Vgl. Zuleeg, EuR 1969, 97, 104. 19 Vgl. für viele Streinz, Europarecht, S. 21 f. 20 Vgl. Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 213–216; Meyer, Jura 1994, 455, 457; Zuleeg, EuR 1969, 97, 105 f. 21 Zum Zweck-Mittel-Paradigma Nachweise oben in Fn. 7.

140

Christian Kirchner

§ 5 Die ökonomische Theorie

Damit ist es Ausdruck der ökonomischen Zweckrationalität im Sinne von Max Weber.22 Es war und ist ein in der Theorie der Wirtschaftspolitik viel verwendetes Paradigma. Das liegt schon deshalb nahe, weil es auf der Linie einer normativen Ökonomik liegt, die ihre Aufgabe darin sieht, Beiträge zur Überwindung oder Linderung der Ressourcenknappheit zu leisten. Jede Vergeudung von Ressourcen widerspricht diesem Ziel. Also geht es im Sinne des auch als ‚ökonomisches Prinzip‘ bezeichneten Paradigmas um sparsame Ressourcenverwendung. Ein gegebenes Ziel ist also mit einem minimalen Ressourceneinsatz zu erreichen. Dann sind diese Ressourcen so einzusetzen, dass keine Allokation denkbar ist, bei der ein besseres Ergebnis (output) erzielt werden könnte (effiziente Ressourcenallokation). Zwischen Zweck-Mittel-Paradigma, ökonomischem Prinzip und effizienter Ressourcenallokation besteht also sowohl methodisch wie wertungsmäßig ein Gleichklang. Ohne hier auf die methodischen Defizite des Ziels der Allokationseffizienz einzugehen, können gegen das Zweck-Mittel-Paradigma drei grundsätzliche Einwände formuliert werden.23 (1) Die Konzentration auf die Zweck-Mittel-Problematik klammert die Zieldiskussion weitgehend aus; es wird axiomatisch argumentiert. (2) ‚Nebenwirkungen‘ der eingesetzten Mittel werden entweder nicht in Rechnung gestellt oder allenfalls als Störfaktoren gesehen. Es geht dabei um die nicht intendierten Handlungsfolgen im Hayekschen Sinne,24 die ein erhebliches Problem für den zweckrationalen Einsatz von Instrumenten zur Steuerung sozialer Interaktionen darstellen. (3) Die Wechselwirkungen zwischen Mitteln und Zwecken werden systematisch ausgeblendet. Damit geraten Zirkularitäten zwischen Mitteln und Zwecken nicht in den Blick.

26

Solange das Zweck-Mittel-Paradigma auf der Ebene einer Common Sense-Argumentation eingesetzt wird, fallen die genannten Defizite nicht weiter ins Auge. Das bedeutet aber nicht, dass sie deshalb hinzunehmen wären. Eine Auswahl von Mitteln im Sinne des Optimierungsprogramms des Zweck-Mittel-Paradigmas kann damit zur Folge haben, dass die Diskussion verkürzt geführt wird und das normative Fundament – nämlich das ökonomische Prinzip – nicht tragfähig ist. Diese gravierende Problematik wird in der rechtswissenschaftlichen Diskussion der objektivteleologischen Interpretationsmethode nicht angesprochen.

27

2.

Methodische Defizite von Wirkungsanalysen

Um beurteilen zu können, ob und welche Probleme in Bezug auf Wirkungsanalysen im Rahmen der teleologischen Interpretationsmethode auftreten, ist zuerst kurz zu skizzieren, wie solche Wirkungsanalysen durchzuführen wären, bewegte man sich streng auf dem Boden des Zweck-Mittel-Paradigmas und dem ‚klassischen‘ Kanon der rechtswissenschaftlichen Auslegungsmethoden. Es wären dann in einem ersten Schritt

22 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1990), S. 13. 23 Zur Kritik des Zweck-Mittel-Schemas vor allem: Homann, Die Interdependenz von Zielen und Mitteln (1980). 24 Hayek, Freiburger Studien (1969), S. 97. Christian Kirchner

141

28

1. Teil: Grundlagen

mit Hilfe des Instrumentariums der Wortauslegung und der systematischen Auslegung diejenigen Interpretationsvarianten herauszufiltern, die juristisch-dogmatisch als Lösungen in Betracht kommen.25 Dadurch wird der Möglichkeitsraum für Rechtsfortbildung über Rechtsauslegung aus juristisch-dogmatischer Sicht abgesteckt. Übertragen in eine demokratietheoretische Argumentation geht es um ein Legitimationsproblem, nämlich das Abstecken der Grenzen der Rechtsetzung durch die Judikative, die ihre Legitimation – und damit auch ihre Unabhängigkeit – aus ihrer Funktion als Rechtsanwenderin des von der Legislative gesetzten Rechts zieht. Die Diskussion um diese Grenzen wird streitig geführt.26 Dem ist hier aber nicht nachzugehen. Denn auf dem Gebiet des europäischen Unionsrechts wird eine Rechtsfortbildungskompetenz des Europäischen Gerichtshofs heute weitgehend akzeptiert.

29

Sind die ‚möglichen‘ Interpretationsvarianten bestimmt, ist in einem zweiten Schritt – sofern man unterstellt, dass Einigkeit bezüglich des Regelungszieles besteht, – zu klären, welche dieser Varianten sich als für die Zielerreichung am geeignetsten erweist. Für die verschiedenen Interpretationsvarianten sind Prognosen erforderlich, welche Auswirkungen tatsächlich zu erwarten sind. Es geht nicht um Sollensaussagen, sondern um Ist-Aussagen. Die Aussagen sind, sollen sie wissenschaftlich nachprüfbar sein, als falsifizierbare Hypothesen zu formulieren. Werden sie falsifiziert, etwa durch wissenschaftliche Urteilsanalysen, können sie in dieser Form nicht mehr als Fundament der Auslegung verwendet werden. Im Lichte dieser Anforderungen an Wirkungsanalysen im Rahmen der Normauslegung nach der teleologischen Interpretationsmethode lassen sich zwei Anforderungen formulieren, die an diese Analysen zu stellen sind: (1) Es sind vergleichende Wirkungsanalysen zu erstellen, da es um den relativen Grad der Zielerreichung geht. (2) Die verwendeten Annahmen und die Methodik sind offenzulegen, damit eine Falsifizierung der gewonnenen Hypothesen möglich ist.

30

Vor dem Hintergrund dieser Skizze einer modellhaften Anwendung der teleologischen Interpretationsmethode wird deutlich, wo in der Realität mögliche Defizite liegen: (1) Es wird nur auf eine Interpretation abgestellt, ohne den Möglichkeitsraum der Interpretationsvarianten abzustecken. Eine vergleichende Wirkungsanalyse wird dann unmöglich. (2) Es werden Annahmen und Methodik des Vorgehens nicht offengelegt. (3) Es werden Aussagen in einer Weise formuliert, dass sie nicht falsifiziert werden können. 3.

31

Zwischenfazit

Bei der Interpretation europäischen Unionsrechts wird der Funktionszusammenhang zwischen ökonomischer Zielsetzung der Norm und der Wahl der angemessenen Interpretation gesehen. Die verwendete Methodik weist aber zwei grundlegende Defizite

25 Vgl. Kirchner/Koch, Zeitschrift für Sozialwissenschaften 11 (1989), 120–124. 26 Vgl. Everling, JZ 2000, 217, 223; Hillgruber, in: Danwitz u.a. (Hrsg.), Auf dem Wege zu einer europäischen Staatlichkeit (1993), S. 31–46; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 535; Ott, EuZW 2000, 293–298.

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Christian Kirchner

§ 5 Die ökonomische Theorie

auf: (1) Das zur Anwendung gelangende Zweck-Mittel-Paradigma eröffnet unkontrollierte Spielräume und führt zu zirkulären Argumentationen. (2) Die in der teleologischen Interpretationsmethode durchzuführenden vergleichenden Wirkungsanalysen weisen erhebliche methodische Mängel auf.

VI. Ein ökonomischer Ansatz für vergleichende Wirkungsanalysen 1.

Hypothesenbildung

Für die Auslegung rechtlicher Regelungen, die auf ökonomische Zielsetzungen gerichtet sind, liegen Wirkungsanalysen nahe, die sich des Instrumentariums der ökonomischen Theorie bedienen, die zu Hypothesen über die erwarteten Wirkungen der Auslegung führen. Wenn es etwa darum geht, welche Interpretationsvariante zu einer deutlicheren Reduktion von Transaktionskosten führt, die wiederum Voraussetzung für eine schnellere Realisierung des europäischen Binnenmarktes ist, sind Hypothesen über die erwarteten ökonomischen Wirkungen der betreffenden Interpretationsvarianten aufzustellen. 2.

Unabhängige und abhängige ,ökonomische‘ Variable

Die Art von Hypothesenbildung für die Interpretation rechtlicher Regelungen liegt auf der Ebene dessen, was ökonomische Theorie üblicherweise leistet, wenn sie fragt, wie sich die Änderung einer unabhängigen Variablen (etwa der Zinssatz, zu dem die Zentralbank Wechsel ankauft – Diskontsatz) auf abhängige Variablen auswirkt (etwa die prozentuale Änderung der Anlageinvestitionen). Unabhängige Variablen werden auch als Restriktionen (constraints) oder Sanktionen (sanctions) oder Anreize (incentives) bezeichnet. Man kann bei der Änderung unabhängiger Variablen auch von einer Änderung des Anreiz-/Sanktionssystems sprechen. Allgemeiner ist im umfassenden Sinne von Änderungen von Restriktionen die Rede. 3.

33

Wirkungsweise der Änderung von Restriktionen (unabhängigen Variablen)

Verändern sich Restriktionen (unabhängige Variable), führt dies zu Verhaltensänderungen bei den Adressaten dieser Restriktionen, also bei denen, deren Anreiz-/Sanktionssystem verändert wird. Im Beispiel der veränderten Höhe der Anlageinvestitionen werden diejenigen, die Investitionsentscheidungen zu treffen haben, die veränderten Restriktionen in ihr Entscheidungskalkül aufnehmen. Die Folge ist eine Änderung sozialer Interaktionen. Insofern ist Ökonomik eine Sozialwissenschaft.27 4.

32

34

Rechtliche Regelungen als unabhängige Variable

Bei der Änderung der unabhängigen Variable ist es nicht ausschlaggebend, ob diese auf natürliche Ursachen zurückzuführen ist (etwa eine Erwärmung infolge einer

27 Homann/Suchanek, Ökonomik, S. 29–31; Frey, Ökonomie ist Sozialwissenschaft. Christian Kirchner

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35

1. Teil: Grundlagen

Klimaänderung), ob sie auf administrativen Maßnahmen beruht (etwa Änderung des Diskontsatzes durch die Zentralbank) oder ob es sich um Änderungen im rechtlichinstitutionellen Rahmen der betreffenden Volkswirtschaft handelt (etwa um eine Änderung im Außenhandelsrecht, durch welche Handelsschranken gesenkt werden). Unterscheidet man – wie dies in modernen ökonomischen Abhandlungen getan wird 28 – zwischen der Handlungsebene und der Ebene der Handlungsbedingungen, so sind es Änderungen auf der Ebene der Handlungsbedingungen, die als ökonomische Variable von Interesse sind, wenn der ökonomische Ansatz auf Fragen der Gestaltung der Rechtsordnung bezogen werden soll. Es ist von daher problemlos möglich, Änderungen rechtlicher Regelungen als ‚ökonomische‘ Variable zu behandeln, bzw. sie als Variable in Untersuchungen zu behandeln, in denen der ökonomische Theorieansatz verwendet wird. Das ist nicht eine Neuerung, die erst mit der Entwicklung der Ökonomischen Analyse des Rechts (economic analysis of law) entdeckt worden ist.29 In der Außenhandelstheorie wurden Änderungen im Außenhandelsrecht, etwa die Einführung oder Abschaffung von Zöllen oder Einfuhrkontingenten, in der Wettbewerbstheorie Änderungen kartellrechtlicher Regelungen als ‚ökonomische‘ Variable behandelt. Änderungen rechtlicher Regelungen können solche legislativer Art (etwa Gesetzesänderungen) oder judikativer Art (richterliche Rechtsfortbildung) sein.

36

Handelt es sich bei der betreffenden unabhängigen Variablen um eine rechtliche Regelung – oder eine Interpretationsvariante einer solchen –, so fragt ein ökonomischer Ansatz, welche Verhaltensänderungen beim Regelungsadressaten durch eine Änderung der Variablen bewirkt werden. Dass diese Art der Herangehensweise an die Analyse von Rechtsänderungen in der Rechtswissenschaft keineswegs unbekannt ist, zeigt die Lehre von der Generalprävention im Strafrecht. Dort wird mit der Hypothese gearbeitet, dass ein Zusammenhang zwischen der rechtlich angeordneten Sanktion und dem Verhalten potentieller Straftäter besteht.30 5.

37

Änderung von Restriktionen bei Konstanz der Präferenzen

Im ökonomischen Theorieansatz ist entscheidend, dass bei der Untersuchung der Abhängigkeit einer Variablen von Änderungen einer anderen Variablen – einer Restriktion – nicht gleichzeitig andere Faktoren geändert werden, die Einfluss auf das Ergebnis haben. So ist von der Konstanz der Präferenzen der handelnden Akteure im Zeitraum, auf den sich die Untersuchung bezieht, auszugehen.31 Man kann den ökonomischen Ansatz deshalb als eine Untersuchung von Handlungsänderungen aufgrund der Änderungen von Anreizen und Sanktionen bei konstanten Präferenzen begreifen.

28 Homann/Suchanek, Ökonomik, S. 37 f. 29 Vgl. Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 45 ff.; Schmoller, Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre (1901). 30 Vgl. Kirchner, in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Die Präventivwirkung zivil- und strafrechtlicher Sanktionen (1999), S. 108 ff. 31 Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, S. 4; Voigt, Institutionenökonomik (2002), S. 27.

144

Christian Kirchner

§ 5 Die ökonomische Theorie

6.

Annahme eigennutzorientierten Rationalverhaltens

Will man Aussagen zur Auswirkung der Änderung unabhängiger Variablen – nämlich von Restriktionen – auf abhängige Variable machen, so setzt dies voraus, Verhaltensannahmen zu machen, wie die Betroffenen reagieren. Es ist eine allgemeine Annahme darüber erforderlich, wie Menschen Entscheidungen treffen, wenn sich Anreize oder Restriktionen ändern. Die Ökonomik unterscheidet sich von anderen Sozialwissenschaften dadurch, dass sie die Annahme eigennutzorientierten Rationalverhaltens einführt.32 Es wird davon ausgegangen, dass Akteure auf Änderungen von Anreizen und Sanktionen so reagieren, dass sie sich an ihrer individuellen Wohlfahrt, ihrem Nutzen, orientieren. Eine Entscheidung soll dann als rational gelten, wenn sie entsprechend diesem Nutzenkalkül gefällt wird. Entscheidend ist der individuelle Nutzen.33 7.

38

Methodologischer Individualismus/Prinzipal-Agent-Verhältnis

Die ökonomische Theorie ist den individualistischen Theorieansätzen zuzurechnen. Als handelnde Akteure werden die einzelnen Entscheider begriffen (methodologischer Individualismus).34 Das erlaubt es, wenn Gruppen von Akteuren handeln, die etwa in einem Staat oder einer Unternehmung organisiert sind, zwischen den Kollektiv- und den Individualentscheidungen zu trennen und das Zustandekommen von Kollektiventscheidungen aus Individualentscheidungen zu analysieren. Das spielt eine große Rolle, wenn innerhalb der Gruppe eine Delegation von Entscheidungsbefugnissen stattfindet, verbunden mit einer Informationsasymmetrie. Dann ist für die resultierende Kollektiventscheidung das Verhältnis zwischen Delegierendem (principal, Prinzipal) und Geschäftsführer (agent) entscheidend (Prinzipal-Agent-Verhältnis).35

39

Der individualistische Ansatz der ökonomischen Theorie erlaubt eine Verbindung mit solchen rechtswissenschaftlichen Ansätzen, die davon ausgehen, dass rechtliche Regelungen ihre – steuernde – Wirkung über von Rechtsänderungen induzierte Verhaltensänderungen entfalten. Die erwähnte Lehre von der Generalprävention im Strafrecht ist ein Beispiel für die Verwendung eines solchen individualistischen Ansatzes. Ein anderes Beispiel im Privatrecht betrifft die verhaltenssteuernde Wirkung zivilrechtlicher Haftung.36

40

32 Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, S. 3; Homann/Suchanek, Ökonomik, S. 27 f.; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 3. 33 Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, S. 3; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 3. 34 Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, S. 6; Homann, Die Interdependenz von Zielen und Mitteln (1980), S. 70 f.; Homann/Suchanek, Ökonomik, S. 26; Mack, Ökonomische Rationalität (1994), S. 40–43; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 3; Voigt, Institutionenökonomik (2002), S. 28. 35 Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, S. 69–76; Fama, Journal of Political Economy 88 (1980), 288 ff.; Jensen/Meckling, Journal of Financial Economics 3 (1976), 305 ff.; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 30 f., 173–182; Voigt, Institutionenökonomik (2002), S. 102–104. 36 Vgl. Kirchner, in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Die Präventivwirkung zivil- und strafrechtlicher Sanktionen (1999), S. 108 ff. Christian Kirchner

145

1. Teil: Grundlagen

8.

41

Wirkungsanalyse auf der Grundlage des ökonomischen Theorieansatzes

Werden Wirkungsanalysen im Rahmen der Interpretation rechtlicher Regelungen, die auf ökonomische Zielsetzungen ausgerichtet sind, mit Hilfe des ökonomischen Ansatzes durchgeführt, heißt dies, (1) dass von der Annahme eigennutzorientierten Rationalverhaltens der Regelungsadressaten ausgegangen wird, (2) dass als handelnde Akteure auf die einzelnen Adressen abgestellt wird, nicht auf Kollektive, und (3) dass die Wirkung der Wahlentscheidung zwischen verschiedenen Interpretationsvarianten auf Veränderungen der sozialen Interaktion der Regelungsadressaten beruht. Werden auf der Grundlage dieses methodischen Ansatzes Hypothesen über die Wirkungen der Interpretationsvarianten entwickelt, erfolgen diese als sogenannte Wenn-DannAussagen. Wenn Interpretationsvariante A gewählt wird, folgt Wirkung X, wenn Interpretationsvariante B gewählt wird, folgt Wirkung Y. Aus diesem Nebeneinander zwischen zwei Wirkungsanalysen wird dann eine vergleichende Wirkungsanalyse, wenn die Hypothesen so umformuliert werden, dass nunmehr auf die Wirkung in Bezug auf eine bestimmte Zielsetzung abgestellt wird. Dann lassen sich beide Hypothesen dergestalt verknüpfen, dass nunmehr eine Hypothese wie folgt gefasst werden kann: Wenn Interpretationsvariante X – und nicht Interpretationsvariante Y – gewählt wird, verbessert/verschlechtert sich der Grad der Zielerreichung in Bezug auf Ziel Z. Eine solche Hypothese beruht auf einer Analyse, die breiter angelegt war, also nicht nur auf die Frage der Zielerreichung des Zieles Z gerichtet war. Das ist deshalb wichtig, da in der Wirkungsanalyse auch andere Wirkungen der untersuchten Interpretationsvarianten Gegenstand der Analyse gewesen sind. Im Zweck-Mittel-Paradigma ist von ‚Nebenbedingungen‘ die Rede. Verlässt man dieses Paradigma, geht es schlicht um unterschiedliche Wirkungen, die teils intendiert, teils nicht intendiert sind. Nun liegt aber eines der grundlegenden Probleme beim Versuch, Verhalten über Recht zu steuern, in den nicht intendierten Nebenwirkungen. Es muss sich aber keineswegs um nicht ‚intendierte‘ Nebenwirkungen handeln; es kann sich auch um solche Nebenwirkungen handeln, die zwar bekannt sind, die aber aus dem Entscheidungskalkül des Rechtsetzers ausgeblendet waren. Dies ist etwa bei ‚Nebenfolgen‘ sektorspezifischer Regulierung der Fall, die sich aus der Tatsache ergeben, dass einmal aufgebaute Bürokratieapparate nur schwer wieder abzuschaffen oder zu redimensionieren sind.

VII. Integration des ökonomischen Ansatzes in den rechtswissenschaftlichen Interpretationsansatz 42

Gilt es, eine Wirkungsanalyse auf der Grundlage der ökonomischen Theorie, wie sie im Vorabschnitt eingeführt worden ist, in den rechtswissenschaftlichen Interpretationsansatz zu integrieren, sind zwei Probleme zu lösen: (1) Die Common-Sense-Analyse konventioneller Prägung ist durch eine ökonomische zu ersetzen. (2) An die Stelle des Zweck-Mittel-Paradigmas muss das Paradigma einer umfassenden vergleichenden Folgenabschätzung treten.

43

Wird die konventionelle Common-Sense-Analyse durch eine ökonomische ersetzt, bedeutet dies – wie betont – nicht einen einfachen Austausch eines Ansatzes durch einen

146

Christian Kirchner

§ 5 Die ökonomische Theorie

anderen. Die rechtswissenschaftliche Interpretation als solche ist gestuft durchzuführen. Zuerst sind die juristisch-dogmatisch möglichen Interpretationsvarianten herauszufiltern. Erst dann können diese einer vergleichenden ökonomischen Wirkungsanalyse unterzogen werden. Schwieriger gestaltet sich der Verzicht auf das Zweck-Mittel-Paradigma, dessen Optimierungsprogramm auf den ersten Blick einleuchtend und überzeugend erscheint, dessen methodische Mängel dann aber so gravierend sind, dass zwei radikale Änderungen geboten erscheinen. Die erste betrifft die Festlegung des Normziels, die sich als geeignet erwiesen hat, den – nicht überprüfbaren – Spielraum des Interpreten erheblich auszuweiten. An die Stelle der Festlegung des Interpreten auf eine eindeutige Zielsetzung der Norm hat eine Diskussion der Zielproblematik zu treten. Diese kann aber erst sinnvoll erfolgen, wenn die gegebenenfalls unterschiedliche Wirkungsweise verschiedener Interpretationsvarianten geklärt worden ist. Das hat zur Konsequenz, dass die Fragerichtung geändert wird. Es ist nicht vom Zweck auf die Mittel zu schließen. Vielmehr ist die Zieldiskussion im Lichte der Ergebnisse der vergleichenden Wirkungsanalyse zu führen. Werden in dieser Wirkungsanalyse, wie im Vorabschnitt betont, auch die nicht intendierten oder nicht in den Blick genommenen Wirkungen erfasst, lässt sich die Zieldiskussion erheblich differenzierter führen. Dann können Ziele stärker ausdifferenziert werden, Nebenbedingungen und Kosten der Zielerreichung erörtert werden. Nicht intendierte Nebenwirkungen stellen sich oftmals als Sonderkosten der Zielerreichung ein. Wie normativ mit dem Problem umzugehen ist, das darin begründet liegt, dass Wechselwirkungen zwischen Zweck und Mitteln nicht zu verhindern sind, kann erst geklärt werden, wenn feststeht, auf welchen ökonomischen Ansatz zuzugreifen ist. Denn es macht einen Unterschied, ob in einem wohlfahrtsökonomisch ausgerichteten ökonomischen Ansatz die Zweck-Mittel-Diskussion mit Blick auf das Ziel effizienter Ressourcenallokation geführt wird oder ob in einem institutionenökonomischen Ansatz die normative Richtschnur der hypothetische Konsens ist.

44

VIII. Wahl des ökonomischen Ansatzes 1.

Vorüberlegungen

Für eine ökonomische Herangehensweise an rechtliche Fragestellungen kommen verschiedene ökonomische Ansätze in Betracht. Hinter dem Begriff law and economics, wohl am neutralsten als ‚Rechtsökonomik‘ übersetzt,37 verbergen sich unterschiedliche ökonomische Ansätze.38 Einigkeit herrscht nur insoweit, dass das ökonomische Paradigma (Annahme der Ressourcenknappheit und eigennutzorientierten Rationalverhaltens, methodologischer Individualismus) zur Anwendung zu gelangen habe und 37 Vgl. Weigel, Rechtsökonomik (2003); zur terminologischen Auseinandersetzung: Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 5 f. 38 Vgl. zur terminologischen Auseinandersetzung: Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 5 f. Christian Kirchner

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45

1. Teil: Grundlagen

dass die Ökonomik als Disziplin nicht von ihrem Gegenstandsbereich her – also der Ökonomie – zu definieren sei, sondern von ihrer Methodik her, und dass sie deshalb eine Wissenschaft der sozialen Interaktionen sei. Vertreter anderer Sozialwissenschaften, die sich mit dieser extrem weiten Definition der Ökonomik einer Methodenkonkurrenz ausgesetzt sehen, bezeichnen diese Expansion der Ökonomik als ‚ökonomischen Imperialismus‘.39 Es ist eben diese Expansion der Ökonomik, die es erlaubt, Probleme, die bisher ausschließlich im Rahmen der Rechtswissenschaft untersucht worden sind, ökonomisch anzugehen. 2.

46

Ökonomische Analyse des Rechts: Verwendung des neoklassischen Ansatzes

Der Begriff economic analysis of law, zumeist übersetzt als ‚Ökonomische Analyse des Rechts‘ (ÖAR) 40, hat in den Vereinigten Staaten von Amerika nach den grundlegenden Werken von Calabresi 41 und Coase 42 dann unter dem Einfluss des Werkes von Richard Posner mit dem gleichnamigen Titel 43 seinen Siegeszug angetreten.44 Die ‚ökonomische Analyse‘ von Richard Posner basiert auf einem preistheoretischen Fundament, wie es vornehmlich an der University of Chicago in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts vertreten wurde. Dieses wiederum ist Teil des neoklassischen Theorieansatzes, der seinerseits utilitaristische Wurzeln hat. Für die Verwendung eines solchen Ansatzes für rechtliche Fragestellungen sind zum einen die verwendeten Annahmen – insbesondere die Annahme eigennutzorientierten Rationalverhaltens – zum anderen die normative wohlfahrtsökonomische Ausrichtung – also die Ausrichtung am Ziel der Allokationseffizienz – relevant. Aus kontinentaleuropäischer rechtswissenschaftlicher Sicht sind beides Faktoren, die einen solchen Ansatz für Fragen der rechtswissenschaftlichen Interpretation unbrauchbar erscheinen lassen.45 Für die Entwicklung von Fallrecht durch Gerichte in den Vereinigten Staaten von Amerika stellt sich das Methodenproblem völlig anders.46 Darauf ist hier nicht weiter einzugehen.

39 Vgl. Brenner, J. Leg. Stud. 9 (1980), 179 ff.; Hirshleifer, Am. Econ. Rev. 75 (1985), 53; Kirchgässner in: Herder-Dorneich u.a. (Hrsg.), Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, Bd. 7 (1988), 128 ff.; Radnitzky/Bernholz (Hrsg.), Economic Imperialism: The Economic Approach Applied Outside the Traditional Area of Economics (1986). 40 Vgl. Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 5 f. 41 Vgl. Calabresi, Yale L. J. 70 (1961), 499 ff. 42 Coase, Journal of Law and Economics 3 (1960), 1 ff. (deutsch in: Assmann/Kirchner/ Schanze (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Rechts, S. 129–183); vgl. zum sog. Coase Theorem: Coase, The Firm, the Market and the Law, S. 157–185; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 113–116. 43 Posner, Economic Analysis of Law. 44 Vgl. Schanze, in: Assmann/Kirchner/Schanze (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Rechts, S. 1 ff. 45 Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 331; differenzierend: Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 533 f.; Laudenklos, in: Rückert (Hrsg.), Fälle und Fallen der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny (1997), S. 291; Pawloswski, Methodenlehre, S. 13; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 305. 46 Vgl. Schanze, in: Assmann/Kirchner/Schanze (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Rechts, S. 1 ff.; Kirchner, Int’l Rev. L. & Econ. 11 (1991), 277.

148

Christian Kirchner

§ 5 Die ökonomische Theorie

Unabhängig davon, wie die Brauchbarkeit eines neoklassischen ökonomischen Ansatzes für die Behandlung rechtlicher Fragestellungen eingeschätzt wird, ist entscheidend, ob in der Ökonomik selbst dieser Ansatz der Kritik ausgesetzt ist. Dann wäre es nämlich interessant, ob diese intradisziplinäre Auseinandersetzung aus Sicht der Rechtswissenschaft, die Interpretationsmethoden entwickelt, von Interesse ist.

47

Kritik am Ansatz der neoklassischen Wirtschaftstheorie ist von Vertretern der Neuen Institutionenökonomik geübt worden und wird weiterhin geübt.47 Die Kritik der positiven Theorie der Neoklassik setzt an der Rationalitätsannahme an sowie an der Nichtberücksichtigung oder nicht ausreichenden Berücksichtigung von Transaktionskosten und der Tatsache, dass Information systematisch unvollkommen ist.48 An der normativen Theorie wird auf Probleme des intersubjektiven Nutzenvergleichs hingewiesen, die eine Bestimmung eines Wohlfahrtsoptimums nach dem Kaldor-HicksKriterium nicht zulassen und damit das Ziel der Allokationseffizienz als nicht sinnvoll erscheinen lassen.49 Es ist interessant, dass die genannten Kritikpunkte von Vertretern der Neuen Institutionenökonomik vorgebracht worden sind. Dies ist eine neue ökonomische Teildisziplin, die selbst neoklassische Wurzeln hat. Der Verhandlungsansatz, den Ronald Coase als Kritik an der Wohlfahrtsökonomik von Pigou entwickelt hat – der fälschlicherweise oftmals als Coase-Theorem bezeichnet wird – basiert seinerseits auf der neoklassischen Wirtschaftstheorie. Er greift allerdings auch darüber hinaus, indem er die Annahme verwirft, beim intervenierenden Staat seien Informationen kostenlos vorhanden, und indem er explizit Transaktionskosten in die Analyse einbezieht.50 In der Folge hat sich die Neue Institutionenökonomik – die sich explizit vom ‚alten‘ Institutionalismus unterscheidet51, konsequenter von den Annahmen der Neoklassik gelöst.

48

3.

Ökonomische Theorie des Rechts: Institutionenökonomischer Ansatz

a)

Vorüberlegungen

Die Kritik am neoklassischen Theorieansatz seitens der Vertreter der Neuen Institutionenökonomik – und damit auch an der Ökonomischen Analyse des Rechts – ist Ausgangspunkt für eine neue ökonomische Herangehensweise an rechtliche Problemstellungen. Verwendet man statt des neoklassischen Paradigmas das institutionenökonomische und entwickelt die ‚Ökonomische Analyse des Rechts‘ zur ‚Ökonomischen

47 Vgl. Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 13–16, 542, 570–572. 48 Vgl. Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 4, 192 f.; Voigt, Institutionenökonomik, S. 29–31; Williamson, Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus (1990), S. 50 ff.; Wolff, in: Korff u.a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 3 (1999), S. 113. 49 Vgl. Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 25–28; Kirchner, in: Schuppert/Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, S. 160–170. 50 Coase, Journal of Law and Economics 3 (1960), 1 ff., deutsch in: Assmann/Kirchner/ Schanze (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Rechts, S. 129–183. 51 Vgl. Hutchison, Journal of Institutional and Theoretical Economics 140 (1984), 20 ff.; Kirchner, in: Schuppert/Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, S. 164; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 45–49.

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49

1. Teil: Grundlagen

Theorie des Rechts‘52, kann es gelingen, damit einen interdisziplinären Ansatz zu schaffen, der zum einen ein methodisch verbessertes ökonomisches Paradigma bereitstellt und der zum anderen besser mit rechtswissenschaftlichen Ansätzen kompatibel ist.53 b)

Annahmen der Institutionenökonomik in der positiven Theorie

50

Es sind insbesondere drei Unterschiede auf der Ebene der Annahmen, die für die Neue Institutionenökonomik in ihrer positiven Variante im Vergleich zur Neoklassik kennzeichnend sind: (1) die Annahme beschränkter Rationalität, im Unterschied zur Annahme vollständiger Rationalität, (2) die Annahme systematisch unvollkommener Information und (3) die Annahme der Existenz positiver Transaktionskosten.54

51

Die Annahmen, die in der Neuen Institutionenökonomik verwendet werden, unterscheiden sich auch deshalb von denen der Neoklassik, weil mit dem Ausgreifen der Ökonomik in Gegenstandsbereiche, die vormals von anderen Sozialwissenschaften monopolisiert worden waren, die teils sehr rigiden Annahmen der Neoklassik, deren zentraler Gegenstandsbereich lange Zeit Transaktionen auf Märkten gewesen waren, nicht durchhalten ließen. Die Neue Institutionenökonomik hat den Gegenstandsbereich der Disziplin ausgeweitet, indem sie sanktionsbewehrte allgemeine Regelungen, die zur Steuerung und Kanalisierung sozialer Interaktionen eingesetzt werden oder diesen Effekt haben, zu ihrem Untersuchungsobjekt gemacht hat, nämlich Institutionen.55 Sanktionsbewehrte rechtliche Regelungen stellen dann eine Unterkategorie von Institutionen dar und werden damit zum Gegenstand institutionenökonomischer Untersuchungen.

52

Geht die Ökonomik über das Untersuchungsfeld der marktlichen Transaktionen und weitet es auf das Feld sozialer Transaktionen aus, so gerät die Verhaltensannahme vollständiger Rationalität, nämlich des maximierenden, egoistischen Menschen (REM)56 unter Druck. Für die Untersuchung marktlicher Transaktionen kann das Festhalten an der REM-Annahme trotz Einwänden seitens der empirischen Verhaltensforschung57 gerechtfertigt werden,58 nicht aber für die Untersuchung sozialer In-

52 Vgl. Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 7–10. 53 Anwendungsbeispiele: Kirchner, FS Beisse (1997), S. 267; ders., FS Schmidt (1997), S. 33; ders., FS Kilian (2004), S. 103. 54 Vgl. Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 2–13; Voigt, Institutionenökonomik, S. 26–31; Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 12–21. 55 Eichberger, Grundzüge der Mikroökonomik (2004), S. 6–8; Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, S. 23; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 7 f.; Voigt, Institutionenökonomik (2002), S. 32–41. 56 Vgl. Mack, Ökonomische Rationalität (1994), S. 30–35; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, S. 62–68. 57 Vgl. Kahnemann, Journal of Institutional and Theoretical Economics 150 (1994), 18 ff.; dazu: Kirchner, Journal of Institutional and Theoretical Economics 150 (1994), 37 ff. 58 Vgl. Homann/Suchanek, Ökonomik, S. 364–374; Kirchgässner, Homo Oeconomicus.

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§ 5 Die ökonomische Theorie

teraktionen jenseits von Märkten.59 Dann erscheint es sinnvoll, die Annahme eingeschränkter Rationalität (bounded rationality) heranzuziehen.60 Die Institutionenökonomik fragt nach der Entstehung, der Änderung und der Wirkung von Institutionen.61 Dann fallen Wirkungsanalysen rechtlicher Regelungen in ihren Fokus, damit auch Wirkungsanalysen von Interpretationsvarianten rechtlicher Regelungen. Dass es sich bei der Fortentwicklung rechtlicher Regelungen – etwa im Prozess der judikativen Rechtsfortbildung – um Suchprozesse unter der Bedingung unvollkommener Information handelt, ist evident. Ein ökonomischer Ansatz, der vollständige Information unterstellte, wäre schlecht geeignet für die Analyse derartiger Entwicklungen. Dass die Wirkung unterschiedlicher Gestaltung von Institutionen maßgeblich von der Höhe der jeweils anfallenden Transaktionskosten abhängt und dass diese deshalb ein relevanter Faktor für ökonomische Wirkungsanalysen sind, ist heute ebenfalls evident.62 Von daher erscheint ein ökonomischer Ansatz, der die Annahme systematischer unvollkommener Information und der Existenz positiver Transaktionskosten einführt, für die Wirkungsanalysen von Interpretationsvarianten rechtlicher Regelungen besser geeignet, als ein neoklassischer Ansatz, der mit rigideren Annahmen arbeitet. c)

53

Unterschiedlicher normativer Ansatz

Die normative Variante der Neuen Institutionenökonomik63 unterscheidet sich von der neoklassischen Wohlfahrtsökonomik zuerst dadurch, dass sie keine intersubjektive Vergleichbarkeit von Nutzen voraussetzt und deshalb weder mit dem KaldorHicks-Kriterium arbeitet noch auf die Zielsetzung der Allokationseffizienz abstellt. Normativer Fixpunkt ist also nicht die Herstellung eines Wohlfahrtsoptimums für eine bestimmte Gruppe von Akteuren (etwa bezogen auf die Einwohner eines Landes und damit auf die Volkswirtschaft), sondern der sogenannte normative Individualismus.64 Damit werden mögliche Probleme einer Integration des ökonomischen Ansat-

59 Kirchner, in: Haft u.a. (Hrsg.), Bausteine zu einer Verhaltenstheorie des Rechts, S. 445 ff. 60 Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 331; differenzierend: Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 533 f.; Laudenklos, in: Rückert (Hrsg.), Fälle und Fallen der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny (1997), S. 291; Pawlowski, Methodenlehre, S. 13; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 305. 61 Vgl. grundlegend: Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik; Voigt, Institutionenökonomik. 62 Dazu bereits: Coase, Economica 4 (1937), 386 ff.; zum Stand der modernen Literatur: Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 12–16; Voigt, Institutionenökonomik, S. 30 f.; Eichberger, Grundzüge der Mikroökonomik (2004), S. 36–48. 63 Vgl. Pies, Normative Institutionenökonomik; ders., in: Leipold/Pies (Hrsg.), Ordnungstheorie und Ordnungspolitik – Konzeptionen und Entwicklungsperspektiven (2000), S. 330–344. 64 Buchanan, Constitutional Political Economy 1 (1990), 1 ff.; Homann/Kirchner, in: HerderDorneich u.a. (Hrsg.), Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, Bd. 14 (1995), S. 195; Kirchner, in: Schuppert/Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, S. 166; Mack, Ökonomische Rationalität (1994), S. 91–101; Pies, Normative Institutionenökonomik, S. 163 f. Christian Kirchner

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54

1. Teil: Grundlagen

zes in rechtswissenschaftliche Interpretationsansätze zumindest reduziert. Ein Gegeneinander von ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Effizienz‘ 65 scheidet dann aus. Es fragt sich dann aber, wie die Institutionenökonomik normativ vorgeht und wie sich dies auf ihre Integration in rechtswissenschaftliche Interpretationsansätze auswirkt.

55

Die normative Institutionenökonomik baut im Gegensatz zur Wohlfahrtsökonomik mit ihren utilitaristischen Wurzeln auf einem vertragstheoretischen Fundament auf.66 Sie fragt danach, auf welche Regeln des Zusammenlebens sich individuelle Akteure in freier Entscheidung einigen können, wenn sie jeweils nicht wissen, in welcher konkreten Situation sie sind (Schleier des Nichtwissens).67 Es gilt dann, Lösungen zu finden, bei denen unter dieser Annahme des Nichtwissens alle besser stehen. Im Unterschied zum Kaldor-Hicks-Kriterium geht es also nicht um ein Abwägen zwischen den Gewinnen der Gewinner und den Verlusten der Verlierer, das voraussetzt, dass intersubjektive Nutzenvergleiche möglich sind. Die Grenzlinie für Lösungen ist in der Institutionenökonomik durch die Frage gekennzeichnet, ob jemand einer Lösung auch unter der Bedingung zustimmen könnte, wenn er möglicherweise zu den Verlierern gehörte. Es werden also mögliche Gewinne und mögliche Verluste individuell gegeneinander abgewogen. Das setzt voraus, dass solche normativen Überlegungen auf dem Fundament sorgfältiger positiver Analysen durchgeführt werden müssen, in denen zu klären ist, wie es um die Wirkung alternativer Lösungen bestellt ist. Der Ansatz schließt damit die Suche nach solchen Lösungen ein, die Kooperationsgewinne versprechen. Es geht also nicht darum, eine bestimmte Lösung ökonomisch zu bewerten, sondern um eine vergleichende Analyse alternativer Gestaltungsmöglichkeiten.

56

Wendet man diesen institutionenökonomischen Ansatz auf rechtswissenschaftliche Interpretationsmethoden an, wird man im Ausgangspunkt festzustellen haben, dass es im ersten Schritt – soweit es um Wirkungsanalysen geht – nicht um normative Fragen geht, sondern dass hier allein die positive Analyse zum Zuge kommt. Dann taucht aber im zweiten Schritt das Problem auf, welche Schlußfolgerungen aus der durchgeführten vergleichenden Wirkungsanalyse für die Interpretation der auszulegenden Norm zu ziehen sind.

57

Da die vergleichende Wirkungsanalyse, die mit Hilfe des institutionenökonomischen Instrumentariums durchgeführt worden ist, ein klareres Bild vermittelt als eine Common-Sense-Analyse, lassen sich für die verschiedenen Interpretationsvarianten die jeweiligen Kosten in Gestalt von ‚Nebenwirkungen‘ genauer erfassen. Die Frage lautet dann nicht mehr, ob eine Interpretationsvariante schon deshalb den Vorzug verdient, weil sie eine möglichst genaue Zielerreichung verspricht. Es ist vielmehr zu fragen, ob angesichts der abzuschätzenden Nebenwirkungen eine Interpretationsvariante gegenüber einer anderen zu bevorzugen ist, die möglicherweise geringere

65 Dazu Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip. 66 Vgl. Homann, in: Korff u.a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 2, S. 60; Pies, Normative Institutionenökonomik, S. 130–138; Kirchner, in: Schuppert/Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, S. 167. 67 Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, S. 20; Pies, Normative Institutionenökonomik, S. 130–138; Voigt, Institutionenökonomik, S. 254–259.

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Christian Kirchner

§ 5 Die ökonomische Theorie

Nebenwirkungen aufzuweisen hat. Diese Art der normativen Herangehensweise lässt sich bruchlos mit einer rechtswissenschaftlichen Güterabwägung verbinden. Der Vorteil der ökonomisch normativ angeleiteten Abwägung besteht nun darin, dass nicht abstrakt Interessen und/oder Ziele abzuwägen sind, sondern gefragt wird, wie sich die Abwägung aus der Sicht der Regelungsadressaten darstellt. Dieser Unterschied zwischen einer abstrakten und einer konkret individualistischen Güterabwägung ist für das europäische Unionsrecht deshalb anzuraten, da das Unionsrecht sich eben nicht als Völkerrecht an die Vertragschließenden wendet, sondern als supranationales Recht direkt an die Bürger. Also sind bei Interessenabwägungen die Interessen dieser Bürger maßgeblich. Dann wird deutlich, dass es beim europäischen Unionsrecht nicht einfach um ein Maximum an Integrationswirkung geht, sondern um den Grad an Integration, der aus Sicht der Bürger eine Nutzensteigerung darstellt. Wird ein Mehr an Integration durch eine größere Bürgerferne, durch ein Weniger an demokratischer Kontrolle erkauft, so kann der resultierende Nettonutzen für den betroffenen Bürger auf Null schrumpfen oder sogar negativ ausfallen. Für einen ökonomischen Interpretationsansatz für das europäische Unionsrecht ist also auch die normative Institutionenökonomik relevant. Im Unterschied zum neoklassischen Theorieansatz geht es nicht um das Ziel der effizienten Ressourcenallokation, das möglicherweise querliegt zu juristischen Wertungen, sondern um einen Perspektivenwechsel in der erforderlichen Güterabwägung. Statt dass auf allgemeine Interessen abstrakt abgestellt wird, wird nach der Auswirkung der Wahl zwischen verschiedenen Interpretationsvarianten auf das Wohl der Regelungsadressaten abgestellt. Dann wird also nicht mehr zwischen dem Integrationsziel der Union und der Bewahrung nationalstaatlicher Souveränität der Mitgliedstaaten abgewogen, sondern es wird gleichsam durch diese Formeln hindurchgeschaut und auf die dahinter liegenden individuellen Interessen der Akteure abgestellt.

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IX. Zwischenfazit: Eine institutionenökonomische Interpretationsmethode für das europäische Unionsrecht Soll die für die judikative Rechtsfortbildung des europäischen Unionsrechts gewählte Interpretationsmethode geeignet sein, der ökonomischen Zielorientierung der Regelungsmaterie gerecht zu werden, sind Korrekturen an der am Normzweck orientierten teleologischen Interpretationsmethode erforderlich. Das in der herkömmlichen Methodik verwendete Zweck-Mittel-Paradigma ist durch eine umfassende Folgenabschätzung unterschiedlicher Interpretationsvarianten abzulösen, in der die Wechselwirkung zwischen Normzweck und der als Mittel eingesetzten Norminterpretation zum Tragen kommt. Die dazu durchzuführenden Wirkungsanalysen der zuvor anhand der Wortauslegung und der systematischen Auslegung selektierten Interpretationsvarianten sind mit Hilfe des institutionenökonomischen Ansatzes durchzuführen. In der rechtswissenschaftlich erfolgenden Güterabwägung zwischen den zur Wahl stehenden Interpretationsvarianten sind sowohl der Zielerreichungsgrad als auch ‚Nebenwirkungen‘ der in Betracht kommenden Interpretationsvarianten einzubeziehen. Es ist keine allgemeine abstrakte Interessenabwägung vorzunehmen. Vielmehr ist Christian Kirchner

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1. Teil: Grundlagen

darauf abzustellen, wie die Regelungsadressaten durch unterschiedliche Interpretationsvarianten betroffen werden (individualistische Abwägungsperspektive).

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X.

Legislative Rechtsfortbildung: Der Beitrag der ökonomischen Theorie

1.

Vorüberlegungen

Die legislative Rechtsfortbildung des europäischen Unionsrechts erfolgt in einem äußerst komplexen Verfahren, in dem verschiedene Organe der Union zusammenwirken.68 Prägend ist die Dichotomie zwischen der Vertretung der Interessen der Mitgliedstaaten im Ministerrat und der Vertretung der Interessen der Union durch Kommission und Parlament. Geht es um die ökonomische Zielorientierung des Unionsrechts, also um Wirtschaftspolitik in Gestalt der Fortentwicklung des rechtlich-institutionellen Rahmens der Union, sieht es so aus, als ob nationale Interessen und Unionsinteressen im Rahmen des Normsetzungsverfahrens zum Ausgleich zu bringen seien. Dann ließe sich die These aufstellen, dass am Ende ein Kompromiss zwischen ökonomischen Interessen der Mitgliedstaaten und denen der Union resultiere, gleichsam als Vektor in einem Kräfteparallelogramm. Der Beitrag einer ‚europäischen Methodenlehre‘zu dieser Art der legislativen Normsetzung beträfe dann verschiedene Fragenkreise: – Entwicklung einer Methodik der Normsetzung in einem Verfahren, das auf der einen Seite ein doppelstufiges ist (Unionsebene, Ebene der Mitgliedstaaten), in dem aber auf der anderen Seite der Ministerrat eben nicht als Vertretung der Mitgliedstaaten fungiert, sondern als Organ der Union, – Entwicklung von Kriterien für den Ausgleich von nationalen Interessen und Unionsinteressen, – Entwicklung von Kompetenzregeln, die dem spezifischen Charakter des Unionsrechts als eigenständiger supranationaler Rechtsordnung gerecht werden, – Entwicklung von Verfahrensregeln, die trotz der Komplexität des Verfahrens die Funktionsfähigkeit der Legislative gewährleisten.

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Die genannten Methodenprobleme überlagern sich und beleuchten zum Teil unterschiedliche Aspekte ein und desselben Problems. In der Praxis ergeben sich insbesondere Herausforderungen durch die Einführung sogenannter Komitologieverfahren, in denen staatliche Organe (mit abgeleiteter demokratischer Legitimation) mit Expertengremien in einer Art und Weise zusammenarbeiten, dass die Rechtsfortentwicklung stark von diesen Expertengremien gesteuert wird.69 Die methodischen Probleme solcher – die Rechte der (demokratisch legitimierten) Legislative aushöhlenden –

68 Vgl. Kilian, Europäisches Wirtschaftsrecht, S. 61–63; Mayer, in: Schuppert/Pernice/Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, S. 448– 450; Streinz, Europarecht, S. 190–199. 69 Vgl. den Beschluss des Rates v. 28.6.1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse (Komitologie-Beschluss), ABl. 1999 L 184/23.

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§ 5 Die ökonomische Theorie

Normsetzungsverfahren sind Punkt (4) des oben aufgeführten Methodenproblemkatalogs zuzuordnen. Geht es um den Beitrag der ökonomischen Theorie für eine ,europäische Methodenlehre‘, ändert sich die Sichtweise. Die angesprochenen Methodenprobleme erscheinen in einem anderen Licht, wenn nicht von ‚nationalem Interesse‘ und ‚Unionsinteresse‘ ausgegangen wird, sondern von Individualinteressen, wie dies im ökonomischen Ansatz durch den methodologischen und den normativen Individualismus geboten ist. Dem ist in drei Fragenkomplexen nachzugehen: (1) Positive Analyse von Normsetzungsvorhaben (Folgenabschätzung), (2) Normative Fragestellung aus Sicht der Institutionenökonomik und (3) ökonomische Problematik von Komitologieverfahren. 2.

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Positive Analyse von Normsetzungsverfahren

Ein zentrales Problem der Normsetzung auf Unionsebene ist das der nicht intendierten Nebenwirkungen. Indem die Diskussion auf den Ausgleich zwischen Unionsinteresse und nationalen Interessen fokussiert wird, geraten Nebenwirkungen legislativer Akte aus dem Blick. Dies ist dann der Fall, wenn nach einer Deregulierung nationaler Regulierung eine Reregulierung auf europäischer Ebene einsetzt – etwa im Bereich der Regulierung der Telekommunikationsmärkte – und zu diesem Zwecke eine umfassende unionsrechtliche Regulierung, durchzuführen entweder durch Organe der Union oder durch nationale Behörden, entworfen und umgesetzt wird.70 Die Folgekosten der Regulierung sowohl bezüglich der direkten Regulierungskosten wie insbesondere der indirekten Kosten sind ein entscheidender Faktor, will man die ökonomische Wirkungsweise der neuen Regulierung umfassend erfassen. Die Aufgabe der Ökonomik besteht hier in einer überprüfbaren Folgenabschätzung der legislativen Vorhaben, in denen insbesondere den ‚Nebenwirkungen‘ Beachtung geschenkt wird. Diese können etwa in einer Verlangsamung der technologischen Innovation durch Überregulierung bestehen. Der Unterschied zwischen einer neoklassischen Wohlfahrtsökonomik und der Institutionenökonomik liegt darin, dass die erstere oft vorschnell zu Effizienzanalysen übergeht, in denen nicht oder schwer messbare Größen ausgeblendet werden. Im Fall der Folgenabschätzung einer Überregulierung heißt dies, dass zwar die direkten Kosten der Regulierung berücksichtigt werden, auch die kurzfristig einsetzenden Marktwirkungen, nicht aber die mittel- und langfristigen Auswirkungen auf die technologische Entwicklung. Wird in einer institutionenökonomischen Analyse darauf abgestellt, wie die Regelungsadressaten von einer legislativen Maßnahme betroffen sind, ist ein Ausblenden langfristiger Wirkungen – auch wenn sie schwer quantitativ fassbar sind – nicht systemgerecht. Die Scheinpräzision der wohlfahrtsökonomischen Analyse wird dann zwar aufgegeben. Die entscheidenden Faktoren für die Beurteilung einer legislativen Maßnahme werden aber besser erfasst.

70 Vgl. Kirchner, in: Neumann/Weigand (Hrsg.), The International Handbook of Competition (2004), S. 315 ff. Christian Kirchner

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1. Teil: Grundlagen

3.

Normative Fragestellung aus institutionenökonomischer Sicht

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Wird in normativen Erwägungen nicht auf das ‚Unionsinteresse‘ und das ‚nationale Interesse‘ abgestellt, sondern stattdessen auf Individualinteressen der Regelungsadressaten, ist das nicht nur für die im Vorabschnitt behandelte Folgenabschätzung legislativer Akte relevant, sondern für die Art der Normsetzung, insbesondere für Fragen der Kompetenzverteilung zwischen der Unionsebene und der nationalen Ebene.

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In einer ökonomischen Herangehensweise an Normsetzungsprobleme ist das Prinzipal-Agent-Verhältnis zwischen dem Bürger als Prinzipal und den verschiedenen an der Normsetzung beteiligten ‚Geschäftsführer‘ (agents) zentral. Aus Sicht der Bürger als Prinzipalen besteht die Gefahr, dass aufgrund vorhandener Informationsasymmetrien und Kontrollkosten die Entscheidungen der Geschäftsführer von den Präferenzen der Prinzipale abweichen (Präferenzkosten). Die Präferenzkosten lassen sich reduzieren, wenn die Kontrolle verstärkt wird; dann steigen aber die Kontrollkosten (Agenturkosten, agency costs). Normsetzung auf der Ebene der Europäischen Union impliziert dann aus dieser ökonomischen Perspektive, die in der Subdisziplin Konstitutionenökonomik (constitutional economics)71 der Institutionenökonomik behandelt wird, zwei grundlegende Probleme. (1) Die Verlagerung von Normsetzungskompetenzen auf die Ebene der Union bringt auf der einen Seite Integrationsvorteile (Größenvorteile, Transaktionskostenreduzierung, etc.), auf der anderen Seite kann es aber zu erheblichen Steigerungen von Präferenz- und Agenturkosten kommen. (2) Durch Verlagerung von Normsetzungskompetenz auf die Unionsebene wird Einfluss auf den legislatorischen Wettbewerb zwischen den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten genommen.

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Probleme steigender Präferenz- und Agenturkosten leiten sich nicht allein aus einer Verlagerung von Normsetzungskompetenzen auf die Unionsebene ab. Sie sind auch eine Funktion der gewählten Normsetzungsverfahren. In dem Maße, in dem diejenigen, die maßgeblichen Einfluss auf die Normsetzung haben, einer demokratischen Verantwortlichkeit (accountability) entzogen werden, steigen Präferenz- und Kontrollkosten. Es geht nicht allein um die Unmöglichkeit der demokratischen Abwahl von Entscheidungsträgern, sondern auch um die Komplexität von Verfahren, die zu einer solchen Kostensteigerung führt.

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Die Frage, ob und wie Normsetzung auf Unionsebene legislatorischen Wettbewerb zwischen den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten beeinflusst, hängt davon ab, ob im Top-down-Ansatz oder im Bottom-up-Ansatz gearbeitet wird.72 Im Top-down-

71 Vgl. Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie (2006), S. 39–54; Brennan/Buchanan, Die Begründung von Regeln (1983); Buchanan, Constitutional Political Economy 1 (1990), 1 ff.; Buchanan/Tullock, The Calculus of Consent (1990); Feldmann, Eine institutionalistische Revolution?, S. 53–56; Homann, in: Korff u.a., Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 2, S. 50; Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 23–25; Mueller, Constitutional Democracy (1996); Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 43. 72 Vgl. Grundmann, ZGR 2001, 783, 806 f.; Kirchner, in: Schuppert/Pernice/Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, S. 405 f.; Siems, Die Konvergenz der Rechtssysteme im Recht der Aktionäre (2005), S. 474– 497.

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Christian Kirchner

§ 5 Die ökonomische Theorie

Ansatz erfolgt die Rechtsvereinheitlichung und/oder Rechtsangleichung von oben, also durch Normsetzungsorgane der Union. Im Bottom-up-Ansatz wird von seiten der Bürger – also von unten – Druck auf die Normsetzung der Mitgliedstaaten entweder durch Entscheidungen auf Gütermärkten oder durch Rechtswahlentscheidungen ausgeübt. Das Unionsrecht schafft die Grundlage eines solchen Wettbewerbs, wenn es mit Hilfe der Grundfreiheiten eine Wahlfreiheit für diese Entscheidungen eröffnet. Ein Beispiel ist die freie Produktwahl auf Grund der Warenverkehrsfreiheit, von der Druck auf die Mitgliedstaaten bezüglich ihrer produktbezogenen Regulierung ausgeht. Ein anderes Beispiel ist die freie Wahl des Staates der Inkorporierung einer Gesellschaft unabhängig davon, wo ihr Sitz ist (Wettbewerb der Gesellschaftsrechtsordnungen).73 Mit Hilfe – insbesondere – institutionenökonomischer Untersuchungen lässt sich die tatsächliche Wirkung des legislatorischen Wettbewerbs abschätzen. Damit leistet die Ökonomik einen relevanten Beitrag für die Normsetzungsfragen auf Unionsebene. 4.

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Ökonomische Problematik von Komitologieverfahren

Aus ökonomischer Perspektive geht es bei Komitologieverfahren auf der einen Seite um Vorteile, die sich aus der größeren Sachnähe und Expertise der Normsetzungsorgane ableiten, und auf der anderen Seite um steigende Präferenz- und Agenturkosten, die dadurch bedingt sind, dass Komitologieverfahren darauf angelegt sind, die Mitglieder der Expertengremien einer demokratischen Verantwortlichkeit nicht auszusetzen.74 Ökonomische Analysen von Komitologieverfahren sind also geeignet, Nebenwirkungen solcher Normsetzungsverfahren aufzuzeigen, die in rechtswissenschaftlichen Untersuchungen nicht in den Blick geraten. Dies ist dann für eine normative Beurteilung solcher Verfahren relevant.

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XI. Ausblick Die Bedeutung der ökonomischen Theorie für eine ,europäische Methodenlehre‘ weist verschiedene Facetten auf. Neben der Integration des institutionenökonomischen Ansatzes in rechtswissenschaftliche Interpretationsansätze ist es vor allem der Perspektivenwechsel in der legislativen Normsetzung, der eine ,europäische Methodenlehre‘ bereichern kann. Indem konsequent individualistisch vorgegangen wird (methodologischer und normativer Individualismus), wird die vom Völkerrecht geprägte Perspektive, in der es um nationale, supranationale und internationale Interessen geht, relativiert. Die besondere Qualität des europäischen Unionsrechts als einer eigenständigen Rechtsordnung schlägt sich methodisch darin nieder, dass gleichsam durch das nationale Interesse der Mitgliedstaaten und das Unionsinteresse durchge-

73 Vgl. Heine, Regulierungswettbewerb im Gesellschaftsrecht (2003); Heine/Kerber, EJL. & Econ. 13 (2002), 47 ff.; Grundmann, ZGR 2001, 783; Kirchner, FS Immenga (2004), S. 607. 74 Kirchner/Schmidt, in: Nobel (Hrsg.), International Standards and the Law, S. 67. Christian Kirchner

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70

1. Teil: Grundlagen

griffen wird und direkt das Individualinteresse der Bürger in Bezug genommen wird. Geht man methodisch so vor, so führt die Methodendiskussion zu Veränderungen im Verständnis des europäischen Unionsrechts und damit in den Gestaltungsanforderungen an diese Rechtsmaterie. Ziel ist dann nicht Wohlfahrtsmaximierung durch Integration, sondern die Gestaltung einer Rechtsordnung, die den Präferenzen der Bürger als Regelungsadressaten entspricht.

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Christian Kirchner

§ 6 Vom Wert ökonomischer Argumente bei Gesetzgebung und Rechtsfindung für den Binnenmarkt Jens-Uwe Franck

Übersicht I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Utilitarismus und Wohlfahrtsökonomik . . . . . 2. Posners „everyday pragmatism“ . . . . . . . . . 3. Kritik konsequentialistischer Denkweise (Hayek) 4. Ausdifferenzierung des ökonomischen Ansatzes a) Neue Institutionenökonomik . . . . . . . . . b) Behavioural Law and Economics . . . . . . . c) Economics of Happiness . . . . . . . . . . . 5. Zwischensumme . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Ausgestaltung der Rechtsregeln für den Binnenmarkt . . . . . . . . . . . . 1. Wirtschaftsverfassung und Wohlfahrtsgewinne durch die Integration der mitgliedstaatlichen Märkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aussicht auf Wohlfahrtsgewinne und Binnenmarktkompetenz . . . . . 3. Zur Wahl der Regelungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorteile einheitlicher Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vorteile dezentraler Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verarbeitung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse (Behavioural Economics) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4–16 4–5 6 7–8 9–13 9–10 11–12 13 14–16

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17–47

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17–23 24–29 30–41 33–35 36–41

. . .

42–47

IV. Ökonomische Argumente und Rechtsfindung für den Binnenmarkt . . . . . . 1. Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Zögerlichkeit des EuGH, explizit ökonomisch zu argumentieren . . .

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Rn. 1–3

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48–62 48–52 53–59 60–62

Literatur: Horst Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1995/3. Aufl. 2005); Thomas Eger/ Hans-Bernd Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung (2007); Eva-Maria Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt (2002); Klaus Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit? (3. Aufl. 2009); Willem Molle, The Economics of European Integration (5. Aufl. 2006); Richard A. Posner, Economic Analysis of Law (7. Aufl. 2007); Hans-Bernd Schäfer/Claus Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (4. Aufl. 2005); Michael Schillig, The Contribution of Law and Economics as a Method of Legal Reasoning in European Private Law, ERPL 17 (2009), 853–893; Hal R. Varian, Intermediate Microeconomics (7. Aufl. 2006).

Jens-Uwe Franck

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1. Teil: Grundlagen

I.

Einführung

1

Die Frage nach dem Wert ökonomischer Erkenntnisse für das Recht beschäftigt die Jurisprudenz und insbesondere die Zivilistik seitdem „Law and Economics“ in den 1960er Jahren in den Vereinigten Staaten zum Siegeszug ansetzte 1 und die Einsichten dieses Forschungsansatzes auch in Europa rezipiert wurden.2 Kaum zu bestreiten ist, dass das analytische und empirische Instrumentarium der Ökonomik in vielen Fällen geeignet ist, die Folgen einer Rechtsregel aufzuspüren und zu klären, ob sie im Sinne des Regelgebers wirkt bzw. wirken kann.3 Allerdings konzentriert sich die Diskussion um die „ökonomische Analyse“ häufig auf die Frage, inwieweit diese beeinflussen darf, wie Rechtsregeln auszugestalten und anzuwenden sein sollen. Die Grundlagen (wohlfahrts-)ökonomischer Analyse, zumal die rechtsphilosophischen, sind Gegenstand fortdauernder Kontroversen. Der Aussagewert ökonomischer Argumente für Normsetzung und -anwendung ist von Wertungen im Recht abhängig. Nachzugehen ist deshalb den normativen Vorgaben für die rechtlichen Regelungen, die dem Binnenmarktziel verpflichtet sind. Mit ihnen wird einschätzbar, inwieweit ökonomischen Effizienzanalysen für Ausformung, Auslegung und Fortbildung dieser marktbezogenen Rechtsnormen Gewicht zukommen kann. Anhand von Beispielen soll veranschaulicht werden, dass Raum ist für ökonomisch fundierte Argumente und mit ihrer Einbeziehung ein (Mehr-)Wert einhergeht.

2

Ökonomische Theorie des Rechts ist kein Forschungsansatz „aus einem Guss“. Dies hat seinen Grund darin, dass die Ökonomik wie jede Wissenschaft von Kontroversen hinsichtlich ihrer Methoden und Forschungsergebnisse geprägt wird. Die Überzeugungskraft ökonomischer Argumentationsmuster im rechtswissenschaftlichen Diskurs hängt deshalb davon ab, diese intradisziplinären Auseinandersetzungen nicht zu negieren, sondern auf Augenhöhe mit dem Stand der ökonomischen Forschung zu argumentieren. Gründete sich die „ökonomische Analyse des Rechts“ ursprünglich im Wesentlichen auf eine wohlfahrtsökonomische Analyse beschränkt auf das Instru-

1 An U.S.-amerikanischen Law Schools ist „Law and Economics“ seit einigen Jahren der dominierende Forschungsansatz. Standardlehrbuch ist neben Posner, Economic Analysis of Law etwa Cooter/Ulen, Law & Economics (5. Aufl. 2007). Als enzyklopädisches Standardwerk gilt Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law (1998/ 2001). 2 Die Rezeption des „Law-and-Economics“-Ansatzes in Europa erfolgte zunächst nur zögerlich, s. Cooter/Gordley, Int’l Rev. L. & Econ. 11 (1991), 261–263, sowie die Länderberichte im gleichen Heft von Kirchner (Deutschland), 277–292, Hertig (Schweiz), 292–300, Pastor (Spanien), 309–317, Skogh (Schweden), 319–324 und Weigel (Österreich), 325–329; zu den Ursachen der schleppenden Rezeption in der deutschsprachigen Rechtswissenschaft Grechening/ Gelter, Hastings Int’l & Comp. L. Rev. 31 (2008), 295–360. Zur Diskussion in Frankreich und dem Vereinigten Königreich s. Encinas de Munagorri, RTD civ 2006, 505–510 und Goodhart, MLR 60 (1997), 1–22. 3 Zur Fortentwicklung der herkömmlichen Interpretationsmethoden unter Einbeziehung ökonomisch fundierter, vergleichender Wirkungsanalysen s. Kirchner, in diesem Band, § 5 Rn. 15–59.

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Jens-Uwe Franck

§ 6 Vom Wert ökonomischer Argumente

mentarium neoklassischer Preistheorie,4 so muss eine zeitgemäße ökonomische Theorie des Rechts auch deren Erweiterungen und Alternativen in den Blick nehmen: spieltheoretische Ansätze, Auseinandersetzungen mit den „Unvollkommenheiten“ realer Märkte (externe Effekte, Transaktionskosten, systematische Informationsasymmetrien) und schließlich auch Herausforderungen durch von der Psychologie inspirierte Forschungsansätze der experimentellen Ökonomik („Behavioural Economics“ und „Economics of Happiness“).5 In der Ökonomik werden verschiedene Effizienzbegriffe unterschieden.6 Wenn im Folgenden unspezifisch von ökonomischer „Effizienz“ die Rede ist, bezieht sich dies auf Allokationseffizienz: Produktionsfaktoren sind danach so einzusetzen, dass der mit ihnen erzielte Nutzen maximiert und ein optimales Wohlfahrtsergebnis erzielt wird. Den Nachfragern am Markt sollen Güter in Qualität und Quantität entsprechend ihren Bedürfnissen zur Verfügung stehen. Ein Optimum an Allokationseffizienz wird modellhaft durch ein statisches Gleichgewicht beschrieben, bei dem die Grenzkosten der Produktion dem Grenznutzen der Nachfrager entsprechen.7 In diesem Zustand wird die volkswirtschaftliche Rente als Summe aus Konsumenten- und Produzentenrente maximiert. Davon zu unterscheiden ist der engere Blickwinkel der „Produktionseffizienz“ (oder auch „Inputeffizienz“), bei der die Verteilung der Konsumgüter vernachlässigt wird. Ihre Optimierung setzt voraus, dass für die Herstellung eines Gutes in einer Produktionseinheit bei gegebener Technologie ein möglichst geringes Maß an Produktionsfaktoren („Inputs“) verwendet wird. Von Bedeutung ist schließlich auch die sog. „dynamische Effizienz“ als Maß für die Innovationskraft eines Wirtschaftsprozesses. Für die Wohlfahrtsökonomik steht regelmäßig die Allokationseffizienz im Vordergrund. Dies hat seinen Grund vor allem darin, dass die Mikroökonomik zwar über eine ausgefeilte statische Theorie verfügt, es ihr aber an einer allgemein anerkannten Innovationstheorie mangelt.7a Es fehlen deshalb operable Mechanismen, statische und dynamische Effizienzvor- und -nachteile gegeneinander abzuwägen.8 Im Allgemeinen gilt deshalb aus ökonomischer Sicht Allokationseffizienz als aussagekräftiges Maß für die soziale Wohlfahrt.

4 Das gilt insbesondere für die Vertreter der sog. Chicago School, paradigmatisch hierfür Bork, The Antitrust Paradox (1978/1993), S. 117: “There is no body of knowledge other than conventional price theory that can serve as a guide to the effects of business behaviour upon consumer welfare.” 5 Behandelt werden (fast) alle dieser Erweiterungen auch in aktuellen Standardlehrbüchern zur Mikroökonomik, s. etwa Varian, Intermediate Microeconomics, Kapitel 28–30, 34, 36 f. 6 S. für einen Überblick Schwalbe/Zimmer, Kartellrecht und Ökonomie (2006), S. 3–12; ders., in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Effizienz als Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht (2008), S. 43–68. 7 Varian, Intermediate Microeconomics, S. 289 f. 7a Siehe hierzu Schwalbe, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Effizienz als Regelungsziel im Handelsund Wirtschaftsrecht (2008), S. 67. 8 S. etwa das Problem der Optimierung der Patentlaufzeiten aus wohlfahrtökonomischer Sicht, Varian, Intermediate Microeconomics, S. 433 f. Jens-Uwe Franck

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3

1. Teil: Grundlagen

II.

Grundlagen

1.

Utilitarismus und Wohlfahrtsökonomik

4

Die rechtsphilosophischen Grundlagen einer ökonomischen Theorie des (geltenden) Rechts sind Gegenstand intensiver Debatten. Augenfällig ist der Traditionszusammenhang zum Utilitarismus.9 Das utilitaristische Prinzip geht davon aus, dass sich gesamtgesellschaftlicher Nutzen als Summe individueller Nutzen berechnen lässt. Ein Zustand höheren Gesamtnutzens ist vorzuziehen. In der Tat beruhte die klassische Wohlfahrtsökonomik Marshalls und Pigous auf utilitaristischen Grundannahmen, wie der Möglichkeit kardinaler Nutzenmessbarkeit10 und intersubjektiver Nutzenvergleiche. Unabhängig von der später einflussreich vorgetragenen sozialphilosophischen Kritik am Utilitarismus11 wendeten sich die Ökonomen von ihm ab, weil ihnen das Messproblem als nicht befriedigend lösbar erschien.12 Stattdessen tritt in der Mikroökonomik das Konzept der Präferenz in den Mittelpunkt: Aus beobachtbaren Wahlhandlungen wird eine individuelle Präferenzordnung und weiter eine individuelle Nutzenfunktion abgeleitet.13 Ordinale Skalierung ersetzt die Notwendigkeit kardinaler Nutzenmessung.

5

Basierend auf beobachtbaren individuellen Präferenzen wurde auch das ParetoKriterium formuliert: Die Veränderung eines sozialen Zustands, wie sie etwa durch Rechtsänderungen initiiert werden kann, sei dann vorzugswürdig, wenn mindestens ein Individuum den neuen Zustand präferiert, während alle anderen Individuen zumindest indifferent im Hinblick auf die Änderung sind.14 Ein solches faktisches Einstimmigkeitspostulat erscheint konsenstheoretisch überzeugend. Praktisch gibt es einem Regelgeber kaum Hilfestellung an die Hand: Welche Umgestaltung rechtlicher Normen kennt keine Verlierer? Die Einführung eines Kompensationsmodells soll dem Rechnung tragen: Nach dem Kaldor-Hicks-Kriterium liegt ein gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrtsvorteil auch dann vor, wenn die Gewinner die Verlierer entschädigen

9 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 174–234. 10 Nutzen ist kardinal messbar, wenn ihm verrechenbare Größen zugeordnet werden können. Demgegenüber setzt eine ordinale Nutzenmessung nur voraus, dass sich verschiedene Zustände im Hinblick auf den darin realisierten individuellen Nutzen in eine Rangfolge bringen lassen. 11 Als problematisch am Utilitarismus gelten insbesondere dessen Indifferenz gegenüber Einkommens- und Vermögensverteilung und die mangelnde Gewährleistung grundrechtlicher Positionen als unveräußerliche Rechte des Individuums, Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit, S. 140–143. Zu den herausgehobenen Kritikern des Utilitarismus zählen Rawls, A Theory of Justice (1971); Nozick, Anarchy, State, Utopia (1976); Fried, Right and Wrong (1978); Dworkin, Taking Rights Seriously (1978). Zu Modifizierungen utilitaristischer Positionen in Reaktion auf die Kritik siehe im Überblick Broome, in: Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Bd. 2 (1998/2001), S. 651–656. 12 S. etwa Varian, Intermediate Microeconomics, S. 57 f. 13 Varian, Intermediate Microeconomics, S. 54–59. 14 Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 25.

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Jens-Uwe Franck

§ 6 Vom Wert ökonomischer Argumente

könnten und trotz dieser (hypothetischen) Kompensation noch besser stünden.15 Das Kriterium der möglichen Kompensation setzt nicht voraus, dass Nutzen transferierbar ist. Der Ausgleich erfolgt über den Transfer von Gütern oder auch Geld.16 Zu beachten ist, dass für den Fall des monetären Ausgleichs individuelle Zahlungsbereitschaften maßgeblich sind. Dem Kaldor-Hicks-Kriterium liegt deshalb konzeptionell kein interpersoneller Nutzenvergleich zugrunde.17 Allerdings ist zu bemerken, dass die hypothetische Kompensation in Geld zumindest fingiert, jeder Akteur ziehe aus einer Geldeinheit den gleichen Nutzen.17a Weniger als die für gewisse Konstellationen aufgezeigten Inkonsistenzen des Kaldor-Hicks-Kriteriums 18 interessiert hier seine sozialphilosophische Überzeugungskraft. Ein Versuch konsenstheoretischer Legitimierung stützt sich auf die Idee der „Generalkompensation“ bei iterativer Anwendung des Kriteriums: Zwar werde jeder Rechtsunterworfene von staatlichen Entscheidungen in prinzipiell nicht vorhersehbarer Weise bevorzugt oder benachteiligt. Stütze sich eine endliche Zahl dieser Entscheidungen aber auf eine Analyse nach dem Kaldor-HicksKriterium, so stehe jeder Betroffene nach einem gewissen Zeitraum besser da als ohne die Anwendung des Kriteriums.19 Angesichts des potentiell großen Ausmaßes individueller Benachteiligungen, des unbestimmten Zeithorizonts einer Kompensation und dem menschlichen Bedürfnis nach individueller, auf den Einzelfall bezogener Gerechtigkeit ist allerdings keineswegs ausgemacht, dass das Kaldor-Hicks-Kriterium als Sozialwahlregel aufgrund der Perspektive einer Generalkompensation allgemeine Zustimmung erfahren würde.20 2.

Posners „everyday pragmatism“

Inwieweit der „ökonomischen Analyse“ eine überzeugende „Effizienzethik“ basierend auf konsenstheoretischen Ansätzen zugrunde liegt, bleibt nach dem Gesagten zweifelhaft. Posner als der markanteste Vertreter der ökonomischen Analyse des Rechts sieht mittlerweile ausdrücklich davon ab, Wohlfahrtsmaximierung und ökonomische Effizienz als Zwecke des Rechts philosophisch zu fundieren und hat sich auf die Posi-

15 Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 32. 16 Feldman, in: Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Bd. 2 (1998/2001), S. 417, 418. 17 Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 39. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 191 f., weist darauf hin, dass sich in der rechtspolitischen Praxis nicht mit individuellen Zahlungsbereitschaften argumentieren lasse und deshalb faktisch der Kaldor-HicksTest doch nur auf Basis kardinaler Nutzenmessung und interpersoneller Vergleiche angewandt werden könne; s. zum Messproblem auch Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 62 f. 17a Schwalbe, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Effizienz als Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht (2008), S. 60. 18 Überblick bei Feldman, in: Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Bd. 2 (1998/2001), S. 417, 418–421. 19 Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 35. 20 Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 67 f. Eingehend zu Einwänden gegen verschiedene Ansätze konsenstheoretischer Rechtfertigung des Kaldor-Hicks-Kriteriums Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 234–264. Jens-Uwe Franck

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1. Teil: Grundlagen

tion eines „everyday pragmatism“21 bzw. „empirischen“ Pragmatismus22 zurückgezogen:23 Der Erfolg und die Überlegenheit des wirtschaftlichen und rechtlichen Systems nach US-amerikanischem Vorbild – also: freie Marktwirtschaft, Gewährung individueller Freiheiten, common law – sei evident. Dessen immanente Rationalität offenbare sich durch die ökonomische Analyse und rechtfertige damit auch deren normativen Anspruch.24 3.

Kritik konsequentialistischer Denkweise (Hayek)

7

Ökonomische Analyse des Rechts basierend auf der neoklassischen Wohlfahrtsökonomik argumentiert konsequentialistisch: Maßgeblich für ihr Urteil sind die Folgen einer Rechtsregel für den Wohlstand der Gesellschaft. In der ideengeschichtlichen Tradition Hayeks wird dagegen bestritten, dass ein Regelgeber oder -interpret Rechtsnormen am Ziele der Wohlfahrtsmaximierung ausrichten und damit sein Handeln legitimieren könne. Kosten-Nutzen-Analysen seien nur auf individueller Ebene möglich. Eine Förderung der sozialen Wohlfahrt könne sich nicht als Ergebnis einer exakten Folgenabwägung einstellen, sondern nur als nicht planbare Folge des Wirkens von Markt- und Wettbewerbskräften.25

8

Den Kritikern konsequentialistischer Ansätze obliegt es freilich, darzutun, nach welchen inhaltlichen Kriterien der rechtliche Rahmen für ökonomisches Handeln ausgestaltet werden soll. Ein Verweis auf die Wettbewerbsfreiheit allein vermag sie nicht zu beantworten:26 Indem ein Regelgeber etwa die Preisbindung zweiter Hand erlaubt oder verbietet, entscheidet er darüber, der Wettbewerbsfreiheit des Produzenten oder der des Vertriebshändlers Vorrang einzuräumen.27

9

4.

Ausdifferenzierung des ökonomischen Ansatzes

a)

Neue Institutionenökonomik

Die „Neue Institutionenökonomik“ integriert die Informations- und die Transaktionsökonomik und hebt die Bedeutung von Verfügungsrechten hervor. Insoweit versteht sie sich als alternativer Ansatz zur neoklassischen ökonomischen Theorie, deren Modelle Transaktionskosten typischerweise vernachlässigen. Wie diese bedient

21 Posner, Law, Pragmatism, and Democracy (2003), S. 49–56. 22 Posner, Overcoming Law (1995), S. 5. 23 Siehe im Überblick zum Wandel Posners Position hin zum „Rückzug in den Pragmatismus“ Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit, S. 205–212. 24 Posner, The Problems of Jurisprudence (1990), S. 382–387. 25 Mestmäcker, A Legal Theory without Law, Posner v. Hayek on Economic Analysis of Law (2007), S. 33 f. 26 Ackermann, JZ 2008, 139, 140. 27 Eine Entscheidung nach dem Kriterium ökonomischer Effizienz liegt hier nahe, wie auch sonst, wenn marktliche Verhaltensweisen in Rede stehen. S. zu diesem und anderen Beispielen notwendiger Regulierungsentscheidungen im Kartellrecht von Weizsäcker, WuW 2007, 1078–1084. Gegen den Vorwurf, Wettbewerbsfreiheit führe zu einer Leerformel s. wiederum Mestmäcker, ORDO 59 (2008), 185, 195–206.

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§ 6 Vom Wert ökonomischer Argumente

sie sich aber im Ausgangspunkt des sog. ökonomischen Paradigmas, d.h. sie geht von Ressourcenknappheit aus, nimmt eigennütziges Rationalverhalten an28 und betrachtet als handelnden Akteur das Individuum mit seinen Präferenzen und Interessen (methodologischer Individualismus). Die Bedingungen, welche die reale Marktgestaltung, den Ressourceneinsatz und die Kosten von Transaktionen bestimmen, werden als „Institutionen“ begriffen und untersucht wird, „welches institutionelle Arrangement […] ‚rational‘ oder ökonomisch vorzuziehen ist“.29 Da auch Rechtsnormen, insbesondere solche, die das Marktverhalten betreffen, als institutionelle Gegebenheiten zu verstehen sind, sollen sie darauf ausgerichtet sein, Ineffizienzen durch Transaktionskosten, Informationsasymmetrien, Unternehmenskooperationen etc. gering zu halten. Ein wichtiger Unterschied gegenüber wohlfahrtstheoretischen Ansätzen besteht darin, dass die Informations- und Transaktionskostenökonomik nicht das ganze System der Volkswirtschaft in den Blick nimmt, sondern einzelne Märkte bzw. soziale Transaktionen betrachtet. Dies muss sich nicht zwangsläufig auf die normative Ausrichtung des Forschungsansatzes auswirken: Die modellhafte Einbeziehung etwa von Informationsasymmetrien und Transaktionskosten hindert nicht, Allokationseffizienz und Maximierung der gesellschaftlichen Wohlfahrt als Ziel eines funktionierenden Marktes zu begreifen. Indes verzichtet die „Neue Institutionenökonomik“ in ihrer normativen Ausprägung im Gegensatz zur neoklassischen Wohlfahrtstheorie auf Allokationseffizienz und die Optimierung der sozialen Wohlfahrt als Zielsetzungen und kappt damit die utilitaristischen Wurzeln. Stattdessen soll auf einen „normativen Individualismus“ abzustellen sein: Maßgeblich sei danach, Regeln des Zusammenlebens zu finden, auf die sich „individuelle Akteure in freier Entscheidung einigen können, wenn sie jeweils nicht wissen, in welcher konkreten Situation sie sind (Schleier des Nichtwissens)“.30 Es sollen dafür nicht die Gewinne der Gewinner mit den Verlusten der Verlierer abzuwägen sein, sondern es ist die Frage zu beantworten, ob ein individueller Akteur einem institutionellen Arrangement auch dann zustimmen würde, wenn er möglicherweise zu den Verlierern gehörte. Maßgeblich ist damit eine individuelle Abwägung zwischen potentiellen Gewinnen und Verlusten. b)

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Behavioural Law and Economics

Wohlfahrtsanalysen auf der Grundlage neoklassischer Modelle, erweitert um die Transaktionskosten- und Informationstheorie, unterstellen den handelnden Individuen stabile Präferenzen und rationales, eigennütziges Verhalten. Forschungsergebnisse der Kognitionspsychologie und der experimentellen Ökonomik offenbaren demgegenüber vielfältige Phänomene systematisch irrationalen Verhaltens, insbesondere bei der

28 Diese Annahme wird allerdings eingeschränkt, s. Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts (1997), S. 12–21. 29 Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 313. 30 Kirchner, in diesem Band, § 5 Rn. 55. Jens-Uwe Franck

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1. Teil: Grundlagen

Informationsaufnahme und -verarbeitung und im Entscheidungsverhalten.31 Als „Behavioural Law & Economics“ hat sich ein Forschungsansatz etabliert, der sich den Auswirkungen des empirischen Befunds eingeschränkt rationalen Verhaltens auf die ökonomische Theorie des Rechts widmet.32

12

Unter Mikroökonomen herrscht Skepsis, ob es notwendig und möglich sei, kognitionspsychologische Erkenntnisse in neoklassische und spieltheoretische Modelle zu integrieren.33 Vorgebracht wird vor allem, dass Märkten eine Tendenz inhärent sei, Rationalverhalten zu honorieren und irrationale Verhaltensweisen zu bestrafen. Es seien deshalb die rational handelnden Marktakteure, die Preise, Mengen und andere für Marktmechanismen wichtige Parameter entscheidend beeinflussen. Zwar wurde gezeigt, dass geringe systematische Abweichungen auf individueller Ebene vom rational gebotenen Verhalten durch Kumulierungen zu signifikanten ökonomischen Effekten führen können.34 Trotzdem sei schwer abschätzbar, in welchem Maße sich überlagernde Verhaltensanomalien gegenseitig verstärken oder aufheben würden.35 Die Globalwirkungen aggregierten Irrationalverhaltens haben bislang das Fundament der neoklassischen Wohlfahrtsökonomik deshalb noch nicht nachhaltig erschüttern können.36 Es wird zu beobachten sein, ob und inwieweit die Analyse der Ursachen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008/09 in dieser Hinsicht Anlass für eine Neuorientierung geben könnte.37 Phänomene systematisch eingeschränkter Rationalität verdienen aber zweifellos Beachtung, insoweit es gilt, die Wirksamkeit rechtlicher Regelungen zu bewerten, die das Verhalten individueller Marktakteure beeinflussen sollen. c)

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Economics of Happiness

Vertreter der „Economics of Happiness“ propagieren seit einigen Jahren ein Comeback kardinaler Nutzenmessung: Empirische Methoden der „Glücksforschung“ sollen es ermöglichen, subjektives Wohlbefinden von Individuen zu messen. Die Ergebnisse bildeten praktikable Näherungswerte im Hinblick auf einen individuellen und in der

31 S. für eine Zusammenfassung zahlreicher illustrativer Forschungsergebnisse Eisenberg, 47 Stan. L. Rev. (1995), 211, 216–218 mwN. Eine populärwissenschaftliche Darstellung findet sich bei Thaler/Sunstein, Nudge, Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness (2008). 32 S. für eine Einführung Jolls/Sunstein/Thaler, in: Sunstein (Hrsg.), Behavioral Law & Economics (2000), S. 13–58; Eidenmüller, JZ 2005, 216–224; Englerth, in: Engel u.a. (Hrsg.), Recht und Verhalten (2007), S. 60–130. 33 Varian, Intermediate Microeconomics, S. 560 f. 34 Akerlof/Yellen, Am. Econ. Rev. 75 (1985), 708–720; Akerlof, Am. Econ. Rev. 81 (1991), 1–19. 35 Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 70 f. 36 Und mithin auch nicht die ökonomische Analyse des Rechts, insoweit sie hierauf aufbaut, s. für eine Verteidigung des traditionellen Law-and-Economic-Ansatzes im Angesicht verhaltenswissenschaftlicher Herausforderungen Posner, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1551–1575. 37 S. hierzu Akerlof/Shiller, Animal Spirits – How Human Psychology Drives the Economy, and Why It Matters for Global Capitalism (2009); Fox, The Myth of the Rational Market (2009); Posner, A Failure of Capitalism (2009).

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§ 6 Vom Wert ökonomischer Argumente

Summe auch kollektiven „Nutzen“.38 Auf Basis dieses Forschungsansatzes scheint deshalb eine Rückbesinnung der Wohlfahrtsökonomik auf den Utilitarismus diskutabel.39 Inwieweit sich die Methodik der „Economics of Happiness“ als Alternative oder Erweiterung des neoklassischen Ansatzes wird etablieren können, bleibt einstweilen abzuwarten.40 5.

Zwischensumme

Eine auf Förderung der sozialen Wohlfahrt (gemessen am Kaldor-Hicks-Kriterium) abzielende ökonomische Analyse des Rechts ruht auf keinem gesicherten normativen Fundament. Dies delegitimiert freilich nicht schlechthin deren Aussagekraft. Schließlich postulieren auch ihre Protagonisten für sie keinen Absolutheitsanspruch.41 Es offenbart sich hierin aber die Notwendigkeit alternativer Konzepte, wie sie etwa von Vertretern der „Neuen Institutionenökonomik“ mit dem Ansatz des „normativen Individualismus“ vorgelegt worden sind.

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Ergebnisse der neoklassischen Wohlfahrtsökonomik beruhen auf Annahmen über menschliches Verhalten, die teilweise durch empirische bzw. experimentelle Untersuchungen widerlegt worden sind. Deshalb kann es angezeigt sein, diese verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnisse bei der Normsetzung und -anwendung zu berücksichtigen. Andererseits können im Recht verankerte Wertungen normative Verhaltensannahmen rechtfertigen. Deutlich wird, dass die Berücksichtigung ökonomischer Erkenntnisse bei Rechtssetzung und -anwendung nicht per se legitimiert ist, sondern einer normativen Stütze im Einzelfall bedarf. Das Recht selbst kann darüber befinden, ob und welche ökonomischen Argumentationsmuster methodisch legitimiert sind und welches Gewicht ihnen zukommen soll.

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Die Wertschöpfung durch Tausch knapper Güter und das Zusammenspiel der Akteure bei dessen Abwicklung fallen in den originären Gegenstandsbereich der Wirtschaftswissenschaften. Soweit Märkte Gegenstand rechtlicher Regelungen sind, liegt es nahe, dass ökonomische Erkenntnisse bei ihrer Ausformung helfen können. Eine wohlfahrtsökonomische Bewertung – die sich der Beschränktheiten ihres Instrumentariums bewusst ist – erscheint hier aussagekräftig. Die Debatte um den sog. „more economic approach“ im Europäischen Kartellrecht zeigt allerdings, wie kontrovers der Aussagewert wohlfahrtsökonomischer Analysen selbst im Hinblick auf marktbezogene Rechtsnormen diskutiert wird.42

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38 Frey/Stutzer, Happiness & Economics (2002), S. 20–25. 39 Vgl. den insoweit programmatischen Titel bei Kahneman/Wakker/Sarin, QJE 112 (1997), 375–505: “Back to Bentham? Explorations of Experienced Utility”. 40 Für einen Überblick zum Forschungsstand s. Frey, Happiness, A Revolution in Economics (2008). 41 S. etwa Posner, Economic Analysis of Law, S. 27: “Evidently there is more to justice than economics, and this is a point the reader should keep in mind in evaluating normative statements in this book”; s.a. Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 6–10. 42 Dazu Ackermann, in diesem Band, § 21 Rn. 22 mwN. Jens-Uwe Franck

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1. Teil: Grundlagen

III. Ausgestaltung der Rechtsregeln für den Binnenmarkt 1.

Wirtschaftsverfassung und Wohlfahrtsgewinne durch die Integration der mitgliedstaatlichen Märkte

17

Steht es prinzipiell im Ermessen eines Regelgebers, welchen Stellenwert er ökonomischen Überlegungen beimisst, so handelt er doch jedenfalls im Wirkungsfeld verfassungsrechtlicher Vorgaben. Aus dem Grundgesetz sind keine Parameter für die hier interessierenden Fragen zu erwarten, soweit man dem Diktum des Bundesverfassungsgerichts von der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes 43 folgt: Wenn das Grundgesetz die Wirtschaftsordnung nicht auf eine Marktwirtschaft festlegt, dann kann der Gesetzgeber erst Recht nicht verpflichtet sein, die Rechts- und Wirtschaftsordnung auf ein Effizienzziel hin auszurichten.44

18

Demgegenüber prägt nach Art. 119 AEUV/4 EG 45 der „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union. Bemerkenswert ist, dass in Art. 120 AEUV/98 EG und Art. 127 AEUV/105 EG diese wirtschaftsverfassungsrechtliche Grundaussage im Hinblick auf die Wirtschafts- und Währungspolitik mit dem Ziel der Allokationseffizienz verknüpft wird: „Die Mitgliedstaaten und die Union“ bzw. „das ESZB [Europäische System der Zentralbanken]“ handeln „im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, wodurch ein effizienter Einsatz der Ressourcen gefördert wird […]“. Dieses Ordnungsprinzip verdichtet sich zusammen mit den konstitutionalisierten Freiheitsgewährleistungen durch die Grundfreiheiten und der Gewährleistung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs46 zu einer marktwirtschaftlich und freiheitlich geprägten Wirtschaftsverfassung. Im Lichte dieser Systementscheidung

43 BVerfGE 4, 7, 17 f.; 7, 377, 400; 50, 290, 336 ff.; hierzu Maunz/Dürig-Di Fabio, Grundgesetz (Stand der Bearbeitung: Juli 2001), Art. 2 Abs. 1 GG Rn. 76, 87–90; Canaris, FS Lerche (1993), S. 878–880. 44 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 443–445. 45 Im Zuge der Reformen durch den Vertrag von Lissabon steht dieses Bekenntnis zur „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ als Grundsatz der Wirtschafts- und Währungspolitik damit nicht mehr an herausgehobener Stelle s. hierzu v. Bogdandy/Bast-Drexl, S. 916– 918. 46 Nach den Reformen durch den Vertrag von Lissabon ist das „System unverfälschten Wettbewerbs“ kein Ziel der Union iSv Art. 3 EUV. Dafür wird im Protokoll (Nr. 27) „Über den Binnenmarkt und den Wettbewerb“ festgelegt, „dass der Binnenmarkt, wie er in Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union beschrieben wird, ein System umfasst, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“. Damit wird der (verfassungs-)rechtliche Stellenwert des Schutzes des Wettbewerbs nicht verändert. Die Verlagerung in ein Protokoll hat aber jedenfalls eine rechtspoltisch-symbolische Bedeutung, die (wohl) auf eine Initiative des französischen Präsidenten Sarkozy zurückgeht, nach dessen Verständnis Wettbewerb kein Ziel sei, sondern (allenfalls) ein Mittel, Woehrling, in: Schwarze/Hatje (Hrsg.), Der Reformvertrag von Lissabon, EuR 2009, Beiheft 1, 272, 273; v. Bogdandy/Bast-Drexl, S. 907–916. Kritikwürdig ist die Streichung des „unverfälschten Wettbewerbs“ als Ziel deshalb insbesondere aus Sicht derer, die in der Tradition Hayeks nicht-konsequentalistisch argumentieren, s. etwa Mestmäcker, ORDO 59 (2008), 185, 198.

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§ 6 Vom Wert ökonomischer Argumente

und Funktionsgarantie sind alle wirtschaftspolitisch relevanten Normen des Primärund Sekundärrechts auszulegen.46a Relativiert werden diese wirtschaftsverfassungsrechtlichen Grundlagen durch den in Art. 3 Abs. 3 EUV enthaltenen Hinweis auf eine „soziale“ Marktwirtschaft sowie durch konkurrierende Zielvorgaben etwa im Rahmen der Sozial-, Kultur-, Gesundheits- Verbraucher- und Umweltpolitik, die durch die Vertragsreformen beginnend mit dem Vertrag von Maastricht kontinuierlich an Bedeutung gewonnen haben und nicht unmittelbar mit Effizienzüberlegungen verknüpft sind. Zudem setzen Verfassungsvorgaben – also insbesondere Grundrechte aber auch Verfassungsprinzipien wie das Sozialstaatsprinzip – dem Regelgeber Grenzen bei der Berücksichtigung von Effizienzüberlegungen.47 Das gilt auf Europäischer Ebene grundsätzlich gleichermaßen wie für das nationale Recht. Eine Analyse der teils konkurrierenden und kollidierenden Zielsetzungen im Unionsrecht anhand der hierfür bereit gehaltenen Kompetenzen zeigt jedoch, dass den marktintegrativen und damit ökonomischen Zielen auch nach den Vertragsänderungen von Maastricht bis Lissabon ein Vorrang zukommt gegenüber nichtwirtschaftlichen, insbesondere sozialen Zielen.48

19

Diese Überlegungen lassen sich für die Europäische Rechtsetzung präzisieren, insoweit sie darauf ausgerichtet ist, die mitgliedstaatlichen Märkte zu einem Binnenmarkt zu integrieren. Zentrales Anliegen der Binnenmarktintegration ist es, die soziale Wohlfahrt in der Europäischen Union zu steigern.49 Beredtes Zeugnis hierfür legt der Spaak-Bericht50 vom April 1956 ab, der das Konzept der wirtschaftlichen Integration vorbestimmte, wie es schließlich mit den Römischen Verträgen 1957 beschlossen wurde.51 Im Spaak-Bericht wird der Gemeinsame Markt als Mittel beschrieben, um einen Wirtschaftsraum aufzubauen, „in dem die Voraussetzungen für eine gemein-

20

46a V. Bogdandy/Bast-Hatje, S. 811. 47 Hierzu Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 445–449. 48 Vgl. Basedow, FS Buxbaum (2000), S. 21–26; Schillig, ERPL 17 (2009), 853, 871–874. 49 Hertig, Int’l Rev. L. & Econ. 11 (1991), 331, 333: „[T]he Treaty of Rome aims at efficiency gains“; vgl. auch v. Bar/Beale/Clive/Schulte-Noelke, in: v. Bar/Clive (Hrsg.), Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law – Full Edition, Bd. 1, S. 9 f.: “The most obvious way in which the welfare of the citizens and businesses of Europe can be promoted by the DCFR is the promotion of the smooth functioning of the internal market.” 50 Regierungsausschuss, eingesetzt von der Konferenz von Messina, Bericht der Delegationsleiter an die Außenminister, MAE 120 d/56 (korr.), Brüssel, den 21. April 1956 (im Folgenden: Spaak-Bericht). 51 Einer Kommission unter Vorsitz des belgischen Außenministers Paul-Henri Spaak war die Aufgabe übertragen worden, mögliche Wege einer weiteren wirtschaftlichen Integration zu prüfen. Dies war notwendig geworden, nachdem 1955 die Konferenz von Messina die Unstimmigkeiten über diese Frage unter den sechs Mitgliedstaaten der Montanunion deutlich gemacht hatte. Der Spaak-Bericht, der empfahl, eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und eine Europäische Atomgemeinschaft zu gründen, wurde im Mai 1956 von den Außenministern auf der Konferenz von Venedig angenommen und bildete die Grundlage für die Verhandlungen über die Vertragstexte. Zu Entstehungsgeschichte und Bedeutung des SpaakBerichtes ausführlich Küsters, Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1982), S. 135–268. Jens-Uwe Franck

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1. Teil: Grundlagen

same Wirtschaftspolitik geschaffen werden, die – gestützt auf die Einheit mächtiger Produktionskräfte – eine fortlaufende wirtschaftliche Ausweitung, größere Sicherheit gegen Rückschläge, eine beschleunigte Hebung des Lebensstandards und die Entwicklung harmonischer Beziehungen zwischen den Teilnehmerstaaten zum Ziele haben wird.“52 Der Binnenmarkt dient somit als Instrument, um den Wettbewerbsdruck in der Union zu erhöhen. Hiervon erhofften sich die Konstrukteure des Gemeinsamen Marktes eine höhere ökonomische Effizienz und mehr Wohlstand.53 Der Unionsgesetzgeber ist deshalb bei der Rechtsetzung für den Binnenmarkt54 dazu aufgerufen, Regulierung nach Effizienzgesichtspunkten auszurichten. Denn das Ziel der Binnenmarktintegration wird verfehlt, wenn die Wohlfahrtsnachteile durch ineffiziente inhaltliche Regelungen überwiegen gegenüber den Wohlfahrtsgewinnen durch Harmonisierung.

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Bei marktordnenden Eingriffen ist deshalb etwa im Vorhinein zu klären, ob tatsächlich ein regulierungsbedürftiges Problem vorliegt oder ob nicht bestehende Marktmechanismen hinreichend sind. Ein kollektives Handlungsproblem mag etwa der Grund sein, warum sich eine effiziente Lösung nicht ohne gesetzgeberische Intervention durchsetzt.55 Zum anderen muss geprüft werden, ob die vorgesehenen Regelungsinstrumente geeignet sind, den definierten Marktunvollkommenheiten auf effiziente Weise entgegenzuwirken.56 Hierbei ist die Gefahr zu bedenken, dass eine Überregulierung kontraintentional zur Schutzrichtung wirken kann. Mit Hilfe analytischer und empirischer ökonomischer Argumente lässt sich dieses Risiko insbesondere bei verbraucherschützender Gesetzgebung beurteilen.57

52 Spaak-Bericht (o. Fn. 50), Erster Teil, Einl. S. 15. 53 Vgl. Molle, The Economics of European Integration, S. 9–32. 54 Eine große Zahl der privat- und wirtschaftsrechtlichen Normen im Unionsrecht ist der Marktintegration verpflichtet. Das gilt für Regelungen, die auf der Grundlage der Binnenmarktkompetenz gemäß Art. 114 AEUV/95 EG und 115 AEUV/94 EG erlassen wurden sowie für die gesellschaftsrechtlichen Rechtsakte, die sich auf Art. 54 AEUV/44 EG stützen. Zudem wird auch eine Hauptfunktion der Wettbewerbspolitik darin gesehen, die Integration des Binnenmarktes zu fördern und abzusichern. Nicht unmittelbar mit der Binnenmarktintegration verknüpft sind die arbeitsrechtlichen Regelungen auf Basis des Art. 153 AEUV/137 EG und Verbraucherschutzvorschriften auf der Grundlage von Art. 169 Abs. 2 lit. b), Abs. 3 AEUV/153 Abs. 3 lit. b), Abs. 4 EG. Als Korrelat zu Freihandel und Freizügigkeit haben freilich auch diese Normen einen Bezug zum Binnenmarkt. Anders als noch Art. 65 EG, der zusammen mit Art. 61 lit. c) EG die Kompetenz vor allem für Kollisions- und Verfahrensrecht begründet hat, verweist Art. 81 EUV nur als Beispiel auf die Erforderlichkeit der Rechtsetzung für den Binnenmarkt, setzt diese aber nicht mehr als notwendig voraus, um die Kompetenz zu begründen. 55 Siehe etwa Franck/Massari, WM 2009, 1117, 1125, zur Frage, warum gesetzlich vorgegebene nutzerfreundlicher Haftungs- und Beweislastregeln im Zahlungsverkehr notwendig sind, obwohl nach dem vorliegenden Datenmaterial auch die Anbieter hiervon profitieren und deshalb auf den ersten Blick unklar erscheint, warum sich die effizientere Lösung nicht ohne Intervention am Markt durchsetzt. 56 Zur Regelung von Informationsdefiziten Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 218–223. 57 S. etwa Van den Bergh, in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Effiziente Verhaltenssteuerung und Kooperation im Zivilrecht (1997), S. 77–106; Kirstein/Schäfer, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische

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Jens-Uwe Franck

§ 6 Vom Wert ökonomischer Argumente

Die Notwendigkeit von Effizienzüberlegungen setzt sich auf der Ebene der Rechtsanwendung fort. So betonte Generalanwalt Geelhoed im Hinblick auf eine Auslegungsfrage zur Betriebsübergangsrichtlinie:58 „Die Richtlinie stützt sich auf Artikel 100 EG-Vertrag [jetzt Art. 115 AEUV/94 EG]; aus diesem Grund dürfen Markt- und Wettbewerbserwägungen nicht aus den Augen verloren werden.“59 Die von ihm favorisierte enge Auslegung des Vorliegens eines „Betriebsübergangs“ begründete der Generalanwalt in der Folge wesentlich mit ökonomischen Erwägungen: „Unter Marktgesichtspunkten wäre eine zu weite Auffassung unverantwortlich und müsste zu irreführenden und unvorhersehbaren Folgen in einer dynamischen wirtschaftlichen Wirklichkeit führen.“60

22

Mit der Zahlungsdiensterichtlinie (ZDRL)61 wurden auf der Grundlage von Art. 95 EG (jetzt Art. 114 AEUV) die Regelungen über den Zahlungsverkehr umfassend harmonisiert mit dem Ziel eines „moderne[n] und kohärente[n] rechtliche[n] Rahmen[s] für Zahlungsdienste […] der neutral ist und gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Zahlungssysteme gewährleistet, damit der Verbraucher auch weiterhin freie Wahl hat, was im Vergleich zu den derzeitigen nationalen Systemen einen erheblichen Fortschritt in Bezug auf die Verbraucherkosten, die Sicherheit und die Effizienz bedeuten dürfte“.62 Hat damit der Europäische Regelgeber Effizienzgewinne zum Zweck einer Regelung erkoren, ist es nicht nur legitim, deren rechtspolitische Überzeugungskraft daran zu messen, sondern auch geboten, ökonomische Effizienzüberlegungen für die Auslegung und Fortbildung der Vorschriften heranzuziehen. Exemplarisch hierfür steht die Regelung zur Beweislast für die Haftung bei nicht autorisierten Zahlungen nach Art. 59 Abs. 2 ZDRL. Der Wortlaut der Regelung ist unklar; die Entstehungsgeschichte deutet darauf hin, dass dies die Folge eines politischen Kompromisses ist, der bewusst verschiedene Auslegungsvarianten offen lassen sollte.63 Der Rechtsanwender ist deshalb an dieser Stelle zur Rechtsfortbildung berufen. Eine Analyse und Fortschreibung der vom Gesetzgeber intendierten und auch sonst in der Richtlinie manifestierten Effizienzüberlegungen kann deshalb hier zur Klärung von Auslegungsfragen beitragen. Eine solche Analyse spricht etwa dafür, die Rechtsprechung zum Anscheinsbeweis für grob fahrlässiges Verhalten von Karteninhabern beim Kartenmissbrauch unter Benutzung von PIN nicht aufrechtzuerhalten.64

23

58

59 60 61

62 63 64

Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, S. 369–405; Schillig, ERPL 17 (2009), 886, 889–892. Ein instruktives Beispiel für einen Fall, bei dem die Europäische Kommission eben dies versäumt hat, bildet der ursprüngliche Vorschlag Reform des Verbraucherkreditrechts aus dem Jahre 2002 (KOM[2002] 443 endg, ABl. 2002 C 331 E/200). Eine Überregulierung des Kreditmarktes wirkt letztlich kontraproduktiv für die Wohlfahrt der Verbraucher, die Darlehen nachfragen und deren Interessen eigentlich geschützt werden sollen, hierzu Franck, ZBB 2003, 334–342. Richtlinie 77/187/EWG des Rates v. 14.2.1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen, ABl. 1977 L 61/26. GA Geelhoed, SchlA v. 27.9.2001 – Rs. C-51/00 Temco, Slg. 2002, I-969, Rn. 40. GA Geelhoed, SchlA v. 27.9.2001 – Rs. C-51/00 Temco, Slg. 2002, I-969, Rn. 67. Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.11.2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2002/65/EG, 2005/60/ EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/EG, ABl. 2007 L 319/1. BE 4 ZDRL. Generell zu diesem Phänomen Stotz, in diesem Band, § 22 Rn. 4. Franck/Massari, WM 2009, 1117–1128, insbes. 1126 f.

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1. Teil: Grundlagen

2.

Aussicht auf Wohlfahrtsgewinne und Binnenmarktkompetenz

24

Die Eignung einer Maßnahme, Märkte zu integrieren und hierdurch Effizienzvorteile zu kreieren, wirkt kompetenzbegründend nach dem Art. 114 AEUV/95 EG zu Grunde liegenden Konzept.65 Ob eine Harmonisierungsmaßnahme, die typischerweise ein Mehr an (einheitlicher) Regulierung mit sich bringt, auch tatsächlich Wohlfahrtsgewinne verspricht, muss deshalb ein wichtiges Kriterium bei der Frage sein, ob die Union sich auf die Binnenmarktkompetenz stützen kann. Allerdings entzieht eine mangelnde Berücksichtigung der Auswirkungen auf die soziale Wohlfahrt einer Harmonisierungsmaßnahme nicht die Kompetenz des Art. 114 AEUV/95 EG. Bildet die Wohlfahrtsförderung auch ein zentrales Anliegen der Integration, so ist sie doch nicht das einzig legitime Ziel der Rechtsharmonisierung. Dies wird etwa an Art. 114 Abs. 3 AEUV/95 Abs. 3 EG deutlich. Dem Gesetzgeber bleibt bei der Frage, welche Maßnahmen er als geeignet für die Binnenmarktintegration ansieht, ein weiter Ermessensspielraum, um sonstige Ziele wie Verbraucherschutz oder Umweltschutz zu berücksichtigen.

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Die Auswirkung einer Harmonisierungsmaßnahme auf die soziale Wohlfahrt ist damit jedenfalls ein wichtiger Prüfstein, um die rechtspolitische Überzeugungskraft einer gesetzgeberischen Initiative bewerten zu können, die sich auf Art. 114 AEUV/95 EG stützt. Soweit Wohlfahrtsgewinne nicht zu erwarten sind und für die sonstigen Ziele einer Maßnahme eine Rechtsharmonisierung explizit ausgeschlossen ist, kann eine Binnenmarktkompetenz nicht begründet werden. Dies kann am Beispiel der Tabakwerberichtlinie 66 verdeutlicht werden.67 Die Richtlinie beschränkt die Werbung für Tabakerzeugnisse in erheblichem Maße, sie verbietet insbesondere die Werbung in der Presse (Art. 3) sowie die Rundfunkwerbung (Art. 4).68 Im Schrifttum wurde der Tabakwerberichtlinie weithin die Kompetenzgrundlage abgesprochen.69 Vom EuGH

65 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 532. 66 Richtlinie 2003/33/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.5.2003 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung und Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen, ABl. 2003 L 152/16. Zur Regulierung der Tabakwerbung siehe Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 95 f., 266–269. 67 Die gleichnamige Vorgängerrichtlinie 98/43/EG, ABl. 1998 L 213/9, die jegliche Absatzförderung von Tabakprodukten untersagte und die der europäische Gesetzgeber auch auf 95 EG (jetzt Art. 114 AEUV) gestützt hatte, wurde vom EuGH wegen mangelnder Kompetenzgrundlage für nichtig erklärt, EuGH v. 5.10.2000 – Rs. C-376/98 Deutschland ./. Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419 LS 3. 68 Jede Form der audiovisuellen kommerziellen Kommunikation – also insbesondere die Fernsehwerbung – für Zigaretten und andere Tabakprodukte wird untersagt durch Art. 3e Abs. 1 lit. d) der Richtlinie 89/552/EWG des Rates v. 3.10.1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl. 1989 L 298/23, zuletzt geändert durch Richtlinie 2007/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.12.2007 zur Änderung der Richtlinie 89/552/EWG des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl. 2007 L 332/27. 69 Siehe etwa Dauses, EuZW 2001, 577; Görlitz, ZUM 2002, 97; ders, EuZW 2003, 485; Oppermann, ZUM 2001, 950; Schwarze, ZUM 2002, 89; Wägenbauer, EuZW 2001, 450.

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§ 6 Vom Wert ökonomischer Argumente

wurde sie indes bestätigt.70 Im Kern wird die Unionskompetenz deshalb bezweifelt, weil die Richtlinie faktisch die Binnenmarktintegration kaum verbessert. Sachlich ist sie vom Ziel des Gesundheitsschutzes dominiert. Damit wird aber Art. 152 Abs. 4 lit. c) EG umgangen, wonach Rechtsharmonisierung zum Schutze und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit ausgeschlossen ist. Letzteres entspricht auch der Rechtslage nach den Reformen durch den Vertrag von Lissabon, wonach auf Unionsebene gem. Art. 168 AEUV lediglich Fördermaßnahmen zum Schutze der Gesundheit der Bevölkerung vor dem Tabakkonsum erlaubt sind, Harmonisierungsmaßnahmen aber ausgeschlossen bleiben. Ökonomische Argumente können die Ansicht begründen, dass die Tabakwerberichtlinie nicht überzeugend auf Art. 114 AEUV/95 EG gestützt werden konnte: Die Beschränkung der Tabakwerbung im von der Richtlinie erfassten Bereich lässt einerseits im Ganzen kaum Wohlfahrtsgewinne durch eine Förderung der Binnenmarktintegration erwarten. Zwar ist es denkbar, dass der freie Verkehr insbesondere von Zeitungen oder Zeitschriften durch unterschiedliche nationale Regelungen über die Tabakwerbung beschränkt wird. Doch sind die damit verbundenen Wohlfahrtsnachteile wohl eher gering, bedenkt man, dass bei Printmedien typischerweise auf Grund der Sprachbarrieren und ihres thematischen Zuschnitts nur ein geringer Bruchteil des Umsatzes durch grenzüberschreitenden Absatz erzielt wird. Erhebliche Wohlfahrtsnachteile drohen andererseits dadurch, dass die Richtlinie dem Markt für Tabakprodukte mit der Presse- und Rundfunkwerbung ein zentrales wettbewerbsstrategisches und transparenzförderndes Instrument entzieht. Werbeverbote zementieren damit tendenziell die Marktstruktur und schränken mithin die Funktionsfähigkeit des Marktes ein. Die Tabakwerberichtlinie wirkt damit in einer Art und Weise, die dem intendierten Wirkungsmechanismus der Binnenmarktintegration entgegensteht.

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Man mag einwenden, dass die Beschränkung der Tabakwerbung zu einem Rückgang des Tabakkonsums führen werde und damit wiederum zu Wohlfahrtsgewinnen. Dafür spricht, dass der Konsum von Tabakprodukten gesundheitsschädlich, potentiell sogar lebensgefährlich ist und damit gesellschaftliche Kosten verursacht, weil Humankapital vernichtet wird und den sozialen Sicherungssystemen durch die Behandlungskosten und Beitragsausfälle hohe Kosten entstehen. Indes begründen Wohlfahrtsgewinne durch Gesundheitsschutz keine Kompetenz zur Rechtsharmonisierung auf der Grundlage des Art. 114 AEUV/95 EG.

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Selbst wenn der Europäische Gesetzgeber Rechtsharmonisierung zum Zwecke des Gesundheitsschutzes betreiben dürfte, wäre er jedenfalls aufgerufen, alle marktkonformen Regulierungsmaßnahmen auszuschöpfen, bevor er auf ein umfassendes Tabakwerbeverbot zurückgreift. Durch Anti-Tabakkonsum-Kampagnen und durch die Etikettierungsvorschriften der Tabaketikettierungsrichtlinie wird bereits kontinuierlich auf die gesund-

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70 EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C-380/03 Bundesrepublik Deutschland ./. Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union, Slg. 2006, I-11573 Rn. 17–98. Jens-Uwe Franck

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1. Teil: Grundlagen heitlichen Risiken, die mit dem Rauchen verbunden sind, hingewiesen.71 Nichtraucher können durch Rauchverbote am Arbeitsplatz, in Restaurants, an öffentlichen Plätzen etc. geschützt werden. Den Schutz Minderjähriger können Vertriebsverbote und Werbebeschränkungen gewährleisten. Negative externe Effekte auf Grund der erhöhten Kosten für das Gesundheitswesen können durch die Tabaksteuer aufgefangen werden. Soweit dem Europäischen Gesetzgeber für derartige Maßnahmen die Kompetenz fehlt, muss er es den Mitgliedstaaten überlassen, die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen.

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Zu bedenken sind schließlich auch die Grenzen der Wirkung von Werbebeschränkungen bzw. sogar mögliche kontraintentionale Effekte, die erst bei ökonomischer Betrachtung verständlich werden. Eine empirische Studie zu verschiedenen gesetzgeberischen Initiativen gegen das Rauchen und insbesondere auch zum Advertising Ban, mit dem amerikanisches Bundesrecht 1971 die Radio- und Fernsehwerbung für Zigaretten verbot,72 hat einerseits gezeigt, dass die Werbung die Nachfrage nach Zigaretten nur gering beeinflusst und deshalb ein Werbeverbot auch nur einen statistisch fast irrelevanten Rückgang der Nachfrage verursachte. Andererseits ist aber die Nachfrage nach Zigaretten sehr preiselastisch. Da die Werbeverbote eine Kostenersparnis für die Produzenten bedeutete, ermöglichten sie ihnen, die Preise für Zigaretten zu senken. Dies erklärt, warum der Advertising Ban nach dem in der Studie verwendeten Regressionsmodell zu einem Anstieg im Zigarettenkonsum führte. Sehr zweifelhaft ist deshalb, ob ein Werbeverbot tatsächlich ein geeignetes Mittel im „Kampf gegen den Tabakkonsum“ darstellt. Angesichts der hohen Preiselastizität der Nachfrage wäre eine Steuererhöhung jedenfalls ein effektiveres und wohl auch effizienteres Mittel.73

3.

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Zur Wahl der Regelungsebene

In einem Mehrebenensystem wie dem Privatrecht in der Europäischen Union74 können ökonomische Überlegungen auch maßgeblich sein für die Wahl des Regelungsinstruments. Dem Unionsgesetzgeber steht zur Förderung der Integration der Märkte nicht nur die Möglichkeit der Rechtsharmonisierung zur Verfügung. Der Verzicht auf eine Vereinheitlichung des Rechts stellt sich gerade aus ökonomischer Perspektive als grundsätzliche Alternative dar. Denn die Möglichkeit dezentraler Regulierung verspricht ökonomische Vorteile gegenüber einem einheitlichen Recht. Im Vordergrund steht die Überlegung, der Erhalt von Rechtsvielfalt sichere die Möglichkeit eines Wettbewerbs der Regulierungssysteme.75 Damit bleibt ein Mechanismus erhalten, der Innovation im Recht generiert. 71 Empirische Studien haben gezeigt, dass der Tabakkonsum gesenkt werden kann, klärt man über die Gesundheitsschäden des Rauchens auf, Schneider/Klein/Murphy, J. Law & Econ. 24 (1981), 575–612. Insbesondere wurde nachgewiesen, dass Werbespots gegen Zigaretten das Rauchen bei Teenagern signifikant reduzieren können, weil die Präferenzen in dieser Gruppe noch weniger stark ausgeprägt sind, Lewitt/Coate/Grossman, J. Law & Econ. 24 (1981), 545–569. 72 Schneider/Klein/Murphy, J. Law & Econ. 24 (1981), 575, 599. 73 Van den Bergh, in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Effiziente Verhaltenssteuerung und Kooperation im Zivilrecht (1997), S. 97. Es deutet sich hier das Potential ökonomischer Erwägungen für die Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit an, s. hierzu im Hinblick auf die Prüfung von Grundrechtseingriffen Lindner, JZ 2008, 957, 961 f. 74 S. Grundmann, in diesem Band, § 10 Rn. 2–12. 75 Zum Konzept des Wettbewerbs der Rechtsordnungen vor dem Hintergrund der Binnenmarktintegration: Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt

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§ 6 Vom Wert ökonomischer Argumente

Ist der Binnenmarkt als eine Unternehmung zu begreifen, die die wirtschaftliche Effizienz in der Europäischen Union fördern soll, so ist auch die Frage nach dem „ob“ einer Rechtsharmonisierung auf den Prüfstand der ökonomischen Theorie zu stellen. Im Recht des Binnenmarktes sind verschiedene Ansätze erkennbar, die Marktintegration zu fördern, ohne die mitgliedstaatlichen Rechte anzugleichen.76 Neben dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung auf Basis der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten77 oder einem sekundärrechtlich installierten Herkunftslandprinzip78 ist in letzter Zeit insbesondere die Möglichkeit in den Fokus geraten, den Binnenmarktakteuren ein supranationales Instrument zur Verfügung zu stellen, das neben die nationalen Instrumente tritt.

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Optionale Instrumente sieht das Unionsrecht bereits im Gesellschaftsrecht mit der Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV)79 und der Societas Europea (SE)80 vor, aber auch im Markenrecht mit der Gemeinschaftsmarke.81 Die Principles of European Insurance Contract Law (PEICL)82 sind im Gespräch als Grundlage für ein optionales Europäisches Versicherungsvertragsrecht.83 Ein optionaler Europäischer Vertragsrechtskodex steht als Variante für die Zukunft des Europäischen Vertragsrechts und als Alternative zur weiteren Rechtsharmonisierung im Raum.84 Im Zuge der Diskussion über Sinn und Zweck des Draft Common Frame of Reference (DCFR) wurde ins Spiel gebracht, diesen oder Teile eines auf der Basis des DCFR akzeptierten Gemeinsamen Referenzrahmens als optionale Instrumente zu installieren.85

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76 77

78

79 80

81 82 83 84 85

(2002). S. zur Diskussion um die Nützlichkeit von Rechtsvereinheitlichung auch Basedow, FS Mestmäcker (1996), S. 347–363; Behrens, RabelsZ 50 (1986), S. 19–34; Eidenmüller, JZ 2009, 641–653; Kirchner, in: Weyers (Hrsg.), Europäisches Vertragsrecht (1997), S. 118–121; Kötz, RabelsZ 50 (1986), 1–18. Hierzu Franck, in: Riesenhuber/Takayama (Hrsg.), Rechtsangleichung: Grundlagen, Methoden und Inhalte (2006), S. 53–58. Die Einführung des Herkunftslandprinzips mit der Entscheidung Cassis de Dijon (EuGH v. 20.2.1979 – Rs. 120/78 Rewe-Zentral AG. /. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, Slg. 1979, 649 Rn. 14) gab Anlass für eine vermehrte Auseinandersetzung mit der Binnenmarktintegration aus ökonomischer Perspektive, Hertig, Int’l Rev. L. & Econ. 11 (1991), 331, 337. Siehe etwa Art. 3 EComRL (Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 8.6.2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt, ABl. 2000 L 178/1). Verordnung (EWG) Nr. 2137/85 des Rates v. 25.7.1985 über die Schaffung einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung, ABl. 1985 L 199/1. Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates v. 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft, ABL. 2001 L 294/1. S. zu ökonomische Überlegungen hinsichtlich der Rolle der Societas Europea neben den nationalen Gesellschaftsrechten Enriques, ZGR 2004, 735; Röpke/ Heine, in: Tietze u.a. (Hrsg.), Europäisches Privatrecht – Über die Verknüpfung von nationalem und Gemeinschaftsrecht, JbJZ 2004, S. 265. Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates v. 20.12.1993 über die Gemeinschaftsmarke, ABl. 1994 L 11/1. Basedow u.a. (Hrsg.), Principles of European Insurance Contract Law (2009). Basedow, ERA Forum 2008, 111, 115 f. Dazu etwa Basedow, ZEuP 2004, 1–4; Staudenmayer, ZEuP 2003, 828–846. V. Bar/Clive/Schulte-Nölke (Hrsg.), Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law – Outline Edition, S. 46 und v. Bar/Clive (Hrsg.), Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law – Full Edition, S. 23; s. etwa auch Leible, BB 2008, 1469–1475; Beale, ERCL 3 (2007), 257, 269–272.

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1. Teil: Grundlagen

a)

Vorteile einheitlicher Regelungen 86

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Zentrale Regelungen können (negative) externe Effekte über die Grenzen der Zuständigkeitsbereiche einzelner Regelgeber hinweg vermeiden. Anschauliches Beispiel ist das Umweltrecht: Ein (Teil-)Regelgeber könnte versucht sein, den Industrie- und Gewerbebetrieben in seinem Hoheitsgebiet durch niedrige Umweltstandards Wettbewerbsvorteile zu verschaffen, wenn die negativen Folgen gar nicht oder nur zu einem kleinen Teil sein Gebiet betreffen, sondern etwa durch Wind oder Wasser „kostenlos“ in das Nachbargebiet „transportiert“ werden.

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Zweitens können durch einheitliche Regulierung Skalenerträge (economies of scale and scope) ausgenutzt und Transaktionskosten gespart werden. Sind rechtliche Lösungen lediglich einmal bereit zu stellen, kann dies Kosten bei Gesetzgebung und Rechtsprechung verringern. Unternehmen müssen weniger Mittel aufwenden, um sich über das geltende Recht und rechtsgestalterische Optionen zu informieren oder um ihre Produkte und Marketingstrategien unterschiedlichen Rechtsordnungen anzupassen.

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Schließlich wird gerade im Zusammenhang mit dem Europäischen Binnenmarkt vorgebracht, dass einheitliche Regelungen Wettbewerbsverzerrungen vermeiden können. Dieses Argument ist ökonomisch fragwürdig, können doch unterschiedliche Rechtsrahmen auch als natürliche Komponenten eines Standortwettbewerbes aufgefasst werden: Entsprechen sie den Präferenzen der betroffenen Individuen, sei es aus ökonomischer Sicht verfehlt, sie als „Wettbewerbsverzerrungen“ anzusehen. Zudem gewährleiste ein freier Markt die Mobilität von Individuen, Unternehmen und Produktionsfaktoren und damit die Option, ungünstigen Standortbedingungen auszuweichen.87 b)

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Vorteile dezentraler Rechtsetzung

Einen Markt kennzeichnen häufig räumlich unterschiedliche Präferenzen der Rechtsunterworfenen und räumlich divergierende äußere Bedingungen. Ein einheitlicher Rechtsrahmen kann nur an durchschnittlichen Präferenzen ausgerichtet sein. Räumlich differenzierte Regelungen können demgegenüber heterogenen Präferenzen und Bedingungen gerecht werden.88 Dezentralität erleichtert es darüber hinaus, lokales Wissen für die Rechtsetzung fruchtbar zu machen. Spiegeln sich regionale und kulturelle Besonderheiten im Recht wider, so erhöht dies seine Überzeugungskraft und die Chancen auf dessen Akzeptanz und Beachtung.

86 Zu den im Folgenden skizzierten Vor- und Nachteilen zentraler und dezentraler Regulierung aus ökonomischer Sicht siehe etwa Gatsios/Holmes, in: Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Bd. 3 (1998), S. 271, 273–275; Kerber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 67, 84–87; Woolcock, in: McCahery u.a. (Hrsg.), International Regulatory Competition and Coordination (1996), S. 298–301. 87 Kerber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 85 mwN. 88 Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen, S. 34–38.

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§ 6 Vom Wert ökonomischer Argumente

Dezentrale Rechtsetzung kann die Risiken des sog. Rent-seeking-Problems vermindern. Recht wird durch Repräsentanten gesetzt. Es ist deshalb nicht gesichert, dass Recht tatsächlich darauf ausgerichtet ist, den Interessen und Präferenzen der Allgemeinheit bestmöglich zu entsprechen. Die Einflussnahme von Interessengruppen kann dazu führen, dass Partikularinteressen auf Kosten der Allgemeinheit bevorzugt werden. Kleinere Entscheidungseinheiten begrenzen Macht und Einfluss einzelner Regelgeber. Der Vergleich mit der rechtlichen Situation in anderen Gebieten kann einen Fehlgebrauch gesetzgeberischer Macht leichter erkennbar machen und damit erschweren.

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Das Argument einer höheren Innovationskraft durch einen Wettbewerb rechtlicher Lösungen ist in den Vordergrund der ökonomischen Diskussion um die Vorteile dezentraler Lösungen gerückt.89 Regionalisiert man Regelungskompetenzen, können verschiedene Ansätze zum rechtlichen Umgang mit einem Problem parallel ausprobiert werden. Prozesse des Experimentierens mit verschiedenen rechtlichen Lösungen und des wechselseitigen Lernens sind wünschenswert, weil sich auch Gesetzgeber dem permanenten Problem mangelnden Wissens gegenübersehen:90 Für viele Probleme ist noch nicht die „richtige“ Lösung gefunden worden; zudem treten ständig neue Probleme auf, für die Lösungen entwickelt werden müssen. Durch die Beschränkung auf eine zentrale Regulierungsinstanz verzichtet man auf einen Wettbewerb der Regulierungsideen und damit auf den Wettbewerb als Mittel, neues Wissen zu generieren und zu verbreiten.91

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Die stärkere Innovationsfähigkeit dezentraler Systeme hängt auch damit zusammen, dass kleineren Einheiten eine einfachere, schnellere Anpassung an wandelnde Gegebenheiten möglich ist. Deutlich wird dies, vergleicht man die mitgliedstaatlichen Rechtssetzungsverfahren mit dem Verfahren nach Art. 294 AEUV/251 EG, das der Rechtsharmonisierung zu Grunde liegt. Eine Reform von Rechtsakten der Union erfordert komplexere politische Kompromisse. Denn auszugleichen sind vielfach unterschiedliche Interessen und Anschauungen, einmal zwischen den Organen der Union (Parlament, Rat, Kommission) und zum anderen innerhalb des Europäischen Parlaments und – vermittelt durch die Auseinandersetzung im Rat – zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten. Dies begründet die Gefahr einer „Versteinerung“ juristischer Antworten bei sich wandelnden Sachfragen.92

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89 Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen, S. 25–34. 90 v. Hayek, Die Irrtümer des Konstruktivismus und die Grundlagen legitimer Kritik gesellschaftlicher Gebilde (1970). 91 Grundlegend für diesen Ansatz einer evolutorischen Marktprozess- und Wettbewerbstheorie v. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren (1968). Zur Bedeutung des Lern- und Suchpotentials durch den Wettbewerb zwischen Vertragsrechtsordnungen Kirchner, in: Weyers (Hrsg.), Europäisches Vertragsrecht (1997), S. 118 f. Skeptisch gegenüber dem Gewicht des Arguments des Verlusts an Regelungsvielfalt Basedow, FS Mestmäcker (1996), S. 360 f. 92 Kötz, RabelsZ 50 (1986), 1, 12. Zur „Versteinerungsgefahr“ Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 185–187. Jens-Uwe Franck

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1. Teil: Grundlagen

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Treten verschiedene Regelgeber als „Anbieter rechtlicher Regelungen“ auf einem gemeinsamen Markt in einen Wettbewerb, kann es allerdings ebenso wie beim Wettbewerb zwischen Unternehmen auf Gütermärkten zu einem Marktversagen kommen, also zu Ergebnissen, die nicht den Präferenzen der Marktgegenseite entsprechen. Diskutiert werden die Gefahr eines „race to the bottom“ im Regulierungsniveau (etwa aufgrund systematischer Informationsasymmetrien), das Risiko einer systematischen Unterversorgung mit öffentlichen Gütern, zu geringe Umverteilungseffekte angesichts eines Wettbewerbs der Steuersysteme, die Hemmung des technologischen Fortschritts aufgrund von Externalitäten oder die Möglichkeit von Wettbewerbsbeschränkungen durch Regelgeber.93 Die Gefahr eines Marktversagens verdeutlicht, dass auch der Markt für rechtliche Lösungen institutioneller, also auch rechtlicher Rahmenbedingungen, bedarf, die den Wettbewerbsprozess zwischen Staaten und Rechtsordnungen absichern.94 Eine solche Metawettbewerbsordnung auszugestalten ist ein schwieriges Unterfangen. Notwendig ist hierbei vor allem, Regelungskompetenzen im Verhältnis zwischen Union und Mitgliedstaaten aufzuteilen und Mindeststandards zu definieren. Es stellt sich die Frage, wie man die Rechtsfindung für diese Metaregeln optimieren kann. Die verschiedenen theoretischen Argumente um die Vorteilhaftigkeit zentraler oder dezentraler Lösungen verdeutlichen, dass kaum generelle Aussagen hierzu getroffen werden können. Für die Wahl der optimalen Regelungsebene kann daraus nur die Schlussfolgerung gezogen werden, dass je nach Problembereich die Vor- und Nachteile zentraler bzw. dezentraler Regulierung gegeneinander abzuwägen sind.95 Für die Auslegung und Anwendung der verschiedenen Kompetenzen zur Förderung der Binnenmarktintegration folgt jedenfalls, dass neben der Rechtsvereinheitlichung auch die Option mitzudenken ist, auf Mechanismen zurückzugreifen, die Freiraum für dezentrale Regelungen lassen. 4.

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Verarbeitung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse (Behavioural Economics)

Wir haben festgestellt, dass Phänomene systematisch eingeschränkter Rationalität jedenfalls dann für die Normsetzung und -anwendung beachtenswert sind, wenn rechtliche Regelungen darauf abzielen, das Verhalten individueller Marktakteure zu beeinflussen. Das gilt insbesondere, wenn gerade deren Interessen geschützt werden sollen. Es überrascht deshalb nicht, dass sich die für Verbraucherschutzpolitik zuständige Generaldirektion der Europäischen Kommission des Themas „Behavioural Economics“ angenommen hat.96 Dem (Europäischen) Regelgeber scheint sich ein Feld für 93 Kerber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 81 f. mwN; Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen, S. 65–74; 93–103; 201–221; 261 f.; 314 f., 329–332. 94 Kerber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 82–84 mwN. 95 Vgl. etwa die Einschätzungen Kieningers, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen, S. 375–380, über die Perspektiven der Entwicklung des Europäischen Gesellschaftsrechts und des Europäischen Vertragsrechts zwischen Rechtsharmonisierung und institutionellem Wettbewerb. 96 So veranstaltete die GD Gesundheit und Verbraucherschutz im November 2008 eine Konferenz mit dem Titel: „How Can Behavioural Economics Improve Policies Affecting Consumers?“, siehe http://ec.europa.eu/consumers/dyna/conference/index_en.htm.

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§ 6 Vom Wert ökonomischer Argumente

„libertären Paternalismus“97 zu eröffnen: Marktinterventionen können damit gerechtfertigt werden, dem einzelnen Marktakteur werde geholfen, präferenzkonforme Entscheidungen zu treffen bzw. damit, dass dieser daran gehindert werde, in irrationaler Weise gegen seine eigenen wohlverstandenen Interessen zu handeln. Die Sensibilität des Europäischen Gesetzgebers im Hinblick auf die Einsichten verhaltenswissenschaftlicher Forschung hat ihren Grund darin, dass sich hier ein Spannungsverhältnis zum bisher hoch gehandelten (und auch primärrechtlich fundierten98) Informationsmodell abzeichnet. Nach diesem Paradigma soll es zum Schutz der Vermögensinteressen der Verbraucher weithin genügen, ihnen eine informierte Transaktionsentscheidung zu ermöglichen.99 Die erforschten Phänomene systematisch beschränkten Rationalverhaltens knüpfen nun aber nicht am Maß oder der Qualität der Informationen an, über die ein Marktteilnehmer für eine Transaktionsentscheidung verfügt. Es handelt sich vielmehr um nachgelagerte Mechanismen, die in der Phase der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen wirken. Informationsregeln können hier allenfalls graduell abhelfen: Vorgaben über die Modalitäten der Informationsgewährung (etwa Standardisierung) können dazu beitragen, die kognitiven Anforderungen an die Informationsauswertung und -verarbeitung zu senken.100

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Wie die Erkenntnisse der kognitiven Psychologie die Wirksamkeit traditioneller Schutzinstrumente in Frage stellt, sei veranschaulicht am Beispiel des Widerrufsrechts, einem „Urgestein“101 Europäischen Verbraucherrechts. Eine cooling-off period soll dem Ver-

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97 Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159–1202, mit dem programmatischen Titel „Libertarian Paternalism Is Not an Oxymoron“. 98 Nach der Rechtsprechung des EuGH dürfen die Mitgliedstaaten keine zwingenden Inhaltsbeschränkungen vorsehen, die den grenzüberschreitenden Verkehr behindern, wenn den jeweiligen Schutzinteressen auch durch Information genügt werden kann, grundlegend EuGH v. 20.2.1979 – Rs. 120/78 REWE ./. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, Slg. 1979, 649 Rn. 13 – Cassis de Dijon. Die Grundsätze eines freien Wirtschaftsverkehrs binden auch die Unionsorgane. Hieraus leitet der EuGH ab, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine allgemeine Schranke für harmonisierende Normen des Sekundärrechts bildet, die den Handel innerhalb der Union beschränken und besonderen Schutzinteressen, etwa dem Verbraucherschutz, verpflichtet sind, EuGH v. 9.8.1994 – Rs. C-51/93 Meyhui, Slg. 1994, I-3879 Rn. 9–22. 99 Zum Informationsmodell im Binnenmarkt s. etwa Grundmann, JZ 2000, 1133–1143; ders., in diesem Band, § 10 Rn. 39 f.; zu den Herausforderungen an das Informationsparadigma durch Behavioural Law & Economics s. Ulen, in: Grundmann/Kerber/Weatherill (Hrsg.), Party Autonomy, S. 111–127; Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, S. 295–310. 100 Eidenmüller, JZ 2005, 216, 221; Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, S. 325–327. 101 Das Widerrufsrecht ist zentrales Schutzinstrument eines der ältesten Rechtsakte des Europäischen Verbrauchervertragsrechts, der Richtlinie 85/577/EWG des Rates v. 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31. Nach Art. 12 des Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Rechte der Verbraucher v. 8.10.2008, KOM(2008) 614 endg, soll zukünftig ein einheitliches Widerrufsrecht für Haustürgeschäfte und Fernabsatzverträge gelten.

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1. Teil: Grundlagen braucher die Chance geben, Informationsdefizite zu kompensieren und frei von suggestiven Einflüssen die eigene Transaktionsentscheidung zu überdenken und ggf. zu korrigieren. Verschiedene verhaltenswissenschaftlich fundierte Phänomene stehen dem Abnehmer allerdings hierbei im Wege: Individuen nehmen unbewusst Informationen selektiv auf, um vorgefasste Anschauungen aufrechterhalten zu können und damit kognitive Dissonanzen zu vermeiden und sich also nicht selbst eine Fehlentscheidung eingestehen zu müssen.102 Hinzu kommt die empirisch belegte Einsicht, dass die subjektive Wertschätzung eines Gutes zunimmt, sobald man es besitzt (sog. Endowment-Effekt).103 Im Lichte dieser Erkenntnisse erscheint es zweifelhaft, inwieweit ein Widerrufsrecht verhindern kann, dass Verbraucher an Transaktionen wider ihre Präferenzen festhalten. Alternativ wird deshalb vorgeschlagen, dass Geschäfte, bei denen dies abhängig von der Vertragsschlusssituation oder dem Vertragsgegenstand angezeigt erscheint, nur wirksam werden, wenn der Verbraucher sie innerhalb einer bestimmten Frist bestätigt.104

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Ob allerdings die verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnisse über die Verfeinerung und Neujustierung von Informationsinstrumenten hinaus eine Abkehr vom Informationsparadigma verlangen, sollte mit Vorsicht diskutiert werden. Fraglich ist etwa, inwieweit es für die Überwindung systematischer Informationsdefizite auf Märkten tatsächlich darauf ankommt, dass der individuelle Verbraucher von einer Information Kenntnis nimmt und hiernach seine Transaktionsentscheidung ausrichtet. Angesichts von Marktmechanismen kann dies entbehrlich sein.105 Es mag beispielsweise auf manchen Märkten hinreichen, dass Informationsintermediäre (z.B. Verbraucherschutzinstitute, die unabhängige Produkttests durchführen) oder eine kritische Anzahl von Verbrauchern die am Markt vorhandenen Informationen verarbeiten und so eine adverse Selektion der Produktqualität aufgrund von Informationsasymmetrien verhindern.106

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Zum anderen ist gerade das vom EuGH für die Auslegung der Grundfreiheiten und des Sekundärrechts postulierte Leitbild vom mündigen, selbstverantwortlich am Markt agierenden Verbraucher107 als normatives Konstrukt zu verstehen. Das individuell durchsetzbare Recht der Unionsbürger auf eine freie Teilnahme am grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr bildet mit dem im Binnenmarkt zu gewährleistenden System unverfälschten Wettbewerbs das Fundament der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsverfassung der Union. Es ist daher im Grundsatz folgerichtig, wird dem Verbraucher normativ die Rolle eines mündigen Marktbürgers zugewiesen, der durch

102 Grundlegend Festinger, A theory of cognitive dissonance (1957); zur ökonomischen Charakterisierung Akerlof/Dickens, Am. Econ. Rev. 72 (1982), 307–319. 103 Thaler, J. Econ. Bahav. & Org. 1 (1980), 39, 44; Knetsch, Am. Econ. Rev. 79 (1989), 1277– 1284. 104 Eidenmüller, JZ 2005, 216, 222. 105 Überblick bei Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 190–203. 106 S. etwa Tirole, Industrial Organization (1988/2001), S. 107 f. 107 Der Gerichtshof spricht formelhaft vom Leitbild des „normal informierten und angemessen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher“, so EuGH v. 16.9.2004 – Rs. C-329/02 P Sat.1, Slg. 2004, I-8317 Rn. 34; grundlegend zuvor mit noch leicht variierter Formulierung die 6-Korn-Eier-Entscheidung EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-210/96 Gut Springenheide und Tusky, Slg. 1998, I-4657 Rn. 37.

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Information zu selbstverantwortlichen Entscheidungen befähigt werden kann.108 Die Überzeugungskraft dieses normativen Leitbildes nimmt allerdings ab mit zunehmender Distanz vom empirischen Befund und schwindet gänzlich, wenn dem Einzelnen irreversible Freiheitsverluste drohen, also Leib oder Leben auf dem Spiel stehen oder Vermögensverluste existenzbedrohenden Ausmaßes. Einstweilen ist noch nicht abzusehen, inwieweit die verhaltenswissenschaftlich fundierte Kritik am Informationsmodell eine Renaissance formal verstandener Vertragsfreiheit oder marktregulierender Eingriffe und insbesondere der Produktregulierung befördern wird.109 In einem neueren Arbeitsdokument zieht die Europäische Kommission für den Bereich der Finanzdienstleistungen die Einführung einfacher, standardisierter Produkte als Antwort auf systematische Entscheidungsprobleme der Verbraucher in Betracht.110 Soweit solche Standardprodukte optional anzubieten wären, würde man dem Vorwurf der Einschränkung der Produktvielfalt entgehen. Allerdings deutet sich bereits an, dass es schwierig sein wird, auf Europäischer Ebene einen politischen Konsens über solche Produktstandards zu erreichen und offenbart sich damit ein Problem, dass u.a. den Siegeszug des Informationsmodells befördert hat. Das Wissen um kognitionspsychologisch bedingte Grenzen der Informationsaufnahme und -verarbeitung ist in jedem Fall ein wichtiger Faktor, will man im Kampf gegen informationsbedingtes Marktversagen die Vor- und Nachteile von Informationsregelungen und einheitlichen (Mindest-)Produktstandards fair gegeneinander abwägen. Zu erwägen ist deshalb allemal, die kognitionspsychologischen Erkenntnisse nicht nur als Anlass dafür zu begreifen, marktunterstützende Regeln zu optimieren und marktregulierende Eingreife neu zu legitimieren. Vielmehr ist in Betracht zu ziehen, dass sich in ihnen ein Menetekel offenbart, das uns mahnt, Steuerungsansprüche auf ein realistisches Maß zurück zu schrauben.111

IV.

Ökonomische Argumente und Rechtsfindung für den Binnenmarkt

1.

Grundfreiheiten

Die konstatierte Ausrichtung des Binnenmarktes auf eine Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt setzt sich in den Grundfreiheiten112 fort. Verschiedene dogmatische Entwicklungen zu den Grundfreiheiten sind ohne Rückgriff auf ökonomische Erwägungen

108 Zur normativen Begründung des Europäischen Verbraucherleitbildes Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 329–332. 109 S. etwa Schön, FS Canaris (2007), Bd. I, S. 1211. 110 Arbeitsdokument der Dienststellen der Kommission v. 22.9.2009 über Folgemaßnahmen zum Verbraucherbarometer in Bezug auf Finanzdienstleistungen für Privatkunden, SEK(2009) 1251 endg, S. 16. 111 Vgl. in Bezug auf die Umsetzung des Informationsmodells im Europäischen Vertragsrecht Calliess, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlungen oder Erosion der Privatautonomie? (2007), S. 111. 112 Zu den Grundfreiheiten als Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts Köndgen, in diesem Band, § 7 Rn. 21–27. Jens-Uwe Franck

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1. Teil: Grundlagen

kaum erklärbar. Instruktiv hierfür ist die Keck-Rechtsprechung, wonach bestimmte nationale Bestimmungen, die Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, grundsätzlich nicht als Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit anzusehen sind.113 Der Gerichtshof hatte damit ein Kriterium zur Einschränkung des Tatbestandes des Art. 34 AEUV/28 EG postuliert, dessen Ausformung und Begründung der Rechtspraxis und der Rechtswissenschaft einige Rätsel aufgab. Schnell wurde klar, dass eine schematische, rein begriffliche Abgrenzung der produkt- von den vertriebsbezogenen Regelungen zum einen teilweise schwer handhabbar sein würde und zum anderen in vielen Fällen nicht zu überzeugenden Abgrenzungen führen konnte. So stellen Werbeverbote im Grundsatz bloße Verkaufsmodalitäten dar.114 Befindet sich die Werbung indes auf dem Produkt, handelt es sich um eine produktbezogene Regelung.115 Zudem war der Formulierung des EuGH zu entnehmen, dass es weiterhin einen Bestand nationaler Regelungen geben konnte, die zwar begrifflich als Verkaufsmodalitäten verstanden werden konnten, trotzdem aber als rechtfertigungsbedürftige Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit zu werten waren. Dies hat den Raum geöffnet für zwei ökonomisch begründete Argumentationslinien, um die Keck-Rechtsprechung zu rationalisieren und zu operationalisieren.

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Eine erste Argumentation betont, dass es Ziel der Warenverkehrsfreiheit sei, den Zutritt auf andere mitgliedstaatliche Märkte nicht zu erschweren.116 Davon ausgehend sollen aber nationale Maßnahmen nicht an den Grundfreiheiten zu messen sein, die nach erfolgtem Marktzutritt lediglich die Modalitäten des Wettbewerbs regeln und auch faktisch die grenzüberschreitend gehandelten Waren nicht anders betreffen als die Waren, die rein inländisch vertrieben werden. Mitgliedstaatliche Verkaufsmodalitäten beschränken danach die Warenverkehrsfreiheit, wenn sie den Marktzutritt erheblich erschweren. Hierunter können vor allem Regeln fallen, die die Absatzförderung für bestimmte Produkte verbieten. Denn neu auf einen Markt drängende Erzeugnisse sind in viel größerem Maße auf Werbung und andere Maßnahmen der Absatzförderung angewiesen als die etablierten inländischen Erzeugnisse, mit denen die Verbraucher bereits vertraut sind.

113 EuGH v. 24.11.1993 – verb. Rs. C-267/91 und C-268/91 Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097 Rn. 16. 114 EuGH v. 15.12.1993 – Rs. C-292/92 Hünermund u.a., Slg. 1993, I-6787 Rn. 21–24 (Werbeverbot für apothekenübliche Produkte außerhalb von Apotheken); EuGH v. 9.2.1995 – Rs. C-412/93 Leclerc-Siplec, Slg. 1995, I-179 Rn. 21–24 (Verbot der Fernsehwerbung für eine bestimmte Form des Vertriebs von Kraftstoff). 115 EuGH v. 6.7.1995 – Rs. C-470/93 Mars, Slg. 1995, I-1923 Rn. 11–14. 116 Schwarze-Becker, Art. 28 EG Rn. 49; Ehlers, Jura 2001, 482, 485. Mittlerweile hat der Gerichtshof das Kriterium der Behinderung des Zugangs zum Markt eines Mitgliedstaats als allgemein hinreichende Voraussetzung für eine Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit anerkannt, EuGH v. 10.2.2009 – Rs. C-110/05 Kommission ./. Italien, Slg. 2009, I-519 Rn. 36 f. Diese dogmatische Justierung eröffnet die Möglichkeit, das Merkmal der Beeinträchtigung mittels ökonomischer Überlegungen auszufüllen, s. Pecho, LIEI 36 (2009), 257, 264.

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§ 6 Vom Wert ökonomischer Argumente In GIP entschied der EuGH, dass das nahezu vollständige Verbot der Absatzförderung für alkoholische Produkte in Schweden – obwohl es sich nur um eine Verkaufsmodalität handelte – eine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit darstellte, die allerdings rechtfertigungsfähig war.117 Eine Erschwerung des Marktzutritts ist gleichfalls zu konstatieren, wenn eine nationale Regelung eine Absatztechnik für eine Produktgruppe untersagt. Folgerichtig qualifizierte der Gerichtshof auch das deutsche Verbot des Versandhandels mit Arzneimitteln, die in Deutschland nur in Apotheken verkauft werden durften, als eine Maßnahme gleicher Wirkung i.S.v. Art. 34 AEUV/28 EG, obgleich es sich auch hier begrifflich lediglich um eine Verkaufsmodalität handelte.118

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Eine zweite dezidiert ökonomisch begründete Argumentationslinie hebt hervor, dass Unternehmen von der Binnenmarktintegration profitieren sollen, indem sich für sie Synergieeffekte und Größenvorteile (economies of scale and scope) ergeben sollen. Mitgliedstaatliche Verkaufsmodalitäten können indes verhindern, dass ein Produzent die Kostenvorteile, die ein einheitlicher Binnenmarkt mit sich bringen soll, auch durch eine einheitliche Marketingstrategie umsetzt. Dementsprechend wird unter dem Stichwort des Euro-Marketing argumentiert, dass vertriebsbezogene Regelungen auch nach der Keck-Rechtsprechung in den Tatbestand des Art. 34 AEUV/28 EG fallen, wenn ein Anbieter durch sie gezwungen ist, eine einheitlich für mehrere Länder oder sogar den gesamten Binnenmarkt konzipierte Marketingstrategie zu ändern, ihm dadurch Anpassungskosten entstehen und deshalb der grenzüberschreitende Warenverkehr gestört wird.119

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Die Ermöglichung einer einheitlichen Marketingstrategie durch die Warenverkehrsfreiheit hat der EuGH im Urteil Douwe Egberts berücksichtigt. Dort wurde entschieden, dass das belgische Verbot der Werbung für Lebensmittel mit Bezugnahmen auf das „Schlankerwerden“ und „ärztliche Empfehlungen“ eine rechtfertigungsbedürftige Beschränkung des freien Warenverkehrs darstelle, weil es die Aufgabe eines Werbesystems verlangt, welches der Anbieter für besonders wirksam hält.120

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2.

Sekundärrecht

Scheint die Berücksichtigung ökonomischer Argumente bei der Anwendung der Grundfreiheiten jedenfalls dem Grunde nach nicht problematisch, so ist schwieriger zu beurteilen, inwieweit Effizienzüberlegungen als Maßstab für die Anwendung von 117 EuGH v. 8.3.2001 – Rs. C-405/98 GIP, Slg. 2001, I-1795 Rn. 18–25; zuvor bereits EuGH v. 9.7.1997 – verb. Rs. C-34/95 bis C-36/95 De Agostini u.a., Slg. 1997, I-3843 Rn. 42 f. Siehe auch Dethloff, Europäisierung des Wettbewerbsrechts (2001), S. 174 f.; Grabitz/Hilf-Leible, Art. 28 EG Rn. 30; Stein, EuZW 1995, 435, 436. 118 EuGH v. 11.12.2003 – Rs. C-322/01 Deutscher Apothekerverband ./. DocMorris und Jaques Waterval, Slg. 2003, I-14887 Rn. 55–76. 119 Ausdrücklich unter Hinweis auf den Aspekt der economies of scale Ackermann, RIW 1994, 189, 194; s.a. Leible/Sosnitza, K&R 1998, 283, 287 mwN; Grabitz/Hilf-Leible, Art. 28 EG Rn. 28; Dethloff, Europäisierung des Wettbewerbsrechts (2001), S.164 ff.; Steindorff, EGVertrag und Privatrecht (1996), S. 102, stellt darauf ab, ob durch die mitgliedstaatlichen Normen „Werbung oder andere wichtige Vertriebsparameter in ihrem Kern“ beschränkt werden. 120 EuGH v. 15.7.2004 – Rs. C-239/02 Douwe Egberts, Slg. 2004, I-7007 Rn. 52; zu dieser Entscheidung Knopp/Grieb, ZLR 2004, 611–618.

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1. Teil: Grundlagen

Sekundärrecht heranzuziehen sind. Ökonomische Überlegungen für die Auslegung fruchtbar zu machen überzeugt dann, wenn sich dies dem Willen des Regelgebers bzw. dem Ziel einer interpretationsbedürftigen Norm entnehmen lässt. Sie dienen so als Hilfsmittel der teleologischen Auslegung.121 Die Tatsache, dass sich ein Rechtsakt auf die Binnenmarktkompetenz stützt, erscheint für sich zu unspezifisch, um darin eine Anordnung der Berücksichtigung wohlfahrtsökonomischer Argumente bei der Auslegung erkennen zu können. Anhaltspunkte hierfür müssen sich also aus dem jeweiligen Rechtsakt und seinem Regelungsziel ergeben.

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Nahe liegend ist dies vor allem dann, wenn Märkte bzw. das Verhalten von Marktteilnehmern Gegenstand der Rechtssetzung sind. Lauterkeits- und kapitalmarktrechtliche Regelungen wollen das Vertrauen der Marktteilnehmer in die Märkte schützen, indem sie das Marktverhalten reglementieren. In der zweiten Begründungserwägung zur Marktmissbrauchsrichtlinie122 wird dies explizit mit wohlfahrtsökonomischen Erwägungen verknüpft:122a „Ein integrierter und effizienter Finanzmarkt setzt Marktintegrität voraus. Das reibungslose Funktionieren der Wertpapiermärkte und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Märkte sind Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum und Wohlstand.“ Betroffen ist mit dieser Funktion der Marktordnung ein originärer Gegenstandsbereich der Wirtschaftswissenschaften. Hier erscheint es deshalb geradezu zwingend, ökonomische Erkenntnisse heranzuziehen, um intendierte Wirkungsmechanismen aufzuzeigen und ihnen bei der Anwendung der Regeln zum Durchbruch zu verhelfen.

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Eine Besonderheit des Binnenmarktrechts besteht darüber hinaus darin, dass nicht nur Normen des klassischen Wirtschaftsrechts, also etwa des Kartellrechts, als Regeln zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit von Märkten anzusehen sind. Vielmehr prägt dieses Ziel auch den wesentlichen Bestand des Europäischen (Verbraucher-)Vertragsrechts.123 Deutlich wird dies beispielsweise am Instrument des Widerrufsrechts, wie es u.a. in Art. 6 Fernabsatzrichtlinie (FARL)124 vorgesehen ist. Wird den Abnehmern ein Widerrufsrecht eingeräumt, erhalten sie eine erweiterte Möglichkeit, Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten und noch (nachträglich) für ihre vertragliche Entscheidung zu berücksichtigen. Der Europäische Regelgeber versteht das Widerrufsrecht als Instrument zur Überwindung von Informationsasymmetrien, um so den Fernabsatz als Absatztechnik zu unterstützen und ein Marktversagen infolge von strukturellen Informationsasymmetrien zu verhindern.125

121 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 532. Näher hierzu etwa Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 450 ff., insbes. S. 452–454; Grundmann, RabelsZ 66 (1997), 423, 430–443; Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts (1997), S. 29–31. 122 Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28.1.2003 über Insidergeschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch), ABl. 2003 L 96/16. 122a S. Kalss, in diesem Band, § 20 Rn. 26h. 123 Grundmann, NJW 2000, 14, 17; s.a. Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 319 f. 124 Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz, ABl. 1997 L 144/19. 125 Bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz sind die Informationsnachteile offenkundig: Beim Vertrieb etwa über Kataloge oder das Internet können Güter, die im Ladengeschäft erwor-

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§ 6 Vom Wert ökonomischer Argumente

Grundgedanke der Regelung ist also, dass ein funktionsfähiger Fernabsatzmarkt wohlstandsfördernd und ein Widerrufsrecht ein nützliches Instrument ist, die Funktionsfähigkeit des Fernabsatzmarktes zu gewährleisten. Der Ausgestaltung der Fernabsatzrichtlinie ist jedoch auch zu entnehmen, dass der Regelgeber für bestimmte Konstellationen davon ausging, dass Wohlfahrtsnachteile durch die Einräumung eines Widerrufsrechts gegenüber den Vorteilen überwiegen würden. Dies kann einerseits bei relativ hohen Transaktionskosten für die Ausübung des Widerrufsrechts oder angesichts hoher Kosten aufgrund eines in bestimmten Konstellationen gesteigerten Risikos opportunistischen Verhaltens der Abnehmer der Fall sein.126 Diese Kosten fallen zwar beim Händler an, können von diesem aber – in Abhängigkeit von der Preiselastizität der Nachfrage – über die Preise an die Abnehmer weitergegeben werden. Andererseits ist der Nutzen des Widerrufsrechts geringer, wenn Marktmechanismen bereits die Risiken der Informationsasymmetrien im Fernabsatz (teilweise) kompensieren.

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Dieser Gedanke liegt etwa Art. 3 Abs. 2 Sps. 1 Fernabsatzrichtlinie zugrunde, wonach das Widerrufsrecht nicht für Verträge über die Lieferung von Lebensmitteln, Getränken oder sonstigen Haushaltsgegenständen des täglichen Bedarfs gilt, wenn diese „im Rahmen häufiger und regelmäßiger Fahrten“ am Wohnsitz, Aufenthaltsort oder am Arbeitsplatz geliefert werden.127 Der Regelgeber vertraut hier darauf, dass das Interesse von Händlern eine gute Reputation aufzubauen in Bezug auf bestimmte Waren hinreichend ist, die Abnehmer zu schützen.128

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Diese Mechanismen erschließen sich nicht unmittelbar aus der Regelung des Widerrufsrechts bzw. seines Anwendungsbereichs. Ihre Offenlegung bedarf eines gewissen Maßes an ökonomischem Verständnis, gibt aber dafür dem Rechtsanwender operable Kriterien an die Hand, um etwa die Fülle von Detailproblemen hinsichtlich der Ausnahmetatbestände vom Widerrufsrecht zu klären.

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ben als Suchgüter zu qualifizieren wären, über deren Qualität sich die Abnehmer also mit nur geringem Aufwand durch bloßes Betrachten oder einfaches Ausprobieren informieren können, die Eigenschaften von Erfahrungsgütern annehmen, deren Qualität sich erst nach Vertragsschluss erschließt, nämlich nachdem der Abnehmer das Produkt zugeschickt bekommen hat, vgl. BE 14 FARL; Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 288–290; Rekaiti/Van den Bergh, JCP 23 (2000), 371, 380. 126 Diese Wertung lässt sich u.a. Art. 6 Abs. 3 Sps. 2, 3, 4 und 6 FARL entnehmen, näher hierzu Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 293–296. Im Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Rechte der Verbraucher vom 8.10.2008, KOM(2008) 614 endg, finden sich diese Regelungen in Art. 19 Abs. 1 lit. b), c), e) und g) wieder. In EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 Messner, (noch nicht in Slg.) Rn. 25 f., anerkennt der Gerichtshof ausdrücklich, dass die Richtlinie dem Anbieter erlaube, sich durch eine Wertersatzpflicht bei opportunistischem Verhalten des Kunden schadlos zu halten. 127 In Art. 20 Abs. 1 lit. d) des Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Rechte der Verbraucher vom 8.10.2008, KOM(2008) 614 endg, ist eine engere Regelung vorgesehen: „[Das Widerrufsrecht gilt] nicht für Fernabsatz- und außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge, […] die Lieferungen von Lebensmitteln oder Getränken durch einen Gewerbetreibenden betreffen, der in der Nähe seiner Geschäftsräume häufig und regelmäßig Verkaufsfahrten unternimmt.“ 128 Rekaiti/Van den Bergh, JCP 23 (2000), 371, 395.

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1. Teil: Grundlagen

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So muss die Anwendung des Art. 3 Abs. 2 Sps. 1 Fernabsatzrichtlinie davon abhängen, dass der Reputationsmechanismus stark genug ist, um die Verbraucher vor den Risiken durch Informationsdefizite zu schützen. Dessen praktische Wirksamkeit hängt maßgeblich davon ab, dass sich gleichartige Transaktionen wiederholen, dass der Abnehmer vor einer wiederholten Transaktion die Qualität des Produktes verifizieren kann und dass der Anbieter seinem Geschäftsmodell entsprechend versuchen muss, eine gute Reputation aufzubauen und also auf Wiederholungskäufer angewiesen ist. Paradigmatisch hierfür stehen etwa Lieferservices für Pizzas.129

3.

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Zur Zögerlichkeit des EuGH, explizit ökonomisch zu argumentieren

Das vorgenannte Beispiel der Keck-Rechtsprechung veranschaulicht, dass der Argumentation des Gerichtshofs ökonomische Konzepte zugrunde liegen können, ohne dass dies in den Entscheidungsgründen explizit zum Ausdruck kommen würde. Die aus den Urteilen aufscheinende Zögerlichkeit des EuGH im Umgang mit ökonomischen Argumenten – die nicht nur im Hinblick auf die Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten zu konstatieren ist, sondern für das gesamte Binnenmarktrecht130 – erklärt sich zum Teil mit der generell unter Gerichten verbreiteten Sorge, sich bei weit gehender Offenlegung der Entscheidungsmotive über eine Einbettung in Präjudizien oder dogmatische Erwägungen hinaus ohne Not in eine angreifbare Position zu begeben. Diese Furcht ist im Hinblick auf ökonomische Argumente besonders ausgeprägt, bewegt sich der Richter doch hier auf fachfremdem Terrain.131 Erklärlich wird die Vorsicht aber auch angesichts der institutionellen Rahmenbedingungen: In Luxemburg treffen 27 Richterpersönlichkeiten mit heterogener juristischer Sozialisation und entsprechend differenziertem Methodenverständnis aufeinander.132 Schwierige und bedeutende Rechtssachen werden regelmäßig vor einer Großen Kammer mit 13 Richtern verhandelt; in außergewöhnlichen Fällen sogar durch das Plenum.133 Urteile sind deshalb nicht selten das Resultat einer schmerzhaften Kompromissfindung. Den beteiligten Richtern steht nicht die Möglichkeit offen, ein im Ergebnis zustimmendes, in der Begründung aber abweichendes Sondervotum zu formulieren (sog. „concurring opinion“). Unter diesen Bedingungen würden wohl auch exponierte Vertreter der 129 Treffend wird die Bereichsausnahme denn auch als „Pizza-Klausel“ bezeichnet, MünchKommBGB-Wendehorst, § 312b BGB Rn. 78. 130 Explizit auf ökonomische Erwägungen rekurrierte der Gerichtshof unter Hinweis auf die Gesetzgebungsmaterialien in EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-402/03 Skov ./. Bilka, Slg. 2006, I-199 Rn. 19: Einen Zwischenhändler gleich einem Hersteller verschuldensunabhängig für durch fehlerhafte Produkte verursachte Schäden haften zu lassen, ergebe keinen Sinn, weil „der Lieferant in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle lediglich das gekaufte Produkt unverändert weitergebe und nur der Hersteller die Möglichkeit habe, auf die Qualität des Produktes einzuwirken“; anderenfalls würde „jeder Lieferant sich gegen eine solche Haftung […] versichern müssen, was zu einer starken Verteuerung der Produkte führen würde“. Der Gerichtshof begründet mithin die Konzentration der Produkthaftung beim Hersteller mit dessen Position als „cheapest cost avoider“, Schillig, ERPL 17 (2009), 853, 883. 131 Nach Art. 25 der EuGH-Satzung können die Richter Gutachten in Auftrag geben, die auch empirische oder theoretische ökonomische Fragen betreffen können, s.a. Schillig, ERPL 17 (2009), 853, 893 f. 132 S.a. Stotz, in diesem Band, § 22 Rn. 3. 133 Art. 44 § 3 EuGH-VerfO.

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§ 6 Vom Wert ökonomischer Argumente

„ökonomischen Analyse des Rechts“ wie Bork, Calabresi, Easterbrook oder Posner, die in den Vereinigten Staaten in hohe Richterämter gelangten,134 mit dem Versuch gezögert haben, einen Spruchkörper auf schneidige ökonomische Urteilsbegründungen festzulegen.135 Demgegenüber ist die institutionelle Stellung der Generalanwälte beim Europäischen Gerichtshof eher dazu angetan, ökonomische Zielsetzungen so klar zu artikulieren, wie etwa der bereits zitierte136 Generalanwalt Geelhoed im Fall Temco oder auch Generalanwalt Maduro in der Rechtssache Viking mit Bezug auf die wohlfahrtsfördernde Ratio der Grundfreiheiten: „Im Wesentlichen schützen [die Vorschriften über den freien Warenverkehr und die Wettbewerbsregelungen] die Marktteilnehmer, indem sie es ihnen ermöglichen, gegen bestimmte Hindernisse vorzugehen, die es ihnen verwehren, auf dem Gemeinsamen Markt unter gleichen Bedingungen miteinander in Wettbewerb zu treten. Dass eine derartige Möglichkeit besteht, ist das entscheidende Element, wenn es darum geht, in der Union als Ganzem Kosteneffizienz herzustellen.“137 Gerade die dem Viking-Urteil zugrunde liegende Problematik einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit durch kollektive Maßnahmen der Arbeitnehmer (Streiks) offenbart freilich auch die Schranken derlei Rhetorik. Denn Entscheidungen zu den Grundfreiheiten laufen nicht selten auf eine Abwägung mit Schutzzielen nichtwirtschaftlicher Art hinaus, insbesondere mit Grundrechten138 oder sozialpolitisch induzierten Interessen.139 Hier stoßen Effizienzargumente an ihre „natürliche“ normative Grenze: Zielkonflikte zwischen Allokationseffizienz und anderen Gerechtigkeitsprinzipien (Verteilungsgerechtigkeit, Schutz unantastbarer bzw. nur der Abwägung zugänglicher subjektiver Rechte) kann die ökonomische Analyse nicht auflösen.140 Der EuGH tut deshalb gut daran, ökonomische Wohlfahrtsargumente

134 Easterbrook ist Vorsitzender Richter am U.S. Court of Appeals for the Seventh Circuit; Posner ist Richter ebd. Calabresi ist Senior Judge am U.S. Court of Appeals for the Second Circuit. Bork war Richter am U.S. Court of Appeals for the District of Columbia Circuit. Seine Nominierung für den U.S. Supreme Court durch Präsident Reagan scheiterte im Jahre 1987 am Votum des Senats. 135 S. etwa aus der U.S.-amerikanischen Rechtsprechung Eckstein v. Balcor Firm Investors, 8 F.3d 1121 (7th Cir. 1993) (Easterbrook, J.); Lake River Corp. v. Carborundum Co., 769 F.2d 1284 (7th Cir. 1985) (Posner, J.). 136 S. oben bei Fn. 60. 137 GA Maduro, SchlA v. 23.5.2007 – Rs. C-438/05 Viking Line, Slg. 2007, I-10779 Rn. 33. 138 EuGH v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 Schmidberger, Slg. 2003, I-5649 Rn. 70–94 (Versammlungsfreiheit); EuGH v. 14.10.2004 – Rs. C-36/02 Omega, Slg. 2004, I-9609 Rn. 32–41 (Menschenwürde). 139 EuGH v. 25.10.2001 – verb. Rs. C-49, 50, 52–54, 68–71/98 Finalarte, Slg. 2001, I-7831 Rn. 31–34, 49–52 (Arbeitnehmerschutz); EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 Viking, Slg. 2007, I-10779 Rn. 77–89 (kollektive Maßnahmen der Arbeitnehmer). 140 Ott/Schäfer, JZ 1988, 213, 219. Die ökonomische Analyse kann allerdings Aussagen darüber treffen, auf welchem Wege verteilungspolitische Ambitionen in effizienter Weise verwirklicht werden können: Die Ausrichtung privatrechtlicher Normen, die Markttransaktionen betreffen, ist hierbei nicht erste Wahl, Zusammenfassung der wesentlichen Argumente bei Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 170–172 und Schillig, ERPL 17 (2009), 853, 874–876, jeweils mwN. Jens-Uwe Franck

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1. Teil: Grundlagen

aus solchen Abwägungsentscheidungen herauszuhalten.141 Zwar ist der Gerichtshof Wächter eines freien Binnenmarktes und Garant der damit bezweckten Effizienzvorteile. Die Marktfreiheit steht aber nicht über allem und der EuGH versucht mit gutem Grund durch ausgleichende Urteile, sich nicht in die Rolle eines einseitig auf Liberalisierung und Freihandel ausgerichteten Protagonisten drängen zu lassen.

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Diese Relativierungen sollten allerdings keine Prozesspartei entmutigen, ökonomische Argumente in Form analytischer oder empirischer Wirkungsanalysen hinsichtlich der Anwendung binnenmarktrechtlicher Normen vorzubringen.142 Fundierte ökonomische Argumente werden beim Europäischen Gerichtshof Gehör finden, auch wenn sie letztlich nicht explizit in einer Urteilsbegründung widerhallen.

141 Damit sei nicht gesagt, dass eine Wohlfahrtsanalyse nicht möglich wäre, weil sich subjektiven Grundrechtspositionen etc. prinzipiell keine individuelle Zahlungsbereitschaft zuordnen ließe: Gegen Zahlung welcher Summe hätte sich wohl jeder einzelne Demonstrant, der am 12.6.1998 für mehr als 24 Stunden die Brenner-Autobahn blockierte und damit den freien Warenverkehr im Binnenmarkt behinderte (EuGH, v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 Schmidberger, Slg. 2003, I-5649), sein Recht auf Versammlungsfreiheit „abkaufen“ lassen? Vertreter der „Glücksforschung“ nehmen in Anspruch, mit ihren Methoden den individuellen und damit auch kollektiven Nutzen messen zu können, den Bürger aus ihren Freiheitsrechten und politischen Mitwirkungsrechten schöpfen können, s. Frey/Stutzer, Happiness & Economics (2002), S. 134–151. 142 Vgl. Stotz, in diesem Band, § 22 Rn. 9.

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2. Teil: Allgemeiner Teil Abschnitt 1 Rechtsquellen § 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts Johannes Köndgen

Übersicht I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Autonomie der europäischen Rechtsquellenlehre . . . . . . . . . . . . . 2. Mehrstufigkeit und Mehrdirektionalität: einige Grundbegriffe . . . . . . . . 3. Grundfragen einer Rechtsquellenlehre des Europäischen Privatrechts . . . . a) Der Marktbürger als Adressat europäischer Rechtsquellen: von der „Drittwirkung“ zur „Horizontalwirkung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vom klassischen zum „regulatorischen“ Privatrecht – und wieder zurück?

. . . .

Rn. 1–20 1–8/9 9a–9d 10–20

. .

11–15 16–20

II. Das Primärrecht, insbesondere die Grundfreiheiten als Rechtsquelle des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21–27b 1. Die Grundfreiheiten als Grenze und Inpflichtnahme mitgliedstaatlicher Privatrechtsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21a–24 2. Die Geltung der Grundfreiheiten unter Privatrechtssubjekten (Horizontalverhältnis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25–27 3. Die Geltung sonstigen Primärrechts in Privatrechtsbeziehungen . . . . . . . . 27a–27b III. Das Privatrecht in der sekundärrechtlichen Rechtsquellenproduktion . . . . . . 1. Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Richtlinien als „unvollkommene“ Rechtsquelle . . . . . . . . . . . . . . . aa) Richtlinien als „medialisierte“ Rechtssetzung . . . . . . . . . . . . . . bb) Richtlinien als fragmentarische Rechtssetzung . . . . . . . . . . . . . b) Die Unvollkommenheit des Richtlinienprivatrechts . . . . . . . . . . . . . aa) Mindestharmonisierung oder Vollharmonisierung? . . . . . . . . . . bb) Defizite bei den Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Unmittelbare Wirkung von Richtlinien als Ausnahme . . . . . . . . . c) Die Bedeutung der Begründungserwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Verordnung über Gebühren beim grenzüberschreitenden Geldtransfer und bei grenzüberschreitender Mobilfunknutzung . . . . . . . . . . . . . b) Die Verordnung über die Societas Europea . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ein Europäisches Vertragsgesetzbuch als Verordnung? . . . . . . . . . . . 3. Gemeineuropäische Rechtsprinzipien des Privatrechts? . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

28–48 28–43 28–32 29–31 32 33–38 34–35 36 37–38 39–43 44–48

. . . .

45 46 47 48

IV. „Indirekte“ Wirkungen von Unionsrecht: primär- und sekundärrechtskonforme Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49–51

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189

2. Teil: Allgemeiner Teil V. Europäisches Soft Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mitteilungen und Aktionspläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Interpretative“ Mitteilungen der Kommission . . . . . . . . . . . . . b) Empfehlungen und Aktionspläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Expertenrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Delegation auf Fachleute: Ausführungsrichtlinien unter dem sog. Lamfalussy-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Koregulierung“: Codes of Best Practice . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Résumé und Ausblick

. . . . .

. . . . .

. . . . .

52–59 52–54 52 53–54 55–59

. . . . . .

55–56 57–59

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60–61

Literatur: Christian Baldus, Ein weiterer Schritt zur horizontalen Direktwirkung? – Zu EuGH, C-201/02, 7.1.2001 (Delena Wells), GPR 2003/2004, 124–126; Jürgen Bast, Handlungsformen und Rechtsschutz, in: Armin von Bogdandy/Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht – Theoretische und dogmatische Grundzüge (2. Aufl. 2009), S. 489–557; Albert Bleckmann, Zur Funktion des Gewohnheitsrechts im Europäischen Gemeinschaftsrecht, EuR 1981, 101–123; ders., Die Rolle der richterlichen Rechtsschöpfung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Gerhard Lüke/Georg Ress/Michael R. Will (Hrsg.), Rechtsvergleichung, Europarecht und Staatsintegration, Gedächtnisschrift für Léontin-Jean Constantinesco (1983), S. 61–81; ClausWilhelm Canaris, Drittwirkung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten, in: Hartmut Bauer u.a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht – Wissenschaftliches Symposium aus Anlass des 65.Geburtstags von Reiner Schmidt (2000), S. 29–67; Thomas Eilmansberger, Zur Direktwirkung von Richtlinien gegenüber Privaten – Ist nach CIA, Unilever, Ingmar, Daehmpaehl, Ferreira und Heiniger jetzt alles ganz anders?, JBl. 2004, 283–295 und 364–376; Beate Gsell/ Carsten Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht. Die Konzeption der Richtlinie am Scheideweg? (2009); Bettina Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts – Insbesondere zur Reichweite europäischer Auslegung (2004); dies., Gemeinschaftsprivatrecht (2. Aufl. 2007); Martijn W. Hesselink, Non-Mandatory Rules in European Contract Law, ERCL 1 (2005), 44–86; Michael Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten – Untersuchung der Verpflichtung von Privatpersonen durch Art. 30, 48, 52, 49, 73b EGV (1997); Christian Joerges, Europäisierung als Prozess: Überlegungen zur Vergemeinschaftung des Privatrechts, in: Stephan Lorenz u.a. (Hrsg.), Festschrift für Andreas Heldrich zum 70. Geburtstag (2005), S. 205–224; Torsten Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004); Katja Langenbucher, Europarechtliche Methodenlehre, in: dies. (Hrsg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts (2. Aufl. 2008), S. 1–40; Axel Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009); Hans-Werner Micklitz, Europäisches Regulierungsprivatrecht: Plädoyer für ein neues Denken, GPR 2009, 254–263; Oliver Mörsdorf, Unmittelbare Anwendung von EG-Richtlinien zwischen Privaten in der Rechtsprechung des EuGH, EuR 2009, 219–240; Oliver Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003); Karl Riesenhuber/Ronny Domröse, Richtlinienkonforme Rechtsfindung und nationale Methodenlehre – Zugleich eine Besprechung von EuGH, Urt. v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis 403/01 Pfeiffer u.a., RIW 2005, 47–54; Wulf-Henning Roth, Secured Credit and the Internal Market: The Fundamental Freedoms and the EU’s Mandate for Legislation, in: Horst Eidenmüller/Eva-Maria Kieninger (Hrsg.), The future of secured credit in Europe (2008), S. 36–67; ders., Privatautonomie und die Grundfreiheiten des EG-Vertrags, in: Volker Beuthien u.a. (Hrsg.), Perspektiven des Privatrechts am Anfang des 21. Jahrhunderts: Festschrift für Dieter Medicus (2009), 393– 422; Wolfgang Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem (2002); Konrad Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH (2009); Stephan Wernicke, Die Privatwirkung im Europäischen Gemeinschaftsrecht (2002). Rechtsprechung: EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend & Loos, Slg. 1963, 1; EuGH v. 4.12. 1974 – Rs. 41/74 van Duyn, Slg. 1974, 1337; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Facini Dori, Slg.

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§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts 1994, I-3325; EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921; EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-131/97 Carbonari, Slg. 1999, I-1103; EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-442/02 CaixaBank France, Slg. 2004, I-8961; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835; EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02 Delena Wells, Slg. 2004, I-723; EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-411/03 SEVIC Systems, Slg. 2005, I-10805; EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 Viking, Slg. 2007, I-10779; EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, (noch nicht in Slg.).

I.

Grundlagen

1.

Die Autonomie der europäischen Rechtsquellenlehre

Seit geraumer Zeit schon rechnet die Rechtsquellenlehre zu jenen Gebieten der allgemeinen Rechtstheorie, die als eher steril und langweilig gelten und in denen theoretischer Fortschritt nicht mehr stattfindet. Sogar das Prädikat, eine „Theorie“ zu sein, wird ihr verweigert; man belässt sie auf dem Status einer Handvoll einfacher und praxistauglicher Definitions- und Systematisierungsregeln. Das provoziert geradezu die Grundsatzfrage: Wozu brauchen wir überhaupt eine Rechtsquellenlehre – von europäischer Rechtsquellenlehre ganz zu schweigen? Enthält die Rechtsquellenlehre denn irgendwelche Aussagen, die nicht ohnedies schon im Begriff des Rechts selbst aufgehoben sind? Und haftet sie nicht positivistisch-vordergründig an den Erscheinungsformen des Rechts, also an bloßen Oberflächenphänomenen?

1

Bei näherem Hinsehen erweist sich denn auch, dass die herkömmliche Rechtsquellenlehre mindestens 1 vier ziemlich heterogene Grundfragen der Rechtstheorie zu beantworten sucht.

2

Die erste Frage gilt der Herkunft von Recht. Darauf gibt es (wiederum traditionell) zweierlei Antworten, eine rechtsphilosophische und eine rechtssoziologische. Die Philosophen haben sich auf eine vorpositive Naturordnung, auf eine imaginäre volonté générale, eine Grundnorm oder schlicht auf die Verwirklichung der „Rechtsidee“ berufen. Die Soziologen – allen voran Max Weber – bevorzugen eine genetische Perspektive und sehen Recht entweder aus Tradition, aus autoritativer Setzung oder aus richterlicher Praxis (Präjudizien) entstehen. Beide Antworten sind in Wahrheit (und jede auf ihre Art) nicht mehr und nicht weniger als Annäherungen an den Begriff des Rechts bzw. an die Theorie der Rechtsgeltung.

3

Ein zweites Thema der Rechtsquellenlehre ist die Abgrenzung der Rechtsquellen als Normen von anderen rechtserzeugenden Einzelakten wie Verwaltungsentscheidungen oder Verträgen, und zwar nach dem Kriterium der Allgemeinheit der Regelung.

4

Die dritte Fragestellung begreift Rechtsquellen nicht nur als Verhaltensgebote und als Teil der normativen Struktur der Gesellschaft, sondern als Rechtserkenntnisquellen.2

5

1 Vgl. zu weiteren Fragestellungen etwa Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 64; Rüthers, Rechtstheorie, § 6. 2 Vgl. bereits Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechts und des Staates (1949), S. 116; neuerdings auch wieder Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 537 f.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Rechtsquellen haben demnach immer zwei Adressaten. Als Verhaltensprogramm berechtigen oder verpflichten sie ein (privates oder öffentliches) Rechtssubjekt. Als materielles Entscheidungsprogramm steuern sie das Entscheidungsverhalten des Rechtsanwenders. Diese mehrdimensionale Geltung wird sich gerade für die Rechtsquellen des Europarechts als wichtig erweisen. Mit dem Blick auf den Rechtssatz als Entscheidungsprogramm berührt die Rechtsquellenlehre sich mit der Methodenlehre der Rechtsanwendung. Sie sondert die Rechtsquelle von anderen, nachrangigen Determinanten der Rechtserkenntnis wie etwa Gesetzesmaterialien oder dem Kanon der Auslegungselemente.

6

Aus dem so definierten Begriff der Rechtsquelle hat sich ein viertes Thema der Rechtsquellenlehre entwickelt. Es gilt jetzt, die Vielzahl vorfindlicher Quellen der Rechtsfindung definitorisch abzugrenzen und sie zugleich in ein hierarchisches System einzuordnen („Stufenbau der Rechtsordnung“).3 Wie schwierig dies im einzelnen ist, hat sich jüngst bei der Frage gezeigt, inwieweit die Spruchpraxis der Europäischen Menschenrechtskommission (heute des EGMR) von der familienrechtlichen Judikatur deutscher Gerichte zu beachten ist.4 In Wahrheit handelt es sich hier aber nicht um eine originäre Fragestellung der Rechtsquellenlehre, sondern um ein Problem verfassungs- bzw. völkerrechtlicher Kompetenzabgrenzung.

7

Angesichts der Abstraktionshöhe der meisten Theoreme der Rechtsquellenlehre möchte man vermeinen, dass diese sich in den luftigen Höhen der Rechtstheorie bewegt und der Rechtssetzungspraxis wenig zu sagen hat. Rechtsvergleicher wissen, dass dies ein Irrtum ist. Auch die Rechtsquellenlehre ist in weiten Bereichen durch nationalstaatliche oder zumindest rechtskreisspezifische und rechtskulturelle Eigenheiten geprägt, und sie ist als solche nicht nur Gegenstand der Theorie, sondern verbindliches normatives (Meta-)Programm. Die Eigenständigkeit der angelsächsischen5 oder der französischen6 Rechtsquellenlehre erbringt dafür schlagenden Beweis – von den Besonderheiten des Völkerrechts7 ganz zu schweigen. Auch ein Beitrag zur Europäischen Rechtsquellenlehre wird deshalb nicht umhin können, unter Vermeidung jeglichen „methodologischen Nationalismus“8 von der Hypothese einer autonomen und originär europäischen Lehre auszugehen und deren Spezifika herauszuarbeiten.

8/9

Leicht haben es insoweit nur die Rechtsphilosophen, deren Suche nach den vorpositiven Quellen des Rechts immer schon transnational war und sich auch im europäischsupranationalen Raum zwanglos bewegen kann. Für erhebliche Irritationen, aber auch für durchaus neuartige Fragestellungen in der Rechtsquellenlehre sorgt hingegen der supranationale Charakter der Gemeinschaft. Die Produktion von Recht ist

3 Dazu statt vieler Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 272 f. 4 BVerfGE 111, 307 – Görgülü, mit Rezensionsaufsatz H.-J. Cremer, EuGRZ 2004, 683–700. 5 Repräsentativ Hart, The Concept of Law (2. Aufl. 1997); Stone, Legal System and Lawyers’ Reasonings (1964). 6 Dazu Sonnenberger, FS Lerche (1993), S. 548 ff. 7 Dazu zuletzt Tietje, ZfRSoz 24 (2003), 27. 8 Davor warnt zuletzt wieder Joerges, FS Heldrich, S. 206. Ein – vereinzelter – Vertreter dieser Richtung ist P. Kirchhof, DRiZ 1995, 253, 259; ders., JZ 1998, 965 Fn. 96.

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§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

traditionell als nationalstaatliche Kompetenz begriffen worden. Im gemeinschaftsrechtlichen Kontext verliert das Konzept eines „Stufenbaus der Rechtsordnung“, welches im deutschen Inlandsrecht kaum noch ein Streitgegenstand ist, bereits hinsichtlich der Existenz einer „Grundnorm“ seine Tragfähigkeit: Schon das Europäische Primärrecht ist nach der sog. Lissabon-Entscheidung des BVerfG eine von souveränen Mitgliedstaaten „abgeleitete Grundordnung“9. Erst recht sind die sog. „Handlungsformen“ des Art. 288 AEUV/249 EG in ihrer Gesamtheit abgeleitetes Recht „zweiter Ordnung“ – abgeleitet jedoch nicht aus einer Grundnorm „Verfassung“, sondern aus einem völkerrechtlichen Vertrag,10 dessen „Grundnorm“ nicht eine wie immer verstandene umfassende Rechtsidee, sondern der Integrationsauftrag ist.11 2.

Mehrstufigkeit und Mehrdirektionalität: einige Grundbegriffe12

Die Eigenart der Europäischen Rechtsquellenlehre zeigt sich darin, dass sie nicht nur eine – so gut wie allen Rechtsordnungen geläufige – „hierarchische“ Mehrstufigkeit verschiedener Regelungsebenen kennt, sondern auch drei verschiedene Normadressaten (Mehrdirektionalität), nämlich die Union selbst, die Mitgliedstaaten und – für das Europäische Privatrecht besonders wichtig – die Unionsbürger.

9a

Im Mehrebenensystem der Rechtsquellen13 steht hierarchisch obenan das Primärrecht, verkörpert im EU-Vertrag, im Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft, letzterer in der Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), und in der Europäischen Grundrechte-Charta. Im Rang unter dem Primärrecht und auf dessen Grundlage geschaffen (vgl. allgemein Art. 288 AEUV/249 EG) existiert das Sekundärrecht, bestehend aus Richtlinien und Verordnungen.14 Die Binnenstruktur des Sekundärrechts wird durch die geradezu ahierarchische Mehrfachzuständigkeit gleichberechtigter Rechtssetzungsorgane15 herausgefordert. Ebenfalls unklar ist der hierarchische Status der als „ungeschriebenes Unionsrecht“ geltenden Allgemeinen Rechtsgrundsätze,16 die als lückenfüllende Prinzipien sowohl primärrechtlichen17 als auch sekundärrechtlichen Rang einnehmen können. Als „in“ der Union geltendes Recht kann schliesslich auf einer dritten Ebene das Recht der Mitgliedstaaten in das Mehrebenensystem einbezogen werden.

9b

9 10 11 12 13 14

15 16 17

BVerfGE 123, 267 Rn. 231 – Lissabon-Vertrag. Dies hat sich auch nach dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags nicht geändert. Vertiefend hierzu Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, S. 205 ff. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf das für das Verständnis des Folgenden Unerlässliche. Statt vieler und mwN Schwarze-Schwarze, Art. 220 EG Rn. 11 ff. Die in Art. 288 AEUV ebenfalls genannte Handlungsform des Beschlusses ist ein polyvalentes Konzept, das von verwaltungsaktähnlichen Einzelfallregelungen (z.B. Art. 108 Abs. 2, 122 Abs. 2 AEUV) über abstrakt-generelle Rahmennormen (z.B. Art. 95 Abs. 4, 96 Abs. 2 AEUV) bis zu Änderungen des Primärrechts im Wege des vereinfachten Änderungsverfahrens und des sog. Brückenverfahrens (Art. 48 Abs. 6 und 7 EUV) reicht. Hierzu vertiefend v. Bogdandy/Bast-Bast, S. 529 ff. Nicht zu verwechseln mit den in Art. 2, 6 und 9 f. EUV formulierten „Werten“ und „Grundsätzen“. Vgl. im Übrigen wieder Schwarze-Schwarze, Art. 220 EG Rn. 11, 14–16. Z.B. als gemeineuropäisches Verfassungsrecht.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

9c

Während das hierarchische Verhältnis zwischen Primär- und Sekundärrecht grob gesagt jenem zwischen deutschem Verfassungs- und einfachgesetzlichem Recht entspricht,18 ist das Verhältnis zwischen Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht durchaus komplex. Auch der Lissabon-Vertrag hat insoweit keine Klärung herbeigeführt. Statt einer einfachen derogatorischen Regel „Unionsrecht bricht Mitgliedstaatenrecht“ hat sich hier ein – terminologisch allerdings wenig unterscheidungskräftiges19 – Zweistufenkonzept durchgesetzt, welches sich auch das BVerfG zu eigen gemacht hat.20 Hiernach kommt bestimmten Normen des Gemeinschaftsrechts zunächst „unmittelbare Geltung“ auch gegenüber einzelnen Bürgern und Unternehmen zu, ohne dass es hierzu eines mitgliedstaatlichen Transformationsakts bedarf; dies jedenfalls, soweit diese Normen einen derartigen Geltungsanspruch überhaupt erheben, was gem. Art. 288 Abs. 2 AEUV/249 Abs. 2 EG ohne weiteres für Verordnungen zutrifft, nach der Rechtsprechung des EuGH aber auch für andere Normen, soweit sie klar und eindeutig, unbedingt, vollständig und rechtlich vollkommen sind, darunter insbesondere die Vorschriften über die Grundfreiheiten.21 Gilt hiernach eine unionsrechtliche Norm unmittelbar, dann stellt sich – in Stufe 2 – die Frage der Verdrängung entgegenstehenden Mitgliedstaatenrechts. Statt einer vollständigen Derogation durch „Geltungsvorrang“ besteht hier lediglich ein „Anwendungsvorrang“ des Unionsrechts,22 der das mitgliedstaatliche Recht nur insoweit zurückdrängt, „wie es die Verträge erfordern und nach dem (…) innerstaatlichen Anwendungsbefehl auch erlauben“23 – also eine Art Teilnichtigkeit, die die Geltung des Mitgliedstaatenrechts namentlich im nicht grenzüberschreitenden Bereich unberührt lässt.

9d

Auch die Mehrdirektionalität des Unionsrechts folgt keinem einheitlichen Prinzip. Während es zumeist offensichtlich ist, wann eine Norm die Union selbst oder die Mitgliedstaaten adressiert, ist die Geltung einer Vorschrift im Privatrechtsverhältnis unter den Bürgern (bzw. den Unternehmen) teilweise strittig. Einige Normen – wie etwa Verordnungen mit rein privatrechtlichem Gehalt24 oder die kartellrechtlichen Vorschriften des AEUV25 – zielen überhaupt nur auf solche „Privatwirkung“26. Für mehrdirektionale Vorschriften, insbesondere für die Grundfreiheiten und die Unionsgrundrechte, hat sich in Deutschland der der nationalen Grundrechtsdogmatik ent-

18 I.E. Schwarze-Biervert, Art. 249 EG Rn. 8. 19 Rechtssoziologisch gesehen ist die Unterscheidung zwischen „unmittelbarer Geltung“ und „Anwendungsvorrang“ eher künstlich, kann man sich doch eine Normgeltung ohne gleichzeitige allgemeine Anwendbarkeit schwer vorstellen. 20 BVerfGE 123, 267 Rn. 335–339 – Lissabon-Vertrag. 21 Leading Case ist EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend & Loos, Slg. 1963, 1 Rn. 25 f.; Meinungsstand bei Schwarze-Biervert, Art. 249 EG Rn. 5. 22 Aus der Rechtsprechung des EuGH zuletzt EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, (noch nicht in Slg.) Rn. 54. 23 BVerfGE 123, 267 Rn. 335 – Lissabon-Vertrag. 24 Unten, Rn. 44 ff. 25 Unten, Rn. 25 ff., 27a. 26 Dies der Titel der gleichnamigen Schrift von Wernicke, Die Privatwirkung im Europäischen Gemeinschaftsrecht.

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§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

lehnte Begriff der – unmittelbaren oder mittelbaren – „Drittwirkung“ eingebürgert. Diese Begriffsbildung ist nicht unproblematisch; darauf ist zurückzukommen.27 3.

Grundfragen einer Rechtsquellenlehre des Europäischen Privatrechts

Bei den folgenden Überlegungen zu den privatrechtsspezifischen Grundfragen der europäischen Rechtsquellenlehre kann es nicht dabei bewenden, lediglich deskriptiv die verschiedenen Handlungsformen europäischer Rechtssetzung auf ihren privatrechtlichen Gehalt durchzudeklinieren. Fundamental für europäische Privatrechtsquellen sind vor allem zwei Einsichten. Beide sind nicht mehr unbedingt neu; und doch ziehen sie sich wie ein roter Faden durch die Beiträge zu diesem Band. a)

10

Der Marktbürger als Adressat europäischer Rechtsquellen: von der „Drittwirkung“ zur „Horizontalwirkung“

In ihrer Doppelfunktion als berechtigende bzw. verpflichtende Rechtssätze und als Rechtserkenntnisquelle richten Rechtsquellen sich üblicherweise an zwei Adressaten: Für den Rechtsanwender bedeutet der Rechtssatz einen Anwendungsbefehl; für den oder die Normadressaten begründet er ein Recht, eine Pflicht oder eine Verhaltensnorm. Normwirkungen zugunsten oder zulasten von Nichtadressaten sind die große Ausnahme (wenn man einmal von der banalen Einsicht absieht, dass, was man dem einen durch Normbefehl gibt, häufig einem anderen wegnimmt). Im europäischen Recht ist alles ganz anders. In kaum einem Rechtsgebiet ist so viel von Drittwirkung, von unmittelbarer oder mittelbarer Wirkung die Rede wie im Europarecht; zugleich wird sie dort als hochproblematisch empfunden. Woher dieses Paradox?

11

Die Erklärung liegt darin, dass die europäische Rechtsquellenlehre bis heute die Eierschalen der völkerrechtlichen Rechtsquellenlehre noch nicht ganz abgestreift hat. Wie im Völkerrecht war auch unter den Römischen Verträgen nur den einzelnen Mitgliedstaaten Staatlichkeit (nach innen) und Rechtssubjektivität (nach außen) zu eigen. Selbst die Grundfreiheiten waren eher ein Rechtssetzungsauftrag für die Mitgliedstaaten zur Herstellung des Binnenmarktes als ein subjektives Recht der Marktbürger. Deren Rechtssubjektivität erschöpfte sich in einigen eher kümmerlichen und als akzidentielle Sanktionsdrohungen für mitgliedstaatliche Rechtsverletzungen begriffenen Klagerechten vor dem EuGH.28 Die den Vorrang des Gemeinschaftsrechts prozessual sicherstellende Vorlagepflicht der nationalen Gerichte ist eine Verpflichtung der dritten Gewalt, kein Recht des privaten Klägers. Dass die Union (vormals: die Gemeinschaft) als solche Adressatin des europäischen Primärrechts, insbesondere der Grundfreiheiten, sein könnte, blieb ebenso einer viel späteren Einsicht vorbehalten wie dass der Marktbürger – jetzt: der Unionsbürger (Art. 9 EUV) – zentrales Subjekt des europäischen Rechts und seiner Rechtsquellen ist. Welch langen Weg das Europäische Recht inzwischen gegangen ist, erweist sich nicht zuletzt an einem Vergleich

12

27 Nachstehend Rn. 14 ff. und 25 ff. 28 Vgl. zum früheren Rechtszustand etwa noch v.d. Groeben/Thiesing/Ehlermann-Krück, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag (5. Aufl. 1997), Art. 173 EGV Rn. 38 ff. Johannes Köndgen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

mit dem heutigen Entwicklungsstand der Institutionen und des Individualrechtsschutzes in der WTO.

13

Trotz alledem bedurfte es noch eines weiteren und grundsätzlichen Schritts, um den Unionsbürger auch mit europäischer Privatrechtssubjektivität auszustatten. Lange Zeit erschöpfte sich die europäische Rechtssubjektivität des Marktbürgers darin, dass er sich gegen gemeinschaftswidriges Verhalten eines Mitgliedsstaates, insbesondere gegen Verletzungen der Grundfreiheiten, zur Wehr setzen konnte – ein sozusagen öffentlichrechtliches Verständnis,29 wissenschaftshistorisch nicht zuletzt dadurch erklärbar, dass die Spezialisten des Europarechts sich seinerzeit primär aus dem Lager der Öffentlichrechtler rekrutierten. Nur zögerlich setzte sich alsdann die Vorstellung durch, dass europäisches Recht auch im Privatrechtsverhältnis von Marktbürger zu Marktbürger30 unmittelbare Wirkung äußern könnte. Die beiden Marksteine der Entwicklung (auf die im Einzelnen noch einzugehen sein wird) 31 sind heute bekannt: die unmittelbare Geltung der Grundfreiheiten im Privatrechtsverhältnis und die sog. Direktwirkung von Richtlinien.

14

Diese Multidirektionalität der Normgeltung gegenüber verschiedenen Adressaten mit je verschiedener Wirkung ist bei den Rechtsquellen des nationalen Rechts eher die Ausnahme; wir kennen sie dort aus der Diskussion um die Drittwirkung der Grundrechte, aber auch in Verbindung mit doppelseitigen Verwaltungsakten. Im Europäischen Recht ist die Multidirektionalität von Rechtsquellen zwar ebenfalls nicht der Regelfall, aber sie expandiert im Gleichschritt mit dem Unionssprivatrecht selbst.

15

In der rechtsquellentheoretischen und methodologischen Begrifflichkeit ist dieser Paradigmenwechsel noch nicht ganz angekommen. Der EuGH selbst scheint die sog. unmittelbare Drittwirkung in erster Linie als Konsequenz des effet utile-Prinzips oder als einen Fall unzulässiger Berufung auf eigenes Fehlverhalten (in der Terminologie des Common Law: estoppel) zu verstehen32 – also wiederum nur als eine Art Reflex des im Grunde immer noch völkervertragsrechtlich begriffenen Unionsrechts. Auch im Schrifttum zum Europäischen Privatrecht33 herrscht noch wenig terminologische Eindeutigkeit. Man spricht im selben Atemzug von „unmittelbarer Drittwirkung“, von „unmittelbarer Anwendbarkeit“ im Privatrechtsverhältnis und eröffnet noch die weitere Dimension, dass Privatrechtssubjekte sich auf bestimmte Rechtssätze „berufen können“.34 Für die Zwecke einer Europäischen Privatrechtsquellenlehre sind diese fein gesponnenen Differenzierungen wenig hilfreich. Der Terminus „Drittwirkung“ verfehlt das Faktum, dass der Marktbürger, der – ob als Unternehmer oder Verbraucher – ohne zwischenstaatliche Behinderungen privatautonom am Marktgeschehen teilnimmt, zentrales Rechtssubjekt des Unionsprivatrechts ist. Auch sein Recht, sich,

29 Zu einem Rückblick aus heutiger Sicht Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 29 ff. 30 Hier als Oberbegriff über Unternehmer/Unternehmer-Beziehungen („b2b“) und Unternehmer/Verbraucher-Beziehungen („b2c“). 31 Unten, Rn. 25 ff. und Rn. 37 f. 32 EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Facini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 22. 33 Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 28–47. 34 Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 32.

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§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

sei es auch nur ausnahmsweise, auf eine Richtlinienvorschrift zu berufen, ist „eine Funktion der objektiven Geltung und Anwendbarkeit der in einer Richtlinienvorschrift angelegten Verpflichtung“35. In ihrer Konnotation des Ausnahmecharakters mag die Vorstellung einer Drittwirkung allenfalls noch für das Richtlinienrecht adäquat sein. Ansonsten geht die dynamische Entwicklung des Europäischen Privatrechts – dies liegt in der Natur der Sache und kulminiert im Projekt eines Europäischen Vertragsgesetzbuchs – langfristig in die Richtung einer unmittelbaren Geltung unionsrechtlicher Normen im Privatrechtsverhältnis. Dazu bedarf es nicht der Vorstellung einer vollendeten Staatlichkeit der Union, sondern nur des Ernstnehmens ihres freiheitssichernden Auftrages. Diese Entwicklung sollte sich auch in der Begrifflichkeit widerspiegeln. So wie man im IPR immer schon mit Selbstverständlichkeit zwischen einseitigen und allseitigen Kollisionsnormen unterscheidet, sollte man auch in der europäischen Rechtsquellenlehre schlicht zwischen „Vertikalwirkung“ (Verhältnis Bürger zum Mitgliedstaat bzw. zur Union) und „Horizontalwirkung“36 (Privatrechtsverhältnis unter Marktbürgern) differenzieren. b)

Vom klassischen zum „regulatorischen“ Privatrecht – und wieder zurück?

Der Begriff des Europäischen Privatrechts leidet in seinen Randzonen noch unter erheblichen Unschärfen. Sie beruhen nicht unwesentlich auf der für das kontinentaleuropäische Recht (welches seinerseits in romanistischer Tradition steht) immer noch geradezu axiomatischen Trennung zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht.

16

Würden wir das klassische und immer noch verbreitete Privatrechtsverständnis zugrunde legen, dann gäbe es Europäisches Privatrecht allenfalls als Projekt – in Gestalt des European Civil Code.37 Dieses traditionelle Verständnis begreift nämlich Privatrecht38 als den Inbegriff der Normen, die – im Regelfall als dispositives Recht – die Rechtsbeziehungen unter Privaten regeln. Die Funktion dieses Privatrechts ist, mit einem treffenden englischen Ausdruck, „facilitative“, d.h. es will den Marktbürgern die Ordnung ihrer privaten Beziehungen erleichtern, indem es jenen Regelungsmuster offeriert, deren sie sich bedienen können oder auch nicht. Im Laufe der Zeit ist diesem klassischen Kernprivatrecht eine weitere Dimension zugewachsen, die man in den 1970er- und 80er-Jahren in Anknüpfung an Max Weber als „Materialisierung“ oder auch als „soziales Privatrecht“ zu bezeichnen pflegte und die heute, stark verkürzt, zumeist unter der Etikette „zwingendes Verbraucherrecht“ läuft. In der Ökonomie begreift man diese neue Dimension als regulierende Korrekturen des klassischen Privatrechts aufgrund von Marktversagen oder genauer: von Informationsasymmetrien.39 So weit, so bekannt.

17

35 36 37 38

Eilmansberger, JBl. 2004, 283, 288. In Anlehnung an Nicolaysens Begriff der „horizontalen Drittwirkung“, EuR 1986, 370 f. Dazu der Beitrag von Schmidt-Kessel, in diesem Band, § 17. Hier ausschließlich verstanden als privates Vermögensrecht, d.h. unter Ausschluss personenrechtlich gefärbter Regelungsbereiche wie dem Familien- und Erbrecht. 39 Vgl. dazu nur Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse, S. 341 f.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

18

Was an dieser Entwicklung eher unbemerkt blieb, sind ihre Konsequenzen für die tradierte Zweiteilung zwischen Öffentlichem und Privatrecht, mit der man sich nicht nur in Deutschland, sondern weitgehend auch im Europäischen Recht so bequem eingerichtet hat.40 Ähnlich wie im Wirtschaftsrecht das Konzept der Regulierung die Grenzlinien zwischen (privatrechtlicher) Wettbewerbsfreiheit und (öffentlicher) Wirtschaftsverwaltung flüssig gemacht hat,41 so stellt in individualrechtlicher Perspektive ein „regulatorisches“ Privatrecht den traditionellen Gegensatz von privatautonomer Gestaltung und hoheitlichem Eingriff in Frage.42 Regulierungsrecht ist längst zu einer intermediären Kategorie geworden, bei der die formale Zuordnung zum privaten oder zum öffentlichen Recht eher ein Produkt des Zufalls als von Systemgerechtigkeit ist.

19

Einige wenige Beispiele: Die sog. Wohlverhaltenspflichten der Wertpapierdienstleister stehen in einem öffentlichrechtlichen Gesetz, dem WpHG (§§ 31 ff.). Inhaltlich sind sie aber altes Geschäftsbesorgungsrecht, also Privatrecht reinsten Wassers. Öffentlichrechtlich ist daran allenfalls, dass diese Pflichten weniger von den Zivilgerichten als von einer sachnäheren Regulierungsbehörde konkretisiert werden und dass ebendiese Behörde wegen eines zivilrechtlichen Sanktionsdefizits auch über die Einhaltung der Pflichten wacht.43 Das Gegenbeispiel: Die besonderen Informationspflichten beim Vertragsabschluss mit Verbrauchern – sämtlich ein Produkt des Europäischen Richtlinien-Privatrechts – verunzieren seit 2002 zunehmend das BGB (§§ 312c, 312e, 491a f. BGB; Art. 247 f. EGBGB). Aber diese vorgeblichen Vertragspflichten ermangeln jeder spezifisch zivilrechtlichen Sanktion – etwa einer Erfüllungs- oder Schadensersatzklage.44 Im Übrigen besteht auch der ganz überwiegende Teil der Arbeitsmarktregulierung aus zwingendem Vertragsrecht.45

20

Zurück zum Europäischen Privatrecht. Während wir im nationalen Privatrecht einen weiten Weg vom klassischen Privatrecht zu einer stetigen Expansion des regulatorischen Privatrechts gegangen sind, scheint die Entwicklung im Europäischen Privatrecht geradezu entgegengesetzt zu verlaufen.46 Das gesamte Europäische Sekundärprivatrecht besteht bis heute fast ausschließlich aus regulativem Recht – von der Verbraucherkreditrichtline über die Klauselrichtlinie bis zur Fernabsatzrichtlinie. Diese Selektivität hat im wesentlichen kompetenzrechtliche Gründe.47 Erst in jüngster Zeit schickt sich die Union mit ihren Initiativen zu einem Europäischen Vertrags-

40 Vgl. aber von Wilmowsky, JZ 1996, 590. 41 Zum aktuellen Stand der Diskussion Basedow, in: Basedow u.a. (Hrsg.), Economic Regulation and Competition (2002), S. 15 ff.; vgl. auch daselbst, S. 322 f. 42 In diese Richtung jüngst auch Micklitz, GPR 2009, 245, 255 ff. 43 Vgl. i.E. Köndgen, FS Canaris (2007), S. 204 ff. 44 Nach h.L. soll die Versäumung dieser Pflichten auch keine Vertragsnichtigkeit zur Folge haben; vgl. nur Bamberger/Roth-Schmidt-Räntsch, § 312c BGB Rn. 27 mwN; a.A. Reich, EuZW 1997, 581, 585. 45 Vgl. den Diskussionsbeitrag von Basedow, in: Basedow u.a. (Hrsg.), Economic Regulation and Competition (2002), S. 322. 46 Eingehender hierzu der Beitrag von Grundmann, in diesem Band, § 10; vgl. auch ders., JZ 1996, 274, 274 ff. 47 Zutr. Joerges, FS Heldrich, S. 218.

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§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

gesetzbuch an, auch in der Domäne des klassischen Privatrechts zu kodifizieren. Nach unseren bisher gewonnenen Einsichten löst sich dieses scheinbare Paradox unschwer auf: Es reflektiert einmal mehr die Schwerpunktverschiebung von der Vertikalwirkung des Gemeinschaftsrechts zur Horizontalwirkung. Dass der Marktbürger gemeinschaftsweit ein einheitliches regulatorisches Schutzniveau erwarten darf und dass er diese Erwartung auch gegenüber den Mitgliedstaaten durchsetzen kann, erschloss sich einem auf die Herstellung eines Binnenmarkts und auf ein hohes Niveau des Verbraucherschutzes verpflichteten europäischen Gesetzgeber leichter als die Notwendigkeit, auch im Kernbereich der Privatautonomie für einheitliche und nach der Natur der Sache lediglich dispositive, d.h. lediglich wählbare Regelungsmuster Sorge zu tragen. Insofern ist das Europäische Privatrecht in der Tat auch eine Fragestellung der europäischen Rechtsquellenlehre.

II.

Das Primärrecht, insbesondere die Grundfreiheiten, als Rechtsquelle des Privatrechts

Ob und inwieweit die Normen des Primärrechts, insbesondere die Grundfreiheiten eine multidirektionale Rechtsquelle sind – also mit Geltungsanspruch gegenüber der Union selbst, den Mitgliedstaaten (als sog. Beschränkungsverbote bzw. Angleichungsgebote), im Vertikalverhältnis Staat–Bürger und schließlich im Horizontalverhältnis unter Bürgern –, dies zählt immer noch zu den umstrittensten Fragen der europäischen Rechtsquellenlehre. Für das Privatrecht geht es einerseits um die Unanwendbarkeit nichtdiskriminierender, aber grundfreiheitenbeschränkender Privatrechtsnormen durch die mitgliedstaatlichen Gerichte; zum anderen um den Schutz Privater gegenüber freiheitsbeschränkenden Maßnahmen durch Private. 1.

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Die Grundfreiheiten als Grenze und Inpflichtnahme mitgliedstaatlicher Privatrechtsgesetzgebung

Als sog. Beschränkungsverbot etablieren die Grundfreiheiten rechtfertigungsbedürftige (Art. 36 AEUV/30 EG) inhaltliche Grenzen der mitgliedstaatlichen Privatrechtsgesetzgebung, jedenfalls soweit diese zwingendes Recht enthält.48 Voraussetzung ist, nach der sog. Dassonville-Formel zur Warenverkehrsfreiheit, dass nichtdiskriminierende zwingende Normen des Privatrechts als Beschränkung von Grundfreiheiten wirken, soweit diese „geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern“ 49: Freilich ist dieser extensive Beschränkungsbegriff vor allem50 durch die Keck-Entscheidung des EuGH 51 und

48 Vgl. nur Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 399; Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten, S. 178 und passim; Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbraucherrechts, S. 22 ff. 49 EuGH v. 11.7.1974 – Rs. 8/74 Dassonville, Slg.1974, 837, 852. 50 Zu anderen, hier nicht zu vertiefenden Einschränkungen vgl. Ehlers-Epiney, § 8 Rn. 38; ferner Franck, in diesem Band, § 6 Rn. 48 ff. 51 EuGH v. 24.11.1993 – Rs. C-267/91 Keck, Slg. 1993, I-6097 ff. Johannes Köndgen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

deren Folgerechtsprechung insofern wieder reduziert worden, als die Regelung bestimmter, nicht dem Marktzutritt und der Marktdurchdringung dienender „vertriebsbezogener Verkaufsmodalitäten“ nicht von der Warenverkehrsfreiheit erfasst wird.52 Im Privatrecht betrifft diese Einschränkung nicht nur Teile des Lauterkeitsrechts (UWG), sondern auch das gesamte Recht des Vertragsabschlusses. Andererseits sind produktgestaltende Vertragsvorschriften typischerweise vom Beschränkungsverbot der Grundfreiheiten erfasst. Dies gilt insbesondere für Dienstleistungen in Form sog. Rechtsprodukte, deren Inhalt und Charakteristik erst durch ein Geflecht vertragsgesetzlicher und formularmäßiger Inhaltsbestimmungen konstituiert ist.53 Hauptbeispiele sind etwa Versicherungen, Konsumentenkredite oder Investmentanteile; nicht von ungefähr sah sich die Gemeinschaft gerade hier zur Vermeidung von Behinderungen des Binnenmarkts zu umfangreicher Harmonisierung veranlasst. Beispielhaft ist hier eine Entscheidung des EuGH, die das im französischen Bankrecht bestehende Verbot verzinslich geführter Girokonten als Beschränkung des Marktzugangs ausländischer Anbieter solcher Konten verworfen hat.54 Im übrigen Privatrecht haben die Grundfreiheiten vor allem im Kapitalgesellschaftsrecht55 sowie im Arbeitsrecht56 – beides weitgehend zwingende Regelungskomplexe – die mitgliedstaatliche Privatrechtsgesetzgebung in erheblichem Umfang beschränkt. Im Gesellschaftsrecht wird sich dies fortsetzen, wenn Arbeitnehmer-, Minderheiten- und Gläubigerschutzrechte auf den Prüfstand der jüngst durch den EuGH stark aufgewerteten Niederlassungsfreiheit57 zu stellen sind.

21b

Weitere zwingende Gebiete des Privatrechts mit Beschränkungspotential sind das Sachenrecht und das Internationale Privatrecht (soweit dieses keine kollisionsrechtliche Abwahl gestattet).58 Gerade im IPR können die Grundfreiheiten nicht nur als Beschränkungsverbot wirken, sondern auch als „positive“ Pflicht der Mitgliedstaaten, den zwischenstaatlichen Güterverkehr erleichternde „internationale Sachnormen“ zu schaffen.59 Auf der Schnittstelle zwischen Sachenrecht und IPR liegt hier das Recht der Mobiliarsicherheiten im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr. Hier mag zwar die lex situs-Regel des IPR (Art. 43 EGBGB), soweit sie lediglich die Begründung ding-

52 Zu den i.E. streitigen Fragen dieser Alternativität vertiefend und mwN Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 50 ff. 53 I.E. Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, § 3 Rn. 84–86. 54 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-442/02 CaixaBank France, Slg. 2004, I-8961, Rn. 11–16. 55 Übersicht mit Rechtsprechungsnachweisen bei Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, S. 537 ff.; Langenbucher-Engert, § 5 Rn. 7–22; Pechstein, Entscheidungen des EuGH (5. Aufl. 2009), S. 527 ff. 56 Rechtsprechungsnachweise bei Schiek, Europäisches Arbeitsrecht (3. Aufl. 2007), S. 340 ff.; Pechstein, Entscheidungen des EuGH (5. Aufl. 2009), S. 476 ff. 57 Vgl. zuletzt EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-210/06 Cartesio, I-9641. 58 Grundsätzlich zum Verhältnis von Grundfreiheiten und IPR Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 435 mwN; zum Meinungsstand auch W.-H. Roth, in: Eidenmüller/Kieninger (Hrsg.), The future of secured credit in Europe, S. 43 ff. 59 Zur Abwesenheit einer die grenzüberschreitende Verschmelzung von Gesellschaften erleichternden Vorschrift im deutschen Recht EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-411/03 SEVIC Systems, Slg. 2005, I-10805 Rn. 21 ff., 30.

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§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

licher Mobiliarsicherheiten betrifft, keine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit darstellen (Art. 63 AEUV/56 EG).60 Mit guten Gründen lässt sich jedoch behaupten, dass die Nichtanerkennung eines im Heimatstaat rechtswirksam begründeten Eigentumsvorbehalts im Fall der Grenzüberschreitung der Vorbehaltssache sich vor der Warenverkehrs- und der Kapitalverkehrsfreiheit nur rechtfertigen lässt, wenn der Vorbehalt in eine gleichwertige Sicherheit des „Importlandes“ umgewandelt wird.61 Soweit es um grundfreiheitenbeschränkendes dispositives Privatrecht geht, stehen sich rechtsquellentheoretisch zwei hierarchische Kollisionsregeln gegenüber: das Verhältnis lex inferior und lex superior (Stichwort: Anwendungsvorrang des Unionsrechts)62 und das Verhältnis von dispositivem und zwingendem Recht. Diese problematische Gemengelage ist Gegenstand eines Meinungsstreits. Manche behaupten, im Bereich des dispositiven Rechts (insbesondere des Vertragsrechts) herrsche per definitionem Privatautonomie, in deren Ausübung die Grundfreiheiten grundsätzlich63 nicht intervenieren dürften.64 Anerkannt ist außerdem, dass allein die unionsweite Diversität der nationalen Privatrechte und die damit einhergehenden Informationskosten bei grenzüberschreitenden Geschäften in einem föderalen Verbund kein relevantes Integrationshindernis darstellen. Andere meinen, auch das dispositive Recht einbeziehen zu sollen, weil die Wahlfreiheit der Kontrahenten in der Praxis allenfalls als virtuelle Wahlmöglichkeit, nicht jedoch als aktuelle Entscheidungsmacht existiere.65 Die cause célèbre deutscher Autoren ist hierzu der § 489 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 4 BGB: der bis zur Dauer von 10 Jahren gestattete Ausschluss der vorfälligen Schuldnerkündigung bei Festzinskrediten.

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Die Beliebtheit dieser Vorschrift als Demonstrationsobjekt kommt nicht von ungefähr. Die Vorschrift ist nämlich, zum ersten, diskriminierend, weil sie zwar inländischen, nicht aber allen ausländischen öffentlichen Darlehensschuldnern66 erlaubt, erforderlichenfalls auch einmal für länger als 10 Jahre zu Festzinsen Kredit aufzunehmen. Sie kann, zweitens, nicht nur in Gestalt zu langfristiger Bindung die Verbraucherdarlehensnehmer benachteiligen, die trotz fallender Zinsen nur noch gegen eine Vorfälligkeitsentschädigung aus ihrem Langfristkredit herauskommen. Sie beeinträchtigt durch eine zu kurz bemessene Bindungsmöglichkeit auch die Privatautonomie insbesondere unternehmerischer Darlehensnehmer, die sich vermöge eines professionellen langfristigen Schulden- und Zinsenmanagements auch gerne einmal für 15 Jahre oder länger günstige Zinsen sichern würden. Und schließlich beschränkt

23

60 W.-H. Roth, in: Eidenmüller/Kieninger (Hrsg.), The future of secured credit in Europe, S. 47 f. 61 W.-H. Roth, in: Eidenmüller/Kieninger (Hrsg.), The future of secured credit in Europe, S. 48–61. 62 Oben, Rn. 9c. 63 Zur sogenannten Drittwirkung der Grundfreiheiten im Privatrechtsverhältnis vgl. noch nachstehend Rn. 25–27. 64 W.-H. Roth, FS Everling (1995), S. 1231–1247; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 89–91; mit abweichender Begründung auch Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 64 f. 65 Statt vieler und mwN Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 23 f. 66 Soweit es sich nicht um die Europäischen Gemeinschaften oder ausländische Gebietskörperschaften handelt. Johannes Köndgen

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§ 489 Abs. 1 und Abs. 4 BGB die Produktgestaltungsfreiheit der Kreditwirtschaft, die ansonsten – auch grenzüberschreitend – durch kongruente Refinanzierung zinsgünstige Langfristkredite anbieten könnte, bzw. die ausländische67 Institute daran hindert, ihre leichter kündbaren Kreditprodukte in Deutschland anzubieten. Gemeinschaftsrechtlich ist es sicherlich unbedenklich, wenn die Norm den Verbraucherschutz gegen die Kapitalverkehrs- oder auch die Dienstleistungsfreiheit des Kreditinstituts in Stellung bringt; ja, man mag sogar darüber streiten, ob sie in dieser Hinsicht durch Zulassung einer immerhin bis zu zehnjährigen Bindung noch zu wenig tut. Bei Darlehensverträgen mit unternehmerischen Kunden schränkt sie hingegen die Freiheiten beider Parteien ein; andererseits ist sie außerhalb des Verbraucherschutzes (§ 489 Abs. 1 Nr. 2 BGB) international nicht zwingend.68

24

Die Tatsache, dass der grenzüberschreitend agierende Marktteilnehmer hinsichtlich des dispositiven Rechts die Verhandlungs- und Abdingungslast trägt, darf man zumindest bei Konsumenten nicht gering schätzen,69 die allenfalls einmal um niedrigere Preise feilschen werden. Auch sonst lässt sich der Verzicht auf eine Abdingung nicht ausnahmslos als Resultat eines Verhandlungsprozesses ausweisen.70 Dispositive Regeln können als Kostenbelastung, mithin auf die Höhe des Preises, Einfluss gewinnen; doch handelt es sich hier zumeist um versteckte Kosten, die gleichfalls nicht ohne weiteres zum Gegenstand der Verhandlungen gemacht werden. Schwerer als diese Argumente wiegt, dass wir heute stärker – und keineswegs nur im AGB-Recht – die Leitbildfunktion dispositiver Regeln beachten. Auch dispositive Regeln reflektieren bestimmte Ordnungs- und Gerechtigkeitsvorstellungen des Gesetzgebers, mögen diese auch „weicher“ und ermessensabhängiger sein als beim regulierenden Recht. Die Unterscheidung zwischen zwingendem und dispositivem Recht lässt sich somit als scharfe Dichotomie nicht mehr aufrecht erhalten.71 Konsequenterweise wird man beschränkendes dispositives Privatrecht vom Geltungsanspruch der Grundfreiheiten nicht a limine ausnehmen können. Im praktischen Ergebnis ist jedoch die Gefahr eines Konflikts mit den Grundfreiheiten, insbesondere angesichts einer abgemilderten Verhältnismäßigkeitskontrolle, eher gering. 2.

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Die Geltung der Grundfreiheiten unter Privatrechtssubjekten (Horizontalverhältnis)

Nur in seinen Wettbewerbsregeln ist das Primärrecht (Art. 101 ff. AEUV) unmittelbar an Privatrechtssubjekte, nämlich die Unternehmen adressiert, und nur hier beansprucht es unstreitig Geltung im Horizontalverhältnis.72 Was die Grundfreiheiten anbelangt, bot der EuGH hier zunächst wenig Führung, da er im Bosman-Urteil73 die

67 68 69 70 71 72 73

Z.B. französische. Vgl. nur MünchKomm-Berger, § 489 BGB Rn. 31. Zutr. Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 23. So in der Tendenz wohl Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 89 a.E. Eingehend Hesselink, ERCL 1 (2005), 44, 46–66. Unten, Rn. 27a. EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921.

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§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

Horizontalwirkung (in der herrschenden Terminologie: die unmittelbare Drittwirkung) der Freizügigkeit im Privatrechtsverhältnis zwischen Spieler und Verein bzw. Verband im Hinblick auf dessen quasilegislative Befugnisse bejahte, hinsichtlich der anderen Grundfreiheiten aber tendenziell verneinte;74 gegenüber öffentlichen Unternehmen (Art. 106 Abs. 1 AEUV/86 Abs. 1 EG) scheint der Gerichtshof die Horizontalwirkung im Einzelfall wiederum bejahen zu wollen.75 Zwei neuere Urteile haben jetzt diese anfänglichen Zweifel weitgehend ausgeräumt. Im Fall Angonese hat das Gericht ein diskriminierendes Auswahlverfahren gegenüber einem Arbeitsplatzbewerber unter Hinweis auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 39 Abs. 2 EG [jetzt Art. 45 Abs. 2 AEUV]) beanstandet.76 Im bisher letzten Urteil hat der EuGH die Niederlassungsfreiheit eines Unternehmens gegen die Arbeitskampfmaßnahme einer Gewerkschaft ins Feld geführt und dabei die noch in Bosman enthaltene Einschränkung der Horizontalwirkung ausdrücklich aufgegeben.77 Die anfängliche Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung spiegelt sich wider in einer ausgeprägten Meinungsvielfalt im Schrifttum. Wir wollen uns auf die rechtquellentheoretischen Gesichtspunkte konzentrieren. Dazu argumentiert Canaris78 maßgeblich mit einem scheinbaren Parallelphänomen im deutschen Verfassungsrecht: der grundsätzlichen Ablehnung einer Drittwirkung der Grundrechte. Diese stützt sich bekanntlich zunächst auf eine systematische Auslegung: Da das Grundgesetz für einzelne Grundrechte (Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG) eine Drittwirkung ausdrücklich anordnet und auch der EG-Vertrag in Art. 86 Abs. 2 (jetzt Art. 106 Abs. 2 AEUV) sich ausdrücklich nicht an die Mitgliedstaaten, sondern unmittelbar an die „Unternehmen“ wendet, soll mit diesen Ausnahmeregeln jeweils der gesetzgeberische Wille, grundsätzlich keine Drittwirkung zuzulassen, erwiesen sein. Dieses Argument trägt nicht sehr weit. Aus grundsätzlicher Sicht und im historischen Rückblick ist gegenüber der Grundrechtsanalogie auf die unterschiedliche Schutzfunktion von europäischen Grundfreiheiten und deutschen Grundrechten hinzuweisen. Die Grundrechte sind historisch dem monarchischen oder autoritären Staat abgerungen und unter dem Vorzeichen des Sozialstaates um eine Teilhabefunktion ergänzt worden. Die Grundfreiheiten sind Marktfreiheiten, und Marktfreiheiten werden durch Teilnahme am Markt, im Wesentlichen durch Abschluss von Verträgen, ausgeübt. Union und Mitgliedstaaten kommt insofern primär eine Schutz- und Förderpflicht zu.79 Abgesehen

74 Detaillierte Analyse des Rechtsprechungsmaterials bei Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten (1997), S. 33–69. 75 Auch hierzu zusammenfassend Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 189–226. 76 EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 Angonese, Slg. 2000, I-4139 Rn. 35 f. 77 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 Viking, Slg. 2007, I-10779 Rn. 56 ff.; W.-H. Roth, FS Medicus, S. 403, gewinnt aus dieser jüngsten Rechtsprechung die Empfehlung, die Horizontalwirkung „als Datum im Sinne einer Rechtskonkretisierung oder Rechtsfortbildung im Rahmen und auf der Grundlage des EG-Vertrages [zu] akzeptieren“. 78 Canaris, FS Reiner Schmidt, S. 31–67; in der Tendenz ähnlich Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 37–39; mit abweichender Begründung auch Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 74 f. 79 EuGH v. 9.12.1997 – Rs. C-265/95 Kommission ./. Frankreich, Slg. 1997, I-6959. Johannes Köndgen

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davon, dass das Grundgesetz in dieser Frage wenig Argumentationswert hat, ist Art. 106 Abs. 2 AEUV/86 Abs. 2 EG systematisch Teil des europäischen Wettbewerbsrechts, dessen Vorschriften seit jeher eine Horizontalwirkung vorgesehen haben, die aber durchaus auch den Mitgliedstaaten selbst Grenzen setzen, also ebenfalls multidirektional gelten. Schließlich trifft es auch nicht generell zu, dass privatautonomes Handeln nicht unter Rechtfertigungsdruck stehen dürfe.80 Die soziale Rechtfertigungsbedürftigkeit von Arbeitgeberkündigungen oder auch das Wohnraumkündigungsrecht erbringen den Beweis, dass die Regel Ausnahmen zulässt. Zu achten ist freilich auf eine angemessene Verteilung der Darlegungs- und Beweislast, die die Rechtfertigungsbedürftigkeit privatautonomer Entscheidung nicht zur praktischen Regel werden lässt.

27

Der Grund für das Spannungsverhältnis zwischen horizontaler (Dritt-)Wirkung der Grundfreiheiten und liberaler Marktkonzeption scheint letztlich in der Konzeption des AEUV selbst angelegt. Einerseits schützen und verstärken die Grundfreiheiten die Privatautonomie des Marktbürgers in der grenzüberschreitenden Dimension. Andererseits enthalten die zahlreichen Diskriminierungsverbote des Primärrechts weitgehende Beschränkungen der sog. negativen Vertragsfreiheit, also der Freiheit, nicht sämtliche potentiellen Kontrahenten gleich behandeln zu müssen. Diese Antinomie ist in dem Maße entschärft worden, als der Europäische Gesetzgeber die Diskriminierungsverbote des AEUV sekundärrechtlich und mit expliziter Privatwirkung präzisiert und die Berufung auf das Primärrecht zwar nicht gesperrt, aber jedenfalls im praktischen Ergebnis bedeutungslos gemacht hat. 3.

Die Geltung sonstigen Primärrechts in Privatrechtsbeziehungen

27a

Völlig unumstritten ist die unmittelbare Geltung von Primärrecht für Privatrechtsbeziehungen nur im Europäischen Kartellrecht. In unzweideutigem Wortlaut ordnet Art. 101 Abs. 2 AEUV/81 Abs. 2 EG an, dass die nach Abs. 1 verbotenen wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen oder Beschlüsse nichtig sind. Auch im Kartelldeliktsrecht besteht diese unmittelbare Geltung dergestalt, dass § 33 Abs. 1 GWB sich explizit auf die Art. 81 und 82 EG (jetzt Art. 101 und 102 AEUV) als deliktsrechtliche Schutzgesetze bezieht.

27b

Das Problem der Privatrechtsgeltung der primärrechtlichen, nicht bereits in den Grundfreiheiten enthaltenen Diskriminierungsverbote ist nach dem auf Art. 13 EG (jetzt Art. 19 AEUV) gestützten Erlass von insgesamt drei AntidiskriminierungsRichtlinien81 – in denen eine Dritt- bzw. Horizontalwirkung ausdrücklich angeordnet

80 Canaris, FS Reiner Schmidt, S. 44 ff. 81 Richtlinie 2000/43/EG des Rates v. 29.6.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterscheidung der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl. 2000 L 180/22; Richtlinie 2000/78/EG des Rates v. 27.11.2000 zur Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000 L 303/16; Richtlinie 2004/113/EG des Rates v. 13.12. 2004 zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl. 2004 L 373/37. Vgl. dazu i.E. auch noch Rebhahn, in diesem Band, § 18 Rn. 53, 56–59.

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§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

ist – weitgehend entschärft. Im Übrigen dürfte sich die Diskussion künftig auf die nicht binnenmarktbezogenen Gleichbehandlungsvorschriften in Art. 20–26 der Europäischen Grundrechtscharta verlagern. Zur geschlechtsbezogenen Entgeltdiskriminierung im Arbeitsrecht (Art. 157 AEUV) hat der EuGH schon frühzeitig eine Horizontalwirkung angenommen.82 Auch das Verbot der Diskriminierung auf Grund der Staatsangehörigkeit (Art. 18 Abs. 1 EUV) hat unmittelbare Geltung in einem Vertragsverhältnis.83

III. Das Privatrecht in der sekundärrechtlichen Rechtsquellenproduktion 1.

Richtlinien

a)

Richtlinien als „unvollkommene“ Rechtsquelle

Wiederum kann es nicht Aufgabe dieses Beitrags sein, allgemeine rechtsquellentheoretische Fragen des Sekundärrechts – z.B. Kompetenzfragen oder den Vorrang des Gemeinschaftsrechts oder die Vorwirkung von Richtlinien84 – anzusprechen. Wir können uns daher ohne weiteres der quantitativ und inhaltlich relevantesten Rechtsquelle von Sekundärprivatrecht, den Richtlinien, zuwenden.85 Diese Erfolgsgeschichte im Privatrecht war den Richtlinien nicht an der Wiege gesungen. Sie ergingen zunächst nur in jenem engeren Bereich der Regulierung, den man früher Wirtschaftsverwaltungsrecht nannte. Gerade ihre spezifisch rechtsquellentheoretische Struktur machte sie aber auch höchst geeignet als Instrument privatrechtlicher Rechtssetzung. aa)

28

Richtlinien als „mediatisierte“ Rechtssetzung

Ihrer ursprünglichen Konzeption nach waren Richtlinien überhaupt keine Rechtsquellen.86 Dafür fehlte es ihnen schon an einem konstitutiven Definitionsmerkmal aller Normen: der Allgemeinheit. Formal-konstruktiv gesehen waren sie nichts weiter als ein einmaliger Regelungsauftrag an die Mitgliedstaaten mit einem mehr oder weniger großen Ermessensvorbehalt, in staatsrechtlichen Begriffen: delegierte Normsetzung. Diese – herkömmlich aus Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG begrün-

82 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455. 83 EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-411/98 Ferlini, Slg. 2000, I-8081 Rn. 47 ff.: unterschiedlicher Gebührensatz eines Krankenhauses gegenüber inländischen und ausländischen Patienten. 84 Vgl. dazu i.E. Hofmann, in diesem Band, § 16. 85 Vgl. als umfassende Textsammlung des europäischen Sekundärprivatrechts Grundmann/ Riesenhuber (Hrsg.), Textsammlung Europäisches Privatrecht: Vertrags- und Schuldrecht, Arbeitsrecht, Gesellschaftsrecht (2009); die einschlägigen Richtlinien werden bereichsspezifisch gewürdigt in den einzelnen Beiträgen zu Langenbucher, Europarechtliche Bezüge des Privatrechts (2. Aufl 2008). 86 Zur „Entdeckung der Richtlinie als Form der Gesetzgebung“ eindringlich v. Bogdandy/BastBast, S. 502 ff. Johannes Köndgen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

dete87 – Delegation ist freilich kaum vergleichbar etwa mit der Verordnungsermächtigung unter dem Grundgesetz. Selbst wenn Richtlinien sich mit bloßen Mindestharmonisierungen, das heißt mit einer geringeren Regelungsdichte, begnügen, ist der mitgliedstaatliche Gesetzgeber weitgehend nur Ausführungsorgan, dem allenfalls im Randbereich noch Regelungsspielräume verbleiben. Insofern konnte man die Richtlinien schon lange bevor man ihre sog. Direktwirkung entdeckt hat, als „mediatisierte“ Rechtssetzung bezeichnen.88 Doch kann auch diese für die Rechtsquellenlehre neuartige Qualifikation die Geltungs- und Anwendungsprobleme von Richtlinien nicht konsistent erklären. Zwei Beispiele:

30

Mit dem Konzept der „mediatisierten“ Rechtssetzung ist ein Begriff dafür gefunden, dass Richtlinien über das Durchführungsgesetz allgemeine und rechtsgestaltende Wirkung äußern; nicht dagegen, dass Richtlinien auch den mitgliedstaatlichen Richter binden sollen. Adressat einer Rechtsquelle ist zwar nicht nur, wer aus einer Norm berechtigt oder verpflichtet wird (d.h. der mitgliedstaatliche Gesetzgeber), sondern auch der Rechtsanwender. Aber Rechtsanwender in Bezug auf Richtlinien ist unmittelbar nur der EuGH, der die korrekte Umsetzung prüft, nicht der nationale Richter, der das Ausführungsgesetz unabhängig und mit seinem nationalen Methodeninstrumentarium anwendet. Mehr noch: Mangels Allgemeinheit des Rechtsakts waren Richtlinien zunächst überhaupt nicht auf „Anwendung“ angelegt. Geändert hat sich dies nicht nur mit der „Entdeckung“ der – ausnahmsweise – unmittelbaren Wirkung von Richtlinien,89 sondern auch mit dem Gebot an den nationalen Richter, richtlinienkonforme Rechtsfindung zu betreiben;90 inzwischen soll dieses Gebot u.U. sogar zu richtlinienkonformer Rechtsfortbildung verpflichten.91 Das ist hier nicht zu vertiefen.92 Festzuhalten ist jedoch, dass die Richtlinie in beiden Rechtsfindungsstrategien die Entscheidung des mitgliedstaatlichen Richters nicht nur methodisch im Sinne einer „interpretatorischen Vorrangregel“93, sondern auch inhaltlich – und bis an die contra-legem-Schranke – im Sinne des Zielverwirklichungsgebots der Richtlinie (Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG) anleitet.94 Die offenkundige Verwischung der theoretischen Grenzen zwischen Rechts-(Richtlinien-)geltung und Rechtsanwendung wird hier vom EuGH und der h.L. durch den Kunstgriff verschleiert, dass der Um-

87 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891, Rn. 26; EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-131/97 Carbonari, Slg. 1999, I-1103, Rn. 48; zuletzt EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113. 88 Von Richtlinien als einer „Hintergrundrechtsordnung“ des Privatrechts spricht Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbraucherrechts, S. 39. 89 Dazu sogleich unter Rn. 37 ff. 90 Dazu grundlegend der Beitrag von W.-H. Roth, in diesem Band, § 14 Rn. 24 ff.; einige Bemerkungen auch noch unten, Rn. 49 ff. 91 Angestoßen durch die sog. Quelle-Rechtsprechung des BGH (BGHZ 179, 27); dazu etwa der Rezensionsaufsatz von Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 7 ff., 123 ff.; schon vorher Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47; ferner Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 97. 92 Die Rechtsfortbildung durch den mitgliedstaatlichen Richter ist kein Problem der Europäischen Rechtsquellenlehre. Vgl. i.Ü. W.-H. Roth, in diesem Band, § 14, Rn. 46 ff. 93 So zuletzt wieder und mwN Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 123 f. 94 Weiteres hierzu unter Rn. 49 ff.

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setzungsauftrag nicht nur den Gesetzgeber, sondern „sekundär“ auch die anderen Staatsgewalten und damit namentlich die Judikative verpflichte.95 Auch gegenüber der sogenannten Direktwirkung von Richtlinien bei versäumter oder fehlerhafter Umsetzung gerät die traditionelle Rechtsquellenlehre in Erklärungsnotstand. Das „Umschlagen“ der konkret-individuellen Umsetzungsverpflichtung des Gesetzgebers in einen abstrakt-generellen Geltungsbefehl lässt sich dort rechtfertigen, wo infolge eines inhaltlich unbedingten und hinreichend bestimmten Richtlinientextes der mitgliedstaatliche Gesetzgeber keine eigenen Gestaltungsspielräume mehr hat. Gleichwohl wird, um im tradierten Paradigma zu bleiben, auch die Direktwirkung immer noch als „sekundäre Pflicht“ des Mitgliedstaates begriffen.96 Das klingt auch in der Rechtsprechung des EuGH an.97 Die direkte Berechtigung Privater erfolgt hiernach nicht um ihrer selbst willen und als „gesetzliches“ subjektives Recht, sondern nur als reflexhafte Begünstigung, die den effet utile der Richtlinie sozusagen im Wege der Naturalrestitution gegenüber dem säumigen Mitgliedstaat herstellen soll. bb)

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Richtlinien als fragmentarische Rechtssetzung

Dass Richtlinien bisher nur partikulare, fragmentarische oder gar nur punktuelle Rechtssetzung produziert haben, ist ein vielbeschriebenes Phänomen,98 hat jedoch keine prinzipiellen Gründe. Es ist eher einer gewissen Kurzatmigkeit des europäischen Rechtssetzungsprozesses geschuldet. In manchen Regelungsbereichen ist es geradezu zur Übung geworden, einer ersten fragmentarischen Regelung 10 Jahre später eine vollharmonisierende Richtlinie mit durchaus kodifikatorischem Anspruch nachzuschieben; so geschehen etwa im Investmentrecht 99, im Konsumentenkreditrecht100

95 Zuletzt EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-131/97 Carbonari, Slg. 1999, I-1103, Rn. 48. Aus der Literatur nur Schwarze/Biervert, Art. 249 EG Rn. 26. Zur Systematik der Umsetzungspflichten zusammenfassend Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 48. 96 Zuletzt wieder Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47. 97 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 103 mwN. 98 Statt vieler Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbraucherrechts, S. 40. 99 Die (erste) Investmentfondsrichtline 85/611/EWG stammt aus dem Jahr 1985, die wesentlich detaillierteren Änderungsrichtlinien 2001/107/EG und 2001/108/EG folgten erst am 13.2.2002. Dazu Köndgen/Schmies, WM-Sonderbeilage 1/2004, 2, 3 f. Inzwischen ist bereits eine Richtlinie der „dritten Generation“ ergangen; Richtlinie vom 13.7.2009 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW), ABl. 2009 L 302/32. 100 Richtlinie 87/102/EWG des Rates v. 22.12.1986 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, ABl. 1987 L 42/48; abgelöst durch Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4. 2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/66. Johannes Köndgen

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und in den Richtlinien über Zahlungsdienste101. Freilich ist im fragmentarischen Charakter vieler Richtlinien die Ursache für die Probleme überschießender Umsetzung zu suchen. b)

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Die Unvollkommenheit der Richtlinie als Rechtsquelle spiegelt sich auch im Privatrecht wieder. Sie hat zum Teil durchaus segensreiche Wirkungen geäußert, etwa vermöge der Methode der Mindestharmonisierung (nachfolgend aa)), aber auch Defizite hinterlassen, z.B. bei den Sanktionen (bb)) und der „asymmetrischen“ Direktwirkung nach versäumter oder fehlerhafter Umsetzung (cc)). aa)

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Die Unvollkommenheit des Richtlinienprivatrechts

Mindestharmonisierung oder Vollharmonisierung?

In der Frage Mindest- oder Vollharmonisierung verfolgt die europäische Gesetzgebung keine klare Linie. Lange Zeit wurde, vor allem im Verbraucherrecht, auf Mindestharmonisierung gesetzt. Hingegen strebt die Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen102 wieder eine Vollharmonisierung an, ebenso wie die 2. Verbraucherkreditrichtlinie103 und die Zahlungsdiensterichtlinie104, zuletzt auch der Richtlinienvorschlag über die Rechte der Verbraucher105. Manche hochtechnischen Regulierungsprojekte wie etwa die Umsetzung der international vereinheitlichten Eigenkapitalstandards für Kreditinstitute („Basel II“) oder die Etablierung eines standardisierten europäischen Lastschriftverfahrens, aber auch die Vereinheitlichung der Produkthaftung kann man sich überhaupt nur als Vollharmonisierung von hoher Regelungsdichte vorstellen. In diesem Bereich werden die Instrumente Richtlinie und Verordnung nahezu auswechselbar und sind praktisch nur noch durch ihre äußere Bezeichnung identifizierbar.106 Freilich ist schon der Begriff der Vollharmonisierung in der Praxis der mitgliedstaatlichen Umsetzung problematisch. Bereits aus der Zeit der großen Kodifikationen wissen wir, dass die Idee einer „abschließenden“ Regelung illusorisch ist. Entsprechend wird sich auch der Anwendungsbereich einer vollharmonisierenden Richtlinie nicht scharf abgrenzen lassen. Vollharmonisierung kann somit zwar das Umsetzungsermessen der Mitgliedstaaten verengen, aber wird kleinere Abweichungen der Transformationsgesetzgebung nicht durchweg verhindern.

101 Richtlinie 97/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.1.1997 über grenzüberschreitende Überweisungen, ABl. 1997 L 43/25; abgelöst durch Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.11.2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2002/65/EG, 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/EG (Zahlungsdiensterichtlinie), ABl. 2007 L 319/1. 102 Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.9.2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher, ABl. 2002 L 271/16. 103 Oben Fn. 100. 104 Oben Fn. 101. 105 KOM(2008) 614. Dazu etwa Artz, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 209–218. 106 v. Bogdandy/Bast-Bast, S. 526.

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Die Alternative Mindest-/Vollharmonisierung ist jedenfalls im Privatrecht nicht nur eine politische Frage oder eine solche zweckmäßiger Gesetzgebungstechnik, sondern auch der Rechtssetzungskompetenz der Union. Das hängt damit zusammen, dass die Rechtssetzungskompetenzen der Union, mit Ausnahme des subsidiären Auffangtatbestandes in Art. 352 AEUV/308 EG, auf das Binnenmarktziel bezogen sind und allein die Verschiedenheit der nationalen Privatrechte noch nicht zu einer spürbaren Wettbewerbsbehinderung führt; zum anderen damit, dass der Verbraucherschutz zwar eine Politikkompetenz, aber keine selbständige Regelungskompetenz der Union darstellt (Art. 4 Abs. 2 lit. f), 12, 114 Abs. 3, 169 AEUV/95 Abs. 3, 153 EG).107 Trotz alledem ist unverkennbar, dass die Unionsgesetzgebung den Verbraucher neuerdings primär in seiner Rolle als Nachfrager sieht und damit den Verbraucherschutz zunehmend enger mit dem Binnenmarktziel verknüpft.

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Im Privatrecht erweist sich der Verzicht auf eine zu hohe Regelungsdichte vorerst108 eher als Vorteil. Er belässt den Mitgliedstaaten die Chance, die Regelungsziele der Richtlinie in ihr nationales dogmatisches System und ihre eigene Fachbegrifflichkeit einzufügen. So konnte etwa der deutsche Transformationsgesetzgeber die Gewährleistungsvorschriften der Kaufgewährleistungsrichtlinie109 relativ problemlos in sein eigenes System der Vertragsverletzungen einbauen.110 Dass im Übrigen auch Mindestharmonisierung nicht immer die – wenigstens als Postulat festzuhaltende – Einheit der (mitgliedstaatlichen) Rechtsordnung garantieren kann, zeigt sich etwa daran, dass wir heute im BGB zwei begrifflich synonyme, aber sachlich denkbar verschiedene Widerrufsrechte (§ 130 Abs. 1 S. 2 BGB einerseits, der richtlinienumsetzende § 357 BGB andererseits) vorfinden.

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bb)

Defizite bei den Sanktionen

Richtlinien sind auch darin unvollkommene Rechtssätze, dass sie selten Sanktionen vorsehen, dazu mangels einer unionalen Regelungskompetenz grundsätzlich auch gar nicht befugt sind.111 Damit sie keine vollkommen zahnlosen Tiger bleiben, versucht man, die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Verhängung effektiver Sanktionen auf das Prinzip des effet utile zu stützen112 und wird in die Richtlinien eine entspre107 I.E. und mwN W.-H. Roth, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 14–45. 108 D.h. vor der Schaffung eines Europäischen Zivilgesetzbuches, dazu noch unten Rn. 47. 109 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. 110 Vertiefend hierzu Riehm, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 83, 97 f. 111 Dies folgt u.a. aus einem argumentum e contrario aus Art. 103 Abs. 2 AEUV/83 Abs. 2 EG, der eine Regelungskompetenz für Sanktionen gegen wettbewerbsrechtliche Verstöße ausdrücklich vorsieht. 112 Vgl. dazu BVerfGE 89, 155, 210 – Maastricht; Streinz, FS Everling (1995), S. 1502–1504; Zuleeg, JZ 1994, 1; Stationen der Rechtsprechung sind EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 ff.; EuGH v. 15.9.1998 – Rs. C-231/96 Edis, Slg. 1998, I-4951; EuGH v. 16.5.2000 – Rs. C-78/98 Preston u.a., Slg. 2000, I-3201. Johannes Köndgen

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chende Verpflichtung der Mitgliedstaaten aufgenommen,113 die diesen allerdings ein breites Transformationsermessen belässt114. Nur (und selbstverständlich) die Produkthaftungsrichtlinie115 sowie einige im engeren Sinne vertragsrechtlichen Richtlinien wie die Zahlungsdienste-116 und die Kaufgewährleistungsrichtlinie117 sehen genau umschriebene Sanktionen vor. Und es ist kein Zufall, dass es dann sogleich zu Friktionen mit dem nationalen Recht kommt. Nochmals am Beispiel der Zahlungsdiensterichtlinie: Dort sind bei der Umsetzung Zahlungspflichten der säumigen Bank, die man bisher als Aufwendungsersatz begriffen hatte, zu vertraglichen Schadensersatzpflichten ohne Verschulden geworden (§§ 675v Abs. 1, 675z S. 2 BGB) – im deutschen Schuldrecht nach wie vor eine Systemwidrigkeit (arg. §§ 280 Abs. 1 S. 2, 276 Abs. 1 BGB). Nicht zuletzt vom zivilen Sanktionsrecht her hat denn auch das Projekt einer Europäischen Vertragsrechts- bzw. Zivilrechtskodifikation starken Auftrieb erhalten. cc)

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Unmittelbare Wirkung von Richtlinien als Ausnahme

Gerade bei der Direktwirkung von Richtlinien hat die Differenzierung zwischen „unmittelbarer Geltung“ und „unmittelbarer Anwendbarkeit“ von Gemeinschaftsrecht118 Bedeutung. Die Geltung gegenüber dem Einzelnen ist im Verhältnis zum Mitgliedstaat (Vertikalverhältnis) auf Umsetzungsdefizite (versäumte oder fehlerhafte Transformation) beschränkt, aber wird dann durch den effet utile auch gefordert,119 in der jüngeren Rechtsprechung (mit etwas gesuchter Begründung) auch gestützt auf ein widersprüchliches Verhalten des seine Transformationspflicht verletzenden Staates.120 Zur Wahrung des mitgliedstaatlichen Transformationsermessens muss die unmittelbar wirkende Richtlinienvorschrift ferner inhaltlich unbedingt und hinreichend genau formuliert sein.121 Für Richtlinien mit privatrechtlichem Inhalt scheidet eine Direktwirkung ferner aus, wenn die Richtlinie nur Pflichten des Einzelnen begründet (sog. Belastungsverbot) oder im Horizontalverhältnis zwischen zwei Individuen Anwendung finden soll.122 Diese Komplementarität von Rechten und Pflichten beider Parteien ist im Privatrechtsverhältnis bzw. bei privatrechtlichen Richtlinien geradezu typischerweise gegeben. So löst etwa ein von der Richtlinie eingeräumtes Widerrufsrecht des Konsumentenkreditnehmers beim Kreditgeber eine entsprechende Beleh113 Exemplarisch Art. 23 der 2. Verbraucherkreditrichtlinie (Fn. 100). 114 Im Einzelnen Riehm, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 104 ff. 115 Richtlinie des Rates v. 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte (85/374/EWG), ABl. 1985 L 210/29. 116 Art. 74 ff. ZDRL. 117 Art. 3 KGRL. 118 Bereits oben, Rn. 10. 119 EuGH v. 4.12.1974 – Rs. 41/74 van Duyn, Slg. 1974, 1337 Rn. 12. 120 Erstmals EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Ratti, Slg. 1979, 1629 Rn. 22 f. 121 Ständige Rechtsprechung; zuletzt EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835. Aus der neueren Literatur Eilmansberger, JBl. 2004, 283, 286 ff. 122 EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Facini Dori, Slg. 1994, I-3325. Weitere Rechtsprechung bei Mörsdorf, EuR 2009, 221 f.

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rungspflicht und eine Verpflichtung zur Mitwirkung an der Rückabwicklung des Vertrages aus.123 Eine Horizontalwirkung lässt sich dann – und begrenzt auf den Fall fehlerhafter Umsetzung – allenfalls noch durch eine richtlinienkonforme Auslegung bzw. Fortbildung des nationalen Rechts erreichen.124 Freilich sind in der neuesten Rechtsprechung hinsichtlich des Ausschlusses horizontaler Direktwirkung Aufweichungstendenzen zu erkennen.125 Zum Ersten ist der EuGH bereit gewesen, einer Richtlinie Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht zuzubilligen, soweit eine Richtlinienvorschrift nur einen Grundsatz des Primärrechts konkretisiert, der seinerseits einer Horizontalwirkung fähig ist.126 Die Richtlinie bildet hiernach ein Anwendungsverbot für richtlinienwidriges nationales Recht im Privatrechtskonflikt, und zwar auch ohne dass der mitgliedstaatliche Richter zuvor eine Vorabentscheidung des EuGH eingeholt hat.127 Jedenfalls einer konkretisierenden Richtlinie kommt damit im Privatrechtskonflikt „negative Direktwirkung“ zu. Da diese „Symbiose“128 von Primär- und Sekundärrecht keineswegs ein Ausnahmefall ist, wird man dieser Judikatur einige präjudizielle Tragweite vorhersagen können.

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Auch das Urteil in der Rechtssache Wells129 wird in der Literatur z.T. als Tendenzwende gedeutet.130 Dort hatte sich im Ausgangsverfahren ein Grundstückseigentümer gegen die Umweltbehörde gewandt, die richtlinienwidrig131 ohne vorige Umweltverträglichkeitsprüfung den Betrieb eines Steinbruchs auf einem Nachbargrundstück genehmigt hatte. Der EuGH stellte zur Frage der Drittwirkung klar: „Bloße negative Auswirkungen auf die Rechte Dritter, selbst wenn sie gewiss sind, [rechtfertigen] es nicht, dem Einzelnen das Recht auf [die] Berufung auf die Bestimmungen einer Richtlinie gegenüber dem betreffenden Mitgliedstaat zu versagen“.132 Augenscheinlich ging es in diesem Fall eines öffentlichrechtlichen Dreiecksverhältnisses sowohl

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123 Zu diesem Beispiel ausführlich Stamm, ZBB 2005, 35, 38; neuestens EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 sowie EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, Slg. 2005, I-9273 = ZBB 2005, 442 m. Anm. Ehricke. 124 Dazu noch unten, Rn. 49 ff. 125 Überblick über die jüngste Rechtsprechung bei Mörsdorf, EuR 2009, 219, 222 ff. 126 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 74 ff.; fortgeführt durch EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, (noch nicht in Slg.) Rn. 50–54. Zur Würdigung des Mangold-Urteils vgl. Thüsing, ZIP 2005, 2149 f.; Mörsdorf, EuR 2009, 232 ff. In beiden Entscheidungen handelte es sich um ein – damals ungeschriebenes – primärrechtliches Verbot der Altersdiskriminierung, welches seit dem Lissabon-Vertrag zwanglos aus dem Gleichheitsgrundsatz gem. Art. 21 GRCh entwickelt werden kann. 127 EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, (noch nicht in Slg.) Rn. 53–56; dazu Thüsing, ZIP 2010, 199 f.; Mörsdorf, NJW 2010, 1046–1049. Verfahrensgegenstand war die Richtlinienwidrigkeit der arbeitsrechtlichen Kündigungsregelung in § 622 Abs. 2 S. 2 BGB. 128 Ausdruck von Mörsdorf, EuR 2009, 237. 129 EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02 Delena Wells, Slg. 2004, I-723 = DVBl. 2004, 370 m. Anm. Kerkmann, 1288 ff. 130 Baldus, GPR 2003/2004, 124 ff. 131 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 85/337/EWG des Rates v. 27.6.1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. 1985 Nr. L 175/40. 132 EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02 Delena Wells, Slg. 2004, I-723 Rn. 57. Johannes Köndgen

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um vertikale Direktwirkung gegenüber der Behörde wie auch um horizontale Direktwirkung unter den Grundstücksnachbarn. Diese Konstellation gilt weithin als unproblematisch.133 Sie lässt sich aber unschwer ins Privatrecht übertragen, wenn der Kläger etwa nicht die Behörde, sondern den Steinbruchbetreiber mit einer auf richtlinienwidriges privates Umweltrecht gestützten actio negatoria belangen würde. Ob auch gegenüber solch „regulatorischem“ Privatrecht das Belastungsverbot Bestand haben kann und ob bloße nachteilige „Auswirkungen“ wirklich anders zu behandeln sind als „Verpflichtungen“,134 muss derzeit noch als offen gelten. c)

Die Bedeutung der Begründungserwägungen

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Nicht nur in der Richtliniengebung, sondern auch in den anderen Rechtssetzungsakten der Union sind die gesetzgeberischen Begründungserwägungen gem. Art. 296 Abs. 2 AEUV/253 EG integraler Bestandteil des Gesetzgebungsdokuments und werden gemeinsam mit diesem amtlich publiziert. Wiederum ein Phänomen, welches uns aus der deutschen135 Rechtsquellen- und Methodenlehre nicht bekannt ist. Und wiederum sollten wir uns hüten, uns diesem Phänomen unbefangen mit den vertrauten inlandsrechtlichen Kategorien zu nähern.

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Unbezweifelbar scheint allerdings, dass das Problem eher in der Methoden- (genauer: der Rechtsanwendungs-)lehre als in der Rechtsquellenlehre zu verorten ist; denn nicht um die Bedingungen der Normentstehung und Normwirkung geht es, sondern um Normanwendung. Um ihrerseits eine selbständige Rechtsquelle darzustellen, fehlt es den Begründungserwägungen bereits an der notwendigen Bestimmtheit und an dem normtypischen Konnex von Tatbestand und Rechtsfolge. Es ist daher wohl unstreitig, dass aus den Begründungserwägungen selbst dann keine Rechte des Bürgers hergeleitet werden können, wenn der verfügende Teil ausnahmsweise Direktwirkung äußert.136 Andererseits sind die Begründungserwägungen augenscheinlich mehr als einfache Gesetzesmaterialien, die traditionell vor allem die historische und die sog. subjektiv-teleologische Interpretationsmethode anleiten. Gesetzesmaterialien – dies zeigt bereits ihre separate Veröffentlichung außerhalb des Gesetzblatts – stehen im Rang immer unter dem verabschiedeten Normtext. Sie sind nicht Auslegungsgegenstand, sondern nur Auslegungshilfe. Außerdem gehen sie zeitlich der Verabschiedung des Normtextes voraus, und deshalb kann sich kein Interpret ganz sicher sein, dass die in den Materialien zum Ausdruck gekommenen Zielprojektionen der Gesetzesverfasser auch tatsächlich Eingang in das Gesetzeswerk gefunden haben.

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Hingegen haben die Begründungserwägungen Teil an der Autorität und Dignität des publizierten Normtextes. Sucht man tatsächlich einmal nach nationalrechtlichen Vorbildern, dann käme man wohl am nächsten in Gestalt der in der Schweizer Gesetzgebungslehre und -praxis sogenannten Zweckartikel. Diese werden üblicherweise 133 Vgl. etwa Stuyck, CMLR 33 (1996), 1261; Craig/de Burca, EU Law (3. Aufl. 2003), S. 222. 134 Zweifelnd insoweit Baldus, GPR 2003/2004, 124, 125. 135 Anders etwa im spanischen Recht, wo die Gesetzesbegründung Teil der amtlichen Veröffentlichung ist. 136 GA Stix-Hackl, SchlA v. 25.11.2003 – Rs. C-222/02 Paul, Slg. 2004, I-9425 Tz. 77.

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einem Gesetzeswerk als Artikel 1 vorangestellt und fixieren in bewusst pauschalen Formulierungen die – mit Ernst Steindorff 137 zu sprechen – „Politik des Gesetzes“138. Auch der deutsche Wirtschaftsgesetzgeber bedient sich zunehmend dieser Technik.139 Von diesen Zweckartikeln unterscheiden sich die Begründungserwägungen primär durch einen höheren Detaillierungsgrad – der z.T. so weit geht, dass im normativen Teil der Wortlaut der entsprechenden Begründungserwägung praktisch dupliziert wird. Welche Wirkungen kommen also den Begründungserwägungen im Rechtsanwendungsprozess zu? Die Antwort, dass sie eines unter mehreren Auslegungselementen sind, ist ebenso richtig wie banal, denn diese Wirkung teilen sie mit normalen Gesetzesmaterialien. Was sie von letzteren unterscheidet, ist zunächst ihre prominentere Stellung im Mix der Auslegungselemente, also bei der Methodenwahl. Während die historische Interpretation anhand der Materialien nur eines der klassischen Auslegungselemente ist, welches überdies mit zunehmendem Alter eines Gesetzes immer mehr an Gewicht verliert, ist eine Begründungserwägung das primäre policy statement des Richtliniengebers und als solches die Richtschnur für jede teleologische Interpretation.140 Das gilt für die teleologische Extension genauso wie für die teleologische Restriktion und Reduktion. Aber während das teleologische Argument ansonsten in dem Sinne „frei“ ist, als es einen Focus für allgemeine Vernünftigkeits-, Effizienz- oder auch schlichte Praktikabilitätserwägungen bildet141, ist die „begründungserwägungskonforme“ Auslegung des Richtlinientextes striktes Gebot für den Anwender.142 „Anwender“ in diesem Sinne ist offenkundig nicht nur der umsetzende Mitgliedstaat und der über die pflichtgemäße Umsetzung wachende EuGH, sondern auch der nationale Richter, der sein eigenes Recht richtlinienkonform auslegt.143

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Als offen gelten muss die sich geradezu aufdrängende Frage, ob Begründungserwägungen auch die Basis für Analogieschlüsse bilden können. Das wird nach derzeitigem Stand der EuGH-Rechtsprechung noch klar zu verneinen sein. Der EuGH prak-

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137 Steindorff, FS Larenz (1973), S. 217. 138 Vgl. als Beispiel nur Art. 1 des schweizerischen Börsen- und Effektenhandelsgesetzes (BEHG): „Dieses Gesetz regelt die Voraussetzungen für die Errichtung und den Betrieb von Börsen sowie den gewerbsmäßigen Handel mit Effekten, um für den Anleger Transparenz und Gleichbehandlung sicherzustellen. Es schafft den Rahmen, um die Funktionsfähigkeit der Effektenmärkte zu gewährleisten.“ 139 Etwa in § 1 des Investmentgesetzes von 2003. 140 Exemplarisch die SchlA von GA Jacobs v. 20.3.1997 – Rs. C-45/96 Dietzinger, Slg. 1998, I-1199 Tz. 39 ff. 141 Anschaulich Gast, Juristische Rhetorik (3. Aufl. 1997), S. 170 ff. 142 Auch diese Bindung kann zu einer gewissen Beliebigkeit führen, wenn die Begründungserwägungen mehrere policies ohne hierarchische Stufung vorgeben. So hat die Rechtsprechung zur Produkthaftungsrichtlinie sich früher auf die BE1 gestützt, die „binnenmarktfunktional“ die Vereinheitlichung der Haftungsrisiken der Produzenten bezweckt; EuGH v. 25.4.2002 – Rs. C-183/00 Gonzalez Sánchez, Slg. 2002, I-3901 Rn. 3, 24, 25. Neuerdings stützt sich der Gerichtshof jedoch auch auf BE 9, die die Effektuierung des Verbraucherschutzes vorgibt; EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-285/08 Moteurs Leroy Somer, (noch nicht in Slg.) Rn. 27–31. 143 Dazu noch später unten Rn. 49 ff. Johannes Köndgen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

tiziert die Analogie (die bei uns als das Virtuosenstück kunstvoller Rechtsanwendung gilt) jedenfalls im Richtlinienrecht144 eher zurückhaltend.145 Das hat er etwa in der Frage erkennen lassen, ob die Schutzzwecke der Verbraucherkreditrichtlinie auch für denjenigen einschlägig sind, der sich für einen Verbraucherkredit verbürgt.146 Ein Grund für diese Enthaltsamkeit liegt auf der Hand. Angesichts des immer noch fragmentarischen Charakters vieler Richtlinien als leges imperfectae erweist sich schon das Auffinden einer „planwidrigen“ Lücke als problematisch.147 Des Weiteren respektiert der EuGH die Prärogative des Richtliniengebers und verlegt sich in Zweifelsfällen lieber auf eine extensive teleologische Auslegung. So hat das Gericht in der Rechtssache Dietzinger die vom Richtlinienwortlaut nicht mehr gedeckte Erstreckung des Haustürwiderrufsrechts auf Bürgschaften von Verbrauchern nicht mit einem Analogieschluss, sondern mit einer fragwürdigen Wortlaut- und teleologischen Interpretation gerechtfertigt.148 2.

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Verordnungen

Die Handlungsform der unmittelbar geltenden und unmittelbar anwendbaren Verordnung nach Art. 288 Abs. 2 AEUV/249 Abs. 2 EG hat der Europäische Privatrechtsgesetzgeber bisher relativ selten gewählt. Für die Methode der Privatrechtsgesetzgebung galt bisher, primär aus kompetenzrechtlichen Gründen149: Nicht Rechtsvereinheitlichung (durch Verordnung), sondern lediglich Rechtsangleichung (durch ausfüllungsbedürftige Richtlinien) ist das Generalziel. Verordnungen mit privatrechtlichem Gehalt werden zumeist auf die subsidiäre Ermächtigungsnorm des Art. 352 AEUV/308 EG gestützt, der auch eine nicht binnenmarktfunktionale Rechtssetzung durch die Union gestattet.150 Nicht zufällig intendiert die Mehrzahl dieser Verordnungen darum gar keine Harmonisierung150a, sondern stellt lediglich ein zu144 Zur Analogie im – eher kodifikatorischen – Verordnungsbereich vgl. EuGH v. 12.12.1985 – Rs. 165/84 Krohn, Slg. 1985, 3997 Rn. 12–30. Zur analogen Anwendung von Vorschriften des Primärrechts mwN Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 162 ff. 145 Dieser Befund auch schon bei Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbraucherrechts, S. 185. 146 EuGH v. 23.3.2000 – Rs. C-208/98 Berliner Kindl, Slg. 2000, I-1741. Der Gerichtshof spricht hier nicht einmal die Möglichkeit einer Analogie an. Immerhin der Sache nach werden im Rahmen der teleologischen Auslegung Analogiemöglichkeiten geprüft in den SchlA von GA Léger v. 28.10.1999 – Rs. C-208/99 Berliner Kindl, Slg. 2000, I-1741 Tz. 52 ff. Im Ergebnis drängte sich freilich eine analoge Anwendung der Verbraucherkreditrichtlinie nicht auf. 147 I.E. Neuner, in diesem Band, § 13 Rn. 30. 148 EuGH v. 20.3.1997 – Rs. C-45/96 Dietzinger, Slg. 1998, I-1199 Rn. 17 ff. 149 Oben Rn. 34a. 150 Für die Bundesrepublik hat das BVerfG diese Kompetenz jetzt unter den Vorbehalt eines nationalen Gesetzgebungsakts nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG gestellt; BVerfGE 123, 267 Rn. 325–328 – Lissabon-Vertrag. 150a Vgl. als Gegenbeispiele aber etwa VO (EG) Nr. 593/2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht vom 17.6.2008 („Rom I“); VO (EG) Nr. 864/2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht vom 11.7.2007 („Rom II“); VO (EG) Nr. 1371/2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr, ABl. Nr. L 315/14.

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sätzliches und „optionales“ Rechtsregime neben den 27 mitgliedstaatlichen Regimes zur Verfügung (sog. 28. Modell). Beispiele hierfür sind die Verordnungen über die Gemeinschaftsmarke151, über die Societas Europea 152 und über die europäische Genossenschaft153. Manche Anwendungsfälle privatrechtlicher Verordnungen sind überdies auch inhaltlich nicht ganz unproblematisch. a)

Die Verordnungen über Gebühren beim grenzüberschreitenden Geldtransfer und bei grenzüberschreitender Mobilfunknutzung

Mit der Zahlungsentgelte-VO von 2001154 erstrebte die Kommission eine Angleichung des Gebührenniveaus im grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr an das sehr viel niedrigere Niveau im Inlandsverkehr. Da jahrelange politische Appelle an die Kreditwirtschaft, kostengünstigere internationale Zahlungsverkehrsleistungen anzubieten, nicht gefruchtet hatten, griff man zur Verordnung und dekretierte identische Gebühren für Inlands- und Auslandszahlungsverkehr in Euro (Art. 3 Zahlungsentgelte-VO). Ähnliches ist geschehen zum Zwecke der Dämpfung der für die grenzüberschreitende Mobilfunknutzung von den Mobilfunkanbietern erhobenen sog. Roaming-Gebühren.155 Gestützt auf Art. 95 EG (jetzt Art. 114 Abs. 1 AEUV) hat die Verordnung Preisobergrenzen eingeführt (Art. 4b Abs. 2, 6a Abs. 4 Roaming-VO) und zugleich die Preistransparenz für den Kunden verbessert (Art. 6 Roaming-VO). Beide Verordnungen mag man insofern als einen Sündenfall ansehen, als sie zwar durch das Binnenmarktziel gedeckt sind, aber als Preisregulierung in den sensiblen Kernbereich der Privatautonomie eingreifen und deshalb zusätzlich am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen sind. Da die Kreditinstitute auch nach der Verordnung frei sind, das inländische Preisniveau anzuheben, besteht allerdings keine absolute Preisfixierung nach dem Muster staatlicher Gebührenordnungen; auch den Mobilfunkanbietern ist die Preisgestaltungsfreiheit nicht vollständig genommen. In beiden Verordnungen sind die Preiskontrollmaßnahmen außerdem befristet. b)

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Die Verordnung über die Societas Europea

Die rechtliche Ausgestaltung der Societas Europea ist von Anfang an als Verordnung geplant gewesen, da das politische Ziel die Bereitstellung einer einheitlichen gemeinschaftsweiten Organisationsform war. Als Konsequenz politischer Kompromisse in 151 Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates v. 26.2.2009 über die Gemeinschaftsmarke, ABl. Nr. L 78/1. 152 Verordnung (EG) Nr. 2157/2001/EG des Rates v. 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. 2001 Nr. L 294/1. 153 Verordnung (EG) Nr. 1435/2003 des Rates v. 22.7.2003 über das Statut der Europäischen Genossenschaft (SCE), ABl. Nr. L 207/1, ber. ABl. 2007 L 49/35. 154 Verordnung (EG) Nr. 2560/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.12.2001 über grenzüberschreitende Zahlungen in Euro, ABl. 2001 Nr. L 344/13. 155 Verordnung (EG) Nr. 717/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.6.2007 über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 2002/21/EG, ABl. 2007 L 171/32, geändert durch Verordnung (EG) Nr. 544/ 2009 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 18.6.2009, ABl. 2009 L 167/12. Johannes Köndgen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

der langen Entstehungsgeschichte der Verordnung gerieten jedoch zahlreiche Wahlrechte in das Regelwerk und führten letztlich zur Aufgabe des Ziels einer strikt einheitlichen Organisationsstruktur. Nicht anders als bei einer richtlinienförmigen Regelung wurden deshalb mitgliedstaatliche Ausführungsgesetze notwendig, um die von der Verordnung eröffneten Wahlrechte zu implementieren. Die unmittelbare Anwendung der Verordnung ist dadurch erheblich eingeschränkt.156 Die Arbeitnehmermitbestimmung wurde sogar gänzlich in eine Richtlinie157 ausgelagert. c)

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Ein Europäisches Vertragsgesetzbuch als Verordnung? 158

Die bislang praktizierte Art der Privatrechtsvereinheitlichung durch punktuell regelnde und ausfüllungsbedürftige Richtlinien gilt heute nicht mehr als der Weisheit letzter Schluss.159 Das Projekt eines Europäischen Vertragsgesetzbuches nimmt, nach drei Mitteilungen der Kommission160, Gestalt an. Derzeit liegt in Gestalt des Draft Common Frame of Reference ein privater Expertenentwurf mit der Absicht einer Kodifikation auf der Ebene allgemeiner Prinzipien des allgemeinen Vertragsrechts und der praktisch wichtigsten Vertragstypen vor.161 Auch hier stellt sich die Frage des geeignetsten Regelungsinstruments. Die Verwirklichung in einer Richtlinie würde offenkundig den erwünschten Vereinheitlichungseffekt nicht herstellen können. Ein „Restatement of Contracts“ nach US-amerikanischem Vorbild passt eher in eine Fallrechtsordnung denn als Instrument der Angleichung nationaler Kodifikationen.162 Die Präferenzen liegen derzeit bei einer Verordnung als optionales 28. Modell oder auch einer blossen Empfehlung (model code) – wobei die allgemeinverbindliche Verordnung einer Empfehlung nach einer entsprechenden Experimentierphase auch

156 Zu den hieraus resultierenden Detailfragen vgl. etwa J. Wagner, NZG 2002, 985, 985 ff.; Casper, FS P. Ulmer (2003), S. 51 ff. 157 Richtlinie 2001/86/EG des Rates v. 8.10.2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, ABl. 2001 L 294/22. 158 Die Thematik wird hier nur vollständigkeitshalber gestreift; vgl. i.Ü. Schmidt-Kessel, in diesem Band § 17. 159 Vgl. etwa Müller-Graff, in: Hartkamp u.a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code (3. Aufl. 2004), S. 77, 78, 82 ff. 160 Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament v. 11.7.2001 „zum Europäischen Vertragsrecht“, KOM(2001) 398 endg, ABl. 2001 C 255/1; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 12.2.2003, „Ein kohärenteres Europäisches Vertragsrecht – ein Aktionsplan“, KOM(2003) 68 endg, ABl. 2003 C 63/1; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 11.10.2004 „Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen“, KOM(2004) 651 endg. 161 Inzwischen bereits schon auf mehrere Bände angewachsen; vgl. v. Bar/Clive, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Full Edition. Die Sekundärliteratur dazu ist bereits unabsehbar; vgl. nur Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der gemeinsame Referenzrahmen (2009). 162 Auf diesen fundamentalen Unterschied weist zu Recht Müller-Graff, in: Hartkamp u.a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code (3. Aufl. 2004), S. 85 f., hin.

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§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

nachfolgen könnte.163 Untypisch wäre eine Verordnung allemal: Sie soll keinen hohen Detaillierungsgrad aufweisen und lediglich Prinzipien mit „offener Textur“ regeln. Als Methode optimaler Vereinheitlichung kann dies nur funktionieren, wenn für die mit der Konkretisierung der Prinzipien betraute Judikatur eine grenzüberschreitende Präjudizienbindung vorgesehen wird. 3.

Gemeineuropäische Rechtsprinzipien des Privatrechts

Unter den klassischen Rechtsquellen ist ein europäisches Gewohnheitsrecht praktisch nicht existent. Die Bildung von Gewohnheitsrecht ist schon im nationalen Kontext pluralistischer Gesellschaften fragwürdig geworden, umso mehr unter dem Dach eines supranationalen Verbundes mit noch lange nicht konsolidierten institutionellen und legislativen Strukturen. Wenigstens zum Teil werden die Funktionen des Gewohnheitsrechts in der Union durch den Rückgriff auf mitgliedstaatenübergreifende Rechtsgrundsätze substituiert.163a Diese hatten bisher ihren Hauptort im EU-Verfassungsrecht, insbesondere im Bereich der Grund- und Menschenrechte sowie der Staatszielbestimmungen, und zwar unter Rekurs auf die „gemeinsame Verfassungstradition der Mitgliedstaaten“164. Diese Funktion ist mit der Erhebung der Europäischen Grundrechtecharta zum Unions-Primärrecht weitgehend obsolet geworden. Im Privatrecht wird die Suche nach „gemeinsamen Lösungen“ in Gestalt gemeineuropäischer Rechtsprinzipien vor allem von jenen propagiert, die das Projekt eines „European Civil Code“ derzeit für illusorisch halten.165 Es geht dabei um Strukturprinzipien, deren Generalisierungsniveau mehrheitlich über jenem der von Rechtsvergleichern gesammelten „European Principles“ liegt. Gleichwohl sind sie nicht lediglich Interpretationshilfe für bestehende Rechtsakte,166 sondern, sozusagen als „Harmonisierung von unten“167, originärer Teil des Gemeinschaftsrechts. Ausdrücklich autorisiert ist die Geltung solcher Prinzipien in Art. 340 Abs. 2 AEUV/288 Abs. 2 EG für den Bereich der außervertraglichen Staatshaftung, konkretisiert durch die Francovich-Rechtsprechung.168 Freilich sind die ausschließlich für das Staatshaftungsrecht rezipierten allgemeinen Grundsätze des Schadensrechts169 wohl kaum Teil des Europäischen Privatrechts. Einer auf der Verletzung von Gemeinschaftsrecht (z.B. 163 Vgl. Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament v. 11.7.2001 „zum Europäischen Vertragsrecht“, KOM(2001) 398 endg, ABl. 2001 C 255/1, Ziff. 62 ff.; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 11.10.2004 „Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen“, KOM(2004) 651 endg, Ziff. 92. 163a Vgl. allgemein Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 166 ff. 164 Resümierend Bleckmann, NVwZ 1993, 824, 825 f. 165 Vgl. etwa van Gerven, in: Hartkamp u.a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code (3. Aufl. 2004), S. 101 f. 166 So aber wohl Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 35. 167 Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 271. 168 EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich, Slg. 1991, I-5357. 169 Vgl. insbes. EuGH v. 28.4.1971 – Rs. 4/69 Lütticke, Slg.1971, 325. Zum Ganzen Wurmnest, Grundzüge eines europäischen Haftungsrechts (2003); Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 337 ff. Johannes Köndgen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Kartellrechtsverstößen) beruhenden „gemeineuropäischen“ Deliktshaftung unter Privaten ist der EuGH nicht näher getreten,170 hat aber immerhin auf einige Sanktionsgrundsätze zur Wahrung des effet utile der Kartellverbote verwiesen, z.B. auf die Einbeziehung des entgangenen Gewinns und der Zinsen in die Schadensberechnung.171 Im Übrigen hat er sich nur auf sehr hoch generalisierte Prinzipien wie das Vertrauensprinzip (principle of legitimate expectation), Treu und Glauben (good faith) oder venire contra factum proprium (estoppel) gestützt.172 Zum Inhalt des deliktischen Schadensersatzes ist auf das schadensrechtliche Bereicherungsverbot und auf das Mitverschuldensprinzip rekurriert worden.173 Verweigert hat der EuGH die Anerkennung einer „europäischen“ Aufrechnung.174

IV.

„Indirekte“ Wirkungen von Unionsrecht: primär- und sekundärrechtskonforme Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts

49

Von den Grundlagen der primärrechtskonformen und der richtlinienkonformen Auslegung ist an anderer Stelle in diesem Band zu reden.175 Hier interessiert nur der eigenartige theoretische Status dieses Methodeninstruments im Grenzgebiet zwischen Rechtsgeltung (Rechtsquellenlehre) und Rechtsanwendung (Methodenlehre).

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Im neueren Schrifttum gewinnt eine differenzierende Perspektive Zulauf. Die primärrechtskonforme Auslegung gilt als Konsequenz des Primats des Unionsrechts. Damit wird sie als Geltungsproblem, oder genauer: als Kollisionsregel zugunsten eines Vorrangs höherrangigen Rechts begriffen, der sich bei Unmöglichkeit primärrechtskonformer Auslegung sogar in der Nichtanwendung unionswidrigen nationalen Rechts äußert.176 Man mag hier von Geltungsvorrang oder von „derogatorischem“ Vorrang sprechen.177 Hingegen soll es bei der richtlinienkonformen Auslegung lediglich um einen „interpretatorischen“ Vorrang178 gehen, weil dem Richtlinienrecht im Gegen-

170 Zu den Gründen van Gerven, in: Hartkamp u.a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code (3. Aufl. 2004), S. 109 f. In der Rs. C-453/99 Courage und Crehan, Slg. 2001, I-6297, hat der EuGH lediglich gefordert, dass es überhaupt ein privatrechtliches remedy geben müsse. 171 EuGH v. 13.7.2006 – Rs. C-295/04 Manfredi, Slg. 2006, I-6619 Rn. 95–97. 172 Rechtsprechungsübersicht bei Usher, ERPL 1 (1993), 109, 113 f. 173 EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-453/99 Courage und Crehan, Slg. 2001, I-6297 Rn. 30, 31 ff. 174 EuGH v. 10.7.2003 – Rs. C-87/01 P Kommission ./. CCRE, Slg. 2003 I-7617; dazu Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 346 f. 175 Zur richtlinienkonformen Auslegung W.-H. Roth, in diesem Band, § 14; zur primärrechtskonformen Auslegung Leible/Domröse, in diesem Band, § 9. 176 EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673 Rn. 11; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 Colorell Pension Trustees, Slg. 1994, I-4389 Rn. 29. 177 Letztere Vokabel bei Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 47, 64 ff. Zu den Verfechtern dieser Differenzierung zählen der Sache nach auch Jarass/Beljin, JZ 2003, 768, 774 f.; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 49. 178 Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 47, 64 ff.; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 49; zuletzt Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 123 f.

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§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

satz zum Primärrecht nur ganz ausnahmsweise unmittelbare Wirkung zukommt179 und die richtlinienkonforme Auslegung Anwendung und Interpretation des nationalen Rechts bleibt. Gegen diese Differenzierung ist, soweit sie als rein analytische verstanden wird, nichts einzuwenden. Thematisiert man die Vorrangfrage hingegen von den jeweiligen Rechtswirkungen der die konforme Anwendung determinierenden Normen, dann ist die Unterscheidung, und dies wohl im Einklang mit der jüngsten Rechtsprechung des EuGH180, erheblich zu relativieren. Gewiss kommt, ähnlich wie im nationalen Recht der verfassungskonformen Auslegung, auch der unionsrechtskonformen Auslegung (in beiden Varianten) ein besonderer Rang unter den übrigen Auslegungsinstrumenten zu. Während die Methodenwahl unter den übrigen Instrumenten relativ frei ist und allenfalls schwache Vorrangregeln anerkannt werden,181 ist der mitgliedstaatliche Richter zur unionsrechtskonformen Auslegung verpflichtet, wann immer die Auslegung der nationalen Norm nach dem nationalen Methodenprogramm zu einer Divergenz vom Unionsrecht führen würde. Wichtiger als diese methodische Vorrangregel ist aber ein Zweites. Die einzelnen Instrumente des nationalen Methodenkanons – und damit auch die Wahl unter ihnen – sind relativ ergebnisoffen. Hingegen ist mit der Entscheidung für unionsrechtskonforme Auslegung das Ergebnis der Rechtsfindung bereits weitgehend präjudiziert, da die Auslegung gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG einem Optimierungsgebot hinsichtlich des Ziels der Richtlinie unterworfen ist,182 jedenfalls bis zur Wortlautgrenze bei der Interpretation des mitgliedstaatlichen Rechts. Diese Wirkungsmacht des Unionsrechts bringt auch die Forderung des EuGH zum Ausdruck, dass das nationale Gericht „im Rahmen seiner Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen“ hat.183 Zwar steht auch hier zwischen Methodenwahl und Ergebnis der Rechtsfindung noch einmal ein „mediatisierender“ Interpretationsvorgang. Das ändert aber nichts daran, dass das Unionsrecht dabei Teil des materiellen Entscheidungsprogramms ist und dass das Unionsrecht auch hier eine partielle Nichtanwendung des nationalen Rechts – Nichtanwendung des nach nationalem Methodenprogramm maßgeblichen Inhalts – zur Folge hat.

179 Bereits oben Rn. 37 ff. 180 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113. 181 Vgl. etwa Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 377 ff.; aus verfassungsrechtlicher Sicht Müller/Christensen, Juristische Methodik I, S. 450 ff., 487 ff. 182 So ausdrücklich EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113. 183 So zuletzt EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, (noch nicht in Slg.) Rn. 48.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

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V.

Europäisches Soft Law

1.

Mitteilungen und Aktionspläne

a)

„Interpretative“ Mitteilungen der Kommission

Richtlinieninterpretierende Mitteilungen der Kommission – zum Teil auch „Leitlinien“ genannt – finden sich vor allem im öffentlichen Recht, wo sie sich mit den Verwaltungsvorschriften des deutschen Rechts vergleichen lassen. Wie diese haben sie allgemeine Geltung und werden von den Adressaten faktisch auch befolgt.184 Im Privatrecht haben sie bisher keine Bedeutung. Sie wären auch gerade dort problematisch, weil sie die Ausfüllungsspielräume der Mitgliedstaaten beschneiden würden. Die Kommission ist selbst weder Gesetzgeber, der sein eigenes Werk „authentisch“ interpretieren könnte,185 noch Regulierungsbehörde, die mit der Konkretisierung einer Rechtsquelle betraut ist. Wo Richtlinien nur den Charakter von Rahmenregelungen haben, wird zu ihrer Konkretisierung denn auch zunehmend der Weg über sog. Ausführungsrichtlinien (als delegierte Rechtssetzung) beschritten.186 Einfache Mitteilungen, vor allem in der Form sog. Grün- und Weißbücher, spielen allerdings eine wichtige Rolle als Konsultationsdokumente im Vorfeld der Rechtssetzung. b)

Empfehlungen und Aktionspläne

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Empfehlungen kommt nach Art. 288 Abs. 5 AEUV/249 Abs. 5 EG keine Verbindlichkeit zu. Trotzdem ist es gerechtfertigt, sie als eine Quelle von soft law zu begreifen, weil der EuGH von den Mitgliedstaaten und ihren Organen verlangt, Empfehlungen zwar nicht zu „befolgen“, aber sie doch zu „berücksichtigen“, d.h. sich damit auseinanderzusetzen und die Nichtbefolgung ggf. zu begründen.187 Im Europäischen Privatrecht wird gegenwärtig darüber nachgedacht, das geplante Europäische Vertragsgesetzbuch durch Empfehlung eines model code in Kraft zu setzen.188

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Aktionspläne – aus dem Privatrecht zu nennen der ambitionierte Financial Services Action Plan von 2002 sowie der Aktionsplan zum Europäischen Vertragsrecht189 – sind nicht einmal eine „weiche“ Rechtsquelle. Sie begründen allenfalls eine lose Selbstbindung der Kommission, eine bestimmte Arbeitsagenda abarbeiten zu wollen.

184 Vgl. nur BGH, NJW-RR 2004, 689 („Leitlinien“ zur GVO für Vertikalverträge Nr. 2790/99 v. 22.12.1999). 185 Auf diesen Fall beschränkt mit Recht Herdegen, ZHR 155 (1991), 52, 56 die Verbindlichkeit auslegender Erklärungen als authentische Interpretation. 186 S. nachfolgend Rn. 55 f. 187 EuGH v. 13.12.1989 – Rs. 322/88 Grimaldi, Slg. 1989, 4407 Rn. 18. 188 Bereits oben Rn. 47. 189 Oben Rn. 47.

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§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

2.

„Expertenrecht“

a)

Delegation auf Fachleute: Ausführungsrichtlinien unter dem sog. LamfalussyProzess

Der Lamfalussy-Prozess ist eine für bank- und kapitalmarktrechtliche Richtliniengesetzgebung eingeführte Erweiterung und Verfeinerung des sog. Komitologieverfahrens190. Rechtsquellentheoretisch handelt es sich um eine mehrstufige Rechtssetzungsdelegation, bei der der Richtliniengeber nur noch Grundprinzipien fixiert, die Ausformung der (in der Regel überaus technischen) Details der Kommission (de facto: der zuständigen Generaldirektion) überträgt, die sich ihrerseits wieder auf den Rat und die Empfehlungen eines Expertengremiums, des Committee of European Securities Regulators (CESR), stützt.191 Das mag man als Expertenrecht nach dem topbottom-Schema bezeichnen. Nach dem bottom-top-Schema wird hingegen bei dem sog. Basler Eigenkapital-Akkord verfahren. Hier haben zunächst die Experten des bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) angesiedelten bankaufsichtsrechtlichen Ausschusses das Sagen, dessen Ergebnisse dann weitgehend unverändert in eine europäische Richtlinie umgesetzt werden.192

55

Es ist kein Zufall, dass diese Formen von Expertenrecht sich bisher nur im Bank- und Kapitalmarktaufsichtsrecht etablieren konnten. Und es gehört keine Sehergabe zu der Prognose, dass sie im Europäischen Privatrecht keine Rolle spielen werden. Ihre Vorzüge erweisen sie, wo es hochtechnische und hochkomplexe Sachverhalte wie Eigenkapitalvorschriften oder Börsenkursmanipulation zu regeln und diese Regeln an sich rasch ändernde Rahmenbedingungen anzupassen gilt.193 Beides trifft auf das Privatrecht schwerlich zu. Auf das „klassische“ Privatrecht ohnedies nicht, denn dieses strebt traditionell und aus guten Gründen ein hohes und geradezu zeitloses Generalisierungsniveau seiner Regeln an; aber auch nicht auf das regulative Privatrecht, weil auch hier noch „in dubio pro libertate“ gilt und der Gesetzgeber zumeist erst bei Versagen privater Selbstregulierung nachsteuert. Die typische Erscheinungsform des Expertenrechts im Privatrecht sind darum die sog. Kodizes.

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b)

„Koregulierung“: Codes of Best Practice

Ihre Herkunft haben die Kodizes, auch Codes of Best Practice genannt, in den angelsächsischen Ländern, und dort wieder primär im britischen Gesellschafts-, Bankund Finanzmarktrecht. Und alles, was vom Finanzplatz London kommt und einen englischen Namen trägt, wird im Standortwettbewerb bereitwillig aufgenommen. In Deutschland hat bekanntlich der Corporate Governance-Kodex für börsennotierte Aktiengesellschaften eine erstaunliche Karriere gemacht. Im Gemeinschaftsprivat-

190 Zu letzterem statt vieler Streinz-Gellermann, vor Art. 250 EG Rn. 19 ff. Speziell zur Normsetzung im Kapitalmarktrecht Schmolke, NZG 2005, 912 ff. 191 Zu den hier nicht weiter interessierenden Einzelheiten Kalss, in diesem Band, § 21 Rn. 5–10. 192 Einzelheiten bei Köndgen, in: Basedow u.a. (Hrsg.), Economic Regulation and Competition (2002), S. 43 f. 193 Eingehender hierzu Köndgen, AcP 206 (2006), 477 ff.; 481 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

recht finden wir bisher erst einen Anwendungsfall: den „Verhaltenskodex über vorvertragliche Informationen für wohnungswirtschaftliche Kredite“ (2001)194.

58

Die Entwicklung dieses Kodex ist von der Kommission angeregt, begleitet und in Form einer Empfehlung „begrüßt“ worden. Seine Verbindlichkeit beruht einzig auf einer Selbstverpflichtung der europäischen Dachverbände des Hypothekarkreditgewerbes, die diese Selbstverpflichtung „nach unten“ an ihre Mitgliedsverbände bzw. -institute weitergeben. Die Notifizierung der Selbstverpflichtung erfolgt unmittelbar bei der Kommission. Der faktische Umsetzungsgrad ist mit 90 % recht hoch, allerdings gibt es in einigen wenigen Mitgliedstaaten Ausreißer, insbesondere in Frankreich und Spanien. Die Kommission selbst sieht den Kodex als ein wichtiges Pilotprojekt an.

59

Unstreitig ist zunächst: Kodizes passen nicht in den Katalog der Handlungsformen in Art. 288 Abs. 1 und 5 AEUV/249 Abs. 1 und 5 EG. Die Kompetenz der Kommission, nach Art. 288 AEUV/249 EG Empfehlungen auszusprechen, deckt nicht den Fall richtlinienvertretender privater Normsetzung. Kodizes sind auch nicht mit anderen Formen von soft law, wie dem Komitologieverfahren, vergleichbar. Sie sind andererseits nicht schlichte Selbstregulierung, da sie im Einvernehmen zwischen Kommission und Fachverbänden entwickelt, angewendet und evaluiert werden. Die Kommission selbst bezeichnet sie als „Koregulierung“ und scheint diesen Modus der Rechtssetzung für zukunftsfähig zu halten.195 Da der Hypothekarkreditkodex ohne Zweifel richtlinienvertretend ist, die Mitwirkung der Gemeinschaft aber nur über die Kommission erfolgt, stellt sich offenkundig das Problem der parlamentarischen Verantwortlichkeit.196 Letzteres könnte wohl durch eine entsprechende Information des Parlaments entschärft werden.197 Wegen des richtlinienvertretenden Charakters ist aber darüber hinaus nach der Sicherstellung des effet utile, also nach hinreichender Sanktionierung, zu fragen. Der Kodex selbst überträgt die Compliance-Kontrolle den nationalen Beschwerde- und Ombudsmannstellen. Die Kommission überwacht seine Anwendung, freilich nicht durch Prüfung einzelner Kreditinstitute, sondern nur als allgemeine Effektivitätskontrolle. Dies fällt hinter die Sanktionen zurück, die z.T. im britischen System vorgesehen sind.198 Die ultimative Sanktionsdrohung bleibt demnach, den Richtlinienknüppel aus dem Sack zu holen und eine ineffektive Koregulierung durch ius strictum zu ersetzen.

194 Europäische Vereinbarung über einen freiwilligen Verhaltenskodex über vorvertragliche Informationen für wohnungswirtschaftliche Kredite v. 5.3.2001; dazu monographisch Berresheim, Europäischer Informationsverhaltenskodex der Realkreditwirtschaft (2008); ferner Schmies, ZBB 2003, 277, 287 ff. 195 Vgl. Europäische Kommission, Weißbuch: Europäisches Regieren, KOM(2001) 428 endg, S. 6, 27 f. 196 Schmies, ZBB 2003, 277, 280. 197 Auch hierzu die Vorschläge von Schmies, ZBB 2003, 277, 290. 198 Schmies, ZBB 2003, 277, 288.

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§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

VI. Résumé und Ausblick Die nationale, traditionelle Rechtsquellenlehre hat infolge ihrer im Wesentlichen formalen Regeln zur europäischen Rechtsquellenlehre bisher wenig beizusteuern. Auch in der Rechtsquellenlehre hat sich nämlich das supranationale Recht noch nicht hinreichend von den traditionellen Leitsternen des Völkerrechts und des nationalen Rechts emanzipieren können. Im Besonderen die Streitfragen um die europäischen Privatrechtsquellen lassen sich mit dem theoretischen und methodischen Instrumentarium der Rechtsquellenlehre nicht befriedigend lösen. Not tut daher eine autonome europäische Rechtsquellenlehre.

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Auch wenn die zentrale Frage nach dem Geltungsradius des Europäischen Primärund Sekundärrechts sich zunächst als typisch rechtsquellentheoretische Problematik, nämlich als solche des Stufenbaus der Rechtsordnung, präsentieren mag: die Würfel fallen ganz woanders und gehorchen sehr viel elementareren und wertungsgeladenen Prinzipien. Letztlich geht es um die altbekannten Grundsatzprobleme und Antinomien des Privatrechts, nämlich um Markteffizienz und Marktversagen, um Privatautonomie und staatliche Regulierung, um unternehmerische Freiheit und Verbraucherschutz, um Selbstverantwortlichkeit und Paternalismus.

61

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Abschnitt 2 Primärrecht § 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts Matthias Pechstein/Carola Drechsler

Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rn. 1–2

II. Rechtliche Unterscheidung zwischen intergouvernementalem und supranationalem Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsnatur des supranationalen Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsnatur des intergouvernementalen Unionsrechts . . . . . . . . . . . . .

3–8 4–6 7–9

III. Anzuwendende Methodengrundsätze im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . .

10–13

IV. Auslegungsmethoden im supranationalen Unionsrecht . . . 1. Stellung des EuGH im Rahmen von Auslegungsfragen . . 2. Einzelne Auslegungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . a) Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung b) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . c) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . d) Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Rechtsvergleichende Methode . . . . . . . . . . . . . 3. Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander . . . . . V. Auslegungsmethoden im intergouvernementalen Unionsrecht 1. Auslegung völkerrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . 2. Auslegungsmethoden gem. Art. 31 WVK . . . . . . . . . a) Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung b) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . c) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergänzende Auslegungsmittel Art. 32 WVK . . . . . . . a) Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsvergleichende Auslegung . . . . . . . . . . . . . 4. Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14–40 15–16 17–37 18–22 23–27 28–31 32–33 34–38 39–40 41–54 42–44 45–49 46 47 48–49 50–53 51 52–53 54

VI. Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55–60

VII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61–66

I. Einleitung

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Literatur: Wilfried Bernhardt, Verfassungsprinzipien – Verfassungsfunktionen – Verfassungsprozessrecht im EWG-Vertrag (1987); Albert Bleckmann, Die Rechtsvergleichung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: ders. (Hrsg.), Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht (1986), S. 105–112; ders., Zu den Auslegungsmethoden des Europäischen Gerichtshofs, NJW 1982,

224

Matthias Pechstein/Carola Drechsler

§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts 1177–1182; Carsten Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft (1998); Mariele Dederichs, Die Methodik des EuGH. Häufigkeit und Bedeutung methodischer Argumente in den Begründungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (2004); Ulrich Everling, Richterliche Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 2000, 217–227; Pierre Pescatore, Recht in einem mehrsprachigen Raum, ZEuP 1998, 1–12; Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas (2001); Michael Potacs, Effet utile als Auslegungsgrundsatz, EuR 2009, 465–487; Werner Schroeder, Die Auslegung des EURechts, JuS 2004, 180–186; Isabel Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht. Die Auslegung der mehrsprachig verbindlichen Rechtstexte durch den Europäischen Gerichtshof (2004); Rudolf Streinz/Christoph Ohler/Christoph Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU (3. Aufl. 2010). Rechtsprechung: EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Amministrazione delle finanze dello Stato ./. Denkavit Italia, Slg. 1980, 1205; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T. ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415; EuGH v. 12.11.1998 – Rs. C-149/97 Institute of the Motor Industry ./. Kommission, Slg. 1998, I-7053.

I.

Einleitung

Auslegung als „Rekonstruktion des dem Gesetze innewohnenden Gedankens“1 erfolgt mit unterschiedlichen Methoden, welche auch nebeneinander angewandt werden können. Für das Recht der Europäischen Union bieten sich zur Auslegung der Vertragsnormen drei verschiedene Methodengrundsätze an. Während einmal von den für das Völkerrecht geltenden Auslegungsgrundsätzen ausgegangen werden könnte, könnte auch auf die nationalen Auslegungsgrundsätze zurückgegriffen werden, aber auch auf spezielle europarechtliche Grundsätze. Prinzipiell werden auch bei der Interpretation der Rechtsnormen im Europarecht die bekannten Auslegungsmethoden angewandt. In erster Linie finden die teleologische2, die systematische3 und die grammatikalische4 Methode Anwendung. Anders als im nationalen Recht hat die historische Methode für die Auslegung des europäischen Primärrechts nur sehr eingeschränkte Bedeutung. Dies geht auf die Besonderheiten der Rechtsnatur des Unionsrechts zurück, auf welche im Folgenden einzugehen sein wird.

1

Zunächst werden die Besonderheiten des Europarechts mit der weiterhin erforderlichen Unterteilung in einen intergouvernementalen und einen supranationalen Bereich dargestellt. Sodann werden für beide Bereiche die angewandten Auslegungsmethoden im Primärrecht analysiert. Neben den bekannten Auslegungsmethoden

2

1 So Savigny, zitiert nach: Zippelius, Methodenlehre, S. 42. 2 EuGH v. 29.11.1956 – Rs. 8/55 Fédération Charbonnière de Belgique ./. Hohe Behörde, Slg. 1956, 291, 311; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T. ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415 Rn. 20. 3 EuGH v. 31.3.1971 – Rs. 22/70 Kommission ./. Rat, Slg. 1971, 263 Rn. 15/19 – AETR; EuGH v. 15.6.1978 – Rs. 149/77 Defrenne ./. SABENA, Slg. 1978, 1365 Rn. 15 – Defrenne III. 4 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels ./. Bedrijfsvereniging voor de Metaalindustrie en de Electrotechnische Industrie, Slg. 1985, 469 Rn. 11 f.; EuGH v. 12.11.1998 – Rs. C-149/97 Institute of the Motor Industry ./. Kommission, Slg. 1998, I-7053 Rn. 14, 15.

Matthias Pechstein/Carola Drechsler

225

2. Teil: Allgemeiner Teil

und ihren Besonderheiten soll die Rechtsfortbildung im Primärrecht dargestellt werden. Die Rechtsfortbildung selbst wird zwar teilweise als Auslegungsmethode angesehen, sie geht aber über eine Auslegung des geltenden Rechts hinaus, indem dieses „fortgebildet“ wird. Insoweit handelt es sich nicht um eine Auslegungsmethode. Da der Rechtsfortbildung im Europarecht jedoch eine besondere Bedeutung zukommt, wird sie in einem selbständigen Teil behandelt.

II.

3

Rechtliche Unterscheidung zwischen intergouvernementalem und supranationalem Europarecht

Welche Auslegungsmethoden Anwendung finden, richtet sich nach der Rechtsnatur der Rechtsordnung und den für die Auslegung zuständigen Organen. Für die Auslegung von Völkerrecht gelten andere Grundsätze und Normen als für die Auslegung von nationalem Recht. Das Völkerrecht ixxxaaten. Insoweit sind vor allem der teleologischen Auslegung von Anfang an Grenzen gesetzt. Von wesentlicher Bedeutung ist daher, in welchen Rechtskreis die einzelnen Rechtsordnungen einzuordnen sind. Mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon erhält die Europäische Union erstmalig eine eigene Rechtspersönlichkeit (Art. 47 EUV). Die Europäische Union wird damit völkerrechtlich rechts- und handlungsfähig. Damit stellt das Unionsrecht jetzt zwar die Rechtsordnung eines einheitlichen Rechtssubjekts dar, die Trennung zwischen intergouvernementalem Recht und supranationalem Recht bleibt aber teilweise noch bestehen. Die Säulenstruktur der Europäischen Union ist mit dem Vertrag von Lissabon formell aufgelöst worden.5 Die Europäische Union wird gemäß Art. 1 Abs. 3 S. 3 EUV ausdrücklich Rechtsnachfolgerin der Europäischen Gemeinschaft. In der Europäischen Union erfolgt prinzipiell eine supranationale Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Die ehemals für die zweite und dritte Säule vorgesehene intergouvernementale Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten ist für die dritte Säule, den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (ehemals PJZS) aufgehoben worden. Hier findet nun eine supranationale Zusammenarbeit statt. Allein für die ehemals zweite Säule, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) einschließlich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP, Art. 42 Abs. 1 S. 1 EUV), ist auch unter dem Lissabonner Vertrag eine Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union nicht vorgesehen, diese ist weiterhin in Form einer intergouvernementalen Zusammenarbeit organisiert.6 Die Trennung der Bereiche des intergouvernementalen und des supranationalen Unionsrechts wird auch durch Art. 40 EUV unterstrichen, der ein Gebot wechselseitiger Unberührtheit von GASP und sonstigen Unionsbereichen statuiert. Die Rechtsordnung der Europäischen Union ist in ihrer Gesamtheit nicht mit einer nationalen Rechtsordnung vergleichbar. Sie basiert auf

5 Hellmann, Der Vertrag von Lissabon (2008), S. 2. 6 Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, S. 136 ff.; vgl. dazu demnächst eingehend Pechstein, JZ 2010, 425–432.

226

Matthias Pechstein/Carola Drechsler

§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

völkerrechtlichen Verträgen und wird durch völkerrechtliche Verträge, wie u.a. den Vertrag von Nizza und den Vertrag von Lissabon, weiterentwickelt.7 1.

Rechtsnatur des supranationalen Unionsrechts

Es ist davon auszugehen, dass das Unionsrecht sich zu einer eigenständigen supranationalen Rechtsordnung sui generis entwickelt hat. Denn allein von der Entstehungsgeschichte einer Rechtsordnung, der Gründung durch einen völkerrechtlichen Vertrag, kann nicht endgültig auf ihre Rechtsnatur geschlossen werden. Entscheidend für die Rechtsnatur einer Rechtsordnung ist die Struktur derselben.8 Für das Unionsrecht ergeben sich in diesem Gesamtzusammenhang im Verhältnis zu anderen völkerrechtlichen Verträgen folgende Besonderheiten: Zwar gilt weiterhin das Prinzip der Souveränität der Staaten, dieses ist für die Bereiche, in denen von den Mitgliedstaaten Kompetenzen auf die Union übertragen wurden, jedoch eingeschränkt. Auch das dem Völkerrecht innewohnende Konsensprinzip liegt dem Unionsrecht jedenfalls bei der Sekundärrechtsproduktion nicht zugrunde. Vielmehr gilt in den meisten Tätigkeitsfeldern im Rat das Mehrheitsprinzip, für die Primärrechtsänderung dagegen bleibt es bei dem Erfordernis der Zustimmung aller Mitgliedstaaten. Dies führt dazu, dass Rechtsakte in den Zuständigkeitsbereichen der Europäischen Union und auf dem Gebiet des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts auch gegen den Willen eines Mitgliedstaates erlassen werden können und dieser Mitgliedstaat trotz Gegenstimme zum Vollzug des Rechtsaktes bzw. zur Umsetzung des Rechtsaktes verpflichtet ist. Die Verträge selbst dagegen können nur dann geändert werden, wenn alle Mitgliedstaaten die beabsichtigten Änderungen ratifizieren.

4

Weiterhin stellt das Unionsrecht, insbesondere die Regelungen des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes und weitgehend unmittelbar anwendbares Recht dar.9 Es besitzt unter dieser Bedingung Vorrang vor dem nationalen Recht, wobei es sich um einen Anwendungsvorrang,10 nicht aber um einen Geltungsvorrang handelt.11 Diese beiden Grundsätze, unmittelbare Geltung und unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten und Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor mitgliedstaatlichem Recht, bilden die zentralen Elemente der Rechtsordnung der Europäischen Union in der Form nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon, die lediglich im Wege der Vertragsänderung aufgehoben werden könnten. Diese Unionsrechtsordnung verfügt ihrer Natur entsprechend über ein eigenes, nach autonomen Grundsätzen zu behandelndes „Verfassungssystem“.12 Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts gilt

5

7 Terhechte, EuZW 2009, 724, 729, 730. 8 Streinz, Europarecht, Rn. 109. 9 EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend en Loos ./. Administratie der Belastingen, Slg. 1963, 1, 25. 10 EuGH v. 3.6.1964 – Rs. 6/64 Flaminio Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251, 1269–1271. 11 EuGH v. 22.10.1998 – verb. Rs. C-10/97 bis C-22/97 IN.CO.GE.’90 U.A., Slg. 1998, I-6307 Rn. 18 ff. 12 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 131. Matthias Pechstein/Carola Drechsler

227

2. Teil: Allgemeiner Teil

auch gegenüber später ergangenem nationalen Recht. Daher gilt der Grundsatz lex posterior derogat legi priori im Verhältnis zwischen nationalem Recht und Unionsrecht nicht. Später ergangenes – oder auch spezielleres – nationales Recht bricht Unionsrecht demnach nicht. Neben der unmittelbaren Geltung sowie unmittelbaren Anwendbarkeit und dem darauf bezogenen Anwendungsvorrang des Unionsrechts stellt auch die weitgehende Rechtssetzungsbefugnis der Organe der Europäischen Union eine Besonderheit im Vergleich zu sonstigen völkerrechtlichen Verträgen und Institutionen dar. Aufgrund der unmittelbaren Anwendbarkeit können die Bürger aus dem Unionsrecht vielfach unmittelbar einklagbare Rechte ableiten oder daraus verpflichtet werden.

6

Insoweit handelt es sich bei dem Unionsrecht weder um eine nationale noch um eine klassische völkerrechtliche Rechtsordnung, vielmehr stellt sich das Unionsrecht als eigenständige und bislang einmalige Rechtsordnung dar, die besonderen Grundsätzen folgt. Für die Auslegung des Unionsrechts hat dies insoweit Bedeutung, als nicht allein nationale oder völkerrechtliche Grundsätze herangezogen werden können, denn sie würden der Rechtsnatur des Unionsrechts als Integrationsrechtsordnung nicht gerecht werden. Die letztlich verbindliche Auslegung des Unionsrechts ist gemäß Art. 19 Abs. 2 EUV/220 EG dem Gerichtshof der Europäischen Union übertragen; das völkerrechtliche Prinzip der autonomen Vertragsinterpretation durch die Vertragsstaaten ist somit durchbrochen. 2.

Rechtsnatur des intergouvernementalen Unionsrechts

7/8

Nachdem der Vertrag von Lissabon eine Auflösung der Tempelstruktur der Europäischen Union zur Folge hat, ist eine intergouvernementale Zusammenarbeit nur noch für den Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vorgesehen. Die Mitgliedstaaten sind insoweit Kompetenzträger geblieben und gestalten diese Bereich damit in erster Linie nach völkerrechtlichen Grundsätzen. Entscheidungen können hier nicht nach dem Mehrheitsprinzip getroffen werden, sie unterliegen dem völkerrechtlich geltenden Konsensprinzip. Auch Art. 31 Abs. 1 UAbs. 2 EUV/23 Abs. 1 UAbs. 2 EU bildet insoweit keine Ausnahme, da der Rekurs auf die Einstimmigkeit im Europäischen Rat auch nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon erhalten bleibt. Eine Verpflichtung gegen den Willen eines Mitgliedstaates ist daher hier nicht möglich.13 Der Integrationsstand in der Europäischen Union wird aber insgesamt als höher eingestuft, als der in internationalen Organisationen übliche, da alle Kompetenzfelder der Europäischen Union dem Kohärenzgebot (Art. 7 AEUV/3 EU) zur Vermeidung unabgestimmter, widersprüchlicher und einander konterkarierender Maßnahmen unterliegen.14

9

Für die Auslegung des intergouvernementalen Unionsrechts ist von Bedeutung, dass es, anders als das supranationale Unionsrecht, keine unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit und damit auch keinen Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht

13 Art. 28, 29 EUV/14, 15 EU. 14 Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rn. 130 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 121a.

228

Matthias Pechstein/Carola Drechsler

§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

aufweist. Demnach ist eine Berechtigung oder Verpflichtung einzelner durch das intergouvernementale Unionsrecht nicht möglich, es fehlt an der Durchgriffswirkung. Auch für das intergouvernementale Unionsrecht der GASP kann demnach die alleinige Anwendung nationaler und völkerrechtlicher Auslegungsmethoden nicht ausreichend sein. Das intergouvernementale Unionsrecht ist aber einer völkerrechtlichen Auslegung weit stärker zugänglich als das supranationale Unionsrecht, weil es völkerrechtliche Strukturen aufweist, gleichwohl geht es aber auch über das „Normalmaß“ völkerrechtlicher Integration hinaus. Hinsichtlich der Zuständigkeit für die Auslegung des intergouvernementalen Unionsrechts ergeben sich weitere Unterschiede. Während gemäß Art. 19 EUV der Europäische Gerichtshof für die Auslegung des gesamten Unionsrechts und für die Gültigkeitskontrolle des Sekundärrechts uneingeschränkt zuständig ist, enthält der Unionsvertrag für die verbliebene intergouvernmentale Zusammenarbeit einen ausdrücklichen Zuständigkeitsausschluss (Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 6 EUV, Art. 275 Abs. 1 AEUV). Allein für die Abgrenzung des intergouvernementalen Unionsrechts zum supranationalen Bereich ist der EuGH nach Art. 275 Abs. 2 AEUV zuständig. Daraus folgt auch, dass eine Auslegung des intergouvernementalen Unionsrechts durch den EuGH nicht möglich ist. Insoweit – also für die GASP – besitzen die Mitgliedstaaten die alleinige Auslegungszuständigkeit.

III. Anzuwendende Methodengrundsätze im Unionsrecht Im Folgenden soll dargestellt werden, welche Methodengrundsätze im Unionsrecht Anwendung finden. Aufgrund der Besonderheiten der Unionsrechtsordnung kann nicht ausschließlich auf die nationalen Methodengrundsätze zurückgegriffen werden. Vielmehr ist im Bereich des primären supranationalen Unionsrechts auf eine Kombination der nationalen und völkerrechtlichen Methodengrundsätze und im intergouvernementalen Unionsrecht, aufgrund einer tiefergehenden Integration als in anderen völkerrechtlichen Verträgen, auf angepasste völkerrechtliche Methodengrundsätze zurückzugreifen.

10

Für das supranationale Unionsrecht ergibt sich diese Kombinationsverpflichtung nicht nur aus der eigenständigen Rechtsnatur, sondern auch daraus, dass die mitgliedstaatlichen Methodengrundsätze auf den anglo-amerikanischen, romanischen und mitteleuropäischen Rechtskreis zurückgehen15 und das supranationale Unionsrecht allen drei Rechtskreisen gerecht werden muss. Die ausschließliche Anwendung einer einzelnen Methode könnte dies nicht leisten. Die alleinige Anwendung der völkerrechtlichen Methodengrundsätze würde den Besonderheiten des supranationalen Unionsrechts ebenfalls nicht gerecht werden, da deren prägende Maximen, die Souveränität der Staaten und die Gleichheit der Staaten, im Unionsrecht nur eingeschränkt Anwendung finden.

11

Weiter ist die im Völkerrecht nur beschränkt anzuwendende dynamische Auslegung im gesamten Unionsrecht unverzichtbar. Ein Integrationsprozess, wie er für die

12

15 Vgl. dazu: Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 91–129. Matthias Pechstein/Carola Drechsler

229

2. Teil: Allgemeiner Teil

Union vertraglich vorgesehen ist, kann ohne eine dynamische Entwicklung der entsprechenden Rechtsordnung nicht vorangetrieben werden. Insoweit bedarf es eigenständiger europäischer Methodengrundsätze,16 welche sich zwar an den nationalen und völkerrechtlichen orientieren können, allerdings an die Rechtsnatur des Unionsrechts angepasst werden müssen.

13

Als Ausgangspunkt für die Auslegung des Unionsrecht wird, wie in der völkerrechtlichen Methode und den nationalen Methoden, der Wortlaut einer auszulegenden Norm angesehen.17 Für das Unionsrecht ergeben sich hinsichtlich seiner Struktur und Natur unterschiedliche Gewichtungen in den anderen Auslegungsmethoden. So wird für das intergouvernementale Unionsrecht eine engere Bindung an das Völkerrecht angenommen. Daraus folgend finden auch die völkerrechtlichen Auslegungsmethoden aus Art. 31 ff. WVK Anwendung. Anders als dies für das intergouvernementale Unionsrecht zu beurteilen ist, sieht der EuGH das supranationale Unionsrecht nicht als Völkerrecht, sondern als autonome „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“18 an, so dass auch die völkerrechtlichen Auslegungsregelungen nicht zwingend auf diesen Teil des Unionsrechts angewendet werden müssen bzw. können. Insbesondere Grundsätze wie die Respektierung der staatlichen Souveränität und damit die enge Auslegung staatlicher Verpflichtungen bei der Interpretation der entsprechenden Normen oder die Auslegung aufgrund einer späteren Übung bei der Anwendung des Vertrages (Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVK) können für die Auslegung des supranationalen Unionsrechts nicht fruchtbar gemacht werden.19 Vielmehr werden angepasste mitgliedstaatliche Auslegungsmethoden angewandt20 und eigene methodische Anforderungen gestellt21. Die Unionsorgane und die Mitgliedstaaten sind ausschließlich an die Verträge gebunden, insoweit kann eine nachträgliche Übung der Mitgliedstaaten nicht zur Interpretation des Vertragstextes herangezogen werden.

IV. 14

Auslegungsmethoden im supranationalen Unionsrecht

In der Anwendung der unterschiedlichen Methodengrundsätze ist nicht nur zwischen supranationalem und intergouvernementalem Unionsrecht zu unterscheiden, sondern im Bereich des supranationalen Unionsrechts auch zwischen Primärrecht und Sekundärrecht. Der Gerichtshof wendet insoweit keine einheitlichen Auslegungsmethoden an. Zum Sekundärrecht sollen hier indes nur kurze notwendige Parallelen gezogen werden.22 Dabei wendet der Gerichtshof bei der Auslegung des Primärrechts eher objektive und bei der Auslegung des Sekundärrechts verstärkt subjektive Auslegungs-

16 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 136 mwN. 17 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 137. 18 EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend en Loos ./. Administratie der Belastingen, Slg. 1963, 1, 25. 19 Schwarze-Schwarze, Art. 220 EG Rn. 27. 20 Schwarze-Schwarze, Art. 220 EG Rn. 27. 21 Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 20. 22 Eingehend Riesenuber, in diesem Band, § 11.

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Matthias Pechstein/Carola Drechsler

§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

methoden an.23 Eine primärrechtskonforme Auslegung des supranationalen Unionsrechts ist auch nur bei untergeordnetem Recht möglich.24 Da das supranationale und intergouvernementale Unionsrecht in keinem Rangverhältnis zueinander stehen, scheidet eine Auslegung des supranationalen Unionsrechts am Maßstab des intergouvernementalen Unionsrechts ebenso aus wie eine Auslegung des intergouvernementalen Unionsrechts am Maßstab des supranationalen Unionsrechts. Weiterhin findet eine historische Auslegung des Unionsrechts nur in sehr engen Grenzen statt, da die hierfür relevanten Vorarbeiten zu den Römischen Verträgen weiterhin nicht zugänglich sind und nach mittlerweile über 50-jähriger Geltung der Verträge auch notwendigerweise gegenüber den aktuellen Integrationsfragen in den Hintergrund treten müssten. Demnach sind bei der Auslegung des supranationalen Unionsprimärrechts die historische Auslegung und die Auslegung anhand höherrangigen Rechts unerheblich. Anwendung finden in erster Linie die systematische und teleologische Auslegungsmethode. 1.

Stellung des EuGH im Rahmen von Auslegungsfragen

Für das Recht der Europäischen Union besteht gemäß Art. 19 EUV seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon eine obligatorische und weitgehend umfassende Zuständigkeit des EuGH.25 Der EU-Vertrag führt für den Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in Art. 275 AEUV eine abschließende Regelung für die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofes auf. Danach wird dieser auch weiterhin keine Entscheidungen in diesem Bereich treffen (Art. 275 Abs. 1 AEUV). Eine Zuständigkeit bleibt jedoch in den Fällen des Art. 275 Abs. 2 AEUV für die Zuständigkeitsabgrenzung erhalten. Der EuGH ist gemäß Art. 251 EUV/220 EG für das gesamte supranationale Unionsrecht zuständig,26 er proklamiert für sich selbst insoweit eine letztinstanzliche Auslegungsbefugnis.27 Zusätzlich erklärte der Gerichthof sich zuständig für die Auslegung Gemischter Abkommen, soweit die Teilbereiche betroffen sind, die in die Zuständigkeit der Europäischen Union fallen.28 Wie allerdings der Begriff der Auslegung zu verstehen ist, insbesondere wie weit die Auslegung gehen darf, ist von ihm bislang nicht entschieden worden. Der Gerichtshof stellte bis jetzt nur das Ziel der Auslegung dar.29 In der Rechtssache Denkavit Italiana hat er ausgeführt: „[Durch die Auslegung] soll erläutert und erforderlichenfalls verdeutlicht werden …, in welchem

23 24 25 26

Bleckmann, NJW 1982, 1177, 1178. Dazu Leible/Domröse, in diesem Band, § 9. Pache/Rösch, NVwZ 2008, 473, 478. A.A. v. d. Groeben/Schwarze-Gaitanides, Art. 220 EG Rn. 2, die das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung berücksichtigt wissen will. 27 Streinz-Huber, Art. 220 EG Rn. 5. 28 EuGH v. 7.10.2004 – Rs. C-239/03 Kommission ./. Frankreich, Slg. 2004, I-9325 Rn. 25, 29 – Etang de Berre. 29 Vranes, EuR 2009, 44, 66. Matthias Pechstein/Carola Drechsler

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15

2. Teil: Allgemeiner Teil

Sinn und Tragweite die betroffene Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre“.30

16

Neben dem EuGH sind aber auch unterinstanzliche mitgliedstaatliche Gerichte und mitgliedstaatliche Verwaltungsbehörden berechtigt, das primäre und sekundäre supranationale Unionsrecht verbindlich auszulegen. Dies folgt aus der fehlenden Pflicht dieser Gerichte und Behörden, Zweifelsfragen aus dem Unionsrecht dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen.31 Sie sind verpflichtet, unmittelbar anwendbares Unionsrecht unter Berücksichtigung des Anwendungsvorrangs anzuwenden. Unbestimmte Rechtsbegriffe müssen also täglich durch fast alle mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte ausgelegt werden. Dem EuGH kommt nur eine Art „letztinstanzliche Auslegungskontrolle“ zu. 2.

17

Einzelne Auslegungsmethoden

Im folgenden werden die einzelnen Auslegungsmethoden vor- und deren Anwendung durch den Gerichtshof der Europäischen Union dargestellt. Dabei wird in erster Linie auf die teleologische und die systematische Auslegungsmethode eingegangen, weil diese beiden Methoden die weitgehendsten Folgen für die Auslegung der supranationalen unionsrechtlichen Normen aufweisen. a)

Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung

18

Ausgangspunkt jeder Auslegung ist der im einschlägigen Gesetzesblatt veröffentlichte Wortlaut der Norm. Mit der grammatikalischen Auslegung wird der allgemeine Sprachgebrauch erforscht und hinterfragt.32 Aus diesem allgemeinen Sprachgebrauch wird der mögliche Wortsinn und der Bedeutungsgehalt einer Norm ermittelt. Dieser Wortsinn und Bedeutungsgehalt wird sodann in die juristische Fachsprache „übersetzt“. Im Unionsrecht besteht jedoch das Problem, dass die Normen in mehreren Sprachen abgefasst sind und in allen Sprachfassungen verbindlich sind (Art. 55 EUV/314 EG).33

19

In der Praxis führen die unterschiedlichen Sprachfassungen des Primärrechts zu besonderen Schwierigkeiten. Jede dieser verbindlichen Sprachfassungen der Norm enthält Rechtsbegriffe aus den nationalen Rechtsordnungen. Diese weichen aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungen der Rechtsbegriffe jedoch nicht unerheblich voneinander ab.34 Der Gerichtshof hat daher entschieden, dass jeder einzelne Rechtsbegriff in einem unionsautonomen Sinne zu interpretieren ist.35 Dies bedeutet, dass 30 EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Amministrazione delle finanze dello Stato ./. Denkavit Italia, Slg. 1980, 1205 Rn. 16. 31 So auch Schroeder, JuS 2004, 180, 181. 32 Zippelius, Methodenlehre, S. 43. 33 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T. ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415 Rn. 18. 34 v. Danwitz, EuR 2008, 769, 780. 35 EuGH v. 18.1.1984 – Rs. 327/82 EGKO ./. Produktschap, Slg. 1984, 107 Rn. 11. Zur Frage einer unionsautonomen Auslegung des Sekundärrechts s. Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 4–8.

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Matthias Pechstein/Carola Drechsler

§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

ein verbindlicher Rückgriff auf vergleichbare mitgliedstaatliche Rechtsbegriffe nicht vorgenommen wird.36 Auch Verweisungen auf einzelne nationale Normen oder Begriffe werden vermieden, da eine einheitliche Geltung des Unionsrechts geboten ist.37 In diesen Fällen definiert der Gerichtshof den Inhalt der einzelnen Begriffe in „apodiktischer Form“38 und demnach in einer Form der Rechtsschöpfung. Die Anwendung bestimmter Auslegungsmethoden ist hier selten erkennbar.39 Im Ergebnis kann dies dazu führen, dass Rechtsbegriffe im Unionsrecht und im nationalen Recht deutlich unterschiedlichen Gehalt erlangen können.40 Eine solche unionsweit einheitliche Auslegung der Rechtsbegriffe ist jedoch geboten, da eine einheitliche Anwendung des Unionsrechts ansonsten nicht gewährleistet werden kann. Jeder Mitgliedstaat könnte für sich selbst festlegen, wie ein Begriff auszulegen ist und so dem Vorrang des supranationalen Unionsrechts seine Bedeutung nehmen. Aufgrund dieses Erfordernisses der unionsautonomen Begriffsauslegung präzisierte der Gerichtshof für die Wortlautauslegung seine Auslegungsmethode dahingehend, dass er zunächst verschiedene Sprachfassungen vergleicht41 und bei sich widersprechenden bzw. widerstreitenden Sprachfassungen, nicht einer Sprachfassung den Vorzug gibt. Der Gerichtshof wendet bei der Bedeutungserkundung kein „Mehrheitsprinzip“ an. Er geht zwar von den einzelnen nationalen Bedeutungen der Rechtsbegriffe aus, wendet aber nicht automatisch diejenige an, welche die meiste Verbreitung in den nationalen Rechtsordnungen gefunden hat.42 Als Ansatzpunkt mag die Bedeutung in den nationalen Rechtsordnungen ausreichen, für die endgültige Bestimmung des Inhalts der Norm werden dann aber die systematische und die teleologische Auslegungsmethode herangezogen.43 Dies bedeutet, dass der allgemeine Aufbau und der Zweck der Regelung zu berücksichtigen sind.44

20

Beispielhaft für eine unionsautonome Auslegung ist die Auslegung des Begriffs „öffentliche Verwaltung“ in Art. 45 Abs. 4 AEUV/39 Abs. 4 EG. Die „öffentliche Verwaltung“ unterliegt als Ausnahme von der Regel nicht den Grundsätzen der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Der Begriff der „öffentlichen Verwaltung“ ist im deutschen öffentlichen Dienstrecht sehr weit zu verstehen, während er im Unionsrecht sehr eng ausgelegt wird. Unionsrechtlich gehören nur solche Arbeitnehmer der „öffentlichen

21

36 EuGH v. 22.11.1977 – Rs. 43/77 Industrial Diamond Supplies ./. Riva, Slg. 1977, 2175 Rn. 15 ff.; EuGH v. 2.4.1998 – Rs. C-296/95 The Queen ./. Commissioners of Customs and Excise, Slg. 1998, I-1605 Rn. 30 (EMU Tabac u.a.). 37 Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 220 EG Rn. 42. 38 Bleckmann, NJW 1982, 1177, 1177. 39 Bleckmann, NJW 1982, 1177, 1177. 40 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T. ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415 Rn. 19. 41 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels ./. Bedrijfsvereniging voor de Metaalindustrie en de Electrotechnische Industrie, Slg. 1985, 469, Rn. 11. 42 EuGH v. 29.6.1988 – Rs. 300/86 Van Landschoot ./. Mera, Slg. 1988, 3443 Rn. 18; EuGH v. 24.5.1988 – Rs. 122/87 Kommission ./. Italien, Slg. 1988, 2685 Rn. 10, 11. 43 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T. ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415 Rn.18; EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-72/95 Kraaijeveld u.a., Slg. 1996, I-5403 Rn. 28. 44 EuGH v. 12.11.1998 – Rs. C-149/97 Institute of the Motor Industry ./. Kommission, Slg. 1998, I-7053 Rn. 16. Matthias Pechstein/Carola Drechsler

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Verwaltung“ im Sinne von Art. 45 Abs. 4 AEUV/39 Abs. 4 EG an, die „eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind und die deshalb ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des jeweiligen Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten voraussetzen, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen“.45 Dies bedeutet, dass auch das deutsche Beamtenrecht für EU-Staatsangehörige geöffnet werden musste, da keineswegs alle Beamtenstellungen diesen Kriterien genügen. Demnach ist der Begriff der „öffentlichen Verwaltung“ im Unionsrecht wesentlich enger zu verstehen als im deutschen Recht. Es handelt sich um eine unionsautonome Auslegung eines auch national bekannten Rechtsbegriffs. Gleiches gilt in vielen anderen Fällen, etwa hinsichtlich des Begriffs der „öffentlichen Sicherheit“ in Art. 36 AEUV/30 EG, Art. 45 Abs. 3 AEUV/39 Abs. 3 EG und Art. 52 AEUV/46 EG und dem entsprechenden Begriff des deutschen Polizeirechts oder bezüglich des Begriffs der „juristischen Person“ in Art. 263 Abs. 4 AEUV/230 Abs. 4 EG.

22

Die Gleichrangigkeit aller Sprachfassungen wird bei der Rechtsfindung durchbrochen. Interpretiert der Gerichtshof unbestimmte Rechtsbegriffe nicht unionsautonom, sondern berücksichtigt die Sprachfassungen, so greift er nur auf einige wenige Sprachfassungen, wie die französische, englische und deutsche zurück.46 Dies ist insbesondere der alleinigen internen Arbeitssprache – französisch – des Gerichtshofes geschuldet.47 b)

Systematische Auslegung

23

Mit der systematischen Auslegung wird die Funktion einer Norm im gesamten Normgefüge erforscht.48 Im Zusammenhang mit anderen Normen oder dem gesamten Gesetzestext wird die entsprechende Norm auf ihren Rechtsgedanken hin untersucht. Diese Auslegungsmethode geht davon aus, dass alle Rechtsnormen eines Vertragswerkes in einer Beziehung zueinander stehen. Ihnen kommt je eine eigene Bedeutung zu, die allerdings erst in einer umfassenden Betrachtung ihren endgültigen Gehalt bekommt.49 So sind bei der Auslegung einer Norm die Überschrift unter der sie zu finden ist, ihr Stand im gesamten Normgefüge und ihre eigene Funktion für das Vertragswerk zu berücksichtigen.

24

Der Gerichtshof geht dabei von einer rationalen Gesetzesstruktur mit einem ihr innewohnenden Regel-Ausnahme-Verhältnis,50 einem allgemeinen und einem besonderen

45 EuGH v. 3.7.1986 – Rs. 66/85 Lawrie-Blum ./. Land Baden-Württemberg, Slg. 1986, 2121 Rn. 27. 46 Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 509. 47 Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 509. Anders hingegen Stotz, in diesem Band, § 22 Rn. 14. 48 Zippelius, Methodenlehre, S. 43. 49 v. Danwitz, EuR 2008, 769, 782. 50 EuGH v. 27.6.1991 – Rs. C-351/89 Overseas Union Insurance u.a. ./. New Hampshire Insurance Company, Slg. 1991, I-3317 Rn. 16.

234

Matthias Pechstein/Carola Drechsler

§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

Teil im gesamten Vertrag51 und einer Systematik der Überschriftenbildung52 aus. Dabei sollen einzelne Vorschriften innerhalb eines Kapitels aufeinander Bezug nehmen, der jeweils erste Artikel eines Kapitels von grundlegender Bedeutung sein und die folgenden Artikel ausschließlich der Präzisierung des ersten Artikels dienen.53 Er nimmt für die Inhaltsbestimmung einer Norm demnach auch auf die dieser Norm vorangestellten Gesetzesabschnitte Bezug. So sind alle auf die Grundsätze – Erster Teil des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union – folgenden Normen im Hinblick auf diese Grundsätze hin auszulegen. Als Beispiel kann die Bestimmung des Inhalts der Dienstleistungsfreiheit herangezogen werden. Sie wird durch den Gerichtshof in einer Negativabgrenzung zu den bereits aufgeführten Grundfreiheiten, Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit definiert.54 Nur bei dieser Auslegung kommt der Dienstleistungsfreiheit eine eigenständige Funktion zu und deckt mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit den gesamten denkbaren Personenverkehr ab. Würde die Dienstleistungsfreiheit fehlen, könnte ein Teil des Personenverkehrs nicht unter die Regelungen des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union subsumiert werden. Das Gefüge ist also nur mit dieser Norm vollständig und aus dieser Überlegung heraus erhält sie ihren Inhalt. Weiterhin lässt sich an diesem Bespiel auch das Regel-Ausnahme-Verhältnis darstellen. Der Gerichtshof geht mit der systematischen Auslegung auch davon aus, dass im Vertrag grundsätzlich erst die Regel dargestellt wird, hinsichtlich der Dienstleistungsverkehrs also ihr Anwendungsbereich, und dann die Ausnahme, also die Ausgrenzung des Anwendungsbereiches hinsichtlich der öffentlichen Verwaltung in Art. 45 Abs. 4 AEUV/39 Abs. 4 EG.

25

Ähnlich ging der Gerichtshof in der Rechtssache AETR55 vor. Er verwies darin ausdrücklich auf die Systematik des früheren Gemeinschaftsrechts und kam zu dem Schluss, dass für die Bestimmung der Gemeinschaftszuständigkeit zum Abschluss von Abkommen mit Drittstaaten auf „das allgemeine System des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet der Beziehungen zu dritten Staaten zurückgegriffen werden“ muss.56 Es fanden sich im EG-Vertrag zwar Regelungen zum Abschluss von Abkommen mit Drittstaaten und Kompetenzregelungen, diese mussten aber in das gesamte Gefüge des Vertrages eingebunden werden. Jeder Norm soll eine eigene Bedeutung zukommen, demnach ist der Bedeutungsgehalt einer Norm auch ihrem Stand im Vertrag entsprechend zu interpretieren.

26

Die systematische Auslegung des Unionsrechts findet jedoch ihre Grenzen57 in den dem Vertrag zugrundeliegenden Leitlinien und Grundsätzen. So weicht der Gerichts-

27

51 EuGH v. 23.2.1988 – Rs. 68/86 Vereinigtes Königreich ./. Rat, Slg. 1988, 855 Rn. 13. 52 EuGH v. 22.9.1988 – Rs. 187/87 Saarland u.a. ./. Minister für Industrie, Slg. 1988, 5013 Rn. 11. 53 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 179. 54 EuGH v. 30.4.1974 – Rs. 155/73 Sacchi, Slg. 1974, 409 Rn. 7/8. 55 EuGH v. 31.3.1971 – Rs. 22/70 Kommission ./. Rat, Slg. 1971, 263 – AETR. 56 EuGH v. 31.3.1971 – Rs. 22/70 Kommission ./. Rat, Slg. 1971, 263 Rn. 12 – AETR. 57 EuGH v. 3.6.1964 – Rs. 6/64 Flaminio Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251, 1270.

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235

2. Teil: Allgemeiner Teil

hof teilweise zugunsten der Rechtsgrundsätze effet utile und implied powers von einer bestehenden Systematik ab. Trotzdem kommt der systematischen Auslegung große Bedeutung für die einheitliche Auslegung des Unionsrechts zu, da sie ausschließlich auf den Vertrag und seine Struktur eingeht, also auf unionsrechtliche Bedingungen ohne nationale Einflüsse. c)

Teleologische Auslegung

28

Der teleologischen Auslegungsmethode gemäß ist eine Norm nach dem mit ihr verfolgten Zweck zu interpretieren. Demnach ist diese Auslegungsmethode auf die Verwirklichung der Vertragsziele der Union gerichtet.58 Sie wird vom Gerichtshof häufig angewendet, da andere Auslegungsmethoden aufgrund der unterschiedlichen Sprachfassungen und der unterschiedlichen Bedeutung von Rechtsbegriffen z.T. nur beschränkt Aufschluss über die Normen und deren gewollten Inhalt geben können. Der Gerichtshof interpretiert die Normen des Unionsrechts in erster Linie im Hinblick auf die Vertragsziele der Union.59 Damit soll die Funktionsfähigkeit der Union gesichert werden. Ausdruck der Anwendung der teleologischen Auslegungsmethode in den Urteilen des Gerichtshofs ist die generell enge Auslegung von Ausnahmen im Unionsrecht und die Anwendung der in den Grundsatzbestimmungen von EUV und AEUV normierten allgemeinen Rechtsgrundsätze.60 Der Gerichtshof geht dabei auch davon aus, dass jede Norm so angelegt ist, dass sie ihr Ziel auch verwirklichen kann.61

29

Für eine teleologische Auslegung sind neben dem Ziel und Zweck der Norm die Sachgemäßheit der Regelung und die Verwirklichung des objektiven Zwecks des Rechts ausschlaggebend. Um die Ziele des Vertrages zu bestimmen, zog der Gerichtshof in erster Linie die Positivliste der zu regelnden Politikbereiche des Art. 3 EG heran. Auf Art. 2 EG und dessen Aufgabenaufzählung griff der Gerichtshof dagegen nur sehr selten zurück. Dies ist wohl der sehr weiten und undeutlichen Formulierung dieses Artikels geschuldet, konkrete Ziele ließen sich nur schwer herauslesen.62 Das tragende Ziel der Gemeinschaft war die Herstellung und der Ausbau eines gemeinsamen Marktes, demnach lag hier auch der Tätigkeitsschwerpunkt der Gemeinschaft und ihrer Organe. Von diesem Ziel war die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Gerichtshof geprägt. Soweit Art. 2 und 3 EG für die Auslegung herangezogen wurden, wurde der unverfälschte Wettbewerb als wichtigstes Ziel angesehen. Mit den Änderungen aufgrund des Vertrages von Lissabon bleibt dem Gerichtshof diese Möglichkeit der differenzierten Betrachtung nicht mehr. Entsprechend der Idee des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union beinhalten die neu gefassten Art. 1–17 AEUV die Grundsätze und Zuständigkeiten der Europäischen Union. Es

58 Schwarze-Schwarze, Art. 220 EG Rn. 27. 59 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T. ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415 Rn. 20. 60 Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 220 EG Rn. 46. 61 EuGH v. 29.11.1956 – Rs. 8/55 Fédération Charbonnière de Belgique ./. Hohe Behörde, Slg. 1956, 291, 311. 62 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 204.

236

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§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

ist davon auszugehen, dass der Gerichtshof in seinen Entscheidungen künftig insbesondere neben der Zielbestimmung des Art. 2 EUV auch den Zuständigkeitskatalog in Bezug nehmen wird. Zu berücksichtigen sind in diesem Zusammenhang auch Querschnittsziele. Diese im AEUV aufgeführten Querschnittsziele sichern die Interessen der Mitgliedstaaten. Sie finden sich in erster Linie in Politikbereichen, welche Ausdruck staatlicher Souveränität sind63, z.B. in der Kulturpolitik Art. 167 Abs. 4 AEUV, der Gesundheitspolitik Art. 168 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV und dem Verbraucherschutz Art. 169 Abs. 2 AEUV. Der Gerichthof bewertet die Querschnittsziele als integrativen Bestandteil aller Politikbereiche des Vertrages. So kommt er dann auch zu dem zwingenden Ergebnis, dass Maßnahmen der Unionsorgane, wenn sie auf die Erreichung von Querschnittszielen und anderen Politikzielen gerichtet sind, nicht auf die Querschnittszielklausel als Rechtsgrundlage gestützt werden müssen. Dies soll jedenfalls dann gelten, wenn die Querschnittsziele im Verhältnis zu den anderen Zielen der Maßnahmen nicht vorrangig sind.64

29a

Neben der Orientierung an den Zielen des Vertrages hat der Gerichtshof die auszulegende Norm auch einer Funktionsanalyse unterzogen. Dabei bestimmte der Gerichtshof die Funktion der auszulegenden Norm im Gesamtgefüge des Vertrages. Zu berücksichtigen sind eine sinnvolle, bestimmungsgemäße und widerspruchsfreie Anwendung der Norm.65 So kann für die Berechnung von Zwangsgeldern keine den jeweiligen Staat wirtschaftlich gefährdende, überhöhte Forderung gestellt werden. Dies würde dem Sinn und Zweck des Vertrages zuwiderlaufen, da eine gemeinsame wirtschaftliche Funktionsfähigkeit erhalten bleiben soll. Da der Gerichtshof davon ausgeht, dass jeder Norm eine eigene Bestimmung und Funktion zukommt, muss sie so ausgelegt werden, dass sie ihr Ziel auch verwirklichen kann. Insoweit wendet der Gerichtshof für die Bestimmung der Sachgemäßheit einer supranationalen Unionsrechtsnorm den Rechtsgrundsatz des effet utile an. Den einzelnen Normen ist im Hinblick auf die Vertragsziele zu praktischer Wirksamkeit zu verhelfen.66 So hat der Gerichtshof „im Interesse der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts“67 unter anderem den Begriff des „Gerichts“ in Art. 177 EWG (nunmehr: Art. 267 AEUV) dahingehend ausgelegt, dass auch ein Streitsachenausschuss einer Berufsorganisation als ein solches anzusehen ist.

30

Zusätzlich zu berücksichtigen sind auch Kollosionsregelungen. Mit diesen kann der Versuch unternommen werden, eine fehlende Trennschärfe in den Zuständigkeitsbereichen zwischen Union und Mitgliedstaaten aufzulösen. Das Sekundärrecht steht im

30a

63 Drechsler, Europäische Förderung audiovisueller Medien zwischen Welthandel und Anspruch auf kulturelle Vielfalt (2009), S. 132. 64 EuGH v. 11.01.2006 – Rs. C-94/03 Kommission ./. Rat, Slg. 2006, 1 Rn. 34, 35. 65 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 207. 66 Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 220 EG Rn. 14.; Potacs, EuR 2009, S. 465 ff. 67 EuGH v. 6.10.1981 – Rs. 246/80 Broekmeulen ./. Huisarts Registratie Commissie, Slg. 1981, 2311 Rn. 16. Matthias Pechstein/Carola Drechsler

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Rang unter dem Primärrecht.68 Dies ist der Situation geschuldet, dass die Mitgliedstaaten als Herren der Verträge allein über die Entstehung von primärem Unionsrecht entscheiden. Zwischen dem Primärrecht selbst besteht kein Rangverhältnis, es wird auch nicht zwischen wichtigem und unwichtigem Primärrecht unterschieden.69 Allerdings ist der AEUV in vielerlei Hinsicht spezieller als der EUV, so dass der zwischen gleichrangigen Normen anwendbare lex specialis-Grundsatz insoweit auch gilt. Kollisionen bzw. Wertungswidersprüche sind darüber hinaus nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz aufzulösen.

31

Für die teleologische Auslegungsmethode sind bei der Auslegung des Sekundärrechts teilweise andere Ansatzpunkte heranzuziehen als im Primärrecht. Anders als im primären Unionsrecht werden im Bereich des sekundären Unionsrechts die Erwägungsgründe des jeweiligen Rechtsaktes für die teleologische Auslegung berücksichtigt. Erwägungsgründe zählen nicht zur Entstehungsgeschichte der Norm und fallen demnach auch nicht in den Bereich der historischen Auslegungsmethode. Sie sind Bestandteil des Rechtsaktes und sollen Aufschluss über die mit dem Rechtsakt verfolgten Ziele geben.70 d)

32

Historische Auslegung

Die historischen Auslegungsmethoden gehen von der geschichtlichen Entwicklung einer Rechtsnorm aus, dabei werden frühere ähnliche Gesetze und die Änderung solcher Normen berücksichtigt.71 Sowohl die subjektiv-historische als auch die objektivhistorische Auslegungsmethode haben für die Auslegung des Unionsrechts nur eine geringe Bedeutung.72 Dies wird auch im Zusammenhang mit einer Untersuchung, welche die Häufigkeit der angewandten Auslegungsmethoden für die veröffentlichten Entscheidungen des Jahres 1999 ermittelte, bestätigt.73 Mit der subjektiv-historischen Auslegungsmethode soll der wahre Wille des historischen Gesetzgebers erforscht werden, während mit der objektiv-historischen Methode die Funktion der Norm im Zeitpunkt ihres Erlasses ergründet werden soll.74 Für eine historische Auslegung des Unionsrechts ist schon deshalb kein Raum, da Verhandlungsprotokolle bzw. Entstehungsdokumente zu den Gründungsverträgen der Europäischen Gemeinschaft und Europäischen Union nicht zugänglich sind.75 Teilweise wurde in den Klagebegründungen von Seiten der Mitgliedstaaten auf die amtlichen Begründungen und Erläuterungen der mitgliedstaatlichen Regierungen und Parlamente zu den Verträgen Bezug genommen. Diese Bezugnahme wurde vom Gerichtshof jedoch stets igno-

68 69 70 71 72 73 74 75

Nettesheim, EuR 2006, 737, 740. Nettesheim, EuR 2006, 737, 740. Anders Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 33, 36. Zippelius, Methodenlehre, S. 44. A.A. Leisner, EuR 2007, 689, 702. Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 118. Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 143. Lecheler, Einführung in das Europarecht (2. Aufl. 2003), S. 141 (unter § 5, IV 2 b).

238

Matthias Pechstein/Carola Drechsler

§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

riert.76 Viele der Normen des Unionsrechts sind auch geprägt von politischen Entscheidungen und Kompromissen bei den Vertragsverhandlungen. Eine historische Auslegung unterläge insoweit auch politischen Zwängen und der Suche nach politischen Kompromissen, überdies dürften sich die Interessen der Mitgliedsstaaten seither vielfach geändert haben. Sie würde dem Ziel einer zukunftsorientierten europäischen Integration durch eine Orientierung an der Vergangenheit daher widersprechen und die Dynamik des Unionsrechts einschränken.77 Auch für die Auslegung von Sekundärrecht hat die historische Auslegung kaum Bedeutung. Sie wäre zwar faktisch möglich, da die Entwurfsprotokolle für Sekundärrechtsakte einsehbar sind.78 Der Gerichtshof berücksichtigt jedoch für seine Entscheidungen keine Dokumente, welche als Erklärungen im Rat zu Protokoll gegeben wurden, „wenn sie in den Rechtsvorschriften keinen Ausdruck gefunden haben.“79 Dies folgt aus dem Gedanken der Rechtssicherheit, da bis zum Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags die Protokollerklärungen zu Abstimmungen im Rat nicht veröffentlicht wurden. Seither sind diese Erklärungen zu veröffentlichen, insoweit könnte zukünftig die historische Auslegung an Bedeutung gewinnen. Gegenwärtig nimmt der Gerichtshof zwar Rückgriff auf die Begründungserwägungen zu den Rechtsakten, dies aber in erster Linie um den Sinn und Zweck der Vorschriften zu erforschen.80 e)

33

Rechtsvergleichende Methode

Die rechtsvergleichende Methode kann grundsätzlich nur als ergänzende Methode angewandt werden.81 Ihr kommt demnach auch nur eine untergeordnete Rolle zu. Wie bereits dargestellt, interpretiert der Gerichtshof Rechtsbegriffe unionsautonom. Dies bedeutet im Ergebnis auch, dass die einzelnen verbindlichen Sprachfassungen miteinander verglichen werden. Aus diesem Vergleich filtert der Gerichtshof einzelne Übereinstimmungen heraus und stellt sie mit Sinn und Zweck der entsprechenden Vorschrift in Zusammenhang. Insoweit handelt es sich zwar methodisch nicht wirklich um eine Rechtsvergleichung, aber um eine Inhalts- und Sinnvergleichung, die zu einer Rechtsvergleichung führen kann.

34

Rechtsvergleichung wird nur insoweit unternommen, als geltendes Recht in unterschiedlichen Staaten und im Völkerrecht verglichen wird. Dabei handelt es sich aber nicht um den Vergleich einzelner Rechtsbegriffe, sondern um den Vergleich verschiedener Rechtsordnungen und -systematiken. Demnach muss einer Rechtsvergleichung

35

76 EuGH v. 16.12.1960 – Rs. 6/60 Humblet ./. Belgischen Staat, Slg. 1960, 1163, 1194; EuGH v. 18.2.1970 – Rs. 38/69 Kommission ./. Italien, Slg. 1970, 47 Rn. 12, 13. 77 Schwarze-Schwarze, Art. 220 EG Rn. 28. 78 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-17/96 Badische Erfrischungs-Getränke ./. Land Baden-Württemberg, Slg. 1997, I-4617 Rn. 16. 79 EuGH v. 26.2.1991 – Rs. C-292/89 Antonissen, Slg. 1991, I-745 Rn. 18; EuGH v. 17.10.1996 – verb. Rs. C-283/94, C-291/94 und C-292/94 Denkavit Internationaal u.a., Slg. 1996, I-5063 Rn. 29. 80 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 148. 81 Eingehend zum Sekundärrecht Schwartze, in diesem Band, § 4 Rn. 21 ff.

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239

2. Teil: Allgemeiner Teil

grundsätzlich die Ermittlung fremden Rechts vorausgehen. Die Ermittlung des nationalen mitgliedstaatlichen Rechts führte im Ergebnis zu einem Vergleich der nationalen Rechtssätze, aus denen der Gerichtshof allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts entwickelt.82

36

Der Gerichtshof wendet bei der Auslegung des Unionsrechts im Rahmen der teleologischen Auslegung auch Rechtsgrundsätze wie den effet utile einer Unionsrechtsnorm an. Unionsrechtsnormen müssen demnach so ausgelegt werden, dass sie ihre volle praktische Wirkung erzielen können.83 Insbesondere dieser Interpretationsansatz bewirkt vielfach eine Rechtsfortbildung.

37

Die wohl wichtigsten Entscheidungen des EuGH, welche durch eine rechtsvergleichende Auslegung geprägt sind, sind die Entscheidungen zu einem „gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch“.84 In keiner Vertragsbestimmung ist ein solcher Staatshaftungsanspruch gegen die Mitgliedstaaten vorgesehen. Der EuGH weist insoweit jedoch auf den Grundsatz des effet utile hin sowie darauf, dass eine Handhabe Privater gegen einen die Unionsrechtsnormen verletzenden Mitgliedstaat bestehen muss, da die Rechtsordnung ansonsten gravierende Lücken aufweisen würde. Nur mit einem solchen Staatshaftungsanspruch kann das Unionsrecht umfassende Geltung und Wirksamkeit erlangen. Der Gerichtshof verweist für das Bestehen eines solchen Staatshaftungsanspruchs auf das grundsätzliche – nicht notwendig das legislative Unrecht erfassende – Bestehen von Staatshaftungsansprüchen in den einzelnen Mitgliedstaaten und das Bestehen solcher Ansprüche im Völkerrecht.85 Auch die EMRK geht in Art. 41 EMRK von der Verpflichtung zur Wiedergutmachung aus, wenn ein Staat gegen zwingende Normen der EMRK verstößt und dabei kausal einen Schaden verursacht. Der EuGH verbindet hier also einen rechtsvergleichenden Ansatz mit einer teleologischen Erwägung.

38

Auch andere Rechtsgrundsätze, wie Treu und Glauben und den Grundsatz des rechtlichen Gehörs hat der Gerichtshof aus dem Vergleich der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten hergeleitet. 3.

39

Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander

Hinsichtlich des Rangverhältnisses der einzelnen anwendbaren Auslegungsmethoden ergibt sich aus dem primären Unionsrecht keine Regelung. Daher ist davon auszugehen, dass auch kein Rangverhältnis zwischen den Auslegungsmethoden besteht.86

82 Bleckmann, Europarecht, Rn. 78 ff. 83 EuGH v. 6.10.1970 – Rs. 9/70 Franz Grand ./. Finanzamt Traunstein, Slg. 1970, 825 Rn. 5 – Leberpfennig; EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich u.a., Slg. 1991, I-5357 Rn. 32. 84 EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich u.a., Slg. 1991, I-535; EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 Brasserie du pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029. 85 EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 Brasserie du pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029 Rn. 29 ff. 86 Leisner, EuR 2007, 689, 706.

240

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§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

Auch den Urteilen des EuGH ist ein entsprechendes Rangverhältnis nicht zu entnehmen. Vielmehr stehen die klassischen Auslegungsmethoden gleichberechtigt nebeneinander und werden vom Gerichtshof miteinander kombiniert und verknüpft. Wie bereits erwähnt, finden die historische, die grammatikalische und die rechtsvergleichende Auslegung aufgrund der Besonderheiten des Unionsrechts jedoch nur sehr eingeschränkte Anwendung.87 Insbesondere die systematische und die teleologische Auslegungsmethode werden vom Gerichtshof in den meisten Fällen kombiniert, um die gefundenen Ergebnisse gegeneinander abzuwägen und ihre Plausibilität zu unterstützen. Eine trennscharfe Abgrenzung ist daher auch nicht immer möglich. Bezüglich des fehlenden Rangverhältnisses bildet das Urteil in der Rechtssache Continental Can eine die Regel bestätigende Ausnahme. Darin räumt der Gerichtshof der teleologischen Auslegungsmethode zumindest vor der grammatikalischen Auslegung den Vorrang ein. Der Gerichtshof stellte in diesem Urteil die Vertragsziele des damaligen Art. 3 EWG über den Wortlaut des Art. 86 EWG.88

V.

40

Auslegungsmethoden im intergouvernementalen Unionsrecht

Für die Methoden zur Auslegung des intergouvernementalen Unionsrechts im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ergeben sich ungleich größere Schwierigkeiten, will man diese der Rechtsprechung des Gerichtshofes entnehmen. In diesem Bereich besitzt der Gerichtshof auch nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon nur eine sehr eingeschränkte Kompetenz für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten. Der EuGH kann nach Art. 275 Abs. 1 AEUV für die GASP überhaupt nicht tätig werden; dies entspricht auch der früheren Rechtslage. Dementsprechend liegen auch kaum einschlägige Urteile vor, denen bezüglich der Interpretationsmethoden auch nichts zu entnehmen ist.89 Ein Rückgriff auf die Auslegungsmethoden des supranationalen Unionsrechts wäre dabei jedenfalls insoweit unzulässig, als damit auf die Besonderheiten des supranationalen Unionsrechts abgestellt wird (effet utile). Eine andere Interpretation würde den Vertragsbestimmungen des Unionsvertrages und dem Willen der Vertragsparteien widersprechen.90

87 A.A. Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 66. Die Autorin hat die Häufigkeit der angewandten Auslegungsmethoden durch den EuGH für die im Jahre 1999 ergangenen Entscheidungen statistisch ermittelt und kommt zu dem Ergebnis, dass die grammatikalische Auslegungsmethode von den klassischen Auslegungsmethoden am häufigsten angewandt wurde. 88 EuGH v. 21.2.1973 – Rs. 6/72 Europemballage Corporation and Continental Can Company ./. Kommission, Slg. 1973, 215 Rn. 22. 89 Vgl. EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-469/03 Miraglia, Slg. 2005, I-2009; EuGH v. 11.2.2003 – verb. Rs. C-187/01 und C-385/01 Gözütok und Brügge, Slg. 2003, I-1345; EuGH v. 7.4.1995 – Rs. 167/94 Grau Gomis, Slg. 1995, I-1023. 90 Dazu siehe ausführlich: Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rn. 50 ff. Matthias Pechstein/Carola Drechsler

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2. Teil: Allgemeiner Teil

1.

Auslegung völkerrechtlicher Verträge

42

Anzuwenden sind im intergouvernementalen Unionsrecht in erster Linie die Auslegungsmethoden für völkerrechtliche Verträge. Niedergelegt sind diese Auslegungsmethoden in der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK). Die 1969 verabschiedete und 1980 in Kraft getretene WVK stellt ein Vertragswerk dar, welches teilweise bestehendes Völkergewohnheitsrecht kodifizierte und zumindest insoweit grundsätzlich auch für die Auslegung des intergouvernementalen Unionsrechts herangezogen werden kann. Maßgeblich für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge sind die Normen des Art. 31 und 32 WVK. Bei Art. 31 WVK handelt es sich um eine allgemeine Interpretationsregel, während Art. 32 WVK ergänzende Auslegungsmittel aufführt.

43

Zuständig für die Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages sind grundsätzlich die Vertragsparteien selbst. Diese können die Zuständigkeit aber auch unabhängigen Spruchkörpern übertragen. Bezüglich der Bestimmungen über die GASP ist dies durch Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 6 EUV, Art. 275 AEUV hinsichtlich des EuGH jedoch gerade nicht erfolgt. Aufgrund des bereits erwähnten, auch im intergouvernementalen Unionsrecht geltenden Konsensprinzips, findet ansonsten die authentische Auslegung Anwendung (Art. 31 Abs. 3 lit. a) und b) WVK). Die Vertragsparteien können Übereinkünfte über die Auslegung des Vertrages oder die Anwendung seiner Bestimmungen treffen. Auch kann eine Interpretation durch eine spätere Übung der Vertragsparteien erfolgen.

44

Geprägt ist die Auslegung völkerrechtlicher Verträge von der staatlichen Souveränität. Sämtliche die Vertragsparteien einengenden Verpflichtungen sind im Zweifel restriktiv auszulegen.91 Weiterhin ist vorrangig auf den übereinstimmenden subjektiven Willen der Vertragsparteien im Zeitpunkt des Vertragsschlusses abzustellen, in dessen Rahmen sich aber auch der Effektivitätsgrundsatz entfaltet.92 Wie das supranationale Unionsrecht ist jedoch auch das intergouvernementale Unionsrecht auf eine dynamische Entwicklung gerichtet (vgl. Art. 1 Abs. 2 EUV). Eine Auslegung des intergouvernementalen Unionsrechts, dominant orientiert am subjektiven Willen der Vertragsparteien zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses, ist vor diesem Hintergrund nicht voll umfänglich möglich, vielmehr müssen hier die völkerrechtlichen Auslegungsmethoden dem Recht der Union und seinen Zielen angepasst werden, wobei der Effektivitätsgrundsatz eine stärkere Rolle erhält. Es ist davon auszugehen, dass in den nächsten Jahren der EuGH diesen Grundsatz auch auf die Teilbereiche der ehemals 3. Säule erweitert, die bislang noch nicht in die EuGH-Rechtsprechung Eingang gefunden haben. 2.

45

Auslegungsmethoden gem. Art. 31 WVK

Aus Art. 31 WVK ergibt sich, dass grundsätzlich auch im Völkerrecht der Wortlaut einer Norm den Ausgangspunkt für jede methodische Vorgehensweise bietet. Dieser

91 Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht (4. Aufl. 2007), 1. Abschnitt, Rn. 124. 92 Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht (5. Aufl. 2004), § 11 Rn. 4, 16.

242

Matthias Pechstein/Carola Drechsler

§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

Wortlaut wird nach dem Ziel der Norm, dem Zusammenhang der Norm im gesamten Vertragswerk und ihrem Sinn (Gegenstand) und Zweck (object and purpose) interpretiert. Zum Gesamtwerk eines Vertrages gehören neben dem Vertragstext auch die Präambel, die Anlagen und jede sich auf den Vertragstext beziehende Übereinkunft.93 a)

Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung

Hinsichtlich der Grundsätze einer Wortlautauslegung gilt im Völkerrecht nichts anderes als im supranationalen Unionsrecht. Es ist der allgemeine Sprachgebrauch zu erforschen und die Begriffe dementsprechend zu interpretieren. Für diesen allgemeinen Sprachgebrauch ist allerdings nicht der Zeitpunkt der notwendigen Interpretation entscheidend, sondern der Zeitpunkt des Vertragsschlusses.94 Allein wenn der Wortlaut eindeutig und ihm eine unmissverständliche Bedeutung zu entnehmen ist, ist dieses Verständnis der Norm verbindlich.95 Im Bereich des intergouvernementalen Unionsrechts kann dieser völkerrechtliche Grundsatz des in claris non fit interpretatio aufgrund der außerordentlichen Vielfalt der unterschiedlichen verbindlichen Sprachfassungen und der damit oftmals fehlenden Eindeutigkeit des Wortlauts allerdings kaum Berücksichtigung finden.96 Auch besteht im Völkerrecht gemäß Art. 33 Abs. 1 WVK kein Rangverhältnis zwischen den verschiedenen Sprachfassungen eines Vertrages, vielmehr sind alle Sprachfassungen gleichermaßen verbindlich. b)

Systematische Auslegung

Neben der grammatikalischen Auslegungsmethode wird auch zur Interpretation völkerrechtlicher Verträge die systematische Auslegungsmethode angewandt, dies ist insbesondere bei mehrsprachigen Verträgen notwendig, um den Sinn und Zweck einer Norm zu erforschen. Die entsprechende Norm wird danach im Kontext der anderen Normen des Vertrages untersucht und in einen Zusammenhang gestellt. Aus diesem Zusammenhang wird der Sinn einer Norm deutlicher, in der Regel wird keine unabhängige, sich selbst genügende Norm in einen Vertrag aufgenommen, die Normen bauen vielmehr regelmäßig aufeinander auf. Insbesondere zur Vermeidung von Widersprüchen kann daher die systematische Auslegung hilfreich sein. c)

46

47

Teleologische Auslegung

Neben der systematischen Auslegungsmethode, welche alle Normen eines Vertrages in einem Gesamtgefüge interpretiert, geht auch die teleologische Auslegung im Völkerrecht von den Zielen des Vertrages aus. Eine Norm ist im Zusammenhang mit dem Gesamtziel des Vertrages auszulegen. Dabei ist zu unterstellen, dass jede Norm ihren

93 Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht (4. Aufl. 2007), 1. Abschnitt, Rn. 123. 94 Siehe dazu: Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht (5. Aufl. 2004), § 11 Rn. 6. 95 Bernhardt, Verfassungsprinzipien – Verfassungsfunktionen – Verfassungsprozeßrecht im EWG-Vertrag, S. 58. 96 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 162.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

eigenen Sinngehalt hat, der für die Zielerreichung des Vertrages notwendig ist. Da grundsätzlich vom Wortlaut des Vertrages auszugehen ist, sind auch Ziel und Zweck eines Vertrages aus diesem selbst zu entnehmen.97

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Eine objektiv-teleologische Auslegung im Hinblick auf den Grundsatz des effet utile ist im Völkerrecht dagegen nur eingeschränkt möglich, nämlich soweit, wie sie die (festzustellende) subjektive Teleologie der Vertragsparteien nicht überschreitet. Eine derartige dynamische Interpretation, die auch weitgehende, bei Vertragsschluss unbedachte Beschränkungen der Handlungsfreiheit der Vertragsstaaten bewirken kann, ist im Völkerrecht aufgrund der Staatensouveränität und deren gebotenem Schutz regelmäßig nicht möglich, auch wenn es insoweit Gegenbeispiele gibt.98 3.

50

Entsprechend Art. 32 WVK sind die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses ergänzende Mittel, um die sich aus der Auslegung anhand verschiedener Methoden ergebenden Bedeutungen einer Norm zu bestätigen. a)

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Historische Auslegung

Eine historische Auslegung findet demnach nur ergänzend statt. Bei multilateralen Verträgen, denen Staaten erst später beigetreten sind, sind die Entstehungsmaterialien nur dann zu berücksichtigen, wenn diese den später beitretenden Staaten vorher zugänglich gemacht wurden und von ihnen angenommen wurden.99 Die Vorarbeiten zum Vertrag von Maastricht und den darauf folgenden Änderungsverträgen sind zwar teilweise veröffentlicht und den Beitrittskandidaten zugänglich gemacht worden, sie sind bis jetzt vom Gerichtshof aber nicht zur Entscheidungsfindung herangezogen worden.100 Dies könnte daran liegen, dass die Vorarbeiten zu den Römischen Verträgen, also zum Abschluss der Verträge zu den Europäischen Gemeinschaften, nicht veröffentlicht wurden und daher auch nicht für eine Auslegung herangezogen werden können. Insoweit ist es möglich, dass der Gerichtshof auf eine historische Auslegung der Gründungsverträge generell verzichten möchte, zumal die historische Auslegungsmethode prinzipiell geeignet ist, den vom EuGH bislang gezeigten Willen zur Förderung der Integration durch eine teleologische Auslegung zu bremsen. b)

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Ergänzende Auslegungsmittel Art. 32 WVK

Rechtsvergleichende Auslegung

Die Erkenntnis allgemeiner Rechtsgrundsätze durch den EuGH, soweit er nach Art. 275 AEUV zuständig ist, kann auch im intergouvernementalen Unionsrecht nur im Wege einer wertenden Rechtsvergleichung erfolgen.101 Bei der Entwicklung all-

97 Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht (5. Aufl. 2004), § 11 Rn. 10. 98 Zu denken ist etwa an die Auslegung des Begriffs der „Bedrohung des Friedes“ in Art. 39 SVN durch den Sicherheitsrat, vgl. Fischer, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 60 Rn. 8. 99 Siehe dazu: Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 11 Rn. 18. 100 Leisner, EuR 2007, 689, 696. 101 Streinz-Huber, Art. 220 EG Rn. 14.

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§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

gemeiner Rechtsgrundsätze der Europäischen Union ist eine Orientierung an den völkerrechtlichen Rechtsgrundsätzen und völkerrechtlichen Methoden geboten. Hinsichtlich der zu vergleichenden Rechtsordnungen stellt sich die Frage, ob es sich ausschließlich um die Rechtsordnungen der Vertragsparteien handeln muss, oder ob auch andere repräsentative Rechtsordnungen für einen Vergleich herangezogen werden können. Für allgemeine universelle Rechtsgrundsätze mögen für den Rechtsvergleich auch repräsentative „dritte“ Rechtsordnungen herangezogen werden können, wobei der Feststellung der über die Vertragsstaaten hinausreichenden Geltung aber nur bestätigende Wirkung zukommen kann. Für die Entwicklung regionaler allgemeiner Rechtsgrundsätze sind jedoch ausschließlich die Rechtsordnungen der entsprechenden Region ausschlaggebend.102 Dies lässt sich für das Recht der Europäischen Union inzwischen auch dem EU-Vertrag selbst entnehmen, wenn Art. 6 Abs. 3 EUV/6 Abs. 2 EU für die geltenden und zu achtenden Grundrechte auf die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten verweist und Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV die Charta der Grundrechte für verbindlich erklärt. Ob die Rechtsgrundsätze allerdings allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bekannt sein müssen, oder ob es genügt, dass die Rechtsordnungen einem solchen Rechtsgrundsatz nicht entgegenstehen, ist strittig.103 Aufgrund des das Völkerrecht tragenden Grundsatzes der Gleichheit der Staaten wäre zu vermuten, dass ein Rückgriff auf die nationalen Rechtsordnungen nur möglich ist, wenn die Rechtsgrundsätze in allen nationalen Rechtsordnungen der Vertragsparteien gelten. Aufgrund der unterschiedlichen Regelungsdichte in den einzelnen Rechtsordnungen kann aber wohl davon ausgegangen werden, dass es ausreicht, wenn über die Geltung in mehreren Rechtsordnungen hinaus die anderen Rechtsordnungen dem entsprechenden Rechtsgrundsatz nicht entgegenstehen. Dies bedeutet jedoch im Umkehrschluss nicht, dass innerstaatliche Rechtsvorschriften den Inhalt und die Bedeutung der Normen des EU-Vertrages bestimmen können. Vielmehr trägt die Rechtsvergleichung nur dazu bei, den Sinngehalt entlehnter Rechtsbegriffe zu ergründen.104 4.

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Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander

Ähnlich wie im supranationalen Unionsrecht besteht auch im intergouvernementalen Unionsrecht kein Rangverhältnis zwischen den anzuwendenden Auslegungsmethoden. Weder der Rechtsprechung des Gerichtshofes noch der WVK kann eine Entscheidung für den Vorrang der einen oder der anderen Auslegungsmethode entnommen werden. Es gelten einzig die bereits erwähnten Besonderheiten im Völkerrecht, wonach in erster Linie der subjektive Wille der Vertragsparteien zu erkunden ist. Die Anwendung der Auslegungsmethoden richtet sich nach diesem Grundsatz.

102 Bleckmann, in: ders. (Hrsg.), Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 105, 107. 103 Bleckmann, in: ders. (Hrsg.), Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 105, 107. 104 Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 220 EG Rn. 48. Matthias Pechstein/Carola Drechsler

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2. Teil: Allgemeiner Teil

VI. Rechtsfortbildung 55

Führen die klassischen Auslegungsmethoden zu absurden105 oder willkürlichen106 Auslegungsergebnissen, so lehnt der Gerichtshof diese ab. Um zu einem vertretbaren Ergebnis zu kommen, unternimmt er in solchen Fällen oft eine Rechtsfortbildung.107 Eine solche richterliche Rechtsfortbildung stellt einerseits grundsätzlich ein aliud zur Auslegung dar, da es sich dabei um eine Fortbildung des geltenden Rechts handelt und gerade nicht um eine Auslegungsmethode, denn die Grenzen der Auslegung sind in diesen Fällen überschritten.108 Andererseits fällt gerade im primären supranationalen Unionsrecht mit einer sehr „ausdehnenden, teleologischen und am effet utile orientierten Auslegung“109 von oftmals tatbestandlich wenig konturierten Normen eine Abgrenzung zwischen teleologischer Auslegung und Rechtsfortbildung schwer. Auch die rechtsvergleichende Auslegung, welche insbesondere aufgrund der verschiedenen Sprachfassungen und der unterschiedlichen Rechtssysteme in den einzelnen Mitgliedstaaten im Unionsrecht Anwendung findet, geht teilweise in eine richterliche Rechtsfortbildung über. Voraussetzung für eine Rechtsfortbildung ist – wie bei der Analogie – eine planwidrige Regelungslücke,110 besteht diese, muss die Rechtsfortbildung zusätzlich durch besondere Funktionserfordernisse gerechtfertigt sein.111

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Für die Gründungsverträge, aber auch für die Ergänzungsverträge von Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon ist anerkannt, dass sie so rudimentär und ausfüllungsbedürftig angelegt waren, dass ein Bedürfnis zur Rechtsfortbildung und dynamischen Entwicklung von Anfang an bestand.112 Das Recht auf eine richterliche Rechtsfortbildung entnahm der Gerichtshof der Formulierung des Art. 220 Abs. 1 EG (jetzt Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV), wonach er selbst „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages“ sichern soll.113 Er ist in der Rechtsprechung autonom und kann zur Schließung von Lücken neues Recht schaffen.114 Insoweit ist er nicht nur auf die Anwendung des Vertrages festgelegt, sondern auch auf das Recht selbst, wobei jegliche Erkenntnisquelle berücksichtigt werden kann und soll. Diese Interpretation unterstützt auch das Bundesverfassungsgericht. In seinem Maastricht-Urteil und dem Urteil zum Vertrag von Lissabon zieht es für eine mögliche Rechtsfortbildung des Gerichtshofes Grenzen, welche auch den nationalen Verfassungsgerichten gesetzt werden.115 Danach müssen die Ermächtigungen hinreichend

105 EuGH v. 13.2.1980 – Rs. 77/79 Damas ./. FORMA, Slg. 1980, 247 Rn. 10. 106 EuGH v. 14.7.1977 – Rs. 1/77 Bosch GmbH ./. Hauptzollamt Hildesheim, Slg. 1977, 1473 Rn. 4. 107 Eingehend Neuner, in diesem Band, § 13. 108 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 50. 109 Everling, JZ 2000, 217, 218. 110 Zur Lückenfeststellung Neuner, in diesem Band, § 13 Rn. 28–30. 111 Schroeder, JuS 2004, 180, 184. 112 Everling, JZ 2000, 217, 220. 113 Everling, JZ 2000, 217, 221. 114 Völter, Der Lückenschluss im Statut der europäischen Privatgesellschaft (2000), S. 177. 115 BVerfGE 89, 155, 209; BVerfGE 123, 267, Rn. 238.

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§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

bestimmbar und das rechtsverbindliche Tätigwerden der Gemeinschaft vorhersehbar sein.116 Die wohl wichtigsten Entscheidungen, welche von einer Fortbildung des Unionsrechts getragen werden, hat der Gerichtshof in den Bereichen Grundfreiheiten, Grundrechte und dem „gemeinschaftsrechtlichen Schadensersatzanspruch“ der Bürger bei Vertragsverletzungen der Mitgliedstaaten getroffen. Diese Entscheidungen sind wegweisend für eine dynamische Entwicklung des Gemeinschaftsrechts gewesen und stellen heute anerkannte Grundpfeiler des Unionsrechts dar.

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Im Bereich der Grundfreiheiten hat der Gerichtshof sehr früh anerkannt, dass die Normen über ihren eigentlichen Wortlaut hinaus interpretiert werden müssen, um den steigenden Anforderungen an den Binnenmarkt gerecht werden zu können.117 Der Gerichtshof verstand und interpretierte die Grundfreiheiten zunächst weitgehend als Diskriminierungsverbote im Sinne des auch im völkerrechtlichen Fremdenrecht bekannten Inländergleichbehandlungsgrundsatzes. Mit zunehmendem Handel und zunehmenden staatlichen Abgrenzungstendenzen sowie protektionistischen Maßnahmen der Mitgliedstaaten musste der Gerichtshof seine Interpretation verstärkt an den Zielen des Vertrags ausrichten. Dabei wendet er zwar auch die teleologische und systematische Auslegungsmethode an, gegen den z.T. eindeutigen Wortlaut konnten sie aber keine neuen Erkenntnisse bringen. Insoweit war der Gerichtshof im Sinne des Vertrages und seiner Ziele zu einer Rechtsfortbildung angehalten. Die Grundfreiheiten wurden daher verstärkt auch als Beschränkungsverbote interpretiert.118 Allein diese Interpretation wird den heutigen Anforderungen an einen gemeinsamen Binnenmarkt gerecht. Auch ist keiner der Mitgliedstaaten gegen diese Interpretation vorgegangen oder hat gar eine Vertragsänderung in diesem Bereich in den auf die Urteile folgenden Vertragsrevisionen gefordert. Vielmehr haben umfangreiche Rechtsfortbildungen des Europäischen Gerichtshofes Eingang in den Vertrag von Lissabon gefunden. Ein Widerspruch dieser Interpretation zu dem Willen der Vertragsparteien lässt sich daher nicht feststellen.

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Eine ähnliche Entwicklung lässt sich beim Grundrechtsschutz beobachten. Enumerativ aufgezählte Grundrechte enthielten die Gemeinschaftsverträge und der Unionsvertrag nicht. Gleichwohl hat der EuGH eine Vielzahl von Grundrechten auf der Grundlage allgemeiner Rechtsgrundsätze, orientiert an der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, anerkannt und deren Inhalt selbständig entwickelt.119 Dies hat später Art. 6 Abs. 2 EU (jetzt Art. 6 Abs. 3 EUV) anerkannt und aufgenommen. Diese Grundrechte sind inzwischen in der nun ver-

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116 BVerfGE 89, 155, 187; BVerfGE 123, 267, Rn. 239. 117 EuGH v. 11.7.1974 – Rs. 8/74 Dassonville, Slg. 1974, 837 Rn. 5. 118 EuGH v. 14.2.1995 – Rs. C-279/93 Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 26; EuGH v. 27.9.1988 – Rs. 81/87 The Queen ./. Treasury and Commissioners of Inland Revenue, Slg. 1988, 5483 Rn. 17 – Daily Mail. 119 EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 29/69 Stauder ./. Stadt Ulm, Slg. 1969, 419 Rn. 3, 4; EuGH v. 21.9.1989 – verb. Rs. 46/87 und 227/88 Hoechst AG ./. Kommission, Slg. 1989, 2859 Rn. 13; EuGH v. 11.1.2000 – Rs. C-285/98 Tanja Kreil, Slg. 2000, I-69 Rn. 23. Matthias Pechstein/Carola Drechsler

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2. Teil: Allgemeiner Teil

bindlichen Grundrechtscharta festgeschrieben worden. Insofern hat die richterliche Rechtsfortbildung der Kodifizierung vorgearbeitet und diese geprägt.

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Anders als bei den Grundfreiheiten und den Grundrechten, welche in den Verträgen zumindest aufgeführt werden und vom Gerichtshof nur ausgefüllt wurden, hat er im Staatshaftungsrecht Rechtsfortbildung ohne eine textuelle Grundlage im Vertrag betrieben. Für Verstöße der Mitgliedstaaten gegen das Unionsrecht, soweit diese Verstöße Rechte von Bürgern betreffen, enthalten die Unionsverträge keinen Schadensersatzanspruch. Aus dem Sinn und Zweck des Vertrages, dem anerkannten Vorrang des Unionsrechts und dem Grundsatz des effet utile, hat der EuGH gefolgert, dass auch ein „gemeinschaftsrechtlicher Schadensersatzanspruch“ besteht.120 Dieser wurde im Laufe der Zeit nicht nur für legislatives Unrecht anerkannt, sondern gilt inzwischen selbst für judikatives Unrecht.121

VII. Zusammenfassung 61

Die vom Gerichtshof angewandten Auslegungsmethoden orientieren sich an den nationalen und völkerrechtlichen Methodengrundsätzen. Aufgrund der „Eigenständigkeit“ der Rechtsordnung des Unionsrechts werden diese Methoden der Unionsrechtsordnung jedoch angepasst, so dass die unbesehene Übertragung der nationalen Methoden und der völkerrechtlichen Methode nicht möglich ist. Das Unionsrecht stellt daher eigene methodische Anforderungen. Insoweit haben einige Auslegungsmethoden aufgrund der Struktur der Unionsrechtsordnung und ihrer vertraglich angelegten spezifischen Integrationsdynamik keine Bedeutung, wie insbesondere die historische Auslegung. Andere Methoden, wie die teleologische Auslegung, haben im supranationalen Unionsrecht dagegen eine viel gewichtigere Bedeutung als im nationalen Recht. Dabei wendet der Gerichtshof nicht nur eine einzelne Auslegungsmethode an, sondern kombiniert verschiedene Methoden, wobei Ausgangspunkt in allen Fällen der Wortlaut der Norm in allen verbindlichen Sprachfassungen ist. Die angewandten Auslegungsmethoden dienen im Ergebnis der Einheitlichkeit der Anwendung und der Effektivität des supranationalen Unionsrechts.

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Hinsichtlich des intergouvernementalen Unionsrechts ist zu beachten, dass es eine deutlich stärker völkerrechtlich geprägte Rechtsnatur hat und dementsprechend den völkerrechtlichen Auslegungsregelungen, wie sie sich aus der Wiener Vertragsrechtskonvention ergeben, eine größere Bedeutung zukommt. Im intergouvernementalen Unionsrecht kommt es daher zunächst auf den subjektiven Willen der Vertragsparteien beim Vertragsschluss an. Da aber auch das intergouvernementale Unionsrecht von einer eigenen Dynamik getragen ist, findet dieser Grundsatz wiederum nur ein-

120 EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich u.a., Slg. 1991, I-5357 Rn. 31–36; EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 Brasserie du pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029 Rn. 28 f. 121 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 Köbler ./. Republik Österreich, Slg. 2003, I-10239 Rn. 51–55.

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§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

geschränkt Anwendung und es ist ergänzend auf die systematische und teleologische Auslegung zurückzugreifen, wobei insbesondere die letztere im Völkerrecht ansonsten nur eine sehr geringe Bedeutung hat. Neben der Auslegung der Normen bildet der Gerichtshof, anders als die nationalen und internationalen Gerichte, verstärkt das supranationale Unionsrecht fort. Dabei handelt es sich um eine über die Auslegung hinausgehende Rechtsinterpretation. Trotz der umstrittenen Bedeutung der Rechtsfortbildung kann davon ausgegangen werden, dass die vom Gerichtshof betriebene richterliche Rechtsfortbildung von den Verfassern der Verträge grundsätzlich gewollt war – zumindest in ihrer Gesamtheit nachträglich gebilligt wird – und die Dynamik des Unionsrechts mit trägt.

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Mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon sollte zwar die bisherige Säulenstruktur der Union aufgehoben werden. Die GASP bleibt jedoch auch weiterhin intergouvernementales Recht für dessen Auslegung der EuGH grundsätzlich nicht zuständig ist.

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Für die weitere Entwicklung der Auslegung haben die geänderten Unionsverträge insoweit Konsequenzen, als sie eine neue Struktur für das Unionsrecht aufweisen. So wird das bis jetzt nicht konsequent durchgehaltene System von Regel und Ausnahme wesentlich verbessert und den jeweiligen Titeln werden allgemeine Normen, welche für den gesamten Titel gelten sollen, vorangestellt. Diese neue Systematik des Vertrages kann dem Gerichtshof bei einer systematischen Auslegung des Unionsrechts hilfreich sein.

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Weiterhin ist in den letzten Jahren der EuGH in seiner Rechtsprechung dazu übergegangen vermehrt auf seine eigene Rechtsprechung zu verweisen.122 Es ist davon auszugehen, dass dieser Trend anhält. Mit der Verweisung auf seine frühere Rechtsprechung ersetzt der EuGH den klassischen Auslegungskanon. Damit erreicht der Gerichtshof eine Arbeitsersparnis und eine kontinuierliche Rechtsfortbildung. Unbestimmte Rechtsbegriffe müssen nicht in jedem Verfahren neu entwickelt und definiert werden, sondern können mit den Verweisungen ohne neuerliche Begründungen übernommen werden.123 Die Verweisung auf die eigene Rechtsprechung beinhaltet den Vorteil, dass eine nachträgliche Kontrolle der eigenen Rechtsprechung erfolgt, aber auch eine Weiterentwicklung derselben deutlich gemacht werden kann.

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122 Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 134. 123 Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 42, 43.

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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung Stefan Leible/Ronny Domröse

Übersicht I. Funktion, Begriff und Spielarten der primärrechtskonformen Auslegung . . . . . II. Die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts . . . . . . . 1. Das primäre Unionsrecht als Maßstab für die Auslegung abgeleiteten Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die möglichen Bezugspunkte im primären Unionsrecht . . . . . . . . . . . b) Die Auswahl des richtigen Bezugspunkts im Primärrecht: grundfreiheitenund grundrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bindung der Unionsorgane an die Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . bb) Grundfreiheitenkonforme Auslegung und Mindestharmonisierung . . cc) Grundfreiheitenkonforme Auslegung bei Totalharmonisierung . . . . . (1) Feststellung einer beschränkenden Wirkung totalharmonisierender Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Unterscheidung zwischen grundfreiheiten- und grundrechtskonformer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung abgeleiteten Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Rechtmäßigkeitsvermutung abgeleiteten Unionsrechts . . . . . . . . . b) Der Systemgedanke, der Vorrang des primären Unionsrechts und die Respektierung der Autorität des Unionsgesetzgebers . . . . . . . . . . . . . 3. Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre . 4. Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts . . . . . . . . . . 1. Das primäre Unionsrecht als Maßstab für die Auslegung nationalen Rechts . a) Die möglichen Bezugspunkte im primären Unionsrecht . . . . . . . . . . b) Die Begrenzung des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts auf den Anwendungsbereich des primären Unionsrechts . . . . . 2. Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts a) Der Wille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers bei der „Umsetzung“ primärrechtlicher Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Begründung auf der Grundlage des Systemdenkens? . . . . . . . . . . . .

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Rn. 3–6 7–37 8–19 8 9–19 10 11 12–19 13 14–19 20–26 21 22–26 27–28 29–30 31–37 32–35 36–37

. . .

38–59 39–41 39

.

40–41 42–49

. .

43–44 45

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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung c) Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts und die Rücksichtnahme auf die mitgliedstaatliche Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre . 4. Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nationales Recht des forum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nationales Recht anderer EU-Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Exkurs: Das primäre Unionsrecht als Gegenstand der Konformauslegung? 1. Primärrechtskonforme Auslegung des Primärrechts . . . . . . . . . . . 2. Sekundärrechtskonforme Auslegung des Primärrechts . . . . . . . . . 3. National-verfassungskonforme Auslegung des Primärrechts . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

46–49 50–51 52–54 52 53–54 55–59 55–56 57–59 60–68 61–65 66 67–68

Literatur: Jochen Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1997); Marietta Auer, Die primärrechtskonforme Auslegung, in: Jörg Neuner (Hrsg.), Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht (2007), S. 27–54; Carsten Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1998); Ulrich Ehricke, Die richtlinienkonforme und die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts – Ein Beitrag zu ihren Grundlagen und zu ihrer Bedeutung für die Verwirklichung eines „europäischen Privatrechts“, RabelsZ 59 (1995), 598–644; Olivier Gänswein, Der Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts – Erscheinungsformen und dogmatische Grundlagen eines Rechtsprinzips des Unionsrechts (2009); Carsten Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen – Methoden, Kompetenzen, Grenzen dargestellt am Beispiel des Privatrechts (2006); Clemens Höpfner, Die systemkonforme Auslegung – Zur Auflösung einfachgesetzlicher, verfassungsrechtlicher und europarechtlicher Widersprüche im Recht (2008); Kai Krieger, Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des deutschen Rechts (2005); Alexander S. Metallinos, Die europarechtskonforme Auslegung (1994); Martin Nettesheim, Auslegung und Fortbildung nationalen Rechts im Lichte des Gemeinschaftsrechts, AöR 119 (1994), 261–293; Friedrich Rüffler, Aspekte primärrechtskonformer und sekundärrechtskonformer Auslegung nationalen Lauterkeitsrechts, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999), S. 97–112; Manfred Zuleeg, Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung und Fortbildung mitgliedstaatlichen Rechts, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999), S. 163–177. Rechtsprechung: EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, Slg. 1983, 4063; EuGH v. 25.11.1986 – verb. Rs. 201/85 und 202/85 Klensch, Slg. 1986, 3477; EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673; EuGH v. 27.1.1994 – Rs. C-98/91 Herbrink, Slg. 1994, I-223; EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 ICI, Slg. 1998, I-4725; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-262/97 Engelbrecht, Slg. 2000, I-7321; EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-8/02 Leichtle, Slg. 2004, I-2641; EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, Slg. 2006, I-2397.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

1

Eine häufig praktizierte, in der juristischen Methodenlehre aber wenig beachtete Auslegungsmethode ist die primärrechtskonforme Auslegung. Dem deutschen Juristen ist sie strukturell nicht unbekannt, da sie an die verfassungskonforme Auslegung erinnert und wie diese eine Erscheinungsform einer allgemeinen hermeneutischen Regel ist, nach der rangniedere Normen im Einklang mit ranghöheren Normen auszulegen sind.1 Da der EuGH den EG-Vertrag (jetzt den EU- und AEU-Vertrag) als Verfassungsurkunde der Gemeinschaft (jetzt der Europäischen Union) qualifiziert,2 kann man in der Tat anstatt von primärrechtskonformer auch von (europa-) verfassungskonformer Auslegung sprechen.3

2

Bisweilen wird sogar angenommen, die Prinzipien der verfassungskonformen Auslegung ließen sich auf das Europarecht übertragen.4 Das geht freilich zu weit, da für beide Auslegungsmethoden teilweise unterschiedliche Regeln gelten. Der primärrechtskonformen Auslegung sind beispielsweise andere Grenzen gesetzt als der verfassungskonformen Auslegung (vgl. Rn. 55 ff.). Einige Gemeinsamkeiten lassen sich allerdings nicht leugnen.

I. 3

Funktion, Begriff und Spielarten der primärrechtskonformen Auslegung

Gemeinsam ist beiden Auslegungsmethoden vor allem ihre Funktion. Ebenso wie der verfassungskonformen Auslegung5 kommt der primärrechtskonformen Auslegung die Aufgabe zu, einen Normenkonflikt zwischen höherrangigem und niederrangigem Recht dergestalt aufzulösen, dass das niederrangige Recht nicht zu verwerfen ist. Grundsätzlich sind Widersprüche zwischen unionsrechtlichen Normen unterschiedlichen Rangs durch Nichtig- bzw. Ungültigerklärung der niederrangigen Norm zu beseitigen, für die der Gerichtshof zuständig ist (Art. 19 Abs. 3 lit. a) EUV, Art. 263, 264 Abs. 1 AEUV/230, 231 Abs. 1 EG bzw. Art. 19 Abs. 3 lit. b) EUV, Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV/234 Abs. 1 lit. b) EG). Der Sache nach nichts anderes gilt für Widersprüche zwischen Normen des Unionsrechts und des mitgliedstaatlichen Rechts. Die mitgliedstaatliche Norm, die gegen Unionsrecht verstößt, ist zwar nicht nichtig, doch die innerstaatlichen Gerichte dürfen diese Norm nicht mehr anwenden (vgl. Rn. 58). Die primärrechtskonforme Auslegung erhält indessen die Geltung der Norm, die an

1 Vgl. Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung (1986), S. 20; s.a. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 233, 456; Wank, Die Auslegung von Gesetzen (4. Aufl. 2008), S. 57; VwGH, ZfVB 1993/1555; VwGH, VwSlg 15065 A/1999; krit. Auer, in: Neuner (Hrsg.), Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht, S. 28 f. 2 Vgl. z.B. EuGH v. 23.4.1986 – Rs. 294/83 Les Verts, Slg. 1986, 1339 Rn. 23; ebenso schon BVerfGE 22, 293, 296. 3 So z.B. BAGE 71, 56, 65; GA Stix-Hackl, SchlA v. 18.3.2004 – Rs. C-36/02 OMEGA, Slg. 2004, I-9609 Tz. 57; Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem (2002), S. 364; ders., JuS 2004, 180, 182; Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht (1994), S. 75. 4 So Engisch, Einführung in das juristische Denken (9. Aufl. 1997), S. 102 f. Fn. 50; wohl auch Rüffler, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999), S. 98. 5 Vgl. dazu z.B. Canaris, FS Kramer (2004), S. 148 ff.; Lüdemann, JuS 2005, 27, 28 f.

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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung

und für sich im Widerspruch zum primären Unionsrecht steht. Die Norm wird so interpretiert, dass sie mit den Geboten des primären Unionsrechts vereinbar und deshalb nicht „zu verwerfen“ ist. Die primärrechtskonforme Auslegung dient also der Normerhaltung. Diese Funktion unterscheidet die primärrechtskonforme Auslegung von den übrigen Auslegungskanones, die nur der Ermittlung des Norminhalts dienen und nicht auch als „Auslegungsstrategien“ zur Geltungserhaltung von Normen fungieren.6 Ausgehend von ihrer Funktion ist der Begriff der primärrechtskonformen Auslegung zu bestimmen. Von primärrechtskonformer Auslegung sollte man immer nur dann sprechen, wenn eine primärrechtswidrige Auslegung möglich ist und es um die Entscheidung zwischen dieser und einer primärrechtskonformen Auslegungsvariante geht.7 Dieses Begriffsverständnis schließt nicht aus, dass man sich schon im Auslegungsprozess – im Rahmen der systematischen und teleologischen Interpretation – an den primärrechtlichen Geboten orientiert und primärrechtswidrige Auslegungsvarianten ausschließt, und nicht erst das Auslegungsergebnis am Maßstab des Primärrechts misst. Verzichten sollte man auf den Begriff der primärrechtskonformen Auslegung hingegen, wenn die auszulegende Norm nicht in den Anwendungsbereich des Primärrechts fällt (näher dazu Rn. 40 ff.). Ebenso sollte man nicht von primärrechtskonformer Auslegung sprechen, wenn der Gesetzgeber Begriffe im sekundären Unionsrecht so verstanden wissen will, wie sie im primären Unionsrecht ausgelegt werden, ohne dass das Primärrecht eine entsprechende Interpretation verlangt.

4

Die Richtlinie 2004/113/EG 8 gilt für alle Personen, die Güter und Dienstleistungen bereitstellen. Ausweislich der Begründungserwägungen ist der Begriff der Güter (Art. 1, 3 Abs. 1 Richtlinie 2004/113/EG) im Sinne der den freien Warenverkehr betreffenden Bestimmungen des EG-Vertrages (jetzt AEU-Vertrages) und der Begriff der Dienstleistungen iSv Art. 50 EG (jetzt Art. 57 AEUV) zu verstehen (BE 11). Nach dem Willen des Richtliniengebers sind diese Begriffe ebenso auszulegen wie die primärrechtlichen Begriffe. Es handelt sich allerdings nicht um primärrechtskonforme Auslegung, da es nicht darum geht, eine primärrechtswidrige Auslegungsvariante auszuscheiden. Der Sache nach geht es um eine vom Gesetzgeber gewollte Begriffsverweisung und damit um eine historische Auslegung. Dementsprechend ist der im Sekundärrecht verwendete Begriff nicht zwingend so auszulegen, wie er im primären Unionsrecht zu verstehen ist, denn teleologische Erwägungen können die Abweichung vom Willen des Unionsgesetzgebers gebieten.

Um primärrechtskonforme Auslegung geht es auch dann nicht, wenn im sekundären und primären Unionsrecht identische Begriffe gebraucht werden und man sich bei der Bestimmung eines im Sekundärrecht verwendeten Begriffs an der Auslegung desselben Begriffs im Primärrecht orientiert. Die Orientierung an einem im Primärrecht

6 Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen (1997), S. 153 f. 7 Zutreffend Canaris, FS Kramer (2004), S. 154 (für die verfassungskonforme Auslegung). 8 Richtlinie 2004/113/EG des Rates v. 13.12.2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl. 2004 L 33/37.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

verwendeten Begriff für die Bestimmung eines Begriffs des Sekundärrechts ist Ausdruck des Systemdenkens; sie ist nicht mehr als eine einfach-systematische Auslegung. In der Tat besteht grundsätzlich eine Vermutung dafür, dass Begriffe im Sekundärrecht dieselbe Bedeutung haben wie gleichlautende Begriffe im Primärrecht.9 Entsprechend dem Grundsatz der Relativität der Rechtsbegriffe10 können identische Begriffe im Primär- und Sekundärrecht aber auch eine unterschiedliche Bedeutung haben. Vor allem teleologische Erwägungen können eine unterschiedliche Interpretation identischer Begriffe gebieten. So hat es der EuGH beispielsweise abgelehnt, den Begriff der Dienstleistung iSv Art. 5 Nr. 1 lit. b) EuGVVO 11 so auszulegen, wie er in Art. 50 EG (jetzt Art. 57 AEUV) definiert ist.12 Und im Hinblick auf den Arbeitnehmerbegriff im Unionsrecht betont der EuGH in ständiger Rechtsprechung, dass seine Bedeutung nicht einheitlich ist, sondern vom jeweiligen Anwendungsbereich abhängt. Dementsprechend stimmt der Arbeitnehmerbegriff im Primärrecht nicht notwendigerweise mit dem Arbeitnehmerbegriff im Sekundärrecht überein.13

6

Die primärrechtskonforme Auslegung nimmt Maß am Primärrecht der Europäischen Union.14 Das Unionsprimärrecht umfasst die in den Verträgen (EUV, AEUV) sowie in den Protokollen und Anhängen (Art. 51 EUV/311 EG) enthaltenen Regelungen sowie die vom Gerichtshof gewonnenen allgemeinen Rechtsgrundsätze, soweit sie den Rang von Primärrecht einnehmen. Darüber hinaus umfasst der Begriff des Primärrechts auch das im EAG-Vertrag enthaltene und sonstige primäre Gemeinschaftsrecht der Europäischen Atomgemeinschaft. Dementsprechend müssen die mitgliedstaatlichen Gerichte das nationale Recht auch in Übereinstimmung mit den Vorgaben des EAG-Vertrages auslegen.15 Nach dem Bezugspunkt im primären Unionsrecht (Rn. 8, 39) können als Spielarten der primärrechtskonformen Auslegung insbesondere die grundfreiheiten-, die (unions-)grundrechts- und die rechtsgrundsatzkonforme Auslegung unterschieden werden. Nach der Provenienz der auszulegenden Norm kann man zwischen der primärrechtskonformen Auslegung von abgeleitetem Unionsrecht und der primärrechtskonformen Auslegung von nationalem Recht differenzie-

9 In diesem Sinne EuGH v. 4.4.1968 – Rs. 25/67 Milch-, Fett- und Eierkontor, Slg. 1968, 312, 330; v. d. Groeben/Schwarze-Schmidt, Art. 249 EG Rn. 23. 10 Vgl. dazu nur Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 141 ff.; Wank, Die juristische Begriffsbildung (1985), S. 110 ff. 11 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates v. 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2001 L 12/1. 12 EuGH v. 23.4.2009 – Rs. C-533/07 Falco Privatstiftung, Slg. 2009 I-3327, Rn. 33–37. 13 Vgl. zuletzt EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-208/07 v. Chamier-Glisczinski, (noch nicht in Slg.) Rn. 68. 14 Noch weitergehend Auer, in: Neuner (Hrsg.), Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht, S. 29 f., die mit dem Begriff der primärrechtskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung jede Interpretation und Fortbildung niederrangigen am Maßstab des jeweils höherrangigen Rechts verstanden wissen will. 15 EuGH v. 27.10.2009 – Rs. C-115/08 EZ, (noch nicht in Slg.) Rn. 138, 140.

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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung

ren.16 Diese Unterscheidung ist vor allem im Hinblick auf die Grundlage und die Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung bedeutsam. Sie wird deshalb im Folgenden zugrunde gelegt.

II.

Die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts

Die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts ist eine Auslegungsregel, die ganz allgemein besagt, dass die Auslegung einer Vorschrift des abgeleiteten Rechts – z.B. einer Richtlinie –, die mit den Vorgaben des höherrangigen Primärrechts in Einklang steht, der Auslegung vorzuziehen ist, bei der die Vorschrift als mit dem Primärrecht unvereinbar eingestuft werden müsste.17 Diese Auslegungsregel hat der Gerichtshof jüngst im Urteil Werhof aus dem Grundsatz der Einheit der Unionsrechtsordnung abgeleitet (näher dazu Rn. 20 ff.).18 Zuvor hatte er diese Regel – anders als für das nationale Recht (Rn. 38) – nicht ausdrücklich anerkannt, ist aber in der Sache danach verfahren.19 1.

Das primäre Unionsrecht als Maßstab für die Auslegung abgeleiteten Unionsrechts

a)

Die möglichen Bezugspunkte im primären Unionsrecht

Das Gebot primärrechtskonformer Auslegung bezieht sich auf das gesamte Primärrecht.20 Mögliche Bezugspunkte der primärrechtskonformen Auslegung in den Verträgen (EUV, AEUV) sind vor allem die Grundfreiheiten.21 Aber auch alle anderen 16 Zur primärrechtskonformen Auslegung von Übereinkünften iSv Art. 307 EG (jetzt Art. 351 AEUV) vgl. EuGH v. 18.11.2003 – Rs. C-216/01 Budeˇjovicky´ Budvar, Slg. 2003, I-13617 Rn. 168–170. Nicht überzeugend gegen den Begriff der primärrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 218 und ders./Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 23. 17 Vgl. z.B. EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, Slg. 1983, 4063 Rn. 13 ff.; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1986, 3755 Rn. 62; EuGH v. 21.3.1991 – Rs. C-314/89 Rauh, Slg. 1991, I-1647 Rn. 17. 18 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, Slg. 2006, I-2397 Rn. 32. 19 Vgl. EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, Slg. 1983, 4063 Rn. 15; EuGH v. 25.11.1986 – verb. Rs. 201/85 und 202/85 Klensch, Slg. 1986, 3477 Rn. 21; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1986, 3755 Rn. 62; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 206/84 Kommission ./. Irland, Slg. 1986, 3817 Rn. 15; EuGH v. 21.3.1991 – Rs. C-314/89 Rauh, Slg. 1991, I-1647 Rn. 17; EuGH v. 10.7.1991 – verb. Rs. C-90/90 und C-91/90 Neu, Slg. 1991, Slg. I-3617 Rn. 12; EuGH v. 27.1.1994 – Rs. C-98/91 Herbrink, Slg. 1994, I-223 Rn. 9; EuGH v. 29.6.1995 – Rs. C-135/93 Spanien ./. Kommission, Slg. 1995, I-1651 Rn. 37; EuGH v. 5.6.1997 – Rs. C-105/94 Celestini, Slg. 1997, I-2971 Rn. 32. 20 EuGH v. 19.11.2009 – verb. Rs. C-402/07 und C-432/07 Sturgeon, (noch nicht in Slg.) Rn. 48. 21 Vgl. z.B. EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1986, 3755 Rn. 62; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 206/84 Kommission ./. Irland, Slg. 1986, 3817 Rn. 15; EuGH v. 9.6.1992 – Rs. C-47/90 Delhaize, Slg. 1992, I-3669 Rn. 26; EuGH v. 11.7.1996 – verb. Rs. C-427/93, C-429/93 und C-436/93 Bristol-Myers Squibb u.a., Slg. 1996, I-3457 Rn. 27; EuGH v. 20.3.1997 – Rs. C-352/95 Phytheron International, Slg. 1997, I-1729 Rn. 18. Stefan Leible/Ronny Domröse

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7

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Regelungen, wie z.B. Art. 4 Abs. 3 EUV/10 EG,22 die Kompetenzgrundlagen23 oder das Wettbewerbsrecht (Art. 101 ff. AEUV/81 ff. EG),24 können als primärrechtlicher Auslegungsmaßstab heranzuziehen sein. Außerdem ist das abgeleitete Unionsrecht gemäß den allgemeinen Rechtsgrundsätzen,25 zu denen insbesondere die Unionsgrundrechte26 zählen, und den primärrechtlichen Prinzipien auszulegen. Der EuGH hatte über die Frage zu entscheiden, ob es mit Art. 3 Abs. 1 Betriebsübergangsrichtlinie 197727 (BÜRL 1977) vereinbar ist, wenn der nicht tarifgebundene Betriebserwerber an eine Vereinbarung zwischen dem tarifgebundenen Betriebsveräußerer und dem Arbeitnehmer, nach der die jeweiligen Lohntarifverträge, an die der Betriebsveräußerer gebunden ist, Anwendung finden, in der Weise gebunden ist, dass der zur Zeit des Betriebsübergangs gültige Lohntarifvertrag Anwendung findet, nicht aber später in Kraft tretende Lohntarifverträge. Der Gerichtshof hat die Frage bejaht.28 Er stützt sich auf eine primärrechtskonforme Auslegung von Art. 3 Abs. 1 BÜRL 1977 am Maßstab der negativen Vereinigungsfreiheit, die das Recht umfasst, einer Gewerkschaft nicht beizutreten. Die Auslegung, die eine Bindung des Betriebserwerbers an künftige Kollektivverträge, denen er nicht angehöre, erlaube, könne sein Grundrecht der negativen Vereinigungsfreiheit beeinträchtigen. Die Bindung des Erwerbers hätte Folgen, die denen von Verträgen zu Lasten Dritter gleichkämen.29 Dementsprechend hat der Gerichtshof Art. 3 Abs. 1 BÜRL 1977 dahin ausgelegt, dass der Betriebserwerber nicht an künftige Kollektivverträge gebunden ist. So wird sein Grundrecht auf negative Vereinigungsfreiheit umfassend gewährleistet.

b)

9

Die Auswahl des richtigen Bezugspunkts im Primärrecht: grundfreiheitenund grundrechtskonforme Auslegung

Nicht immer orientiert der Gerichtshof die Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts am richtigen Bezugspunkt im Primärrecht. Das lässt sich am Beispiel der grundfreiheiten- und grundrechtskonformen Auslegung verdeutlichen.

22 EuG v. 18.9.1996 – Rs. T-353/94 Postbank ./. Kommission, Slg. 1996, II-921 Rn. 63. 23 Vgl. z.B. EuGH v. 5.7.1967 – Rs. 1/67 Ciechelski, Slg. 1967, 240, 250; EuGH v. 8.3.2001 – Rs. C-215/99 Jauch, Slg. 2001, I-1901 Rn. 20; zu einem Beispiel vgl. Rn. 35. 24 Etwa EuGH v. 29.6.1995 – Rs. C-135/93 Spanien ./. Kommission, Slg. 1995, I-1651 Rn. 36–39. 25 Vgl. z.B. EuGH v. 21.3.1991 – Rs. C-314/89 Rauh, Slg. 1991, I-1647 Rn. 17–25, EuGH v. 27.1.1994 – Rs. C-98/91 Herbrink, Slg. 1994, I-223 Rn. 9 und EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-181/96 Wilkins, Slg. 1999, I-399 Rn. 19 (Grundsatz des Vertrauensschutzes); EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-1/02 Borgmann, Slg. 2004, I-3219 Rn. 30 (Grundsatz der Rechtssicherheit). 26 Vgl. z.B. EuGH v. 21.9.1989 – verb. Rs. 46/87 und 227/88 Hoechst, Slg. 1989, 2859 Rn. 12. 27 Richtlinie 77/187/EWG des Rates v. 14.2.1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung der Ansprüche der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen, ABl. 1977 L 61/26. Die BÜRL 1977 wurde inzwischen aufgehoben durch Art. 12 der Richtlinie 2001/23/EG des Rates v. 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen, ABl. 2001, 82/16, deren Art. 3 Abs. 1 aber im Wesentlichen dem Art. 3 Abs. 1 BÜRL 1977 entspricht. 28 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, Slg. 2006, I-2397 Rn. 31–37. 29 Vgl. GA Colomer, SchlA v. 15.11.2005 – Rs. C-499/04 Werhof, Slg. 2006, I-2397 Tz. 52.

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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung

aa)

Bindung der Unionsorgane an die Grundfreiheiten

Ziel der Grundfreiheiten ist die Beseitigung sämtlicher Hemmnisse, die den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital innerhalb der Europäischen Union behindern. Beschränkende Maßnahmen sind verboten, soweit sie nicht ausnahmsweise gerechtfertigt werden können. Regelungsadressaten dieses Verbots sind in erster Linie die Mitgliedstaaten, nach verbreiteter, wenn auch unzutreffender Auffassung weiterhin Private.30 Darüber hinaus werden aber auch die Union und ihre Organe durch die Grundfreiheiten gebunden.31 Denn ihre Tätigkeit bezieht sich auf einen Binnenmarkt, der durch die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gekennzeichnet ist (Art. 26 Abs. 2 AEUV/3 Abs. 1 lit. c) EG). Das nimmt sie in die Pflicht: 32 Nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Union und ihre Organe haben den Freiheitsgehalt der Grundfreiheiten zu beachten.33 Diese Bindung spiegelt sich auch in der primärrechtskonformen Auslegung potentiell freiheitsbeschränkender Maßnahmen der Union wider. bb)

10

Grundfreiheitenkonforme Auslegung und Mindestharmonisierung

Zahlreiche rechtsangleichende Akte des sekundären Unionsrechts führen zu keiner abschließenden Harmonisierung, sondern schaffen lediglich Mindeststandards und gestatten den Mitgliedstaaten ausdrücklich das Festhalten an oder die Einführung von neuen strengeren Standards (Mindestharmonisierung)34. Derartige Ermächtigungsklauseln können nicht dahin ausgelegt werden, dass sie es den Mitgliedstaaten gestatten, Bedingungen vorzuschreiben, die den Bestimmungen über den freien Waren-,

30 Vgl. zur Drittwirkung der Grundfreiheiten z.B. Canaris, in: Bauer u.a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht (2002), S. 29; Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten (2000); Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten (1997); Remmert, Jura 2003, 13; W.-H. Roth, FS Everling (1995), Bd. II, S. 1231; Streinz/Leible, EuZW 2000, 459; Vieweg/ Röthel, ZHR 166 (2002), 6. 31 Ausführlich dazu Schwemer, Die Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an die Grundfreiheiten (1995); Scheffer, Die Marktfreiheiten des EG-Vertrages als Ermessensgrenze des Gemeinschaftsgesetzgebers (1997). 32 Streinz-Streinz, Art. 3 EG Rn. 10. 33 Vgl. z.B. EuGH v. 20.4.1978 – verb. Rs. 80 und 81/77 Commissionaires Réunies, Slg. 1978, 927 Rn. 35/36; EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, Slg. 1983, 4063 Rn. 13; EuGH v. 17.5.1984 – Rs. 15/83 Denkavit Nederland, Slg. 1984, 2171 Rn. 15; EuGH v. 9.8.1994 – Rs. C-51/93 Meyhui, Slg. 1994, I-3879 Rn. 11; EuGH v. 11.7.1996 – verb. Rs. C-427/93, C-429/93 und C-436/93 Bristol-Myers Squibb u.a., Slg. 1996, I-3457 Rn. 36; EuGH v. 25.6.1997 – Rs. C-114/96 Kieffer und Thill, Slg. 1997, I-3629 Rn. 27; EuGH v. 14.7.1998 – Rs. C-284/95 Safety Hi-Tech, Slg. 1998, I-4301 Rn. 63; EuGH v. 14.7.1998 – Rs. C-341/95 Bettati, Slg. 1998, I-4355 Rn. 61; EuGH v. 13.9.2001 – Rs. C-169/99 Schwarzkopf, Slg. 2001, I-5901 Rn. 37; EuGH v. 12.7.2005 – verb. Rs. C-154/04 und C-155/04 Alliance for Natural Health, Slg. 2005, I-6451 Rn. 47. 34 Vgl. dazu Streinz-Leible, Art. 95 EG Rn. 42 ff.; ausführlich Conrad, Das Konzept der Mindestharmonisierung (2004); Wagner, Das Konzept der Mindestharmonisierung (2001). Stefan Leible/Ronny Domröse

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Personen-, Dienstleistungs- oder Kapitalverkehr zuwiderlaufen.35 Solche Ermächtigungsklauseln sind also stets primärrechtskonform dahin auszulegen, dass sie den Mitgliedstaaten lediglich die Möglichkeit eröffnen, Regelungen beizubehalten oder neu zu erlassen, die mit den Grundfreiheiten vereinbar sind. cc)

12

Der Grundsatz der primärrechtskonformen Auslegung ist aber und selbstverständlich auch bei der Interpretation von unionalen Rechtsakten zu beachten, die den Mitgliedstaaten jeglichen Erlass von Regelungen, die von den unionsrechtlichen Vorgaben abweichen, verwehren, also zu einer Totalharmonisierung geführt haben.36 (1)

13

Feststellung einer beschränkenden Wirkung totalharmonisierender Maßnahmen

Eine Auslegung im Lichte der Grundfreiheiten kommt allerdings nur dann in Betracht, wenn die unionsrechtliche Regelung überhaupt zu ihrer Beschränkung geeignet ist. Denn die Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung reicht nur so weit, wie es überhaupt zu Konfliktsituationen kommen kann. Das ist aber bei diskriminierungsfreien Regelungen der Union meist nicht der Fall. Scheidet z.B. eine Warenverkehrsbehinderung aufgrund der Beseitigung der Rechtsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten aus, ist die unionsrechtliche Regelung aus sich heraus und ohne Rückgriff auf die Art. 34 ff. AEUV/28 ff. EG auszulegen.37 Es besteht dann überhaupt kein Bedürfnis für eine grundfreiheitenkonforme Auslegung, da die Grundfreiheiten nur die Freiheit grenzüberschreitenden Wirtschaftens, nicht aber eine allgemeine Handlungsfreiheit garantieren sollen.38 (2)

14

Grundfreiheitenkonforme Auslegung bei Totalharmonisierung

Unterscheidung zwischen grundfreiheiten- und grundrechtskonformer Auslegung

Gleichwohl hat der Gerichtshof in seiner Entscheidung Gut Springenheide bei der Auslegung einer Verordnung das zu Art. 34 ff. AEUV/28 ff. EG entwickelte Leitbild eines verständigen Verbrauchers ohne weitere Reflektion auf das Sekundärrecht übertragen, d.h. ohne näher zu prüfen, ob der Unionsgesetzgeber mit der in Frage stehenden Verordnung und der in ihr enthaltenen Vorschriften zum Täuschungsschutz nicht vielleicht einen über den verständigen Verbraucher hinausgehenden Schutz auch des flüchtigen Verbrauchers anstrebte.39 Ebenso ist er in der Entscheidung Linhart und Biffl verfahren.40 Ihr lag folgender Sachverhalt zugrunde:

35 EuGH v. 20.3.1990 – Rs. 21/88 Du Pont de Nemours Italiana, Slg. 1990, I-889 Rn. 17; EuGH v. 9.6.1992 – Rs. C-47/90 Delhaize Frères, Slg. 1992, I-3669 Rn. 26. 36 Zur Totalharmonisierung Streinz-Leible, Art. 95 EG Rn. 29 ff. 37 Das übersieht – in anderem Zusammenhang – etwa EuGH v. 12.7.2005 – verb. Rs. C-154/04 und C-155/04 Alliance for Natural Health, Slg. 2005, I-6451 Rn. 49. 38 Ausführlich zur Unterscheidung zwischen Grundfreiheiten und Unionsgrundrechten Gebauer, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als Gemeinschaftsgrundrechte (2004). 39 EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-210/96 Gut Springenheide und Tusky, Slg. 1998, I-4657; kritisch dazu Leible, EuZW 1998, 528; Rüffler, wbl. 1998, 381, 383; ders., in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 97 ff. 40 EuGH v. 24.10.2002 – Rs. C-99/01 Linhart und Biffl, Slg. 2002, I-9375.

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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung Gottfried Linhart, Geschäftsführer der österreichischen Colgate Palmolive GmbH, wurde mit Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenats Wien vom 22. Februar 1999 einer Verwaltungsübertretung schuldig erkannt, weil er es zu verantworten habe, dass diese Firma das kosmetische Mittel „Palmolive flüssige Seife Prima Antibakteriell“ mit der Angabe „Dermatologisch getestet“ auf der Verpackung in den Verkehr gebracht habe. Das verstieß gegen § 9 Abs. 1 lit. a) Lebensmittelgesetz (LMG). Danach ist es verboten, beim Inverkehrbringen von Lebensmitteln, Verzehrprodukten oder Zusatzstoffen sich auf die Verhütung, Linderung oder Heilung von Krankheiten oder Krankheitssymptomen oder auf physiologische oder pharmakologische, insbesondere jungerhaltende, Alterserscheinungen hemmende, schlankmachende oder gesunderhaltende Wirkungen zu beziehen oder den Eindruck einer derartigen Wirkung zu erwecken. Nach Auffassung von Herrn Linhart ist eine Auslegung des österreichischen Rechts, die zu einem Verbot der Verwendung der Bezeichnung „dermatologisch getestet“ führt, mit dem Unionsrecht, insbesondere den Vorgaben der Kosmetikrichtlinie,41 nicht vereinbar.

Art. 6 Abs. 3 Kosmetikrichtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass bei der Etikettierung, der Aufmachung für den Verkauf und der Werbung für kosmetische Mittel nicht Texte, Bezeichnungen, Warenzeichen, Abbildungen und andere bildhafte oder nicht bildhafte Zeichen verwendet werden, die Merkmale vortäuschen, die die betreffenden Erzeugnisse nicht besitzen. Der EuGH betont zunächst, dass die Kosmetikrichtlinie zu einer abschließenden Harmonisierung der nationalen Bestimmungen über die Verpackung und Etikettierung kosmetischer Mittel herbeigeführt hat.42 Daher sind alle nationalen Maßnahmen in einem Bereich, für den auf Unionsebene eine harmonisierte Regelung geschaffen worden ist, anhand dieser Harmonisierungsmaßnahme und nicht anhand der Art. 34 und 36 AEUV/28 und 30 EG zu beurteilen.43 Entscheidend ist folglich die Auslegung von Art. 6 Abs. 3 Kosmetikrichtlinie.

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Wer nun allerdings erwartet hätte, dass der EuGH infolgedessen Art. 6 Abs. 3 Kosmetikrichtlinie aus sich heraus auslegt, wird freilich enttäuscht. Der EuGH führt stattdessen weiter aus, dass Art. 36 AEUV/30 EG den Mitgliedstaaten zwar erlaubt, Beschränkungen des freien Warenverkehrs aufrechtzuerhalten, doch die Anwendung dieser Bestimmung ausgeschlossen ist, wenn Richtlinien der Union die Harmonisierung der Maßnahmen vorsehen, die zur Verwirklichung des konkreten Zieles, das mit dem Rückgriff auf Art. 36 AEUV/30 EG erreicht werden soll, erforderlich sind.44 Ungeachtet dessen müssten Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Durchführung von Art. 6 Abs. 3 Kosmetikrichtlinie dem Art. 36 AEUV/30 EG immanenten Grundsatz

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41 Richtlinie 76/768/EWG des Rates v. 27.7.1976 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über kosmetische Mittel, ABl. 1976 L 262/169; aktuelle Fassung in Winkel (Hrsg.), Europäisches Wirtschaftsrecht (Loseblatt, Stand Dez. 2009), Nr. 160. 42 EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-77/97 Unilever, Slg. 1999, I-431 Rn. 24; EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-117 Rn. 23. 43 EuGH v. 23.11.1989 – Rs. C-150/88 Parfümerie-Fabrik 4711, Slg. 1989, 3891 Rn. 28; EuGH v. 12.9.1993 – Rs. C-37/92 Vanacker und Lesage, Slg. 1993, I-4947 Rn. 9; EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-324/99 DaimlerChrysler, Slg. 2001, I-9897 Rn. 32. 44 EuGH v. 19.3.1998 – Rs. C-1/96 Compassion in World Farming, Slg. 1998, I-1251 Rn. 47; EuGH v. 25.3.1999 – Rs. C-112/97 Kommission ./. Italien, Slg. 1999, I-1821 Rn. 54. Stefan Leible/Ronny Domröse

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2. Teil: Allgemeiner Teil

der Verhältnismäßigkeit wahren.45 Unter Zugrundelegung dieser Prämisse hält der Gerichtshof das von ihm im Rahmen der Grundfreiheiten entwickelte Leitbild des verständigen Verbrauchers auch für die Auslegung des Irreführungsbegriffs der Kosmetikrichtlinie für maßgeblich und gelangt daher zum Ergebnis, dass eine Irreführungsgefahr nicht besteht; denn die Angabe „dermatologisch getestet“ auf der Verpackung bestimmter kosmetischer Mittel wecke bei einem durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher allenfalls die Vorstellung, dass das Mittel einem Test zur Ermittlung seiner Auswirkungen auf die Haut unterzogen wurde, schreibe ihm aber keinesfalls Eigenschaften zu, die es nicht besitzt.

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Das kann jedoch nur im Ergebnis, nicht aber dogmatisch überzeugen. Wenn die Kosmetikrichtlinie, was außer Zweifel steht, zu einer abschließenden Harmonisierung geführt hat, sind Beschränkungen des freien Warenverkehrs nicht zu befürchten, sofern ihre Regelungen diskriminierungsfrei ausgestaltet sind. Davon ist im vorliegenden Fall auszugehen.

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Hielte man bei der Auslegung von sekundärrechtlichen Vorschriften des Täuschungsschutzes wie Art. 6 Abs. 3 Kosmetikrichtlinie statt des im Rahmen der Grundfreiheiten entwickelten Leitbilds des verständigen Verbrauchers das eines flüchtigen und unaufmerksamen Konsumenten für maßgeblich, weil etwa der Erwerber kosmetischer Mittel besonders schutzbedürftig ist, wäre damit eine Beschränkung der Grundfreiheiten nicht verbunden; denn unionsweit würde der gleiche strenge Maßstab gelten. Das Inverkehrbringen mit „dermatologisch getestet“ bezeichneter Kosmetika wäre unionsweit untersagt. Aufgabe der Grundfreiheiten ist aber nicht die Beseitigung jeglicher Begrenzungen wirtschaftlicher Freiheit.46 Gesichert werden soll lediglich der Marktzutritt von Produkten, die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt oder in den Verkehr gebracht worden sind.47 Welche Waren und Wirtschaftsleistungen im europäischen Binnenmarkt überhaupt zulässig sind oder zulässigerweise verboten werden dürfen, ist eine den Verkehrsfreiheiten vorgelagerte Problematik. Sie muss daher im Rahmen einer „grundfreiheitenkonformen Auslegung“ außer Betracht bleiben. Folglich überzeugt es auch nicht, unter Hinweis auf eine mögliche unterschiedliche Handhabung des an sich einheitlichen Irreführungstatbestands Art. 34 ff. AEUV/28 ff. EG immerhin eine Maßstabsfunktion zuzuerkennen.48

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Im Ergebnis ist den Ausführungen des EuGH gleichwohl zuzustimmen. Allerdings ist die Maßgeblichkeit des Leitbilds des verständigen Verbrauchers nicht die Folge

45 EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-77/97 Unilever, Slg. 1999, I-431 Rn. 27; EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-117 Rn. 26. 46 Grabitz/Hilf-Leible, Art. 28 EG Rn. 9; ebenso W.-H. Roth, in: FIW (Hrsg.), Marktwirtschaft und Wettbewerb im sich erweiternden europäischen Raum (1994), S. 37 ff.; ders., FS Großfeld (1998), S. 944 ff. 47 Zur hier nicht zu diskutierenden Bedeutung der Wendung „in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und in Verkehr gebracht“ vgl. mwN Grabitz/Hilf-Leible, Art. 28 EG Rn. 23. 48 So aber Streinz, JuS 2000, 807, 809 Fn. 10.

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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung

einer Auslegung von Art. 6 Abs. 3 Kosmetikrichtlinie im Lichte der Grundfreiheiten, sondern im Lichte der Unionsgrundrechte.49 Im Raume steht bei Etikettierungsvorschriften u.a. eine Verletzung des auch unionsrechtlich garantierten Grundrechts der Berufsfreiheit,50 das die umfassende Gewährleistung der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit enthält.51 Eingriffe in den grundrechtlich geschützten Bereich sind u.a. nur dann zulässig, wenn sie verhältnismäßig sind.52 Verhältnismäßig i.d.S. kann mangels besonders schutzbedürftiger Gruppen ein Eingriff in die Berufsfreiheit der Produzenten und Vertreiber von Kosmetika aber nur sein, wenn er bei der Zulässigkeit des Verbots der Verwendung einer Bezeichnung auf das Verständnis abhebt, das diese bei einem „durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher“ hat. Denn die Grundfreiheiten und die Unionsgrundrechte sollten ungeachtet ihrer unterschiedlichen Schutzrichtung und der divergenten Interessenlage zur Wahrung der Einheit der Rechtsordnung kohärent ausgelegt werden.53 Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte ist daher im Rahmen sowohl der grundfreiheiten- als auch der grundrechtskonformen Auslegung von Irreführungsverboten des abgeleiteten Unionsrechts von einem einheitlichen Verbraucherleitbild im oben skizzierten Sinne auszugehen. 2.

Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung abgeleiteten Unionsrechts

Worauf das Gebot primärrechtskonformer Auslegung sekundären Unionsrechts beruht, ist noch nicht abschließend geklärt. a)

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Die Rechtmäßigkeitsvermutung abgeleiteten Unionsrechts

Auf den ersten Blick mag es nahe liegen, dass der Unionsgesetzgeber, der eine ranghöhere Norm durchführt, sich an dieser ausrichtet 54 und deshalb eine Vermutung für die Primärrechtskonformität des sekundären Unionsrechts spricht 55. In dieser Ver-

49 Allgemein zum Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Unionsgrundrechten Schindler, Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten (2001); Schultz, Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten des EGV (2004). 50 So explizit EuGH v. 13.12.1994 – Rs. C-306/93 SMW Winzersekt, Slg. 1994, I-5555 Rn. 24. 51 EuGH v. 19.9.1985 – verb. Rs. 63/84 und 147/84 Finsider, Slg. 1985, 2857 Rn. 27; vgl. auch Ehlers-Ruffert, § 16.4 Rn. 9 ff. 52 EuGH v. 13.7.1989 – Rs. 5/88 Wachauf, Slg. 1989, 2609 Rn. 18; EuGH v. 5.10.1994 – Rs. C-280/93 Deutschland ./. Rat, Slg. 1994, I-4973 Rn. 90 ff.; vgl. dazu Ehlers-Ehlers, § 14 Rn. 50 ff. 53 So auch Streinz, Europarecht, Rn. 772. 54 Bleckmann, NJW 1982, 1177, 1181; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 186; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 325. 55 Auch der Gerichtshof beruft sich mitunter auf die Rechtmäßigkeitsvermutung des Sekundärrechts, allerdings nicht um die primärrechtskonforme Auslegung zu legitimieren, sondern um seine alleinige Befugnis zur Verwerfung des Sekundärrechts argumentativ abzusichern, vgl. zuletzt EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-475/01 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2004, I-8923 Rn. 18.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

mutung könnte ein Prinzip zum Ausdruck kommen, das eine primärrechtskonforme Auslegung des sekundären Unionsrechts verlangt. Diese Überlegung ist freilich insofern angreifbar als die Existenz von Verfahren, die – wie die Nichtigkeitsklage (Art. 19 Abs. 3 lit. a) EUV, Art. 261 f. AEUV/230 f. EG) und das Vorabentscheidungsverfahren (Art. 19 Abs. 3 lit. b) EUV, Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV/234 Abs. 1 lit. b) EG) – eine Normverwerfung erlauben, Zeugnis dafür sind, dass die Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ dem Unionsgesetzgeber „misstrauten“ und deshalb eine solche Vermutung gerade nicht zulassen.56 b)

Der Systemgedanke, der Vorrang des primären Unionsrechts und die Respektierung der Autorität des Unionsgesetzgebers

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Näherliegend ist es, das Gebot primärrechtskonformer Auslegung auf den Systemgedanken zu stützen.57 Dieser Gedanke beruht auf der zutreffenden Einsicht, dass Sekundär- und Primärrecht nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern eine Einheit,58 ein System aufeinander abgestimmter Entscheidungen bilden. Als Teil des Unionsrechtssystems darf das Sekundärrecht nicht isoliert ausgelegt werden,59 vielmehr ist es „im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts“ 60 (jetzt: Unionsrechts), also auch des Primärrechts, zu deuten. Auf den Systemgedanken hat sich nun auch der EuGH berufen: Bei der Auslegung der Bestimmungen einer Richtlinie sei „dem Gedanken der Einheit der Gemeinschaftsrechtsordnung Rechnung zu tragen, der verlangt, dass das abgeleitete Gemeinschaftsrecht gemäß den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts ausgelegt wird.“61

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Indessen reicht der Systemgedanke alleine nicht aus, um die primärrechtskonforme Auslegung zu legitimieren.62 Denn erstens ist dem Systemgedanken nur zu entnehmen, dass Widersprüche im System zu vermeiden sind, indem einzelne Normen im Lichte der Gesamtrechtsordnung möglichst systemkonform ausgelegt werden. MaW: Der Systemgedanke verbietet eine Auslegung, die im Widerspruch mit dem Primärrecht steht (Verbot primärrechtskonträrer Auslegung), er gebietet jedoch nicht die primärrechtskonforme Interpretation.63 Und zweitens könnte man dem Systemgedanken auch dadurch Rechnung tragen, dass man sekundärrechtliche Normen, die

56 Zustimmend Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 222 f. 57 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 194 („Systemgedanke und Autorität der Vertragsparteien“); Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 186; Lenz/Borchardt-Borchardt, Art. 220 EG Rn. 20. Zu Systemdenken und Systembildung im Sekundärrecht s. Grundmann, in diesem Band, § 10. 58 Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung von Justiz und Hochschule (1976), S. I-40. 59 EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1986, 3755 Rn. 62. 60 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 20; ähnl. schon EuGH v. 10.12.1969 – Rs. 34/69 Caisse d’Assurance Vieillesse, Slg. 1969, 597 Rn. 5/7. 61 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, Slg. 2006, I-2397 Rn. 32. 62 Zustimmend Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 223–229. 63 Vgl. Michel, JuS 1961, 274, 275 f.; Skouris, Teilnichtigkeit von Gesetzen (1973), S. 101.

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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung

primärrechtswidrige Deutungen zulassen, als systemwidrig oder systemfremd einstuft und durch einschränkende Auslegung „isoliert“64 oder sogar verwirft.65 Ganz ähnliche Erwägungen sprechen auch dagegen, das Gebot primärrechtskonformer Auslegung nur im Vorrang des Primärrechts bzw. im Stufenbau des Unionsrechts zu verankern.66 Den Verträgen, vor allem Art. 19 Abs. 3 lit. a) und b) EUV, Art. 263, 267 Abs. 1 lit. b) AEUV/230, 234 Abs. 1 lit. b) EG lässt sich entnehmen, dass sekundärrechtliche Normen im Rang unter dem primären Unionsrecht stehen.67 In den Worten des Gerichtshofs ist das Vertragsrecht „Grundlage, Rahmen und Grenze“68 des darauf gestützten Rechts und die „Bestimmung eines Akts des abgeleiteten Rechts [kann] nach dem Grundsatz der Normenhierarchie keine Abweichung von einer Bestimmung des Vertrages gestatten.“69 Dem Vorrang des Primärrechts ist jedoch auch Genüge getan, wenn die sekundärrechtliche Norm für nichtig bzw. ungültig erklärt wird. Aus „rechtshygienischen“ Gründen mag es sogar wünschenswert sein, eine Norm, die eine primärrechtswidrige Auslegung zulässt, aus der Rechtsordnung zu entfernen.70 Eine tragfähige Grundlage gewinnt man, wenn man den Systemgedanken und den Vorrang des Primärrechts mit der Überlegung verknüpft, dass der primärrechtskonformen Auslegung die Funktion zukommt, den Unionsgesetzgeber vor Übergriffen der europäischen Gerichte zu bewahren.71 Der Respekt vor der Rechtsetzungsprärogative des Unionsgesetzgebers, den vor allem das allgemeine Gebot der richterlichen Zurückhaltung, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung der Unionsorgane (Art. 13 Abs. 2 S. 1 EUV/7 Abs. 1 S. 2 EG) und das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts der Judikative abverlangen, gebietet die Aufrechterhaltung des Sekundärrechts so weit wie möglich.72 Geht man weiterhin davon aus, dass auch im Verhältnis der Unionsorgane untereinander ein Übermaßverbot gilt,73 dann verdient die 64 In diesem Fall hat die vom Gerichtshof oft bemühte Regel, Ausnahmen seien eng auszulegen, ihre Berechtigung; vgl. auch Kramer, Methodenlehre, S. 187 f. 65 Vgl. Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 130–132; ders., FS Kramer (2004), S. 148. 66 Zustimmend Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 229; a.A. Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EG Rn. 10; Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem (2002), S. 364; ders., JuS 2004, 180, 182; Streinz-Schroeder, Art. 249 EG Rn. 17. 67 Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem (2002), S. 308, 364; Streinz-Schroeder, Art. 249 EG Rn. 17. 68 EuGH v. 10.12.1969 – Rs. 34/69 Caisse d’Assurance Vieillesse, Slg. 1969, 597 Rn. 5/7; EuGH v. 5.10.1978 – Rs. 26/78 Viola, Slg. 1978, 1771 Rn. 9/14. 69 EuG v. 28.3.2001 – Rs. T-144/99 Institut der beim Europäischen Patentamt zugelassenen Vertreter ./. Kommission, Slg. 2001, II-1087 Rn. 50; s.a. EuG v. 10.7.1990 – Rs. T-51/89 Tetra Pak, Slg. 1990, II-309 Rn. 25. 70 Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 233, 456 f. 71 Zust. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 229 f.; ähnlich Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 220 EG Rn. 49; s.a. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 188; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 122, 325. 72 Vgl. auch Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung von Justiz und Hochschule (1976), S. I-41. 73 Dazu, dass auch zwischen den Staatsfunktionen untereinander ein Übermaßverbot gilt, das die verfassungskonforme Auslegung stützt, Zippelius, FG 25 Jahre BVerfG (1976), Bd. II, S. 111; zust. Canaris, FS Kramer (2004), S. 152; Lüdemann, JuS 2004, 27, 29.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

primärrechtskonforme Auslegung den Vorzug, weil sie sich im Verhältnis zur Normverwerfung als weniger einschneidendes Mittel erweist, die Normverwerfung also nicht erforderlich ist.

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Bedarf das Sekundärrecht der Umsetzung, Ausgestaltung oder Ergänzung durch innerstaatliches Recht (angeglichenes Recht i.w.S.), schützt das Gebot primärrechtskonformer Auslegung zugleich die Gestaltungsfreiheit des nationalen Gesetzgebers und schont so die mitgliedstaatliche Souveränität. Denn die Verwerfung des Sekundärrechts hat zur Folge, dass der unionsrechtliche Verpflichtungsgrund für das angeglichene Recht entfällt und den mitgliedstaatlichen Gesetzgeber jedenfalls dann zum Handeln zwingt, wenn der Gerichtshof die Rechtswirkungen des für nichtig erklärten Sekundärrechts nicht aufrechterhält (Art. 264 Abs. 2 AEUV/231 Abs. 2 EG) und der Verstoß gegen das Primärrecht auf das angeglichene Recht durchschlägt. In diesem Fall greift der Gerichtshof zwar nicht direkt in die Kompetenzen des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers ein, weil die Verwerfung des Sekundärrechts nicht auch den innerstaatlichen Befehl zur Anwendung des angeglichenen Rechts außer Kraft setzt. Jedoch werden die auf Grund des für nichtig erklärten Rechtsakts erlassenen Vorschriften unanwendbar und sind vom mitgliedstaatlichen Gesetzgeber aufzuheben oder zu korrigieren,74 da sie mit dem Primärrecht kollidieren und deshalb der Anwendungsvorrang des Unionsrechts eingreift. Indessen bleibt das angeglichene Recht anwendbar und der mitgliedstaatliche Gesetzgeber wird nicht mit Normkorrekturen behelligt, wenn sich das Sekundärrecht durch primärrechtskonforme Auslegung aufrechterhalten lässt. Der Gedanke der Souveränitätsschonung liegt freilich um so ferner, je mehr die Autonomie des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers durch detaillierte unionsrechtliche Vorgaben eingeschränkt ist. Umgekehrt ist die Verwerfung des Sekundärrechts um so unangemessener, je mehr Spielraum es dem mitgliedstaatlichen Gesetzgeber bei seiner Umsetzung, Ausgestaltung oder Ergänzung belässt. Unabhängig davon, wieviel Gestaltungsfreiheit dem mitgliedstaatlichen Gesetzgeber verbleibt, lässt sich das Gebot primärrechtskonformer Auslegung insoweit auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip sowie ergänzend auf Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 EUV/10 EG stützen. Der Gerichtshof ist dementsprechend verpflichtet, das Sekundärrecht so lange mittels primärrechtskonformer Auslegung aufrechtzuerhalten, wie das nach Unionsrecht möglich ist. 3.

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Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre

Aus der Vorrangstellung des Primärrechts folgt, dass die primärrechtskonforme Auslegung Vorrang vor den übrigen Auslegungskriterien genießt. Von mehreren möglichen Interpretationen einer sekundärrechtlichen Regelung setzt sich in jedem Falle diejenige durch, die mit dem Primärrecht vereinbar ist. Eine Abwägung mit den gegenläufigen Deutungsmöglichkeiten ist weder erforderlich noch zulässig, selbst wenn sie in ihrer Zahl und Stärke das primärrechtskonforme Auslegungskriterium über-

74 Vgl. Grabitz/Hilf-Booß, Art. 231 EG Rn. 6; Lenz/Borchardt-Borchardt, Art. 231 EG Rn. 4.

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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung

wiegen. Methodologisch ist die primärrechtskonforme Auslegung deshalb als interpretatorische Vorrangregel zu qualifizieren.75 Das bedeutet allerdings nicht, dass den übrigen Auslegungskriterien überhaupt keine Bedeutung zukommt. Zwar können sie das Auslegungsergebnis nicht mehr bestimmen, sie können es jedoch ggf. noch bekräftigen und ihm so eine noch größere Überzeugungskraft verleihen und die Akzeptanz der richterlichen Entscheidung erhöhen. Außerdem übernehmen die übrigen Auslegungskriterien immerhin noch eine begrenzende Funktion, stecken sie doch den Bereich zulässiger Rechtsfindung ab.76 Im System der juristischen Methodenlehre hat die primärrechtskonforme Auslegung ihren Platz im Rahmen der systematischen und objektiv-teleologischen Auslegung.77 Dass es bei ihr nicht – wie bei der einfach-systematischen Auslegung – um eine Zusammenschau hierarchisch auf einer Stufe stehender Normen geht, sondern Vorschriften abgeglichen werden, denen innerhalb derselben Rechtsordnung ein unterschiedlicher Rang zukommt, rechtfertigt es nicht, ihr eine andere Stellung – etwa neben den übrigen Auslegungskriterien – zuzuweisen.78 4.

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Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Unionsrechts

Vom Gebot primärrechtskonformer Auslegung erfasst ist das gesamte abgeleitete Unionsrecht.79 Dazu gehört das sekundäre Unionsrecht, das neben Verordnungen, Richtlinien, Empfehlungen und Beschlüssen (früher: Entscheidungen) auch Rechtsakte, die nicht den in Art. 288 AEUV/249 EG vertypten Rechtshandlungen zugeordnet werden können (z.B. wettbewerbsrechtliche Leitlinien), umfasst. Zudem sind auch völkerrechtliche Verträge (jetzt: Übereinkünfte, vgl. Art. 216 Abs. 1 AEUV) der Union mit Drittstaaten und internationalen Organisationen, die nicht zum Sekundärrecht gehören, sondern einen Zwischenrang zwischen jenem und dem Primärrecht einnehmen (arg. ex Art. 216 Abs. 2, 218 Abs. 11 AEUV/300 Abs. 6 und Abs. 7 EG), primärrechtskonform auszulegen.

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Zum abgeleiteten Unionsrecht zählen auch die Normen, die auf sekundärem Unionsrecht beruhen und seiner Durchführung dienen (sog. Tertiärrecht). Diese Normen stehen im Rang unter den Bestimmungen des Rechtsakts, von dem sie abgeleitet

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75 Grundlegend zu den Unterschieden von interpretatorischer Abwägungslösung und interpretatorischer Vorrangregel Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 64–67; ders., FS Kramer (2004), S. 143–146. 76 Vgl. Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 70 f.; ders., FS Kramer (2004), S. 145 f., 154. 77 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 532. Für Erscheinungsform der systematischen Auslegung: Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung von Justiz und Hochschule (1976), S. I-40; Meyer, Jura 1994, 455, 457; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 447 f.; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 63; Ahlt/Deisenhofer, Europarecht (3. Aufl. 2003), S. 59 f. Für Anwendungsfall der teleologischen Auslegung Lutter, JZ 1992, 593, 603. 78 A.A. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 327 f. 79 EuGH v. 11.7.1996 – verb. Rs. C-427/93, C-429/93 und C-436/93 Bristol-Myers Squibb u.a., Slg. 1996, I-3457 Rn. 27; EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, Slg. 2006, I-2397 Rn. 32.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

sind.80 Die Stufung des Unionsrechts ist auch bei der Auslegung zu beachten. Dementsprechend ist z.B. eine Durchführungsverordnung, wenn möglich, so auszulegen, dass sie mit den Bestimmungen der Grundverordnung vereinbar ist.81 Die Grundverordnung ist ggf. ihrerseits primärrechtskonform auszulegen. Eine primärrechtskonforme Auslegung der Durchführungsverordnung verbietet sich, weil sonst der Regelungsabsicht des jeweils kompetenten Regelgebers nicht Rechnung getragen werden könnte. Nach diesen Vorgaben ist z.B. bei der Auslegung der in das Unionsrecht inkorporierten internationalen Rechnungslegungsstandards zu verfahren. Die internationalen Rechnungslegungsstandards – International Accounting Standards (IAS) und International Financial Reporting Standards (IFRS) – werden vom International Accounting Standard Board (IASB), einem nichtstaatlichen Regelgeber, herausgegeben und können von der Kommission im sog. Endorsementverfahren gemäß Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 IFRS-VO82 übernommen werden. Die übernommenen Rechnungslegungsstandards werden als Kommissionsverordnung im Amtsblatt veröffentlicht (Art. 3 Abs. 4 IFRS-VO). Durch die Übernahme werden die Rechnungslegungsstandards verbindliches Unionsrecht, das von den Unternehmen anzuwenden ist, die ihre Abschlüsse gemäß Art. 4 IFRS-VO oder gemäß Art. 5 IFRS-VO iVm nationalem Recht nach internationalen Rechnungslegungsstandards zu erstellen haben. Bei den Kommissionsverordnungen handelt es sich um Durchführungsvorschriften. Sie sind deshalb am Maßstab der IFRS-VO – insbesondere dem True-and-fair-view-Prinzip (Art. 3 Abs. 2 IFRS) –, deren Durchführung sie dienen, auszulegen. Die IFRS-VO ist ggf. primärrechtskonform zu interpretieren.

5.

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Die Respektierung der Autorität des Unionsgesetzgebers als tragender Begründungsansatz des Gebots primärrechtskonformer Auslegung bedeutet nicht, dass abgeleitetes Unionsrecht um jeden Preis durch den Gerichtshof aufrechtzuerhalten ist. Der primärrechtskonformen Auslegung sind Grenzen gesetzt. Wo diese Grenzen verlaufen, ist bislang wenig erörtert. a)

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Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Unionsrechts

Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Unionsrechts

Allgemein anerkannt ist, dass Gesetze lückenhaft sein können und deshalb nicht alle Sachverhalte durch Auslegung zu lösen sind. Gemeinhin wird deshalb eine richterliche Rechtsfortbildung akzeptiert. Im Grundsatz ist das auch für das Unionsrecht unbestritten, für das dem Gerichtshof die Befugnis zur Rechtsfortbildung zufällt.83

80 Vgl. EuGH v. 10.3.1971 – Rs. 38/70 Deutsche Tradax, Slg. 1970, 145 Rn. 10; EuGH v. 2.3.1999 – Rs. C-179/97 Spanien ./. Kommission, Slg. 1999, I-1251 Rn. 20. 81 EuGH v. 24.3.1993 – Rs. C-90/92 Dr. Tretter, Slg. 1993, I-3569 Rn. 11; EuGH v. 10.9.1996 – Rs. C-61/94 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1996, I-3989 Rn. 52. 82 Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABl. 2002 L 243/1. 83 Ausdrücklich akzeptiert von BVerfGE 75, 223, 241 ff.

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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung

Grundsätzlich zulässig ist auch eine primärrechtskonforme Fortbildung des sekundären Unionsrechts. Der EuGH hatte die Befugnis zur Rechtsfortbildung zunächst sogar an die Voraussetzung geknüpft, dass das sekundäre Unionsrecht „eine Lücke enthält, die mit einem allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts unvereinbar ist“.84 Zu Recht hat der Gerichtshof diese Rechtsprechung aufgegeben. Denn selbstverständlich kann allein die Systematik und Teleologie des Sekundärrechts seine Fortbildung fordern.85

33

Da überwiegend Gleichheitsrechte (Grundfreiheiten, Diskriminierungsverbote, allgemeiner Gleichheitssatz) den Bezugspunkt im Primärrecht bilden, ist eine primärrechtskonforme Rechtsfortbildung allerdings nur selten möglich. Verstößt sekundäres Unionsrecht gegen ein Gleichheitsrecht, so ist es Sache des Unionsgesetzgebers, wie er den Verstoß behebt. Er kann die benachteiligte Person, Ware usw. in die begünstigende Regelung einbeziehen, die Begünstigung aufheben oder den Kreis der Begünstigten gänzlich anders definieren. Der Gerichtshof respektiert die Gestaltungsfreiheit des Unionsgesetzgebers, indem er sekundäres Unionsrecht insoweit nicht für ungültig bzw. nichtig erklärt, sondern – wie das Bundesverfassungsgericht in den Fällen des gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses86 – sich auf die Feststellung der Unvereinbarkeit mit dem Gleichheitsrecht beschränkt.87 Für die primärrechtskonforme Rechtsfortbildung bedeutet das, dass sie grundsätzlich unzulässig ist, wenn mehrere Regelungsmöglichkeiten offenstehen, die alle mit dem Primärrecht vereinbar wären, da sie ansonsten ebenso wie die Normverwerfung der Entscheidung des Unionsgesetzgebers vorgreifen würde.88

34

Als Mittel der Ausfüllung von Lücken im sekundären Unionsrecht bieten sich – wie auch sonst – insbesondere der Analogieschluss und die teleologische Reduktion an. Der Analogieschluss kommt als Mittel der primärrechtskonformen Rechtsfortbildung immer dann in Betracht, wenn das Sekundärrecht eine mit dem Primärrecht unvereinbare Lücke enthält, aber eine Regelung vorsieht, die zwar nicht nach ihrem Wortlaut, jedoch nach ihrem Sinn und Zweck angewandt werden kann, um die Lücke zu schließen und so den Primärrechtsverstoß zu vermeiden. Die primärrechtskonforme

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84 EuGH v. 12.12.1985 – Rs. 165/84 Krohn, Slg. 1985, 3997 Rn. 14; vgl. auch EuGH v. 11.7. 1978 – Rs. 6/78 Union Francaise de Cereales, Slg. 1978, 1675 Rn. 4; zust. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 318 f. 85 In diesem Sinne EuGH v. 19.6.1979 – Rs. 180/78 Brouwer-Kaune, Slg. 1979, 2111 Rn. 8; EuG v. 26.11.2002 – verb. Rs. T-74/00, T-76/00, T-83/00 bis T-85/00, T-132/00, T-137/00 und T-141/00 Artegodan u.a., Slg. 2002, II-4945 Rn. 131-135; EuG v. 28.1.2004 – verb. Rs. T-142/01 und T-283/01 OPTUC, Slg. 2004, II-329 Rn. 76-92; EuGH v. 8.11.2005 – Rs. C-443/03 Leffler, Slg. 2005, I-9611 Rn. 65, 68; s.a. EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 107/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 2655 Rn. 12–18; EuGH v. 23.3.2000 – Rs. C-208/98 Berliner Kindl Brauerei, Slg. 2000, I-1741 Rn. 18; GA Tizzano, SchlA v. 10.11.2005 – Rs. C-323/03 Kommission ./. Spanien, Slg. 2006, I-2161 Tz. 42–45. 86 Vgl. z.B. BVerfGE 33, 303, 349. 87 Vorbildlich EuGH v. 19.10.1977 – verb. Rs. 117/76 und 16/77 Ruckdeschel, Slg. 1977, 1753 Rn. 13. 88 Dänzer-Vanotti, FS Everling (1995), Bd. I, S. 221 spricht in diesem Fall von „unausfüllbaren Lücken“. Stefan Leible/Ronny Domröse

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2. Teil: Allgemeiner Teil

(teleologische) Reduktion des Sekundärrechts steht zu Gebote, wenn der Normtext verglichen mit der Teleologie des Primärrechts zu weit gefasst ist. Der EuGH hat z.B. die analoge Anwendung einer Verordnungsbestimmung – hilfsweise – damit begründet, dass andernfalls „sogar angenommen werden [könnte], dass der Rat seine Verpflichtung aus Art. 51 des Vertrages, die auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit für die Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer notwendigen Maßnahmen zu treffen, nicht vollständig erfüllt hat.“89 Enthalten die Verträge eine Pflicht zur Rechtsetzung und hat der Unionsgesetzgeber diese Pflicht unzureichend erfüllt, dann ist es – innerhalb der Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung – in der Tat überzeugend, die Norm entsprechend anzuwenden, die der Unionsgesetzgeber zur Erfüllung des Regelungsauftrags erlassen hat. Denn der Unionsgesetzgeber könnte auch nicht mehr tun als die Regelung entsprechend zu erweitern. Das gilt in aller Regel auch, wenn der Unionsgesetzgeber einer primärrechtlichen Schutzpflicht nicht hinreichend nachgekommen ist.90 Anders liegen die Dinge, wenn der Unionsgesetzgeber überhaupt nicht rechtsetzend tätig geworden ist.91 Eine primärrechtskonforme Reduktion ist z.B. im Hinblick auf einige Regelungen der EuGVVO geboten. Aus dem Wortlaut einiger Regelungen lässt sich entnehmen, dass diese nur auf grenzüberschreitende Sachverhalte Anwendung finden (z.B. Art. 3 Abs. 1 EuGVVO), während in anderen Regelungen dieses den Anwendungsbereich der EuGVVO begrenzende Merkmal fehlt (z.B. Art. 16 Abs. 1 EuGVVO). Gleichwohl sollen nach h.M. auch diese Regelungen auf reine Inlandssachverhalte nicht anwendbar sein.92 Dafür stützt man sich ganz überwiegend auf die Begründungserwägungen der EuGVVO93.94 Indessen können weder diese im Rahmen der historischen Interpretation noch die übrigen Kanones diese Auslegung stützen. Methodologisch lässt sich das Erfordernis eines grenzüberschreitenden Bezugs nur im Wege einer teleologischen (primärrechtskonformen) Reduktion dieser Regelungen erreichen:95 Die Verordnung ist eine Maßnahme im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen iSv Art. 65 EG (jetzt Art. 81 Abs. 2 AEUV).96 Diese Bestimmung beschränkt die Rechtsetzungskompetenz der EG auf Maßnahmen mit grenzüberschreitenden Bezügen.97 Die Auslegung, die EuGVVO erfasse auch reine Inlandssachverhalte, ist dementsprechend nicht möglich. Die Regelungen der EuGVVO, die einen grenzüberschreitenden Bezug nicht vorsehen, sind in ihrem Wortlaut zu weit gefasst und daher in primärrechtskonformer Weise zu reduzieren.

89 EuGH v. 19.6.1979 – Rs. 180/78 Brouwer-Kaune, Slg. 1979, 2111 Rn. 8. 90 Vgl. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht (2002), S. 162. 91 Vgl. Dänzer-Vanotti, FS Everling (1995), Bd. I, S. 220. 92 Kropholler, Europäisches Zivilprozeßrecht (8. Aufl. 2005), vor Art. 2 EuGVVO Rn. 6 f.; Rauscher-Staudinger, Einl Brüssel I-VO Rn. 19; Thomas/Putzo-Hüßtege, ZPO (30. Aufl. 2009), Vorbem EuGVVO Rn. 11; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 26 Rn. 10; anders Zöller-Geimer, ZPO (28. Aufl. 2010), Anh. I Art. 2 EuGVVO Rn. 14. 93 Vgl. BE 2 EuGVVO. 94 Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht (5. Aufl. 2006), Rn. 239; Rauscher-Staudinger, Einl. Brüssel I-VO Rn. 19. 95 I.E. ebenso Rauscher-Staudinger, Einl. Brüssel I-VO Rn. 19, der dieses Ergebnis aber durch primärrechtskonforme Auslegung erreichen möchte. 96 S.a. BE 3 EuGVVO. 97 Vgl. Streinz-Leible, Art. 65 EG Rn. 22.

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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung

b)

Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Unionsrechts

Das Gebot primärrechtskonformer Rechtsfindung darf nicht dazu führen, dass der Gerichtshof die gesetzgeberische Entscheidung durch seine eigene ersetzt.98 Eine Korrektur des Sekundärrechts mit Hilfe der primärrechtskonformen Rechtsfindung kommt nicht in Betracht, liefe dies doch auf eine Änderung ihres Inhalts hinaus. Diese ist jedoch der Legislative vorbehalten und nicht Aufgabe der Judikative.99 Der EuGH nimmt eine primärrechtskonforme Korrektur des Sekundärrechts daher auch nur dann vor, wenn es „mehr als eine Auslegung gestattet“.100 Die primärrechtskonforme Rechtsfortbildung findet ihre Grenze im Verbot des contra-legem-Judizieres. Danach ist dem Gerichtshof eine Rechtsfindung verboten, die sich über den Wortsinn und den Zweck der sekundärrechtlichen Regelung hinwegsetzt;101 je für sich bilden diese beiden Kriterien grundsätzlich keine unübersteigbare Hürde für den Richter.102

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Soweit eine Aufrechterhaltung der Norm mit den der Rechtsprechung zur Verfügung stehenden Mitteln nicht möglich ist, ist die Norm nichtig. Die Nichtigkeit ist vom EuGH festzustellen, entweder im Rahmen einer Nichtigkeitsklage (Art. 19 Abs. 3 lit. a) EUV, Art. 263, 264 Abs. 1 AEUV/230, 231 Abs. 1 EG) oder eines Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 19 Abs. 3 lit. b) EUV, Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV/234 Abs. 1 lit. b) EG). Durch die Normverwerfung kann freilich eine Lücke entstehen, die in primärrechtskonformer Weise – etwa in Analogie zu einer anderen Norm – geschlossen werden kann.

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III. Die primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts Die Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts hat der EuGH erstmals im Urteil Murphy ausdrücklich ausgesprochen. Der Gerichtshof stellte fest, dass es „Sache des nationalen Gerichts [ist], das innerstaatliche Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden; soweit eine solche gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung

98 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 194; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 63. 99 EuGH v. 5.10.2000 – Rs. C-376/98 Deutschland ./. Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419 Rn. 117. 100 EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, Slg. 1983, 4063 Rn. 15; EuGH v. 4.12. 1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1986, 3755 Rn. 62; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 206/84 Kommission ./. Irland, Slg. 1986, 3817 Rn. 15. 101 Vgl. Bydlinski, in: Koller u.a. (Hrsg.), Einheit und Folgerichtigkeit im Juristischen Denken, S. 27 ff.; ders., JBl. 1997, 617, 620; zust. Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 92; anders Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 132. 102 Vgl. z.B. EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 107/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1985, 2655 Rn. 12; GA Tizzano, SchlA v. 10.11.2005 – Rs. C-323/03 Kommission ./. Spanien, Slg. 2006, I-2161 Tz. 42–45; s.a. Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 94 f.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

nicht möglich ist, darf es entgegenstehende innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden.“103 Dieses Gebot wird gemeinhin akzeptiert. Allerdings ist noch nicht abschließend geklärt, worauf seine Verbindlichkeit beruht, wie es sich zu den übrigen Auslegungskriterien verhält, wie weit es reicht und welche Grenzen ihm gesetzt sind. Bevor diese Fragen erörtert werden können, ist zu überlegen, inwieweit primäres Unionsrecht überhaupt als Maßstab für die Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts in Betracht kommt.

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1.

Das primäre Unionsrecht als Maßstab für die Auslegung nationalen Rechts

a)

Die möglichen Bezugspunkte im primären Unionsrecht

Mögliche Bezugspunkte der primärrechtskonformen Auslegung sind insbesondere die Grundfreiheiten, die wettbewerbsrechtlichen Vorschriften, das Verbot der Entgeltdiskriminierung (Art. 157 AEUV/141 EG) sowie das allgemeine Diskriminierungsverbot (Art. 18 AEUV/12 EG). Das BAG hat z.B. im Hinblick auf einen Streit um die tarifgerechte Eingruppierung einer Arbeitnehmerin entschieden, dass Art. 119 EWG (Art. 157 AEUV/141 EG) erfordert, das Tatbestandsmerkmal der „schweren körperlichen Arbeit“ in einem Tarifvertrag primärrechtskonform auszulegen und auf alle den Körper belastenden Umstände abzustellen, die bei Männern und Frauen in gleicher Weise zu körperlichen Reaktionen führen können.104 Eine grundfreiheitenkonforme Auslegung ist beispielsweise im Hinblick auf § 1 Abs. 1 UmwG geboten. Nach bisher h.M. können nur Rechtsträger mit Sitz im Inland umgewandelt werden.105 Dementsprechend wäre z.B. die Verschmelzung einer englischen Ltd. auf eine deutsche AG nicht zulässig. Die Beschränkung der Umwandlungsfähigkeit auf Rechtsträger mit Sitz im Inland widerspricht indessen der Niederlassungsfreiheit (Art. 49, 54 AEUV/43, 48 EG). Das hat der EuGH im Urteil SEVIC bestätigt.106 Allerdings kann man § 1 Abs. 1 UmwG unschwer dahin grundfreiheitenkonform interpretieren, dass es für eine Umwandlung genügt, dass einer der beteiligten Rechtsträger seinen Sitz im Inland hat.107 Dementsprechend sind Umwandlungen von Gesellschaften mit Sitz in einem EU-Mitgliedstaat oder einem EWR-Vertragsstaat auf deutsche Gesellschaften grundsätzlich zulässig. Diese Auslegung trägt der Niederlassungsfreiheit ausreichend Rechnung und verhindert, dass § 1 Abs. 1 UmwG bzw. das primärrechtswidrige Erfordernis des Inlandssitzes unangewendet bleiben muss. Darüber hinaus verpflichtet die Niederlassungsfreiheit die mitgliedstaatlichen Gerichte, die Vorschriften, die für Umwandlungen von Rechtsträgern mit Sitz im Inland gelten, auf grenzüberschreitende Umwandlungen entsprechend anzuwenden.

103 EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673 Rn. 11. 104 BAGE 71, 56, 65 f. 105 Vgl. dazu mwN Leible, in: Michalski (Hrsg.), GmbHG (2. Aufl. 2010), Syst. Darst. 2 Rn. 211 Fn. 686. 106 EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-411/03 SEVIC, Slg. 2005, I-10805 Rn. 11 ff. 107 Vgl. Kallmeyer, ZIP 1996, 535, 535; Leible/Hoffmann, RIW 2006, 161, 164; zu den praktischen Folgen vgl. z.B. Teichmann, ZIP 2006, 355, 360 f.; Geyrhalter/Weber, DStR 2006, 146, 148 ff.

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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung

b)

Die Begrenzung des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts auf den Anwendungsbereich des primären Unionsrechts

Eine primärrechtskonforme Auslegung ist von Unionsrechts wegen nur dann geboten, wenn das nationale Recht in den Anwendungsbereich des primären Unionsrechts fällt.108 Deshalb ist mitgliedstaatliches Recht z.B. nur insoweit grundfreiheitenkonform auszulegen als ein (binnenmarkt-)grenzüberschreitender Bezug vorliegt. Denn auf rein innerstaatliche Sachverhalte sind die Grundfreiheiten nicht anwendbar.

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Außerhalb seines Anwendungsbereichs kann das Primärrecht allerdings kraft nationalen Rechts bei der Auslegung zu berücksichtigen sein. Das ist zum einen dann der Fall, wenn das innerstaatliche Verfassungsrecht – wie z.B. in Österreich109 – (unionsrechtlich nicht zu beanstandende) umgekehrte Diskriminierungen verbietet. Insbesondere der allgemeine Gleichheitssatz kann dann die Gerichte dazu verpflichten, von mehreren möglichen Auslegungen diejenige zu wählen, die primärrechtskonform wäre, wenn die zu interpretierende nationale Regelung in den Anwendungsbereich des Primärrechts fallen würde. Insoweit handelt es sich aber nicht um primärrechtskonforme, sondern um (national-)verfassungskonforme Auslegung.110 Außerdem ist das Primärrecht bei der Auslegung zu beachten, wenn der nationale Gesetzgeber sein Recht freiwillig hieran angepasst hat oder wenn eine Norm die Orientierung am Primärrecht ausdrücklich anordnet111.112 Im Übrigen kann sich der Rechtsanwender von den primärrechtlichen Wertentscheidungen – etwa bei der Auslegung von Generalklauseln – inspirieren lassen.113 Da jenseits des europarechtlich determinierten Anwendungsbereichs eine unionsrechtliche Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts nicht besteht, kommt dem aus dem Primärrecht gewonnen Auslegungskriterium – anders als sonst (Rn. 50) – kein Vorrang vor den übrigen Kanones zu. Dementsprechend kann – nach Abwägung der Auslegungskriterien – auch der Deutung der Vorzug zu geben sein, die nicht primärrechtskonform wäre. Um diesen methodischen Unterschied auch terminologisch hervorzuheben, ist es ratsam, insoweit auf den Begriff der primärrechtskonformen Auslegung zu ver-

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108 EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 ICI, Slg. 1998, I-4725 Rn. 34. 109 Vgl. VfGH, EuGRZ 1997, 362; VfGH, EuZW 2001, 219; VfGH, VfSlg 15.683/1999. 110 Vgl. z.B. OGH, SZ 71/192: Eine enge Auslegung des in § 1 Öffnungszeitengesetz gebrauchten Begriffes „für den Kleinverkauf von Waren bestimmte Betriebseinrichtungen“ ist von Verfassungs wegen geboten, um eine sich ansonsten für den Versandhandel ergebende Inländerdiskriminierung zu vermeiden. 111 Beispielsweise war in § 23 RegE-GWB eine Anordnung zur – wie es in der amtlichen Überschrift heißen sollte – europafreundlichen Anwendung vorgesehen: „Die Grundsätze des europäischen Wettbewerbsrechts sind sind bei der Anwendung der §§ 1 bis 4 und 19 maßgeblich zugrunde zu legen, soweit hierzu nicht in diesem Gesetz besondere Regelungen enthalten sind.“ Ausweislich der Begründung des Regierungsentwurfs sollte sich diese Regelung inbesondere bei solchen Wettbewerbsbeschränkungen auswirken, die allein dem innerstaatlichen Recht unterliegen (BT-Drs. 15/3640, 47). Der Vorschlag ist nicht Gesetz geworden. 112 Vgl. zu der vergleichbaren Problematik der überschießenden Umsetzung von Richtlinien Habersack/Mayer, in diesem Band, § 15. 113 Vgl. z.B. BAGE 84, 344, 359; BGH, NJW 1999, 3552, 3554; BGH, NJW 2000, 1028, 1030. Stefan Leible/Ronny Domröse

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2. Teil: Allgemeiner Teil

zichten und stattdessen – in Anlehnung an die bei der analogen Problematik der Auslegung richtlinienüberschießender Regelungen verwendete Begrifflichkeit114 – von quasi-primärrechtskonformer oder primärrechtsorientierter Auslegung zu sprechen. 2.

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Das Gebot primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts wird überwiegend auf Art. 4 Abs. 3 EUV/10 EG gestützt.115 Auch der EuGH hat in seinen Entscheidungen vereinzelt Art. 10 EG (jetzt Art. 4 Abs. 3 EUV) zur Begründung herangezogen.116 Das mag daran liegen, dass der Gerichtshof von einem allgemeinen Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung ausgeht,117 der neben dem Primärrecht auch sekundäres Unionsrecht als Auslegungsmaßstab für nationales Recht umfasst. In der Tat ist dann der Gedanke naheliegend, alle Spielarten der unionsrechtskonformen Auslegung (zusätzlich) auf die Loyalitätsverpflichtung als gemeinsame Basis zurückzuführen.118 Indessen bedarf es – wie auch sonst – keines Rückgriffs auf die lex generalis des Art. 4 Abs. 3 EUV/10 EG, wenn sich eine andere, speziellere Legitimationsgrundlage finden lässt.119 a)

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Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts

Der Wille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers bei der „Umsetzung“ primärrechtlicher Vorgaben

Primärrecht ist anders als die Richtlinie nicht auf Umsetzung in innerstaatliches Recht angewiesen. Es ist – wenn es die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt – unmittelbar anwendbar. Ein Umsetzungswille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers, der das Gebot primärrechtskonformer Auslegung stützen könnte, ist nicht vorhanden. Anders liegen die Dinge, wenn der Gesetzgeber – etwa infolge einer Entscheidung des Gerichtshofs – innerstaatliches Recht an primärrechtliche Vorgaben anpasst.

114 Vgl. Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH (2000), Bd. II, S. 915; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. 115 Engisch, Einführung in das juristische Denken (9. Aufl. 1997), S. 102 f. Fn. 50; LangenbucherLangenbucher, § 1 Rn. 46; Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung (2003), S. 103; Klamert, Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts (2001), S. 191; Streinz-Streinz, Art. 10 EG Rn. 16; Calliess/Ruffert-Kahl, Art. 10 EG Rn. 40; Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EG Rn. 114; Grabitz/Hilf-v. Bogdandy, Art. 10 EG Rn. 55. 116 EuGH v. 5.10.1994 – Rs. C-165/91 van Munster, Slg. 1994, I-4661 Rn. 32–35; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-262/97 Engelbrecht, Slg. 2000, I-7321 Rn. 38–40; implizit EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 ICI, Slg. 1998, I-4695 Rn. 31–35. 117 Besonders deutlich EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 114; GA Tizzano, SchlA v. 30.6.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Tz. 117. 118 In diesem Sinne Nettesheim, AöR 119 (1994), 248, 268; Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß (1999), S. 104; Zuleeg, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999), S. 167; v. d. Groeben/ Schwarze-Zuleeg, Art. 10 EG Rn. 6; Schwarze-Hatje, Art. 10 EG Rn. 29. 119 Zustimmend Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 240–242.

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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung So hat beispielsweise der deutsche Gesetzgeber § 116 S. 1 Nr. 2 ZPO a.F., der nur inländischen juristischen Personen und parteifähigen Vereinigungen einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe einräumte und deshalb gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot und die Niederlassungsfreiheit verstieß,120 dahingehend geändert, dass ein solcher Anspruch auch ausländischen juristischen Personen und parteifähigen Vereinigungen zusteht, die in einem anderen EG-/EWR-Mitgliedstaat gegründet und dort ansässig sind. Ein zweites Beispiel dafür, dass Primärrecht den entstehungsgeschichtlichen Hintergrund einer nationalen Norm bilden kann, ist die Erfüllung grundfreiheitlicher Schutzpflichten durch den mitgliedstaatlichen Gesetzgeber.121

Da in diesen Fällen ein Wille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers erkennbar ist, die primärrechtlichen Vorgaben zu verwirklichen, könnte man die primärrechtskonforme Auslegung auf den „Umsetzungswillen“ stützen. Indessen sieht sich dieser Begründungsansatz – ebenso wie die Überlegung, den Geltungsgrund des Gebots richtlinienkonformer Auslegung nur im Umsetzungswillen des Gesetzgebers zu sehen122 – dem Einwand ausgesetzt, dass die unionsrechtliche Dimension außer Acht bleibt, obwohl sie auch nach Anpassung des nationalen Rechts den Maßstab für die Beurteilung der Primärrechtskonformität des nationalen Rechts bildet. b)

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Begründung auf der Grundlage des Systemdenkens?

Ob sich der Systemgedanke als Legitimationsgrundlage für das Gebot primärrechtskonformer Auslegung eignet, hängt letztlich davon ab, ob Unionsrecht und nationales Recht als ein System gedacht werden können. Zweifel bestehen insoweit als jedenfalls der EuGH annimmt, es handele sich um „zwei selbständige, voneinander verschiedene Rechtsordnungen“.123 Das schließt freilich nicht aus, dass über eine innerstaatliche Ermächtigungsnorm die Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung begründet werden könnte. Die Pflicht zur Konformauslegung wäre das Ergebnis der Öffnung der nationalen Rechtsordnung für das supranationale Unionsrecht und würde auf nationalem (Verfassungs-)Recht – in Deutschland auf Art. 23 GG iVm Art. 20 Abs. 3 GG – beruhen.124 Eine Vorrangregel zugunsten der primärrechtskonformen Auslegung (vgl. Rn. 50) ließe sich dann aber nicht annehmen.

120 Vgl. BR-Drs. 267/04, S. 12 ff. Im Schrifttum wurde deshalb bereits vor der Änderung für eine primärrechtskonforme Rechtsfindung plädiert, vgl. z.B. Heß, FS Jayme (2004), Bd. I, S. 345 Fn. 46; Rehm, in: Eidenmüller (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht (2004), § 5 Rn. 137. 121 Vgl. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht (2002), S. 158. 122 Vgl. dazu Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 49–51. 123 Vgl. nur EuGH v. 6.4.1962 – Rs. 13/61 Kledingverkoopbedriif de Geus en Uitdenbogerd, Slg. 1962, 97, 110. 124 Zutreffend Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß (1999), S. 184 f. Stefan Leible/Ronny Domröse

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2. Teil: Allgemeiner Teil

c)

Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts und die Rücksichtnahme auf die mitgliedstaatliche Souveränität

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Eine tragfähige Legitimation lässt sich aus dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht gewinnen. Kraft des Anwendungsvorrangs sind alle innerstaatlichen Organe befugt und verpflichtet, nationales Recht, das Unionsrecht widerspricht, unangewendet zu lassen. Dann müssen sie erst recht befugt und verpflichtet sein, nationales Recht primärrechtskonform auszulegen.125 Das Gebot primärrechtskonformer Auslegung ist damit eine Wirkungsform des Anwendungsvorrangs126 und findet in ihm seine Grundlage.127 Die Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten (Art. 4 Abs. 3 EUV/10 EG) kann damit allenfalls ergänzend zur Begründung herangezogen werden.

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Zudem kann man die primärrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts mit der gebotenen Rücksichtnahme der Europäischen Union und ihrer Organe auf die mitgliedstaatliche Souveränität – genauer: die Autorität des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers – begründen. Die primärrechtskonforme Auslegung vermeidet, dass der mitgliedstaatliche Gesetzgeber mit Normkorrekturen belästigt wird, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch die Gerichte erledigen können.128 Das haben die Unionsorgane zu respektieren.

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Gegen diesen Ansatz ließe sich einwenden, dass von Unionsrechts wegen gar kein Bedarf für eine primärrechtskonforme Auslegung besteht, weil sich unmittelbar anwendbares Primärrecht im Konfliktfall gegenüber nationalem Recht ohnehin durchsetzt und dadurch dem Anwendungsvorrang Rechnung getragen wird. So gesehen könnte dem Unionsrecht nur ein Verbot primärrechtswidriger Auslegung, nicht aber ein Gebot primärrechtskonformer Auslegung entnommen werden.129 Dementsprechend wären die Ausführungen des EuGH (vgl. Rn. 38) so zu verstehen, dass er den mitgliedstaatlichen Gerichten nur die Möglichkeit der primärrechtskonformen Auslegung einräumt, sich aber allein nach nationalem Recht richtet, ob die Gerichte dazu auch verpflichtet sind. Für die deutschen Gerichte ergibt sich diese Pflicht aus ihrer Bindung an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) und dem Prinzip der Normerhaltung („favor legis“). Solange der semantische Entscheidungsspielraum der Norm eine primärrechtskonforme Deutung zulässt, sind die Gerichte daran gehindert, diese unangewendet zu lassen.130 125 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 213; Auer, in: Neuner (Hrsg.), Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht, S. 47. 126 Vgl. Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 220 EG Rn. 27. 127 Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 630; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 300; Metallinos, Die europarechtskonforme Auslegung, S. 174; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 49; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 240. 128 Zustimmend Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 243 f.; s.a. Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 631 f.; Frank, ZöR 55 (2000), 1, 32. 129 Vgl. Nettesheim, AöR 119 (1994), 248, 269. 130 Vgl. Nettesheim, AöR 119 (1994), 248, 269, der deshalb das Gebot gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung auf Art. 10 Abs. 2 EG (jetzt Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV) und auf das nationale Gebot der Normerhaltung stützt.

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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung

Indessen sprechen zwei Gründe dafür, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte (auch) kraft Unionsrechts zur primärrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts verpflichtet sind. Erstens folgt aus dem Übermaßverbot, dass das Unionsrecht nicht mehr einfordern kann als zu seiner Durchsetzung tatsächlich erforderlich ist. Verglichen mit der Normverwerfung ist die primärrechtskonforme Auslegung das weniger einschneidende Mittel; sie verdient deshalb den Vorzug. Und zweitens ist es – gerade im Privatrecht – denkbar, dass nur die primärrechtskonforme Rechtsfindung, nicht aber die Nichtanwendung des nationalen Rechts einen Zustand herstellen kann, der den Anforderungen des Unionsrechts genügt. Dann aber liegt es auch im Interesse der Union, dass das nationale Gericht von der primärrechtskonformen Rechtsfindung Gebrauch macht. 3.

49

Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre

Im Verhältnis zu den übrigen Auslegungskriterien kommt der primärrechtskonformen Auslegung Vorrang zu. Methodologisch handelt es sich bei ihr um eine interpretatorische Vorrangregel (vgl. Rn. 27). Lässt sich im nationalen Recht keine primärrechtskonforme Lösung finden, wandelt sie sich in eine derogatorische Vorrangregel, d.h. das Unionsrecht verdrängt die primärrechtswidrige nationale Norm (s.u. Rn. 58 f.).

50

Die primärrechtskonforme Auslegung stellt – wie die richtlinienkonforme Auslegung131 – einen eigenständigen Auslegungskanon dar. Das folgt schon daraus, dass die primärrechtskonforme Auslegung sich nicht in die herkömmlichen Kanones integrieren lässt. Anders als die primärrechtskonforme Auslegung des sekundären Unionsrechts (Rn. 28) lässt sie sich insbesondere nicht als Erscheinungsform der systematischen Auslegung verstehen.

51

4.

Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts

a)

Nationales Recht des forum

Das Gebot primärrechtskonformer Auslegung erstreckt sich auf das gesamte mitgliedstaatliche Recht, das in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Es erfasst das Sach- und Kollisionsrecht. Auch Verfassungsrecht und der normative Teil von Tarifverträgen müssen im Einklang mit Primärrecht interpretiert werden. b)

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Nationales Recht anderer EU-Mitgliedstaaten

Die Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung wirkt ubiquitär, d.h. sie bezieht sich nicht nur auf die lex fori, sondern auch auf das Recht anderer Mitgliedstaaten; denn der Anwendungsvorrang des Unionsrechts – auf dem das Gebot primärrechtskonformer Auslegung beruht (Rn. 46 ff.) – setzt sich auch gegenüber dem Recht anderer Mitgliedstaaten durch.132 Damit korrespondiert zur Vermeidung von Kolli-

131 Vgl. Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 79 mwN. 132 GA Alber, SchlA v. 17.10.2002 – Rs. C-220/01 Lennox, Slg. 2002, I-7091 Tz. 82–84.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

sionen die Pflicht der Mitgliedstaaten, das ausländische Recht bereits von vornherein primärrechtskonform zu interpretieren. Eines Rückgriffs auf Art. 4 Abs. 3 EUV/ 10 EG bedarf es zur Begründung dieser Pflicht deshalb nicht. Darin unterscheidet sich die primärrechtskonforme von der richtlinienkonformen Auslegung, die nicht auf dem Anwendungsvorrang beruht, sondern auf der Umsetzungsverpflichtung der Mitgliedstaaten (Art. 288 Abs. 3, 291 Abs. 1 AEUV/249 Abs. 3 EG).133 Die Umsetzungsverpflichtung richtet sich allerdings an die Organe der jeweiligen Mitgliedstaaten. Deshalb bezieht sich die Pflicht der Gerichte zu richtlinienkonformer Auslegung immer nur auf die lex fori. Allenfalls über Art. 4 Abs. 3 EUV/10 EG ließe sich begründen, dass die Gerichte auch verpflichtet sind, das Recht eines anderen Mitgliedstaats richtlinienkonform auszulegen.134

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55

Die primärrechtskonforme Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaats hat das Gericht nach den in diesem Staat maßgeblichen Methodenregeln vorzunehmen. Das schließt ggf. eine primärrechtskonforme Rechtsfortbildung des ausländischen Rechts ein. Lässt das ausländische Recht keinen Spielraum für eine primärrechtskonforme Rechtsfindung, so muss es unangewendet bleiben.135 Führt auch die Nichtanwendung des ausländischen Rechts nicht zu einem primärrechtskonformen Zustand, kann es ausnahmsweise zulässig sein, auf die lex fori zurückzugreifen. 5.

Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts

a)

Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts

Der EuGH verlangt von den nationalen Gerichten, dass sie das innerstaatliche Gesetz „so weit wie möglich“ 136 bzw. „unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihnen ihr nationales Recht einräumt“137 in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen. In diesem Verweis auf das nationale Recht kommt zum Ausdruck, dass der Gerichtshof die in den Mitgliedstaaten anerkannten Auslegungsmethoden respektiert. Dementsprechend variieren die methodologischen Grenzen der primärrechtskonformen Auslegung von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat.

133 W.-H. Roth, in diesem Band, § 14 Rn. 3 f.; Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 52–62; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 48; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 29–32. 134 Vgl. zum Ganzen Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 640 f.; Sonnenberger, ZVglRWiss 95 (1996), 3, 47; W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH (2000), Bd. II, S. 878–880; Gebauer, in: Jayme (Hrsg.), Kulturelle Identität und Internationales Privatrecht (2003), S. 191 ff.; Pfeiffer, StudZR 2004, 171, 191 f. 135 GA Alber, SchlA v. 17.10.2002 – Rs. C-220/01 Lennox, Slg. 2002, I-7091 Tz. 83 f.; Sonnenberger, ZVglRWiss 95 (1996), 3, 46. Zu den Folgen der Unanwendbarkeit nationalen Rechts vgl. Rn. 59. 136 EuGH v. 5.10.1994 – Rs. C-165/91 van Munster, Slg. 1994, I-4661 Rn. 34; EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Deutsche Post, Slg. 2000, I-932 Rn. 62; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-262/97 Engelbrecht, Slg. 2000, I-7321 Rn. 39 f. 137 EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673 Rn. 11; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 Colorell Pension Trustees, Slg. 1994, I-4389 Rn. 29; EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-8/02 Leichtle, Slg. 2004, I-2641 Rn. 58.

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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung

Zu den in der deutschen Methodenlehre anerkannten Rechtsfindungsmethoden gehört auch die Rechtsfortbildung. Deshalb müssen die deutschen Gerichte ggf. auch eine gesetzesimmanente Fortbildung des nationalen Rechts in Konformität mit dem Primärrecht in Betracht ziehen. Als Mittel der primärrechtskonformen Rechtsfortbildung kommen insbesondere der Analogieschluss und die teleologische Reduktion in Betracht (vgl. Rn. 35).138 Beispielhaft für eine primärrechtskonforme Rechtsfortbildung ist § 239 Abs. 1 BGB, wonach ein zur Sicherheitsleistung Verpflichteter nur dann auf die Stellung eines Bürgen (§ 232 Abs. 2 BGB) ausweichen kann, wenn dieser seinen allgemeinen Gerichtsstand in Deutschland hat, also ein „tauglicher“ Bürge ist.139 In anderen EU-Mitgliedstaaten Ansässige werden dadurch an einer Erbringung der Dienstleistung „Bürgschaft“ 140 gehindert. Gründe, die sich zur Rechtfertigung der Norm anführen lassen, sind nur in begrenztem Maße ersichtlich. Unbeachtlich ist jedenfalls der Einwand, der Gläubiger sei vor einer Vollstreckung im Ausland zu bewahren, da der Bürge leicht zu belangen sein müsse. Ein solches Vorbringen ist vom EuGH im Rahmen der zahlreichen Verfahren zur Ausländersicherheit stets mit dem Argument zurückgewiesen worden, dass mittlerweile sämtliche EU-Mitgliedstaaten zugleich Vertragsstaaten des Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommens (EuGVÜ;141 bzw. – unter Ausnahme Dänemarks – der Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung – EuGVVO) seien.142 Nach

138 Eingehend zum Gebot der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung des nationalen Rechts Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 233 ff. 139 Dazu Ehricke, EWS 1994, 259; Fuchs, RIW 1996, 280, 283 ff.; vgl. auch Reich, ZBB 2000, 177. 140 Das Stellen einer Bürgschaft weist zweifelsohne zahlreiche Dienstleistungselemente auf. Allerdings werden Bürgschaften auch in der „Nomenklatur für den Kapitalverkehr“ im Anhang der Richtlinie 88/361/EWG genannt, deren Begriffsbestimmungen des Kapitalverkehrs vom EuGH auch heute noch zur Auslegung des Art. 56 EG (Art. 63 AEUV) herangezogen werden (vgl. EuGH v. 16.3.1999 – Rs. C-222/97 Trummer und Mayer, Slg. 1999, I-1661 Rn. 21). Jedoch sagt das allein noch nichts über die Zuordnung aus. Abzustellen ist bei Maßnahmen, die sowohl die Dienstleistungs- als auch die Kapitalverkehrsfreiheit beschränken können, vielmehr auf den Charakter der Beschränkung. Die Verpflichtung zur Stellung eines „tauglichen“ Bürgen beschränkt in erster Linie die Möglichkeit ausländischer Bürgen zur Erbringung ihrer Dienstleistung „Bürgschaft“. Die mit der Verpflichtung zur Wahl inländischer Bürgen verbundene Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit tritt dahinter zurück. Mit gleichem Ergebnis etwa Baldus, JA 1996, 894, 897; Ehricke, EWS 1994, 259, 260 f.; Fuchs, RIW 1996, 280, 283 f.; OLG Hamburg, RIW 1995, 775, 776; a.A. Calliess/Ruffert-Bröhmer, Art. 56 EG Rn. 10; Taupitz, FS Lüke (1997), S. 857 f.; OLG Düsseldorf, WiB 1996, 87; offen gelassen von OLG Koblenz, RIW 1995, 775. 141 Brüsseler EWG-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen v. 27.9.1968 (BGBl. 1972 II, 774) idF des 4. Beitrittsübereinkommens v. 29.11.1996 (BGBl. 1998 II, 1412). 142 Zwar erkannte der Gerichtshof an, dass „zwischen bestimmten Mitgliedstaaten tatsächlich die Gefahr [besteht], dass eine in einem Mitgliedstaat gegen Gebietsfremde ergangene Kostenentscheidung nicht oder zumindest sehr viel schwerer und unter höheren Kosten vollstreckt werden kann“ (vgl. EuGH v. 20.3.1997 – Rs. C-323/95 Hayes, Slg. 1997, I-1711 Rn. 23; anders noch EuGH v. 10.2.1994 – Rs. C-398/92 Mund & Fester, Slg. 1994, I-467 Rn. 20), doch hob diese Aussage auf die seinerzeit noch unvollständige Ratifizierung des 4. Beitrittsübereinkommens zum EuGVÜ ab. Mittlerweile hat sich die Situation jedoch geändert, da nunmehr alle „Alt-EG-Mitgliedstaaten“ das 4. Beitrittsübereinkommen zum Stefan Leible/Ronny Domröse

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2. Teil: Allgemeiner Teil Auffassung des Gerichtshofs sind daher „die Voraussetzungen für die Vollstreckung der Entscheidungen und die mit den Schwierigkeiten, die sie verursacht, verbundenen Risiken in allen Mitgliedstaaten die gleichen“.143 Daraus wird gefolgert, dass sich Regelungen wie § 239 BGB, die sich auch in den Bürgschaftsrechten einiger anderer europäischer Staaten144 finden, nicht rechtfertigen lassen, und die Vorschrift dahingehend teleologisch zu reduzieren ist, dass ein allgemeiner Gerichtsstand innerhalb der EU genügt, unter „Inland“ also das „EU-Inland“ zu verstehen ist.145 Dass sich ein solches Ergebnis ohne gesetzgeberische Änderung des § 239 BGB in methodologisch zulässiger Weise durch eine teleologische Reduktion der Norm erzielen lässt, sollte angesichts der voranstehenden Ausführungen zu Inhalt und Reichweite der Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts außer Frage stehen.146 Zweifelhaft ist allein, ob es auch geboten ist. Das ist eine Frage der Auslegung des Unionsrechts, die einer teleologischen Reduktion vorgeschaltet ist; denn erst wenn feststeht, was das Unionsrecht überhaupt verlangt, wenn also der für die Auslegung des nationalen Rechts maßgebliche Rahmen abgesteckt ist, kann zu seiner primärrechtskonformen Auslegung übergegangen werden. Der EuGH geht zwar davon aus, dass die Voraussetzungen für die Vollstreckung von Entscheidungen und die mit den Schwierigkeiten, die sie verursacht, verbundenen Risiken in allen Mitgliedstaaten die gleichen sind, doch lässt sich Gleiches nicht vom Zivilprozess als solchem behaupten. EuGVÜ und EuGVVO regeln insoweit lediglich Fragen der internationalen Zuständigkeit, nicht hingegen der Verfahrensausgestaltung. Normen zur Angleichung zivilprozessualer Vorschriften finden sich im sekundären Unionsrecht nur wenige.147 Eine Klage im europäischen Ausland ist auch heute noch ein mit zahlreichen Unwägbarkeiten verbundenes Unterfangen. Man wird daher, wie es das OLG Hamburg getan hat,148 immerhin verlangen können, dass Bürgen aus anderen Mitgliedstaaten der EU sich

148

EuGVÜ ratifiziert haben und im Verhältnis der EU-Mitgliedstaaten unter Ausnahme Dänemarks die EuGVVO direkt und im Verhältnis zu Dänemark über das Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Königreich Dänemark über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2005 L 299/62) gilt. Dass die Risiken einer Auslandsvollstreckung gegenüber einer reinen Inlandsvollstreckung, bei der es eines besonderen Vollstreckbarerklärungsverfahrens nicht bedarf, trotz EuGVÜ bzw. EuGVVO tatsächlich andere und durchaus höher sind, hat der Gerichtshof hingegen nie als Rechtfertigungsgrund gelten lassen (zur Kritik vgl. u.a. Mankowski, NJW 1995, 306, 308; Schack, ZZP 108 [1995], 47, 51 f.; Thümmel, EuZW 1994, 242, 244). Vgl. z.B. EuGH v. 10.2.1994 – Rs. C-398/92 Mund & Fester, Slg. 1994, I-467 Rn. 20. Diese Tendenz lässt sich im Übrigen auch im Umkehrschluss aus EuGH v. 23.1.1997 – Rs. C-29/95 Pastoors und Trans-Cap, Slg. 1997, I-285 Rn. 21 entnehmen. Ob diese Aussage den tatsächlichen Gegebenheiten gerecht wird, erscheint freilich fraglich. Vgl. etwa Art. 2018 C.civ, Art. 1828 Cc etc. und dazu Drobnig, in: Europäisches Parlament (Hrsg.), Untersuchung der Privatrechtsordnungen der EU im Hinblick auf Diskriminierungen und die Schaffung eines Europäischen Zivilgesetzbuches (1999), S. 112. Vgl. z.B. Soergel-Fahse, BGB (13. Aufl. 1999), § 239 BGB Rn. 4; AnwKomm-Fuchs, § 239 BGB Rn. 3; MünchKommBGB-Grothe, § 239 BGB Rn. 1; Palandt-Heinrichs, § 239 BGB Rn. 1; Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 39 f.; Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 47; Staudinger-Werner, § 239 BGB Rn. 3. Zustimmend Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 234 f.; a.A. jedoch Bamberger/ Roth-Dennhardt, § 239 BGB Rn. 2; vgl. auch Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 214. Vgl. dazu auch Leible, in: Müller-Graff (Hrsg.), Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (2005), S. 55 ff. OLG Hamburg, RIW 1995, 775, 776.

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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung wenigstens der internationalen Zuständigkeit eines deutschen Gerichts unterwerfen.149 Eine derart umfassende teleologische Reduktion von § 239 BGB, wie sie von der wohl h.M. befürwortet wird, ist daher nicht zwingend. Wie weit die Vorgaben des Unionsrechts tatsächlich reichen, wäre freilich zunächst durch ein Vorabentscheidungsverfahren zu klären. Vergleichbare Probleme stellen sich bei der Auslegung und Anwendung von § 108 ZPO, und zwar bei Beantwortung der Frage, ob die Gerichte in den Fällen, in denen nach den Vorschriften der ZPO die Leistung einer Sicherheit vorgesehen ist, auch Bürgschaften von in anderen EU-Mitgliedstaaten ansässigen Bürgen zulassen können oder vielleicht sogar müssen.150

b)

Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts?

Anerkanntermaßen ist der Rechtsprechung ein contra-legem-Judizieren grundsätzlich verboten.151 Ob diese Grenze für die primärrechtskonforme Fortbildung nationalen Rechts gilt, ist zweifelhaft.152 Bedenkt man, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte unionsrechtlich befugt und verpflichtet sind, nationale Normen unangewendet zu lassen, die dem Unionsrecht widersprechen, dann erscheint es folgerichtig, dass sie sich über die lex lata hinwegsetzen können. Da die Gerichte eine primärrechtswidrige nationale Norm kraft eigener Zuständigkeit unangewendet lassen müssen, ohne dass es der Durchführung eines Vorlageverfahrens nach Art. 100 Abs. 1 GG bedarf,153 besteht keine Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zur Normderogation, auf die Rücksicht zu nehmen wäre. Auf der Grundlage des Anwendungsvorrangs ließen sich auch die weiteren Hürden für ein zulässiges contra-legem-Judizieren – die Prinzipien der Volkssouveränität und des (subjektiven) Vertrauensschutzes154 – argumentativ überwinden. Andererseits darf nicht verkannt werden, dass die primärrechtskonforme Rechtsfortbildung contra legem über den Anwendungsvorrang insoweit hinausgeht als der Richter einen Rechtssatz umbildet oder kreiert, wohingegen der Anwendungsvorrang nur bewirkt, dass ein Rechtssatz unangewendet bleibt. Hält man eine primärrechtskonforme Rechtsfortbildung contra legem für zulässig, wäre auch die Annahme, der EuGH respektiere die in den Mitgliedstaaten anerkannten Rechtsfindungsmethoden (vgl. Rn. 55), zu hinterfragen.

149 Ebenso Fuchs, RIW 1996, 280, 289; Musielak-Foerste, ZPO (4. Aufl. 2005), § 108 ZPO Rn. 9; Reich, ZBB 2000, 177, 180; a.A. Taupitz, FS Lüke (1997), S. 860. 150 Dem und insbesondere der Frage nach der Maßgeblichkeit von § 239 BGB für § 108 ZPO ist hier nicht nachzugehen. Vgl. dazu Fuchs, RIW 1996, 280; Taupitz, FS Lüke (1997), S. 846 ff. jeweils mwN. 151 S. nur Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 245 ff. 152 Eingehend zu den Grenzen der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung des nationalen Rechts Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 300 ff. 153 Vgl. z.B. EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 106/77 Simmenthal, Slg. 1978, 629 Rn. 24; BVerfGE 31, 145, 174 f. 154 Eingehend Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 140 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

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Soweit das nationale Recht keinen Spielraum für eine primärrechtskonforme Rechtsfindung (Auslegung und Rechtsfortbildung) lässt, muss es unangewendet bleiben.155 Anders als bei der verfassungskonformen Auslegung des nationalen Rechts bzw. der primärrechtskonformen Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts (Rn. 37) obliegt die Feststellung der Unanwendbarkeit der nationalen Rechtsnorm indes nicht dem Bundesverfassungsgericht bzw. dem EuGH, sondern dem Rechtsanwender.156 Er ist auch bei förmlichen Gesetzen verpflichtet, diese von Amts wegen unangewendet zu lassen, sofern nur so der unmittelbaren Wirkung des Primärrechts Rechnung getragen werden kann.157 Selbst das Vorlageverfahren des Art. 100 Abs. 1 GG kommt insoweit nicht zum Tragen.158 Zwar ist ein Vorabentscheidungsverfahren nicht ausgeschlossen, doch kann sich sein Inhalt nur auf die Ermittlung des Inhalts der als Maßstab geltenden primärrechtlichen Norm, nicht aber der Vereinbarkeit der nationalen Vorschrift mit dieser erstrecken. In der Praxis lässt sich diese Beschränkung freilich durch eine geschickte Formulierung des Vorabentscheidungsersuchens umgehen.

59

Die Unanwendbarkeit des primärrechtswidrigen nationalen Rechts hat zur Folge, dass es lückenhaft wird.159 Die durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts gerissene Lücke im nationalen Recht ist allerdings in primärrechtskonformer Weise zu schließen. Ebendies hat das BAG entschieden.160 Das BAG stellte fest, dass eine Bestimmung eines Tarifvertrages mit Art. 39 EG (jetzt Art. 45 AEUV) unvereinbar und deshalb unanwendbar ist. Die entstandene Regelungslücke könne und müsse unter Berücksichtigung des mutmaßlichen Willens der Tarifvertragsparteien geschlossen werden. Auf diese Weise gelangte das Gericht zu einer den Anforderungen des Art. 39 EG (jetzt Art. 45 AEUV) genügenden Lösung. Die Möglichkeit einer grundfreiheitenkonformen Auslegung der Tarifnorm hat das BAG offengelassen, da diese zu demselben Ergebnis geführt hätte. Die Entscheidung zeigt, wie der Anwendungsvorrang des Unionsrechts mitgliedstaatliche Gerichte dazu verführt, sich voreilig von ihrer Bindung an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) loszusagen und gegen das Prinzip der Normerhaltung zu verstoßen.

IV. 60

Exkurs: Das primäre Unionsrecht als Gegenstand der Konformauslegung?

Bisher ging es um die Frage, inwieweit das primäre Unionsrecht als Maßstab für die Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts und des nationalen Rechts heranzuziehen

155 EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673 Rn. 11; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 Colorell Pension Trustees, Slg. 1994, I-4389 Rn. 29; EuGH v. 5.10.1994 – Rs. C-165/91 van Munster, Slg. 1994, I-4661 Rn. 34; EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Deutsche Post, Slg. 2000, I-932 Rn. 62; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-262/97 Engelbrecht, Slg. 2000, I-7321 Rn. 39 f.; EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-8/02 Leichtle, Slg. 2004, I-2641 Rn. 58. 156 Näher Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts (1994), S. 100 ff. 157 Vgl. z.B. EuGH v. 22.6.1989 – Rs. 103/88 Fratelli Costanzo, Slg. 1989, 1839 Rn. 31. 158 BVerfGE 31, 145, 174 f.; BVerfGE 82, 159, 181. 159 Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 15. 160 BAG, DB 2005, 2248, 2249.

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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung

ist. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob das primäre Unionsrecht auch Gegenstand primärrechtskonformer Auslegung sein kann. 1.

Primärrechtskonforme Auslegung des Primärrechts

Theoretisch denkbar ist, dass Primärrecht selbst primärrechtskonform auszulegen ist. Diese Überlegung impliziert, dass innerhalb des Primärrechts Normenhierarchien bestehen161 und es demzufolge primärrechtswidriges Primärrecht geben kann. Sie erinnert an die aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannte Diskussion, ob es verfassungswidriges Verfassungsrecht gibt.162

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Positivrechtlich lässt sich eine Abschichtung von „schlichtem“ und „höherrangigem“ Primärrecht nicht begründen. Der EuGH bezeichnet zwar gelegentlich einzelne Vertragsbestimmungen als „fundamentale Grundsätze“,163 jedoch nicht, um eine Rangabstufung nachzuweisen. Gegen eine Hierarchie im Primärrecht scheint zu sprechen, dass diese die Mitgliedstaaten ihrer Rolle „als Herren der Verträge“ entheben würde. Zudem wäre fraglich, wie der Gerichtshof Primärrecht kontrollieren kann, ist ihm doch nur die Aufgabe zugewiesen, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern (Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV/220 Abs. 1 EG). Dementsprechend ist der Gerichtshof nur zur Überprüfung des abgeleiteten Unionsrechts ermächtigt (Art. 19 Abs. 3 lit. a) und b) EUV, Art. 263 Abs. 1, Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV/230 Abs. 1, 234 Abs. 1 lit. b) EG); für das primäre Unionsrecht verfügt er indessen nur über eine Auslegungskompetenz (Art. 19 Abs. 3 lit. b) EUV, Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV/68 Abs. 3, 234 Abs. 1 lit. a) EG).164

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Zudem dürfte es nur in den wenigsten Fällen zu einer „echten“ Kollision primärrechtlicher Normen kommen und damit überhaupt Raum für eine primärrechtskonforme Auslegung bestehen. Wenn der Gerichtshof z.B. die Grundfreiheiten oder Wettbewerbsregeln im Lichte der allgemeinen Werte- und Zielbestimmungen (Art. 2, 3 EUV/2, 3 EG) interpretiert,165 so bedeutet das nicht, dass er jenen einen Vorrang vor den spezifischen Vertragsbestimmungen einräumt, sondern nur, dass er die Auslegung am Primärrechtssystem ausrichtet. Das aber ist nichts anderes als eine einfach-systematische bzw. teleologische Interpretation.166

63

161 Näher dazu Heintzen, EuR 1994, 35–49; v. Arnauld, EuR 2003, 191–216; Hofmann, Normenhierarchien im europäischen Gemeinschaftsrecht (2000), S. 80 ff. und passim. 162 Vgl. dazu Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen? (1951); beispielhaft für die Rechtsprechung BVerfGE 3, 225 ff. 163 EuGH v. 9.7.1997 – Rs. C-222/95 Parodi, Slg. 1997, I-3899 Rn. 21; EuGH v. 7.2.2002 – Rs. C-279/00 Kommission ./. Italien, Slg. 2002, I-1425 Rn. 33; EuGH v. 19.10.2004 – Rs. C-200/02 Zuh und Chen, Slg. 2004, I-9925 Rn. 31. 164 Möglichkeiten der prozessualen Geltendmachung primärrechtswidrigen Primärrechts zeigt v. Arnauld, EuR 2003, 191, 214 f. auf. 165 Vgl. z.B. EuGH v. 13.2.1979 – Rs. 85/76 Hoffmann-La Roche, Slg. 1979, 461 Rn. 125; EuGH v. 5.5.1982 – Rs. 15/81 Schul, Slg. 1982, 1409 Rn. 33. 166 S.a. Grabitz/Hilf-v. Bogdandy, Art. 2 EG Rn. 14; Streinz-Streinz, Art. 2 EG Rn. 18.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

64

Ähnlich liegen die Dinge, wenn Grundfreiheiten mit Unionsgrundrechten oder Unionsgrundrechte mehrerer Grundrechtsträger miteinander kollidieren. Die kollidierenden Interessen sind nach dem aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannten Grundsatz der praktischen Konkordanz167 möglichst schonend auszugleichen.168 Der Sache nach handelt es sich hierbei um ein Optimierungsgebot und nicht um die Auflösung von Normkollisionen im Wege der rangkonformen Auslegung. Deshalb sollte man auch in diesem Zusammenhang auf den Begriff der primärrechtskonformen Auslegung verzichten.169

65

Soweit primärrechtliche Normen tatsächlich einmal miteinander konfligieren und ein Vorrang einzelner Normen nachgewiesen werden kann, spricht nichts dagegen, die Grundsätze der primärrechtskonformen Auslegung des abgleiteten Unionsrechts auf dieses Verhältnis zu übertragen. 2.

66

Sekundärrechtskonforme Auslegung des Primärrechts

Unter normhierarchischen Gesichtspunkten etwas überraschend legt der EuGH mitunter das Primär- im Lichte des Sekundärrechts aus.170 Manche sprechen von einer sekundärrechtskonformen Auslegung des Vertragsrechts171 oder einer umgekehrten Konformauslegung.172 So rekurrierte der Gerichtshof etwa zur Begründung einer unmittelbaren Drittwirkung der Art. 12, 49 EG (jetzt Art. 18, 56 AEUV) unter anderem auf Art. 7 Abs. 4 der VO (EWG) 1612/68173,174 oder legte den Begriff der Maßnahme gleicher Wirkung iSv Art. 28 EG (jetzt Art. 34 AEUV) – erstaunlicherweise sogar nach seinem wegweisenden Urteil Dassonville – im Lichte der Richtlinie 70/50/ EWG 175 aus.176 Und in der Entscheidung Trummer und Mayer zog er sogar zur Konkretisierung des in Art. 56 EG (jetzt Art. 63 AEUV) enthaltenen Begriffs „Kapitalverkehr“ die im Anhang der Richtlinie 88/361/EWG 177 enthaltene Nomenklatur für

167 Grundlegend Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (19. Aufl. 1993), Rn. 317 ff.; beispielhaft für die Rechtsprechung BVerfGE 81, 278, 292. 168 In diesem Sinne EuGH v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 Schmidberger, Slg. 2003, I-5659 Rn. 81; ebenso Jarass, EU-Grundrechte (2005), § 5 Rn. 34. 169 A.A. Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht (4. Aufl. 2009), § 10 Rn. 53 („primärrechtskonforme Interpretation der Schranken von Grundfreiheiten“). 170 Beispiele bei Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 220 EG Rn. 51; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 448 Fn. 23; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 328 ff. 171 Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 195. 172 Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 328. 173 Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates v. 15.10.1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, ABl. 1968 L 257/2. 174 EuGH v. 12.12.1974 – Rs. 36/74 Walrave und Koch, Slg. 1974, 1405 Rn. 20/24. 175 Richtlinie 70/50/EWG der Kommission v. 22.12.1969 über die Beseitigung bestimmter Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen, ABl. 1970 L 13/29. Vgl. dazu auch Grabitz/Hilf-Leible, Art. 28 EG Rn. 10 f. 176 EuGH v. 12.10.1978 – Rs. 13/78 Eggers, Slg. 1978, 1935 Rn. 23. 177 Richtlinie 88/361/EWG des Rates v. 24.6.1988 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrages, ABl. 1988 L 178/5.

282

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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung

den Kapitalverkehr heran, obwohl diese Richtlinie noch auf der Grundlage von Art. 67 EWG erlassen worden war, der durch Art. 56 EG (jetzt Art. 63 AEUV) fortgeschrieben und wesentlich verändert wurde.178 Letzteres mag man noch als eine Form der historischen bzw. genetischen Auslegung begreifen; schließlich ist kaum anzunehmen, dass mit der Umformung von Art. 67 EWG bzw. 73b EGV zu einer „echten“ Grundfreiheit hinter dem bislang erreichten Stand zurückgeblieben werden sollte. Insgesamt begegnet die sekundärrechtskonforme Auslegung des Primärrechts jedoch Bedenken, stellt sie doch die Normhierarchie des Vertrages auf den Kopf.179 Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, die Berücksichtigung von Rechtsakten des Unionsgesetzgebers, die der Konkretisierung und Ausfüllung von Vertragsnormen dienen, bei der Auslegung des Vertrages entspreche dem funktionellrechtlichen Grundsatz der richterlichen Zurückhaltung im Bereich der Rechtsetzung und -gestaltung.180 Gemäß Art. 19 Abs. 3 lit. b) EUV, Art. 267 AEUV/234 EG obliegt die Auslegung der Verträge dem Gerichtshof. Er hat zu kontrollieren, ob die Unionsorgane die ihnen gezogenen Kompetenzgrenzen nicht überschritten haben; und das bedingt – auch bei offenen Normen – eine primäre Ausfüllungszuständigkeit des Gerichtshofs als „Hüter des Rechts“. Wenn überhaupt, so ist ein Rekurs auf Sekundärrecht daher nur möglich, wenn er der Absicherung eines bereits selbständig mit Hilfe der klassischen Auslegungsmethoden gewonnenen Auslegungsergebnisses dient.181 Ein Beispiel hierfür findet sich in der EuGH-Entscheidung Antonissen:182 „Diese Auslegung des EWG-Vertrags entspricht im übrigen der Auffassung der rechtsetzenden Organe der Gemeinschaft, wie sie sich aus den Bestimmungen zur Durchführung der Freizügigkeit, insbesondere den Artikeln 1 und 5 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) ergibt, die das Recht der Gemeinschaftsangehörigen, sich zur Stellensuche in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, und folglich auch das Aufenthaltsrecht dort voraussetzen.“

3.

National-verfassungskonforme Auslegung des Primärrechts

Im Schrifttum wird vereinzelt sogar angenommen, das primäre Unionsrecht müsse auch national-verfassungskonform ausgelegt werden.183 Diese Pflicht wird teilweise positivrechtlich auf Art. 5 Abs. 2, 10 und 151 Abs. 1 und 4 EG sowie Art. 2 und 6 Abs. 3 EU (jetzt Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3, Art. 4 Abs. 2 und 3 EUV, Art. 167 Abs. 1

178 EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-222/97 Trummer und Mayer, Slg. 1999, I-1661 Rn. 21. 179 Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 197; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 335. 180 So aber Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 220 EG Rn. 52; ähnlich z.B. Colneric, ZEuP 2005, 225, 229; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 449. 181 Ebenso Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 198; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 336. 182 EuGH v. 26.2.1991 – Rs. C-292/89 Antonissen, Slg. 1991, I-745 Rn. 14. 183 Friauf, AöR 85 (1960), 224–235; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas (2001), S. 289 ff.; Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 220 EG Rn. 50; s.a. Daig, AöR 83 (1958), 132, 154.

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67

2. Teil: Allgemeiner Teil

und 4 AEUV) gestützt.184 Zum Teil wird auf das „Kooperationsprinzip und die materielle Einheit des Rechts im europäischen Verfassungsverbund“ verwiesen.185

68

Die Annahme, das Unionsrecht enthalte ein Gebot der national-verfassungskonformen Auslegung des Primärrechts, geht zu weit. Sie ist weder mit dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts zu vereinbaren noch ist der Gerichtshof zur nationalverfassungskonformen Auslegung des Vertrages berufen (vgl. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2, Abs. 3 lit. b) EUV, Art. 267 Abs. 1 AEUV/68 Abs. 3, 220 Abs. 1, 234 Abs. 1 EG). Der EuGH zieht zwar zur Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen als Rechtserkenntnisquelle heran. Hierbei handelt es sich indessen nicht um eine national-verfassungskonforme Auslegung des Primärrechts, sondern um eine rechtsvergleichende Auslegung als Erscheinungsform der teleologischen Interpretation.

184 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas (2001), S. 289 ff. 185 Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 220 EG Rn. 50.

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Abschnitt 3 Sekundärrecht § 10 Systemdenken und Systembildung Stefan Grundmann

Übersicht I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gesamtsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zweiebenensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zuordnung zentrale und dezentrale Regelsetzung: Bewertung und Zukunft 2. Eckpunkte-, zunehmend auch Alternativmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Eckpunktemodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Alternativmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Modell der materiellen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Freiheit – vom liberalen Freiheitskonzept zum Konzept materieller Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Einführung zu den Einzelgebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Wichtige Systemfragen im Europäischen Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . 1. Von der Vertragsrechtsregulierung zum flächendeckenden Vertragsrechtsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vertragsrechtsregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auf dem Weg zum flächendeckenden Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . 2. Ausstrahlwirkung: Frage der Generalisierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . a) Vom Verbraucherrecht zum allgemeinen Vertragsrecht . . . . . . . . . . b) Vom Besonderen Teil zum Allgemeinen Teil . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Beitrag des Akademischen Referenzrahmens . . . . . . . . . . . . . d) Wettbewerb der Formen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einzelne Systemgedanken, vor allem: Besonderes Gewicht des Informationsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Besonderes Gewicht des Informationsmodells . . . . . . . . . . . . . . . b) Überblick zu weiteren Systemgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Wichtige Systemfragen im Europäischen Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . 1. Leitidee: Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften und Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften a) Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften . . . b) Betonung des Außenverhältnisses auch durch prononcierte Kapitalmarktorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften 2. Ausstrahlwirkung: Wettbewerb und Kompatibilität der Formen . . . . . . . Stefan Grundmann

Rn. 1 2–25 2–12 2–5 6–12 13–18 13–15 16–18 19–24 19–20 21–24 25

.

26–42

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26–30 26–28 29–30 31–38 31–32 33–34 34a 35–38

. . .

39–42 39–40 41–42

.

43–65

.

43–53 43–47

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48–50 51–53 54–62

285

Teil 2: Allgemeiner Teil a) Wettbewerb der Formen . . . . . . . . . . b) Kompatibilität der Formen . . . . . . . . c) Generalisierbarkeit? . . . . . . . . . . . . 3. Besonderes Gewicht des Informationsmodells V. Ausblick

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54–55 56–58 59–62 63–65

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66–67

Literatur: Stefan Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts – Gesellschafts-, Arbeits- und Schuldvertragsrecht (2000); ders., Die Struktur des Europäischen Gesellschaftsrechts von der Krise zum Boom, ZIP 2004, 2401–2412; ders./ Jules Stuyck, An Academic Greenpaper on European Contract Law (2002); Peter Jung, Der Beitrag des Europäischen Gesellschaftsrechts zum System des Gemeinschaftsprivatrechts, GPR 2004, 233–244; Karl Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts (2003).

I. 1

Einleitung

Dem Herausgeber liegt das Thema „Systembildung“ am Herzen, er hat es für das Europäische Vertragsrecht so durchdrungen, dass jede zukünftige Diskussion nur auf der Grundlage seiner Monographie geführt werden kann.1 In der Folgezeit hat er die im Jahrzehnt zuvor vorherrschende Umschreibung des geltenden Europäischen Privatrechts – im Sinne eines Gemeinschaftsprivatrechts – als „pointillistisch“ 2 feinfühlig umgewertet: Bilder des Pointillismus, etwa eines Seurat, erschließen sich erst durch Zurücktreten, doch dann als höchst kunstvolle Ensembles.3 In der Tat kann die dogmatische Durchdringung des Regelbestandes eines Gebiets, der Nachweis relativ großer Stimmigkeit, hier auch nicht ansatzweise geleistet werden (vgl. oben I. mit Fn. 1). Systembildung im Europäischen Privatrecht kann hier nur heißen: das Gesamtsystem beleuchten (unten II.) und dann zwei Teilgebiete gerade auch mit der Überlegung in den Blick nehmen, ob nicht gar über die Gebiete hinweg gemeinsame Strukturen zu sehen sind. Dafür erscheinen die beiden zentralen privatrechtlichen Organisationsformen – Vertrag und Gesellschaft –4 besonders prädestiniert (unten III. und IV.).

1 Riesenhuber, System und Prinzipien. Eigentlich liegt darin, wenn man die Bemühung um einen Gemeinsamen Referenzrahmen beim Wort nimmt, schon weit gehend die Antwort auf die dort gestellten Fragen. Vgl. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 12.2.2003, „Ein kohärenteres Europäisches Vertragsrecht – ein Aktionsplan“, KOM(2003) 68 endg, ABl. 2003 C 63/1; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 11.10.2004 „Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen“, KOM(2004) 651 endg; für das zweite hier behandelte Teilgebiet, das Gesellschaftsrecht, etwa: Jung, GPR 2004, 233; in der Sache auch Grundmann, ZIP 2004, 2401. 2 Kötz, RabelsZ 50 (1986) 1, 5, dort natürlich kritisch gemeint. 3 Riesenhuber, ERCL 1 (2005), 297–322. 4 Grundlegend zur Alternative zwischen diesen beiden Organisationsformen: Coase, Economica 4 (1937), 386; Easterbrook/Fischel, The Economic Structure of Corporate Law (1991),

286

Stefan Grundmann

§ 10 Systemdenken und Systembildung

II.

Gesamtsystem

1.

Zweiebenensystem

a)

Phänomen

Geht man vom äußeren System aus, so fällt zunächst auf, dass auch in den stark harmonisierten oder vereinheitlichten Gebieten zentrale und dezentrale (d.h. idR nationale) Regelung nebeneinander tritt und eng mit einander verwoben ist. Dafür hat sich der Begriff eines Zweiebenensystems eingebürgert, obwohl natürlich die Wahl nicht nur zwischen zentral und dezentral gesetzten Regelungskomplexen eröffnet sein kann, sondern zwischen verschiedenen dezentral gesetzten Regelwerken und auch Kombinationen derselben (etwa Ltd. & Co. KG). Ein Zweiebenensystem in diesem Sinne findet sich sicherlich in den Fällen des Vertrags- und des Gesellschaftsrechts (mit Kapitalmarktrecht).5

2

Zweiebenensysteme gibt es nicht nur in Europa, das Zweiebenensystem in Europa ist freilich doch von recht eigener Art. Charakteristisch ist hier, dass die Regeln, die auf zentraler Ebene gesetzt wurden, nicht ein Rechtsgebiet (weitgehend) erschöpfen, die Regeln, die auf dezentraler Ebene gesetzt wurden, dann ein anderes. Vielmehr wirken beide Ebenen regelmäßig auch in den einzelnen Fragen jeweils zusammen, etwa, wenn die Hauptversammlungszuständigkeit, wie häufig, in der Richtlinie vorgesehen wird, die Mehrheit aber im nationalen Recht, vielleicht wiederum mit einer Minimumregel in der Richtlinie, oder etwa, wenn das Bestehen eines Rückgriffsrechts in der Absatzkette in der Richtlinie vorgesehen wird, seine Abdingbarkeit jedoch und mögliche Ersatzinstrumente dem nationalen Recht überlassen werden, oder auch, wenn die Einbeziehung von AGB den nationalen Rechten überantwortet wird, das Zentralkriterium für die Inhaltskontrolle in der Richtlinie zu finden ist, und der detaillierte Katalog missbräuchlicher Klauseln dann in der Richtlinie als evtl. unverbindlicher „Hinweis“ formuliert wird, die Festlegung dann wieder dem nationalen Recht überlassen wird. Und genereller ist auf die regelmäßig bestehende Möglichkeit der Mitgliedstaaten hinzuweisen, strengeres Recht im Anwendungsbereich und sogar in den Regelungsfragen der Richtlinie zu erlassen.

3

Das Bild ist durchaus anders als etwa in den USA, in denen ebenfalls ein Zweiebenensystem zu finden ist. Der Uniform Commercial Code (UCC) als Modellgesetz

4

S. 8 f.; Eidenmüller, JZ 2001, 1041, 1042; Hart, Firms, Contracts, and Financial Structure (1995), S. 6–8, 15–55. Beide schon als Hauptalternativen in den Blick genommen in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken; ausführlich zu den Querverläufen Grundmann, FS Hopt (2010), S. 45. 5 Zu beiden Teilgebieten die Beiträge von Windbichler/Krolop, in diesem Band, § 19 und Kalss, ebd., § 20. Eine Ausnahme bildet nur das Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen, das von Anbeginn an für so wichtig gehalten wurde, dass es vor allem Europäisch verfasst sein sollte, und das angesichts der de facto-Angleichung auch der nationalen Wettbewerbsrechte, wo sie noch Anwendung finden, in der Tat vor allem Europäisch ist. Für diesen letzten Schritt in Deutschland, vgl. die 7. GWB-Novelle, 2005; dazu etwa Bechtold, DB 2004, 235; Kahlenberg, BB 2004, 389. Stefan Grundmann

287

Teil 2: Allgemeiner Teil

ist doch immer eine Materie für nur eine Art Vertragsbeziehung – b2b – geblieben und stellt für diese inzwischen flächendeckend auch das Gliedstaatenrecht dar.6 Und im Gesellschaftsrecht ist praktisch nur das Kapitalmarktrecht auf zentraler, d.h. Bundesebene geregelt, noch immer erschöpfender als in Europa, wo sich freilich ebenfalls gerade das Kapitalmarktrecht immer mehr verdichtet.

5

Das Europäische Verschränkungsmodell ist sicherlich komplexer, zumindest theoretisch hat es jedoch auch Vorteile. Insbesondere erlaubt es, auch innerhalb einzelner Rechtsgebiete danach zu unterscheiden, bei welchen Regeln eine zentrale Setzung vorteilhafter ist, bei welchen eine dezentrale, also die Erkenntnisse der Föderalismustheorie („Wettbewerb der Regelgeber“) auch wirklich ernst zu nehmen.7 b)

Zuordnung zentrale und dezentrale Regelsetzung: Bewertung und Zukunft

6

Dass Vor- und Nachteile von zentraler und dezentraler Regelsetzung von Rechtsgebiet zu Rechtsgebiet divergieren, ist eine Selbstverständlichkeit. Natürlich sind die Vorteile zentraler Regelsetzung im Vertragsrecht ungleich eingängiger als etwa im Familienrecht. Umgekehrt sind die Nachteile zentraler Regelsetzung, wenn eine solche etwa in der Versteinerungsgefahr gesehen wird, offensichtlich größer in Rechtsgebieten, in denen zwingendes Recht vorherrscht, als in solchen, in denen das nicht der Fall ist.

7

Wie bereits ausführlich dargelegt, ist jedoch m.E. Gleiches innerhalb der Rechtsgebiete zu konstatieren.8 Und selbstverständlich wirken faktische Umstände bei der Bewertung mit, etwa die Frage, welche Professionalität die Entscheidungsträger haben und wer denn konkret die Entscheidungsträger sind, nach Meinung mancher auch, ob denn die jeweiligen Gesetzgeber durch Wahl ihres Rechts Steuereinkünfte generieren können oder nicht.9 Hingegen handelt es sich bei der Frage, ob denn Rechtswahl-

6 Garner (Hrsg.), Blacks Law Dictionary (7. Aufl. 1999), S. 1531 und bereits Mentschikoff, RabelsZ 30 (1966), 403. 7 Esty/Geradin, J. Int’l Econ. L. 2000, 235, 240 f.; Gatsios/Holmes, in: Newman (Hrsg.), The new Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Bd. 1 (1998), S. 273–275; Hauser/Hösli, Außenwirtschaft 46 (1991), 497; Grundmann/Kerber, in: Grundmann/Stuyck (Hrsg.), European Contract Law, S. 296–306; Kerber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 84–87 (in Englisch Kerber, Fordham Int’l LJ 23, 217); Siebert/Koop, Außenwirtschaft 45 (1990), 439; Woolcock, in: Bratton/Mc Cahery/Picciotto/Scott (Hrsg.), International Regulatory Competition and Coordination (1996), S. 298 f. 8 Für das Vertragsrecht: Grundmann/Kerber, in: Grundmann/Stuyck (Hrsg.), European Contract Law, S. 296–306; für das Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht: Grundmann, in: Ferrarini u.a. (Hrsg.), Capital Markets in the Age of the Euro (2002), S. 561 = Grundmann, ZGR 2001, 783. 9 Merkt, RabelsZ 59 (1995), 543, 553 f.; Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen, S. 88 f. Für Delaware wird dies als maßgeblicher Systembaustein in den USA implizit oder explizit recht allgemein angenommen: bahnbrechend Winter, J. Leg. Stud. 6 (1977), 251; Romano, J. L. Econ. & Org. 1 (1985), 225.

288

Stefan Grundmann

§ 10 Systemdenken und Systembildung

freiheit besteht,10 nicht um solch einen die Bewertung beeinflussenden Umstand. Vielmehr ist Einräumung von Rechtswahlfreiheit ein Mittel zur Förderung dezentraler Regelsetzung, mit Einräumung einer solchen wird also eine Antwort auf die Ausgangs- und Hauptfrage gegeben. Wichtig ist jedoch, dass innerhalb jedes Rechtsgebiets die Vorteile oder die Nachteile zentraler Regelung für einen Teil der Regeln überwiegen und für einen anderen Teil geringer wiegen können und auch die Gesamtabwägung von Regel zu Regel desselben Rechtsgebiets verschieden ausfallen kann. Die Folge ist, dass etwa im Vertragsrecht für manche Regeln eine Harmonisierung zu begrüßen ist, für andere nicht. Und exakt dies entspricht bekanntlich der derzeitigen Praxis. Die Entscheidung zugunsten von Harmonisierung oder zuungunsten mag im Einzelfall verkehrt getroffen worden sein. Der Systemansatz ist jedoch zunächst einmal überzeugend (sieht man hier noch von Schwierigkeiten des Zusammenspiels beider Ebenen ab, die jedoch im bestehenden Gemeinschaftsrecht durchaus auch bedacht werden, vgl. unten, Rn. 29 f.).

8

Vergleichbares wird dann zu entscheiden sein, wenn ein Optionaler Europäischer Vertragsrechtskodex erlassen werden sollte. Dann stellt sich nicht nur die Frage, ob opt-in oder opt-out für die eine oder andere Regelgruppe oder Konstellation vorzugswürdig ist, sondern auch die Frage, ob manche Regelgruppen einheitlich sein müssen – im Europäischen Kodex ebenso wie in den wahlweise zur Verfügung stehenden Mitgliedstaatsrechten („Europe only“) – oder ob eine Regel auf zentraler Ebene eben nur im Europäischen Kodex zu finden ist, nicht auch in den alternativ zur Wahl stehenden Mitgliedstaatsrechten.11

9

Die wichtigsten Regelungsgruppen im Vertragsrecht, die unterschiedlich zu bewerten sind, sind m.E.: dispositive Normen, zwingende inhaltsgestaltende Normen und – zwischen beiden – zwingende, jedoch nur die Informationsweitergabe anordnende Normen (vgl. Nachw. Fn. 11). Während es offensichtlich erscheint, dass eine Vielzahl anderer Präferenzen und Experimentiermöglichkeiten bei zentraler Setzung von zwingenden inhaltsgestaltenden Normen ungleich stärker beschränkt werden als bei zentraler Setzung von dispositiven Normen, verdient die zentrale Setzung von zwingenden Informationsregeln eine besondere Bewertung: Hier ist die zentrale Setzung nicht so schädlich wie bei inhaltlich zwingenden Regeln, weil die Gestaltungsvielfalt im Inhaltlichen erhalten bleibt (und damit die Möglichkeit, heterogene Präferenzen zu bedienen und zu experimentieren); umgekehrt sind die Vorteile zentraler Setzung hier besonders groß, da diese u.a. auch in der Erleichterung der Information gesehen werden und hierfür ist Vergleichbarkeit – also die Setzung einheitlicher Standards – besonders wichtig.

10

10 Bekanntlich lange Zeit im Europäischen Gesellschaftsrecht als gering eingestuft, vgl. Nachw. Fn. 9; a.A. Grundmann, ZGR 2001, 783, 808 ff., 819 ff., 828 ff.; umfangreiche Studien in jüngerer Zeit von Eidenmüller, ZGR 2007, 168; ders., FS Heldrich (2005), S. 581. 11 Zu diesen Möglichkeiten: Basedow, ZEuP 2004, 1; Gomez, ERCL 4 (2008), 89; Grundmann/ Kerber, in: Grundmann/Stuyck (Hrsg.), European Contract Law, S. 296–306; Müller, EuZW 2003, 683; Sinai, EBLR 2004, 47. Stefan Grundmann

289

Teil 2: Allgemeiner Teil

11

Das Kollisionsrecht bildet in dieser Sicht eine Rahmenordnung – eine Verfassung –, mit der darüber entschieden wird, ob und in welchem Maße Privatrechtssubjekte einem einzigen Recht unterworfen werden oder Wahlfreiheiten haben … wobei auch bei Wahlfreiheit beispielsweise ein Mindestsockel allgemein verbindlich sein mag, also Wahlfreiheit mit Zwang zu einem Recht verbunden wird.

12

Noch weiter ginge eine Anerkennung aller Mitgliedstaatenrechte auf der Grundlage gegenseitigen (praktisch) unbegrenzten Vertrauens. Dies ist weitgehend der Zustand im US-amerikanischen Gesellschafts- und auch Vertragsrecht. Die bisherigen Überlegungen sind jedoch geeignet, Zweifel zu säen, ob dies denn tatsächlich eine überlegene Lösung darstellen würde. Die Vorteile zentraler Regelsetzung könnten dann nämlich nicht mehr bewusst mit den Vorteilen von miteinander konkurrierenden Einzelrechten kombiniert werden. Gerade Letzteres scheint der interessante Punkt am Europäischen Systemansatz, der es verdient, intensiv fortgedacht zu werden. 2.

Eckpunkte-, zunehmend auch Alternativmodell

a)

Eckpunktemodell

13

Das zum Zweiebenensystem Gesagte legitimiert offensichtlich eine Lösung, in der auf zentraler Ebene nur Einzelfragen geregelt werden und zwar in jedem Rechtsgebiet bei gleichzeitiger Präsenz auch dezentraler Regelungen und Regelungsfelder. Dies kann mit dem Begriff eines Eckpunktemodells auf zentraler Ebene umschrieben werden. Verbreitet ist freilich für das Gemeinschaftsprivatrecht auch die Sicht, dass zwar in der Tat nur einzelne Punkte auf zentraler Ebene geregelt wurden, deren Auswahl jedoch nicht oder nur zufällig einer sinnvollen Strategie folgen. Ob diese Sicht zutrifft oder eine sinnvolle Auswahl an Eckpunkten getroffen wurde, kann – je nach Ansatzpunkt – eigentlich nur für jeden Rechtsakt oder gar jede Norm konkret diskutiert werden. Jedenfalls muss für eine einigermaßen konkrete Antwort auf die Ebene je eines einzelnen Rechtsgebiets heruntergestiegen werden (vgl. daher unten, Rn. 26 ff. und 43 ff.). Und selbst dann sind durchaus unterschiedliche Antworten möglich: Man kann wiederkehrende Leitlinien herausarbeiten und darin dann legitimerweise System erkennen; unabhängig davon bleibt jedoch die Zuspitzung auf die (durchaus noch anders gelagerte) Frage interessant, ob denn gezielt jeweils in den Punkten harmonisiert wird, in denen sich zentrale Regelsetzung (nach den Erkenntnissen der Föderalismustheorie) besonders anbietet. Auch dann ist von System zu sprechen.

14

An dieser Stelle kann zunächst nur betont werden, dass Riesenhuber jedenfalls für das Vertragsrecht m.E. das nahezu flächendeckende Wiederkehren von Leitlinien, Modellen und Prinzipien eindrucksvoll belegt hat.12 Zugleich kann auch schon als Quintessenz vorweggenommen werden, dass m.E. in der Tat eine durchaus bewusste Verteilung zwischen zentraler und dezentraler Regelsetzung zu beobachten ist, die zudem

12 Riesenhuber, System und Prinzipien; inzwischen alternative Sicht der sog. Acquis-Gruppe: Research Group on the Existing EC Private Law (Acquis Group) (Hrsg.), Principles of the Existing EC Contract Law (Acquis Principles) (2009).

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§ 10 Systemdenken und Systembildung

zu einem Gutteil auch der Idee optimaler Nutzung von Vorteilen und Meidung von Nachteilen folgt. Weiter muss an dieser Stelle bereits allgemeiner betont werden, dass die Frage, wann denn Zentralität der Regelsetzung funktional wichtig ist, auch im EG-Vertrag den zentralen Ausgangspunkt bildet. Dies ist jedenfalls auf der Primärrechtsebene so, denn diese Frage bildet das maßgebliche Kriterium für die Zuordnung von Kompetenzen sowohl in Art. 116 AEUV/95 EG als auch in Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV/44 Abs. 2 lit. g) EG, jeweils iVm Art. 5 EUV/5 Abs. 2 und 3 EG. Und dies sind die Kompetenzgrundlagen, auf denen das Europäische Vertragsrecht, Gesellschaftsrecht und Kapitalmarktrecht, jedenfalls die Harmonisierung, ausschließlich gründet. Abgestellt wird in allen Kompetenzgrundlagen darauf, dass zentrale Regelsetzung Skalenerträge aufgrund Vergrößerung der geographischen Betätigungsgebiete fördert und dies in spürbarer effizienterer Weise, als dies durch dezentrale Regelsetzung möglich wäre. b)

15

Alternativmodell

Zunehmend findet sich im Europäischen Recht ein Alternativmodell zum nationalen Recht. Zwei Formen sind zu beobachten (zur Durchführung im Vertrags- und Gesellschaftsrecht dann unten, Rn. 31 ff. und 54 ff.).

16

Zunächst sind dies die Komplexe des Gemeinschaftsprivatrechts, die parallele Rechtsformen oder Regelwerke bereitstellen. Als erstes wurde an eine Europäische Aktiengesellschaft gedacht, damals in der Tat als voll ausformuliertes Modell.13 Bekanntlich ist die verabschiedete Fassung jedoch nur in Fragen der Gründung weitgehend vollständig, während sonstige Fragen weit überwiegend durch Verweis auf das Sitzstaatrecht geregelt werden und nur einige Eckpunkte wirklich Europäisch festgelegt werden.14 Deswegen wird die Societas Europaea (SE) vor allem als Instrument der (zweifelsfreien Durchführung einer) grenzüberschreitenden Sitzverlegung und Fusion gesehen, weniger als echtes Alternativmodell. Deutlich dichter ist die Europäische Regelung noch bei der Europäischen Wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV), die freilich kaum Bedeutung erlangte und bei der man ebenfalls nicht ganz ohne Verweis auskam. Ein wirklich vollständiges Regelwerk wird dann jedoch für einen zu-

17

13 Vorschlag einer Verordnung des Rates für das Statut für Europäische Aktiengesellschaften v. 30.6.1970, KOM(70) 600 endg, ABl. 1970 C 124/1; Stellungnahmen des Europäischen Parlaments (ABl. 1974 C 93/22) und des Wirtschafts- und Sozialausschuss (ABl. 1972 C 131/32); ausf. zu diesem Stadium: Lutter (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft (1976). Angestoßen durch Sanders, AWD 1960, 1 (auch verantwortlich für den Entwurf); Thibièrge, in: Congrès des Notaires de France (Hrsg.), Le statut de l’étranger et le Marché Commun (1959), S. 270 ff., 360 ff.; E. Ulmer, Wege zu europäischer Rechtseinheit (1960), Münchener Universitätsreden N.F. 26, 12. 14 Vor allem die Hauptversammlungskompetenz bei Satzungsänderungen und das Wahlrecht der Gesellschaft, das Leitungsorgan ein- oder zweistufig auszubilden. Zur Societas Europaea vgl. etwa Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 29; Hirte, NZG 2002, 1; Jannott/ Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft (2005); Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar; Neye (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft (2005); Theisen/ Wenz (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft (2005).

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Teil 2: Allgemeiner Teil

künftigen optionalen Vertragsrechtskodex gefordert. Und all dies ist und wäre durchaus anders als etwa aus dem US-amerikanischen Recht bekannt. Es geht hier gerade nicht um Modellgesetze, die, wie etwa beim UCC, ein (Mit-)Gliedstaat übernehmen kann oder nicht. Das Wahlrecht liegt bei den Parteien, die Wahlfreiheit wird kraft Europäischen Rechts begründet und zielt dann (auch) auf ein europaweit geltendes Regelwerk. Unterschiede im Ergebnis verbleiben freilich nur, wenn dem Regelwerk auch für den Inlandsfall Anwendbarkeit verliehen wird. Denn im grenzüberschreitenden Fall – in den USA im interstate-Fall – können Parteien auch ein Modellgesetz, das der einzelne (Mit-)Gliedstaat nicht übernommen hat, kraft Rechtswahl (kollisionsrechtlicher Parteiautonomie) zur Anwendung bringen … auch wenn der Fall primär Bezüge zum fraglichen Gliedstaat haben sollte.

18

19

Bei der zweiten Form ist der Einfluss des Gemeinschaftsrechts ein anderer, stärker vermittelt. Hier eröffnet das Gemeinschaftsrecht nur ein Wahlrecht. Grundlage sind die Grundfreiheiten. Für das Gesellschaftsrecht bedeutete dies eine Revolution.15 Die Wahlfreiheit zielt dann jedoch auf ein Regelwerk nicht Europäischen Ursprungs, sondern in einem anderen Mitgliedstaat, etwa englisches Recht der Private Limited Company (Ltd.). Und dies ist in der Wirkung etwa der full faith and credit clause sowie der commerce clause im US-amerikanischen Verfassungs-, Handels- und Gesellschaftsrecht16 doch sehr weitgehend vergleichbar. Der Unterschied liegt vor allem darin, dass der jeweilige Mitgliedstaat auf Grund des Vorbehalts zwingender Gründe des Allgemeininteresses wohl doch noch (etwas) weitergehend die Möglichkeit hat, berechtigten Schutzinteressen, für die er sich einsetzt, die jedoch (noch) nicht auf zentraler Ebene geschützt werden, zum Durchbruch zu verhelfen.17 3.

Modell der materiellen Freiheit

a)

Freiheit – vom liberalen Freiheitskonzept zum Konzept materieller Freiheit

Inhaltlich bildet das allgemeingültigste Systemprinzip im gesamten Europäischen Privatrecht wohl das, dass danach gestrebt wird, materielle – nicht nur formale – Freiheit möglichst weitgehend zu verbürgen. Damit steht das Europäische Privatrecht zwischen einem neoliberalen Grundansatz, soweit dieser freiheitserhaltende Regeln für weitgehend überflüssig hält, und interventionistischen Ansätzen, die verstärkt auf inhaltlich zwingende Vorgaben setzen. Grundidee hierbei ist, dass vor allem Informationsungleichgewichte ausgeglichen werden … dann aber die Verarbeitung und Nutzung der Information den Betroffenen überlassen wird. Zentrales Instrument sind daher die Informationsregeln (näher unten, Rn. 39 ff. und 63 ff.). Dies bedeutet mehrerlei: Dass das Modell auch Verlierer haben kann, wobei jedoch zu zeigen sein wird, 15 Maßgeblich sind: EuGH v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97 Centros, Slg. 1999, I-1459; EuGH v. 5.11. 2002 – Rs. 208/00 Überseering, Slg. 2002, I-9919; EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155; EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-411/03 Sevic, Slg. 2005, I-10805; EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-210/06 Cartesio, Slg. 2008, I-9641. 16 Zu diesen Schapiro/Buzbee, Cornell L. Rev. 88 (2003), 1199; Hay, RabelsZ 35 (1971), 429, 485–489. 17 Grundmann, ZGR 2001, 783, 802–805.

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dass Grenzen bei existentiellen Verlusten gezogen werden müssen und wurden (vgl. unten Beispiele, Rn. 21 ff.); dass das Modell im Grundsatz durchaus auf Eigenverantwortung setzt und damit Chancen bei denen (auch etwa Verbrauchern) mehrt, die sich dem stellen; und dass das Modell sicherlich einem institutionenökonomischen Regulierungsansatz nahe steht, der – pragmatisch – sich nicht darauf beschränkt, die jeweils bestehenden Institutionen zu kritisieren, sondern auch als Voraussetzung für eine Änderung postuliert, dass eine bessere Alternative aufgezeigt wird, und der zugleich regulierende Eingriffe an mehrere Bedingungen knüpft, namentlich: dass Versagen oder suboptimale Wirkung des Marktmechanismus nachgewiesen sein müssen; und dass zugleich aufgezeigt werden muss, dass Regulierung wohl bessere Ergebnisse zeitigen wird als das Hinnehmen des suboptimalen Marktprozesses, mit anderen Worten: Dass auch ein gutes Mittel der Regulierung mit genügend Sicherheit angenommen werden kann (trotz all der Probleme von Regulierung wie rent seeking oder Wissensproblemen beim Regulierer). Mit all dem wird auch der Aussage eine Absage erteilt, Europäisches Privatrecht sei systematisch überreguliert.18 Auch heute ist vor allem die Vertragsfreiheit als Ausgangspunkt nicht wirklich in Frage gestellt, obwohl in der legislativen Praxis nicht mehr ein formaler Freiheitsbegriff zugrunde gelegt wird und dieser auch konzeptionell zu Recht kritisiert wird. Dies gilt gerade auch für das Europäische Vertragsrecht. Zu Recht: (1) Das Subsidiaritätsprinzip, radikal verstanden, gibt Entscheidungsmacht primär den Betroffenen selbst – den Vertragsparteien oder den Gesellschaftern oder anderen stakeholdern –, zumindest wenn diese die Entscheidungen sinnvoll treffen können und damit Dritte nicht belasten. Daher muss der Gesetzgeber zuvörderst versuchen, die Voraussetzungen für solches Handeln der Parteien herzustellen, und kann nur, falls dies nicht möglich ist, paternalistisch mit inhaltlich zwingendem Recht einschreiten und seine Entscheidung an die Stelle derjenigen der Parteien setzen. (2) Gesetzgeber sind keineswegs fähig, die große Bandbreite heterogener Präferenzen zu erkennen. Zentralistisches Planen hat sich im Praxistest als deutlich suboptimal erwiesen. Wettbewerb – vor allem Vertragsfreiheit – bildet offenbar in der Tat das mächtigste Entdeckungsverfahren.19 Die eigentliche Frage ist nicht, ob Vertragsfreiheit den Ausgangspunkt bildet und bilden soll, sondern, wie formal diese gefasst werden darf und wie viel Materialisierung nötig ist, akzeptabel ist und gerechtfertigt werden kann. Vergleichbares gilt im Gesellschaftsrecht. b)

20

Beispiele

Der angedeutete Mittelweg zeigt sich vielleicht besonders plastisch an Beispielen. Diese sind Legion. Da das Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen so offensichtlich der Idee einer materiellen Freiheit, d.h. einer Freiheit, die durch eine Marktord-

18 Martinek, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 511; vgl. auch Canaris, AcP 200 (2000), 276. Zum immer wieder angenommenen Niedergang der Vertragsfreiheit: Atiyah, The Rise and Fall of the Freedom of Contract (1979); vgl. auch Buckley (Hrsg.), The Fall and Rise of Freedom of Contract (1999). 19 V. Hayek, in: ders. (Hrsg.), Freiburger Studien – Gesammelte Aufsätze (2. Aufl. 1994), S. 249. Stefan Grundmann

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21

Teil 2: Allgemeiner Teil

nung zu schützen ist, verpflichtet ist,20 und da die Fragen im Gesellschaftsrecht auf Grund der Vielzahl von betroffenen Interessen besonders komplex sind, sollen zwei Beispiele aus den zwei sonst wohl prominentesten Gebieten im Vordergrund stehen: aus dem Recht gegen unlauteren Wettbewerb und aus dem Vertragsrecht.

22

Im Recht gegen unlauteren Wettbewerb ist wohl kein Konzept so bekannt geworden und doch auch umstritten wie das Konzept des sog. „informierten“ Verbrauchers. Der EuGH entwickelte es zuerst im Grundfreiheitenbereich, vor allem in Cassis de Dijon,21 und rechtfertigte damit den Vorrang von Informationsregeln, wann immer sie Marktversagen ausräumen können. Er wandte es dann auch auf die Werberichtlinie an:22 Ob Werbung irreführend ist, beurteilt sich nach dem Empfängerhorizont des „hinreichend informierten“ Verbrauchers („reasonably well-informed consumer“). Sehr zentral ging es um vergleichende Werbung. Will man sie untersagen – weil einige Verbraucher keine „hinreichende“ Sorgfalt aufbringen –, schließt man damit auch einen der Hauptinformationskanäle für alle anderen aus (wir nehmen Werbung wahr, lesen aber keine Instruktionen) und zudem ein wichtiges Instrument des Markteintritts für Neuankömmlinge. Ein Verbot wirkt also potentiell schädlich in informationeller und wettbewerblicher Hinsicht. Zentral ist also, dass jeder – auch der informierte Verbraucher – die Chance hat, seine Interessen einbezogen zu sehen. Drexl hat nämlich zu Recht herausgearbeitet, dass es bei diesen Fragen nicht nur und nicht einmal primär um den Interessenwiderstreit zwischen Unternehmen und (uninformierten) Verbrauchern geht, sondern auch zwischen Verbrauchergruppen, die die Freiheiten und Instrumente nutzen können (sie wollen ihr „wirtschaftliches Selbstbestimmungsrecht“ ausüben),23 und solchen, die dies nicht können. Dann stellt sich freilich die Folgefrage, ob es nicht problematisch ist, wenn manche Verbraucher in die Irre geführt werden, weil auf den Empfängerhorizont eines recht aufmerksamen Verbrauchers abgestellt wird, und zwar auch, wenn andere davon profitieren. Auf diese Frage ist differenziert zu antworten. Beschränkte Rationalität ist ein Nachteil auch sonst im Leben: bei der Suche nach guten Gelegenheiten (jenseits des Vertragsrechts), nach guten Jobs etc. Wenn also Vertragsrecht Verbrauchern hinreichende Anstren-

20 Grundlegend schon W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik (7. Aufl. 2004), S. 278 (1. Aufl. 1952, S. 241 ff.). 21 EuGH v. 20.2.1979 – Rs. 120/78 Rewe ./. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, Slg. 1979, 649 Rn. 13 – Cassis de Dijon. 22 Richtlinie 84/450/EWG des Rates v. 10.9.1984 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über irreführende Werbung, ABl. 1984 L 250/17; geändert durch Richtlinie 97/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 6.10.1997, ABl. 1997 L 290/18 (seitdem auch vergleichende Werbung) neu kodifiziert durch Richtlinie 2006/114/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 12.12.2006 über irreführende und vergleichende Werbung, ABl. 2006 L 376/21 und Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.5.2005 (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken), ABl. 2005 L 149/22; vgl. EuGH v. 2.2.1994 – Rs. C-315/92 Verband Sozialer Wettbewerb ./. Clinique Laboratories and Estée Lauder, Slg. 1994, I-317, LS 2 und Rn. 18–21; EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-77/97 Unilever, Slg. 1999, I-431, LS 1 und 2; krit. zum Konzept des „informierten“ Verbrauchers etwa: Weatherill, ERPL 3 (1995), 307, 312–318. 23 Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers.

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§ 10 Systemdenken und Systembildung

gungen und Kapazitäten abverlangt, schafft es nur eine Parallele zum sonstigen Leben … auch, um anderen die notwendigen Chancen zu eröffnen. Auch hier stellt sich wieder eine Folgefrage und zwar nach den Grenzen: Existiert ein „Sicherheitsnetz“ für diejenigen, die hierbei verlieren? Europäisches Vertragsrecht einschließlich seiner institutionellen Rahmenbedingungen scheint ein solches in der Tat bereitzustellen, zumindest im Ansatz – obwohl nicht alle Verbraucher in jeder Hinsicht geschützt werden. Diese „Sicherheitsnetze“ werden in der Debatte zu wenig beachtet: Jenseits eines „sozialen“ Steuerrechts und des Sozialversicherungsrechts – die beide noch weitgehend in der Kompetenz der Mitgliedstaaten liegen – handelt es sich vor allem um zwei Instrumente: Der EuGH zieht das Leitbild des „informierten“ Verbrauchers nicht allgemein heran, namentlich nicht, wo Gesundheit und Leben betroffen wären.24 Diese bilden ein zu wichtiges, „existentielles“ Gut, als dass auf den Schutz jedes Verbrauchers – auch bei beschränkter Rationalität – verzichtet werden könnte. Existentielle Risiken ergeben sich jedoch teils auch aus finanziellen Verlusten – existentiell typischerweise erst, wenn nicht nur vorhandene Ressourcen verloren werden, sondern auch die Fähigkeit, zukünftig Einkünfte zu produzieren, verbraucht wird. Damit ist das vertragsrechtliche Beispiel angesprochen. Aus diesem Grunde ist nämlich Verbraucherkreditrecht so wichtig. Die Richtlinie von 198625 hat ein sehr wichtiges informationelles Instrument geschaffen, das die Konditionen im Zentralpunkt gut vergleichbar macht und auch die Gesamtbelastung in „guten Zeiten“, d.h. bei planmäßiger Erfüllung aufzeigt; weitere Regeln, d.h. ein Ausbau des bestehenden Netzes, erschienen dennoch nötig.26 In einer anderen Hinsicht wurde das Sicherheitsnetz gegen existentiellen finanziellen Verlust auf europäischer Ebene unlängst deutlich verstärkt: Die Verbraucherinsolvenz ist, obwohl sie im nationalen Insolvenzrecht fußt, europaweit anerkannt auf der Grundlage der Insolvenz-Verordnung.27 Solchermaßen können finanzielle Risiken für Verbraucher zwar substantiell sein, sie sind 24 EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-117 Rn. 29–31; EuGH v. 24.10. 2002 – Rs. C-99/01 Linhart and Biffl, Slg. 2002, I-9375 Rn. 31 f. 25 Richtlinie 87/102/EWG des Rates v. 22.12.1986 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, ABl. 1987 L 42/48; aufgehoben durch Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/66. 26 Mindestens war zu fordern, dass auch die Folgen von Leistungsstörungen (etwa Tilgungsverzug wegen Scheidung, Arbeitslosigkeit etc.) aufgezeigt werden. Weiter gehend wurde gefordert, in der verabschiedeten Fassung jedoch tendenziell abgelehnt, dass die Kreditinstitute eine (Mit-)Verantwortung dafür tragen, ob sich der Kunde den Kredit denn wirklich leisten kann („verantwortungsbewusste Kreditvergabe“). Vgl. Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/66; und dazu etwa Hofmann, in: Riesenhuber (Hrsg.), Perspektiven des Europäischen Schuldvertragsrechts (2008), S. 71. Außerdem müssten die Schutzinstrumente wohl doch umfassend auf grundpfandrechtlich abgesicherte Kredite erstreckt werden. 27 Primär Art. 16, 17 und 25 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates v. 29.5.2000 über Insolvenzverfahren, ABl. 2000 L 160/1; vgl. Homann, System der Anerkennung eines ausländischen Insolvenzverfahrens und die Zulässigkeit der Einzelrechtsverfolgung (2000). Stefan Grundmann

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23

Teil 2: Allgemeiner Teil

jedoch nicht mehr (zeitlich) grenzenlos. Solche „Sicherheitsnetze“ und ein liberaleres Verbraucherrecht, in dem auch Verlustrisiken hingenommen werden, korrelieren.

24

Die angedeutete Suche nach einem Mittelweg – weder formale Freiheit noch Intervention durch eine Vielzahl inhaltlich zwingender Regeln – ist jedoch viel allgemeiner zu konstatieren, einige charakteristische Beispiele können das noch weiter illustrieren: Einerseits wurde europäische Vertragsrecht überzeugend dahin verstanden, dass hier der Grundsatz eines caveat emptor abgelöst wurde durch einen Grundsatz des caveat praetor.28 Und der Kauf bildet noch immer den Vertragstyp mit Leitbildcharakter. Ebenso evident ist es, dass das Regime vorvertraglicher Information auf europäischer Ebene ungleich weiter geht als traditionell in den nationalen Vertragsrechten.29 Umgekehrt ist europäische Vertragsrecht jedoch auch nicht intensiv interventionistisch verfasst: Abgesehen von zwingenden Informationsregeln, die zwar den Vertrag vorbereiten, die eigentliche Gestaltungsfreiheit jedoch unberührt lassen, kennt es kaum (inhaltlich) zwingende Regeln, mit denen der Vertragsinhalt vorgegeben und die Parteiabrede ersetzt wird. Die eine große Ausnahme (bis 1999), das AGB-Recht, ist auch auf der Grundlage der (Informations-)Ökonomie gut begründbar (unten, Rn. 39 f. mit Fn. 48). Und auch die jüngeren Beispiele – Antidiskriminierung und Konstitutionalisierung – sind solch einem Mittelweg verpflichtet (Fn. 28). 4.

25

Einführung zu den Einzelgebieten

Wenn das Gesagte für zwei Gebiete auf einen etwas niedrigeren Abstraktionsgrad hinunter gehoben werden soll, so bieten sich die zwei großen Organisationsformen des Privatrechts und privatwirtschaftlichen Handelns als besonders nahe liegend an, der Vertrag bzw. das Vertragsrecht und die Gesellschaft bzw. das Gesellschaftsrecht, Austausch und Organisation, „Market and Firm“ (s.o., Rn. 1 mit Fn. 4). Näher ausgeführt wird jeweils: Dass der Harmonisierungsbestand zunehmend als flächendeckend zu sehen ist und zwar als ein System der Eckpunkte, daneben jedoch auch (in statu nascendi) jeweils als Quelle einer Europäischen Alternativform, die mit den nationalen in Wettstreit tritt und im Wettbewerb steht (jeweils 1.); dass dieser Bestand zunehmend als allgemeines Leitbild auch außerhalb seines Anwendungsbereichs verstanden wird und darauf geradezu angelegt ist (jeweils 2.); und dass inhaltlich überall das Informationsmodell als Hauptinstrument und -philosophie zu sehen ist. Ein Ausblick auf sonstige Hauptgedanken im jeweiligen Gebiet komplettiert dann jeweils den Überblick (insgesamt jeweils 3.).

28 Hedley, JBL 2001, 114, 123. Diese Entwicklung ist von der ökonomischen Theorie her durchaus zu begrüßen: Grundmann/Bianca-Gomez, EU-Kaufrechts-Richtlinie (2002), Einl. Rn. 74–77 bzw. Grundmann/Bianca-Grundmann, ebd., Art. 2 KGRL Rn. 4; zum zunehmenden Trend der Materialisierung und den weiteren Beispielen unten: Grundmann, FS 200 Jahre HU (in Vorbereitung für 2010). 29 Vgl. etwa, für einen Vergleich mit dem italienischen Recht: Roppo, in: Grundmann/Schauer (Hrsg.), The Architecture of European Codes and Contract Law (2006), S. 283–299.

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§ 10 Systemdenken und Systembildung

III. Wichtige Systemfragen im Europäischen Vertragsrecht 1.

Von der Vertragsrechtsregulierung zum flächendeckenden Vertragsrechtsansatz

a)

Vertragsrechtsregulierung

Bis zur Verabschiedung der Kaufgewährleistungsrichtlinie 199930 betraf Europäisches Vertragsrecht kaum den klassischen Kern nationalen Vertragsrechts, d.h. das dispositive (und teils zwingende) Recht zu der Frage, wie die Parteien wohl entschieden hätten, hätte ihnen die nötige Information vorgelegen und wäre der Wettbewerb unbeschränkt gewesen. Diese Normen versuchen primär den Konsens nachzubilden, zu dem die Parteien unter solch idealen Bedingungen gelangt wären.

26

Europäisches Vertragsrecht versuchte demgegenüber vor allem, diese beiden Bedingungen (wieder) herzustellen, deren Fehlen den Konsensmechanismus (mit „Richtigkeitsgewähr“ oder „-chance“) mehr oder weniger weit gehend versagen und im Extremfall Märkte zusammen brechen lässt: hinreichende Information und genügend Wettbewerb. Kirchner sprach früh und sehr plastisch von einer Vertragsrechtsgestaltung „von den Rändern her“.31

27

Im Vordergrund steht in der Tat der Abbau von Informationsproblemen, was gesondert auszuführen sein wird (unten, Rn. 39 f.). Ein zweiter Komplex galt direkten und indirekten Wettbewerbsbeschränkungen, am evidentesten bei den Gruppenfreistellungsverordnungen, die wie Musterverträge für alle Unternehmen wirkten (und bis zu einem gewissen Grad auch heute noch wirken), die von der Gruppenfreistellung Gebrauch machen wollten. Wettbewerbsbezug haben auch die Harmonisierungsakte zum öffentlichen Auftragswesen und auch im Urheberrecht (vor allem Softwarefragen). Zuletzt besonders wichtig wurde der – ebenfalls weitgehend auf Wettbewerbsüberlegungen gegründete – Bereich der ehemals öffentlichen Unternehmungen von allgemeinem (wirtschaftlichen) Interesse.32

28

b)

Auf dem Weg zum flächendeckenden Vertragsrecht

Klassisches Vertragsrecht in größerem Umfang findet sich im EG-Recht erstmals in der Kaufgewährleistungs- und E-Commerce-Richtlinie33, d.h. seit 1999/2000. Es han-

30 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. 31 Kirchner, in: Weyers (Hrsg.), Europäisches Vertragsrecht (1997), S. 106; dann ausführlicher Grundmann, ZHR 163 (1999), 635. 32 Dazu aus jüngerer Zeit etwa Rott, ERCL 1 (2005) 323–345; Essebier, Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse und Wettbewerb (2005); v. Danwitz, in: Krautscheid (Hrsg.), Die Daseinsvorsorge im Spannungsfeld von europäischem Wettbewerb und Gemeinwohl (2009), S. 103–130. 33 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 8.6.2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt (Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehrs), ABl. 2000 L 178/1.

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delt sich um Fragen des Vertragsschlusses, der Vertragserfüllung und des Leistungsstörungsrechts, d.h. Fragen, für die Gesetzgeber versuchen, die Abrede nachzubilden, die die Parteien getroffen hätten, hätten sie einen „vollständigen“ Vertrag (vgl. oben, Rn. 26) geschlossen. Dass es zu solchen Regeln so spät kam, überrascht zunächst einmal, weil sie das Herz eines jeden nationalen Vertragsrechts bilden. Die herkömmliche Erklärung geht dahin, dass Verbrauchervertragsrecht deutlich umfassender Behinderungen für grenzüberschreitende Angebote begründen kann, da es international zwingend wirkt (vgl. oben, Rn. 27). So sehr dies im Ansatz überzeugt, ist freilich festzustellen, dass die Kaufgewährleistungsrichtlinie doch auch nur den Verbraucherkauf erfasst und dennoch in ihrem Gehalt allgemeines Kauf- und Leistungsstörungsrecht regelt. Die Entwicklung mag auch institutionell zu erklären sein. Die GD Binnenmarkt konzentrierte sich mehr auf Gesellschafts- und Finanzrecht und zeichnet allein für die E-Commerce-Richtlinie verantwortlich. Die GD Gesundheit und Verbraucherschutz schien zunächst nicht wirklich dazu berufen, ein allgemeines Vertragsrecht zu entwickeln.

30

Die Lösungen, die sich in diesen beiden Richtlinien finden, können im vorliegenden Rahmen nicht diskutiert werden. Beide wurden ausführlich erörtert, häufig auch monographisch oder gar in Kommentaren beschrieben, ebenso das UN-Kaufrecht als Hauptmodell.34 Eine eigene Untersuchung wäre nötig, um darzustellen, warum die Kaufgewährleistungsrichtlinie das wichtigste Modell für Erfüllung und Leistungsstörung im EG-Recht enthält, wie weit dieses Modell reicht und wo seine Lücken und Schwächen liegen. Entsprechendes gilt für die Frage, inwieweit die Kaufgewährleistungs- und E-Commerce-Richtlinie im Zusammenspiel in der Tat ein Europäisches Modell des Vertragsschlusses schufen. Hier kann nur kurz angedeutet werden, welches wohl die Zentralfragen bei der Fortentwicklung dieses Bestandes sein werden: 2.

Ausstrahlwirkung: Frage der Generalisierbarkeit

Die Kernfrage geht m.E. dahin, ob der Gehalt beider Richtlinien (und anderer) verallgemeinert werden kann. Dies wirft einige Unterfragen auf: a)

31

Vom Verbraucherrecht zum allgemeinen Vertragsrecht

Generalisierungsfähig in großem Stile ist der acquis communautaire nur, wenn Verbraucherrecht generalisierungsfähig erscheint. M.E. (vgl. Fn. 34) ist dies in der Tat der Fall. Man könnte einfach darauf verweisen, dass die Kaufgewährleistungsrichtli-

34 Für eine Interpretation aus Effizienzüberlegungen heraus und für meine eigene Auslegung der Richtlinie vgl. vor allem Grundmann/Bianca-Gomez, EU-Kaufrecht-Richtlinie (2002), Einl. Rn. 74–77 bzw. Grundmann/Bianca-Grundmann, ebd., Art. 2 KGRL Rn. 4; Grundmann, AcP 202 (2002), 40 mwN. Zum UN-Kaufrecht vor allem: Honnold, Uniform Law for International Sales under the 1980 United Nations Convention (4. Aufl. 2009); StaudingerMagnus, Wiener UN-Kaufrecht (CISG); Schlechtriem/Schwentzer (Hrsg.), Kommentar zum Einheitlichen UN-Kaufrecht.

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§ 10 Systemdenken und Systembildung

nie nicht wirklich Verbraucherrecht ist – nahezu alle Lösungen sind ja aus dem UNKaufrecht übernommen, das nur den zweiseitigen Handelskauf regelt – und dass die E-Commerce-Richtlinie ohnehin allgemein gilt. Unter den Hauptrichtlinien stellt sich daher die Frage nach der Generalisierbarkeit in ganzer Schärfe nur für die Klauselrichtlinie35 und hier optiert immerhin die damals vor allem vorbildliche Rechtsordnung, das deutsche Recht, weitgehend für eine Verallgemeinerung. Allgemeiner jedoch ist zu betonen, dass Verbraucherrecht primär hinsichtlich der Informationsregeln erheblich von sonstigem Vertragsrecht abweicht und dass daher ein Gesetzbuch gruppenspezifisch überwiegend nur in diesem Bereich zu differenzieren hätte, manchmal auch (wenn Informationsregeln versagen) beim paternalistisch gesetzten Schutzstandard. Der Rest des Vertragsrechts, basierend auf Vorstellungen der iustitia distributiva und commutativa, ist allgemeiner Natur, nicht gruppenspezifisch. Verbrauchervertragsrecht und „sonstiges“ Vertragsrecht gemeinsam – integrativ – einzubringen, hätte weitere erhebliche Vorteile: Verbraucherrecht würde nicht marginalisiert, sondern in den Fokus der Dogmatik gerückt; und die Stellung der jeweiligen Regeln „Seite an Seite“ würde den Druck, Unterschiede stets zu überdenken und zu legitimieren, noch verstärken (Kohärenz der Wertung als Daueraufgabe). b)

32

Vom Besonderen Teil zum Allgemeinen Teil

Eine zweite Unterfrage ginge dahin, inwieweit denn vom besonderen Vertragsrecht auf das allgemeine geschlossen werden kann. Denn viele Harmonisierungsmaßnahmen sind sektor- oder doch vertragstypspezifisch. Da sich eine Europäische Rechtswissenschaft noch in statu nascendi befindet, sollte das System ohnehin zunächst für konkretere Fragen, d.h. ausgehend von speziellen Vertragstypen, geschaffen werden, um dann induktiv ein allgemeines Vertragsrecht zu entwickeln.

33

Für die Antwort auf die Frage erscheinen zwei Punkte von vorrangiger Bedeutung: Das UN-Kaufrecht hat, obwohl es nur für das Kaufrecht formuliert wird, auch die Regelkataloge, die bisher im Allgemeinen Vertragsrecht entwickelt wurden,36 maßgeblich beeinflusst. Das wird in beiden Regelwerken selbst betont. Es liegt daher nahe, in der Tat für Verträge, die eine idealtypisch einmalig zu erbringende Leistung betreffen (sog. spot contracts), Kaufgewährleistungsrichtlinie und UN-Kaufrecht sehr stark als Modell heranzuziehen. Umgekehrt ist es auch wichtig, das andere Extrem im Auge zu

34

35 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29. 36 UNIDROIT (Hrsg.), Principles of International Commercial Contracts (1994), S. viii (nur Handelsverträge); Lando/Beale (Hrsg.), Principles of European Contract Law, Teil I (1996), Teil II (1999) (dort S. XXXV) und Teil III (2002) (alle Verträge); dazu u.a. Hesselink/de Vries (Hrsg.), Principles of European Contract Law (2001); Zimmermann, ZEuP 2000, 391; vgl. auch die Fortentwicklung in: v. Bar/Clive/Schulte-Nölke (Hrsg.), Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition und die inzwischen überarbeitete Ausgabe mit Kommentierungen v. Bar/Clive (Hrsg.), Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Full Edition. Kritik dazu etwa bei Eidenmüller/Faust/Grigoleit/ Jansen/Wagner/Zimmermann, JZ 2008, 529; Ernst, AcP 208 (2008), 248; Grundmann, ERCL 5 (2008), 225. Stefan Grundmann

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Teil 2: Allgemeiner Teil

behalten. Dies sind die Langzeitverträge, häufig sehr komplex, regelmäßig vor allem mit Geschäftsbesorgungscharakter, häufig ein Netzwerk von Verträgen. Nur in diesem Spannungsverhältnis kann die Frage nach einer Übertragbarkeit von Wertungen aus dem acquis (Besonderen Teil im EG-Vertragsrecht) auf andere Verträge und die Generalisierbarkeit sinnvoll beantwortet werden. c)

34a

Der Beitrag des Akademischen Referenzrahmens

Der (akademische) Gemeinsame Referenzrahmen (Fn. 36), unter Einschluss der sog. Acquis-Principles, die sich vor allem um die Systematisierung des Acquis Communautaire bemühten (Fn. 12), geht im Wesentlichen ebenfalls den Weg einer Verallgemeinerung: Es wird nicht nur Verbrauchervertragsrecht ausgebildet, sondern allgemein Vertragsrecht geregelt; und es wird danach gestrebt, aus den sektorspezifischen Regeln allgemeine Regeln abzuleiten. In diesem äußeren Zuschnitt ist dem Allgemeinen Referenzrahmen also zuzustimmen, obwohl er nicht nur Vertragsrecht betrifft und obwohl in ihm das vertragsrechtliche System einer modernen Marktwirtschaft auch in der Breite eines allgemeinen Obligationenrechts geradezu unterzugehen scheint. d)

Wettbewerb der Formen?

35

Wettbewerb der Formen – d.h. der Vertragsrechtwerke – existiert derzeit nur eingeschränkt. Natürlich ist eine Anlehnung an ausländische Modelle im Rahmen des inländischen zwingenden Rechts möglich. Dieses geht jedoch vor allem dort sehr weit, wo, wie in Deutschland, auch AGB im kaufmännischen Verkehr einer Inhaltskontrolle unterfallen. Eine Rechtswahl ist im rein inländischen Fall nicht möglich (Art. 3 Abs. 3 Rom-I-VO).

36

Anders ist dies im grenzüberschreitenden Verkehr (Art. 3 Rom-I-VO), freilich mit den bekannten Einschränkungen im Verbraucher- und Arbeitsvertragsrecht (Art. 6 und 8 Rom-I-VO) sowie zum Schutz von Allgemeininteressen (Art. 9 Rom-I-VO). Und selbst im kaufmännischen Verkehr, der mit diesen Vorbehalten direkt nicht angesprochen ist, schränkt der EuGH die Rechtswahl ein, soweit Richtlinien den Schutz einer Vertragspartei bezwecken.37 Auch hat die Rom-I-VO die vielfach geforderte Wählbarkeit nichtstaatlicher Regelwerke (etwa der Prinzipienkataloge) abgelehnt.

37

Grenzüberschreitende Verträge sind wichtig, bilden jedoch selbst für Deutschland einen relativ kleinen Prozentsatz: ca. 20 %, rechnet man die Konzernbeziehungen heraus, in denen Streitigkeiten kaum einmal streng rechtlich durchgefochten werden, sogar wohl unter 10 %. Das ist anders als im Gesellschaftsrecht, wo die Wahl der ausländischen Rechtsform eben gerade auch bei Sitz im Inland eröffnet ist (dazu sogleich Rn. 54 f.).

38

Ein vergleichbarer Wettbewerb der Rechtsformen wird erst durch einen optionalen Kodex eröffnet, der auch im Inlandsfall wählbar ist … wenn er nicht gar eines Tages

37 EuGH v. 9.11.2000 – Rs. C-381/98 Ingmar GB, Slg. 2000, I-9305.

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§ 10 Systemdenken und Systembildung

als abwählbare Regel gelten sollte. Die Erfahrung mit dem UN-Kaufrecht sollte lehren, dass in der Tat conditio sine qua non für einen nennenswerten Erfolg – noch nicht notwendig hinreichende Bedingung – die Wählbarkeit solch eines Kodex auch im Inlandsfall ist. 3.

Einzelne Systemgedanken, vor allem: Besonderes Gewicht des Informationsmodells

a)

Besonderes Gewicht des Informationsmodells

Inhaltlich ragt das Informationsmodell hervor.38 Das gilt bereits für das Primärrecht. Auf Grund der Grundfreiheitenrechtsprechung des EuGH hat der nationale Gesetzgeber Informationsregeln den Vorzug zu geben gegenüber inhaltlich zwingenden Festlegungen, wann immer erstere das Schutzbedürfnis ebenfalls weitgehend befriedigen können.39

39

Und nach ebendiesem Maßstab legiferiert der Europäische Gesetzgeber im Sekundärrecht. Die meisten vertragsrechtsbezogenen EG-Richtlinien (jedenfalls bis 1999) zielen auf den Abbau von Informationsproblemen:40 So die wichtigsten sektorspezifischen Akte, die Pauschalreise41-, Timesharing42- und auch die VerbraucherkreditRichtlinie (in der Novellierung43 inhaltlich moderat aufgeladen) sowie – etwas weniger – die Wertpapierdienstleistungs-Richtlinie44 (seit 2004 Finanzmärkte-Richtlinie45),

40

38 Vgl. dazu v.a. (für das Vertragsrecht): Grundmann, JZ 2000, 1133; Grundmann/Kerber/Weatherill (Hrsg.), Party Authonomy; im „deutschen“ Markt aufgegriffen von: Schulze/Ebers/ Grigoleit, (Hrsg.), Informationspflichten und Vertragsschluss im Acquis communautaire (2003). 39 Bahnbrechend EuGH v. 20.2.1979 – Rs. 120/78 Rewe ./. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, Slg. 1979, 649 Rn. 13 – Cassis de Dijon. 40 Zwei Gesamtkommentierungen liegen vor: Quigley, European Community Contract Law, Bd. I und II (1997); Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht; ausführlichere Kommentare zudem in Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. II. In diesen Werken Nachw. für alle im folgenden genannten Rechtsakte. 41 Richtlinie 90/314/EWG des Rates v. 13.6.1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 L 158/59. 42 Richtlinie 94/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.10.1994 zum Schutz der Erwerber im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Verträgen über den Erwerb von Teilzeitnutzungsrechten an Immobilien, ABl. 1994 L 280/83; nunmehr ersetzt druch Richtlinie 2008/122/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.1.2009 über den Schutz der Verbraucher im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Teilzeitnutzungsverträgen, Verträgen über langfristige Urlaubsprodukte sowie Wiederverkaufs- und Tauschverträgen, ABl. 2009 L 33/10. 43 Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/66. 44 Richtlinie 93/22/EWG des Rates v. 10.5.1993 über Wertpapierdienstleistungen, ABl. 1993 L 141/27. 45 Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates, ABl. 2004 L 145/1. Stefan Grundmann

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alle enthalten sie ganz überwiegend Informationspflichten vorvertraglich und in der Vertragsabwicklung; so auch die Richtlinien zu speziellen Absatztechniken – die Haustürgeschäfte46- und die beiden Fernabsatz-Richtlinien47 –, die vor allem ein Widerrufsrecht geben. Dieses kann als Informationsinstrument verstanden werden: Dem Kunden soll die Informations- und Reflexionsmöglichkeit nachgereicht werden, die ihm durch Einsatz dieser speziellen Absatztechnik genommen wurde. Und auch die letzte verbleibende, nicht sektorspezifische Richtlinie (bis 1999), die Klauselrichtlinie, hat immerhin Informationsprobleme zum Gegenstand. Freilich ist der Ansatz ein anderer, da die Informationsasymmetrie hier als grds. nicht ausgleichsfähig eingestuft wird. Folglich sieht die Richtlinie nicht primär Informationspflichten vor, sondern legt – paternalistisch, inhaltlich zwingend – weitgehend den anzuwendenden Standard fest. Das Gesamtbild ist also geprägt von den vielen Richtlinien, die primär Informationsprobleme abbauen, Märkte also (bei Teilversagen) unterstützen sollen, indem die nötigen Informationsverhältnisse wiederhergestellt werden, dann aber die Vertragsfreiheit erhalten, und der einen, die den Markt substantiell korrigiert – mit weitreichenden Wirkungen: Da Verträge meist unter Verwendung von AGB abgeschlossen werden, herrscht sehr weitgehend „quasizwingendes“ Recht, beruhend auf paternalistischen Erwägungen (bei Setzung sehr enger Grenzen für privatautonome Gestaltung).48 b)

41

Überblick zu weiteren Systemgedanken

Mit dem prägenden Charakter des Informationsmodells im Europäischen Vertragsrecht gehen wichtige weitere grundlegende Systemgedanken einher. Diese seien hier nur angesprochen:49 (1) Europäisches Vertragsrecht ist nicht als Verbrauchervertragsrecht konzipiert, sondern als Markt- oder Unternehmensaußenrecht, also mit dem Ziel, ungerechtfertigte (informationelle) Überlegenheit oder marktbeschränkende Verhaltensweisen von Unternehmen auszugleichen bzw. zurückzudrängen. Hinzu tritt gänzlich allgemeines, d.h. nicht rollenspezifisch ausgebildetes Vertragsrecht, vor allem in der Kaufgewährleistungsrichtlinie (oben, Rn. 29 f. mit Fn. 34). Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass nicht auch Verbraucher – und sehr erheblich – vor den

46 Richtlinie 85/577/EWG des Rates v. 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31. 47 Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.5.1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz, ABl. 1997 L 144/19; Richtlinie 2002/ 65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.9.2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der Richtlinie 90/619/EWG des Rates und der Richtlinien 97/7/EG und 98/27/EG, ABl. 2002 L 271/16, geändert durch Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.5.2005, ABl. 2005 L 149/22, und Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.11. 2007, ABl. 2007 L 319/1. 48 Hesselink, ERCL 1 (2005), 44, 66–68. Zur Begründung (auch in der ökonomischen Theorie) für die Regulierungsnotwendigkeit in diesem Bereich: Adams, BB 1989, 781, 787; und Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse, S. 478–480. 49 Näher zu ihnen: Grundmann, ZHR 163 (1999), 635; Riesenhuber, ERCL 1 (2005), 297–322.

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Folgen dieser Marktimperfektionen zu schützen sind. (2) Selbstbestimmung und individuelle Verantwortung – d.h. Wahlrechte und die Tragung der Folgen ihrer Ausübung – sind ähnlich prägend. Dies muss nicht heißen, dass es keine Durchbrechung des pacta sunt servanda gäbe, gerade auch zugunsten des Verbrauchers.50 Diese sind jedoch eng umgrenzt, im Falle des recht kurz bemessenen Widerrufsrechts, wie gesagt, sogar eher nur als ein Instrument zum „Nachreichen“ der Informationsmöglichkeit zu verstehen, und jedenfalls nicht systemprägend. Ein dauerhaftes Recht zur Vertragsaufsage (jederzeitiges Kündigungsrecht) kennt fast nur das Verbraucherkreditrecht und auch dieses nur für ca. 10–20 % des Verbraucherkreditvolumens, insbesondere nicht beim grundpfandrechtlich gesicherten Kredit. Ein letzter Vorbehalt: Eine zentrale Systemfrage wurde – mangels Möglichkeit einer ähnlich vogelflugartigen Antwort – gänzlich ausgeblendet: Diese (wichtige) Unterfrage ginge dahin, ob denn der acquis communautaire in sich überhaupt kohärent ist, vor allem: ob nicht für manche Regelkomplexe ein zu enger Anwendungsbereich gewählt wurde, etwa bei den Absatztechniken, und ob sich die in ihnen enthaltenen Regeln nicht teils widersprechen.51

IV.

Wichtige Systemfragen im Europäischen Gesellschaftsrecht

1.

Leitidee: Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften und Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften

a)

Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften

42

Ausgangspunkt des Europäischen Gesellschaftsrechts war das Außenverhältnis. Schon die 1. Richtlinie52 brachte die Handelsregisterpublizität wichtiger Daten gegenüber dem Rechtsverkehr (für Zweigniederlassungen ergänzt durch die 11. Richtlinie53), die nahezu unbeschränkte Vertretungsmacht der registrierten Organe nach außen und die sehr eingeschränkte Nichtigkeit der Organisation, Letzteres beides je-

50 Vgl. Micklitz, ZEuP 1998, 253, der freilich zu sehr ein dem Verbraucher gegenüber gar nicht mehr bindendes Vertragsrecht annimmt (etwas missverständlich mit dem Begriff eines „kompetitiven“ Vertragsrechts umschrieben). 51 Vgl. dazu nur Riesenhuber, System und Prinzipien, passim; ders., ERCL 1 (2005), 297–322; außerdem den Beitrag von Schmidt-Kessel, in diesem Band, § 17; zum Vorschlag einer Verbraucherrechte-Richtlinie vgl. etwa die Beiträge von Whittaker, Möslein/Riesenhuber, Hesseling, und Roppo in ERCL 5 (2009), Heft 3 (S. 223–349). 52 Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates v. 9.3.1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1968 L 65/8 (Publizitätsrichtlinie); konsolidierte Fassung, ABl. 2009 L 258/11. 53 Elfte Richtlinie 89/666/EWG des Rates v. 21.12.1989 über die Offenlegung von Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen errichtet wurden, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen, ABl. 1989 L 395/36. Stefan Grundmann

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weils aus dem Handelsregister umfassend zu ersehen. All dies diente bereits der Ausgestaltung der Gesellschaft in einer Form, die Vertrauen bei Gläubigern, teils auch schon beim Anleger verbürgen sollte.

44

Daneben treten mit der 4., 7. und 8. Richtlinie54 Regeln zur Rechnungslegung im Einzelunternehmen, die Adaptionen für den Konzern und die Regelung über die Abschlussprüfer, die die Rechnungslegung zu testieren haben (letztgenannte inzwischen ersetzt durch die umfangreichere Abschlussprüfer-Richtlinie55). Mit diesem Regelungsbestand aus vier Richtlinien wird angestrebt, dass europaweit eine als solche registrierte Kapitalgesellschaft dem Gläubiger als Schuldner erhalten bleibt (keine Nichtigkeit, keine Berufung auf fehlende Vertretungsmacht), über alle für eine Anspruchgeltendmachung weiter nötigen rechtlichen Verhältnisse ebenfalls (Register-) Transparenz und weitergehend über die wirtschaftliche Lage der Kapitalgesellschaft – zertifiziert – Transparenz hergestellt wird (Rechnungslegung). All dies ist im Wesentlichen eine auf Gläubigerschutz – also das Außenverhältnis – ausgelegte Regelung. Rechtlich wie wirtschaftlich sollte die Gesellschaft als Schuldner „sicherer“ oder zumindest transparenter erscheinen.

45

Das Außenverhältnis betrifft sonst noch die 12. Richtlinie56, die die Möglichkeit der Haftungsbeschränkung auch auf Einmann-Unternehmungen erstreckt (primär für die GmbH, außerdem jedoch auf die Einmann-AG, soweit im nationalen Recht überhaupt zugelassen). Und auch die 2. Richtlinie57, die einzige Richtlinie aus diesem Komplex, die allein für Aktiengesellschaften gilt, hat durchaus starke Bezüge zum Außenverhältnis, verbürgt sie doch, dass das Mindestkapital von 50.000 Euro und das gezeichnete Kapital einmal aufgebracht war und nicht zurückgezahlt wurde (wirtschaftliche Absicherung der AG als Schuldnerin).

54 Vierte Richtlinie 78/660/EWG des Rates v. 25.7.1978 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, ABl. 1978 L 222/11; Siebte Richtlinie 83/349/EWG des Rates v. 13.6.1983 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den konsolidierten Abschluß, ABl. 1983 L 193/1; Achte Richtlinie 84/253/EWG des Rates v. 10.4.1984 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über die Zulassung der mit der Pflichtprüfung der Rechnungslegungsunterlagen beauftragten Personen, ABl. 1984 L 126/20. 55 Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2006 über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen, zur Änderung der Richtlinie 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 84/253/EWG des Rates, ABl. 2006 L 157/87. 56 Zwölfte Richtlinie 89/667/EWG des Rates v. 21.12.1989 auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts betreffend Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter, ABl. 1989 L 395/40; konsolidierte Fassung, ABl. 2009 L 258/20. 57 Zweite Richtlinie 77/91/EWG des Rates v. 13.12.1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1977 L 26/1 (Kapitalrichtlinie).

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§ 10 Systemdenken und Systembildung

Bedenkt man, dass die 6. Richtlinie58 ursprünglich die börsenrechtlichen Anforderungen regeln, also wiederum das Außenverhältnis gegenüber den Kapitalgebern betreffen sollte, zeigt sich, dass das Außenverhältnis – die Steigerung der Verlässlichkeit gegenüber Gläubigern, teils auch Anlegern – die Harmonisierungsüberlegungen seit Beginn dominierte. Nur die 3.59 und die 6. Richtlinie gelten ganz überwiegend dem Innenverhältnis, die 2. Richtlinie immerhin noch teilweise (vgl. unten Rn. 51 ff.). Das Innenverhältnis ist demgegenüber nur sehr punktuell Gegenstand von Harmonisierung geworden. Der geplante allgemeine Rechtsakt hierfür, die 5. Richtlinie60, wurde gerade nicht verabschiedet, der dahingehende Vorschlag 2001 auch formal zurückgezogen. Für das Innenverhältnis konzentriert sich das Europäische Recht auf die Strukturmaßnahmen, die den rechtlichen Rahmen fundamental verändern, sowie die Verbürgung der genannten „verfassungsmäßigen“ Aktionärsrechte (Gleichbehandlung, vor allem Quotenerhalt, vgl. unten Rn. 51 ff.).

46

All diese Regeln gelten allein für Kapitalgesellschaften (diejenigen in der 2. Richtlinie gar nur für Aktiengesellschaften). Die Vergleichbarkeit zwischen Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten im Außenverhältnis wurde also bei diesen ungleich stärker als Voraussetzung für einen Binnenmarkt gesehen als bei anderen Gesellschaftsformen – aus zwei Gründen: Auf Kapitalgesellschaften entfallen ungleich größere Transaktionsvolumina, gerade auch grenzüberschreitende, so dass die Zahl der Fälle, in denen Rechtsunterschiede verunsichern und damit die grenzüberschreitende Transaktion behindern könnten, ungleich größer ist.61 Zudem geht es um die Gesellschaftsformen, bei denen die persönliche Haftung grundsätzlich ausgeschlossen ist, die jedoch zur erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit frei zugelassen sind. Bei Personengesellschaften ist Ersteres nicht oder nicht für alle Gesellschafter der Fall, bei anderen juristischen Personen ist Zweiteres nicht oder nur sehr eingeschränkt der Fall. Die Regelung gerade der Kapitalgesellschaften (in den Parametern des Außenverhältnisses) folgt also der Tatsache, dass das erwerbswirtschaftliche grenzüberschreitende

47

58 Sechste Richtlinie 82/891/EWG des Rates v. 17.12.1982 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages betreffend die Spaltung von Aktiengesellschaften, ABl. 1982 L 378/47. 59 Dritte Richtlinie 78/855/EWG des Rates v. 9.10.1978 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages betreffend die Verschmelzung von Aktiengesellschaften, ABl. 1978 L 295/36. 60 Vorschlag einer fünften Richtlinie zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter hinsichtlich der Struktur der Aktiengesellschaft sowie der Befugnisse und Verpflichtungen ihrer Organe vorgeschrieben sind, ABl. 1972 C 131/49; Geänderter Vorschlag einer fünften Richtlinie des Rates nach Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über die Struktur der Aktiengesellschaft sowie die Befugnisse und Verpflichtungen ihrer Organe, ABl. 1983 C 240/2; Zweite Änderung zum Vorschlag für eine fünfte Richtlinie des Rates nach Artikel 54 EWG-Vertrag über die Struktur der Aktiengesellschaft sowei die Befugnisse und Verpflichtungen ihrer Organe, ABl. 1991 C 7/4; Dritte Änderung des Vorschlags für eine fünfte Richtlinie des Rates nach Artikel 54 EWG-Vertrag über die Stuktur der Aktiengeselschaft sowie die Befugnisse und Verpflichtungen ihrer Organe, KOM(1991), 372 endg. 61 Schon die BE 1 der 1. Richtlinie hatte generell betont, dass Kapitalgesellschaften (auch GmbH) internationaler agieren.

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Geschäft einerseits auf sie konzentriert ist, und (noch wichtiger) sie andererseits als einzige Unternehmensform unbeschränkt erwerbswirtschaftlich tätig werden dürfen, ohne dass eine natürliche Person für die Verbindlichkeiten haftet. Um grenzüberschreitend „Vertrauen“ in den Vertragspartner zu verbürgen und dies recht flächendeckend, genügte die Harmonisierung allein des Kapitalgesellschaftsrechts (Außenverhältnis). b)

Betonung des Außenverhältnisses auch durch prononcierte Kapitalmarktorientierung

48

Konstatiert man demnach eine starke „Extrovertiertheit“ von Europäischem Gesellschaftsrecht, so liegt es nahe, in diesem Zusammenhang auch über die Rolle des Europäischen Kapitalmarktrechts nachzudenken. Dies betrifft in besonderem Maße schon das äußere System.

49

Die Harmonisierungsdichte ist im Kapitalmarktrecht ungleich größer als im Gesellschaftsorganisationsrecht, ähnlich groß ist die Harmonisierungsdichte nur im Bilanzrecht. Das Europäische Gesellschaftsrecht prägt also auch ein intensiv kapitalmarktorientierter Ansatz – einer der wichtigen Beiträge vor allem des britischen, jedoch auch des französischen und belgischen Rechts. Ein Ziel oberster Priorität war es also, vor allem die für eine optimale, auch grenzüberschreitende Kapitalallokation notwendigen Strukturen weitestgehend europaeinheitlich zu schaffen. Zwar sind Deutschland und die südeuropäischen Mitgliedstaaten noch immer ungleich weniger kapitalmarktorientiert als Frankreich, Benelux und vor allem Großbritannien,62 selbst Deutschland hat jedoch heute ein ungleich stärker entwickeltes Kapitalmarktrecht als dies durch autonome deutsche Rechtsetzung zu erwarten war.

50

Die Systemfrage angesichts dieses dichten Harmonisierungsbestandes geht insbesondere dahin, in welchem Verhältnis es zum Europäischen Gesellschaftsrecht steht.63 M.E. kann Europäisches Kapitalmarktrecht nur als integrativer Teil des Europäischen Gesellschaftsrechts gesehen werden. Wenn in der Tat das Außenverhältnis von Kapitalgesellschaften so stark im Mittelpunkt steht, und wenn denn Kapitalgesellschaften durch den Faktor „Kapital“ besonders geprägt sind, ist Europäisches Gesellschaftsrecht sinnvoll nur unter Einschluss des Kapitalmarktrechts zu denken. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: beide Rechtsgebiete fußen in der gemeinsamen (speziell gesellschaftsrechtlichen) Kompetenzgrundlage des Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV/44 Abs. 2 lit. g); der EG-Gesetzgeber hat selbst mehrfach kapitalmarktrecht62 Die italienischen und deutschen Gesellschaften nehmen nicht einmal halb so viel Eigenkapital an den europäischen Kapitalmärkten auf (18,95 %), wie es ihrem Anteil am europaweiten Bruttosozialprodukt entspräche (40 %); auch die französischen fallen ins untere Drittel, während britische Gesellschaften bei einem Beitrag von 11,2 % zum europaweiten Bruttosozialprodukt 35,49 % des Eigenkapitals aufnehmen: Wymeersch, in: Hopt u.a. (Hrsg.), Comparative Corporate Governance (1999), S. 1155–1157. 63 Hierzu der Beitrag von Kalss, in diesem Band, § 20; sowie Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, §§ 18–21; ders., European Company Law, §§ 19–24; Heinze, Europäisches Kapitalmarktrecht (2000); Moloney, EC Securities Regulation (2002); Weber, Kapitalmarktrecht (1999).

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liche Richtlinien in den Kanon der numerierten gesellschaftsrechtlichen eingereiht (Börsenrichtlinie64, Übernahmerichtlinie65); immer wieder wird betont, dass in den Regelungen die Unterscheidung zwischen kapitalmarktorientierter AG und nicht kapitalmarktorientierter AG deutlich mehr Bedeutung hat als jede andere Unterscheidung, auch als diejenige zwischen den Rechtsformen der AG und GmbH. Man muss nur an das Bilanzrecht (IAS-Verordnung66) und das Übernahme-Recht denken. Die kapitalmarktorientierte AG ist so geradezu zu einer eigenen Rechtsform avanciert, die in Mitgliedsstaaten wie Deutschland oder Österreich inzwischen zum Hauptthema von Juristentagen gemacht wurde. Und äußerst wichtig: Für (Klein-) Aktionäre – und reflexartig für Vorstandsmitglieder – finden sich mit exit und voice zwei große Formen, wie sie auf Verhalten anderer Beteiligter reagieren: Innergesellschaftlich durch Ausübung von Mitverwaltungsrechten oder über einen Kauf bzw. Verkauf des Anteils. Nur in der Zusammensicht entsteht ein organisches (Gesamt-) Bild. Die starke Ausrichtung auf kapitalmarktrechtliche Instrumente trägt dazu bei, dass etwa für die Corporate Governance, den rechtlichen Rahmen der Entscheidungsfindung in (Publikums-)Gesellschaften, zunehmend angenommen wird, die Reaktionsmöglichkeiten auf Kapitalmärkten (externe Corporate Governance) trügen heute bereits überhaupt die stärksten Anreize für gutes Management in sich.67 c)

Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften

Immer wieder wird die Einschränkung des Anwendungsbereichs wichtiger Richtlinien auf die Aktiengesellschaft kritisch gesehen. In besonderem Maße gilt dies für die 2. Richtlinie, die Kapitalrichtlinie.68 Denn wenn diese vor allem Gläubigerschutz bewirken soll, ist kaum verständlich, warum sie nicht auch die GmbH erfasst. Zu erklären ist die Einschränkung demgegenüber, wenn man in diesen Richtlinien vor allem das Anliegen verwirklicht sieht, denjenigen Gesellschaftern, die wie Gläubiger anonym und massenhaft einer Gesellschaft gegenüber treten, (und nur ihnen) wie-

64 Richtlinie 2001/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.5.2001 über die Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Börsennotierung und über die hinsichtlich dieser Wertpapiere zu veröffentlichenden Informationen, ABl. 2001 L 184/1. 65 Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 betreffend Übernahmeangebote, ABl. 2004 L 142/12. 66 Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABl. 2002 L 243/1. 67 Vgl. etwa, mit einer Trennung zwischen den Mitgliedstaaten, die eher auf externe Mechanismen setzen (neben der angloamerikanischen Welt am ehesten Frankreich) und denjenigen, die dezidiert mehr interne Mechanismen betonen (alle anderen, besonders Deutschland): Wymeersch, AG 1995, 299, 309–315. 68 Für diese etwa: Lutter, ZGR 2000, 1, 7 und 9 f.; Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 50. Umgekehrt wird etwa in England kritisiert, dass es überhaupt die Kapital-Richtlinie für Aktiengesellschaften gibt: Vgl. Company Law Review Steering Group, Consultation Document “Modern Company Law – For a Competitive Economy – The Strategic Framework” (Februar 1999), S. 21 f., 81 ff. (abrufbar unter http://www.bis.gov.uk/files/ file23279.pdf); dazu etwa Sealy, Int’l Comp. Corp. LJ 2 (2000), 155; lesenswert Bachmann, ZGR 2001, 351, bes. 362 f.

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derum einen Mindestsockel an Absicherung an die Hand zu geben. Und solche Gesellschafter kann es in allen Mitgliedstaaten auf Grund überall zu findender (verschiedener) Ausgestaltungsvorgaben nur im Falle der Aktiengesellschaft geben.69 Dann wären die 2. Richtlinie (Kapitalrichtlinie), die 3. Richtlinie (Fusionsrichtlinie) und auch die Übernahmerichtlinie als Richtlinien zu verstehen, die diese Mindestgarantien einheitlich für ganz Europa festlegen und solchermaßen europaweit Vertrauen begründen helfen, auf Grund dessen dann vertrauensvoll in Aktien nach ganz verschiedenen Rechten investiert werden kann. Man kann hier von Europäischen Verfassungsrechten für (Klein-)Aktionäre sprechen. Hinzu kommen natürlich die besonderen Kautelen des Kapitalmarktrechts, wenn die Anteile – wiederum nur Aktien – auf Kapitalmärkten gehandelt werden.

52

Unter den substantiellen Regeln, die mehrheitsfest sind und als „verfassungsmäßige“ Garantien das Informationsmodell (vgl. oben Rn. 43 ff. und vor allem unten Rn. 63 ff.) komplettieren, steht zuvörderst eine Politik gegen Quotenveränderung. Durchgehend und in den verschiedensten Rechtsakten wird dem Aktionär seine Quote verbürgt: In jedem Fall soll er sie wertmäßig behalten, dies ist Mindestinhalt des Gleichbehandlungsgebots (Art. 42 KapRL).70 In vielen Fällen soll sogar der Anteil selbst mit gleich bleibender Quote erhalten bleiben. Offensichtlich ist dies beim Bezugsrecht, das ebenfalls die 2. Richtlinie Kapitalrichtlinie) zumindest bei Kapitalerhöhung gegen Bareinlagen vorsieht.71 Auch bei der Umstrukturierung in Form der Fusion (und Spaltung) bildet der Austausch gegen Anteile der übernehmenden Gesellschaft auf Europäischer Ebene das gesetzliche Modell, und ist eine nicht verhältniswahrende Bedienung der Aktionäre überhaupt nur bei der Spaltung vorgesehen – die auch dann nicht etwa dazu führt, dass der Aktionär den Wert seines Anteils unvollständig abgegolten erhielte, sondern nur dazu, dass ihm Aktien nicht mehr verhältniswahrend zugeteilt werden. Auch in der Übernahmerichtlinie ist die Gleichbehandlung, d.h. die zumindest wertmäßige Gleichstellung der Aktionäre der Zielgesellschaft untereinander, einer der beiden Zentralinhalte und war schon seit einigen Jahren europaweit einheitlicher Standard, während sie in der Diskussion zum ersten Vorschlag in Deutschland doch noch als nachgerade revolutionierend empfunden wurde.72 Auch de facto darf also die Quote nicht verändert werden. All dies stellt zu69 Vgl. Übersicht zu diesen Mechanismen, die in der einen oder anderen Form in allen Mitgliedstaaten zu finden sind (Höchstgesellschafterzahlen, Verbote öffentlicher Angebote oder Erfordernis notarieller Beurkundung beim Anteilsverkauf im Falle der GmbH): Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 107. 70 Zu diesem Gebot BGHZ 120, 141, 150 f. (zur Kapitelrichtlinie); grundlegend Lutter, FS Ferid (1988), bes. S. 605–608; sowie Edwards, EC Company Law (1999), S. 56 (überragend wichtig); Kalss, in: Koppensteiner (Hrsg.), Österreichisches und Europäisches Wirtschaftsprivatrecht – Teil 1: Gesellschaftsrecht (1994), S. 215; Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 325. 71 Dazu (und zu seinem Ausschluss) statt aller Bagel, Der Ausschluß des Bezugsrechts in Europa (1999); Kindler, ZGR 1998, 35; Wymeersch, AG 1998, 382. 72 Für die damalige Kritik vgl. vor allem Hopt, in: Balzarini/Carcano/Mucciarelli (Hrsg.), I gruppi di società (1995), S. 45 (S. 53 „major stumbling block“); früh ausführlich Assmann/ Bozenhardt, in: Assmann u.a. (Hrsg.), Übernahmeangebote (1989), S. 1; vgl. noch: Wymeersch, in: Hopt u.a. (Hrsg.), Comparative Corporate Governance (1999), S. 1196 f. (umstrittenste

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Stefan Grundmann

§ 10 Systemdenken und Systembildung

gleich ein durchgängiges Minderheitsschutzmodell dar, das auf der Idee beruht, dass sich auch Kleinaktionäre in die Hände aktiverer professioneller oder beherrschender Aktionäre geben mögen, wenn sie sich zwar für die Strategie, die zum gemeinsamen Erfolg führen soll, in deren Hand geben müssen, stets jedoch ihren gleichen Anteil so gut wie möglich verbürgt sehen. Das zweite Stück des Aktionärsschutzmodells („Verfassungsrechte“) hängt eng mit dem Informationsmodell zusammen; hier werden nicht mehr individuelle Rechte verbürgt, wohl aber kollektive Entscheidungsmacht: Im Europäischen Recht ist, wann immer es zu dieser Frage Regelungen entwickeln konnte, durchgängig zu beobachten, dass alle Strukturmaßnahmen und auch alle Satzungsänderungen, namentlich Kapitalmaßnahmen, unter den Vorbehalt eines Hauptversammlungsbeschlusses gestellt werden … und zwar bei allen strukturändernden Maßnahmen und auch beim Bezugsrechtsausschluss mit qualifizierter Mehrheit, so dass in diesen Fällen nicht nur die Entscheidungsmacht der Aktionäre, sondern auch ein kollektiver Minderheitenschutz europaweit verbürgt werden. Hinzuweisen ist namentlich auf Art. 25 Abs. 1, 29 Abs. 4, 5 und 40 der Kapitalrichtlinie (Kapitalmaßnahmen und Bezugsrechtsausschluss), zudem Art. 17, 19 Abs. 1 lit. a), Art. 7 und 5 f. der Fusions- und Spaltungsrichtlinie (Strukturmaßnahmen-Grundmodell) und Art. 59 Abs. 1 SE-VO (Satzungsänderung), eigentlich auch Art. 9 der Übernahmerichtlinie (Hauptversammlungsvorbehalt bei Abwehrmaßnahmen gegen das Angebot insgesamt). Mit der Aktionärsrechte-Richtlinie von 200773 wird dieser zweite Ansatz – die Verbürgung von „Verfassungsrechten“ für Aktionäre – noch weiter getrieben, es wird sogar darüber hinaus gegangen: Denn hier nun werden an einem zentralen Punkt auf individueller Ebene Rechte auch hinsichtlich des laufenden Geschäfts verbürgt: Was die Effizienz der Ausübung des individuellen Stimmrechts aus der Aktie angeht, schafft diese Richtlinie umfangreiche europaweit geltende Garantien. Ziel ist freilich nicht nur der Individual-, sondern auch der Funktionsschutz. Denn das niedrige Maß von Stimmrechtsausübung wurde als ein Problem für die Entscheidungsfindung und Kontrolle in der (börsennotierten) Aktiengesellschaft generell gesehen, also als eine zentrale Schwäche in der Corporate Governance. Daher werden nun vor allem diejenigen Hindernisse ausgeräumt, die die Stimmrechtsausübung für (Klein-)Aktionäre über die Grenzen erschweren: Es werden Einberufungsfristen verbürgt, die – auch angesichts langer Verwahrketten – hinreichend lang sind; es wird jede Form der Stimmrechtsvertretung verbürgt, besonders wichtig: auch der organisierten (Verwaltungsstimmrecht, Depotstimmrecht, Stimmrecht für Aktionärsvereinigungen); es wird den Gesellschaften zumindest freigestellt, die Stimmabgabe in absentia zuzulassen (elektronisch, fernschriftlich); flankierend kommen Aktionärsinformationsrechte zur Tagesordnung hinzu. Regel); rechtsvergleichende Übersicht zur Durchsetzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Übernahmerecht der Mitgliedstaaten (schon vor Verabschiedung der Richtlinie): De Beaufort, Les OPA en Europe (2001); Baums/Thoma, Takeover laws in Europe (Gesetzestexte) (2002); Wymeersch, EFSL 3 (1996), 301 und 4 (1997), 2; ders., ZGR 2002, 520. 73 Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften, ABl. 2007 L 184/17. Stefan Grundmann

309

53

Teil 2: Allgemeiner Teil

2.

Ausstrahlwirkung: Wettbewerb und Kompatibilität der Formen

a)

Wettbewerb der Formen

54

Für das Europäische Gesellschaftsrecht wurde im letzten Jahrzehnt der Wettbewerb prägend, teils der nationalen Rechtsformen untereinander, teils auch dies in grenzüberschreitenden Mischungen (etwa Ltd. & Co. KG), und teils der nationalen mit den Europäischen Rechtsformen. Der erste genannte Wettbewerb dominiert, vor allem auch deswegen, weil auch die Europäischen Rechtsformen, vor allem die Societas Europaea, im überwiegenden Teil der Rechtsfragen durch das nationale Recht des Sitzes geregelt werden. Abgesehen vom numerus clausus der Gründungsformen und der Gründung sind im Wesentlichen nur zwei Fragen von Gewicht vereinheitlicht: das Wahlrecht für die Struktur beim Leitungsorgan (wichtig für die Kompatibilität der Formen, dazu sogleich; Rn. 56 ff.) und die zwingende Hauptversammlungskompetenz und -mindestmehrheit bei Satzungsänderungen. Die besondere Bedeutung der Europäischen Rechtsformen liegt deswegen wohl vor allem im Prestigefaktor und darin, dass mit ihnen ein Mittel zur Verfügung steht, das die identitätswahrende grenzüberschreitende Sitzverlegung und Fusion zweifelsfrei und weitgehend steuerneutral ermöglicht, außerdem in punktuellen Flexibilisierungsmöglichkeiten beim Leitungsorgan.

55

Die drei Ansatzpunkte für diesen im letzten Jahrzehnt erheblich verstärkten Wettbewerb der nationalen oder teileuropäisierten Formen bilden:74 (1) Die EuGH-Urteile zur Niederlassungsfreiheit (Fn. 15), die im Wesentlichen eine Freiheit, das anwendbare Recht zu wählen, in binnenmarktgrenzüberschreitenden Verkehr aus der Niederlassungsfreiheit ableiten, eingeschränkt nur durch die Möglichkeit, dass nationales beschränkendes Recht auf (eng auszulegende) zwingende Gründe des Allgemeininteresses gestützt werden kann, sowie dadurch, dass jeder Mitgliedsstaat entscheiden kann, unter welchen Umständen er Gesellschaften sein nationales Statut eröffnet bzw. belässt (Registrierung oder zusätzlich Hauptverwaltungssitz). (2) die genannten Europäischen Gesellschaftsformen, bisher verfügbar für eine kleine Personenhandelsgesellschaft (EWIV), die Aktiengesellschaft (SE) und die Genossenschaft, alle nur teilvereinheitlicht; und die Bemühungen um eine Richtlinie zur grenzüberschreitenden, identitätswahrenden Sitzverlegung und Fusion, die nunmehr die nationalen Formen erfassen sollen und zwar zunehmend eine ganze Reihe von diesen (letztere in Kraft seit 2005)75.

74 Näher etwa Grundmann, FS Raiser (2005), S. 81–98; wichtig daher zunehmend die Handbücher zu ausländischen Gesellschaftsformen in Deutschland, vor allem Eidenmüller (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht (2004); Hirte/Bücker (Hrsg.), Grenzüberschreitende Gesellschaften (2. Aufl. 2006). Nachweise für die im Folgenden zitierten Rechtsakte etwa bei Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht. 75 Richtlinie 2005/56/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.10.2005 über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten, ABl. 2005 L 310/1.

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Stefan Grundmann

§ 10 Systemdenken und Systembildung

b)

Kompatibilität der Formen

Ein Wettbewerb der Formen wird erheblich erleichtert, wenn auf Kompatibilität der Formen geachtet wird. So wird der Übergang von einer Rechtsform nach einem Recht zu einer nach einem anderen Recht erleichtert. Im Europäischen Gesellschaftsrecht ist ein Bemühen um solche Kompatibilität vielfach zu beobachten. Anschlussfähigkeit wird immer wieder gefördert. Zwei Beispiele mögen dies deutlich machen.

56

Das erste betrifft die Umstrukturierung einer Gesellschaft. Umstrukturierung bedeutet regelmäßig auch Wechsel des rechtlichen Kleides (Satzungsanpassung). Ändert sich jedoch schon die Grobstruktur, so erschwert dies zusätzlich die Strukturmaßnahme. Da die Hauptversammlung als Organ überall vorgegeben ist, ist zuvörderst an die Ein- oder aber Zweistufigkeit des Leitungsorgans zu denken, zumal die Wahl der einen oder anderen Form auch weitere Gestaltungsmöglichkeiten beeinflusst, etwa die Frage nach der unternehmerischen Mitbestimmung. Es lag daher nahe, für die Societas Europaea dem französischen Beispiel zu folgen und die Wahl zwischen beiden möglichen Strukturen des Leitungsorgans den Gesellschaften zu überlassen (Art. 38, 39 Abs. 5, Art. 43 Abs. 4 SE-VO). Und wenig später zog mit Italien ein weiterer großer Mitgliedstaat nach.76

57

Das zweite Beispiel betrifft die Strukturierung des Außenverhältnisses nach Europäischem Recht. Dies ist wichtig, da hier nach dem Gesagten ein Schwergewicht europäischer Harmonisierung liegt. Das Beispiel entstammt der 1. Richtlinie (Publizitätsrichtlinie) und betrifft die dort geregelte organschaftliche Vertretungsmacht. Nicht geregelt, also dem Variantenreichtum nationaler Rechte überlassen sind so zentrale Fragen wie die Organkompetenz oder die Frage nach den Grenzen der Vertretungsmacht im Innenverhältnis, nach Einzel- und Gesamtvertretungsmacht. Und doch ist die Regelung überall anschlußfähig. Hauptinstrument ist die Eintragungspflicht im Handelsregister: Ist Gesamtvertretungsmacht nicht eingetragen, kann der Dritte sich auf Einzelvertretungsmacht verlassen.77 Dies ist gut erkennbar, zugleich wird so jeder Gesellschaft doch ein Mittel an die Hand gegeben, Vorstandswillkür vorzubeugen. Daher muss umgekehrt nicht so weit gegangen werden, Beschränkungen im Innenverhältnis im Außenverhältnis weitgehend zum Tragen zu bringen – wie dies in allen Mitgliedstaaten außer Deutschland der Fall war. Vielmehr ist nur die Anmaßung einer Kompetenz, die dem Vorstand nach jeweiligem nationalen Recht auch abstrakt-generell nicht zustehen kann, für den Dritten schädlich.78 Und dies

58

76 Zu dieser (liberalen) Grundsatzentscheidung des SE-Statuts: Hommelhoff, AG 2001, 279, 282 f.; Lutter, BB 2002, 1, 4; Schwarz, ZIP 2001, 1847, 1854. Das Wahlrecht war in Frankreich seit 1966 bekannt, hierzu und für Italien vgl. Hopt, ZGR 2000, 779, 815; Buse, RIW 2002, 676, 678. 77 Vgl. EuGH v. 12.11.1974 – Rs. 32/74 Haaga GmbH, Slg. 1974, 1201 Rn. 6; zust. Fischer-Zernin, Der Rechtsangleichungserfolg der Ersten gesellschaftsrechtlichen Richtlinie der EWG (1986), S. 261. 78 Art. 9 Abs. 1 S. 1 der Richtlinie … was freilich der EuGH in Rabobank verkannte, indem er dort eine Rechtsmissbrauchseinschränkung im Einzelfall zuließ: EuGH v. 16.12.1997 – Rs. Stefan Grundmann

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Teil 2: Allgemeiner Teil

sind idR nicht viele Geschäfte und regelmäßig die gleichen, nämlich die Grundlagengeschäfte. In allen anderen Punkten schadet dem Dritten nur Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von Beschränkungen. c)

Generalisierbarkeit?

59

Die Frage der Generalisierbarkeit Europäischer Modelle als weitere Form der Ausstrahlwirkung wird demgegenüber für das Europäische Gesellschaftsrecht ungleich weniger diskutiert und gedacht als für das Europäische Vertragsrecht. Freilich ist auch diese Form der Ausstrahlwirkung an durchaus zentralen Stellen zu konstatieren.

60

Für übertragbar erachtet wurde insbesondere das Handelsregisterrecht – Publizitätsinhalte, -instrumente und -wirkungen –, denn mit Ausnahme vor allem des Vereinigten Königreichs hat sich das Modell der 1. Richtlinie, das allein für Kapitalgesellschaften europäisch vorgeschrieben ist, in allen wichtigen Mitgliedstaaten zu einem allgemeinen Modell für alle Kaufleute/Unternehmer oder zumindest alle Handelsgesellschaften fortentwickelt.

61

Auch das Europäische Bilanz- und das Umwandlungsrecht haben vielfach weit über ihren Anwendungsbereich ausgestrahlt. In Deutschland wurde beispielsweise Zweiteres – bei eigenen starken Wurzeln – die Grundlage eines ungleich systematischer durchgeführten Umwandlungsrechts und -gesetzes.79 Und das Europäische Bilanzrecht führte zur Ausgliederung aus dem Aktienrecht und zur Entwicklung eines allgemeinen Bilanzrechts im Handelsgesetzbuch.

62

Relativ wenig Vorbildwirkung entfalteten die genuin Europäischen Rechtsformen, auch die SE (noch) nicht. Freilich mag sich im Anschluss an Art. 38, 39 Abs. 5, Art. 43 Abs. 4 SE-VO ein Trend entwickeln, dass der Gesellschaft selbst ein Wahlrecht eingeräumt wird, ob sie denn ein ein- oder ein zweistufiges Leitungsorgan haben will (Fn. 76). 3.

Besonderes Gewicht des Informationsmodells 80

Inhaltlich ragt auch im Europäischen Gesellschaftsrecht das Informationsmodell hervor,81 fast noch offensichtlicher als im Vertragsrecht.

63

Das gilt wiederum bereits für das Primärrecht. Auf Grund der Grundfreiheitenrechtsprechung des EuGH hat der nationale Gesetzgeber Informationsregeln den Vorzug

C-104/96 Coöperatieve Rabobank „Vecht en Plassengebied“ ./. Minderhoud, Slg. 1997, I-7211; vgl. für berechtigte Kritik Meilicke, DB 1999, 785, 786–788; Schmid, AG 1998, 127, 129–131. 79 Schön verschränkt sind beide dargestellt bei Hommelhoff/Riesenhuber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 259. 80 Zu weiteren Systembausteinen und -charakteristika vgl. Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 31; ders., ZIP 2004, 2401; Jung, GPR 2004, 233. 81 Ausführlich Grundmann, FS Lutter (2000), S. 61; ders., DStR 2004, 232; monographisch vor allem Grohmann, Informationsmodell im Europäischen Gesellschaftsrecht (2006); Merkt, Unternehmenspublizität (2001).

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Stefan Grundmann

§ 10 Systemdenken und Systembildung

zu geben gegenüber inhaltlich zwingenden Festlegungen, wann immer erstere das Schutzbedürfnis ebenfalls weitgehend befriedigen können.82 Und nach ebendiesem Maßstab legiferiert wiederum der Europäische Gesetzgeber im Sekundärrecht. Nicht nur hat das Herzstück, das im Wesentlichen alle Gesellschaftsformen erfasst, das Bilanzrecht, Informationsaufbereitung und -weitergabe zum Gegenstand. Vielmehr gilt gleiches auch für das Kapitalmarktrecht als das zweite Teilstück neben dem Organisationsrecht. Und selbst die Regelung von Umstrukturierungen ist vor allem informationsorientiert. Denn dies bedeutet stets, dass weitestmöglich auf autonome Entscheidung der Betroffenen gesetzt und diese – durch hinreichende Information – vorbereitet wird. Dabei wird Information in verschiedener Hinsicht „optimiert“. Im Recht der Umstrukturierung, für die die 3. Richtlinie das Modell bildet, sind alle wesentlichen Informationen sowohl zur Strukturmaßnahme insgesamt als auch zu den Auswirkungen auf den einzelnen Aktionär aufzubereiten und bestmöglich zugänglich zu machen, des Weiteren neutral und professionell zu überprüfen und trifft – auf dieser Grundlage – der Betroffene zuletzt selbst die Entscheidungen – jedenfalls im Kollektiv, denn die Hauptversammlungszuständigkeit wird garantiert, in vielen Fällen auch individuell, auf Grund eines Auskaufsrechts oder individueller Kauf- und Verkaufsentscheidungen. Zusätzlich unterstützt wird die Informationsverlässlichkeit durch Haftungsregeln. Das Modell ist mit all diesen Elementen wiederzufinden im Bilanzrecht und im Kapitalmarktrecht, wobei für den Betroffenen teils auch noch gewährleistet wird, dass die Information für ihn zusätzlich individualisiert, bezogen auf seine Situation, aufbereitet wird (im Wertpapierhandel).83 Und auch in der Übernahmerichtlinie ist die informationelle Vorbereitung der zwei wichtigsten Entscheidungen ausführlich geregelt: die Information zum Angebot, auf das durch individuelle Entscheidung zu antworten ist, und die Information zur Übernahme insgesamt, auf die durch kollektive Entscheidung zu Verteidigungsmaßnahmen zu antworten ist.

64

Auch die sonstigen Rechtsakte, insbesondere die 1. und auch die 2. Richtlinie, sind stark informationsorientiert (Fn. 81). Die 1. Richtlinie trägt nicht von ungefähr den Titel einer Publizitätsrichtlinie. Und ist die Entscheidung einmal getroffen, so gehört ebenfalls zum Modell „informierte Entscheidung“, dass dieser idR sehr hohe Bestandskraft beigelegt wird: Die Nichtigkeit wird stark zurückgedrängt – sowohl in der 1. Richtlinie bei Gründung als auch in der 3. Richtlinie bei Umstrukturierung – und zudem wird eine weitere präventive (gerichtliche) Kontrolle vielfach vorgeschrieben. Rechtssicherheit ist gerade im grenzüberschreitenden Verkehr in der Tat von großer Bedeutung. Dieses Anliegen wird hier denn auch teils nochmals spezifisch bedient,

65

82 Für die Niederlassungsfreiheit und das Gesellschaftsrecht: EuGH v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97 Centros, Slg. 1999, I-1459 Rn. 34–38; auch EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155. 83 Zu dieser Optimierung der Information für den individuellen Anleger durch Einschaltung und Regulierung von Informationsintermediären: Gemberg-Wiesike, Wohlverhaltenspflichten beim Vertrieb von Wertpapier- und Versicherungsdienstleistungen (2005), S. 94; Grundmann/Kerber, in: Grundmann/Kerber/Weatherill (Hrsg.), Party Autonomy, S. 269–271 und 291; Heinze, Europäisches Kapitalmarktrecht (1999), S. 376–386. Stefan Grundmann

313

Teil 2: Allgemeiner Teil

etwa wenn die Europäische Fusionsregelung für internationale Sachverhalte die Nichtigkeitsgründe nochmals stärker eingrenzt.

V.

Ausblick

66

Das System des Europäischen Privatrechts entwickelt sich rasant. In den ca. zehn Jahren, in denen der Begriff für das Europäische Privatrecht bisher positiv gedacht wird,84 hat sich unendlich viel ereignet: Das Kaufrecht als Kernstück im Europäischen Vertragsrecht wurde während der Laufzeit der damaligen Ringvorlesung gerade erst verabschiedet. Es folgten die verschiedenen Mitteilungen der Kommission, die Systematisierung zum zentralen Ziel erklärten (oben, Rn. 1 mit Fn. 1). Der Prozess zur Entwicklung eines Gemeinsamen Referenzrahmens hat viel, vielleicht das meiste damit zu tun.85 Riesenhuber schrieb die erste große Monographie, die das System „durchdekliniert“ (oben, Rn. 1). Zunehmend entstehen Reihen von systematischen Lehrbüchern zum acquis. Im Gesellschaftsrecht wurde der Gesamtbestand erstmals von einer Expertengruppe flächendeckend durchleuchtet.86 Allein im deutschen Schrifttum entstanden drei Lehrbücher (Habersack, Schwarz, Grundmann). Mit der Societas Europaea wurde die große Alternativform zu den nationalen Rechtsformen geschaffen und bereits gut angenommen. Das Kernstück Bilanzrecht ist gänzlich neu, das gesamte Kapitalmarktrecht ebenfalls.

67

Systemdenken ist wichtiger denn je im Europäischen Privatrecht. Es ist nicht zuletzt auch die Grundlage für die zwei wohl wichtigsten Auslegungsmethoden, die systematische und auch in gewissem Maße die teleologische, und für die großen Fragen wie die Rechtsfortbildung und teils auch die richtlinienkonforme Auslegung. Eine der spannendsten Fragen wird weiterhin sein, ob die Europäische Privatrechtswissenschaft fähig ist, in den nächsten Jahren System wirklich überzeugend für das moderne Vertrags- und das moderne Gesellschaftsrecht zu schaffen, in geschriebener Form und nicht nur als Übernahme tradierter Systeme.

84 Beginnend wohl mit den Beiträgen zu: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken. 85 Zu diesem vgl. Schmidt-Kessel, in diesem Band, § 17; sowie oben Rn. 1, 34a. 86 High Level Group I/II, Bericht der Hochrangigen Gruppe von Experten auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts über die Abwicklung von Übernahmeangeboten v. 10.1.2002 und Bericht der Hochrangigen Gruppe von Experten auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts über moderne gesellschaftsrechtliche Rahmenbedingungen in Europa v. 4.11.2002, abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/company/modern/index_de.htm (Jaap Winter [Vorsitzender], Jan Schans Christensen, José Maria Garrido Garcia, Klaus J. Hopt, Jonathan Rickford, Guido Rossi, Dominique Thienpont [Rapporteur]; Karel van Hulle [Sekretär]); dazu Stellungnahme der Group of German Experts on Corporate Law, ZIP 2002, 1310.

314

Stefan Grundmann

§ 11 Die Auslegung Karl Riesenhuber

Übersicht I. Autonome Auslegung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

II. Ziel der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kriterien der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die grammatikalische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausgangspunkt für die Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wortlaut und Sprachenvielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Relativität der Rechtsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der sprachliche Bedeutungszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . b) Der rechtlich-systematische Bedeutungszusammenhang . . . . . . . . . c) Systematische Auslegung unter Berücksichtigung von Regelungsvorschlägen und -entwürfen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die historische und genetische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zugängliche Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Exkurs: Die Rechtsnatur der Begründungserwägungen . . . . . . . . . d) Grundsätzliche Irrelevanz eines „Vorbildrechts“ . . . . . . . . . . . . . e) Die Beachtung der vorbestehenden Regelungssituation in den Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Regelungszweck und Angleichungszweck . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Teleologische Auslegung und „praktische Wirksamkeit“ (effet utile) . . c) Die „Dynamik“ des Europäischen Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . d) Leitbilder als Hilfsmittel der teleologischen Auslegung . . . . . . . . . .

Rn. 4–8 9–12

. . . . . . . .

. . . . . . . .

13–46 14–21 14 15–20 21 22–29 22 23–27

. . . . . .

. . . . . .

28–29 30–39 31–32 33–35 36–37 38

. . . . . .

. . . . . .

39 40–46 40–42 42a 43 44–46

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47–52

V. Einzelne Auslegungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „In dubio pro consumente“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sind Ausnahmeregeln „eng“ auszulegen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53–66 54–60 61–66

IV. Rangfolge der Auslegungskriterien

Literatur: Axel Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre – Die begrifflichen und („fuzzy“-)logischen Grenzen der Befugnisnormen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und die Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (2009); Jochen Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1997); Bernhard Aubin, Die Rechtsvergleichende Interpretation autonom-internen Rechts in der deutschen Rechtsprechung, RabelsZ 34 (1970), 458–480; JoxerKarl Riesenhuber

315

2. Teil: Allgemeiner Teil ramon Bengoetxea, The Legal Reasoning of the European Court of Justice – Towards a European Jurisprudence (1993); Anna Bredimas, Methods of Interpretation and Community Law (1978); Carsten Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft (1998); Claus-Wilhelm Canaris, Die Bedeutung allgemeiner Auslegungs- und Rechtsfortbildungskriterien im Wechselrecht – Zugleich eine Besprechung der Urteile des BGH vom 26.5.1986 II ZR 260/85 und vom 27.10.1986 II ZR 103/86, JZ 1987, 543–553; ders., Das Rangverhältnis der „klassischen“ Auslegungskriterien, demonstriert an Standardproblemen aus dem Zivilrecht, in: Volker Beuthien u.a. (Hrsg.), Festschrift für Dieter Medicus (1999), S. 25–61; Rupert Cross/John Bell/George Engle, Statutory Interpretation (3. Aufl. 1995); Stefan Grundmann/Karl Riesenhuber, Die Auslegung des Europäischen Privat- und Schuldvertragsrechts, JuS 2001, 529–536; Stephan M. Grundmann, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof (1997); Thomas Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode (2009); Burkhard Hess, Methoden der Rechtsfindung im Europäischen Zivilprozessrecht, IPRax 2006, 348–363; Heinrich Honsell, Der „effet utile“ und der EuGH, in: Erwin Bernat/Elisabeth Böhler/Arthur Weilinger (Hrsg.), Zum Recht der Wirtschaft – Festschrift für Heinz Krejci (2001), S. 1929–1940; Clemens Höpfner, Die systemkonforme Auslegung (2008); ders./Bernd Rüthers, Grundlagen einer europäischen Methodenlehre, AcP 209 (2009), 1–36; Jacob Jounssen, Die Auslagerung europäischen (Arbeits-)Rechts aus deutsch-italienischer Perspektive (2000); Christoph Kerwer, Das europäische Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte (2003); Walter Georg Leisner, Die subjektiv-historische Auslegung des Gemeinschaftsrechts, EuR 2007, 689–706; Marcus Lutter, Die Auslegung angeglichenen Rechts, JZ 1992, 593–607; D. Neil MacCormick/Robert S. Summers, Interpreting Statutes – A Comparative Study (1991); Michael Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht (1994); ders., Effet utile als Auslegungsgrundsatz, EuR 2009, 465–487; Karl Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts (2003); ders., Kein Zweifel für den Verbraucher, JZ 2005, 829–835; ders., Systembildung durch den CFR – Wirkungen auf die systematische Auslegung, in: Martin Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen (2009), S.173–216; Marek Schmidt, Privatrechtsangleichende EU-Richtlinien und nationale Auslegungsmethoden, RabelsZ 59 (1995), 569–597; Reiner Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999); Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2 Bde. (2001); Stephen Weatherill, Can There be Common Interpretation of European Private Law?, Ga. J. Int’l & Comp. L. 31 (2002), 139–166. Rechtsprechung: EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415; EuGH v. 15.12. 1997 – Rs. C-104/96 Rabobank ./. Minderhoud, Slg. 1997, I-7211.

1

Im Folgenden geht es um die Auslegung des Europäischen Privatrechts, allerdings nur mit Einschränkungen. Das gilt zunächst für den Gegenstand der Auslegung. Zum Europäischen Privatrecht gehören auch Regeln und Prinzipien des Primärrechts (i.e. § 7), man denke nur an das Kartellverbot des Art. 101 AEUV/81 EG und das Prinzip der Vertragsfreiheit, das den Grundfreiheiten zugrunde liegt. Auslegung und Fortbildung des Primärrechts folgen indes teilweise besonderen Regeln, die bereits gesondert behandelt wurden (§ 8). Aber auch von den sekundärrechtlichen Rechtsakten werden im Folgenden im Wesentlichen nur Richtlinien und Verordnungen erörtert; die Auslegung von Entscheidungen (Art. 288 Abs. 4 AEUV/249 Abs. 4 EG: Beschlüssen), die auch im Privatrecht durchaus von Bedeutung sind, wird nicht erörtert. Sogenannte delegierte Rechtsakte i.S.v. Art. 290 AEUV, für deren Auslegung sich durchaus einige Besonderheiten ergeben können, haben bislang im Privatrecht noch keine Bedeutung.

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§ 11 Die Auslegung

Zweitens bleiben zwei Themen, die nach umstrittener Auffassung auch für die Auslegung von Bedeutung sind, an dieser Stelle unberücksichtigt: Die Rechtsvergleichung (§ 4) und die ökonomische Theorie (§§ 5, 6).1 Gesondert behandelt wird zudem die primärrechtskonforme Auslegung (§ 9).

2

Drittens schließlich geht es im Folgenden ausschließlich um die Auslegung, nicht auch um die Konkretisierung von Generalklauseln (nachfolgend, § 12) oder die Rechtsfortbildung (nachfolgend, § 13). Das ist deswegen hervorzuheben, weil der EuGH – der französischen Tradition folgend – Auslegung und Rechtsfortbildung (sprachlich) nicht unterscheidet, sondern auch die Rechtsfortbildung als Auslegung bezeichnet.2

3

I.

Autonome Auslegung

Eine Vorfrage der Auslegung des Sekundärrechts – und damit zugleich weiter Teile des Europäischen Privatrechts – ist oftmals, ob eine Regelung oder ein Begriff unionsautonom auszulegen3 ist. Allerdings wird diese Frage teilweise schon in den einzelnen Rechtsakten selbst deutlich beantwortet. Unzweifelhaft ist ein unionsautonomes Konzept gewollt, wenn der Gesetzgeber einen Begriff in dem – weithin üblichen – Definitionsartikel selbst definiert hat.4 Und unzweifelhaft ist keine unionsautonome Definition gewollt, wenn der europäische Gesetzgeber für eine Definition auf das nationale Recht verweist. So sind etwa „Verbraucher“ und „Unternehmer“, wie sie in zahlreichen vertragsrechtlichen Richtlinien definiert sind, unionsautonome Begriffe, ebenso wie etwa der Garantiebegriff gem. Art. 1 Abs. 2 lit. e) der Kaufgewährleistungsrichtlinie5 (KGRL) oder jener der „Massenentlassung“ in Art. 1 Abs. 1 lit. a) der Massenentlassungsrichtlinie6 (MERL). Und umgekehrt verweisen die meisten arbeitsrechtlichen Richtlinien für die Begriffe „Arbeitnehmer“ oder „Arbeitnehmervertreter“ auf das nationale Recht, sie sind also nicht unionsautonom auszulegen.7

4

Daneben gibt es aber zahlreiche Begriffe, für die es weder eine eigene Definition noch eine Verweisung gibt, wie z.B. die Begriffe der „Entlassung“ und „Kündigung“ in der

5

1 Dazu an dieser Stelle nur die Hinweise von Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 532–534; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 49 f.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 625 f., 645–648. 2 Eingehend Baldus, in diesem Band, § 3; Neuner, in diesem Band, § 13 Rn. 2. S.a. Colneric, ZEuP 2005, 225, 230. 3 Dabei geht es nicht um die Autonomie der Auslegungsmethode, sondern um die Autonomie der auszulegenden Regelung; treffend Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 80–86. 4 EuGH v. 14.5.1985 – Rs. 139/84 van Dijk’s Boekhuis, Slg. 1985, 1405 Rn. 16. 5 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. 6 Richtlinie 98/59/EG des Rates v. 20.6.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen, ABl. 1998 L 225/16. 7 Näher Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 1 Rn. 2 f.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Massenentlassungsrichtlinie. Ob auch solche Begriffe unionsautonom auszulegen sind, erörtert der EuGH in jüngerer Zeit ausdrücklich vorab. In der Tat ist die Frage keineswegs selbstverständlich zu bejahen.8 Beruht das Europäische Privatrecht – wie in weiten Teilen des Privatrechts ganz unvermeidlich der Fall – auf der Rechtstradition der Mitgliedstaaten, so könnten seine Regelungen auch als eine Verweisung auf die mitgliedstaatlichen Rechte oder das Recht eines Mitgliedstaats zu verstehen sein. Das könnte vor allem dann naheliegen, wenn ein Rechtsakt der Europäischen Union nach dem Vorbild einer mitgliedstaatlichen Regelung gestaltet wurde: Wenn die Handelsvertreterrichtlinie dem Vorbild des deutschen Rechts folgt, kann man erwägen, sie ebenso auszulegen.

6

Indes deutet schon die bloß vereinzelte Verweisung auf das nationale Recht darauf hin, dass eine Verweisung sonst nicht gewollt war. Liegt der innere Grund für solche Verweisung in den Grenzen der Rechtsangleichung, so bedeutet die Rechtsangleichung soweit sie reicht im Grundsatz auch, dass ein autonomes unionsrechtliches Konzept geschaffen werden sollte. Wer angleichen will, muss einen Maßstab schaffen.9 Durch dynamische Verweisung auf den jeweiligen Stand der nationalen Auslegung würde das europäische Recht seine Autonomie preisgeben, bei statischer Verweisung auf den ursprünglichen Stand würde es versteinern. Darüber hinaus würde jegliche Verweisung den Grundsatz der Gleichberechtigung der Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten in Frage stellen. In einer Gemeinschaft Gleicher kann dieser gemeinsame Maßstab aber gerade nicht in einem der nationalen Rechte liegen, sonst wären Angehörige des „vorbildlichen“ Landes bei Rechtssuche und rechtlicher Argumentation im Vorteil. In seinem Urteil vom 27. Januar 2005 im Fall Junk hebt der EuGH ebendies hervor. Es ging (insbesondere) um die Auslegung des Begriffs der „Entlassung“ in der Massenentlassungsrichtlinie, den man in Deutschland aufgrund einer arbeitsmarktpolitisch verstandenen Zwecksetzung als „tatsächliche Beendigung“ auslegte und nicht als „Kündigungserklärung“. Ungeachtet der gewissen Anlehnung der Richtlinie an das Vorbild des deutschen Rechts legte der Gerichtshof die Regelung gemeinschaftsautonom aus: „Für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits muss also der Inhalt des Begriffes ,Entlassung‘ im Sinne der Richtlinie bestimmt werden. In Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie wird der Begriff ,Massenentlassungen‘ definiert, aber weder angegeben, welcher Umstand eine Entlassung bewirkt, noch insoweit auf das Recht der Mitgliedstaaten verwiesen. Hierzu ist daran zu erinnern, dass die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts und der Gleichheitssatz verlangen, dass Begriffe einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Gemeinschaft autonom und einheitlich ausgelegt werden, wobei diese Auslegung unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und des mit der Regelung verfolgten Zweckes zu ermitteln ist. Der Begriff ,Entlassung‘ im Sinne der Artikel 2 bis 4 der Richt-

8 Dazu bereits Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529. 9 Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1. Teil Rn. 140, 143; Kerwer, Das europäische Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte, S. 797 ff. (freilich im Folgenden differenzierend nach Rechtsaktsformen).

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§ 11 Die Auslegung linie ist daher in der Gemeinschaftsrechtsordnung autonom und einheitlich auszulegen.“10

Der Gerichtshof geht demnach gleichsam von einer Vermutung für die autonome Auslegung aus („in der Regel“)11 und begründet das mit den oben (Rn. 6) angestellten Erwägungen zur einheitlichen Anwendung und der Gleichbehandlung.12 Tatsächlich entspricht diese Vermutung dem Regelsachverhalt: Wenn jemand eine einheitliche Regelung schafft, dann will er sie normalerweise nicht zur Disposition der Unterworfenen stellen. Sofern er das ausnahmsweise will, wird (und muss) er diesen Willen klar hervorheben.

7

Allerdings kann sich eine Verweisung auf das nationale Recht auch ohne ausdrückliche Regelung ergeben. Das hat der EuGH v.a. dann angenommen, wenn eine einheitliche Begriffsbildung nicht möglich war13 oder die bisher nur teilweise erfolgte Harmonisierung dies gebot14.15

8

10 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 27–30 (Nachweise weggelassen); dazu Riesenhuber/Domröse, EWS 2005, 97–103. Ferner (auch zum sonstigen Sekundärrecht) EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-5/08 Infopaq, (noch nicht in Slg.) Rn. 27; EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-55/02 Kommission ./. Portugal, Slg. 2004, I-9387 Rn. 45; EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C-287/98 Linster, Slg. 2000, I-6917 Rn. 43; EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-449/93 Rockfon, Slg. 1995, I-4291 Rn. 25, 28; EuGH v. 18.1.1984 – Rs. 327/82 Ekro, Slg. 1984, 107 Rn. 11; EuGH v. 14.1.1982 – Rs. 64/81 Corman ./. Hauptzollamt Gronau, Slg. 1982, 13 Rn. 8. 11 Ebenso EuGH v. 9.11.2000 – Rs. C-357/98 Yiadom, Slg. 2000, I-9265 Rn. 26; EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C-287/98 Linster, Slg. 2000, I-6917 Rn. 43; EuGH v. 18.1.1984 – Rs. 327/82 Ekro, Slg. 1984, 107 Rn. 11; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 19 („eigene, besondere Terminologie“); für das Primärrecht EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend & Loos, Slg. 1953, 1, 25. GA Trstenjak, SchlA v. 11.9.2008 – Rs. C-180/06 Ilsinger, Slg. 2009, I-3961 Tz. 54. 12 Selbst wenn eine Regelung den Zweck hat, vorbestehendes nationales Recht eines bestimmten Mitgliedstaats als richtlinienkonform abzusichern, hat der EuGH sie autonom ausgelegt und eine Auslegung mit Rücksicht auf die vorbestehende mitgliedstaatliche Regelung abgelehnt; EuGH v. 18.10.2001 – Rs. C-441/99 Gharehveran, Slg. 2001, I-7687 Rn. 21–28. 13 Etwa EuGH v. 7.7.1992 – Rs. C-369/90 Micheletti, Slg. 1992, I-4239 Rn. 10–15 (Staatsangehörigkeit); EuGH v. 6.10.1976 – Rs. 12/76 Tessili, Slg. 1976, 1473 Rn. 14 (Erfüllungsort im Rahmen des EuGVÜ). Ein differenziertes Ergebnis begründet EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, Slg. 2001, I-3569 Rn. 25–27 für den Schadensbegriff, der in Eckdaten von der Produkthaftungsrichtlinie vorgegeben wird, i.E. aber von den Mitgliedstaaten zu definieren ist. 14 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 Danmols Inventar, Slg. 1985, 2639 Rn. 22–27 (jetzt freilich Art. 1 lit. d) BÜRL). 15 Eingehende Analyse der Rechtsprechung bei Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 475–503 (der Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage der Unterscheidung von Verordnung und Richtlinie, der gewählten Kompetenzgrundlage, und der Unterscheidung von aktiver und reaktiver Rechtsangleichung entnehmen möchte); ferner Scheibeler, Begriffsbildung durch den Europäischen Gerichtshof – autonom oder durch Verweis auf die nationalen Rechtsordnungen? (2004) (mit Ausarbeitung von Indizien). Karl Riesenhuber

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2. Teil: Allgemeiner Teil

II.

Ziel der Auslegung

9

Es ist ein alter Streit, was das richtige Ziel der Auslegung ist: der subjektiv-historische Gesetzgeberwille oder der objektiv-geltungszeitliche Normzweck.16 Die aus der nationalen Methodenlehre bekannten Erwägungen gelten entsprechend für das Europäische Privatrecht.

10

Für die subjektive Theorie sprechen das Demokratieprinzip und der Gewaltenteilungsgrundsatz.17 Auch im Unionsrecht sind Rechtsetzungsaufgabe und Rechtsprechungsaufgabe getrennt, man spricht vom „institutionellen Gleichgewicht“ der Organe.18 Damit bezeichnet der EuGH das in den Verträgen vorgesehene „System der Zuständigkeitsverteilung zwischen den verschiedenen Organen der Gemeinschaft (…), das jedem Organ seinen eigenen Auftrag innerhalb des institutionellen Gefüges der Gemeinschaft und bei der Erfüllung der dieser übertragenen Aufgaben zuweist.“ 19 Das institutionelle Gleichgewicht ist zwar nicht gleichbedeutend mit dem staatlichen Prinzip der Gewaltenteilung, da vor allem die Grenzlinie zwischen Legislative und Exekutive auf der Ebene der Europäischen Union nicht gleichermaßen scharf gezogen ist.20 Die Stellung des Gerichtshofs weist jedoch „recht deutliche staatstypische Parallelen“ auf,21 gerade auch darin, dass ihm die Aufgabe der „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung“ zukommt, aber grundsätzlich keine Rechtsetzungskompetenz.22 Zu den „Leitprinzipien der […] Union“ gehört aber 16 Eingehend Larenz, Methodenlehre, S. 32–35, 316–320. An der Differenzierung von Auslegungsmittel und Auslegungsziel zweifelnd Schroth, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart (7. Aufl. 2004), 6.3.3.2 (S. 284); von der „Unbrauchbarkeit der ,subjektiven‘ und der ,objektiven Theorie‘ sprechen Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 442–444; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 627–632. Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 850 f. hält eine Unterscheidung für unmöglich. Vgl. auch die (auch rechtsvergleichende) Übersicht bei Gruber, Die Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 86–108 (freilich allgemein für „internationales Einheitsrecht“). 17 Neuner, in diesem Band, § 13 Rn. 18; ders., Privatrecht und Sozialstaat, S. 193; für das nationale Recht Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 704–713; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 144, 147 f.; ders./Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 7. A.A. Kaltenborn, FS Schnapp (2008), S. 779–796; Schulte-Nölke, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 158 f. 18 Dazu etwa EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 17 f.; EuGH v. 22.5.1990 – Rs. C-70/88 Parlament ./. Rat, Slg. 1990, I-2041 Rn. 21–28; EuGH v. 29.10.1980 – Rs. 138/79 Roquette, Slg. 1980, 3333 Rn. 33; EuGH v. 5.5.1981 – Rs. 804/79 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, Slg. 1981, 1045 Rn. 23; EuGH v. 13.6.1958 – Rs. 9/56 Meroni I, Slg. 1958, 9, 44; EuGH v. 13.6.1958 – Rs. 10/56 Meroni II, Slg. 1958, 51, 82. Calliess/Ruffert-Calliess Art. 7 EG Rn. 7–15. 19 EuGH v. 22.5.1990 – Rs. C-70/88 Parlament ./. Rat, Slg. 1990, I-2041 Rn. 21. 20 Siehe nur H.P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht (1972), S. 317–321. 21 Calliess/Ruffert-Calliess, Art. 7 EG Rn. 7. 22 A.M. Borchardt, GS Grabitz (1995), S. 39, der von einer „konkurrierenden Zuständigkeit“ von EuGH und Legislative zur Rechtsetzung spricht, die Kompetenz des Gerichtshofs dann aber – allerdings wohl nur unter dem Gesichtspunkt der Selbstbeschränkung – auf Fälle beschränkt, in denen der Gesetzgeber „aus sachlich nicht gerechtfertigten Gründen“ keine Regelung vorgesehen hat.

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Karl Riesenhuber

§ 11 Die Auslegung

auch das Demokratieprinzip, Art. 2, 10 EUV/6 Abs. 1 EU.23 Im Gesetzgebungsverfahren wird es durch das Parlament einerseits, aber auch durch die Vertreter im Rat andererseits verwirklicht, die in den Mitgliedstaaten demokratisch legitimiert sind.24 Wenn daher auch im Unionsrecht Rechtsetzung und Rechtsprechung getrennt werden und es die Aufgabe der demokratisch legitimierten Organe ist, Recht zu setzen, dann muss man bei der Auslegung den subjektiven Gesetzgeberwillen ermitteln. Demgegenüber soll nach der objektiven Theorie die objektive Bedeutung der Normen ermittelt werden, so wie sie sich im Entscheidungszeitpunkt darstellt.25 Sie stützt sich ihrerseits auf das – gleichfalls verfassungsrechtlich begründete – Gebot der Rechtssicherheit, das gebietet, das Vertrauen auf den veröffentlichten Wortlaut des Rechtsakts (Art. 297 AEUV/254 Abs. 1, 2 EG) zu schützen. Ein aus dem Wortlaut vielleicht nicht ersichtlicher und womöglich schwer zugänglicher Wille des Gesetzgebers könne daher nicht berücksichtigt werden. Zudem verlangten die sich andauernd ändernden tatsächlichen Verhältnisse und das sich ändernde Gesamtsystem des Rechts Berücksichtigung bei der Auslegung. Nicht zuletzt spricht auch die unvermeidliche Eigenständigkeit des Gesetzes, das sich mit der Anwendung weiterentwickelt, für die objektive Theorie.26

11

Bereits diese Begründungen deuten an, dass beide Lehren nicht in einem Verhältnis strenger Alternativität stehen, sondern sich durchaus ergänzen können („Vereinigungstheorie“).27 Mit Rücksicht auf die auch im supranationalen Unionsrecht fundamentalen Prinzipien der Demokratie und der Gewaltenteilung muss es allerdings im Ausgangspunkt um die Ermittlung des Gesetzgeberwillens gehen. Auch nach der Ansicht des EuGH, sind Vorschriften des Unionsrechts „nach dem wirklichen Willen ihres Urhebers und dem von diesem verfolgten Zweck“ auszulegen.28 Anders als im Primärrecht steht dem im Sekundärrecht regelmäßig nicht entgegen, dass dieser Wille nicht erkennbar sei: Entsprechend dem Begründungsgebot des Art. 296 Abs. 2 AEUV/253 EG sind die Rechtsakte mit (zunehmend eingehenden) Begründungserwägungen versehen und gibt es zudem aus dem Rechtsetzungsverfahren üblicherweise eingehende Begründungen zu Kommissionsvorschlägen und Änderungen im Gesetzgebungsverfahren (nachfolgend, Rn. 33). Diese Erwägungen schließen es indes nicht aus, Veränderungen der tatsächlichen Verhältnisse, vor allem aber auch des recht-

12

23 Dazu etwa EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 17. 24 BVerfGE 89, 155, 184–187 – Maastricht. 25 Tendenziell etwa Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 428–436; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 137–141. Kritisch besonders Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 806–815. 26 Larenz, Methodenlehre, S. 317 f. 27 Für das europäische Privatrecht jetzt Herresthal, ZEuP 2009, 600, 606 f.; bestätigend auch Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 278 f. (Analyse der Rechtsprechung des EuGH; anders, stärker zur objektiven Theorie tendierend, freilich S. 372–377 für die rechtsvergleichend begründete „europäische Methodenlehre“). Allgemein Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 139 f. 28 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 33; EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 26/69 Stauder, Slg. 1969, 419 Rn. 3; EuGH v. 7.7.1988 – Rs. 55/87 Moksel, Slg. 1988, 3845 Rn. 15; EuGH v. 20.11.2001 Rs. C-268/99 Jany, Slg. 2001, I-8615 Rn. 47. Karl Riesenhuber

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2. Teil: Allgemeiner Teil

lichen Umfeldes Rechnung zu tragen. Im Hinblick auf das rechtliche Umfeld ist das nicht zuletzt wegen des in vielen Fällen real nachweisbaren, jedenfalls aber zu vermutenden „Systembildungswillens“ des Gesetzgebers29 berechtigt (s. noch nachfolgend, Rn. 25). Allerdings ist der Gesetzgeberwille in der verhältnismäßig jungen Europäischen Privatrechtsordnung meist feststellbar und spielen zudem objektive Elemente in einer nur rahmenhaft ausgeformten Rechtsordnung keine gleichermaßen starke Rolle wie etwa im deutschen BGB.30

III. Kriterien der Auslegung 13

14

Nach der in Deutschland und auch in anderen Ländern weithin üblichen Einteilung kann man ungeachtet fließender Übergänge und teilweiser Überschneidungen vier Auslegungskriterien unterscheiden, die grammatikalische, die historische, die systematische und die teleologische Auslegung.31 1.

Die grammatikalische Auslegung

a)

Ausgangspunkt für die Auslegung

In nahezu jeder Entscheidung gibt der EuGH zunächst die umstrittene(n) Norm(en) wörtlich wieder und beginnt die Auslegung, entsprechend „allgemein anerkannten Auslegungsprinzipien“, beim Wortlaut.32 Dabei ist nach unseren Vorüberlegungen (oben, Rn. 4–8) zunächst zu ermitteln, ob die Wortwahl autonom-unionsrechtlich oder als Verweisung auf das mitgliedstaatliche Recht zu verstehen ist. Für ersteres spricht allerdings eine Vermutung (oben, Rn. 7). b)

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Wortlaut und Sprachenvielfalt

Das wichtigste eigenständige Problem der Wortlautauslegung im Unionsrecht bildet die Sprachenvielfalt.33 Die nunmehr 23 sprachlichen Fassungen von Rechtsakten der

29 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 24; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 8 f. 30 S.a. Bleckmann, Europarecht, Rn. 554. 31 Bankowski/MacCormick/Summers/Wróblewski, in: MacCormick/Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes, S. 25–27; Kropholler, Internationales Einheitsrecht (1975), S. 260 f.; Lando/Beale (Hrsg.), Principles of European Contract Law, Parts 1 and 2 (1999), S. 109, Note 1; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 114–118; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, passim. Zu der auf Savigny zurückgehende Unterscheidung Baldus, in diesem Band, § 3 Rn. 22–38. Exemplarisch EuG v. 8.7.2008 – Rs. T-99/04 AC-Treuhand, Slg. 2008, II-1501 Rn. 114 ff. (zur Auslegung von Art. 81 EG). 32 EuGH v. 23.3.1982 – Rs. 55/81 Levin, Slg. 1982, 1035 Rn. 9; EuGH v. 11.11.1997 – Rs. C-251/95 Sabèl, Slg. 1997, I-6191 Rn. 18; EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685 Rn. 31–33. GA Trstenjak, SchlA v. 4.6.2008 – Rs. C-324/07 Coditel Brabant, Slg. 2008, I-8457 Tz. 73. 33 Monographisch Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht. Das Sachproblem ist freilich schon aus mehrsprachigen nationalen Rechtsordnungen sowie dem internationalen Einheitsrecht bekannt; Neuner, in diesem Band, § 13 Rn. 6; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 134.

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§ 11 Die Auslegung

Union34 sind grundsätzlich gleich autoritativ, so dass nicht eine Vorrang vor der anderen beanspruchen kann.35 Daher muss die Wortlautauslegung grundsätzlich alle sprachlichen Fassungen berücksichtigen.36 Im Verfahren vor dem EuGH erfolgt das öfter durch Erklärungen der Mitgliedstaaten, die ihrerseits von den jeweiligen Sprachfassungen ausgehen. Nicht selten erweist sich dabei, dass die unionsrechtliche Rechtssprache nicht annähernd so ausgefeilt ist wie die nationale Rechtssprache.37 Diesem Defizit können auch die in den Rechtsakten üblichen Begriffsbestimmungen nicht vollständig abhelfen, da sie sich regelmäßig nur auf wenige tragende Konzepte beziehen, darüber hinaus aber weitere Begriffe und Regelungen autonom auszulegen sind (s.o., Rn. 4–8). In keinem Fall kann die Auslegung beim Wortlaut bereits stehenbleiben. Ergibt sich aus dem notwendigen Vergleich der sprachlichen Fassungen keine Divergenz oder lassen sich zumindest alle Fassungen in einem Sinne verstehen, so ist das zwar ein starkes Indiz für die vom Wortlaut nahegelegte Auslegung.38 Dieses Indiz ist aber noch anhand anderer Auslegungskriterien zu bestätigen (anders die sog. acte clair-Doktrin)39.40 Ergibt sich umgekehrt – wie praktisch nicht selten der Fall – eine Divergenz

34 Seit dem 1.1.2007 ist Irisch – auch im Sekundärrecht – vollwertige Amtssprache. Nach Art. 5 VO (EWG) 1/1958 erscheint das Amtsblatt grundsätzlich in allen Amtssprachen. Art. 2 VO (EG) 920/2005 sieht aber eine fünfjährige Übergangsfrist vor, in der Sekundärrechtsakte grundsätzlich nicht ins Irische übersetzt werden müssen; ausgenommen davon sind Verordnungen, die gemeinsam von Parlament und Rat erlassen werden. 35 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 18. Verordnung (EWG) Nr. 1/1958 des Rates v. 15.4.1958 zur Regelung der Sprachenfrage für die europäische Wirtschaftsgemeinschaft, ABl. 1958 17/385; Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union (8. Aufl. 2009), § 7 Rn. 52. S.a. Armbrüster, EuZW 1990, 246–248. Nicht unbedenklich ist daher der faktische Vorrang des Französischen als Arbeitssprache des Gerichtshofs, zumal wenn andere Sprachfassungen nur berücksichtigt werden, wenn Verfahrensbeteiligte (zufällig?) Divergenzen aufdecken; zur Praxis des EuGH Colneric, ZEuP 2005, 225, 227. Einen Sonderfall (völkervertraglicher Hintergrund) betrifft EuGH v. 9.12.1997 – Rs. C-143/96 Knubben, Slg. 1997, I-7039 Rn. 15; unter methodischem Aspekt krit. Anm. v. Schilling, EuZW 1998, 211 f. 36 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 107/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1985, 2655 Rn. 10–12; EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 26/69 Stauder, Slg. 1969, 419 Rn. 3; EuGH v. 20.11.2001 – Rs. C-268/99 Jany, Slg. 2001, I-8615 Rn. 47. Krit. Bewertung der Praxis des EuGH SchübelPfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 168 ff. (die selbst Aspekte des Vertrauensschutzes berücksichtigen möchte, S. 322 ff.) sowie Rebhahn, in diesem Band, § 18 Rn. 17–19. 37 Vgl. Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 179 f. 38 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 19/83 Wendelboe, Slg. 1985, 457 Rn. 13–15. 39 In Richtung einer acte clair-Doktrin weist etwa EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 16, doch wird sie am Ende nicht übernommen, Rn. 20; eingehende Analyse der EuGH-Rechtsprechung bei Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. 1, S. 358–383. Gegen die acte clair-Doktrin etwa Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 258; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 143–146; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 144. Für Beschränkung auf die Wortauslegung bei klarem Wortlaut aber Leisner, EuR 2007, 689, 701. 40 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 107/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1985, 2655 Rn. 10–20 (Bestätigung des schon als „eindeutig“ erkannten Wortlauts durch systematische und teleologische Erwägungen); EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 19/83 Wendelboe, Slg. 1985, 457 Rn. 13–15. Karl Riesenhuber

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2. Teil: Allgemeiner Teil

der Sprachfassungen, so muss diese mit Hilfe anderer Auslegungsmittel aufgelöst werden.41 „Nach ständiger Rechtsprechung verbietet die Notwendigkeit einheitlicher Anwendung und damit Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, sie in einer ihrer Fassungen isoliert zu betrachten, sondern gebietet vielmehr, sie nach dem wirklichen Willen ihres Urhebers und dem von diesem verfolgten Zweck namentlich im Licht ihrer Fassung in allen Sprachen auszulegen.“42

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Zuvor können sich allerdings schon aus dem Wortlaut Indizien für eine bestimmte Auslegung ergeben. Keine große Hilfe ist aber von der Untersuchung der Arbeitssprache des Gesetzgebers zu erwarten,43 der gelegentlich größeres Gewicht beigemessen wird44. Das ist schon wegen der Gleichwertigkeit aller Sprachen problematisch, zudem deswegen, weil die Arbeitssprache im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens oder in verschiedenen Gremien wechseln mag und endlich, weil sie nicht offiziell und nicht veröffentlicht ist.

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Fruchtbar machen kann man aber im Einzelfall den – auch im nationalen Recht anerkannten – grundsätzlichen Vorrang des spezifischen Gesetzessprachgebrauchs vor dem allgemeinen Sprachgebrauch.45 Verwendet eine sprachliche Fassung einen juristisch-technischen Begriff oder den spezifischeren oder präziseren Terminus, so kann diese Bedeutung vorzuziehen sein, wenn sich auch die anderen Sprachfassungen in diesem Sinne verstehen lassen.46 Bekannt ist etwa das primärrechtliche Beispiel der Auslegung von Art. 288 Abs. 3 AEUV/ 249 Abs. 3 EG: Entsprechend dem spezifischeren Wortlaut der romanischen Sprachen sind Ergebnisvorgaben in Richtlinien zulässig, nicht nur Zielvorgaben, auf die die deutsche Fassung hindeutet.47 Freilich hilft der technische Wortlaut nicht immer weiter. So definiert z.B. die englische Fassung der Massenentlassungsrichtlinie die Massenentlassung als dismissal, also mit dem normativen Begriff der Kündigung, die deutsche verwendet hingegen den (eher) deskriptiven Begriff der Beendigung. Für die Auslegung war dem Wortlaut indes nicht mehr als der Zweifel zu entnehmen, da die Regelung im Übrigen

41 EuGH v. 27.10.1977 – Rs. 30/77 Boucherau, Slg. 1977, 1999 Rn. 13/14; EuGH v. 7.7.1988 – Rs. 55/87 Moksel, Slg. 1988, 3845 Rn. 15; EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-72/95 Aannemersbedrijf Kraaijeveld, Slg. 1996, I-5403 Rn. 28; EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-448/93 Rockfon, Slg. 1995, I-4291 Rn. 28; EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels, Slg. 1985, 469 Rn. 11–13; EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 29/69 Stauder, Slg. 1969, 419 Rn. 3–4; EuGH v. 20.11.2001 – C-268/99, Jany, Slg. 2001, I-8615 Rn. 47. 42 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 33 (Nachweise weggelassen). 43 Für das Gemeinschaftsrecht ebenso Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 139–142. 44 Vgl. Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 8 Rn. 21 („begrenzte Hilfe“); das ist freilich vielleicht nur als empirischer Befund gemeint. 45 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 439 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 322; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 119–121; diff. Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 125–130. 46 Vgl. GA Lord Slynn, SchlA v. 8.11.1984 – Rs. 19/83 Wendelboe, Slg. 1985, 457, 459 f., vom Gerichtshof i.Erg. übernommen, vgl. aaO Rn. 13. 47 Gegen eine Beschränkung auf bloße Zielvorgaben schon H.P. Ipsen, FS Ophüls (1965), S. 67, 73 f.; heute unstr.

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§ 11 Die Auslegung zeigt, dass der Gesetzgeber die Begriffe (dismissal, Beendigung) nicht bewusst unterschieden, sondern allein aus Gründen sprachlicher Konvenienz verwandt hat.48

Im Ergebnis führt die Ermittlung des Wortsinns meist nur zu einer Eingrenzung der möglichen Auslegungsergebnisse, wobei die Sprachenvielfalt verbunden mit dem Grundsatz der Gleichwertigkeit aller Sprachen die Wortsinngrenze tendenziell erweitert. Aber auch ein (vermeintlich) eindeutiger Wortsinn bedarf der Bestätigung durch weitere Überlegungen. Die weitere Konkretisierung oder Bestätigung muss mit Hilfe anderer Kriterien gesucht werden.

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Kommt damit dem Wortsinn bei der Auslegung ein geringerer Grad der Steuerung zu als in einem einsprachigen Rechtssystem, so ist seine fundamentale Bedeutung doch nicht zu leugnen. Insbesondere ist auch im Unionsrecht der Wortsinn die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung.49

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c)

Relativität der Rechtsbegriffe

Im Unionsrecht ist ebenso wie im nationalen Recht die Relativität der Rechtsbegriffe zu beachten:50 Derselbe Begriff kann in verschiedenen Zusammenhängen Unterschiedliches bedeuten. Innerhalb des Europäischen Privatrechts ist das mit einer fortschreitenden Ausbildung auch des äußeren Systems (sogleich Rn. 22–29) allerdings grundsätzlich nicht zu vermuten. Das Europäische Arbeits- und Gesellschaftsrecht sind bereits seit Längerem weitgehend durchstrukturiert, und auch im Europäischen Vertragsrecht hat die Kommission die Kohärenzaufgabe jetzt erkannt51 und auch schon bei einzelnen Rechtsetzungsvorhaben im Ansatz aufgegriffen.52 In Einzelfällen haben dieselben Begriffe in verschiedenen Rechtsakten unterschiedliche Bedeutung. Zum Beispiel heißt der Reisende in der Pauschalreiserichtlinie53 „Verbraucher“, obwohl es nicht im technischen Sinne um einen Verbraucher als eine natürliche Person geht, die zu privaten Zwecken handelt. Und das in der ursprünglichen Fassung der Timesharing-Richtlinie54 vorgesehene Rücktrittsrecht war der Sache nach ein Widerrufsrecht; das ist durch die Überarbeitung von 200855 klargestellt worden. 48 Riesenhuber/Domröse, EWS 2005, 97, 98 f. 49 Näher Neuner, in diesem Band, § 13 Rn. 2 f. Zu den historischen Wurzeln näher Baldus, in diesem Band, § 3 (selbst zweifelnd, Rn. 94 ff.). 50 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 141 f.; Wank, Die juristische Begriffsbildung (1985), S. 110–122. S. schon Müller-Erzbach, JherJb 61 (1912), 343–384. 51 Eingehend Mitteilung der Kommission vom 11.7.2001 an den Rat und das Europäische Parlament zum Europäischen Vertragsrecht, KOM(2001) 398 endg, bes. Rn. 34. 52 S. z.B. – freilich mit stärkerem Bezug zum inneren System – die Erklärung des Rates und des Parlaments zu Art. 6 Abs. 1 FARL, abgedruckt bei Schulze/Zimmermann, Basistexte zum Europäischen Privatrecht (3. Aufl. 2006), I.25 a.E. (S. 123); BE 11 EComRL. 53 Richtlinie 90/314/EWG des Rates v. 13.6.1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 L 158/59. 54 Richtlinie 94/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.10.1994 zum Schutz der Erwerber im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Verträgen über den Erwerb von Teilzeitnutzungsrechten an Immobilien, ABl. 1994 L 280/83. 55 Richtlinie 2008/122/EG des Parlaments und des Rates v. 14.1.2009 über den Schutz der Verbraucher im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Teilzeitnutzungsverträgen, Verträgen über langfristige Urlaubsprodukte sowie Wiederverkaufs- und Tauschverträgen, ABl. 2009 L 33/10.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

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2.

Die systematische Auslegung 56

a)

Der sprachliche Bedeutungszusammenhang

Die Auslegung kann nicht bei einzelnen Wörtern stehenbleiben, sondern muss sie in dem Bedeutungszusammenhang sehen, in den sie der Gesetzgeber gestellt hat. Dabei geht es zuerst – in Fortsetzung der Wortauslegung – um die Berücksichtigung des sprachlichen Kontextes, in dem ein Ausdruck verwendet wird. Für die Auslegung eines Wortes ist der Satzzusammenhang, für das Verständnis eines Satzes der Textzusammenhang entscheidend. Das ist freilich noch keine systematische Auslegung, sondern Bestandteil der grammatikalischen Auslegung. b)

Der rechtlich-systematische Bedeutungszusammenhang

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Bei der eigentlichen systematischen Auslegung geht es darum, eine Rechtsnorm als Bestandteil eines (äußerlich und innerlich) geordneten Regelungsganzen zu verstehen und durch ihre Stellung in diesem System Rückschlüsse auf ihre Bedeutung zu ziehen. Das ist ungeachtet seines oft beklagten „pointillistischen“ oder „fragmentarischen“ Charakters auch im Europäischen Privatrecht möglich, zumal angesichts einer zunehmenden Regelungsdichte.57 Ganz selbstverständlich sind seine Regeln äußerlich geordnet, es kann ihnen aber auch eine innere Ordnung entnommen werden.58 Beachtet man zudem das der Rechtsangleichung zugrunde liegende Harmonisierungskonzept, so lässt sich das Europäische Privatrecht auch als (weitgehend) vollständig und nur in einzelnen Punkten lückenhaft (bzw. in Entstehung befindlich) verstehen.

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Dementsprechend kann man zunächst die äußere Ordnung der Rechtsvorschriften in Rechtsakte, Abschnitte und Artikel für die Auslegung fruchtbar machen.59 Z.B. hat der EuGH die Frage, ob Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 Betriebsübergangs-Richtlinie 197760 bedeute, dass auch vor dem Übergangszeitpunkt entstandene Ansprüche auf den

56 Zur primärrechtskonformen Auslegung Leible/Domröse, in diesem Band, § 9; zu der – das mitgliedstaatliche Recht betreffenden – richtlinienkonformen Auslegung Roth, in diesem Band, § 14. Allgemein zur systemkonformen Auslegung die gleichnamige Arbeit von Höpfner. 57 Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 158–160; Herresthal, ZEuP 2009, 600, 605 f. Zweifelnd noch Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 12 f. (freilich insoweit ohne Analyse der Rechtsprechung des EuGH); Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 10. 58 Für das Vertragsrecht Riesenhuber, System und Prinzipien, passim. Die gemeinschaftsrechtliche Akzeptanz (besonders im Hinblick auf die common-law-Tradition) bezweifelnd Colneric, ZEuP 2005, 225, 230; Flessner, JZ 2002, 14, 15 f.; wohl auch Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 252, 254. 59 Z.B. EuGH v. 19.11.2009 – verb. Rs. C-402 und C-432/07 Sturgeon, (noch nicht in Slg.) Rn. 29–39 (Auslegung der Begriffe „Verspätung“ und „Annullierung“ in der Flugannullierungsverordnung); EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-112/99 Toshiba, Slg. 2001, I-7945 Rn. 35; EuGH v. 11.11.1997 – Rs. C-251/95 Sabel, Slg. 1997, I-6191 Rn. 20–24; EuGH v. 12.3.1996 – Rs. C-441/93 Pafitis, Slg. 1996, I-1347 Rn. 18–24 (Anwendbarkeit der 2. gesellschaftsrechtlichen Richtlinie auf Aktiengesellschaften des Banksektors). 60 Richtlinie 77/187/EWG des Rates v. 14.2.1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von

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§ 11 Die Auslegung Erwerber übergehen, mit zwei systematischen Erwägungen bejaht. Erstens deute die Ermächtigung der Mitgliedstaaten in UAbs. 2 darauf hin, wenn sie die Haftung des Veräußerers auch auf nachträglich entstandene Ansprüche erstrecken können. Zweitens spreche die Vorschrift des Absatz 3 a.F. (vgl. jetzt Absatz 4 lit. a) BÜRL) für dieses Ergebnis, die nur einzeln aufgezählte Fälle von der Übergangsanordnung ausnimmt.61

Schon die teleologische Auslegung ist berührt, wenn man das Verständnis einer Vorschrift mit Rücksicht auf das innere System ermittelt und dazu die Teleologie des Regelungsganzen und seine innere Ordnung durch Prinzipien berücksichtigt.62 Diese prinzipiell-systematische Auslegung63 hat auch im Europäischen Privatrecht ihren Platz.64 Auch hier ist „jede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in ihrem Zusammenhang zu sehen und im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts, seiner Ziele und seines Entwicklungsstands zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift auszulegen“.65 Die Vielzahl der einzelnen Regeln steht nicht unverbunden nebeneinander, sondern ist vom Gesetzgeber als ein zusammenhängendes, nach Prinzipien geordnetes widerspruchsfreies Ganzes gewollt.66

25

Tatsächlich lässt sich ein Systembildungswille des Gesetzgebers zunehmend häufig nachweisen, ungeachtet der Tatsache, dass die Auswahl der Regelungsbereiche (Harmonisierungskonzept) 67 nicht auf die Schaffung eines im pandektischen Sinne vollständigen Zivilrechtssystems gerichtet ist.68 So hat die Kommission z.B. in den Er-

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Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen, ABl. 1977 L 61/26; inzwischen neu kodifiziert in Richtlinie 2001/23/EG des Rates v. 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen, ABl. 2001 L 82/16. EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels, Slg. 1985, 469 Rn. 36 f. Ferner z.B. EuGH v. 4.12. 1997 – Rs. C-97/96 Daihatsu, Slg. 1997, I-6843 Rn. 18–21 (Auslegung von Art. 44 Abs. 2 lit. g) EG im Lichte des Art. 3 lit. h) EG); EuGH v. 30.4.1998 – Rs. C-215/97 Bellone, Slg. 1998, 2191 Rn. 15. Beispielhaft EuGH v. 28.2.1980 – Rs. 67/79 Fellinger, Slg. 1980, 535 Rn. 7 f. Für das Primärrecht Bleckmann, Europarecht, Rn. 547–549; für das nationale Recht Bydlinski, Über prinzipiell-systematische Rechtsfindung im Privatrecht (1995); Larenz, Methodenlehre, S. 324. Daher ist es keineswegs erstaunlich, wenn gesagt wird, die systematische und die teleologische Auslegung gingen „untrennbar ineinander über“, Colneric, ZEuP 2005, 225, 227. Bydlinski, Über prinzipiell-systematische Rechtsfindung (1995). Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 27; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 99– 101, 154 f. und öfter („hoher Stellenwert“). EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 20. Ferner EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-97/96 Daihatsu, Slg. 1997, I-6843 Rn. 18–21; vgl. auch EuGH v. 31.3.1971 – Rs. 22/70 Kommission ./. Rat, Slg. 1971, 263 Rn. 15/19 – AETR; EuGH v. 22.4.1999 – Rs. C-423/97 Travel Vac, Slg. 1999, I-2216 Rn. 22 f. Übersicht bei Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 240–251. Vgl. EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 20. Zum Harmonisierungskonzept im Europäischen Vertragsrecht Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1. Teil Rn. 24–51; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 211–235; zum Harmonisierungskonzept im Europäischen Arbeitsrecht Grundmann, GS Blomeyer (2004), S. 71–97; zurückhaltend Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 1 Rn. 41–47; s.a. Rebhahn, in diesem Band, § 18 Rn. 34 ff. Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 55–58.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

läuterungen des Vorschlags einer Verkäuferhaftung für vorvertragliche Angaben (immerhin) auf die innere Verbindung zur Bindung des Reiseveranstalters (Vermittlers) an Prospektangaben hingewiesen.69 Aber auch die Rechtsprechung begreift die verschiedenen Einzelrechtsakte auf dem Gebiet des Privatrechts als zusammengehöriges Ganzes.70 Zum Beispiel kann die Entscheidung Heininger dienen, in der die Bundesrepublik vorgetragen hatte, die Regelung der Haustürgeschäfterichtlinie71 werde als lex generalis durch jene der Verbraucherkreditrichtlinie72 als lex specialis verdrängt; da aber die Verbraucherkreditrichtlinie ein Widerrufsrecht nicht vorschreibe, müsse es auch bei „an der Haustür“ geschlossenen Verbraucherkreditverträgen nicht vorgesehen werden. Wenn der Gerichtshof dem nicht gefolgt ist, so nicht deswegen, weil es den Systemgedanken als solchen abgelehnt hätte, sondern weil er die Schutzzwecke der Regelungen anders verstand, nämlich als komplementär.73

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Wenn der EuGH bei der Auslegung zudem auf die „Ziele“ des Unionsrechts hinweist, macht er deutlich, dass für die Auslegung nicht nur die äußeren, sondern vor allem die inneren Zusammenhänge von Bedeutung sind. Die Bedeutung der zugrundeliegenden Prinzipien für die Auslegung der Rechtsordnung der Union hat der EuGH besonders in seinem EWR-Gutachten hervorgehoben. Darin hat er u.a. ausgeführt, dass Bestimmungen in einem völkerrechtlichen Abkommen, die mit solchen des EGVertrags (heute AEUV) wörtlich übereinstimmen, nicht notwendig gleich ausgelegt werden müssen, sondern aufgrund der unterschiedlichen Zwecke unterschiedlich verstanden werden könnten.74 Diese Erwägungen beanspruchen auch im Sekundärrecht Geltung. c)

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Systematische Auslegung unter Berücksichtigung von Regelungsvorschlägen und -entwürfen?

Die Rabobank-Entscheidung des EuGH75 hat die Frage aufgeworfen, ob auch Regelungsentwürfe im Rahmen der systematischen Auslegung berücksichtigt werden kön69 Vgl. Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 465. 70 Z.B. EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Rn. 76. 71 Richtlinie 85/577/EWG des Rates v. 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31. 72 Richtlinie 87/102/EWG des Rates v. 22.12.1986 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, ABl. 1987 L 42/48; inzwischen aufgehoben durch Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/66. 73 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Rn. 37–39. 74 Vgl. EuGH v. 14.12.1991 – Gutachten 1/91 EWR-Abkommen, Slg. 1991, I-6079 Rn. 13–22 und 50f. Ferner EuGH v. 9.2.1982 – Rs. 270/80 Polydor, Slg. 1982, 329 Rn. 8, 14–20; EuGH v. 26.10.1982 – Rs. 104/81 Kupferberg, Slg. 1982, 3641 Rn. 30; EuGH v. 1.7.1993 – Rs. C-312/91 Metalsa, Slg. 1993, I-3751 Rn. 9–12; EuGH v. 12.12.1995 – Rs. C-469/93 Chiquita, Slg. 1995, I-4533 Rn. 52; EuGH v. 6.10.1976 – Rs. 12/76 Tessili, Slg. 1976, 1473 Rn. 9 a.E. Dazu Epiney/Felder, ZVglRWiss 100 (2001), 425–447 (Systembindung im Grundsatz anerkennend, aber anders als der EuGH im EWR-Gutachten weitgehend für irrelevant haltend). 75 EuGH v. 15.12.1997 – Rs. C-104/96 Rabobank ./. Minderhoud, Slg. 1997, I-7211.

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§ 11 Die Auslegung

nen.76 In dieser Entscheidung hat der EuGH angenommen, Art. 9 Abs. 1 Publizitätsrichtlinie (PublRL)77 lasse nationale Vorschriften über die Begrenzung der Vertretungsmacht wegen Interessenkonflikts unberührt.78 Diese Auslegung findet das Gericht in Art. 10 Abs. 1 und 4 des Entwurfs für eine Strukturrichtlinie (E-StruktRL)79 bestätigt. Denn nach diesen Vorschriften bedarf ein Vertrag der Gesellschaft, der die Interessen des Leitungs- oder Aufsichtsorgans berührt, zumindest der Genehmigung des Aufsichtsorgans (Art. 10 Abs. 1 E-StruktRL); der Mangel der Genehmigung kann Dritten entgegengehalten werden, die davon Kenntnis hatten oder haben mussten.80 Dass der Entwurf der Strukturrichtlinie für diesen Fall eine Regelung enthält, nimmt der Gerichtshof als ein Anzeichen dafür, dass die Kommission den Fall noch nicht als von der Publizitätsrichtlinie abgedeckt ansah, sondern ebenfalls davon ausging, die Regelung falle bislang in den Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten. Um eine systematische Auslegung kann es sich bei dieser Begründung schon deswegen nicht handeln, weil ein Entwurf nicht Gesetz und damit nicht Bestandteil des Systems ist.81 Diese Einschränkung ist keineswegs nur formal gerechtfertigt, sondern auch in der Sache, weil dem Kommissions(!)-Entwurf nicht die demokratische Legitimation des verabschiedeten Rechtsakts (Richtlinie, Verordnung) zukommt. Wegen dieses Mangels demokratischer Legitimation lässt sich aus einem Regelungsentwurf in keinem Fall eine Veränderung des bestehenden Systems begründen.82 Richtlinienvorschläge können indes in einer schwächeren Weise zum Verständnis des gesetzten Rechts beitragen, und zwar gerade in der Form, wie sie der EuGH in der RabobankEntscheidung verwendet hat, nämlich als ergänzendes Argument zur Bestätigung eines Auslegungsergebnisses.83 Soweit der Regelungsentwurf nur von der Kommission

76 Eingehend zur Vorwirkung von Gesetzen im Privatrecht Neuner, Die Vorwirkung von Gesetzen im Privatrecht, in: Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität und Wandel der Rechtsordnung (2002), S. 83–112 (der den hier erörterten Fall allerdings nicht der Vorwirkungsproblematik zuordnet, da erst ein Entwurf vorliegt; aaO S. 87 f.). 77 Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates v. 5.3.1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrags im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1968 65/8. 78 EuGH v. 15.12.1997 – Rs. C-104/96 Rabobank ./. Minderhoud, Slg. 1997, I-7211 Rn. 21–24. 79 Nachweise zu dem – mittlerweile zurückgezogenen – Richtlinienvorschlag bei Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 366, 404–408. 80 EuGH v. 15.12.1997 – Rs. C-104/96 Rabobank ./. Minderhoud, Slg. 1997, I-7211 Rn. 25–27. 81 So unzweideutig EuGH v. 12.3.1996 – Rs. C-441/93 Pafitis, Slg. 1996, I-1347 Rn. 43; GA Trstenjak, SchlA v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 Caja de Ahorros, (noch nicht in Slg.) Tz. 83. S.a. Neuner, in diesem Band, § 13 Rn. 20. 82 Zu weitgehend daher Schön, RabelsZ 64 (2000), 1, 7 f., der, unter der Voraussetzung, dass die Verabschiedung nicht schon durch „grundsätzliche Sachdifferenzen“ behindert wird, (wohl) auch Entwürfen „grundlegende Wertungen des Europäischen Gesellschaftsrechts … entnehmen“ möchte; so weit geht auch die Rabobank-Entscheidung nicht. 83 Ähnlich wohl EuGH v. 12.3.1996 – Rs. C-441/93 Pafitis, Slg. 1996, I-1347 Rn. 43 (im konkreten Fall das Gewicht des Arguments aus dem Vorschlag als gering veranschlagend); Hommelhoff, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 35. Karl Riesenhuber

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29

2. Teil: Allgemeiner Teil

kommt, hat er indes nicht das Gewicht einer authentischen Auslegung – die ja nur der Gesetzgeber selbst vornehmen könnte –, sondern lediglich die Bedeutung einer Stellungnahme der Kommission. 3.

30

Die historische und genetische Auslegung

Anders als im Primärrecht84 und entgegen mancher früheren Einschätzung85 spielt auch die historische und genetische Auslegung im Europäischen Privatrecht eine zentrale Rolle, bei der es um die Vorgeschichte und die Entstehungsgeschichte geht.86 a)

Der Gesetzgeber

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Verfolgt die Auslegung – mit der Vereinigungstheorie (oben, Rn. 12) – im Grundsatz das Ziel, den Gesetzgeberwillen zu ermitteln, so ist zunächst zu bestimmen, wessen Wille maßgeblich ist. Der demokratisch legitimierte Gesetzgeber, das sind nur die Gesetzgebungsorgane, deren Zustimmung den Rechtsakt im konkreten Fall trägt.87 Verschiedene Organe sind hingegen lediglich anzuhören – Wirtschafts- und Sozialausschuss (WSA), der Ausschuss der Regionen, teils auch das Europäische Parlament –; und auch die Kommission hat nur ein Initiativrecht und die Möglichkeit, Vorschläge zurückzuziehen, ihre Vorschläge können im Gesetzgebungsverfahren beliebig verändert werden88.

32

Indessen sind üblicherweise gerade (manchmal nur) die Vorschläge der Kommission eingehender begründet. Und auch die Stellungnahmen von Parlament, WSA, dem Ausschuss der Regionen oder der Europäischen Zentralbank (EZB) enthalten öfter weiterführende Erläuterungen. Sofern die entscheidenden Organe diese Erwägungen in ihren Willen aufgenommen haben, können sie auch für die Auslegung herangezo-

84 Dazu Pechstein/Drechsler, in diesem Band, § 8 Rn. 32. 85 M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 568, 582; Hommelhoff, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 33 f.; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. 1, S. 356 f.; s.a. Baldus, in diesem Band, § 3 Rn. 209 ff.; Pechstein/Drechsler, ebd., § 8 Rn. 33. 86 S. z.B. GA Trstenjak, SchlA v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 Caja de Ahorros, (noch nicht in Slg.) Tz. 60. Ebenso jetzt Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 14; Leisner, EuR 2007, 689–706. A.M. Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 287 (Analyse der EuGH-Rechtsprechung; abw. S. 387-389 für die von ihm rechtsvergleichend fundierte „europäische Methodenlehre“, dort freilich eine „historisch-dynamische“ Auslegung befürwortend); Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 497 f. 87 Zust. GA Trstenjak, SchlA v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 Caja de Ahorros, (noch nicht in Slg.) Tz. 83. Zu Protokollerklärungen: EuGH v. 21.1.1992 – Rs. C-310/90 Egle, Slg. 1992, I-177 Rn. 12 (ergänzende Heranziehung zur Bestätigung); EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685 Rn. 32 (Presseerklärung des Vermittlungsausschusses); Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 451; Herdegen, ZHR 155 (1991), 52, 63. 88 Eine Kompetenz zur „authentischen Interpretation“ des Sekundärrechts kann die Kommission daher auch nicht haben.

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Karl Riesenhuber

§ 11 Die Auslegung

gen werden.89 Sofern Vorschläge bzw. Wünsche von Kommission, Parlament und WSA dezidiert90 nicht übernommen wurden, kann sich daraus allenfalls (aber nicht zwingend) ein e contrario Argument ergeben.91 In dieser Weise hat der EuGH beispielsweise die Entstehungsgeschichte der Handelsvertreterrichtlinie92 berücksichtigt. Nach Vortrag der Kommission hatte der WSA im Gesetzgebungsverfahren die Einführung eines Handelsvertreterregisters vorgeschlagen, sich damit aber nicht durchgesetzt. Der Gerichtshof entnimmt dem, dass diese Frage daher der Disposition der Mitgliedstaaten überlassen bleiben sollte. Gleichzeitig zieht er diesen Umstand aus der Entstehungsgeschichte als „weitere Bestätigung“ seines Auslegungsergebnisses heran, die Registereintragung dürfe nicht Wirksamkeitsvoraussetzung für den Handelsvertretervertrag sein.93 Auf ähnliche Weise zieht der Gerichtshof die Entstehungsgeschichte für die Auslegung des Betriebsbegriffs in der Massenentlassungsrichtlinie heran. Dass die verabschiedete Fassung auf den „Betrieb“ abstellt, nicht mehr, wie noch der Vorschlag, auf das „Unternehmen“, sieht der EuGH als Bestätigung seiner Auslegung an, wonach es nicht darauf ankommt, ob die betroffene Einheit eine selbständige Leitung hat.94

b)

Zugängliche Materialien

Nach Art. 296 Abs. 2, 297 AEUV/253 f. EG werden Verordnungen und Richtlinien unter Hinweis auf die ihnen zugrundeliegenden Vorschläge sowie Stellungnahmen dazu und mit einer Begründung veröffentlicht. Diese Unterlagen, insbesondere die Begründungserwägungen, die allen Rechtsakten vorangestellt sind, stehen für die Ermittlung des Gesetzgeberwillens in jedem Fall zur Verfügung. Und tatsächlich erschöpfen sich die Begründungserwägungen jüngerer Rechtsakte regelmäßig auch nicht (mehr) in einer bloßen Skizze der Regelungsinhalte, sondern geben sie auch weiterführende Hinweise.

33

Aber auch darüber hinaus besteht nach Art. 15 Abs. 2, 3 AEUV/255 EG ein grundsätzliches Recht auf Zugang zu den Dokumenten der Union,95 und zwar seit dem Lissaboner Vertrag nunmehr uneingeschränkt auch zu Dokumenten des Rates. Daher

34

89 S. z.B. GA Tizzano, SchlA v. 17.1.2002 – Rs. C-400/00 Club Tour, Slg. 2002, I-4051 Tz. 18; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 451 f.; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 171–173. Enger Herdegen, ZHR 155 (1991), 52, 64 f.; Pechstein, EuR 1990, 249, 253 f. Für das nationale Recht zutr. Wank, Die Auslegung von Gesetzen (3. Aufl. 2005), S. 93 f.; enger Larenz, Methodenlehre, S. 329. 90 Also nicht etwa nur „als selbstverständlich“. 91 Neben dem folgenden Beispiel etwa GA Tizzano, SchlA v. 17.1.2002 – Rs. C-400/00 Club Tour, Slg. 2002, I-4051 Tz. 18 („zur Bekräftigung“); EuGH v. 22.4.1999 – Rs. C-423/97 Travel Vac, Slg. 1999, I-2216 Rn. 49–52 (zur Form des Widerrufs); EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 26/69 Stauder, Slg. 1969, 419 Rn. 5. 92 Richtlinie 86/653/EWG des Rates v. 18.12.1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17. 93 EuGH v. 30.4.1998 – Rs. C-215/97 Bellone, Slg. 1998, I-2191 Rn. 11 und 16. 94 EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-449/93 Rockfon, Slg. 1995, I-4291 Rn. 33. 95 Näher ausgestaltet durch Verordnung (EG) 1049/2001 v. 30.5.2001 über den Zugang zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission, ABl. 2001 L 145/43. Karl Riesenhuber

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2. Teil: Allgemeiner Teil

stellt sich die Frage, inwieweit weitere Unterlagen als Materialien für die historische Auslegung herangezogen werden können. Die entscheidende Grenze muss darin liegen, welche Dokumente veröffentlicht sind.96 Das folgt zum einen aus der Bindung an den Gesetzgeberwillen, dem neben der Setzung der Regeln auch freistehen muss zu entscheiden, inwieweit er diese konkretisiert – auch durch Erläuterungen.97 Soweit er auf eine Veröffentlichung der Materialien verzichtet, entspricht es seinem Willen, sie bei der Auslegung nicht zu berücksichtigen.98 Der subjektive Wille wird auf diese Weise als nachrangig gegenüber einer objektivierten, autoritativen Festlegung der Ziele in der Präambel verstanden – wohl auch weil Kompromisse gefunden werden, diese jedoch die Auslegung nicht belasten sollen.99 Unveröffentlichte Materialien werden daher, auch wenn sie dem Gericht vorliegen, zu Recht für unverwertbar gehalten.100

35

Das gilt ungeachtet des Zugangsrechts des Einzelnen und des Vorlagerechts des EuGH (Art. 21 EuGH-Satzung). Sowohl das Rechtsstaatsprinzip, das insofern in Art. 297 AEUV/254 EG ausgedrückt ist, als auch der Grundsatz der Rechtssicherheit verlangen, dass das Recht für die Rechtsunterworfenen vorhersehbar ist. Das ist gerade im Privatrecht als dem Handlungsrahmen für das Verhalten Privater von essentieller Bedeutung, da sie anfänglich Planungssicherheit benötigen, nicht nur nachträglich die Gewährung rechtlichen Gehörs. Das bestätigt auch das sog. intertemporale Recht – also die Regeln über das im Falle von zwischenzeitlichen Änderungen auf einen Vertrag anwendbare Recht –, denn danach regiert bei Gesetzesänderungen im Vertragsrecht grundsätzlich das bei Vertragsschluss geltende Recht.101 c)

36

Exkurs: Die Rechtsnatur der Begründungserwägungen

Kommt so den Begründungserwägungen eine zentrale Rolle bei der Ermittlung des Gesetzgeberwillens zu,102 so ist doch auf deren begrenzte Bedeutung hinzuwei-

96 Ebenso Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 173–177; Lutter, JZ 1992, 600 f. Weitergehend (Zugänglichkeit reicht) Leisner, EuR 2007, 689, 696; wohl auch Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 14. 97 Aus dem Prinzip der Rechtssicherheit leitet Neuner, FS Georgiades (2005), S. 1235, freilich eine „Pflicht zur hinreichenden Dokumentation der gesetzgeberischen Regelungsabsicht in flankierenden Protokollen“ ab; diese kann allerdings wohl nicht mehr als ein Minimum begründen. 98 Ebenso Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 174 f. 99 Vgl. Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union (8. Aufl. 2009), § 9 Rn. 15 (für das Primärrecht). 100 Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union (8. Aufl. 2009), § 9 Rn. 15; Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 148; Herdegen, ZHR 155 (1991), 52, 64; Pechstein, EuR 1990, 249, 255 (anders nur für Verfahren zwischen EG-Organen und/oder Mitgliedstaaten, soweit diese Parteien auch unveröffentlichte Dokumente kennen). 101 Hess, Intertemporales Privatrecht (1998), S. 143–159, 503–514. Zum Prinzip des vertraglichen Vertrauensschutzes auch EuGH v. 6.2.1973 – Rs. 48/72 Brasserie de Haecht II, Slg. 1973, 77 Rn. 8–10/13. 102 Hess, IPRax 2006, 348, 354.

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Karl Riesenhuber

§ 11 Die Auslegung

sen.103 Dazu hat Frau Generalanwalt Stix-Hackl in ihren Schlussanträgen v. 25. November 2003 Stellung genommen: „Diesbezüglich ist auf die beschränkte Wirkung von Erwägungsgründen im Allgemeinen hinzuweisen. Diese Wirkung reicht nicht so weit, dass ein einzelner aus einem oder mehreren Erwägungsgründen Rechte ableiten kann. Um Rechte einzelner zu begründen, bedarf es einer Bestimmung im verfügenden Teil der Richtlinie, die noch dazu die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung erfüllen muss.“104

Rechte müssen stets aus dem normativen Teil eines Rechtsakts abgeleitet werden. Eine Regelungsabsicht, die dort keinen Anhalt findet, kann man nicht berücksichtigten.

37

Das hat zum Beispiel (gleichsam umgekehrt) für die Auslegung der Klauselrichtlinie105 Bedeutung. In deren normativen Teil sind keine Bereichsausnahmen für Arbeitsverträge und Verträge auf den Gebieten des Erb-, Familien- und Gesellschaftsrechts vorgesehen. Diese Bereichsausnahmen lassen sich nun nicht etwa unter bloßem Hinweis auf die – freilich ausdrückliche und ganz unzweideutige – Aussage in BE 10 S. 3 begründen, wonach diese Verträge ausgenommen sein sollten. Sie ist aber den Vorschriften von Art. 2 lit. b) und c) Klauselrichtlinie zu entnehmen, da nach dem aus BE 10 S. 3 Klauselrichtlinie erkennbaren Gesetzgeberwillen die ausgenommenen Verträge nicht als Verbraucherverträge zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern anzusehen sind.106

d)

Grundsätzliche Irrelevanz eines „Vorbildrechts“

Bezugspunkt historischer Auslegung könnte auch die Herkunft einer Regel aus dem Recht eines Mitgliedstaats sein (Bsp.: Vorbild des deutschen Rechts für die Handelsvertreterrichtlinie oder die Massenentlassungsrichtlinie). Die Auslegung des „Vorbildrechts“ ist jedoch nicht autoritativ, soweit die oben (Rn. 4–8) erörterte Autonomie des Unionsrechts reicht.107 Sie kann allenfalls Anhaltspunkte für eine mögliche Auslegung des Unionsrechts geben. e)

38

Die Beachtung der vorbestehenden Regelungssituation in den Mitgliedstaaten

Umgekehrt kann bei einer Rechtsordnung, deren Zweck regelmäßig gerade in der Rechtsangleichung oder -vereinheitlichung besteht, die vorbestehende Regelungssituation in den Mitgliedstaaten für die Auslegung eine Rolle spielen. Das kommt im Rahmen der historischen Auslegung i.e.S. (im Gegensatz zur genetischen Auslegung) in Betracht, wenn der Gesetzgeber auf einen spezifischen Missstand reagiert hat oder von einer spezifischen Regelungssituation in den Mitgliedstaaten ausgegangen ist.

103 Näher Köndgen, in diesem Band, § 7 Rn. 39–43. Zu den Präambeln von EU-Vertrag und EG-Vertrag nur Streinz-Streinz, Präambel EUV Rn. 12–14, Präambel EG Rn. 10–14. 104 GA Stix-Hackl, SchlA v. 25.11.2003 – Rs. C-222/02, Paul ./. Deutschland, Slg. 2004, I-9425 Tz. 132. 105 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29. 106 Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 2.10 Rn. 20. 107 Bengoetxea, The Legal Reasoning, S. 236; Bleckmann, ZGR 1992, 364, 365; Lutter, JZ 1992, 593, 603; teils a.A. Daig, FS Zweigert (1981), 395, 409 f. („implizite Verweisung“). Karl Riesenhuber

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39

2. Teil: Allgemeiner Teil Im Fall Siemens ./. Nold ging es u.a. um die Frage, ob Art. 29 Abs. 1 Kapitalrichtlinie108 (KapRL), der ein Bezugsrecht bei der Barkapitalerhöhung vorsieht, umgekehrt bedeutet, dass ein Bezugsrecht bei der Sachkaptialerhöhung auszuschließen sei. Der EuGH verneint das: Da ein Bezugsrecht für den „komplexen Sachverhalt“ der Sachkapitalerhöhung in den meisten Mitgliedstaaten unbekannt sei, habe der Gesetzgeber den Mitgliedstaaten freistellen wollen, auch für diesen Fall ein Bezugsrecht vorzusehen.109

40

4.

Die teleologische Auslegung

a)

Regelungszweck und Angleichungszweck

Weil Rechtsregeln dazu dienen, die Lebensverhältnisse in der Zukunft zu gestalten, kommt ihrem Regelungszweck für die Auslegung eine entscheidende Bedeutung zu.110 Zu ermitteln ist primär der historische Gesetzeszweck (oben, Rn. 12).111 Für ihn liefern im Europäischen Privatrecht vor allem die Begründungserwägungen Anhaltspunkte (Rn. 33).112 Zudem kann auch die vom Gesetzgeber gewählte Kompetenzgrundlage Aufschluss über das verfolgte Ziel geben. Die gewählte Kompetenznorm kann, wenn sich schon der Gesetzgeber auf deren Grenzen bezogen hat, schon im Rahmen der historischen Auslegung berücksichtigt werden, sonst im Rahmen der teleologischen Auslegung. Dabei handelt es sich dann ggf. schon um einen Anwendungsfall der primärrechtskonformen Auslegung.113 Die „kompetenzkonforme Auslegung“ wird besonders im Europäischen Arbeitsrecht diskutiert, nämlich im Hinblick auf die Beschränkungen in Art. 153 AEUV/137 EG.114 So hat man z.B. erwogen, ob der Anwendungsbereich des Diskirminierungsverbots in der Leiharbeitsrichtlinie mit Rücksicht auf die Ausnahme des Arbeitsentgelts von der Regelungskompetenz der Union nicht einschränkend auszulegen ist.115

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Soweit es um den inhaltlichen Regelungszweck geht, darf man sich freilich nicht mit allgemeinen Zweckrichtungen begnügen, etwa „dem Verbraucherschutz“ oder „dem Arbeitnehmerschutz“ oder „dem Urheberschutz“.116 Diese generellen Schutzrichtun-

108 Zweite Richtlinie des Rates v. 13.12.1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (77/91/EWG), ABl. 1977 L 26/1. 109 EuGH v. 19.11.1996 – Rs. C-42/95 Siemens ./. Nold, Slg. 1996, I-6017 Rn. 18. 110 S. z.B. EuGH v. 23.3.2006 – Rs. C-465/04 Honyvem, Slg. 2006, I-2879 Rn. 17–22, 26. 111 A.A. Schulte-Nölke, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 159. 112 Z.B. EuGH v. 22.4.1999 – Rs. C-423/97 Travel Vac, Slg. 1999, I-2195 Rn. 42; EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-97/96 Daihatsu, Slg. 1997, I-6843 Rn. 22; EuGH v. 19.11.1996 – Rs. C-42/95 Siemens ./. Nold, Slg. 1996, I-60 Rn. 13; EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 12; Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 193; M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569 579 f. 113 Dazu mit Beispielen Leible/Domröse, in diesem Band, § 9 Rn. 8, 35. 114 Eingehend Rebhahn, in diesem Band, § 18 Rn. 24–28. 115 Dazu nur Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 4 Rn. 10–12 mwN sowie kürzlich EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact, Slg. 2008, I-2483 Rn. 105–133. 116 Ebenso jetzt Herresthal, ZEuP 2009, 600, 603 f.

334

Karl Riesenhuber

§ 11 Die Auslegung

gen sind für die teleologische Auslegung schon deswegen ungeeignet, weil sie völlig unspezifisch sind, so dass sie in vielen Fällen nicht einmal eine Richtung weisen: Dient es dem Verbraucherschutz, wenn man dem Fernabsatzerwerber oder dem Pauschalreisenden mehr Informationen gibt oder entsteht so nicht eine InformationsÜberforderung?117 Die erforderliche Bewertung von – z.B. – Verbraucher- und Unternehmerinteressen hat der Gesetzgeber im Europäischen Privatrecht regelmäßig differenziert vorgenommen. Für die teleologische Auslegung sind daher die spezifischen Zwecke einzelner Regelungen herauszuarbeiten, z.B. der Zweck der Widerrufsrechte, die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Geschützten zu wahren. Allerdings wird im Schrifttum zum Europäischen Privatrecht gerade für das Vertragsund das Arbeitsrecht öfter eine Eindimensionalität gerügt.118 Der Kritik ist zuzugeben, dass die – nach wie vor in vielen Bereichen punktuelle – Privatrechtsetzung durch die EU im Privatrecht meist dem Schutz einer bestimmten Personengruppe dient, und dieser Schutzzweck von der Rechtsprechung und auch Vertretern der Lehre teilweise über Gebühr berücksichtigt wird (s.a. unten, Rn. 54–60 gegen einen Auslegungsgrundsatz „pro consumente“). Bei der Auslegung ist indes zum einen der punktuelle Charakter der Regelung mitzuberücksichtigen, bei dem vorausgesetzt ist, dass es daneben noch eine Fülle mitgliedstaatlicher Regeln gibt.119 Zum anderen ist zu beachten, dass auch etwa arbeitnehmer- oder verbraucherschützende Regelungen die Interessen des Vertragspartners regelmäßig nicht völlig unberücksichtigt lassen, sondern durch inhaltliche Regeln (etwa die Anzeigeobliegenheit des Pauschalreisenden oder die arbeitsschutzrechtlichen Pflichten des Arbeitnehmers) sowie Vorschriften über den Anwendungsbereich berücksichtigen.120 Im Fall Messner hat der EuGH unter Berufung auf den Schutzzweck des Widerrufsrechts nach Art. 6 Fernabsatzrichtlinie 121 (FARL) und seine effektive Durchsetzung – sehr weitgehend – angenommen, es sei mit den Richtlinienvorgaben unvereinbar, dem Verbraucher „generell“ eine Pflicht aufzuerlegen, im Fall des Widerrufs Wertersatz für die zwischenzeitliche Nutzung der gekauften Ware zu zahlen.122 Zustimmung verdient aber die weitere Hervorhebung: „Die Richtlinie 97/7 hat jedoch, auch wenn sie den Verbraucher in der besonderen Situation eines Vertragsabschlusses im Fernabsatz schützen soll, nicht zum Ziel, ihm Rechte einzuräumen, die über das hinausgehen, was zur zweckdienlichen Ausübung seines Widerrufsrechts erforderlich ist. Demzufolge stehen die Zielsetzung der Richtlinie 97/7 und insbesondere das in ihrem Art. 6 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 festgelegte Verbot

117 S. nur Martinek, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 518–530. 118 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 461–465 (sprachlich im Anschluss an Schoch, JZ 1995, 109, 117 f.); ihm folgend etwa Junker, NZA 1999, 2, 10; Kaiser, NZA 2000, 1144, 1147. S.a. Rebhahn, in diesem Band, § 18 Rn. 40. 119 S. z.B. EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 Messner, (noch nicht in Slg.) Rn. 25 f. Allgemein zur Berücksichtigung des fragmentarischen Charakters bei der Auslegung Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 891. 120 S.a. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 1 Rn. 62. 121 Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.5.1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz, ABl. 1997 L 144/19. 122 EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 Messner, (noch nicht in Slg.). Ebenso schon Grabitz/ Hilf-Micklitz, A 3 (FARL) Rn. 85; abl. Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 395. Karl Riesenhuber

335

41a

2. Teil: Allgemeiner Teil grundsätzlich Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegen, wonach der Verbraucher einen angemessenen Wertersatz zu zahlen hat, wenn er die durch Vertragsabschluss im Fernabsatz gekaufte Ware auf eine mit den Grundsätzen des bürgerlichen Rechts wie denen von Treu und Glauben oder der ungerechtfertigten Bereicherung unvereinbare Art und Weise benutzt hat.“123

42

Neben den inhaltlichen Regelungszwecken sind für die Auslegung subsidiär die formalen Regelungszwecke jeder Privatrechtsangleichung in der Europäischen Union zu berücksichtigen, nämlich die Rechtsvereinheitlichung,124 besonders die Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen,125 und ihre Funktion zur Herstellung eines Binnenmarktes126. Insofern trifft zu, dass im Falle von Konflikten zwischen mehreren Regelungszwecken im Zweifel der integrationsfreundlichen Auslegung der Vorzug zu geben ist.127 Vermittelt über diesen allgemeinen Zweck der Privatrechtsangleichung kommt man so zu einer Auslegung privatrechtlicher Vorschriften nach den Zwecken des EUV und des AEUV.128 Kann der historische Gesetzeszweck nicht sicher ermittelt werden, so ist der Zweck festzustellen, dem die Regelung nach objektiven Anhaltspunkten dient. Hier ist zur Zweckermittlung neben dem Wortlaut vor allem der äußere und innere Zusammenhang zu anderen Vorschriften festzustellen. Im Fall Haaga hatte der EuGH zu entscheiden, ob nach Art. 2 Abs. 1, 3 Publizitätsrichtlinie die Alleinvertretungsbefugnis des einzigen GmbH-Geschäftsführers in Deutschland im Handelsregister zu veröffentlichen ist, obwohl sie sich schon aus dem Gesetz ergibt. Der EuGH bejaht diese Frage vor allem deshalb, weil die gesetzliche Vertretungsbefugnis zwar in Deutschland bekannt sein mag, nicht aber interessierten Dritten anderer Mitgliedstaaten. Zweck der Publizitätsvorschrift sei aber gerade, Rechtssicherheit für interessierte Dritte aus anderen Mitgliedstaaten im gemeinsamen Markt herzustellen (BE 1 der Richtlinie und Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV/44 Abs. 2 lit. g) EG).129

b)

42a

Teleologische Auslegung und „praktische Wirksamkeit“ (effet utile)

Der Gerichtshof beruft sich in seiner Rechtsprechung öfter auf das Gebot der „praktischen Wirksamkeit“, den effet utile. Diesen zieht er u.a. auch als Auslegungstopos heran, und zwar auch bei der Auslegung von Sekundärrecht (und auch im Europäischen Privatrecht).130 Dabei zeichnen sich zwei unterschiedliche Verwendungen des 123 EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 Messner, (noch nicht in Slg.) Rn. 25 f. 124 EuGH v. 12.11.1974 – Rs. 32/74 Haaga, Slg. 1974, 1201 Rn. 6 (Rechtssicherheit und Rechtsklarheit als Angleichungszweck); Kropholler, Internationales Einheitsrecht (1975), S. 241 f.; 258, 276 f.; Canaris, JZ 1987, 543, 549. 125 EuGH v. 12.3.2002 – Rs. C-168/00 Leitner, Slg. 2002, I-2631 Rn. 21. 126 EuGH v. 2.2.1994 – Rs. C-315/92 Clinique, Slg. 1994, I-317 Rn. 12 f. 127 M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 580. Krit. Herresthal, ZEuP 2009, 600, 605. 128 Aufgrund dieser bloß mittelbaren Wirkung haben die Vertragsziele daher nur geringere Bedeutung bei der Auslegung des Europäischen Privatrechts; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 457. 129 EuGH v. 12.11.1974 – Rs. 32/74 Haaga, Slg. 1974, 1201 Rn. 6; GA Mayras, ebd., S. 1214 f. 130 EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 Messner, (noch nicht in Slg.) Rn. 24; EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Rn. 69; EuGH v. 7.5.2002 – Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden, Slg. 2002, I-4147 Rn. 15, 21; EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis 244/98 Océano, Slg. 2000, I-4941 Rn. 26; EuGH v. 8.10.1996 – verb. Rs. C-178, 179, 188,

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§ 11 Die Auslegung

Gedankens ab.131 Zum einen stützt sich der Gerichtshof auf den effet utile um zu begründen, dass einer europäischen Regelung „nicht jede praktische Wirksamkeit genommen“ werden dürfe. Das ist ein altbekannter und weithin unproblematischer Auslegungsgrundsatz, wonach eine Regelung so auszulegen ist, dass sie nicht sinnentleert wird.132 Zum anderen wird der effet utile herangezogen um zu begründen, dass ein Regelungsziel so weit wie möglich oder bestmöglich erreicht werden soll.133 Auch hier geht es um einen Vergleich von Regelungszweck und praktischem Ergebnis, so dass man den Auslegungsgrundsatz der teleologischen Auslegung zuordnen kann.134 Gerade bei privatrechtlichen Regelungen, die stets gegenläufige Interessen Privater ausgleichen, besteht indes die Gefahr, unter dem Deckmantel der praktischen Wirksamkeit einseitig die Interessen einer Seite zu berücksichtigen („Eindimensionalität“; soeben, Rn. 41a). Bevor man die „praktische Wirksamkeit“ untersucht, ist daher geboten, den Regelungszweck mit Rücksicht auf den gesetzgeberischen Ausgleich der gegenläufigen Interessen sorgfältig herauszuschälen.135 Dass dabei einseitig ein Interesse unter Hintanstellung gegenläufiger Interessen „so weit wie möglich“ durchgesetzt werden soll, ist in einem differenzierten Privatrecht eher die Ausnahme. In der Entscheidung Messner hat sich der EuGH zur Begründung, ein Nutzungsersatz dürfe dem Verbraucher beim Widerruf des Fernabsatzgeschäfts nicht generell auferlegt werden, auch auf den Gedanken der praktischen Wirksamkeit berufen: „Außerdem würde die Wirksamkeit und die Effektivität des Rechts auf Widerruf beeinträchtigt, wenn dem Verbraucher auferlegt würde, allein deshalb Wertersatz zu zahlen, weil er die durch Vertragsschluss im Fernabsatz gekaufte Ware geprüft und ausprobiert hat. Da das Widerrufsrecht gerade zum Ziel hat, dem Verbraucher diese Möglichkeit einzuräumen, kann deren Wahrnehmung nicht zur Folge haben, dass er dieses Recht nur gegen Zahlung eines Wertersatzes ausüben kann.“136 Nimmt man an, die Richtlinie regele den Fall überhaupt,137 so überzeugt doch diese Begründung nicht. Denn hier ging es nicht um die –

131 132 133 134

135

136 137

189, 194/94 Dillenkofer, Slg. 1996, I-4845 Rn. 22; s.a. EuGH v. 1.10.2002 – Rs. C-167/00 Henkel, Slg. 2002, I-8111 Rn. 35 (EuGVÜ); EuGH v. 11.7.2002 – Rs. C-96/00 Gabriel, Slg. 2002, 6367 Rn. 37. Potacs, EuR 2009, 465, 467 f.; vgl. auch Hess, IPRax 2006, 348, 357 f.; Mosiek, Effet utile und Rechtsgemeinschaft (2003), S. 8 f. Honsell, FS Krejci, S. 1930 ff.; auch Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH (2008), S. 94 f. Noch weitergehend Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 289 f., 391 („größtmögliche Wirkung“). Honsell, FS Krejci, S. 1933; Mosiek, Effet utile und Rechtsgemeinschaft (2003), S. 7; s.a. v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration (1996), S. 145 f. A.M. Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH (2008), S. 272–280 aufgrund einer empirischen Analyse der EuGH-Rechtsprechung („sechste Auslegungsmethode“; S. 276 f. spricht Seyr freilich davon, es handele sich um eine „gesteigerte, potenzierte Form der Teleologie“). In der Tat richtet sich die Kritik „nicht gegen den effet utile als Argumentationsfigur, sondern gegen seine Verwendung zur Ausweitung des Gemeinschaftsrechts“; Honsell, FS Krejci, S. 1937. EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 Messner, (noch nicht in Slg.) Rn. 24. A.M. Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 395.

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2. Teil: Allgemeiner Teil umstrittene – Frage, ob der Verbraucher ein Recht hat, die im Fernabsatz gekaufte Ware gefahrlos auszuprobieren.138 Im Fall Messner war die Widerrufsbelehrung nicht ordnungsgemäß erfolgt (und daher – nach der deutschen Umsetzung – auch nach elf Monaten die Widerrufsfrist noch nicht abgelaufen). Die Belehrung bezweckt, dem Verbraucher die (Zweit-) Entscheidungsmöglichkeit vor Augen zu führen. Verlängert sich mangels Belehrung die Widerrufsfrist und erkennt der Verbraucher seine Entscheidungsmöglicheit damit erst später, so würde es das Widerrufsrecht in der Tat praktisch vereiteln, wenn seine Ausübung mit einer ggf. schon erheblichen Pflicht zur Nutzungsentschädigung belastet wäre, zumal bei kurzlebigen Waren wie z.B. Mobiltelefonen. Der vorliegenden Fall wirft indes eine weitere – dem EuGH freilich nicht vorgelegte – Frage auf. Denn nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 FARL verlängert sich die Widerrufsfrist mangels ordnungsgemäßer Belehrung nur auf drei Monate. Den Verbraucherinteressen wird demnach keineswegs uneingeschränkte Priorität eingeräumt: Bei einer eins-zu-eins Umsetzung der Richtlinienregelung wäre die Widerrufsfrist ungeachtet der mangelhaften Belehrung im Ausgangsfall längst abgelaufen gewesen, Frau Messner hätte gar nicht widerrufen können. Die Richtlinie könnte daher auch einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die in Übererfüllung der Richtlinienvorgaben eine längere Widerrufsfrist vorsieht, dem Verbraucher dann aber eine Nutzungsentschädigung auferlegt.

c)

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Die „Dynamik“ des Europäischen Privatrechts

Eine Besonderheit des Europäischen Privatrechts liegt darin, dass es ein „Recht im Werden“ ist. Diese „Dynamik“ – der „Entwicklungsstand“ des Unionsrechts – ist auch bei der Auslegung zu berücksichtigen.139 Auch insoweit ist allerdings zunächst vom Wortlaut der Regelung auszugehen. Soweit der Europäische Gesetzgeber bei einer späteren Ergänzung des Europäischen Privatrechts von der Möglichkeit keinen Gebrauch macht, die bestehenden Regeln zu ändern, ist das ein Anzeichen dafür, dass ihr Regelungsgehalt unverändert bleiben soll. Gerade eine am inneren System orientierte Auslegung kann aber dabei nicht stehenbleiben. Denn weil und soweit bei der Auslegung einzelner Vorschriften auch die der Rechtsordnung als Ganzes zugrundeliegenden Prinzipien und ihr Ausgleich zu berücksichtigen sind, kann eine Neuregelung auch ohne Änderung des Textes der bestehenden Regelungen Einfluss auf deren Auslegung haben.140 Erscheint z.B. eine Regelung zunächst als vielleicht systemfremde Ausnahme, so kann die Hinzufügung weiterer entsprechender Regelungen ergeben, dass der zugrunde liegende Regelungsgedanke damit vom Gesetzgeber zu einem allgemeinen gültigen Prinzip erhoben wird.141 Soweit der Wortlaut der Regelung das zulässt, kann daher aufgrund nachträglicher Entwicklungen auch bei unverändertem Wortlaut eine andere Auslegung geboten sein. In der Rechtsprechung zum noch verhältnismäßig jungen Europäischen Privatrecht zeigen sich bislang, soweit ersichtlich, keine Beispiele für die Berücksichtigung dieser Dyna-

138 Dazu (krit.) Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 137; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 391. 139 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 20: „[J]ede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts [ist] … im Lichte … des Entwicklungsstands zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift auszulegen“. Herresthal, ZEuP 2009, 600, 606 f. 140 Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 63 f., 67–72. 141 Vgl. Zöllner, WM 2000, 1, 3 f.

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§ 11 Die Auslegung mik bei der Auslegung. Anlass für die Berücksichtigung von Systemveränderungen könnte sich aber z.B. ergeben, wenn die Verbraucherkreditrichtlinie dahin ergänzt wird, dass unter ihren Schutz auch Existenzgründungsdarlehen fallen: Dann könnte im Interesse der Wertungseinheit auch die Entscheidung des EuGH im Fall Di Pinto zu überdenken sein, wonach ein Unternehmer auch dann nicht den Schutz der Haustürgeschäfterichtlinie genießt, wenn er sein Unternehmen verkauft.142 Auch in dem (freilich primärrechtlichen) Fall El Corte Inglés ging es um Systemwandlungen. Allerdings verneinte der Gerichtshof die Frage, ob nicht aufgrund der Einführung von Art. 129 EGV (jetzt Art. 169 AEUV/153 EG) verbraucherschützenden Richtlinien entgegen früherer Rechtsprechung unmittelbare Privatrechtswirkung beizulegen sei.143 Selbstverständlich kann allerdings eine Änderung des Regelungsbestandes keine Auslegung (oder Rechtsfortbildung) gegen den Willen des Gesetzgebers rechtfertigen. Zu Recht hat daher der EuGH in der Rechtssache Schulte eine richterliche Ergänzung der Haustürgeschäfterichtlinie (HtWRL) um eine Regelung über verbunden Geschäfte abgelehnt: „Während andere Richtlinien der Gemeinschaft, die die Interessen der Verbraucher schützen sollen, u.a. die Richtlinie 87/102, Vorschriften über verbundene Verträge enthalten, enthält die vorliegende Richtlinie (sc. die HtWRL) keine solche Vorschrift und bietet auch keine Grundlage für die Annahme, dass es stillschweigend derartige Vorschriften gibt.“144

d)

Leitbilder als Hilfsmittel der teleologischen Auslegung

Besonders im Recht gegen den unlauteren Wettbewerb und in der Grundfreiheitenrechtsprechung wird in Entscheidungen öfter auf ein Verbraucherleitbild bezug genommen, das für die Auslegung fruchtbar gemacht wird. Der Verbraucher wird verstanden als ein „durchschnittlich informierter, aufmerksamer und verständiger Durchschnittsverbraucher“.145 Daneben können auch andere Leitbilder eine Rolle spielen, beispielsweise ein Unternehmerleitbild. Bei diesen Leitbildern handelt es sich um Kurzformeln, die die Rechtsanwendung erleichtern sollen, so wie sie in ähnlicher Weise auch im nationalen Recht verwendet werden, z.B. zur Konkretisierung eines Sorgfaltsmaßstabs. Die Leitbilder liegen auf einer mittleren Ebene zwischen Prinzipien und Regel (bzw. Tatbestandselement). Ihre Attraktivität für den Rechtsanwender rührt besonders daher, dass sie nicht „reine“ Prinzipien ausdrücken (z.B. Vertragsfreiheit oder Selbstverantwortung), sondern schon einen Prinzipienausgleich enthalten oder doch darauf hinweisen.

142 143 144 145

EuGH v. 14.3.1991 – Rs. C-361/89 Di Pinto, Slg. 1991, I-1189 Rn. 14–19. EuGH v. 7.3.1996 – Rs. C-192/94 El Corte Inglés, Slg. 1996, I-1281 Rn. 15–21. EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Rn. 76. EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder ./. Lancaster, Slg. 2000, I-117 Rn. 27; EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-303/97 Kessler, Slg. 1999, I-513 Rn. 36; EuGH v. 12.3.1987 – Rs. 178/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1987, 1227 Rn. 31–36 (Reinheitsgebot); EuGH v. 7.3.1990 – Rs. C-362/88 GB-INNO, Slg. 1990, I-683 Rn. 13–19; EuGH v. 6.7.1995 – Rs. C-470/93, Verein gegen Unwesen im Wettbewerb ./. Mars, Slg. 1995, I-1923 Rn. 24; Streinz/ Leible, ZIP 1995, 1236–1241.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

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Auf diese Weise können Leitbilder eine zentrale Rolle bei der Auslegung spielen – und bedürfen daher der Rechtfertigung.146 Tatsächlich ist die Gefahr groß, dass der Rechtsanwender hier schlichtweg seine eigenen rechtspolitischen Vorstellungen in ein Leitbild projiziert. Daher muss etwa ein Verbraucherleitbild aus dem positiven Recht begründet werden.147 Der Grad der Selbstverantwortung kann nicht nach dem subjektiven Empfinden des einzelnen bestimmt werden, sondern muss aus dem Gesetz hergeleitet sein. Dabei ist zudem zu beachten, dass ein solches Leitbild für verschiedene Rechtsgebiete unterschiedlich ausfallen kann, – ganz entsprechend dem unterschiedlichen Gewicht, das einzelnen Prinzipien für einzelne Rechtsbereiche zukommt. Das Prinzip der Selbstverantwortung hat im Vertragsrecht anderes Gewicht als im Produkthaftungsrecht und dementsprechend müssen auch die aus dem Verbraucherleitbild abgeleiteten Verhaltensanforderungen unterschiedlich ausfallen.

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Im Ergebnis bedeutet das, dass ein Leitbild als Kurzformel für die dahinterstehenden Prinzipien ein nützliches Hilfsmittel für die teleologische Interpretation sein kann. Aus dem Leitbild kann man indes nicht mehr herausholen, als man vorher hineingelegt hat. Aus einem Leitbild allein kann man Lösungen sowenig ableiten wie aus einem Begriff.

IV. 47

Rangfolge der Auslegungskriterien

Soll das Ergebnis der Auslegung nicht beliebig sein, so ist zu überlegen, in welchem Verhältnis die Auslegungskriterien stehen und ob einem Aspekt oder verschiedenen der Vorzug gebührt.148 Dabei geht es nicht nur um eine Reihenfolge des Vorgehens bei der Auslegung,149 sondern um eine Rangfolge für die Fälle, dass unterschiedliche Kriterien für unterschiedliche Ergebnisse sprechen.150 Zu diesem Thema – das mit den zuvor erörterten Fragestellungen des Ziels der Auslegung und der einzelnen Auslegungskriterien eng zusammenhängt – können hier nur einige Ansatzpunkte aufgezeigt werden.151 146 Howells, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 118. 147 Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, S. 427; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 214 f. Zu pauschal daher Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 90–92, die ihr Verbraucherleitbild nicht näher begründet. 148 A.M. Millett, Stat.L.R. 1989, 163, 173; auch Zuleeg, EuR 1969, 97–99. 149 Vornehmlich dazu verhält sich Kramer, Methodenlehre, S. 127–129. 150 Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 434, beschränken den Konfliktbegriff auf Fälle des „frontalen Gegensatzes“, der nicht vorliegt, wenn mehrere Auslegungskriterien (Konkretisierungselemente) neben einem gemeinsamen Schnittbereich der möglichen Auslegungsergebnisse noch andere, nicht gemeinsam begründbare Ergebnisse zulassen. Auch wenn ein Element unergiebig ist, liegt kein Konflikt vor. 151 Zum Diskussionsstand in der deutschsprachigen Methodenlehre Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 553–571; Canaris, FS Medicus, 25–61; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 205–224; Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung (1996), S. 192–197; Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 433–448; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 111–131; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. 1, S. 390–393, 400–427.

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§ 11 Die Auslegung

Nicht mehr als eine pragmatische Faustregel ist die acte clair-Regel,152 nach der dem klaren Wortlaut Vorrang vor anderen Auslegungskriterien zukommen soll (cum in verbis nulla ambiguitas est, non debet admitti voluntatis quaestio; Dig. 32, 25 § 1). Für das Europäische Privatrecht ist dieser Theorie indes nicht zu folgen (s. schon oben, Rn. 16): Einen völlig unzweideutigen Gesetzeswortlaut findet man bei der bestehenden Sprachenvielfalt praktisch nie und die Frage der Eindeutigkeit ist schon ein Auslegungsergebnis. Daher ist der Wortlaut allein nie ausreichend. Auch die Subsidiaritätsthese Bydlinskis gibt nur eine erste Handhabe: Von einem einfachen Auslegungskriterium (Wortlaut und Systematik) müsse der Rechtsanwender dann nicht zu einem schwierigeren (Geschichte) übergehen, wenn schon das einfachere zu einem auch teleologisch überzeugenden Ergebnis führt.153 Richtigerweise geht diese Regel indes über die acte clair-Theorie hinaus, da sie eine teleologische Absicherung verlangt.

48

Eine erste, weitgehend unumstrittene Vorrangregel folgt aus der Normenhierarchie, nämlich der Vorrang der primärrechtskonformen Auslegung.154 Von mehreren nach dem erkennbaren Gesetzgeberwillen möglichen Auslegungen gebührt derjenigen der Vorrang, die mit dem Primärrecht vereinbar ist. Diese Regel formuliert also keinen Vorrang einzelner Auslegungskriterien, sie kann nur einzelne der möglichen Auslegungsergebnisse ausschließen. Da das Primärrecht (bzw. Verfassungsrecht) nur die äußersten Grenzen setzt, folgt aus dieser Vorrangregel zumeist freilich keine definitive Entscheidung einer Auslegungsfrage.155

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Zweitens entspricht es der auf dem Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzip fundierten, im Grundsatz zu befolgenden subjektiven Theorie (Rn. 12), dem aus dem Gesetzeswortlaut erkennbaren subjektiven Willen des Gesetzgebers Vorrang zukommen zu lassen.156 Der aus dem Gesetz zumindest irgendwie erkennbare Wille des Gesetzgebers hat daher auch Vorrang vor objektiv-teleologischen oder teleologischsystematischen Erwägungen.157 Umgekehrt hat der Gerichtshof aber auch hervorgehoben, dass der Wille des Gesetzgebers nur beachtlich sei, wenn er sich im Wortlaut niedergeschlagen hat (s.a. oben, Rn. 36 f.).158 Soweit es bei der systematischen Auslegung (auch) darum geht, den Forderungen nach Einheit und Folgerichtigkeit des Gesetzes zu genügen, kann sich diese Auslegung oft genug schon auf einen wahren

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152 EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 79/77 Kühlhaus Zentrum, Slg. 1978, 611 Rn. 6. 153 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 556–558, 559; Canaris, FS Medicus, S. 34. Wohl einschränkend Kramer, Methodenlehre, S. 129. 154 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 63. Vgl. Leible/Domröse, in diesem Band, § 9 Rn. 50 f. Wegen der Besonderheit des normhierarchischen Rangs unterscheiden Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 434, diesen Fall von den methodologischen Konflikten. 155 Weitergehend Leible/Domröse, in diesem Band, § 9 Rn. 42–49. 156 Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 249 f. (Anm. 106b); Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 112–114. 157 Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 122 f.; Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 132; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 9; a.A. wohl Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 494. 158 EuGH v. 26.2.1991 – Rs. C-292/89 Antonissen, Slg. 1991, I-745 Rn. 18 f.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

oder zu vermutenden Gesetzgeberwillen berufen. Wenn indes ein gegenteiliger Wille des Gesetzgebers erkennbar ist, so geht dieser den Systemgeboten (bis zur Grenze der Willkür) vor.

51

Die wohl bekannteste Vorrangregel ist – drittens –, dass der Zweck einer Regelung ihrem Wortlaut vorgeht.159 Sie ist darin begründet, dass gesetzliche Regelungen der Erfüllung von Zwecken dienen. Soll die Auslegung nicht zu einer „öden Buchstabenjurisprudenz“160 verkümmern, so versteht sich, dass der Rechtsanwender sich nicht mit den äußeren Anzeichen – Wortlaut und äußere Systematik – für den Bedeutungsgehalt begnügen kann, sondern versuchen muss, den Regelungszweck zu ermitteln und, soweit das im Rahmen der Auslegung und der zulässigen Rechtsfortbildung möglich ist, zu verwirklichen.

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Mit diesen Vorrangregeln sind indes nur die wichtigsten Fälle der möglichen Kollisionen von Auslegungsergebnissen durch Vorrangregeln gelöst. Die Auslegung ist nicht durch ein vollständiges System von Kollisionsregeln determiniert. In weiten Teilen kann die Auslegungslehre nur dazu dienen, die möglichen Auslegungsargumente aufzuzeigen und allgemeine Regeln aufzustellen, die für die Gewichtung der einzelnen Argumente im Einzelfall von Bedeutung sein können. Eine erschöpfende Aufzählung aller möglichen Gewichtungsregeln erscheint dabei allerdings nicht möglich, vielmehr zeichnet sich ab, dass die Auslegungsargumente außerhalb der Reichweite fester Vorrangregeln gemäß der Methode des beweglichen Systems je nach Zahl und Gewicht zu bewerten sind.161

V. 53

Einzelne Auslegungsregeln

Zum Schluss sind zwei Auslegungsregeln zu erörtern, die (insbesondere) im Europäischen Privatrecht jetzt öfter erwähnt werden. Für das Verbraucher(privat)recht soll es nach Auffassung mancher eine Zweifelsregel in dubio pro consumente geben (1). Und ganz allgemein findet sich vor allem in der Rechtsprechung des EuGH die Regel, Ausnahmen seien „eng“ auszulegen (2).

159 Siehe nur EuGH v. 17.3.1998 – Rs. C-45/96 Bayerische Hypotheken und Wechselbank ./. Dietzinger, Slg. 1998, I-1199 Rn. 19; EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-112/99 Toshiba, Slg. 2001, I-7945 Rn. 35 f.; s.a. Art. 1:106 Principles of European Contract Law und dazu Lando/ Beale, Principles of European Contract Law, Part I and II (1999), S. 108 f.; Canaris, FS Medicus, S. 50–52; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 221f.; Kropholler, Internationales Einheitsrecht (1975), S. 276. 160 Canaris, FS Medicus (1999), S. 34. 161 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 555 f.; Canaris, FS Medicus, S. 58 f.; Raisch, Vom Nutzen der überkommenen Auslegungskanones für die praktische Rechtsanwendung (1988), S. 53; Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 872 ff.

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§ 11 Die Auslegung

1.

„In dubio pro consumente“? 162

Von manchen Autoren wird angenommen, verbraucher(privat)rechtliche Vorschriften seien „im Zweifel zugunsten des Verbrauchers“ auszulegen.163 Gleichsam verstärkend wird der Grundsatz lateinisch formuliert: in dubio pro consumente.164 Auch in anderen Rechtsgebieten wird Ähnliches (im nationalen oder Europäischen Recht) erörtert, etwa ein urheberrechtlicher Auslegungsgrundsatz in dubio pro auctore, ein arbeitsrechtlicher favor laboris 165. Die primärrechtliche Begründung für den Auslegungsgrundsatz zugunsten von Verbraucher wird in der von Art. 114 Abs. 3 AEUV/95 Abs. 3 EG geforderten „Orientierung am hohen Schutzniveau“ gesehen,166 das von den Vertretern auch als „Zielvorgabe“ verstanden wird, die durch die Auslegungsmaxime zur Geltung gebracht werde.167 Die EuGH-Entscheidungen, aus denen der Grundsatz abgeleitet wird,168 sprechen ihn freilich nicht aus und sind mit herkömmlichen methodischen Mitteln begründet.

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In die Richtung einer Zweifelsregel „zugunsten des Verbrauchers“ hatte allerdings GA Tizzano gewiesen:

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„Sodann weise ich speziell darauf hin, dass sich die Auslegung der Richtlinie an dem allgemeinen Kriterium auszurichten hat, wonach ihre Bestimmungen im Zweifelsfall am günstigsten für denjenigen auszulegen sind, der durch sie geschützt werden soll, also für den Verbraucher touristischer Dienstleistungen. Dies ergibt sich nicht nur aus der systematischen Analyse von Wortlaut und Zielsetzung der Richtlinie, sondern auch aus dem erwähnten Umstand, dass sie nach Artikel 100a [sc. Art. 114 AEUV/95 EG] erlassen wurde, nach dessen Absatz 3 bei Harmonisierungsmaßnahmen im Bereich des Verbraucherschutzes von einem hohen Schutzniveau auszugehen ist.“169

162 Eingehend Riesenhuber, JZ 2005, 829–835; dagegen die Erwiderungen von Rösler und Tonner, JZ 2006, 400–404 und dazu wiederum meine Replik JZ 2006, 404 f. Der hier vertretenen Position zust. Palandt-Heinrichs, BGB, Einl. Rn. 50a; Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 292. Zum „favor laboris“ Rebhahn, in diesem Band, § 18 Rn. 7, 34–41. 163 Tonner, EuZW 2002, 403 f.; Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht (2004), S. 6 f. Offengelassen jetzt von EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Rn. 59–61. 164 Da das römische Recht einen Verbraucherschutz im modernen Sinne so wenig kannte wie das gemeine Recht, muss freilich die Suche nach einem treffenden lateinischen Begriff fruchtlos bleiben. In der Sache kann auch die lateinische Fassung dem Auslegungsgrundsatz keine größere Dignität verschaffen. Zur sprachlichen Fassung treffend Adomeit, JZ 2006, 557. 165 Dazu Rebhahn, in diesem Band, § 18 Rn. 40 f. 166 GA Tizzano, SchlA v. 20.9.2001 – Rs. C-168/00 Leitner, Slg. 2002, I-2631 Tz. 26. Andeutungsweise Tonner, EuZW 2002, 403 f. 167 Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht (2004), S. 7. 168 EuGH v. 30.4.2002 – Rs. C-400/00 Club-Tour, Slg. 2002, I-4051; EuGH v. 15.6.1999 – Rs. C-140/97 Rechberger, Slg. 1999, I-3499. 169 GA Tizzano, SchlA v. 20.9.2001 – Rs. C-168/00 Leitner, Slg. 2002, I-2631 Tz. 26; ders., SchlA v. 17.1.2002 – Rs. C-400/00 Club Tour, Slg. 2002, I-4051 Tz. 21; GA Saggio, SchlA v. 25.6.1998 – Rs. C-140/97 Rechberger, Slg. 1999, I-3499 Tz. 17. Karl Riesenhuber

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2. Teil: Allgemeiner Teil

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Eine solche Auslegungsregel ist aus mehreren Gründen abzulehnen. Sie ist von ihren Verfechtern schon nicht tragfähig begründet, wegen ihrer Unbestimmtheit unausführbar und zudem wegen ihrer Einseitigkeit mit einem differenzierten (Verbraucher-) Privatrecht unvereinbar.

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Sofern überhaupt eine Begründung für die Zweifelsregel gegeben wird, besteht sie allein in dem Hinweis auf Art. 114 AEUV/95 EG. Aus welchen weiteren primär- und sekundärrechtlichen Regeln sich der Grundsatz „induzieren“ lassen soll, ist nicht klar. Art. 114 Abs. 3 AEUV/95 Abs. 3 EG bindet aber keineswegs die Gesetzgebung insgesamt, sondern schreibt nur vor, dass sie u.a. im Bereich Verbraucherschutz von einem hohen Schutzniveau ausgehen soll. Das heißt indes nicht, dass dieses hohe Schutzniveau zwangsläufig auch im letztlich verabschiedeten Rechtsakt durchgesetzt sein müsste. Da zudem die Rechtsangleichung nach Art. 114 Abs. 3 AEUV/95 EG einen spezifischen Binnenmarktzweck verfolgen muss, kann der Verbraucherschutz in aller Regel nicht der einzige Zweck eines Angleichungsrechtsakts sein. Die Mindeststandardklauseln, die in den Verbraucherschutzrichtlinien oft enthalten sind, bestätigen das, liegt ihnen doch gerade die Annahme zugrunde, dass es noch Raum für einen weiteren Verbraucherschutz geben könnte.

58

Hinzu kommt, dass „Verbraucherschutz“ viel zu vage ist, um eine Zweifelsregel sinnvoll zu unterfüttern (s.o. Rn. 41).170 Soll etwa im Zweifel die Auslegung regieren, die den im konkreten Fall betroffenen Verbraucher am besten schützt; das mag z.B. für eine Kollektivierung von Kosten in Form einer faktischen Zwangsversicherung sprechen. Oder soll es um den Schutz der Verbraucher als Gruppe gehen; dann mag eine individuelle Kostentragung vorzugswürdig sein. Diese Unbestimmtheit illustrieren bezeichnenderweise gerade die Fälle, die den Verfechtern Anlass für den Grundsatz erschienen. Dort ging es nämlich ausgerechnet um die Auslegung der Pauschalreiserichtlinie, die nun gerade nicht den Verbraucher schützt, sondern jeden (Pauschal-) Reisenden, auch den Geschäftsmann, der etwa Tagung und Unterkunft gebucht hat.171 Ein Beispiel für die Schwierigkeit zu bestimmen, was pro consumente wirkt, sind die bereits erwähnten (oben Rn. 41) Informationspflichten.172 Ist es im Interesse des Verbrauchers, im Zweifel möglichst umfassend zu informieren oder müssen Informationsgegenstände wegen der beschränkten Informationsverarbeitungskapazität oder einer gewünschten Standardisierung (Herstellung der Markttransparenz) enumerativ beschränkt bleiben?

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Endlich würde aber eine einseitige Zweifelsregel zugunsten von Verbrauchern die Preisgabe einer differenzierten Rechtsetzung und Dogmatik bedeuten. Wenn das Verbrau-

170 Vgl. auch Herresthal, ZEuP 2009, 600, 604. Gegen die Anerkennung von Verbraucherschutz als Rechtsprinzip (auch) aus diesem Grunde Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 933 f. 171 Die Regelung ist daher nur formal dem Verbraucherschutzrecht zuzuordnen; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 185. 172 Auslegungszweifel kann es z.B. bei Art. 4 Abs. 2 PRRL geben; dazu Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 4.01 Rn. 18 einerseits und Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 485 andererseits.

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§ 11 Die Auslegung

cherschutzrecht – wie wohl unbestritten der Fall – einen Ausgleich von Unternehmerund Verbraucherinteressen darstellt, dann verträgt sich damit eine einseitige Begünstigung des Verbrauchers nicht wohl. In der Rechtsprechung ist ein Auslegungsgrundsatz „pro consumente“ soweit ersichtlich auch nicht tragend geworden.173 Im Fall Club Tour ging es um die Frage, ob der Begriff der Pauschalreise in Art. 2 Nr. 1 Pauschalreiserichtlinie (PRRL) auch die von einem Reisebüro auf Wunsch und gemäß den Vorgaben eines Verbrauchers organisierte Reise umfasst. Der EuGH hat das bejaht und sich zur Begründung auf den Wortlaut und die Systematik der Richtlinie berufen. Art. 2 Nr. 1 PRRL ist unpersönlich formuliert und stellt nicht darauf ab, wer die Reiseleistungen gewünscht oder vorgegeben hat. Und nach Art. 4 Abs. 2 lit. a) iVm Anhang lit. j) PRRL gehören zu den in den Vertrag aufzunehmenden Angaben insbesondere auch „alle Sonderwünsche, die der Verbraucher dem Veranstalter oder dem Vermittler bei der Buchung mitgeteilt hat und die beide Parteien akzeptiert haben“. Das lässt sich um die teleologische Erwägung, dass die Leistung des Reisebüros auch in diesem Fall in der Zusammenstellung geeigneter Bestandteile liegt. Einen Grundsatz in dubio pro consumente brauchte das Gericht nicht zu bemühen. Ein anderes Beispiel – das ebenfalls die Pauschalreiserichtlinie betrifft – zeigt, dass der Grundsatz eine differenzierte Rechtsetzung stören würde. Es ist umstritten, ob die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Leistungsstörungsregeln die Anzeigeobliegenheit des Verbrauchers (Art. 5 Abs. 4 PRRL) unter Berufung auf die Mindeststandardklausel des Art. 8 PRRL entfallen lassen können.174 Wer den bestehenden Zweifel pro consumente überwindet, bejaht die Frage ohne weiteres. Dagegen spricht indes sowohl der Wortlaut der Mindeststandardklausel, da der Wegfall einer Obliegenheit sprachlich keine „strengere Vorschrift zum Schutze des Verbrauchers“ ist. Vor allem aber würde auf diese Weise das von der Richtlinie konzipierte differenzierte Leistungsstörungsregime aus dem Gleichgewicht gebracht, so dass der Zweck der Regelung dagegen spricht.

Ein Auslegungsgrundsatz „im Zweifel für den Verbraucher“ ist daher nicht anzuerkennen. Nicht ausgeschlossen ist damit indes selbstverständlich, den Verbraucherschutzzweck einer Regelung bei der teleologischen Auslegung mitzuberücksichtigen. Dann freilich ist dieser Zweck in der vom Gesetzgeber konkretisierten Form zugrundezulegen, nämlich in seiner konkreten Ausformung (z.B. Schutz der wirtschaftlichen Selbstbestimmung) und unter Berücksichtigung etwaiger vom Gesetzgeber beachteter gegenläufiger Interessen. 2.

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Sind Ausnahmeregeln „eng“ auszulegen?

Eine aus dem nationalen Recht bekannte und alte Frage ist, ob Ausnahmeregeln „eng“ auszulegen sind. So klar (jedenfalls) die deutschsprachige Literatur die pauschale Frage verneint,175 so persistent ist die bejahende Antwort in der Rechtspre-

173 EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Rn. 59–61. 174 Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 795. 175 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 440; Larenz, Methodenlehre, S. 355 f.; Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 370; Wank, Die Auslegung von Gesetzen (3. Aufl. 2005), S. 66. S.a. Neuner, in diesem Band, § 13 Rn. 37. Karl Riesenhuber

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2. Teil: Allgemeiner Teil

chung des EuGH:176 singularia non sunt extendenda.177 Z.B. sagt er in der Entscheidung Heininger: „Dazu ist erstens festzustellen, dass Ausnahmen von gemeinschaftsrechtlichen Verbraucherschutzvorschriften nach ständiger Rechtsprechung eng auszulegen sind.“178

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Vor dem Bemühen des Gerichts, der Integration effektive Geltung zu verschaffen, ist diese Haltung verständlich.179 Dahinter dürfte die Annahme stehen, Ausnahmevorschriften seien Ausdruck dafür, dass das eigentliche Angleichungsziel schon im Gesetzgebungsverfahren durch Kompromisse eingeschränkt wurde. Um die Rechtsangleichung so weit wie möglich durchzusetzen, müssten die Ausnahmen daher möglichst beschränkt werden. Mit diesen Überlegungen ginge es freilich in Wahrheit gar nicht um den „Ausnahmecharakter“ einer Vorschrift, sondern um ihre mangelnde teleologische Begründung. Die Vorschrift wird maW nicht als Ausnahme eng ausgelegt, sondern als teleologische Verfehlung. Damit ist die richtige Richtung gewiesen: Auch Ausnahmevorschriften sind nach den herkömmlichen Methoden auszulegen. Dabei kann die Tatsache, dass es sich um eine Ausnahme von einem fundamentalen Recht oder geschützten Interesse oder von einer grundlegenden Regel handelt, für die (systematisch-) teleologische Bedeutung von entscheidendem Gewicht sein.180

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Will man die letztgenannte Erwägung berücksichtigen, dass eine Vorschrift von einem Grundsatz abweicht, so muss man freilich zuerst begründen, dass dies der Fall ist. Ob maW eine Regelung nicht nur formal, sondern auch in der Sache eine Ausnahme darstellt, ist zuerst im Wege der Auslegung zu beantworten.181 Nicht alles, was negativ formuliert ist, ist in der Sache eine Ausnahme.182 Vielmehr kann es sich um

176 S. nur EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, Slg. 2003, I-8389 Rn. 89; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 Rn. 67; EuGH v. 23.3.2006 – Rs. C-465/04 Hoyvem, Slg. 2006, I-2879 Rn. 24; Colneric, ZEuP 2005, 225, 228. Übersicht über die Rechtsprechung des EuGH bei Schilling, EuR 1996, 44–57 (nur im Ergebnis der EuGH-Rechtsprechung [„im Ganzen“] zustimmend, in der Sache aber differenzierte Begründungen fordernd); s.a. Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 449 f., 456 f.; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. 1, S. 371–373. 177 Zur Herkunft des Grundsatzes Knütel, JuS 1996, 768, 772; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. 1, S. 516–518. 178 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Rn. 31 (Nachweise weggelassen). Ferner etwa EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, Slg. 2001, I-3569 Rn. 15. 179 S.a. Schilling, EuR 1996, 44, 46 f. mit dem Hinweis, dass generell ein fundamentales Rechtsgut oder ein allgemeines Prinzip die enge Auslegung von Ausnahmen gebieten können. Das ist eine Form der prinzipiell-systematischen Auslegung, die auch sonst (nicht nur in Bezug auf Ausnahmen) Platz greifen kann; s. z.B. EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 29/69 Stauder, Slg. 1969, 419 Rn. 3–4. 180 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 449 f. 181 Larenz, Methodenlehre, S. 355f.; Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 370; Buerstedde, Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts (2006), S. 53 f. So z.B. EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-5/08 Infopaq, (noch nicht in Slg.) Rn. 56–58. 182 S.a. das primärrechtliche Beispiel der ausgeschlossenen Regelungsbereiche nach Art. 137 Abs. 5 EG/153 Abs. 5 AEUV bei Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 4 Rn. 8 (Grundsatz ist die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten!).

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§ 11 Die Auslegung

eine ergänzende Regelung handeln, durch die die Hauptregel erst ihren eigentlichen Sinn erhält. Zum Beispiel kann man streiten, ob der Gewährleistungsausschluss wegen anfänglicher Mangelkenntnis in Art. 2 Abs. 3 der Kaufgewährleistungsrichtlinie (KGRL) eine „Ausnahmevorschrift“ darstellt. Nach der Kommissionsbegründung dürfte das ungeachtet der negativen Formulierung („es liegt keine Vertragswidrigkeit vor, wenn …“) zu verneinen sein: „streng genommen“ liege „keine Vertragswidrigkeit vor, weil der Verbraucher die Sache in dem Zustand, in dem sie sich befindet, angenommen hat und die Sache damit sehr wohl vertragsgemäß ist“.183 In der Tat wird mit der Regelung ungeachtet ihrer technischen Gestaltung als Ausnahme, einem fundamentalen Grundsatz Rechnung getragen, nämlich dem Verbot des venire contra factum proprium.184 Die formal-technische Ausgestaltung als Ausnahme gebietet daher keineswegs eine „enge Auslegung“. Ebenso liegen die Dinge bei Art. 7 Produkthaftungsrichtlinie185 (PHRL), wonach sich der Hersteller von der Produkthaftung befreien kann, wenn er beweist, dass er das Produkt nicht in Verkehr gebracht hat. Die Vorschrift ist Ausdruck des Veranlasserprinzips, das der Produkthaftung nach der Richtlinie zugrunde liegt. Sie drückt den Grundsatz selbst aus und schränkt ihn nicht ein. Die negative Formulierung beruht nur auf der Beweislastverteilung. Für die vom EuGH zu beurteilende Frage, ob auch die krankenhausinterne Anwendung einer Spüllösung auf eine zu transplantierende Niere „Inverkehrbringen“ iSd Vorschrift darstellt, war schon aus teleologischen Gründen zu bejahen, einer „engen Auslegung“ der „Ausnahmevorschrift“ bedurfte es daher nicht.186

Gelegentlich stellt eine Vorschrift sowohl technisch, als auch im Hinblick auf den Hauptzweck einer Regelung eine Ausnahme dar, trägt sie aber ihrerseits einem fundamentalen Recht oder geschützten Interesse Rechnung. Auch dann kommt eine „enge“ Auslegung nicht in Betracht. Ein Beispiel ist die Beschränkung der Diskriminierungsverbote in der Gleichbehandlungsrichtlinie 2004/113/EG187 auf „Personen, die Güter und Dienstleistungen bereitstellen, die der Öffentlichkeit ohne Ansehen der Person zur Verfügung stehen“, Art. 3 Abs. 1. Diese Beschränkung ist technisch nicht als Ausnahme formuliert, doch könnte man sie so verstehen. Indes wird darauf hingewiesen, dass Diskriminierungsverbote selbst Ausnahmen vom fundamentalen Grundsatz der Privatautonomie sind, die Beschränkung also eine Bestätigung bzw. Erhaltung der Regel darstellt, keine Ausnahme.188 In der Tat weisen die Begründungserwägungen darauf hin, dass mit der „Ausnahme“ insbesondere zwei verfassungsrechtlich geschützte Rechte gewährleistet werden sollen, die Privatsphäre und die Vereinsfreiheit.189 Eine „enge“ Auslegung wäre daher zweckwidrig.

183 KOM(95) 520 endg, Begründung zu Art. 3 Abs. 1. 184 Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 739–743. 185 Richtlinie 85/374/EWG des Rates v. 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. 1985 L 210/29. 186 Nur i.Erg. zutr. daher EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, Slg. 2001, I-3569 Rn. 15–18. 187 Richtlinie 2004/113/EG des Rates v. 13.12.2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl. 2004 L 373/37. 188 Schöbener/Stork, ZEuS 2004, 43, 78. 189 Riesenhuber/Franck, EWS 2005, 245 f. Karl Riesenhuber

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2. Teil: Allgemeiner Teil

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Aber auch wenn eine „echte“ Ausnahme vorliegt, ist diese nicht notwendig „eng“ auszulegen. Vielmehr muss es hier – wie allgemein – auf die Absicht des Gesetzgebers und die von ihm verfolgten Zwecke ankommen. Denn nicht jede Ausnahme ist mit dem eigentlichen Regelungsanliegen unvereinbar, manche wird von ihm sogar gefordert. Zum Beispiel mag man an die Ausnahmebereiche der Kaufgewährleistungsrichtlinie denken. Der Gesetzgeber hat u.a. Kaufverträge über Strom von der – den Anwendungsbereich mitbestimmenden – Definition „Verbrauchsgüter“ ausgenommen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass insoweit besondere Vorschriften des Energierechts Anwendung finden können, vor allem aber die Gewährleistung in diesen Fällen keine erhebliche Bedeutung hat.190 Die Ausnahme stellt also den Regelungszweck in keiner Weise in Frage, im Gegenteil, sie bestätigt ihn. Gründe für eine „enge“ Auslegung sind von vornherein nicht ersichtlich.

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Der Obersatz, Ausnahmen seien eng auszulegen, wird denn auch keineswegs in allen Fällen tragend. Das eingangs genannte Beispiel Heininger illustriert das. Dort ging es u.a. um die Frage, ob ein Realkreditvertrag unter den Ausnahmetatbestand für „Verträge über den Bau, den Verkauf und die Miete von Immobilien sowie Verträge über andere Rechte an Immobilien“ fällt. Der EuGH bezieht sich für die verneinende Antwort ohne Not auf den angeblichen Grundsatz enger Auslegung von Ausnahmen. War mit dem Realkreditvertrag ein Kreditvertrag bezeichnet, bei dem der Rückzahlungsanspruch durch eine dingliche Sicherheit gesichert ist, so fiel der Kreditvertrag schon nach dem Wortlaut nicht unter die Ausnahmevorschrift. Da zudem die grundpfandrechtliche Sicherung nicht (nach den nationalen Rechten aller Mitgliedstaaten) notwendig bedeutet, dass eine überlegte Vertragsentscheidung des Verbrauchers ermöglicht wird, beansprucht die Ausnahmeregelung auch teleologische keine Geltung.

190 Vgl. für die entsprechenden Erwägungen bei Art. 2 lit. f) CISG Staudinger-Magnus, Art. 2 CISG Rn. 50.

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§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln Anne Röthel

Übersicht I. Methodengerechtigkeit und Kompetenzordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Konkretisierung in der gemeinschaftlichen Kompetenzordnung . 1. Institutionelle Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auslegungsbefugnis des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsfortbildungsbefugnis des EuGH . . . . . . . . . . . 2. Materielle Begründung der Konkretisierungskompetenz . . . a) Begriffliche Verweisungen auf das mitgliedstaatliche Recht b) Rechtsangleichungsintention . . . . . . . . . . . . . . . . c) Anwendung auf die Klausel-Richtlinie . . . . . . . . . . .

Rn. 3–6

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. 17–22e . 18 . 19 . 20–22 . 22a–22e

IV. Konkretisierungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gemeinschaftsautonome Konkretisierungsmethode . . . . . . . . . 2. Konkretisierung durch Auslegung am Beispiel der Klausel-Richtlinie 3. Maßstäbe der Rechtsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Referenzordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Erfordernis einer gemeinschaftsautonomen Referenzordnung bb) Sekundärrechtliche Referenzordnungen . . . . . . . . . . . . b) Prinzipien und Leitbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Auf dem Weg zum Referenzrahmen . . . . . . . . . . . . . . . .

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. 23–39 . 23–25 . 26–29 . 30–39 . 31–36 . 32–35 . 36 . 37–39 . 39a, 39b

III. Aufgabenwahrnehmung durch den EuGH . . . . . . . . . . . 1. Océano . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiburger Kommunalbauten . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grundannahmen der EuGH-Rechtsprechung . . . . . . . . 4. Weiterführungen: Konkretisierung und Vollharmonisierung

. . . . .

V. Konkretisierung als Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7–16 8–11 10 11 12–16 13, 14 15 16

40, 41

Literatur: Christian Baldus/Christian Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht. Zur Leistungsfähigkeit der deutschen Wissenschaft aus romanischer Perspektive (2006); Jürgen Basedow, Der Bundesgerichtshof, seine Rechtsanwälte und die Verantwortung für das europäische Privatrecht, in: Gerd Pfeiffer/Joachim Kummer/Silke Scheuch (Hrsg.), Festschrift für Hans Erich Brandner (1996), S. 651–681; Martin Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft (1999), §§ 15, 16; Stefan Grundmann/Denis Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards in European Contract Law, Comparative Law, EC Law and Contract Law Codification (2006); Beate Gsell/Martin Schellhase, Vollharmonisiertes Verbraucherkreditrecht – Ein Vorbild für die weitere europäische Angleichung des Verbrauchervertragsrechts, JZ 2009, 20–29; Carsten Herresthal, Rechtsfortbildung im europäischen Bezugsrahmen (2006); ders., Die Regelungsdichte von (vollharmonisierenden) Richtlinien und die Anne Röthel

349

2. Teil: Allgemeiner Teil Konkretisierungskompetenz des EuGH, in: Beate Gsell/Carsten Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht – die Konzeption der Richtlinie am Scheideweg? (2009), S. 115–161; Eva-Maria Kieninger, Die Vollharmonisierung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen – eine Utopie?, RabelsZ 73 (2009), 793–817; Irene Klauer, General Clauses in European Private Law and „Stricter“ National Standards, ERPL 8 (2000), 187–210; Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Band II – Europarecht (2. Aufl. 2007); Wendt Nassal, Die Anwendung der EU-Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, JZ 1995, 689–694; Oliver Remien, Die Vorlagepflicht bei Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, RabelsZ 66 (2002), 503–530; Wulf-Henning Roth, Generalklauseln im Europäischen Privatrecht, in: Jürgen Basedow/Klaus J. Hopt/Hein Kötz (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Drobnig (1998), S. 135–153; Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht (2004); dies., Missbräuchlichkeitskontrolle nach der Klauselrichtlinie: Aufgabenteilung im supranationalen Konkretisierungsdialog, Anmerkung zu EuGH, Urt. v. 1.4.2002 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, ZEuP 2005, S. 418–427; dies., Generalklauseln als Integrationsmotoren?, GPR 2008, 176–179; Martin Schmidt, Konkretisierung von Generalklauseln im Europäischen Privatrecht (2009); Takis Tridimas, The General Principles of EU Law (2. Aufl. 2007); Inke Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien (2002). Rechtsprechung: EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, Slg. 2000, I-4941; EuGH v. 1.4.2002 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403; EuGH v. 26.10.2006 – Rs. C-168/05 Elisa María Mostaza Claro ./. Centro Móvil Milenium, Slg. 2006, I-10421; EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-261/07 und C 299/07 VTB-VAB NV ./. Total Belgium NV und Galatea BVBA ./. Sanoma Magazines Belgium NV, (noch nicht in Slg.); EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 Pannon GSM Zrt. ./. Erzbéset Sustikné Gyo˝rfi, (noch nicht in Slg.).

1

Die Konkretisierung von Generalklauseln nimmt traditionell eine Sonderstellung in Methodenfragen ein. Dies gilt gleichermaßen für eine europäische Methodenlehre. Gemeinsam sind den nationalen Rechtsordnungen und dem Gemeinschaftsrecht auch die Gründe, aus denen sich eine Rechtsetzung mittels Generalklauseln empfiehlt: Einzelne Gegenstände der Rechtsetzung werden delegiert und damit richterlicher Einzelfallbeurteilung überlassen, zugleich werden Freiräume für Flexibilität und Wertungsoffenheit geschaffen. Aus diesen Gründen empfahlen sich Generalklauseln immer wieder den kontinentaleuropäischen Gesetzgebern,1 und auch der Gemeinschaftsgesetzgeber setzt inzwischen vermehrt auf solche ausfüllungsbedürftigen Begriffe. Prominente Beispiele für diese Rechtsetzungstechnik sind Art. 3 Abs. 1 der KlauselRichtlinie 2 und Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken

1 Zur Funktion von Generalklauseln im europäischen Privatrecht Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 338 ff. Zu den konfligierenden Rechtsetzungsidealen Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit (2005); rechtsvergleichend Kötz, in: Cane/Stapleton (Hrsg.), Essays in Celebration of John Fleming (1998), S. 243 ff.; Teubner, MLR 61 (1998), 11 ff.; Grobecker, Implied Terms und Treu und Glauben (1999), S. 38 ff.; Sonnenberger, FS Odersky (1996), S. 703 ff. sowie die Beiträge in Baldus/Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht; Grundmann/Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards in European Contract Law. 2 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/25 (Klausel-Richtlinie).

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§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln

(UGP-Richtlinie) 3.4 Auch im Entwurf einer Richtlinie über Rechte der Verbraucher ist an dieser Rechtsetzungstechnik festgehalten worden.5 Diese Rechtsetzungstechnik wirft besondere Fragen auf, und zwar sowohl auf kompetentieller als auch auf methodischer Ebene.

I.

2

Methodengerechtigkeit und Kompetenzordnung

Die Forderung nach Methodengerechtigkeit ist kein Selbstzweck, sondern Ausdruck spezifischer Anforderungen der Gewaltenordnung. Auf der nationalen Ebene geht es dabei um das Verhältnis von Rechtsprechung und Gesetzgebung: Je größer die Besorgnis um unzulässige Richtermacht ist, umso aufmerksamer wird auf die Methode der Jurisdiktion geschaut. Und umgekehrt werden sich methodische Anforderungen umso mehr verlieren, je größer der an die Rechtsprechung konzedierte Freiraum zu eigenständiger Rechtsgestaltung ist. So spiegeln sich in Methodenfragen stets auch und vielfach sogar in erster Linie kompetentielle Fragen.

3

Dieses Wechselspiel von Kompetenz und Methode ist besonders sichtbar bei der Konkretisierung, d.h. der richterlichen Ausfüllung von Generalklauseln und normativ-unbestimmten Rechtsbegriffen. Wenn Konkretisierung heute beschrieben wird als gebundene Rechtsbildung6, so kommt darin ein spezifischer Methodenpluralismus7 zum Ausdruck: In der Konkretisierung verbinden sich die Methoden der gebundenen Rechtsentscheidung durch Auslegung mit den rechtsschöpferischen Methoden der Rechtsbildung. Dahinter steht die Vorstellung, dass mit konkretisierungsbedürftigen Begriffen Aufgaben der Rechtsbildung übertragen werden. Konkretisierungsbedürftige Normen sind also Delegationsnormen.

4

Diese gedankliche Folie der Delegation von Rechtsgestaltungsbefugnissen bezeichnet in vergleichbarer Weise auch die auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene mit der Konkretisierung verbundenen Zweifelspunkte. Während allerdings auf nationaler Ebene allenfalls die Zulässigkeit oder der Umfang einer mit ausfüllungsbedürftiger Recht-

5

3 Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.3.2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern, ABl. 2005 L 149/22 (UGP-Richtlinie). 4 Für weitere Beispiele siehe Art. 3 Abs. 1, 4 Abs. 1, 6 Abs. 1 S. 2, 17 Abs. 2a Richtlinie 86/653/ EWG des Rates v. 18.12.1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend der selbstständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17 (Handelsvertreter-Richtlinie); Art. 3 Abs. 2 Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher, ABl. 2002 L 271/16. 5 Art. 3 Abs. 1 Klausel-Richtlinie entspricht Art. 32 Abs. 1 des Entwurfs einer Richtlinie über Rechte der Verbraucher v. 8.10.2008, KOM(2008) 614 endg. 6 Näher Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 124 ff.; Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 42 ff. 7 Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 125; für das europäische Privatrecht Flessner, JZ 2002, 14, 18 ff.; allgemein Grundmann, RabelsZ 61 (1997), 423 ff.; krit. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung (1976), S. 24 ff.: Methodenpluralität als „Vehikel der Richterfreiheit“.

Anne Röthel

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2. Teil: Allgemeiner Teil

setzung intendierten Delegation klärungsbedürftig sein mag, stellt sich auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene im Umgang mit konkretisierungsbedürftigen Richtlinienbegriffen8 zunächst eine andere Frage: Sind die damit formulierten Gestaltungsaufträge an die Mitgliedstaaten oder an den EuGH adressiert? Dies wird namentlich mit Blick auf die Generalklausel aus Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie problematisiert.

6

Der Problemzugriff erfolgt dabei unausgesprochen über die Kompetenzordnung. Dies entspricht der bereits angedeuteten Komplementarität von Methode und Kompetenz. Dieser Problemzugriff wird auch den weiteren Überlegungen zugrundegelegt. Zunächst sind daher Grundsatz und Grenzen der Konkretisierungskompetenz des EuGH zu klären (unten II. und III.), bevor in einem zweiten Schritt über die gemeinschaftlichen Konkretisierungsmethoden nachgedacht werden kann (IV.).

II. 7

Konkretisierung in der gemeinschaftlichen Kompetenzordnung

Ist Konkretisierung stets mehr oder weniger Rechtsgestaltung, so liegt in konkretisierungsbedürftiger Rechtsetzung eine Aufgabendelegation. Ungeschriebenen Aufgabenverschiebungen steht das Gemeinschaftsrecht mit gutem Grund ablehnend gegenüber,9 gehört es doch zu den Grundannahmen des Integrationsprozesses, dass die Kompetenzordnung auf einzelnen Aufgaben- und Befugniszuweisungen ruht. Die Gemeinschaft verfügt nicht über die für souveräne Staaten typische Allzuständigkeit, sondern bedarf ausdrücklicher Befugniszuweisungen (Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung) und muss bei der Kompetenzausübung die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit achten.10 Konkretisierungsbedürftige Rechtsetzung ist also in die vorgegebene institutionelle Ordnung des Gemeinschaftsrechts einzufügen. 1.

Institutionelle Ordnung

8

Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz zwischen dem EuGH und den Mitgliedstaaten berührt sowohl die Verbandskompetenz als auch die Organkompetenz. Für das Kompetenzgefüge von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten bedeutet konkretisierungsbedürftige Aufgabenwahrnehmung aber eine schwächere Beanspruchung gemeinschaftlicher Rechtsetzungsbefugnisse als vollständig ausgeführte und insoweit „bestimmte“ Rechtsetzung. Daher erweisen sich insbesondere die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit sogar als Fürsprecher geringerer Regelungsdichte und damit konkretisierungsbedürftiger Rechtsetzung.

9

Nicht so leicht lässt sich die Zulässigkeit einer ungeschriebenen Aufgabenzuweisung gerade an den EuGH begründen. Auch im Verhältnis der Gemeinschaftsorgane 8 Im Folgenden soll nur auf die Kompetenzproblematik der Richtlinien-Konkretisierung eingegangen werden, da für die Konkretisierung von Verordnungen die Konkretisierungskompetenz des EuGH geklärt sein dürfte; so auch W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 135 ff. 9 So Bleckmann, Europarecht, Rn. 523; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, Rn. 661. 10 Siehe statt aller Streinz, Europarecht, Rn. 167: Kompetenzausübungsschranken.

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§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln

untereinander bedarf es konkreter Aufgabenzuweisungen. Es gilt abermals das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.11 Allerdings erweist sich die Konkretisierung bei institutioneller Betrachtung als integraler Bestandteil der dem EuGH zugewiesenen Befugnis zur Auslegung und Fortbildung des Sekundärrechts. a)

Auslegungsbefugnis des EuGH

Unabhängig davon, ob man Konkretisierung mehr als gebundene Rechtsentscheidung oder mehr als gestaltende Rechtsbildung versteht, lässt sich die Konkretisierung schon unter die dem EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens zugewiesene Aufgabe fassen, über die „Auslegung“ der Handlungen der Organe zu entscheiden. Mit Recht wird Auslegung i.S. des Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV/234 Abs. 1 lit. b) EG insoweit nicht methodisch eng nach Art des Savigny’schen Kanons verstanden. Gerade in Methodenfragen verbietet sich eine unbefangene Gleichsetzung nationaler Vorstellungen mit gemeinschaftsrechtlichen Erwartungen. Die Eigengesetzlichkeit der gemeinschaftlichen Rechtsordnung mit ihren institutionellen Besonderheiten supranationaler Rechtsetzung sowie die in der Gemeinschaft zusammentreffenden Methodentraditionen der Mitgliedstaaten haben den EuGH von Beginn an vor die Aufgabe gestellt, eigenständig das nötige gemeinschaftsspezifische methodische Handwerkszeug zu entwickeln,12 zumal auch aus der Perspektive des deutschen Rechts die Abgrenzung zwischen Auslegung und Ausfüllung nicht immer trennscharf möglich ist.13 Der in Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV/234 Abs. 1 lit. b) EG erteilte Auftrag zur „Auslegung“ ist daher mit Blick auf die Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens zu entwickeln. Auslegung ist einerseits als Gegenbegriff zur Rechtsanwendung zu verstehen, die dem EuGH ohne Zweifel entzogen ist.14 Andererseits ist die Reichweite der dem EuGH mit Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV/234 Abs. 1 lit. b) EG zugewiesenen Aufgabe anhand von Sinn und Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens zu bestimmen, also mit Blick auf das Bedürfnis nach Rechtsvereinheitlichung.15 Auslegung i. S.

11 Calliess-Ruffert-Calliess, Art. 7 EG Rn. 16 f.; Schwarze-Hatje, Art. 7 EG Rn. 43; großzügiger Everling, FS Ophüls (1965), S. 35: Ermächtigungen der Kommission durch den Rat wären auch ohne ausdrückliche Anordnung zulässig. 12 Zu den Kriterien der Auslegung des gemeinschaftlichen Sekundärrechts Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 13 ff.; sowie Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 249 ff.; zu den Methoden bei der Konkretisierung von Generalklauseln vgl. unten Rn. 23 ff. 13 Näher Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 130 ff. 14 St. Rspr.; siehe etwa EuGH v. 28.3.1979 – Rs. 222/78 ICAP ./. Beneventi, Slg. 1979, 1163 Rn. 10 ff.; EuGH v. 24.9.1987 – Rs. 37/86 Coenen ./. ONPTS and CNPRS, Slg. 1987, 3589 Rn. 8; EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, Slg. 2001, I-3569 Rn. 31 ff.; skeptisch zu dieser Grenzziehung zwischen Auslegung und Anwendung Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 271 ff. 15 Zu Inhalt und Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens EuGH v. 16.1.1974 – Rs. 166/73 Rheinmühlen Düsseldorf ./. Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Slg. 1974, 33 Rn. 2; EuGH v. 24.5.1977 – Rs. 107/76 Hoffmann La Roche ./. Centrafarm, Slg. 1977, 957 Rn. 5; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 7 sowie Everling, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (1986), S. 15 ff.; Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts (1998), S. 175 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

des Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV/234 Abs. 1 lit. b) EG umfasst daher jede sachverhaltsgelöste, abstrakte Verdeutlichung von Inhalt und Bedeutung oder – so die Formulierung des EuGH – „Sinn“ und „Tragweite“16 des Gemeinschaftsrechts. In dieser weit gefassten Auslegungsbefugnis ist bei institutioneller Betrachtung auch die Befugnis zur Konkretisierung enthalten.17 b)

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Im Übrigen ließe sich die institutionelle Organkompetenz des EuGH zur Konkretisierung – soweit sie nicht schon seiner Auslegungskompetenz zugeschlagen werden kann – jedenfalls auf die in Art. 19 Abs. 1 EUV/220 EG mit enthaltene Befugnis zur Rechtsfortbildung stützen,18 zumal der EuGH ohnehin nicht scharf zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung unterscheidet.19 Die grundsätzliche Befugnis des EuGH zur Rechtsfortbildung steht heute außer Streit und gehört zur „Realität der Gemeinschaft“20. Aus institutioneller Perspektive lässt sich die Konkretisierung daher zum vertraglich gekennzeichneten Aufgabenbereich des EuGH zählen. 2.

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Rechtsfortbildungsbefugnis des EuGH

Materielle Begründung der Konkretisierungskompetenz

Aus dieser institutionellen Möglichkeit einer Zuweisung der Konkretisierungsaufgabe an den EuGH folgt nicht zwangsläufig, dass mit jedem ausfüllungsbedürftigen Rechtsakt auch eine solche Aufgabendelegation an den EuGH erfolgt. Diese Frage

16 EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Amministrazione delle finanze dello Stato ./. Denkavit Italia, Slg. 1980, 1205 Rn. 16. 17 Statt vieler Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs, S. 60 f. Soweit ersichtlich, stellt allein Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 536 ff., die Konkretisierungsbefugnis des EuGH im Hinblick auf die institutionelle Aufgabenzuweisung des Art. 234 EG in Frage, und zwar mit dem Argument, bei ausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffen ließen sich Auslegung und Anwendung nicht voneinander unterscheiden. 18 Zur Rechtsfortbildungsbefugnis des EuGH Neuner, in diesem Band, § 13 Rn. 7 ff. Zur Konkretisierung als Bestandteil der Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs, S. 60 f.: „Präzisierung“ von unbestimmten Rechtsbegriffen als „Auslegung im weiteren Sinne“; Calliess, NJW 2005, 929, 932; Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 737; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH (1995), S. 133 ff.; Wank, FS Stahlhacke (1995), S. 638. 19 Eingehend Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I (2001), S. 394 ff.; ders., ZEuP 2005, 234, 249 f.; siehe im übrigen Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 575 ff., 604 ff.; Hergenröder, FS Zöllner, Bd. II (1998), S. 1153; Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration (1999), S. 57; Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 291; krit. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 535 f.; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 65 ff., 72. Siehe auch die Beiträge in Schulze/Seif (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsvergleichung in der Europäischen Rechtsgemeinschaft (2003). – Beispiele aus der Rechtsprechung des EuGH bei Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion im Europäischen Gemeinschaftsrecht (1976), S. 105 ff. 20 So Everling, ZSchwR 1993, 337, 347; siehe auch Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs, S. 35 ff.: richterliche Rechtsfortbildung als „Normalfall im Gemeinschaftsrecht“; hierzu im einzelnen Neuner, in diesem Band, § 13 sowie Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 185 ff.

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§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln

nach der Aufgabenverteilung zwischen den nationalen Konkretisierungsakteuren und dem EuGH ist – für den Bereich des Privatrechts 21 – in dieser Schärfe erst mit der Klausel-Richtlinie in das wissenschaftliche Blickfeld gerückt und zum Gegenstand intensiver Befassung avanciert.22 Die damit aufgeworfene Kontroverse krankt allerdings daran, dass zumeist eine generelle Zuweisung der Konkretisierungskompetenz versucht wird.23 Dies ist aber nicht möglich. Auch wenn dem EuGH mit der Befugnis zu Auslegung und Rechtsfortbildung zugleich die Konkretisierung und damit auch die Bildung neuer Maßstabsnormen zugewiesen werden kann, heißt dies nicht, dass sie ihm auch automatisch zugewiesen ist. Und umgekehrt ist es zwar richtig, dass eine Richtlinie auf bloße Rechtsangleichung24 zielt und den Mitgliedstaaten typischerweise Gestaltungsfreiräume belassen soll.25 Doch folgt daraus genauso wenig wie aus dem Subsidiaritätsprinzip26 oder der Einschätzung, dass gemeinschaftseinheitliche

21 Für das öffentliche Recht werden Fragen der Konkretisierung bislang mit anderem Akzent diskutiert; siehe etwa Bleckmann, RIW 1987, 929 ff. mit Blick auf die Beurteilungsspielräume nachgeordneter Behörden oder Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion im Europäischen Gemeinschaftsrecht (1976). 22 Eine Konkretisierungskompetenz bejahend etwa Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs, S. 60 f.; Basedow, FS Brandner (1996), S. 675, 680; Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 2.10 Rn. 7, 19; ders., NJW 2000, 14, 20; ders., in: Grundmann/Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards, S. 141, 155; Heiderhoff, WM 2003, 509, 510 ff.; dies., Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 120 ff., 132 ff.; Joerges, ZEuP 1995, 181, 199 f.; Klauer, Europäisierung des Privatrechts (1998), S. 131 ff.; dies., ERPL 8 (2000), 187 ff.; Leible, RIW 2001, 422, 426 f.; Müller-Graff, in: ders. (Hrsg.), Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft (1999), S. 56 ff., 64; Reich, ZEuP 1994, 381, 391; Remien, ZEuP 1994, 34, 58 f.; ders., RabelsZ 62 (1998), 627, 642 f.; ders., RabelsZ 66 (2002), 503, 517 ff., 520 ff., 523; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 74 ff., 79 f.; Weatherill, ERPL 3 (1995), 307, 316 ff. Krit. hingegen Canaris, EuZW 1994, 417; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 536 ff.; ders., JbJZ 1997, 298 ff.; Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts (1998), S. 228 f.; Heinrichs, NJW 1996, 2190, 2196; Palandt-ders., § 310 BGB Rn. 25 (Ausnahmen für Gerichts- und Schiedsstandsklauseln anerkennend); Nassall, WM 1994, 1645 ff.; Reich, RabelsZ 66 (2002), 531, 544 f.; H. Roth, JZ 1999, 529, 535 f.; W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 135 ff. 23 Siehe nur in jüngerer Zeit Herresthal, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 113, 123 ff.: gemeinschaftliche Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln, diff. aber für unbestimmte Rechtsbegriffe; ähnlich generalisierend Kieninger, RabelsZ 73 (2009), 737, 799 ff.: gemeinschaftliche Konkretisierungskompetenz in vollharmonisierenden Richtlinien. 24 Canaris, EuZW 1994, 417; s.a. Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts (1998), S. 229; Reich, RabelsZ 66 (2002), 531, 544. 25 W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 141 f.; ähnlich Canaris, EuZW 1994, 417 unter Hinweis auf die „Funktion der Richtlinie“; diff. zwischen Verordnung und Richtlinie auch Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts (1998), S. 229 und Bleckmann, RIW 1987, 929, 935. 26 Nassall, JZ 1995, 689, 691; Grabitz/Hilf-Pfeiffer, A 5 (Klausel-Richtlinie) Art. 3 Rn. 41; W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 143 ff.; Schulze-Osterloh, ZGR 1995, 170, 179 f.; siehe auch die Argumentation von I. Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 204 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

materielle Maßstäbe für die Konkretisierung nicht zur Verfügung stünden27, sogleich die Unzulässigkeit einer Letztkonkretisierung durch den EuGH. Erforderlich ist vielmehr eine an der einzelnen Richtlinienbestimmung orientierte materielle Zuweisung der Konkretisierungskompetenz.28 Maßstab kann nur die mit dem jeweiligen Rechtsakt im Einzelfall intendierte Rechtsangleichung sein.29 Dies ist durch autonome Auslegung zu ermitteln.30 a)

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Begriffliche Verweisungen auf das mitgliedstaatliche Recht

Anhaltspunkte für eine solche Zuweisung der Konkretisierungsaufgabe an den EuGH kann schon der gewählte konkretisierungsbedürftige Begriff selbst geben. Wurde eine Generalklausel als umschreibende „Leerstelle“ für bestehende mitgliedstaatliche Regelungen gewählt, liegt darin eine Verweisung auf das nationale Recht mit der Folge, dass die Befugnis zur Letztkonkretisierung den Mitgliedstaaten zugewiesen ist.31 Dies liegt nahe bei Begriffen, die wie die „öffentliche Ordnung“ auf spezifisch nationale Wertverwirklichungen verweisen.32 In der bisherigen Praxis haben

27 So Heinrichs, NJW 1996, 2190, 2196, vgl. auch Franzen, JbJZ 1997, S. 304 ff.; H. Roth, JZ 1999, 529, 535 f.; Nassall, WM 1994, 1645, 1651; ähnlich Staudinger-Schlosser (1998), Einl. zum AGBG Rn. 33: Der Richtliniengeber habe gesehen, dass sich „eine europäisch einheitliche Bewertung von Klauseln beim gegenwärtigen Stand des Vertragsrechts in Europa nicht erreichen lässt.“ Genauso Joerges, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.), Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte (1999), S. 216 Fn. 36: Der EuGH sei zur Konkretisierung ungeeignet, weil er die nötigen „Folgeerwägungen“ nicht anstellen könne. – Zu den materiellen Maßstäben der Konkretisierung noch eingehend unten, Rn. 23 ff. 28 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 74 ff. 29 Vgl. zum folgenden Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 495 ff.; Remien, RabelsZ 66 (2002), 503, 524 ff.; W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 148 ff.; I. Wolff, Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 67 ff.; für Art. 3 Abs. 1 der Klauselrichtlinie etwa Leible, RIW 2001, 422, 426; für die Produkthaftungsrichtlinie Schaub, ZEuP 2003, 562, 569 ff. 30 Gsell/Schellhase, JZ 2009, 20, 24; vgl. auch Herresthal, in Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 115, 121 ff. mit der Unterscheidung zwischen „integrationsinduzierten“ und „regelungsinduzierten“ unbestimmten Rechtsbegriffen. 31 Zu den gesetzgeberischen Gründen für ausfüllungsbedürftige Rechtsetzung auf Gemeinschaftsebene Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 338 sowie I. Wolff, Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 59; mit Blick auf die Klauselrichtlinie Remien, RabelsZ 66 (2002), 503, 525. – Denkbar ist auch, dass eine Generalklausel aus politischen Gründen die einzige politisch durchsetzbare Lösung i.S. eines „kleinsten gemeinsamen Nenners“ darstellt; so Micklitz, ZEuP 1993, 522, 526 für die Klauselrichtlinie. Dies könnte als Argument für eine Konkretisierungskompetenz der Mitgliedstaaten gewertet werden. Dagegen spricht allerdings, dass schon im Gesetzgebungsverfahren die „wichtige Rolle“ des EuGH bei der Konkretisierung zur Sprache gekommen ist; siehe Remien, ZEuP 1994, 34, 58. 32 Vgl. Bleckmann, EuGRZ 1979, 485, 487; weitergehend bzgl. der „guten Sitten“ Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003), S. 361 f.

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§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln

sich solche Verweisungen aber als Ausnahmen erwiesen.33 Genauso wie im Umgang mit bestimmteren Begriffen34 wird im Zweifel davon auszugehen sein, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber mit der Rechtsangleichung auch die Prägung der tatbestandlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen selbst vornehmen wollte.35 Umgekehrt ist die Konkretisierungsaufgabe dem EuGH zugewiesen, wenn sich der Gemeinschaftsgesetzgeber zum Ziel setzt, die aufgrund unterschiedlicher Rechtsvorschriften bestehenden Wettbewerbshemmnisse durch „Klarstellung von Rechtsbegriffen“ zu beseitigen, wie beispielsweise im Zusammenhang mit der E-Commerce-Richtlinie36.37 Die intendierte gemeinschaftseinheitliche „Klarstellung“ lässt sich nur auf gemeinschaftlicher Ebene, d.h. durch den EuGH bewerkstelligen.38 b)

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Rechtsangleichungsintention

Weitere Anhaltspunkte ergeben sich aus der Zielsetzung des Harmonisierungsaktes, wie sie sich anhand der beanspruchten Rechtsgrundlage39 und den Erwägungsgründen40 ablesen lässt. Ein Beispiel hierfür ist die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie.41 Erklärtes Ziel der Richtlinie ist die „Gewährleistung eines einheitlichen Verbraucherschutz-Mindestniveaus“ (Art. 1 der Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie)42. Dieses für privat-

33 Für den Begriff des Schadens i.S.v. Art. 7 lit. a) der Richtlinie 85/374/EWG des Rates v. 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. 1985 Nr. L 210/29, siehe EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, Slg. 2001, I-3569; für eine Auslegungsbefugnis des EuGH Magnus, JZ 1990, 1100, 1103; M. Wolf, FS Lange (1992), S. 786 f.; genauso zum Schadensbegriff in Art. 5 der Richtlinie 90/314/EWG des Rates v. 13.6.1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 L 158/59 (Pauschalreiserichtlinie) Tonner, ZEuP 2003, 619, 627 ff.; für eine Verweisung auf mitgliedstaatliches Recht aber Brüggemeier/Reich, WM 1986, 149, 151; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 511 ff. 34 Näher Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 478 ff. Siehe etwa EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 29; allgemein Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 4 ff.; Bleckmann, EuGRZ 1979, 485, 488. 35 Anders für unbestimmte Rechtsbegriffe Herresthal, in Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 115, 132 ff. 36 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 8.6.2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft im Binnenmarkt, ABl. 2000 L 178/1. 37 BE 6 der E-Commerce-Richtlinie. 38 Weitere Beispiele bei Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 365 ff.: „begriffsbezogene Argumente“. 39 Vgl. Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 496 ff.; W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 135, 148 f. 40 Näher I. Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 76 ff.; allgemein zur Bedeutung für die Auslegung Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 33 ff. 41 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. 42 S.a. BE 5 der Verbrauchsgüterkauf-RL: „Schaffung eines gemeinsamen Mindestsockels“.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

rechtsangleichende Richtlinien typische Ziel verkörpert entscheidende Argumente zugunsten europäisch-einheitlicher Konkretisierung.43 c)

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Anwendung auf die Klausel-Richtlinie

Nach diesen Überlegungen muss auch die Konkretisierung der Generalklausel der Klauselrichtlinie in letzter Konsequenz dem EuGH zugewiesen sein. Die Erwägungsgründe beschreiben als Regelungsanlass, dass die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Vertragsklauseln zwischen Warenverkäufern bzw. Dienstleistern einerseits und Verbrauchern andererseits, namentlich die Rechtsvorschriften über missbräuchliche Klauseln, „beträchtliche Unterschiede“ aufweisen.44 „Um die Errichtung des Binnenmarktes zu erleichtern“,45 sollten „einheitliche Rechtsvorschriften“46 geschaffen werden. Die erstrebten Regelungsziele – Erleichterung der Absatztätigkeit von Verkäufern und Dienstleistern sowie Schutz der Verbraucher im grenzüberschreitenden Verkehr47 – können aber nur erreicht werden, wenn die Klausel-Kontrolle soweit als möglich europäisch-einheitlich erfolgt.48 Sonst könnten sich Verbraucher bei grenzüberschreitenden Geschäften nicht darauf verlassen, nicht durch die Verwendung missbräuchlicher Klauseln übervorteilt zu werden.49 Dies spricht für weit reichende Konkretisierungskompetenzen des EuGH.

III. Aufgabenwahrnehmung durch den EuGH 17

Die bislang referierten Erwägungen sprechen gerade im Zusammenhang mit der Klausel-Richtlinie für eine Kompetenz zur Letztkonkretisierung des EuGH. Der Rechtsprechungsbefund ist gleichwohl übersichtlich. Dies kann zunächst auf die Vorlagepraxis der nationalen Gerichte zurückgeführt werden. Immerhin können die nationalen Gerichte die Aufgabenwahrnehmung durch den EuGH maßgeblich steuern: Ohne geeignete Vorlagen ergehen auch keine Konkretisierungsentscheidungen. So gibt es nach wie vor keine Rechtsprechung zur Konkretisierung der Treu und Glauben-Generalklausel (Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1) der HandelsvertreterRichtlinie.50 Auch die zahlreichen normativ-unbestimmten Rechtsbegriffe der Ver-

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Gsell/Schellhase, JZ 2009, 20, 24. BE 3 und 4 der Klausel-Richtlinie. BE 6 der Klausel-Richtlinie. BE 10 der Klausel-Richtlinie. BE 5 und 7 der Klausel-Richtlinie. So Leible, RIW 2001, 422, 426; a.A. I. Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 205, die aus Art. 5 Abs. 3 EG auch im Bereich der binnenmarktfinalen Rechtsangleichung eine Vermutung zugunsten nationaler Gestaltungsfreiräume folgert (S. 179); a.A. auch Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 553, da er die Richtlinie der aktiven Rechtsangleichung zuordnet (a.a.O., S. 221 ff.). 49 Zu diesem Beispiel Leible, RIW 2001, 422, 426; vgl. auch Brandner, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 131, 136 im Hinblick auf die „Absichten und den Schutzgehalt“ sowie den „Geltungswillen“ der Richtlinie. 50 S.o. Fn. 4.

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§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln

brauchsgüterkauf-Richtlinie51 und der Verbraucherkredit-Richtlinie52 sind bislang nicht näher ausgefüllt worden. Selbst zur prominentesten sekundärrechtlichen Generalklausel – Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie – existieren bislang nur zwei Urteile, die sich speziell mit Fragen der Konkretisierung auseinandersetzen.53 Schon dieser Befund zeigt, dass so manche Aufgeregtheit und Sorge um eine hypertrophierende Konkretisierungsjudikatur des EuGH wohl unbegründet war.54 1.

Océano

In seiner ersten Entscheidung zur Konkretisierung von Art. 3 Abs. 1 der KlauselRichtlinie aus dem Jahr 2000 – „Océano“55 – hat der EuGH nicht nur die Vorlagefrage des spanischen Instanzgerichts nach seiner Befugnis zur Missbräuchlichkeitskontrolle einer Gerichtsstandsklausel, sondern darüber hinaus auch inhaltlich die Missbräuchlichkeit der streitigen Klausel im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Klausel-Richtlinie bejaht.56 Dieses Judikat ist als Votum zugunsten einer gemeinschaftlichen Letztkonkretisierungsbefugnis gelesen worden.57 Mit Recht wurde dabei kritisiert, dass die

51 S.o. Fn. 41; zu Art. 3 Abs. 3 der Verbrauchsgüterkauf-RL siehe aber den Vorlagebeschluss BGH, NJW 2009, 1660. Weitere Beispiele für ausfüllungsbedürftige Klauseln finden sich in Art. 3 Abs. 5 der RL („angemessene Minderung“) sowie in Art. 3 Abs. 6 der RL („geringfügige Vertragswidrigkeit“); dazu exemplarisch Baldus, in: Baldus/Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht, S. 1, 15 ff. Weitgehend identisch die Nachfolgerregelungen in Art. 26 Entwurf einer Richtlinie über Rechte der Verbraucher v. 8.10.2008, KOM(2008) 614 endg. 52 Zu den in der Vorgängerrichtlinie (Richtlinie 87/102/EWG des Rates zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, ABl. 1987 L 42/48) enthaltenen ausfüllungsbedürftigen Klauseln, z.B. „angemessene Ermäßigung“ der Gesamtkosten des Kredits bei vorzeitiger Erfüllung (Art. 8), „angemessener Schutz“ des Verbrauchers bei der Verwendung von Wechsel und Scheck (Art. 10), sind keine Entscheidungen ergangen. Siehe künftig Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG, ABl. 2008 L 133/66. 53 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, Slg. 2000, I-4941 und EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403; bestätigt durch EuGH v. 26.10.2006 – Rs. C-168/05 Elisa María Mostaza Claro ./. Móvil Milenium SL, Slg. 2006, I-10421; sowie EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 Pannon GSM Zrt. ./. Erzbéset Sustikné Gyo˝rfi, (noch nicht in Slg.) Rn. 42. Zur Rechtsnatur des Richtlinien-Anhangs EuGH v. 7.5.2002 – Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden, Slg. 2002, I-4147 insbes. Rn. 20 ff. 54 In diese Richtung auch GA Geelhoed, SchlA v. 25.9.2003 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Tz. 29. 55 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, Slg. 2000, I-4941 = ZEuP 2003, 141 m. Anm. Pfeiffer = DB 1999, 2056 m. Anm. Staudinger = EWiR 2000, 784 m. Anm. Freitag = JZ 2001, 245 m. Anm. Schwartze; hierzu Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 377 ff.; weitere Besprechungen von Hau, IPRax 2001, 96; Leible, RIW 2001, 422; Whittaker, LQR 117 (2001), 215. 56 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, Slg. 2000, I-4941 Rn. 24. 57 So etwa Leible, RIW 2001, 422, 435 f.; Möllers, JZ 2002, 121, 125; krit. Borges, NJW 2001, 2061, 2062; I. Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 209 f. Anne Röthel

359

18

2. Teil: Allgemeiner Teil

Vorlagefrage eine inhaltliche Klauselbeurteilung eigentlich nicht erfordert hätte.58 Nach dieser Entscheidung lag die Annahme nahe, dass sich der EuGH eine weit reichende Konkretisierungskompetenz zuspricht und diese Kompetenz auch in Anspruch nehmen will und wird. In dieselbe Richtung wiesen die Ausführungen von Generalanwalt Saggio, der in seinen Schlussanträgen betont hatte, dass „die Beantwortung der Frage, ob eine Klausel ... ‚missbräuchlich‘ ist, nicht mehr als eine Auslegung des Wortlauts der Richtlinie ... erforderlich macht.“59 2.

19

Differenzierter entschied der EuGH auf Vorlage des BGH60 in der Rechtssache Freiburger Kommunalbauten.61 Anders als in der Océano-Entscheidung nahm er nicht in der Sache zur Missbräuchlichkeit der streitigen Vorauszahlungsklausel Stellung, sondern wies diese Beurteilung den nationalen Gerichten zu: Im Rahmen der mit Art. 234 EG übertragenen Befugnis zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts sei es Aufgabe des EuGH, die zur Definition einer konkretisierungsbedürftigen Klausel verwendeten „allgemeinen Kriterien“ auszulegen, hingegen sei er nicht befugt, sich zur Anwendung dieser allgemeinen Kriterien auf eine bestimmte Klausel zu äußern.62 Anderes gelte nur – so die klarstellenden Hinweise mit Seitenblick auf die OcéanoEntscheidung – wenn sich die Missbräuchlichkeit einer Klausel ohne weitere Berücksichtigung der Vertragsumstände und ihrer Auswirkungen im nationalen Recht feststellen lasse.63 3.

20/21

Freiburger Kommunalbauten

Grundannahmen der EuGH-Rechtsprechung

Hinter diesem wenn auch schmalen Rechtsprechungsbestand stehen zwei Grundannahmen für die Aufgabenwahrnehmung des EuGH bei der Konkretisierung gemeinschaftlichen Sekundärrechts. Die erste Grundannahme betrifft das Selbstverständnis des EuGH, ohne nähere Begründung zur Konkretisierung sekundärrechtlicher Generalklauseln befugt zu sein. So wenig der EuGH methodisch zwischen Auslegung und

58 Gegenstand der Vorlagefrage war nicht die Missbräuchlichkeit der streitigen Gerichtsstandsvereinbarung, sondern die sachlich davor liegende Frage, ob sich ein Verbraucher auf die Missbräuchlichkeit der Klausel berufen oder das angerufene Gericht die Missbräuchlichkeit von Amts wegen zu berücksichtigen hat. Krit. Hakenberg, ZEuP 2001, 888, 901 f.; Schwartze, JZ 2001, 246, 248. 59 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, Slg. 2000, I-4941 Rn. 18 (Hervorhebung nicht im Original). 60 BGH, NZM 2002, 754 = ZIP 2002, 1197; zum Vorlagebeschluss Heiderhoff, WM 2003, 509, 512 ff. 61 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 ZEuP 2005, 418 ff. mit Anm. Röthel; dazu Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 432 ff.; Freitag, EWiR 2004, 397 ff.; ders./Riemenschneider, WM 2004, 2470 ff.; Markwardt, ZIP 2005, 152 ff.; Schmidt-Kessel, WuB IV F. Art. 3 RL 93/12 EWG 1.04; Wittwer, E.L.Rep. 2004, 380 ff. 62 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22. 63 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 23.

360

Anne Röthel

§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln

Rechts(fort-)bildung unterscheidet, so wenig kompetentielle Besonderheiten erkennt er Generalklauseln zu.64 Dies kommt auch in der Entscheidung Freiburger Kommunalbauten zum Ausdruck, wenn der EuGH betont, es sei seine Aufgabe, die zur Definition einer konkretisierungsbedürftigen Klausel verwendeten „allgemeinen Kriterien“ auszulegen.65 Damit hat sich der EuGH auch nicht dem Votum von Generalanwalt Geelhoed angeschlossen, der verlangt hatte, dass der EuGH den Mitgliedstaaten keine ins Detail gehenden Vorgaben machen dürfe, weil sonst der Ermessensspielraum der nationalen Umsetzungsgesetzgeber unzulässig eingeengt werde.66 Hingegen sieht es der EuGH grundsätzlich nicht als seine Aufgabe an – und dies ist die zweite Grundannahme – die Kriterien der Missbräuchlichkeitskontrolle auf die konkrete streitige Vertragsklausel anzuwenden. Konsequenterweise lehnt er auch jede Beurteilung tatsächlicher Umstände ab67 und weist die Prüfung nationalen Rechts ebenfalls den mitgliedstaatlichen Gerichten zu.68 Dass der EuGH in der Rechtssache Océano auch über die Missbräuchlichkeit der streitigen Klausel entschieden hat, ist vielmehr ein Sonderfall geblieben.69 In jüngeren Folgeentscheidungen hat der EuGH hingegen an der Unterscheidung zwischen der Setzung allgemeiner Maßstäbe einerseits und der Anwendung der Maßstäbe andererseits festgehalten.70 4.

22

Weiterführungen: Konkretisierung und Vollharmonisierung

In jüngerer Zeit zeichnet sich im europäischen Verbraucherprivatrecht ein Paradigmenwechsel in der Rechtsetzungsstrategie ab: der Übergang von mindestharmonisierenden zu vollharmonisierenden Richtlinien.71 Darunter werden Richtlinien verstanden, die den Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit eröffnen, über das in der Richtlinie nur als Mindestschutzniveau verstandene Regelungskonzept hinauszuge-

64 Diff. aber Herrestahl, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 115, 123 ff. 65 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22; genauso etwa Palandt-Heinrichs, § 310 BGB Rn. 25: Die Zuständigkeit des EuGH beschränkt sich auf die „Auslegung der in der Richtlinie verwandten Begriffe“. In diese Richtung weist auch die Entscheidung vom 21.11.2002 – Rs. C-473/00 Cofidis, Slg. 2002, I-10875 Rn. 23, wo der EuGH sich auf „Tatbestandsmerkmale“ der Generalklausel bezieht. Diese Diktion lässt keine Unterschiede im Umgang zwischen bestimmteren und unbestimmteren Begriffen erkennen. 66 GA Geelhoed, SchlA v. 25.9.2003 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Tz. 27. 67 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22. 68 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 21. Hierzu Gebauer/Wiedmann-Nassall, Kap. 5 Rn. 64. 69 So auch Palandt-Heinrichs, § 310 BGB Rn. 25. 70 S. EuGH v. 26.10.2006 – Rs. C-168/05 Elisa María Mostaza Claro ./. Centro Móvil Milenium SL, Slg. 2006, I-10421 Rn. 22 f.; dazu Wagner, SchiedsVZ 2007, 49; EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 Pannon GSM Zrt. ./. Erzbéset Sustikné Gyo˝rfi, (noch nicht in Slg.) Rn. 42 = NJW 2009, 2367 mit Anm. Pfeiffer; dazu Mayer, GPR 2009, 220, 222 f. 71 Europäische Kommission, „Verbraucherpolitische Strategie 2002–2006“, KOM(2002) 208 endg.; „Verbraucherpolitische Strategie 2007 bis 2013“, KOM(2007) 99 endg.

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361

22a

2. Teil: Allgemeiner Teil

hen.72 Inzwischen wird für das gesamte europäische Verbraucherrecht ein Übergang zur Vollharmonisierung angestrebt. Auch die im Jahr 2008 vorgeschlagene Richtlinie über Rechte der Verbraucher73 ist als vollharmonisierende Richtlinie geplant.

22b

Inwieweit dieser Strategiewechsel auch ein Paradigmenwechsel für das Gefüge der Konkretisierungskompetenz bedeutet, ist derzeit noch nicht absehbar. Im Schrifttum mehren sich die Stimmen, die aus der Entscheidung für das Konzept der Vollharmonisierung zugleich eine Entscheidung für eine weitergehende Aufgabenwahrnehmung bei der Konkretisierung von ausfüllungsbedürftigen Begriffen folgern.74 Dies gelte insbesondere für sog. „schwarze“ Listen in Klauselkatalogen vollharmonisierender Richtlinien.75 Dadurch sei den nationalen Gerichten die Konkretisierungskompetenz entzogen.76

22c

Dies ist allerdings nicht zwingend. Denn auch bei vollharmonisierenden Richtlinien lässt sich zwischen der Bestimmung der allgemeinen, abstrakten Wertungskriterien einerseits und ihrer Anwendung im Einzelfall sinnvoll unterscheiden. Mit der Entscheidung für eine vollharmonisierende anstelle einer mindestharmonisierenden Richtlinie hat sich der Gemeinschaftsgesetzgeber lediglich die Entscheidung über das Schutzniveau vorbehalten. Dies berührt die abstrakten, allgemeinen Wertungskriterien. Hingegen bedeutet es keinen Bruch mit der vollharmonisierenden Strategie, wenn die konkrete Anwendung der abstrakten Wertungskriterien nach wie vor als Aufgabe der nationalen Gerichte verstanden wird. Das mit den Entscheidungen Océano und Freiburger Kommunalbauten etablierte Regel-Ausnahme-Verhältnis kann also – vorbehaltlich ausdrücklich anderer Regelungsintention – auch bei vollharmonisierenden Richtlinien aufrechterhalten werden. Dies entspricht den Erfahrungen im Umgang mit der Produkthaftungs-Richtlinie:77 Der EuGH hat zwar mehrfach betont, dass in ihrem Regelungsbereich kein mitgliedstaatlicher Gestaltungsspielraum besteht.78 Zugleich hat er aber z.B. für den Begriff des Schadens das Fortbestehen

72 Siehe Richtlinie 2008/122/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.1.2009 über den Schutz der Verbraucher im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Teilnutzungsverträgen, Verträgen über langfristige Urlaubsprodukte sowie Wiederverkaufs- und Tauschverträgen (Timesharing-Richtline), ABl. 2009 L 33/10; die Verbraucherkredit-Richtlinie 2008 (s.o. Fn. 52) und die UGP-Richtlinie (oben Fn. 3). 73 Entwurf einer Richtlinie über Rechte der Verbraucher v. 8.10.2008, KOM(2008) 614 endg; dazu Micklitz/Reich, EuZW 2009, 279 ff. 74 Insbes. Kieninger, RabelsZ 2009 (73), 793, 801 ff.; Gsell/Schellhase, JZ 2009, 20, 23 f.; Möllers, ZEuP 2008, 480, 501 ff. 75 So etwa Anhang I der UGP-Richtlinie, umgesetzt in deutsches Recht durch das Erste Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb vom 22.12.2008 (BGBl. 2008 I, 2949); auch in Anhang II und III des Entwurfs einer vollharmonisierenden Richtlinie über Rechte der Verbraucher v. 8.10.2008, KOM(2008) 614 endg. sind eine „graue“ und eine „schwarze“ Liste enthalten. 76 Kieninger, RabelsZ 73 (2009), 793, 801 ff. 77 S.o. Fn. 33. 78 Etwa EuGH v. 25.4.2002 – Rs. C-52/00 Kommission ./. Frankreich, Slg. 2002, I-3827, sowie Rs. C-154/00 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2002, I-3879; EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-402/03 Scov ./. Bilka, Slg. 2006, I-199.

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§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln

nationaler Ausfüllungsspielräume anerkannt.79 Abermals bedarf es also einer differenzierenden Beurteilung. Entscheidend ist die für jede Richtlinie neu zu prüfende Regelungsintention und Regelungsdichte.80 In diese Richtung weist auch die Entscheidung des EuGH zur neuen UGP-Richtlinie in der Rechtssache Galatea.81 Auf eine niederländische Vorlage erklärte der EuGH eine mitgliedstaatliche Vorschrift für unzulässig, die über die „schwarze Liste“ der UGP-Richtlinie hinausging. Dem nationalen Gesetzgeber stehe es in Anbetracht der mit der Richtlinie angestrebten Vollharmonisierung nicht zu, „die zwangsläufig anhand des Sachverhalts des konkreten Falles vorzunehmende Beurteilung“82 durch eine Rechtsvorschrift zu ersetzen. Ähnlich hat der EuGH auf Vorlagebeschluss des BGH83 zu §§ 3, 4 Nr. 6 UWG entschieden.84 Dass vollharmonisierende Richtlinien dem umsetzenden Gesetzgeber zumeist engere Schranken ziehen, bedeutet aber nicht, dass damit zugleich den mitgliedstaatlichen Gerichten die Kompetenz entzogen sein soll, Generalklauseln einzelfallbezogen und gegebenenfalls unter Berücksichtigung nationaler Rechtsmaßstäbe zu konkretisieren. In diese Richtung betonte auch Generalanwältin Trstenjak, dass der Würdigung durch die nationalen Gerichte insoweit nicht vorgegriffen werden dürfe.85

22d

Auch mit der geplanten Richtlinie über Rechte der Verbraucher86 dürfte sich am bisherigen Konzept der abgestuften Konkretisierungskompetenz zwischen EuGH und nationalen Gerichten nichts ändern. In der eigentlichen Zweifelsfrage, der Konkretisierungskompetenz im Rahmen der Klausel-Kontrolle, wird es bei einem abgestuften Vorgehen bleiben.87 Auch in einem vollharmonisierenden Rechtsakt entscheidet die Regelungsintention über die den nationalen Instanzen verbleibenden Befugnisse. Solange das Gemeinschaftsrecht die Kontrollmaßstäbe nicht abschließend vorgibt, sind die Spielräume national aufzufüllen. Das Ziel der Vollharmonisierung wird damit nicht „verfehlt“.88

22e

79 80 81 82 83 84 85 86 87

88

EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, Slg. 2001, I-3569 Rn. 31 ff. Genauso Gsell/Schellhase, JZ 2009, 20, 23 ff. EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-261/07 und C-299/07 Galatea, Slg. 2009, I-2949. EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-261/07 und C-299/07 Galatea, Slg. 2009, I-2949 Rn. 65. BGH, EuZW 2008, 542; dazu Köhler, GRUR 2009, 626 ff. EuGH v. 14.1.2010 – Rs. C-304/08 Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs e. V. ./. Plus Warenhandelsgesellschaft mbH, (noch nicht in Slg.); a.A. Köhler, GRUR 2009, 626, 629. Vgl. GA Trstenjak, SchlA v. 3.9.2009 – Rs. C-304/08 Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs e.V. ./. Plus Warenhandelsgesellschaft mbH, (noch nicht in Slg.), Tz. 101 und 103. Entwurf einer Richtlinie über Rechte der Verbraucher v. 8.10.2008, KOM(2008) 614 endg. Näher Kieninger, RabelsZ 73 (2009), 793, 805 mit Blick auf die Verweise in Anhang II lit. c) und lit. d) auf die Vorschriften des nationalen Rechts; dazu auch Rott/Terryn, ZEuP 2009, 456, 485 f. So aber Kieninger, RabelsZ 73 (2009), 793, 801.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

IV.

Konkretisierungsmethoden

1.

Gemeinschaftsautonome Konkretisierungsmethode

23

Aus der Perspektive des deutschen Rechts und der deutschen Methodenlehre lässt sich eine methodische Modellvorstellung entwickeln, bei der sich in der Konkretisierung die Methoden der Auslegung mit den Methoden der Rechtsbildung und Rechtsfortbildung verbinden. Dieses Changieren der Konkretisierung zwischen gebundener Rechtsentscheidung und gestaltender Rechtsbildung ist bereits angeklungen (oben Rn. 3 f.). Danach sind im Wege der Auslegung die tatbestandlichen „äußeren“ Grenzen des konkretisierungsbedürftigen Begriffes aufzuzeigen, während die weitere Ausfüllung im Wesentlichen Rechtsgestaltung ist, die auf methodisch entsprechend weniger vorgezeichneten Bahnen verläuft.

24

Bei der Übertragung dieses Modells auf die Konkretisierung durch den EuGH ist allerdings Vorsicht geboten.89 Mag sich der europäische Gesetzgeber mit konkretisierungsbedürftigen Rechtsbegriffen und Generalklauseln auch für ein in vielen Rechtsordnungen bekanntes Regelungskonzept entschieden haben, so bestehen die rechtskulturellen und methodischen Divergenzen90 in diesem Bereich doch unverändert fort. Das deutsche Verständnis der Generalklausel kennt weder im common law, dem das Konzept traditionell fremd ist, noch in den romanischen Rechtsordnungen eine vollständige Entsprechung.91 Eine gemeinschaftseinheitliche Konkretisierung von Generalklauseln im Sinne des EuGH durch nationale Richter aber kann ohne gemeinschaftliche Methodik kaum gelingen.92 Dies bedarf eingehender und offener Auseinandersetzung93 und vor allem einer mehr funktional argumentierenden und vergleichenden Diskussion.94

25

In funktionaler Herangehensweise sind auch die in nationalen Methodenlehren vielfach gebräuchlichen Unterscheidungen zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung zu überprüfen. Eine trennscharfe Unterscheidung ist dem EuGH insoweit fremd.95 Dementsprechend vorsichtig ist auch mit methodischen Schlussfolgerungen umzugehen.

89 Zur Eigenständigkeit europäischer Auslegung vgl. bereits oben, Rn. 10. 90 Näher Hager, Rechtsmethoden in Europa. 91 Eingehend die Beiträge in Baldus/Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht und in Grundmann/Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards; dazu Röthel, GPR 2008, 176 ff. 92 Edward, Shifting Power From Legislation To Judges, in: Grundmann/Mazeaud (Hrsg.), S. 79, 80; vgl. auch Röthel, GPR 2008, 176, 178. 93 Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 242 ff. 94 Röthel, GPR 2008, 176, 178. 95 Siehe die Beiträge von Baldus (§ 3), Riesenhuber (§ 11) und Neuner (§ 13) in diesem Band; krit. Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 5 ff.

364

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§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln

2.

Konkretisierung durch Auslegung am Beispiel der Klausel-Richtlinie

Insbesondere zur Konkretisierung der Generalklausel der Klausel-Richtlinie, aber auch im Hinblick auf andere Sekundärrechtsakte werden sich erste Anhaltspunkte der Konkretisierung schon aus den klassischen, vom EuGH verwendeten Auslegungsargumenten ergeben.96 Anzusetzen ist bei dem Wortlaut der Generalklausel 97 und ihrer systematischen Stellung innerhalb des Rechtsaktes.

26

Im Beispiel der Klauselkontrolle sind also zunächst sämtliche inhaltlichen Vorgaben, die die Richtlinie bietet – und dies sind nicht wenige – zusammenzutragen. Sie konturieren die äußeren Grenzen der Konkretisierung. Als missbräuchlich soll eine Klausel gelten, die „entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten verursacht“ (Art. 3 Abs. 1 Klausel-Richtlinie).98 Die Rechtsstellung von Verbraucher und Unternehmer sind also in Verhältnis zueinander zu setzen. Methodisch läuft dies auf eine Abwägung hinaus.99 Bestätigt wird dies durch die Erwägungsgründe, in denen die Missbräuchlichkeit als „umfassende Bewertung der Interessenlagen der Parteien“ umschrieben wird. Eine solche Abwägung stellt auch den Kern der Argumentation in der Rechtssache Océano dar: Darin hat der EuGH die Nachteile, die die Klausel für den Verbraucher erzeugt, den Vorteilen für den Gewerbetreibenden gegenüber gestellt und allein daraus die Missbräuchlichkeit der Klausel gefolgert.100

27

Weitere Anhaltspunkte enthält Art. 4 Abs. 1 Klausel-Richtlinie.101 Daraus ergibt sich das Erfordernis einer konkret-individuellen Klauselbeurteilung.102 Im Einzelnen obliegt die Beurteilung der konkreten Vertragsumstände allerdings – wie bereits erläutert – den nationalen Gerichten.103

28

Neben dem Wortlaut und der Systematik misst der EuGH der Teleologie einer Richtlinie, wie sie sich an den Erwägungsgründen ablesen lässt, regelmäßig große Bedeu-

29

96 Näher zu den vom EuGH verwendeten Auslegungskriterien Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 13 ff. 97 Näher Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 14 ff. und 22 ff. 98 Fast wortgleich Art. 32 Abs. 1 der vorgeschlagenen Richtlinie über Rechte der Verbraucher, KOM(2008) 614 endg. 99 Zur Konkretisierung durch Abwägung Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 146 ff. 100 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, Slg. 2000, I-4941 Rn. 22 f. 101 Näher Gebauer/Wiedmann-Nassall, Kap. 5 Rn. 65 ff.: „konkretisierende Kontrolltopoi“; ähnlich Art. 32 Abs. 2 der vorgeschlagenen Richtlinie über Rechte der Verbraucher, KOM(2008) 614 endg, allerdings erweitert um die Frage, „in welcher Weise der Vertrag abgefasst wurde und wie der Gewerbetreibende ihn dem Verbraucher gemäß Art. 31 zur Kenntnis gebracht hat“. 102 So auch Hommelhoff/Wiedenmann, ZIP 1993, 562, 568 f.; ähnlich Grabitz/Hilf-Pfeiffer, A 5 (Klausel-Richtlinie) Vorbem Rn. 28; einschränkend Remien, ZEuP 1994, 34, 52 ff. 103 Siehe EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, Slg. 2000, I-4941 Rn. 21; hierzu bereits oben, Rn. 20.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

tung bei.104 Dies wird auch für die Konkretisierung von Generalklauseln gelten. Mit Blick auf die Konkretisierung der Klausel-Richtlinie finden sich in den Erwägungsgründen nicht nur der allgemeine Hinweis auf das Gebot der Interessenbewertung, sondern auch die Vorgabe, dass besonders „das Kräfteverhältnis zwischen den Verhandlungspositionen der Parteien“ zu berücksichtigen ist sowie der Umstand, „ob auf den Verbraucher in irgendeiner Weise eingewirkt wurde, seine Zustimmung zu geben, und ob die Güter oder Dienstleistungen auf eine Sonderbestellung des Verbrauchers hin verkauft bzw. erbracht wurden.“105 3.

30

Innerhalb dieser durch die Auslegung i.e.S. gezogenen Grenzen bedeutet Konkretisierung richterlich-autonome Maßstabsetzung. Diese Rechtsgestaltung ist nach unserer methodischen Vorstellung Rechtsbildung, wobei die Rechtsprechung weniger methodischen als legislatorischen Bindungen unterworfen ist, d.h. den Bindungen, denen auch der Gesetzgeber bei abstrakt-genereller Regelsetzung unterliegt.106 Mit Blick auf das Gemeinschaftsrecht ist die wohl vordringlichere Aufgabe aber – zumal auch eine europäische Gesetzgebungslehre derzeit allenfalls in Konturen erkennbar ist107 – die Verständigung darüber, woraus sich die materiellen Maßstäbe einer solchen Rechtsgestaltung durch den EuGH ergeben können. a)

31

Maßstäbe der Rechtsgestaltung

Referenzordnungen

Solche materiellen Maßstäbe können sich vor allem aus Referenzordnungen ergeben. Aus der AGB-Kontrolle des deutschen Rechts kennen wir die Vorstellung, die gerichtliche Inhaltskontrolle am Referenzmaßstab des dispositiven Rechts auszurichten (§ 307 Abs. 2 BGB). Dahinter steht das Anliegen, die gerichtliche Konkretisierung in die geschriebene Rechtsordnung einzubinden und hieraus die maßgeblichen Wertungen zu extrahieren, die ihrerseits als Konkretisierungsmaßstab dienen sollen. Ganz allgemein geht es dabei um die Rückanbindung der Konkretisierung an übergreifende Wertvorstellungen, Leitbilder und Prinzipien. In diesem Streben nach „Rückanbindung“ verwirklichen sich die systematischen Ansprüche jeder Rechtsordnung.108

104 Siehe Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 40 ff. sowie Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 10 ff., 15 ff. 105 BE 16 der Klausel-Richtlinie. 106 Zu den Bindungen judikativer Normsetzung Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 86 ff. (Sachrichtigkeit, Rechtssicherheit, Rechtsgleichheit, Normenklarheit). 107 Ansatzpunkte bei Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration (1999), § 3; Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung (2006). 108 Zu Systemdenken und Systembildung im Europäischen Privatrecht Grundmann, in diesem Band, § 10; ders., Systembildung und Systemlücken; zur Anwendung des Systemgedankens auf das Europäische Privatrecht Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 52 ff., insbes. zur Konkretisierung von Generalklauseln S. 74 ff.; krit. Flessner, JZ 2002, 14, 15 f.

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§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln

aa)

Erfordernis einer gemeinschaftsautonomen Referenzordnung

Ist die Konkretisierung einer sekundärrechtlichen Generalklausel aufgrund der Rechtsangleichungsintention dem EuGH zugewiesen, werden langfristig gemeinschaftsautonome Referenzmaßstäbe entstehen.109 Rein nationale Referenzordnungen – etwa das geschriebene Vertragsrecht eines Mitgliedstaates – scheiden regelmäßig aufgrund der Rechtsangleichungsintention des Sekundärrechtsaktes110 als taugliche Referenzordnung aus. Da die Klausel-Richtlinie eine gemeinschaftseinheitliche Klauselkontrolle intendiert, kann dieser Anspruch nur eingelöst werden, wenn die Beurteilung der Treuwidrigkeit anhand gemeinschaftseinheitlicher und daher gemeinschaftsautonomer Maßstäbe begründet wird.111 Dies deckt sich mit der Erkenntnis, dass nationale „Vorbildrechtsordnungen“ auch für die Auslegung eines Sekundärrechtsaktes allenfalls untergeordnete Bezugspunkte verkörpern.112

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Dies heißt nicht, dass die nationalen Rechtsordnungen überhaupt keine Bedeutung für die Konkretisierung hätten.113 Bei der Klauselkontrolle werden sich die spezifischen Wirkungen einer Klausel vielmehr erst aus dem nationalen Rechtsumfeld ergeben. Diese Beurteilung hat der EuGH aber mit Recht den nationalen Gerichten zugewiesen.114 Daraus ergibt sich – was aus Gründen der Sachnähe auch einzig sinnvoll erscheint –, dass der EuGH im Rahmen seiner Zuständigkeit die generellen inhaltlichen Konkretisierungsmaßstäbe gemeinschaftsautonom entwickelt, während die nationalen Gerichte im Rahmen ihrer Befugnisse, d.h. bei der Anwendung der abstrakten Vorgaben des EuGH auf die konkrete Klausel, in die Beurteilung auch das Umfeld des nationalen Rechts heranziehen müssen.

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Ähnlich ist für rechtsvergleichend entwickelte Referenzmaßstäbe115 oder die gemeineuropäisch erarbeiteten principles116 zu entscheiden. Gerade für die Konkretisierung

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109 Zur Konkretisierung als Prozess noch unten, Rn. 40 f. 110 Hierzu bereits oben, Rn. 15. 111 Siehe nur Staudinger, DB 2000, 2058; a.A. Markwardt, ZIP 2005, 152, 154; Freitag, EWiR 2004, 397 f.; ders./Riemenschneider, WM 2004, 2470, 2478; Basty, DNotZ 2004, 768, 771: als „Vergleichsmaßstab“. 112 Siehe Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 38 mwN; ähnlich der Befund von Schwartze, in diesem Band, § 4 Rn. 21 ff. 113 In diese Richtung auch Heiderhoff, WM 2003, 509, 511. 114 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 21. 115 Hierfür Remien, ZEuP 1994, 36, 61 f.; Grabitz/Hilf-Pfeiffer, A 5 (Klausel-Richtlinie) Art. 3 Rn. 41 f. mwN, der i.Ü. auch auf das „in den Mitgliedstaaten vorhandene Entscheidungsmaterial“ zurückgreifen will (Rn. 65). Damit würde aber eine europäisch-autonome Konkretisierung im Ergebnis aufgegeben. Zur Bedeutung der Rechtsvergleichung siehe Schwartze, in diesem Band, § 4. 116 Hierfür Schmidt-Kessel, WM 1997, 1732, 1738; Remien, RabelsZ 66 (2002), 503, 525; Leible, RIW 2001, 422, 426; Markwardt, ZIP 2005, 152, 154; Wittwer, E.L.Rep. 2004, 380, 384. – Siehe Art. 1:201, Art. 6:102 Principles of European Contract Law (sog. Lando-Principles); deutsche Fassung abgedruckt bei v. Bar/Zimmermann (Hrsg.), Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts (2002). Zur Einordnung der principles in die Rechtsquellenlehre Canaris, in: Basedow (Hrsg.), Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung und deutsches Recht (2000), S. 15 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

von Treu und Glauben mag es nahe liegen, in erster Linie an die sichtbaren gemeinsamen Begriffstraditionen anzuknüpfen.117 Eine gewisse Rechtsvereinheitlichung könnte damit sicherlich geleistet werden. Doch können weder rechtsvergleichend noch gemeineuropäisch entwickelte Maßstäbe118 den Anspruch auf systematische Einbettung der Konkretisierung in die gemeinschaftliche Gesamtrechtsordnung einlösen.119

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Dies gilt namentlich für die Konkretisierung der Generalklausel in Art. 3 Abs. 1 Klausel-Richtlinie.120 Auch wenn das Konzept einer an Treu und Glauben ausgerichteten Klauselkontrolle nach ihrer rechtskulturellen Provenienz und inhaltlichen Konzeption Ausdruck einer gemeinsamen Entwicklungstendenz der Mitgliedstaaten ist 121, hat die Konkretisierung doch ausschließlich mit Blick auf genuin gemeinschaftsrechtliche Wertvorstellungen zu erfolgen.122 Dies entspricht der Erkenntnis, dass aus dem nationalen Recht bekannte Begriffe im Gemeinschaftsrecht nicht notwendig denselben Bedeutungsgehalt haben.123 bb)

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Sekundärrechtliche Referenzordnungen

Umso wichtiger sind daher die vom Gemeinschaftsgesetzgeber selbst mitgegebenen Referenzordnungen. Beispiele für diese Regelungstechnik sind der Anhang zur Klausel-Richtlinie124 sowie der Anhang I der UGP-Richtlinie125. Vergleichbare Kataloge sind in Anhang II und III des Entwurfs einer Richtlinie über Rechte der Verbraucher enthalten.126 Auf eine solche sekundärrechtliche Referenzordnung hat sich auch der

117 Rechtsvergleichend Zimmermann/Whittaker (Hrsg.), Good Faith in European Contract Law (2000). 118 Zur Bedeutung des (D)CFR noch unten, Rn. 39a f. 119 Aus anderem Grund krit. Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 658: Ein im Wege wertender Rechtsvergleichung ermittelter Missbräuchlichkeitsbegriff führe zu einer „Maximum-Harmonisierung“. 120 Eindrücklich Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 636 ff. 121 Grabitz/Hilf-Pfeiffer, A 5 (Klausel-Richtlinie) Vorbem Rn. 32; siehe auch MünchKommBGB-Roth (2003), § 242 BGB Rn. 140: Treu und Glauben als Europäisches Rechtsprinzip; für einen Überblick siehe Staudinger-Looschelders/Olzen, § 242 BGB Rn. 1171 ff. sowie zum anglo-amerikanischem Rechtskreis Rn. 1149 ff. 122 Die Entwicklung eines eigenständigen gemeinschaftsrechtlichen Begriffs von Treu und Glauben im Gemeinschaftsrecht steht an ihren Anfängen; so etwa Staudinger-Looschelders/ Olzen, § 242 BGB Rn. 1185; Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 123 f.; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 572. 123 So auch für Treu und Glauben W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, Bd. II (2000), S. 873. 124 So auch Gebauer/Wiedmann-Nassall, Kap. 5 Rn. 61; Leible, RIW 2001, 422, 427: „Indizwirkung“; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 648; Edward, in: Grundmann/ Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards, S. 79, 82; vgl. auch EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 20 sowie EuGH v. 7.5.2002 – Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden, Slg. 2002, I-4147 Rn. 22. 125 S.o. Fn. 3. 126 Entwurf einer Richtlinie über Rechte der Verbraucher v. 8.10.2008, KOM(2008) 614 endg.

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§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln

EuGH in der Océano-Entscheidung gestützt.127 Diese Anhänge verkörpern derzeit die wichtigsten Anhaltspunkte für einen gemeinschaftsrechtlichen Treuemaßstab.128 Die dahinter stehenden gemeinsamen Grundgedanken können langfristig das Fundament für ein gemeinschaftsrechtliches, autonomes Verständnis von Treu und Glauben und anderer konkretisierungsbedürftiger Rechtsbegriffe eröffnen. b)

Prinzipien und Leitbilder

Schließlich halten auch die gemeinschaftsrechtlichen Prinzipien und Leitbilder erste Steuerungspunkte einer gemeinschaftlichen Referenzordnung für die Konkretisierung vor. Auch wenn sie keine „harten“ Maßstäbe verbürgen und regelmäßig in einem inneren Wechselspiel nach Art eines „beweglichen Systems“ 129 stehen, so garantieren sie doch die nötige wertungsmäßige Rückanbindung der Konkretisierung an die Gemeinschaftsrechtsordnung.

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Dies gilt insgesamt für das europäische Vertragsrecht, dessen Prinzipien und Grundstrukturen sich nun sichtbar konstituieren.130 Auch wenn dem Gemeinschaftsrecht noch kein eigenständiges Prinzip von Treu und Glauben eigen ist,131 so deutet sich doch der Gedanke des Schutzes berechtigter Erwartungen als spezifisch gemeinschaftsrechtlicher Vertrauensgrundsatz an.132 Entsprechend der Regelungsintention von verbraucherschützenden Richtlinien kommt dabei dem Schutz der Verbraucher eine besondere Rolle zu, mag man auch einer pauschalierenden Zweifelsregel „im Zweifel für den Verbraucher“ skeptisch gegenüber stehen.133 Es ist also ein in besonderer Weise auf den Verbraucher ausgerichteter Vertrauensschutz,134 der sich als

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127 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, Slg. 2000, I-4941 Rn. 22; denkbar wäre dies auch in der Entscheidung Freiburger Kommunalbauten gewesen; hierfür Wittwer, E.L.Rep. 2004, 380, 384. 128 So auch Heiderhoff, WM 2003, 509, 512; skeptisch Freitag/Riemenschneider, WM 2004, 2470, 2478. – Für eine Berücksichtigungspflicht nationaler Gerichte Staudinger, DB 2000, 2058; Markwardt, ZIP 2005, 152, 154; vorsichtiger Schwartze, JZ 2001, 246, 248: „bloße Anregung“. 129 Begriff von Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im Bürgerlichen Recht; zur Rezeption dieses Gedankens bei Alexy und Dworkin u.a. sowie seiner Empfehlung als Methode des Europäischen Privatrechts Flessner, JZ 2002, 14, 18 ff.; ders., JBl. 2003, 205, 206 ff., 212; hierzu Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 252. 130 Siehe hierzu die Untersuchungen von Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004); Riesenhuber, System und Prinzipien; Kraus, in: Riesenhuber (Hrsg.), Entwicklungen nicht-legislatorischer Rechtsangleichung im Europäischen Privatrecht (2008), S. 39 ff.; Schulze, ZEuP 2007, 130, 137 ff.; Tridimas, The General Principles of EU Law (2007). 131 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 410 ff. 132 Micklitz, ZEuP 1998, 253, 263 f.; Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 338 ff.; kritisch H. Roth, JZ 1999, 529, 534 sowie W.-H. Roth, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.), Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte (1999), S. 45 ff. 133 Näher Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn 54 ff.; ders., JZ 2005, 829; dazu die Erwiderungen von Rösler, JZ 2006, 400 ff., Tonner, JZ 2006, 402 ff. und Riesenhuber, JZ 2006, 404 f. 134 Zur Rechtsangleichungsintention der Klauselrichtlinie bereits oben, Rn. 15.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Grundlage für weitere konkretisierende Beurteilungsleitlinien im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 Klausel-Richtlinie empfiehlt.135

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Ähnliche Steuerungspotentiale haben Leitbilder.136 Auch sie tragen dazu bei, die Wertungsgrundlagen und Zielsetzungen konkretisierungsbedürftiger Rechtsakte plastisch zu verdeutlichen.137 Sie bewegen sich auf einem niedrigeren Abstraktionsniveau als Prinzipien und Rechtsgrundsätze und haben sich – beispielsweise im Lauterkeitsrecht 138 – gerade deshalb als besonders wirksam erwiesen. Dies setzt eine sorgsame, systemorientierte Begründung von Leitbildern aus dem positiven Recht voraus.139 c)

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Auf dem Weg zum Referenzrahmen

Auf einer ähnlichen Stufe wie die vorgenannten Prinzipien und Leitbilder steht der im Jahr 2009 vorgestellte Entwurf des Gemeinsamen Referenzrahmens (Draft Common Frame of Reference).140 Bislang handelt es sich dabei um einen akademischen Entwurf, der sich als unverbindliche Erkenntnisquelle und Orientierungshilfe versteht.141 Weitergehende, normative Bedeutung kann ihm derzeit nicht zukommen: Es handelt sich um eine lex academica,142 also ein Kompendium von Regeln wissenschaftlicher Provenienz und Prägung, die auch in erster Linie die Wissenschaft und weniger den Gemeinschaftsgesetzgeber adressieren.143 Insbesondere ist er nicht Systembestandteil.144 Gleichwohl verkörpert der Referenzrahmenprozess nachhaltige Konvergenzaussichten durch „weiche“ Integration: als Orientierungs- und Bezugs-

135 Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 345, 435; dies., WM 2003, 509, 512; genauso – wenn auch im Ergebnis kritisch – Hommelhoff/Wiedenmann, ZIP 1993, 562, 569: „Unterlegenenschutz als Auslegungsleitlinie“; einschränkend Remien, ZEuP 1994, 34, 51 ff. 136 Zur Wirksamkeit von Leitbildern für die Konkretisierung Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 401 ff.; siehe auch Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 44 ff.: Leitbilder als Hilfsmittel teleologischer Auslegung. 137 Für das Verbraucherleitbild der Klauselrichtlinie exemplarisch Grabitz/Hilf-Pfeiffer, A 5 (Klauselrichtlinie) Vorbem Rn. 24 ff. 138 EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-117 Rn. 27; EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-303/97 Sektkellerei Kessler, Slg. 1999, I-513 Rn. 36; hierzu Streinz/Leible, ZIP 1995, 1236 ff. 139 So mit Recht die Mahnung von Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn 45 f. 140 von Bar/Clive/Schulte-Nölke u.a. (Hrsg.), Principles, Definition and Model Rules of European Private Law; zur Entstehungsgeschichte Riesenhuber, in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen, S. 173, 175 ff.; Ernst, AcP 208 (2008), 248, 249; zur methodischen Bedeutung für das Europäische Vertragsrecht Schmidt-Kessel, in diesem Band, § 17 Rn. 45 ff. 141 v. Bar, in: Schmidt-Kessel (Hrsg.) Der Gemeinsame Referenzrahmen, S. 23, 32 f.; SchulteNölke, NJW 2009, 2161 ff.; krit. Jansen/Zimmermann, NJW 2009, 3401, 3406 f. 142 Zum Folgenden Röthel, in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen, S. 287 ff. 143 Röthel, in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der gemeinsame Referenzrahmen, S. 287, 308 f. 144 Riesenhuber, in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen, S. 173, 202 ff.; Schmidt-Kessel, in diesem Band, § 17 Rn. 47.

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§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln

punkt wissenschaftlicher Systematisierungen und autonomer Konvergenzen sowie als „Werkzeugkasten“ oder „Normspeicher“145 für den Gemeinschaftsgesetzgeber. In der Praxis der Gutachten der Generalanwälte spielt der DCFR indes bereits eine sichtbare Rolle. Vielfach wurden die Regelungsvorschläge des DCFR ähnlich den PECL als Auslegungsargument herangezogen.146 Auch wenn das Eigengewicht des (D)CFR im Zuge des politischen Prozesses zunehmen sollte, bedarf es einer realistischen Einschätzung des Konkretisierungspotentials. Die zentralen Leerstellen im derzeitigen Richtliniengefüge haben auch durch den Referenzrahmen keine nähere Eingrenzung gefunden.147 Und dort, wo über den jetzigen Bestand hinausgehend nähere Eingrenzungen formuliert wurden, erheben sich sogleich Zweifel an der Aussagekraft des Textes: Je mehr der Referenzrahmen an Konkretisierung „leistet“, umso größer ist – jedenfalls derzeit – der akademische Anteil dieser Leistung.148

V.

39b

Konkretisierung als Prozess

Konkretisierung hat aber nicht nur eine kompetentielle und eine methodische Seite, sondern auch eine ganz praktische und prozedurale: Konkretisierung ist ein Prozess.149 Für die Konkretisierung sekundären Gemeinschaftsrechts gilt, was dem Gemeinschaftsrecht insgesamt attestiert wird: Konkretisierung ist „Recht im Werden“ 150. Solche langfristigen und vor allem arbeitsteiligen151 Rechtsetzungsprozesse sind auf Kommunikation und Kooperation angewiesen. Institutionelles Forum für den erforderlichen Konkretisierungsdialog ist das Vorabentscheidungsverfahren.152 Eine sinnvolle Gestaltung des Konkretisierungsprozesses erfordert auf Seiten der vorlegenden Gerichte die Auswahl sinnvoller und informativer Vorlagen und auf Seiten des EuGH eine gewisse Behutsamkeit im Umgang mit dem Konkretisierungsstand. Solange die Konturen der gemeinschaftsrechtlichen Konkretisierungsmaßstäbe noch weitgehend diffus sind, sollte der EuGH umso sorgfältiger darauf bedacht sein, mit dem Prozesscharakter der Konkretisierung Maß zu halten.

145 Ernst, AcP 208 (2008), 248, 277 ff. 146 Siehe GA Trstenjak, SchlA v. 15.11.2007 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685 Tz. 28 und SchlA v. 11.9.2008 – Rs. C-180/06 Ilsinger ./. Martin Dreschers, (noch nicht in Slg.) Tz. 49; genauso dies., in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen, S. 235 ff. 147 Siehe zur Klauselkontrolle Art. II-9:403 [Meaning of “unfair” in contracts between a business and a consumer]. 148 Siehe im Zusammenhang mit Treu und Glauben Art. I-I.103 [good faith and fair dealing] und Principle 23: “rather open-ended concepts”. 149 Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 167 ff., 381, 399 ff. 150 Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), S. 38 f.; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 605 mwN. Zur „Dynamik“ des Gemeinschaftsrechts auch Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 43. 151 Vgl. Röthel, ZEuP 2005, 418, 424 ff. 152 Zum Folgenden Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 381 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

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Vor diesem Hintergrund ist es durchaus zu begrüßen, dass der EuGH mit seinem Urteil Freiburger Kommunalbauten einen zunächst eher zurückhaltenden Kurs bei der Wahrnehmung seines Konkretisierungsauftrags angedeutet und in Folgeentscheidungen153 beibehalten hat.154 Die darin skizzierte Aufteilung der Konkretisierungsaufgaben ist nicht nur Ausdruck eines methodisch, kompetentiell und insoweit auch „ökonomisch“ sinnvollen Gefüges.155 Darüber hinaus garantiert sie, dass die richterliche Rechtsgestaltung ihren notwendigen Rückhalt im allgemeinen Integrationsprozess nicht verliert – und zwar nicht nur in inhaltlicher Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf die noch offenen methodischen Fragen.

153 EuGH v. 26.10.2006 – Rs. C-168/05 Elisa María Mostaza Claro ./. Centro Movil Milenium SL, Slg. 2006, I-10421; EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 Pannon GSM Zrt. ./. Erzbéset Sustikné Gyo˝rfi, (noch nicht in Slg.). 154 Röthel, ZEuP 2005, 418, 425 ff.; s.a. Schmidt-Kessel, WuB IV F. Art. 3 RL 93/12 EWG 1.04: „ausgewogenes Bild“. 155 In diese Richtung auch GA Geelhoed, SchlA v. 25.9.2003 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Tz. 29: „ökonomischer Gebrauch der Rechtsbehelfe“.

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§ 13 Die Rechtsfortbildung Jörg Neuner Übersicht . . . .

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Rn. 1–6 2–3 4–5 6

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7–10 8 9 10

III. Die Schranken der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . 1. Die Bindung an das Gesetz . . . . . . . . . . . . . a) Die kompetentielle Dimension . . . . . . . . . . aa) Das institutionelle Gleichgewicht . . . . . . bb) Die konkurrierende Regelungszuständigkeit b) Die inhaltliche Dimension . . . . . . . . . . . . aa) Die Wortsinngrenze . . . . . . . . . . . . . bb) Die gesetzgeberische Regelungsabsicht . . . c) Die zeitliche Dimension . . . . . . . . . . . . . aa) Die Vorwirkung . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Rückwirkung . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Bindung an das Präjudiz . . . . . . . . . . . . a) Der Grundsatz der Entscheidungsfreiheit . . . . b) Der Grundsatz des Vertrauensschutzes . . . . .

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11–25 12–21 13–15 14 15 16–18 17 18 19–21 20 21 22–25 23 24–25

IV. Die Methodik der Rechtsfortbildung . . . 1. Die Rechtsfindung praeter legem . . . . a) Die Lückenfeststellung . . . . . . . . aa) Das externe System . . . . . . . bb) Das interne System . . . . . . . b) Die Maßstäbe der Lückenausfüllung aa) Der Gleichheitssatz . . . . . . . bb) Das Primärrecht . . . . . . . . . c) Die Grenzen der Lückenausfüllung . aa) Analogieverbote . . . . . . . . . bb) Unausfüllbare Lücken . . . . . 2. Die Rechtsfindung contra legem . . . . a) Die Feststellung der Nichtigkeit . . . b) Die Folgen der Nichtigkeit . . . . . . c) Die Einzelfallgerechtigkeit . . . . . .

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26–43 27–39 28–30 29 30 31–36 32–33a 34–36 37–39 38 39 40–43 41 42 43

V. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Terminologie des Gemeinschaftsrechts . 2. Zur Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts 3. Zur Besonderheit des Gemeinschaftsrechts . II. Die Befugnis zur Rechtsfortbildung 1. Die rechtsprechende Gewalt . . 2. Die gesetzgebende Gewalt . . . . 3. Die faktische Gewalt . . . . . .

Jörg Neuner

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2. Teil: Allgemeiner Teil Literatur: Larry Alexander/Emily Sherwin, Demystifying Legal Reasoning (2008); Jochen Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1997); Anthony Arnull, The European Union and its Court of Justice (2. Aufl. 2006); Carsten Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft (1998); Mariele Dederichs, Die Methodik des EuGH (2004); Wolfgang Dänzer-Vanotti, Der Europäische Gerichtshof zwischen Rechtsprechung und Rechtsetzung, in: Ole Due u.a. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. I (1995), S. 205–221; Ulrich Everling, Richterliche Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 2000, 217–227; Stefan Grundmann/Karl Riesenhuber, Die Auslegung des europäischen Schuldvertragsrechts, JuS 2001, 529–536; Thomas Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode (2009); Clemens Höpfner/Bernd Rüthers, Grundlagen einer Europäischen Methodenlehre, AcP 209 (2009), 1–36; Waldemar Hummer/Walter Obwexer, Vom „Gesetzesstaat zum Richterstaat“ und wieder retour?, EuZW 1997, 295–305; Katja Langenbucher, Vorüberlegungen zu einer Europarechtlichen Methodenlehre, in: Thomas Ackermann u.a. (Hrsg.), Tradition und Fortschritt im Recht, JbJZ 1999, S. 65–83; Axel Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009); Jörg Neuner, Die Vorwirkung von Gesetzen im Privatrecht, in: Johannes Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung – Beiträge für Claus-Wilhelm Canaris zum 65. Geburtstag (2002), S. 83–112; Oreste Pollicino, Legal Reasoning of the Court of Justice in the Context of the Principle of Equality Between Judicial Activism and Self-restraint, GLJ 5 (2004), 283–317; Frederick Schauer, Thinking like a lawyer (2009); Theodor Schilling, Eine neue Rahmenstrategie für die Mehrsprachigkeit: Rechtskulturelle Aspekte, ZEuP 2007, 754–784; Werner Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem (2002); Reiner Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999); Reiner Schulze/Ulrike Seif (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft (2003); Jörg Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH (1995); Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I (2001); Konrad Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH (2009). Rechtsprechung: EuGH v. 12.12.1985 – Rs. 165/84 Krohn, Slg. 1985, 3997; EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411; EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C454/98 Schmeink & Cofreth und Strobel, Slg. 2000, I-6973; EuGH v. 6.11.2003 – verb. Rs. C78/02 bis C-80/02 Karageorgou u.a., Slg. 2003, I-13295; EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981; EuGH v. 11.5.2006 – Rs. C-340/04 Carbotermo und Consorzio Alisei, Slg. 2006, I-4137; EuGH v. 1.4.2008 – verb. Rs. C-14/06 und C-295/06 Parlament ./. Kommission, Slg. 2008, I-1649; EuGH v. 18.6.2009 – Rs. C-566/07 Stadeco (noch nicht in Slg.); EuGH v. 19.11.2009 – verb. Rs. C-402/07 und C-432/07 Sturgeon (noch nicht in Slg.); EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 Audiolux (noch nicht in Slg.); EuG v. 26.11.2002 – verb. Rs. T-74/00, T-76/00, T-83/00 bis T-85/00, T-132/00, T-137/00 und T-141/00 Artegodan u.a. ./. Kommission, Slg. 2002, II-4945; EuG v. 3.4.2003 – verb. Rs. T-44/01, T-119/01 und T-126/01 Vieira und Vieira Argentina ./. Kommission, Slg. 2003, II-1209.

I. 1

Grundlagen

Die gemeinschaftsrechtliche Methodenlehre ist ein Unterfall der allgemeinen juristischen Methodenlehre. Sie bildet zu den nationalen Methodenlehren1 kein aliud, sondern wird durch ihren speziellen Gegenstand in Form des Gemeinschaftsrechts geprägt. Demgemäß stellt sich auch im sekundären Gemeinschaftsrecht das Problem,

1 Einen Überblick zu den verschiedenen Methoden der Rechtsfindung in den einzelnen europäischen Staaten gibt Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 45 ff.

374

Jörg Neuner

§ 13 Die Rechtsfortbildung

ob der Richter an den Wortlaut des Gesetzes strikt gebunden ist oder dieses über den Normtext hinaus fortbilden darf. 1.

Zur Terminologie des Gemeinschaftsrechts

Nach dem überwiegenden deutschen Sprachgebrauch bildet der noch mögliche Wortsinn des Gesetzes die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung.2 Diese terminologische Unterscheidung ist vor allem deshalb sachgerecht, weil dem Normtext eine limitierende Funktion zum Schutz der Rechtsunterworfenen sowie zur Wahrung mitgliedstaatlicher Kompetenzen zufallen kann.3 Der Gerichtshof verwendet allerdings nicht den Begriff „Rechtsfortbildung“, sondern spricht im Anschluss an die französische Methodenlehre ganz pauschal von interprétation.4 Dies mag damit zusammenhängen, dass Französisch die Arbeitssprache des Gerichts bildet. Aber auch in der Sache ist die terminologische Gleichstellung nicht weiter schädlich, solange der Gerichtshof dem Normtext eine eigenständige Bedeutung im Rahmen der Gesetzesinterpretation beimisst.5 Die Kritik am Gerichtshof reduziert sich daher im Wesentlichen auf den Vorhalt eines unpräzisen Sprachgebrauchs.

2

Präferiert man stattdessen die differenzierende deutsche Terminologie, gilt es vor allem begriffsjuristische Fehlschlüsse zu vermeiden. Diese Gefahr besteht insbesondere bei der Übertragung der klassischen „Dreistufensystematik“6 von Gesetzesauslegung, Gesetzesergänzung und unzulässiger Gesetzesderogation auf die gemeinschaftsrechtliche Methodik. Die Qualifizierung einer Rechtsprechung als Auslegung besagt nur, dass sie sich innerhalb des möglichen Wortsinns bewegt, ist aber noch kein hinreichender Legitimationsnachweis. Auch der Lückenbegriff ist eine bloße Umschreibung der Zulässigkeitskriterien praeterlegaler Rechtsfindung und ersetzt nicht die erforderlichen gemeinschaftsrechtlichen Wertungen. Ebenso bleibt das Dogma

3

2 Vgl. BVerfG, NJW 2008, 3627 ff.; 2007, 1666 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 143; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 441, 467 ff.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 614 ff.; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 90 ff. mwN; kritisch z.B. Kudlich/Christensen, ARSP 93 (2007), 128 ff. 3 Siehe speziell zur Erforderlichkeit der Wortsinngrenze im Gemeinschaftsrecht auch Klatt, Theorie der Wortlautgrenze (2004), S. 25 f.; Schilling, ZEuP 2007, 754, 757 ff. (768: „Rang von Primärrecht“); Schulte-Nölke, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 158; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 535. 4 Vgl. nur Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I, S. 289 ff., 394 f., 607; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 39; Wank, FS Stahlhacke (1995), S. 635; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 55 ff. mwN. 5 Eine Auswertung aller im Jahr 1999 veröffentlichten Entscheidungen des EuGH hat ergeben, dass die grammatische Auslegung die zweithäufigste Argumentationsform (nach dem Verweis auf die frühere Rechtsprechung) darstellt; vgl. Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 64 ff. ; dies., EuR 2004, 345, 349 ff.; siehe zur Bedeutung des Normtextes ferner auch Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 168 ff. m.umf.N. 6 Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung (1969), S. 221. Jörg Neuner

375

2. Teil: Allgemeiner Teil

vom Verbot des contra-legem-Judizierens begründungsdefizitär,7 solange nicht die maßgeblichen Sachgesichtspunkte zugunsten einer Gesetzesbindung benannt werden. 2.

Zur Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts

4

Versucht man, die Voraussetzungen und Grenzen einer Fortbildung des sekundären Gemeinschaftsrechts näher zu bestimmen, ist zunächst der Begriff der „Autonomie“ von zentraler Bedeutung. Sowohl der Geltungsgrund 8 als auch die Auslegung 9 des Gemeinschaftsrechts werden vielfach mit dem Attribut „autonom“ gekennzeichnet, so dass es nahe liegt, die Fortbildungsoptionen des sekundären Gemeinschaftsrechts ebenfalls autonom, d.h. losgelöst von den mitgliedstaatlichen Standards, zu bestimmen. Diese Schlussfolgerung ist aufgrund des prinzipiellen Vorrangs sowie des besonderen Integrationstelos des Gemeinschaftsrechts im Ansatz zutreffend, doch sind einige Relativierungen veranlasst. Als Erstes ist in geltungstheoretischer Hinsicht hervorzuheben, dass das Gemeinschaftsrecht jedenfalls nach dem derzeitigen Legitimationsstand immer noch auf einem innerstaatlichen Anwendungsbefehl beruht,10 der seinerseits nach mitgliedstaatlichen Methodenstandards zu interpretieren ist. Zweitens ist in Bezug auf die Auslegung des Gemeinschaftsrechts signifikant, dass es eine Lingua Franca, eine eigene „EU-Sprache“ nicht gibt. Der Gerichtshof muss deshalb die offiziellen Landessprachen gem. Art. 55 Abs. 1 EUV/314 EG gleichwertig berücksichtigen und im Rahmen der grammatischen Interpretationsmethode einen entsprechenden Textvergleich vornehmen.11 Materiellrechtlich kommt als Drittes hinzu, dass die Gemeinschaft in Art. 2 EUV/6 Abs. 1 EU die tradierten mitgliedstaatlichen Grundsätze der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit übernimmt sowie über Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1, Abs. 3 EUV auf die in der Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRCh) und der EMRK enthaltenen justitiellen Grundrechte verweist, was sich ebenfalls auf die Kompetenzen der Judikative auswirkt.12

5

Die Voraussetzungen und Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung sind also primär aus dem Gemeinschaftsrecht herzuleiten, doch es gibt Parallelen und Interdependenzen zu den Methodenstandards sowie zu den allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen in den Mitgliedstaaten.

7 Siehe z.B. Calliess, NJW 2005, 929, 932. 8 Vgl. nur EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-453/99 Courage, Slg. 2001, I-6297 Rn. 19; EuGH v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251, 1269 ff. 9 Vgl. EuGH v. 18.1.1984 – Rs. 327/82 Ekro, Slg. 1984, 107 Rn. 11; zuletzt EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-208/07 von Chamier-Glisczinski, (noch nicht in Slg.) Rn. 48. 10 Vgl. BVerfG, NJW 2009, 2267 ff., 2284 ff. (Rn. 332 ff.); siehe zur Diskussion über den Geltungsgrund des Gemeinschaftsrechts auch Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, S. 229 ff.; Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 174 ff. 11 Siehe hierzu aus der neueren Literatur etwa Arnull, The European Union and its Court of Justice, S. 608 ff.; Vismara, in: Pozzo/Jacometti (Hrsg.), Multilingualism and the Harmonization of European Law (2006), S. 61 ff.; Mayer, Der Staat 44 (2005), 367, 368 ff.; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH (2008), S. 33 ff. 12 Vgl. auch Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 8 mwN.

376

Jörg Neuner

§ 13 Die Rechtsfortbildung

3.

Zur Besonderheit des Gemeinschaftsrechts

Aus methodischer Sicht weist das Gemeinschaftsrecht vor allem zwei Eigenarten auf: Zum einen die Mehrsprachigkeit und zum anderen die begrenzte Regelungskompetenz. Beide Phänomene sind allerdings nicht neuartig, sondern bekannte rechtstheoretische Herausforderungen. So wird das Problem der Mehrsprachigkeit bereits in Art. 33 Abs. 4 WVK angesprochen und stellt sich gleichermaßen in Nationalstaaten mit verschiedenen Amtssprachen, wie etwa der Schweiz.13 Konkurrierende Rechtsordnungen und deren interpretatorische Abgrenzung sind ebenfalls kein Novum. Aus der Geschichte ist nur an das Verhältnis des ius commune zum Statutarrecht zu erinnern.14 Ein aktuelles Beispiel bildet der Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung zwischen Bund und Ländern gem. Art. 72, 74 GG. Mit der Diskussion über die Möglichkeiten einer Fortbildung des sekundären Gemeinschaftsrechts betritt man also kein methodisches „Neuland“, sondern kann auf breite rechtstheoretische Vorarbeiten aufbauen.

II.

Die Befugnis zur Rechtsfortbildung

Ebenso wie die nationalen Gerichte ist auch der Gerichtshof prinzipiell zur Rechtsfortbildung legitimiert.15 1.

6

7

Die rechtsprechende Gewalt

Die Befugnis zur richterlichen Rechtsfortbildung folgt sowohl aus den überlieferten Grundsätzen des Art. 2 EUV/6 Abs. 1 EU als auch aus der speziellen Regelung des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV/220 EG, wonach der Gerichtshof die „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge (sichert).“ 16 Flankierend dazu ist auf die entsprechende Intention der Gründungsmitglieder zu verweisen17 und hervorzuheben, dass das etablierte Richterrecht für Beitrittskandidaten gem. Art. 2 Abs. 1 Sps. 5, Art. 3 Abs. 1, Art. 43 Abs. 1 lit. c EU bzw. nunmehr e contrario Art. 20 Abs. 4 S. 2 EUV zum verbindlichen acquis communautaire zählt.18 An Überzeugungskraft verliert hingegen der Hinweis auf den dynamisch-evolutionären Integrations-

13 Siehe z.B. Kramer, Methodenlehre, S. 68 f.; Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht (2004), S. 136 ff., 150 ff.; Schubarth, LeGes 2001, 49 ff., der die Mehrsprachigkeit als „große Chance“ und „echte Bereicherung“ betrachtet und betont, dass „sprachliche Minderheiten (nicht) ignoriert werden“ (aaO, S. 49). 14 Siehe näher Schröder, Recht als Wissenschaft (2001), S. 19 ff., 67 ff., 157 ff. mwN. 15 Zur nationalen Rechtslage siehe näher Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 47 ff. mwN. 16 Vgl. auch Everling, JZ 2000, 217, 221; Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295, 296; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 91 ff.; siehe zudem unten bei Rn. 40. 17 Vgl. Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 67 mwN. 18 Vgl. Stellungnahme der Kommission v. 19.1.1972 zu den Beitrittsanträgen Dänemarks, Irlands, des Königreichs Norwegen und Großbritanniens, ABl. 1972 L 73/3; Ott, EuZW 2000, 293 ff. mwN. Jörg Neuner

377

8

2. Teil: Allgemeiner Teil

ansatz des EG-Vertrages (jetzt Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union),19 da die Funktionsfähigkeit der Union mittlerweile als gesichert erscheint.20 2.

9

Die gesetzgebende Gewalt

Obgleich die Befugnis des Gerichtshofs zur Fortbildung des Rechts weitgehend anerkannt ist,21 folgt hieraus keine gesetzgeberähnliche Kompetenz. Wie insbesondere die Art. 19 EUV, 251 ff. AEUV/220 ff. EG belegen, beschränkt sich die Aufgabe des Gerichtshofs auf die konkret-individuelle Entscheidungsfindung.22 Funktionell ist kennzeichnend, dass der Gerichtshof über kein eigenes Initiativrecht verfügt23 und auf den Dialog mit den Verfahrensbeteiligten angewiesen ist. Institutionell fehlt den Richtern eine unmittelbare demokratische Legitimation24 und organisatorisch die Ausstattung, um legislative Aufgaben wahrnehmen zu können. Zu einer Rechtsetzung in Form abstrakt-genereller Regelungen ist der Gerichtshof somit nicht berufen. 3.

10

Die faktische Gewalt

Trotz dieser grundsätzlichen Begrenzung der richterlichen Kompetenz auf die Einzelfallentscheidung entfaltet die Judikatur des Gerichtshofs im Rechtsleben eine sehr breite Wirkung und bildet eine faktische Rechtsquelle. Die Unionsbürger orientieren sich an den Urteilen des Gerichtshofs und erwarten Rechtssicherheit durch eine Gleichbehandlung ähnlicher Fälle.25 Der Gerichtshof hat deshalb verallgemeinerbare Rechtsregeln auf einer „mittleren Abstraktionshöhe“ zwischen Norm und Fallentscheidung zu formulieren.26 Um legitime Kontinuitätserwartungen der Rechtsunterworfenen nicht zu enttäuschen, sind auch gelegentliche obiter dicta zulässig. Im Grundsatz ist jedoch allein über den anhängigen Rechtsstreit zu entscheiden. Angesichts dieser regelmäßigen Beschränkung auf die konkret-individuelle Entscheidungsfindung besteht für nachfolgende Verfahren auch keine strenge Präjudizienbindung im Sinne der stare decisis-Doktrin, zumal sonst für jede Rechtsprechungsänderung ein aufwendiges Gesetzesänderungsverfahren27 nötig wäre.28 Wollen nationale Ge-

19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

Vgl. Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295, 296 mwN. Vgl. auch Streinz, ZEuS 2004, 387, 412; Nessler, RIW 1993, 206, 213. Siehe z.B. auch BVerfGE 75, 223, 242 ff. Siehe dazu auch v. Danwitz, EuR 2008, 769, 772; Everling, RabelsZ 50 (1986), 193, 208; Dänzer-Vanotti, FS Everling, Bd. I, S. 213. Vgl. Pollicino, GLJ 5 (2004), 283, 291; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 172. Vgl. nur Everling, JZ 2000, 217, 221; Kirsch, Demokratie und Legitimation in der Europäischen Union (2008), S. 74, 169 ff. Hinzu kommt eine Begründungspflicht; vgl. näher Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 116 f., 141 ff.; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 175 ff. mwN. Vgl. Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien (1986), S. 123 ff.; Schulze/Seif, in: dies. (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, S. 8. Siehe zu den besonderen gemeinschaftstypischen Schwierigkeiten einer Gesetzesänderung Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 585 ff. Vgl. Seif, FS Schlüchter (2002), S. 137 f.; siehe zudem auch unten bei Rn. 23.

378

Jörg Neuner

§ 13 Die Rechtsfortbildung

richte von der Rechtsprechung des EuGH abweichen, wird allerdings die Vorlagepflicht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV/234 Abs. 3 EG jeweils aktualisiert.29

III. Die Schranken der Rechtsfortbildung Ungeachtet seiner prinzipiellen Kompetenz zur Rechtsfortbildung unterliegt der Gerichtshof im Regelfall der Bindung an das Gesetz. Darüber hinaus können auch Präjudizien die Entscheidungsfreiheit des Gerichtshofs einschränken. 1.

Die Bindung an das Gesetz

Die Gesetzesbindung hat eine kompetentielle, eine inhaltliche und eine zeitliche Dimension. a)

13

Das institutionelle Gleichgewicht

Das Prinzip des „institutionellen Gleichgewichts“ bildet das gemeinschaftsrechtliche Pendant zur klassischen Gewaltenteilung.30 Es legt das Kompetenzgefüge der Gemeinschaftsorgane untereinander fest und wirkt sich zugleich auf die Freiheit der Unionsbürger sowie den Einflussbereich der Mitgliedstaaten aus. Für die dritte Gewalt folgt aus dem Prinzip des „institutionellen Gleichgewichts“, dass sowohl der Ermessensspielraum der Verwaltung zu respektieren ist,31 als auch die Entscheidungsprärogative des Gemeinschaftsgesetzgebers, da Letzterer sonst als Rechtsbildungsinstanz funktionslos bliebe. bb)

12

Die kompetentielle Dimension

Kompetentiell ist kennzeichnend, dass der Gerichtshof nicht nur an die Entscheidungen des Gemeinschaftsgesetzgebers gebunden ist, sondern zugleich auch dessen beschränkte Regelungszuständigkeit berücksichtigen muss. aa)

11

14

Die konkurrierende Regelungszuständigkeit

Im Unterschied zu den Mitgliedstaaten verfügt die EU nicht über eine KompetenzKompetenz; vielmehr gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung gem.

29 Zu den Ausnahmen der Vorlagepflicht nach der „acte clair-Doktrin“ s. näher SchmidtRäntsch, in diesem Band, § 23 Rn. 13, 28 ff.; Arnull, The European Union and its Court of Justice, S. 626 f. mwN. 30 Vgl. EuGH v. 6.5.2008 – Rs. C-133/06 Parlament ./. Rat, Slg. 2008, I-3189 Rn. 56 f.; EuGH v. 22.5.1990 – Rs. C-70/88 Parlament ./. Rat, Slg. 1990, I-2041 Rn. 21 ff.; zur Vergleichbarkeit mit der herkömmlichen Gewaltenteilung siehe näher Häberle, Europäische Verfassungslehre (6. Aufl. 2009), S. 422 ff.; Goeters, Das institutionelle Gleichgewicht – seine Funktion und Ausgestaltung im Europäischen Gemeinschaftsrecht (2008), S. 248 ff. 31 Vgl. nur Borchardt, GS Grabitz (1995), S. 41; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 412 f.

Jörg Neuner

379

15

2. Teil: Allgemeiner Teil

Art. 5 Abs. 1 S. 1 EUV/5 Abs. 1 EG.32 Eine zusätzliche Einschränkung bewirkt das Prinzip der Subsidiarität gem. Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 EUV/5 Abs. 2 EG. Dem Gerichtshof obliegt die Aufgabe, die Einhaltung dieser Kompetenzregel durch die Exekutive und Legislative zu kontrollieren. Umstritten ist, ob der Gerichtshof im Rahmen rechtsfortbildender Judikate das Subsidiaritätsprinzip ebenfalls beachten muss.33 Eine justitielle Bindung wird dabei insbesondere mit dem Argument verneint, dass die europäischen Gerichte für die ihnen zugewiesenen Rechtsstreitigkeiten eine ausschließliche Kompetenz besitzen.34 Diese Ansicht überzeugt nicht, da ein Urteilsspruch, der das Subsidiaritätsprinzip missachtet, auf das Zuständigkeitsgefüge gleichermaßen einwirkt wie ein analoger Legislativakt. Die Judikative ist zwar kein „Ersatzgesetzgeber“, doch wird bei der konkret-individuellen Entscheidungsfindung unter eine abstrakte Norm subsumiert, für deren Erlass allein die Mitgliedstaaten zuständig sind. Auch wertungsmäßig macht es keinen Unterschied, ob der Gemeinschaftsgesetzgeber beispielsweise den Anwendungsbereich einer Richtlinie unzulässig weit fasst oder ob der Gerichtshof eine entsprechende Extension richterrechtlich vornimmt. Insgesamt dürfen die europäischen Gerichte somit keine Rechtsfolge festlegen, die nicht auch der Gemeinschaftsgesetzgeber als Norm erlassen dürfte.35 b)

16

Die kompetentielle Bindung des Gerichtshofs an das Gemeinschaftsrecht wirft die Anschlussfrage auf, was unter jener Verpflichtung im Detail zu verstehen ist. Diese Thematik gehört zwar im Kern zu dem Problemkreis der „Auslegung“, doch hängt die Feststellung einer Gesetzeslücke von der Methode der Gesetzesinterpretation ab. Ebenso setzt das Urteil über eine Normderogation eine Interpretation des Gesetzes voraus. Daher sind an dieser Stelle zumindest zwei knappe Bemerkungen zur Wortsinngrenze sowie zum Ziel der Auslegung geboten. aa)

17

Die inhaltliche Dimension

Die Wortsinngrenze

Der Wortlaut des Gesetzes ist nicht nur Ausgangspunkt der Interpretation,36 sondern es fällt ihm auch eine Begrenzungsfunktion zu. Namentlich bei Analogieverboten kann der noch mögliche Wortsinn eine Schranke zulässiger Rechtsfindung bilden. Darüber hinaus begründet der Normtext ganz generell einen Vertrauenstatbestand für die Rechtsunterworfenen, den es bei einer Rechtsfortbildung zu berücksichtigen gilt. Im Gemeinschaftsrecht besteht dabei die Besonderheit, dass es verschiedene

32 Siehe dazu näher Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas (2001), S. 149 ff. 33 Vgl. Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295, 303. 34 Vgl. v. d. Groeben/Schwarze-Zuleeg, Art. 5 EG Rn. 34; Lenz/Borchardt-Langguth, Art. 5 EG Rn. 27; Hirsch, FS Odersky (1996), S. 200. 35 Vgl. auch Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 66, 500 ff.; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 325; M. Schmidt, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht (2009), S. 50. 36 Entsprechend verfährt auch der EuGH; vgl. Colneric, EuZA 2008, 212, 216; dies., ZEuP 2005, 225, 226 f.; Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 77 mwN.

380

Jörg Neuner

§ 13 Die Rechtsfortbildung

gleichwertige Vertragssprachen gibt. Diese Mehrsprachigkeit führt indes zu keiner prinzipiellen Verringerung der Begrenzungsfunktion des Wortlauts.37 Entsprechend den Bedeutungsvarianten der verschiedenen Sprachfassungen existieren vielmehr zusätzliche Möglichkeiten einer Grenzziehung, die es im Einzelfall zu bewerten gilt. In Betracht kommen insbesondere ein Vorrang der Mehrheit der übereinstimmenden Sprachfassungen, ein Vorrang des gemeinsamen Minimums aller Sprachfassungen sowie die Maßgeblichkeit jener Sprachfassung, die den Unionsbürger am wenigsten belastet.38 Weitere Varianten sind denkbar39 und jeweils vor dem Hintergrund der konkreten Schutzbedürfnisse der Rechtsunterworfenen sowie unter Berücksichtigung des Kompetenzgefüges der Gemeinschaft als Schranke richterlicher Rechtsfortbildung in Erwägung zu ziehen. Nach der Rechtsprechung des EuGH muss grundsätzlich bei Divergenzen der verschiedenen Sprachfassungen eines Gemeinschaftstextes „die fragliche Vorschrift nach dem Zusammenhang und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört.“40 bb)

Die gesetzgeberische Regelungsabsicht

Ebenso wie in der nationalen Methodendiskussion wird in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht die traditionelle Kontroverse über das Ziel der Auslegung geführt.41 Richtigerweise ist auch im sekundären Gemeinschaftsrecht primär die gesetzgeberische Regelungsabsicht maßgebend.42 Hierfür sprechen insbesondere die Prinzipien der Demokratie und des institutionellen Gleichgewichts. Auch im Interesse der Methodenklarheit ist ein zweistufiges Verfahren indiziert, das zunächst eine Rekonstruktion der gesetzgeberischen Regelungsabsicht verlangt und sodann eine Offenlegung und Gewichtung jener Gründe, die eine Abweichung legitimieren sollen. Die Erforschung des historischen Gesetzgeberwillens wird dabei im sekundären Gemeinschaftsrecht insofern erleichtert, als nach Art. 296 Abs. 2 AEUV/253 EG eine Begründungspflicht für Rechtsakte besteht und zudem nach Art. 15 AEUV/207 Abs. 3, 255 EG die Dokumente des Rates der Öffentlichkeit zugänglich zu machen sind.43

37 A.A. Schulte-Nölke, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen nationalen Rechts, S. 157. 38 Vgl. Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 234 ff.; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 153 ff.; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 64 ff. mwN. 39 S. etwa Schilling, ZEuP 2007, 754, 763 („die dem Bürger sprachlich zugängliche Norm müsse die für ihn maßgebliche sein“). 40 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-1/02 Borgmann, Slg. 2004, I-3219 Rn. 25 mwN.; s. hierzu auch Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH (2008), S. 37 ff. 41 Vgl. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 mwN. 42 S. Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 30 ff., 50; Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 193; jetzt auch Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 13 ff.; a.A. z.B. Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 375 f.; zur Judikatur des EuGH s. Leisner, EuR 2007, 689 m.umf.N. 43 Einzelheiten bei Streinz-Hummer/Oberwexer, Art. 207 EG Rn. 59 ff.; Streinz-Gellermann, Art. 255 EG Rn. 1 ff. Jörg Neuner

381

18

2. Teil: Allgemeiner Teil

c)

19

Gesetze können des Weiteren auch schon vor ihrem Inkrafttreten eine Rechtsfortbildungsschranke begründen.44 aa)

20

Die Vorwirkung

Für den Gerichtshof ergibt sich die Pflicht zur Berücksichtigung von noch nicht in Kraft getretenen Gesetzen aus dem Prinzip der Gemeinschaftsverfassungsorgantreue.45 Eine Sperrwirkung entsteht in der Regel erst mit der Veröffentlichung des zukünftigen Legislativakts im Amtsblatt der EU gem. Art. 297 Abs. 1 UAbs. 3 S. 1 AEUV/254 Abs. 1 EG.46 Ein früherer Zeitpunkt scheidet grundsätzlich aus, weil es bis dahin noch zu Abänderungen kommen kann oder noch überhaupt kein Konsens erzielt wurde. Inhaltlich führt die Sperrwirkung zu keinem generellen Rechtsfortbildungsverbot, sondern nur zu dem Gebot, das intendierte gesetzgeberische Ziel nicht zu vereiteln. Der EuGH hat eine solche Sperrwirkung in seiner grundlegenden Entscheidung Inter-Environnement Wallonie für die Vorwirkung von Richtlinien auf nationale Gesetzgebungsverfahren bereits formuliert.47 Dieser am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierte Maßstab ist sachgerecht und als generelle Rechtsfortbildungsschranke geeignet, zumal er eine Parallele im völkerrechtlichen Frustrationsverbot gem. Art. 18 WVK findet. Neben einer Sperrwirkung können zukünftige Normen eine Rechtsfortbildung auch positiv im Sinne einer „Rechtsgewinnungsquelle“48 inspirieren sowie legitimieren, sofern sie Ausdruck eines Konsenses sind und damit zugleich Rechtssicherheit vermitteln. bb)

21

Die zeitliche Dimension

Die Rückwirkung

Im Unterschied zur Vorwirkung beruht die Rückwirkung auf dem Anwendungsbefehl eines in Kraft befindlichen Gesetzes. Dieses ist prinzipiell bindend, solange es nicht wegen eines Primärrechtsverstoßes für nichtig erklärt wurde.49 Wie der Gerichtshof bereits in der Rechtssache Racke feststellte, verbietet der Grundsatz der Rechtssicherheit in der Regel eine (echte) Rückwirkung, es sei denn, die Rückwirkung 44 Siehe zur Vorwirkung von Gemeinschaftsrecht ausführlich Neuner, in: Johannes Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, S. 110 f. sowie Hofmann, in diesem Band, § 16. 45 Vgl. näher Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 213 ff. 46 Vgl. auch Furrer, Die Sperrwirkung des sekundären Gemeinschaftsrechts auf die nationalen Rechtsordnungen (1994), S. 141 f.; Messerschmidt, ZG 1993, 11, 22 ff., 28 ff. 47 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 35 ff., 44 f.; EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 68 (egal, ob die nationale Regelung die Umsetzung bezweckt oder nicht); EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler, Slg. 2006, I-6057 Rn. 122 (Unterlassenspflicht gilt auch für nationale Gerichte); zuletzt EuGH v. 23.4.2009 – Rs. C-378/07 bis C-380/07 Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 Rn. 206; s. dazu auch Röthel, ZEuP 2009, 34, 36 ff. 48 Ausdruck nach Canaris, in: Basedow (Hrsg.), Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung und deutsches Recht (2000), S. 9. 49 Siehe dazu auch unten Rn. 40 ff.

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§ 13 Die Rechtsfortbildung

ist gemessen am angestrebten Ziel erforderlich und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen wird gebührend beachtet.50 2.

Die Bindung an das Präjudiz

Die richterlichen Rechtsfortbildungsoptionen werden nicht nur durch legislative Vorgaben, sondern auch durch Präjudizien begrenzt. a)

Der Grundsatz der Entscheidungsfreiheit

Im Unterschied zum common law gibt es im Gemeinschaftsrecht keine strikte Präjudizienbindung im Sinne einer Rechtsfortbildungssperre.51 Dadurch wird der Gefahr einer Versteinerung der Rechtsprechung vorgebeugt und verbesserte Rechtserkenntnisse können sich durchsetzen. Folgerichtig sieht sich auch der Gerichtshof durch anders lautende Urteile nicht prinzipiell an einer Rechtsfortbildung gehindert.52 b)

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Der Grundsatz des Vertrauensschutzes

In der Regel orientiert sich der EuGH indes an seiner früheren Rechtsprechung. Diese Selbstbindung ist im Interesse der Rechtsunterworfenen auch geboten, da Präjudizien, ebenso wie Legislativakte, einen herausragenden Vertrauenstatbestand bilden können.53 Ein Vertrauenstatbestand kann dabei schon mit einem einzigen Urteil begründet werden und verfestigt sich im Rahmen einer ständigen Rechtsprechung. Er nimmt noch an Intensität zu, wenn die Rechtsprechung von der Wissenschaft weitgehend konsentiert wird. Ein Schutz des Vertrauens kann allerdings auch hinfällig sein,54 wenn ein Urteil keinen Vertrauenstatbestand verkörpert, weil es zum Beispiel in sich widersprüchlich ist. Das Gleiche gilt, wenn Gründe in der Person des Vertrauenden entgegenstehen. Dies ist beispielsweise bei einem treuwidrigen Verhalten der Fall. Die von den Präjudizien des Gerichtshofs ausgehenden Kontinuitätserwartungen sind also keine feststehende, sondern eine variable Größe, die es gegen den konkurrierenden Anspruch auf die materiell an sich gebotene Entscheidung ab-

50 EuGH v. 25.1.1979 – Rs. 98/78 Racke, Slg. 1979, 69 Rn. 20; EuGH v. 15.7.2004 – Rs. C-459/02 Gerekens und Procola, Slg. 2004, I-7315 Rn. 22 f.; zuletzt EuGH v. 19.3.2009 – Rs. C-256/07 Mitsui, Slg. 2009, I-1951 Rn. 32; siehe ferner auch Streinz-Kopp, Art. 34 EG Rn. 106 ff. mwN. 51 Vgl. auch Langenbucher, JbJZ 1999, S. 75 f.; Edward, in: Schulze/Seif (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, S. 76; Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 69; siehe ferner auch schon oben Rn. 10; zum common law siehe aus neuerer Zeit Alexander/Sherwin, Demystifying Legal Reasoning, S. 53 ff.; Schauer, Thinking like a lawyer, S. 57 ff. 52 S. näher Arnull, The European Union and its Court of Justice, S. 629 f.; Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 254 f.; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 189 f. mwN. 53 Vgl. auch Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 255 ff.;Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 190 ff., 353. 54 Siehe näher Neuner, ZHR 153 (1993), 243, 280 ff. Jörg Neuner

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2. Teil: Allgemeiner Teil

zuwägen gilt.55 In den seltenen Fällen, in denen der EuGH bislang seine eigene Judikatur abgeändert hat, geschah dies jeweils retroaktiv, d.h. rückwirkend und nicht nur für zukünftige Entscheidungen im Sinne eines bloßen prospective overruling.56

25

Anders als bei einem Wandel seiner Rechtsprechung problematisiert der EuGH im Rahmen von Nichtigkeitsklagen die Rückwirkung. Die Rechtsgrundlage hierfür bildet Art. 264 Abs. 2 AEUV/231 Abs. 2 EG, wonach der Gerichtshof von der grundsätzlich geltenden ex-tunc-Wirkung absehen kann, „falls er dies für notwendig hält“. Dieselbe Kompetenz nimmt der EuGH im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren in Anspruch, indem er sich teilweise auf eine Analogie zu Art. 264 Abs. 2 AEUV/231 Abs. 2 EG, teilweise auf den Grundsatz der Rechtssicherheit und teilweise kumulativ auf beide Aspekte stützt.57 Dogmatisch geht es hierbei also nicht um das Abweichen von einem Präjudiz, sondern gleichsam um das Betreten „justitiellen Neulands“ im Wege (meist extensiver) Auslegung oder Rechtsfortbildung.58 Nach der gefestigten Rechtsprechung des EuGH kann auch in einer solchen Konstellation die Rückwirkung nur ausnahmsweise beschränkt werden, was zudem in der betreffenden Vorabentscheidung selbst angeordnet sein muss.59 Rein finanzielle Folgewirkungen werden als hinreichender Beschränkungsgrund nicht anerkannt, sondern es bedarf umfassender vertrauensrechtlicher Erwägungen.60

IV. 26

Die Methodik der Rechtsfortbildung

Jenseits der Wortlautgrenze werden von der traditionellen deutschsprachigen Methodenlehre die Bereiche praeter und contra legem unterschieden.61 Contralegal kann allerdings auch innerhalb der Wortlautgrenze judiziert werden, wenn bei mehreren möglichen Bedeutungen jene gewählt wird, die nicht der gesetzgeberischen Zweckvorstellung entspricht. Mit der Differenzierung zwischen praeter und contra legem korrespondiert zudem eine unterschiedliche Wertung, je nachdem welchen Gesetzesbegriff man zugrunde legt. Nach der objektiven Auslegungstheorie lassen sich grundsätzlich alle inadäquat erscheinenden Ergebnisse durch eine „objektive“ Auslegung bereinigen, so dass mit der Kennzeichnung „contra legem“ zugleich ein normatives

55 Vgl. Langenbucher, JZ 2003, 1132, 1134 ff.; dies., Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht (1996), S. 121 ff. 56 Vgl. Bydlinski, JBl. 2001, 1, 26; Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft (2009), S. 209 ff. 57 Siehe ausführlich Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft (2009), S. 161 ff. mwN. 58 Vgl. auch Weiß, EuR 1995, 377, 386. 59 EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-292/04 Meilicke, Slg. 2007, I-1835 Rn. 36 mwN. 60 S. näher Schlachter, ZfA 2007, 249, 265 ff.; Pollicino, GLJ 5 (2004), 283, 300 ff.; Bydlinski, JBl. 2001, 1, 24 mwN. 61 Siehe z.B. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 472 ff. mwN; nach Metzger, Extra legem, intra ius, S. 185 f. m. Fn. 116 stellt bereits jede Entscheidung gegen den Wortlaut des Gesetzes ein contra-legem-Judizieren dar, das aber nicht zwangsläufig unzulässig ist.

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§ 13 Die Rechtsfortbildung

Unzulässigkeitsurteil verbunden ist.62 Folgt man hingegen der subjektiven Auslegungslehre, wird der contra-legem-Sektor lediglich durch erhöhte Begründungsanforderungen geprägt. Nach dieser vorzugswürdigen Ansicht ist eine Gesetzesderogation nicht a priori illegitim, sondern in exzeptionellen Ausnahmekonstellationen zulässig und geboten. 1.

Die Rechtsfindung praeter legem

Analysiert man zunächst die Voraussetzungen und Grenzen einer praeterlegalen Fortbildung des sekundären Gemeinschaftsrechts, bietet es sich an, auf das Bild der „Lücke“ als „planwidrige Unvollständigkeit innerhalb des positiven Rechts (…) gemessen am Maßstab der gesamten geltenden Rechtsordnung“63 zurückzugreifen.64 Es ist allerdings unschädlich, wenn der EuGH dieser Terminologie nur vereinzelt folgt,65 solange er die maßgeblichen funktionalen Sachkriterien beachtet. a)

Die Lückenfeststellung

In Bezug auf die Feststellung einer Lücke besteht im Gemeinschaftsrecht die Besonderheit, dass nicht die Rechtsordnung als Ganzes, sondern nur die europäische Teilrechtsordnung den Vergleichsmaßstab bildet.66 Im Anschluss an die Terminologie im internationalen Einheitsrecht kann man deshalb interne von externen Lücken unterscheiden67 und beide Systeme entsprechend abgrenzen. aa)

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Das externe System

Eine planwidrige Unvollständigkeit des Europarechts kann von vornherein nur in jenem Bereich auftreten, der kompetentiell der Gemeinschaft zugeordnet und nicht den Mitgliedstaaten vorbehalten ist. Nach dem Plan des Gemeinschaftsrechts gelten die Grundsätze der begrenzten Einzelermächtigung und der Subsidiarität. Die Judikative darf deshalb keine Regelungslücke annehmen, sofern nicht auch der Gemeinschaftsgesetzgeber für diesen Fall zu einer Lückenfüllung befugt wäre.68

62 63 64 65

Vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 250 ff. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 39, 198. A.A. Flessner, JZ 2002, 14, 21; Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 254. Der Begriff der „Gesetzeslücke“ wird zum Beispiel verwandt in EuGH v. 19.6.1979 – Rs. 180/78 Brouwer-Kaune, Slg. 1979, 2111 Rn. 8; EuGH v. 6.11.2003 – verb. Rs. C-78/02 bis C-80/02 Karageorgou u.a., Slg. 2003, I-13295 Rn. 49; zuletzt EuGH v. 18.6.2009 – Rs. C-566/07 Stadeco, (noch nicht in Slg.) Rn. 35. 66 Vgl. Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 68 ff. mwN. 67 Vgl. Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 605 ff.; entgegen Metzger, Extra legem, intra ius, S. 397 ff. erscheint diese Terminologie vor allem zur Abgrenzung der justitiellen Kompetenzen und zur Wahrung der mitgliedstaatlichen Interessen durchaus sachgerecht (auch im Vergleich zur open-texture-Konzeption). Unerheblich ist ferner, ob der Gesetzgeber quantitativ „eine (einigermaßen) vollständige Regelung angestrebt“ hat, da der Lückenbegriff funktional nur zum Ausdruck bringen soll, dass die Rolle der Legislative als Rechtsbildungsinstanz nicht in Frage gestellt wird; a.A. W.-H. Roth, in diesem Band, § 14 Rn. 49. 68 Siehe auch schon oben Rn. 15.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

bb)

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Eine Rechtsfortbildung praeter legem setzt zudem eine Planwidrigkeit im internen System des Sekundärrechts voraus. Diese Feststellung bemisst sich primär aus der Perspektive des Gemeinschaftsgesetzgebers und hängt davon ab, inwieweit jener eine abschließende Regelung treffen wollte oder nur unvollständig legiferierte. Eine gesetzestechnische Besonderheit bildet dabei im Bereich des Sekundärrechts das Instrumentarium der Richtlinie. Richtlinien können zwar ebenso wie Verordnungen Lücken aufweisen, doch gilt dies nicht, soweit die konkrete Auslegung ergibt,69 dass den Mitgliedstaaten die Wahl der Form und der Mittel überlassen wird.70 Räumt eine Richtlinie beispielsweise den Mitgliedstaaten die Wahl zwischen mehreren Regelungsalternativen ein, liegt auf Seiten des Gemeinschaftsrechts keine planwidrige Unvollständigkeit vor. b)

31

Die Maßstäbe der Lückenausfüllung

Als Mittel zur Ausfüllung von Lücken im Sekundärrecht kommen im Wesentlichen der Gleichheitssatz sowie das Primärrecht in Betracht. aa)

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Das interne System

Der Gleichheitssatz

Der positive Gleichheitssatz gebietet, dass gleichartige Tatbestände gleich zu behandeln sind, also die Rechtsfolge R nicht nur für den im Gesetz geregelten Tatbestand T1, sondern analog auch für den gleich liegenden Tatbestand T2 gilt.71 Solche Analogieschlüsse finden sich immer wieder in der Rechtsprechung des EuGH.72 Der Gerichtshof machte im Urteil Krohn73 die Lückenausfüllung mittels Analogie allerdings noch von einem Verstoß gegen höherrangiges Gemeinschaftsrecht, insbesondere von einem Verstoß gegen Diskriminierungsverbote, abhängig.74 Diese Bezugnahme ist zu restriktiv. Zum Primärrecht gehören nicht nur die expliziten Diskriminierungsverbote, sondern auch der induktiv aus diesen Verboten sowie nunmehr aus Art. 6 EUV iVm Art. 20 GRCh ableitbare allgemeine Gleichheitssatz, den man als wesentliches Element der Rechtsidee zudem den apriorischen Bestandteilen der Gemeinschafts69 Siehe näher I. Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien (2002), S. 60 ff. 70 Vgl. auch EuGH v. 6.2.2003 – Rs. C-245/00 Sena, Slg. 2003, I-1251 Rn. 34; EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C-454/98 Schmeink & Cofreth und Strobel, Slg. 2000, I-6973 Rn. 48 f.; zuletzt EuGH v. 6.11.2003 – verb. Rs. C-78/02 bis C-80/02 Karageorgou u.a., Slg. 2003, I-13295 Rn. 49; Bultmann, JZ 2004, 1100, 1103 f. 71 Vgl. nur Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 71; zum „Analogical Reasoning from Case to Case“ siehe näher Alexander/Sherwin, Demystifying Legal Reasoning, S. 66 ff.; Schauer, Thinking like a lawyer, S. 85 ff.; Sunstein, Legal Reasoning and Political Conflict (1996), S. 62 ff. 72 Siehe näher Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 321 ff. mwN. 73 EuGH v. 12.12.1985 – Rs. C-165/84 Krohn, Slg. 1985, 3997 Rn. 14, 23. 74 Siehe auch Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 318 ff. mwN.

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§ 13 Die Rechtsfortbildung

rechtsordnung zurechnen kann.75 Mittlerweile judiziert der EuGH ebenfalls ganz generell und in ständiger Rechtsprechung: „Jeder Gemeinschaftsrechtsakt ist insoweit im Einklang mit dem gesamten Primärrecht auszulegen, darunter auch mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung, der verlangt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden, sofern eine solche Behandlung nicht objektiv gerechtfertigt ist.“76 Geradezu ein methodologisches Lehrstück einer Gleichbehandlung im Sinne des Analogieverfahrens enthält die Entscheidung Sturgeon77 zu Entschädigungspflichten im Flugverkehr: Zunächst arbeitet der EuGH den Unterschied zwischen der Annullierung und der Verspätung eines Fluges heraus.78 Als Zwischenergebnis hält er sodann fest, dass „sich aus dem Wortlaut der Verordnung Nr. 261/2004 nicht unmittelbar“ ein Entschädigungsanspruch bei Verspätungen ergibt (Rn. 41). In der weiteren Argumentation legt der EuGH dar, dass Art. 6 der Richtlinie über Unterstützungsleistungen bei Verspätungen wegen der Verschiedenartigkeit der Schäden und der erforderlichen Sofortmaßnahmen keine abschließende Regelung darstellt (Rn. 64 ff.). Zudem verweist er auf die Erwägungsgründe (Nr. 1 bis 4, vor allem auf die Gleichstellung von Verspätung und Annullierung in Nr. 15; vgl. Rn. 43 ff., 67) sowie objektiv-teleologisch auf den jeweiligen Zeitverlust, „der angesichts seines irreversiblen Charakters nur mit einer Ausgleichszahlung ersetzt werden kann“ (Rn. 52). Schließlich vergleicht der Gerichtshof beide Sachverhalte und kommt zu dem Ergebnis (Rn. 60): „Da die von den Fluggästen im Fall einer Annullierung und einer Verspätung erlittenen Schäden einander entsprechen, können die Fluggäste verspäteter Flüge und die annullierter Flüge nicht unterschiedlich behandelt werden, ohne dass gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen würde.“ Man mag diese Entscheidung im Hinblick auf die konkrete Feststellung einer Regelungslücke angreifen,79 methodisch demonstriert sie gleichwohl den klassischen Analogieschluss.

Überdies vergleicht der EuGH auch einzelne Gesetzgebungsakte miteinander. So hat der Gerichtshof beispielsweise geprüft, ob die in einer bestimmten Richtlinie vorgesehene Ausnahme im Anwendungsbereich einer anderen Richtlinie analog anzuwenden ist.80 Der Gerichtshof hat dies in concreto zwar unter Hinweis auf den unplausiblen Methodensatz, dass Ausnahmen strikt auszulegen sind,81 abgelehnt, das Ergebnis aber zudem in mehrfacher Hinsicht teleologisch abgesichert.82 75 S. dazu näher Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 57, 71 mwN. 76 EuGH v. 19.11.2009 – verb. Rs. C-402/07 und C-432/07 Sturgeon, (noch nicht in Slg.) Rn. 48 mwN.; s. auch schon EuGH v. 8.10.1980 – Rs. 810/79 Überschär, Slg. 1980, 2747 Rn. 16; EuGH v. 7.7.1993 – Rs. C-217/91 Spanien ./. Kommission, Slg. 1993, I-3923 Rn. 37; EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-313/02 Wippel, Slg. 2004, I-9483 Rn. 56; vgl. ferner Lenz/BorchardtWolfgang, Anh. zu Art. 6 EU Rn. 553 ff.; v. d. Groeben/Schwarze-Beutler, Art. 6 EU Rn. 87. 77 EuGH v. 19.11.2009 – verb. Rs. C-402/07 und C-432/07 Sturgeon, (noch nicht in Slg.). 78 Eine Verspätung liegt, ungeachtet der Dauer, vor, wenn der Flug „entsprechend der ursprünglichen Flugplanung des Luftfahrtunternehmens durchgeführt wird“; Rn. 39 des Urteils. 79 Die Vorinstanzen in Deutschland und Österreich hatten Ausgleichsansprüche verneint; vgl. Rn. 16, 24 des Urteils. 80 EuGH v. 11.5.2006 – Rs. C-340/04 Carbotermo und Consorzio Alisei, Slg. 2006, I-4137 Rn. 51. 81 S. zu dieser verfehlten Auslegungsregel auch ausführlich Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 61 ff. 82 EuGH v. 11.5.2006 – Rs. C-340/04 Carbotermo und Consorzio Alisei, Slg. 2006, I-4137 Rn. 55, 53 f. Jörg Neuner

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Der negative Gleichheitssatz verlangt, Ungleichartiges verschieden zu behandeln. Konsequenterweise kennt der EuGH daher nicht nur eine den Wortsinn übersteigende Rechtsfortbildung mittels Analogieschlusses, sondern auch in der Gegenrichtung eine restriktive Interpretation,83 die man nach deutschem Sprachgebrauch als teleologische Reduktion bezeichnet, sofern der Normtext zu weit gefasst ist und eine erforderliche Einschränkung vermissen lässt. Der EuGH differenziert zwar nicht zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung,84 doch ist kennzeichnend, dass er eine restriktive Richtlinieninterpretation mit dem methodischen Prolegomenon einleitet: „Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Gemeinschaftsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden.“85 Im Übrigen ist auch in diesem Kontext das Subsidiaritätsprinzip zu beachten, so dass die Argumentationslast für eine das Sekundärrecht erweiternde und zugleich das nationale Recht einschränkende Rechtsfortbildung höher ist als im umgekehrten Fall der teleologischen Reduktion des Gemeinschaftsrechts.86

33a

Der EuGH verlangt des Weiteren hinreichende Indizien für die Annahme eines allgemeinen ungeschriebenen Grundsatzes des Sekundärrechts. Im Audiolux-Urteil wird betont, „dass der bloße Umstand, dass es im abgeleiteten Gemeinschaftsrecht verschiedene Vorschriften zum Schutz von Minderheitsaktionären gibt, für sich genommen noch nicht für den Nachweis der Existenz eines allgemeinen Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts genügt, insbesondere wenn ihr Anwendungsbereich auf sehr genau festgelegte und bestimmte Rechte beschränkt ist.“87 Einen Indizwert besitzen diese Vorschriften nur, „soweit sie zwingend formuliert sind und sich der genaue Inhalt des gesuchten Grundsatzes aus ihnen ergibt“.88 In concreto lehnt der EuGH die induktive Gewinnung eines allgemeinen Grundsatzes vor allem deshalb ab, weil sich die maßgeblichen Vorschriften „nur auf ganz bestimmte Situationen beziehen“,89 es sich also lediglich um eine Reihe von Sondertatbeständen handelt.90 bb)

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Das Primärrecht

Ebenso wie im nationalen Recht ist im Gemeinschaftsrecht das niederrangige Recht im Lichte des höherrangigen Rechts zu interpretieren. Im Stufenbau des Gemein-

83 Vgl. z.B. EuGH v. 1.4.2008 – Rs. C-14/06 und C-295/06 Parlament ./. Kommission, Slg. 2008, I-1649 Rn. 65 ff., 71; EuGH v. 4.10.1991 – Rs. C-183/90 van Dalfsen u.a., Slg. 1991, I-4743 Rn. 19 ff.; siehe ferner auch Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 217 ff. mwN. 84 S. bereits oben Rn. 2. 85 EuGH v. 1.4.2008 – verb. Rs. C-14/06 und C-295/06 Parlament ./. Kommission, Slg. 2008, I-1649 Rn. 67 mwN. 86 Vgl. Langenbucher, ZGR 2010, 75, 84 f. 87 EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 Audiolux (noch nicht in Slg.) Rn. 34 m. Anm. Klöhn, LMK 2009, 294692. 88 EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 Audiolux (noch nicht in Slg.) Rn. 34 mwN. 89 EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 Audiolux (noch nicht in Slg.) Rn. 35. 90 S. zur methodologischen Abgrenzung auch Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 97 ff.

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§ 13 Die Rechtsfortbildung

schaftsrechts bildet dabei das Primärrecht die lex superior gegenüber dem Sekundärrecht. Diese Normenhierarchie folgt aus dem verfassungsähnlichen Charakter des Primärrechts, insbesondere aus der Regelung des Art. 288 AEUV/249 EG über die Rechtsetzungskompetenz auf der sekundären Ebene.91 Vor allem der Systemgedanke sowie die Autorität der Vertragsparteien gebieten es, das abgeleitete Gemeinschaftsrecht soweit als möglich primärrechtskonform auszulegen.92 Hinsichtlich der materiellen Vorgaben ist kennzeichnend, dass zum Primärrecht alle rechtsstaatlichen Grundsätze, namentlich das Verhältnismäßigkeitsprinzip, gehören.93 Daneben sind auch die Gemeinschaftsgrundrechte im Rahmen einer primärrechtskonformen Rechtsfindung mitzuberücksichtigen.94

35

Terminologisch kann man im Hinblick auf die Wortlautgrenze zwischen einer primärrechtskonformen Auslegung und einer primärrechtskonformen Rechtsfortbildung unterscheiden.95 Eine primärrechtskonforme Interpretation kommt aber nur subsidiär in Betracht, wenn nach Ausschöpfung der herkömmlichen canones eine konkrete Regelungsabsicht nicht rekonstruierbar ist.96 Verfolgt der Gesetzgeber einen primärrechtswidrigen Zweck, darf die rechtswidrige Norm nicht in eine primärrechtskonforme Regelung uminterpretiert werden. Der Gerichtshof hat vielmehr eine rechtswidrige Norm für nichtig zu erklären, und zwar entweder im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV/234 Abs. 1 lit. b) EG oder einer Nichtigkeitsklage gem. Art. 263 Abs. 1 AEUV/230 Abs. 1 EG.97 Dieses Prozedere ist sachlich geboten, weil dem Gemeinschaftsgesetzgeber sonst potentielle Handlungsalternativen abgeschnitten würden und das institutionelle Gleichgewicht durch eine judikative Normsubstitution aus den Fugen geriete.98 Bestehen hingegen mehrere Auslegungsoptionen, ist diejenige vorzuziehen, die mit dem Primärrecht vereinbar ist.99

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c)

Die Grenzen der Lückenausfüllung

Das sekundäre Gemeinschaftsrecht ist seiner Natur nach nicht analogiefeindlich, obgleich es zum Teil einen Ausnahmecharakter aufweist. Ein Analogieschluss darf zwar ein Regel-Ausnahme-Verhältnis durch die Herausbildung eines allgemeinen Prinzips nicht auf den Kopf stellen, doch sind auch zwei rechtsähnliche Sondertatbestände

91 Vgl. auch Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, S. 363 ff.; Müller/Christensen, Juristische Methodik II, Rn. 541 f. 92 Vgl. auch oben Leible/Domröse, in diesem Band, § 9 Rn. 22 ff. 93 Vgl. näher Müller/Christensen, Juristische Methodik II, Rn. 177 ff. mwN. 94 Vgl. näher Müller/Christensen, Juristische Methodik II, Rn. 180 ff. mwN. 95 Vgl. auch Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 197. 96 Siehe auch Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 194. 97 Vgl. auch Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 63. 98 Vgl. auch unten Rn. 42. 99 Vgl. EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, Slg. 1983, 4063 Rn. 15.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

grundsätzlich gleich zu behandeln.100 Eine Lückenausfüllung scheidet im Wesentlichen nur in zwei Fällen aus: aa)

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Der noch mögliche Wortsinn kann vor allem zum Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten der Unionsbürger eine Schranke zulässiger Rechtsfindung bilden. Dies gilt einmal für Regelungen, die eine Bestrafung anordnen oder zumindest einen strafähnlichen Charakter aufweisen (z.B. die Verhängung von Bußgeldern durch die EG-Kommission).101 Über den Grundsatz nulla poena sine lege stricta hinaus ist ein Analogieverbot ganz generell bei belastenden Eingriffen indiziert.102 So lehnt auch der EuGH namentlich im Abgabenrecht eine analoge Anwendung von Regelungen ab, die den einzelnen Bürger belasten.103 bb)

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Unausfüllbare Lücken

Neben Lücken, bei denen eine Ausfüllung aufgrund eines Analogieverbotes unzulässig ist, gibt es Lücken, bei denen eine Ausfüllung rechtlich nicht möglich ist.104 Der EuGH sieht sich zu einer Lückenausfüllung außer Stande, wenn bloße Zweckmäßigkeitserwägungen zu treffen sind. Das Gleiche gilt, wenn mehrere primärrechtskonforme Regelungsalternativen bestehen.105 Der EuGH verweist zur Lückenausfüllung dann folgerichtig auf die nationalen Gerichte und Gesetzgeber106 sowie die zuständigen Gemeinschaftsorgane.107 2.

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Analogieverbote

Die Rechtsfindung contra legem

Mit dem Gebot richterlicher Gesetzesbindung korrespondiert ein grundsätzliches Verbot richterlicher Gesetzesderogation. Der EuGH ist sich dieser Einschränkung bewusst und betont ausdrücklich seine fehlende Kompetenz zur Normkorrektur bei

100 Vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 181; Schilling, EuR 1996, 44, 52 f. mwN. 101 Vgl. EuGH v. 25.9.1984 – Rs. 117/83 Könecke, Slg. 1984, 3291 Rn. 11, 13, 16; Langenbucher, JbJZ 1999, S. 76 f.; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 289 ff. mwN. 102 Vgl. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 402 f.; Langenbucher, JbJZ 1999, S. 77. 103 EuGH v. 15.12.1987 – Rs. 325/85, Irland ./. Kommission, Slg. 1987, 5041 Rn. 18. 104 Vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 172. 105 Vgl. Dänzer-Vanotti, FS Everling, Bd. I, S. 221; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 324 ff. 106 EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C-454/98 Schmeink & Cofreth und Strobel, Slg. 2000, I-6973 Rn. 48 f.; EuGH v. 18.6.2009 – Rs. C-566/07 Stadeco, (noch nicht in Slg.) Rn. 35; s. ferner auch schon EuGH v. 11.5.1983 – Rs. 87/82 Rogers, Slg. 1983, 1579 Rn. 21. 107 EuGH v. 23.3.2000 – verb. Rs. C-310/98 und C-406/98 Met-Trans, Slg. 2000, S. I-1797 Rn. 32; EuGH v. 19.10.1977 – verb. Rs. 117/76 und 16/77 Ruckdeschel u.a., Slg. 1977, 1753 Rn. 13.

390

Jörg Neuner

§ 13 Die Rechtsfortbildung

Bestimmungen, die er für unbefriedigend erachtet.108 Wie bei jedem Prinzip gibt es allerdings auch in Bezug auf die richterliche Gesetzesbindung Ausnahmen.109 Folgerichtig bestimmt Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV/220 EG, dass der Gerichtshof das „Recht“ und nicht allein das „Gesetz“ zu wahren hat.110 a)

Die Feststellung der Nichtigkeit

Im Gemeinschaftsrecht sind die grundsätzlichen rechtstheoretischen Relativierungen der richterlichen Gesetzesbindung insofern hinfällig, als der EuGH gem. Art. 263 Abs. 1, 267 Abs. 1 lit. b) AEUV/230 Abs. 1, 234 Abs. 1 lit. b) EG eine Norm für nichtig erklären kann.111 Diese Verwerfungskompetenz umfasst alle Fälle, in denen eine Sekundärrechtsnorm mit dem Primärrecht kollidiert. Den Maßstab bilden dabei insbesondere auch die in den Mitgliedstaaten anerkannten rechtsstaatlichen Grundsätze gem. Art. 2 EUV/6 Abs. 1 EU112 sowie die gem. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1, Abs. 3 EUV einbezogenen Grundrechte der GRCh und der EMRK. b)

41

Die Folgen der Nichtigkeit

Eine Nichtigkeitsfeststellung bewirkt in der Regel eine erneute Zuständigkeit des Gemeinschaftsgesetzgebers. Dieser kann nunmehr anstelle der nichtigen Norm über rechtmäßige Alternativentscheidungen befinden. Angesichts dieser kompetentiellen Rückverlagerung erweist sich eine Nichtigkeitsfeststellung als der moderateste Eingriff in das Gewaltenteilungsgefüge. Dem trägt die subjektive Auslegungstheorie dadurch Rechnung, dass sie bei einer Abweichung von der gesetzgeberischen Regelungsabsicht grundsätzlich eine Nichtigkeitserklärung verlangt. Der objektiven Auslegungstheorie gelingt es zwar, eine Nichtigkeitserklärung tendenziell zu vermeiden, doch besteht die Gefahr, dass der Verzicht auf die Normkassation um den Preis einer richterlichen Normsetzung erkauft wird. Der Gerichtshof ist nur ausnahmsweise zu 108 Siehe z.B. EuGH v. 26.4.1972 – Rs. 92/71 Interfood, Slg. 1972, 231 Rn. 5; weitere Nachweise bei Borchardt, GS Grabitz (1995), S. 41; kritisch zu einzelnen Entscheidungen namentlich Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I, S. 395 ff. mwN; aus steuerrechtlicher Sicht Leitl, UVR 2008, 138 ff.; aus arbeitsrechtlicher Sicht Wank, FS Birk (2008), S. 929 ff. 109 Siehe dazu näher Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 139 ff. 110 Analoge Formulierungen finden sich auch in den meisten anderen Textfassungen, vgl. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 91 f. mwN; kritisch zur Interpretation von Art. 220 EG als Rechtsfortbildungskompetenz Buerstedde, Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts (2006), S. 145, der sich einerseits vom Normtext des Art. 220 EG löst, um andererseits die (bereits im nationalen Recht verfehlte) These von der notwendigen Rückführung richterlicher Entscheidungen auf Normtexte aufrechterhalten zu können. 111 Vgl. z.B. EuGH v. 21.1.2003 – Rs. C-378/00 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2003, I-937 Rn. 72; EuGH v. 12.11.1996 – Rs. C-84/94 Vereinigtes Königreich ./. Rat, Slg. 1996, I-5755 Rn. 37; siehe zur Kontrolle durch den Gerichtshof auch Everling, FG Gündisch (1999), S. 92 ff., mit krit. Anmerkungen zu dessen relativ weitgehender Zurückhaltung gegenüber dem Gemeinschaftsgesetzgeber. 112 Siehe dazu auch schon oben Rn. 35 sowie Metzger, Extra legem, intra ius, S. 458 ff. mwN.

Jörg Neuner

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42

2. Teil: Allgemeiner Teil

einer eigenen Lückenausfüllung befugt, falls das Primärrecht keine Alternativen eröffnet und eine bestimmte Regelung fordert. c)

43

Ungeachtet der rechtsstaatlichen Standards des Primärrechts kann die sehr seltene Situation eintreten, dass das allgemein gefasste Sekundärrecht den Besonderheiten des Einzelfalles nicht gerecht wird. Eine Nichtigkeitserklärung durch den Gerichtshof scheidet in einer solchen Konstellation aus, denn wie bereits Aristoteles hervorhob, liegt der Fehler hier „weder im Gesetz noch beim Gesetzgeber, sondern in der Natur der Sache“.113 Ein contra-legem-Judizieren kommt also in exzeptionellen Ausnahmekonstellationen in Betracht, wenn der konkrete Streitfall vom gesetzlich fixierten Normaltypus so eklatant abweicht, dass die Gesetzesbindung zu einem untragbaren Ergebnis führen würde.

V. 44

Die Einzelfallgerechtigkeit

Schlussbetrachtung

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass der Gerichtshof auch im Sekundärrecht zur Rechtsfortbildung grundsätzlich befugt ist. Er hat dabei weder die Aufgabe eines „Integrationsmotors“, noch unterliegt er einem judicial self-restraint. Ersteres birgt die Gefahr der Kompetenzüberschreitung durch eine eigenständige Integrationspolitik, Letzteres die Gefahr der Kompetenzunterschreitung durch eine Missachtung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben. Hinsichtlich der Kompetenzausübung ist es nicht notwendig, dass der Gerichtshof eine bestimmte Methodenterminologie übernimmt, solange die maßgeblichen Sachkriterien beachtet werden.114 Dazu zählen vor allem die Grundsätze der horizontalen und vertikalen Gewaltenteilung sowie das Prinzip des Vertrauensschutzes. Es ist also auch bei der Fortbildung des sekundären Gemeinschaftsrechts in erster Linie auf eine sachgerechte Wertungsjurisprudenz zu achten.

113 Die Nikomachische Ethik (Übersetzung von O. Gigon), (6. Aufl. 1986), 1137a; siehe dazu auch Schauer, Thinking like a lawyer, S. 119 f. 114 Siehe i.Ü. die berechtigte Forderung von Kühling/Lieth, EuR 2003, 371, 384 nach einer behutsamen Übertragung nationaler dogmatischer Figuren auf gemeinschaftsrechtliche Fragestellungen.

392

Jörg Neuner

Abschnitt 4 Mitgliedstaatliches Recht § 14 Die richtlinienkonforme Auslegung Wulf-Henning Roth* Übersicht I. Unionsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auslegung der lex fori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaats . . . . . . 2. Richtlinien- und unionsrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . 3. Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Richtlinienkonforme Auslegung und unmittelbare Anwendbarkeit 5. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. „Auslegung“ und Rechtsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Methodische Vorgaben für die nationalen Gerichte . . . . . . . . a) „So weit wie möglich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Umsetzungsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Methodische Gleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Schranken einer richtlinienkonformen Auslegung . . . . . . . . . a) Allgemeine Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Richtlinienkonforme Auslegung auch zu Lasten des Einzelnen? c) Schranken des nationalen (Verfassungs-)Rechts . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . .

Rn. . 3–36 . 3–8 . 3–5 . 6–8 . 9–10 . 11 . 12–14 . 15–16 . 17–24 . 25–33 . 26 . 27–29a . 30–33 . 34–36 . 34 . 35 . 36

II. Die Umsetzung im nationalen (deutschen) Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37–60 1. Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung kraft nationalen Rechts . . . . . . 37–38 a) Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 b) Wille des deutschen Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2. Berücksichtigung im Rahmen der klassischen Auslegungsmethoden . . . . . . 39 3. Richtlinienkonforme Auslegung als interpretatorische Vorrangregel . . . . . . 40–43 4. Richtlinienkonforme Auslegung und ihre Grenzen im nationalen Recht . . . . 44–45 5. Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46–60 a) Grundlage: Bindung an die Richtlinie über Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG 47–48 b) Lücke als Voraussetzung der Rechtsfortbildung? . . . . . . . . . . . . . . . 49–51 c) Die Instrumente der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 d) Die Grenzen der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53–53c e) Normenkollisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54–60 aa) Unmittelbar anwendbares Richtlinienrecht . . . . . . . . . . . . . . . 56 bb) Nicht unmittelbar anwendbares Richtlinienrecht . . . . . . . . . . . . 57–60 * Für tatkräftige Unterstützung bei der Überarbeitung des Textes geht der Dank an Herrn Dr. Oliver Mörsdorf und Herrn Alexander Jüchser am Institut für Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung der Universität Bonn. Wulf-Henning Roth

393

2. Teil: Allgemeiner Teil Literatur: Marietta Auer, Neues zu Umfang und Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung, NJW 2007, 1106–1109; Ulrike Babusiaux, Die richtlinienkonforme Auslegung im deutschen und französischen Zivilrecht (2007); Winfried Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung – zugleich ein Beitrag zur Dogmatik der EG-Richtlinie (1994); Claus-Wilhelm Canaris, Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, in: Helmut Koziol/Peter Rummel (Hrsg.), Im Dienste der Gerechtigkeit – Festschrift für Franz Bydlinski (2002), S. 47–103; ders., Gemeinsamkeiten zwischen verfassungs- und richtlinienkonformer Rechtsfindung, in: Hartmut Bauer u.a. (Hrsg.), Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat, Festschrift für Reiner Schmidt zum 70. Geburtstag (2006), S. 41–60; Ronny Domröse, Der Einfluss des europäischen Gemeinschaftsprivatrechts auf die Anwendung des autonomen Privatrechts der Mitgliedstaaten, in: Christoph Bosch u. a. (Hrsg.), JbJZ 2009, S. 109–125; Ulrich Ehricke, Die richtlinienkonforme und die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, RabelsZ 59 (1995), 598–644; Martin Franzen, „Heininger“ und die Folgen: ein Lehrstück zum Gemeinschaftsprivatrecht, JZ 2003, 321–332; Oliver Gänswein, Der Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts, Erscheinungsformen und dogmatische Grundlage eines Rechtsprinzips des Unionsrechts (2009); Martin Gebauer, Umsetzungsprobleme von EG-Richtlinien und ihre Lösung, AnwBl 2007, 314–319; Nils Grosche/Jan Höft, Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung ohne Grenzen?, NJOZ 2009, 2294–2309; Stefan Grundmann, Richtlinienkonforme Auslegung im Bereich des Privatrechts – insbesondere: der Kanon der nationalen Auslegungsmethoden als Grenze?, ZEuP 1996, 399–424; Carsten Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen (2006); Clemens Höpfner, Die systemkonforme Auslegung (2008); ders., Über Sinn und Unsinn der sogenannten „richtlinienkonformen Rechtsfortbildung“: Erwiderung zu Thomas M.J. Möllers und Alexandra Möhring, JZ 2008, 919, JZ 2009, 403–405; Clemens Höpfner/Bernd Rüthers, Grundlagen einer europäischen Methodenlehre, AcP 209 (2009), 1–36; Marcus Klamert, Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts (2001); Kathrin Kroll-Ludwigs/Markus Ludwigs, Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung im Gesamtsystem der Richtlinienwirkung, ZJS 2009, 7–14, 123–130; Anne-Kristin Meier, Rechtswirkungen von EG-Richtlinien und EU-Rahmenbeschlüssen im nationalen Recht (2008); Thomas M.J. Möllers/Alexandra Möhring, Recht und Pflicht zur richtlinienkonformen Rechtsfortbildung bei generellem Umsetzungswillen des Gesetzgebers, JZ 2008, 919–924; Thomas M.J. Möllers, Schlusswort, JZ 2009, 405–406; Oliver Mörsdorf, Unmittelbare Anwendung von EG-Richtlinien zwischen Privaten in der Rechtsprechung des EuGH, EuR 2009, 219–240; Karl Riesenhuber/Ronny Domröse, Richtlinienkonforme Rechtsfindung und nationale Methodenlehre, RIW 2005, 47–54; Sacha Prechal, Directives in European community law: a study of directives and their enforcement in national Courts (1995); Jan Schürnbrand, Die Grenzen richtlinienkonformer Rechtsfortbildung im Privatrecht, JZ 2007, 910–918; Christian Sperber, Die Grundlage richtlinienkonformer Rechtsfortbildung im Zivilrecht, EWS 2009, 358–363; Martin Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung (2010). Rechtsprechung: EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835; EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285; EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981; EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057; EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact, Slg. 2008, I-2483; EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685; EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis 380/07 Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling (noch nicht in Slg.); BGHZ 150, 248–263 – Heininger; BGHZ 179, 27–43 – Quelle; BAG, DB 2010, 850–852.

394

Wulf-Henning Roth

§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung

Die folgenden Ausführungen widmen sich der Frage, welche Konsequenzen sich aus der Existenz von Richtlinien für die Auslegung des nationalen Rechts ergeben. Dabei sind zunächst die gemeinschaftsrechtlichen Grundlagen der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung zu skizzieren (unter I.). Sodann geht es um die Anwendung des Grundsatzes der richtlinienkonformen Auslegung im Rahmen des deutschen Rechts (unter II.).

1

Die richtlinienkonforme Auslegung hat als ihren Gegenstand das nationale Recht. Daher werden im folgenden nicht die Probleme der Auslegung von Richtlinien und ihrer Fortbildung behandelt (dazu unter § 11 und § 13). Ebenso ausgeblendet werden drei weitere Problemkreise: die Frage der Vorwirkung von Richtlinien (dazu § 16), die Frage der sog. überschießenden Umsetzung einer Richtlinie in das nationale Recht (dazu § 15) und die Rollenverteilung zwischen dem Gerichtshof und den Organen der Mitgliedstaaten bei der Auslegung und Konkretisierung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen in den Richtlinien (dazu § 12). Zur richtlinienkonformen Auslegung in anderen Mitgliedsstaaten sei auf die §§ 24–28 verwiesen.

2

I.

Unionsrechtliche Vorgaben

1.

Grundlagen im Unionsrecht

a)

Auslegung der lex fori

Seit langem geht der Gerichtshof (EuGH) von einer aus dem Unionsrecht folgenden Pflicht der mitgliedstaatlichen Gerichte aus, das nationale Recht richtlinienkonform auszulegen.1 Diese Verpflichtung folgt nach ständiger Rechtsprechung aus Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG2 und zusätzlich aus Art. 4 Abs. 3 EUV/10 EG.3

3

Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG statuiert die Verpflichtung für die Mitgliedstaaten, die Vorgaben einer Richtlinie in das nationale Recht umzusetzen. Diese Verpflichtung richtet sich nicht nur an den Mitgliedstaat selbst, sondern auch an seine Untergliederungen (z.B. Länder und Kommunen).4 Sie ist nicht auf den Gesetzgeber beschränkt, sondern erstreckt sich auf die Gerichte gleichermaßen, alle allgemeinen und besonderen Maßnahmen zu treffen, die für die Zielverfolgung von Bedeutung sind.5 Im Hinblick auf die aus Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG und aus der Richtlinie folgende „zwingende Pflicht“ zur Umsetzung 6 ist für die Bindung der Gerichte an die Richtlinienvorgaben ein Rückgriff auf die Kooperationsverpflichtung

4

1 Seit EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 26. 2 Zuletzt EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdevici, (noch nicht in Slg.) Rn. 48. 3 Etwa in EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 26; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 26 u.ö. 4 EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-72/95 Kraaijeveld u.a., Slg. 1996, I-5403 Rn. 55; Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EGV Rn. 99. 5 Z.B. EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environment-Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 40. 6 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environment-Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 40. Wulf-Henning Roth

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2. Teil: Allgemeiner Teil

des Art. 4 Abs. 3 EUV/10 EG nicht vonnöten.7 Letztere hat allein ergänzenden Charakter.8

5

Die Verpflichtung, das nationale Recht an die Vorgaben der Richtlinie anzupassen, erschöpft sich nicht in dem (korrekten) legislativen Umsetzungsakt, ist also keine einmalige, nach Inkrafttreten der Richtlinie sich ergebende Aufgabe, sondern eine fortdauernde Verpflichtung, die den Gesetzgeber bei all seiner künftigen Tätigkeit bindet. Die Gerichte haben das nationale (umgesetzte) Recht im Lichte der Richtlinien auszulegen, – und auch dies ist als eine fortwährende Pflicht der Gerichte zu verstehen – die Vorgaben der Richtlinien bei der Auslegung in der Zukunft zu beachten. Dies hat Konsequenzen vor allem dann, wenn die Auslegung einer Richtlinie durch den EuGH eine Konkretisierung bzw. Änderung erfährt: Die aus Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG resultierende Pflicht, alle zur Erreichung des durch die Richtlinie vorgeschriebenen Zieles erforderlichen Maßnahmen zu treffen, impliziert auch die Verpflichtung für die nationalen Gerichte, in der Auslegung des eigenen nationalen Rechts die Konkretisierungen und Änderungen in der Auslegung des Richtlinienrechts durch den EuGH nachzuvollziehen. b)

6

Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaats

Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG reicht als Geltungsgrund für die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung nicht aus, soweit das Gericht eines Mitgliedstaates das Recht eines anderen Mitgliedstaates aufgrund einer kollisionsrechtlichen Regelung anzuwenden hat. Da sich die Umsetzungsverpflichtung an die Organe der jeweiligen Mitgliedstaaten richtet, kann die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung die Gerichte immer nur im Hinblick auf die lex fori treffen: 9 Denn ein deutsches Gericht ergänzt durch seine Auslegung die Tätigkeit des eigenen (deutschen) Gesetzgebers und ist in dieser Tätigkeit durch die (verfassungsmäßige) Rollenverteilung zwischen Judikative und Legislative eingeschränkt. Bei der Anwendung des Rechts eines anderen Mitgliedstaates steht das deutsche Gericht dagegen nicht in der Pflicht aus Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG, geht es doch nicht um die Fortbildung deutschen Rechts. Kraft der Verweisung muss das deutsche Gericht vielmehr in die Rolle des Gerichts des jeweils anderen Mitgliedstaates schlüpfen und das Recht dieses

7 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environment-Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 40 stellt insoweit auch nur auf Art. 249 Abs. 3 EG ab; ebenso EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113. Zutreffend erscheint eine Berufung auf Art. 4 Abs. 3 EUV/10 EG, wenn der Gerichtshof die nationalen Verwaltungsbehörden der Verpflichtung unterwirft, im Rahmen ihres Verfahrensrechts alles zu tun, um der (nicht umgesetzten) Richtlinie zur Geltung zu verhelfen; z.B. EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02 Delena Wells, Slg. 2004, I-723 Rn. 65. 8 Der Gerichtshof beruft sich auf Art. 4 Abs. 3 EUV/10 EG, um – über die Bindung an Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG hinausgehend – die Mitgliedstaaten zu verpflichten, „alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen“. 9 W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH (2000), S. 879; Gebauer, in: Jayme (Hrsg.), Kulturelle Identität und Internationales Privatrecht (2003), S. 195.

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Wulf-Henning Roth

§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung

Staates so auslegen und anwenden, wie es Gerichte dieses Staates tun10 bzw. tun würden.11 Aufgrund der Loyalitätspflicht des Art. 4 Abs. 3 EUV/10 EG (und nicht des Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG) wird man aber eine weitergehende Rolle der Gerichte der Mitgliedstaaten insoweit annehmen müssen, als die Gerichte im Rahmen einer Verweisung auf das ausländische Recht bei dessen Auslegung auch die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben und insbesondere das Gebot richtlinienkonformer Auslegung, das auch für die Gerichte des anderen Mitgliedstaates gilt, zumindest insoweit in Betracht zu ziehen haben,12 wie dies die Gerichte dieses Staates kraft ihrer Stellung im Verhältnis zur Legislative tun können. Insoweit wird für die richtlinienkonforme Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaates im Grundsatz dasjenige nachvollzogen, was in ähnlicher Weise für das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaates gilt: Der Gerichtshof ist schon bisher davon ausgegangen, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte – in ihrer Funktion als Unionsgerichte – die Rechtssätze des inländischen Rechts wie diejenigen anderer Mitgliedstaaten auf ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht überprüfen müssen.13 Und Generalanwalt Alber hat in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Lennox diese Position noch einmal mit Nachdruck vertreten.14

7

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Verweist deutsches Recht auf einen Rechtssatz eines anderen Mitgliedstaates, der mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist, ist nicht etwa die Verweisung auf das ausländische Recht gemeinschaftsrechtswidrig. Vielmehr ist im Rahmen des ausländischen Sachrechts nach einer Lösung zu suchen, die zu einem gemeinschaftsrechtskonformen Ergebnis führt. Hier wird oftmals mit dem Mittel der Angleichung, also der Umformulierung des ausländischen Rechtssatzes oder aber der Bildung eines ergänzenden Rechtssatzes, wie dies aus der

8

10 BGH, NJW 1992, 3106; BGH, NJW 2003, 2685. 11 S. nur Art. 12 Abs. 1 lit. a) Rom I–VO. Die Anwendung fremden Rechts umfasst die Anwendung der Auslegungsmethoden diesen Rechts; Hahn, ZfRV 2003, 163. Dies schließt eine Fortbildung des ausländischen Rechts nicht aus; Palandt-Thorn, Einl. vor Art. 3 EGBGB Rn. 34. Eingehender MünchKommBGB-Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 628–631. 12 Pfeiffer, StudZR 2004, 171, 191, scheint annehmen zu wollen, dass Art. 4 Abs. 3 EUV/10 EG den Verweisungsbefehl des Gesetzgebers auf das ausländische Recht im Sinne einer Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung mit prägt. 13 Z.B. EuGH v. 16.12.1981 – Rs. 244/80 Foglia, Slg. 1981, 3045 Rn. 30; EuGH v. 9.6.1992 – Rs. C-47/90 Delhaize, Slg. 1992, I-3669 (belgischer Kaufvertrag; Vereinbarkeit der spanischen Abfüllregelung mit Art. 35 AEUV/29 EG als Vorfrage); vgl. auch den Sachverhalt in EuGH v. 21.1.2003 – Rs. C-318/00 Bacardi-Martini, Slg. 2003, I-905. 14 GA Alber, SchlA v. 17. 10. 2002 – Rs. C-220/01 Lennox, Slg. 2003, I-7091 Tz. 83–86: Vorrang des Gemeinschaftsrechts muss sich auch gegenüber dem Recht eines anderen Mitgliedstaates durchsetzen. Auf einem anderen Blatt steht allerdings, dass die Gerichte im Rahmen des Vorlageverfahrens gem. Art. 267 AEUV/234 EG besonders sorgfältig begründen müssen, aus welchem Grunde sie ausländisches Recht mit dem Gemeinschaftsrecht für unvereinbar halten; vgl. EuGH v. 10.12.2002 – Rs. C-153/00 der Weduwe, Slg. 2002, I-11319 Rn. 38. Wulf-Henning Roth

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2. Teil: Allgemeiner Teil

ordre public-Kontrolle gem. Art. 6 EGBGB bekannt ist,15 geholfen werden können. Nur ganz hilfsweise ist auf die lex fori zurückzugreifen.16 2.

Richtlinien- und unionsrechtskonforme Auslegung

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Im Urteil Pfeiffer deutet der Gerichtshof – wohl erstmals – das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung als einen (Unter-)Fall des Gebots der „gemeinschaftsrechtskonformen“ (nunmehr unionsrechtskonforme) Auslegung.17 Im Schrifttum ist dagegen vor allem die Unterschiedlichkeit beider Institute in ihren Voraussetzungen und Rechtsfolgen betont worden: 18 Während die unionsrechtskonforme Auslegung – bei Anwendung des primären Unionsrechts19 – auf dem Vorrang des Unionsrechts beruht und in seiner Rechtsfolge notfalls zur Unanwendbarkeit einer Bestimmung des nationalen Rechts im konkreten Fall führen kann, nimmt die richtlinienkonforme Auslegung – außerhalb des Bereichs der unmittelbaren Anwendung einer Richtlinienbestimmung – am Vorrang des Unionsrechts nicht teil und führt auch nicht zur Unanwendbarkeit richtlinienwidrigen nationalen Rechts.20 Diese Unterschiede in der Einwirkung des primären Unionsrechts auf das nationale Recht einerseits und des (nicht unmittelbar anwendbaren) Richtlinienrechts andererseits werden jedoch keineswegs in Abrede gestellt, wenn man, wie der Gerichtshof es tut, die richtlinienkonforme Auslegung als Unterfall des Gebots der unionsrechtskonformen Auslegung begreift, gibt es doch neben dem primären Unionsrecht und den Richtlinien auch noch andere Rechtsakte (Verordnungen und Beschlüsse) und Verlautbarungen der Union, die nach einer Berücksichtigung auf der Ebene des nationalen Rechts verlangen. Die unionsrechtskonforme Auslegung lässt sich daher als Oberbegriff für in ihren Voraussetzungen und Rechtsfolgen durchaus unterschiedliche Formen der Berücksichtigung des Unionsrechts verstehen, die alle darauf abzielen, dem Unionsrecht in seiner Vielfalt der Rechtsquellen (dazu § 7) zur Beachtung zu verhelfen.

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Seit dem Urteil Pfeiffer wird das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung als dem EG-Vertrag „immanent“ beschrieben.21 Damit wird für die richtlinienkonforme Auslegung nicht die Legitimationsgrundlage ausgewechselt. Da sich die unionsrechtskon-

15 AnwaltKommBGB-Schulze, Art. 6 EGBGB Rn. 30. 16 MünchKommBGB-Sonnenberger, Art. 6 EGBGB Rn. 92. 17 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 114. So nachfolgend auch EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285 Rn. 32, 34, 38, 43, 47; EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 108; EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis 380/07 Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 Rn. 198; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling (noch nicht in Slg.) Rn. 61. 18 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 299 f. mwN; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 49. 19 Z.B. EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673. 20 Dies entspricht – entgegen der insoweit missverständlichen Tenorierung in EuGH v. 13.11. 1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 – der st. Rspr. des Gerichtshofs. 21 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 114; EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 109; EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact u.a., Slg. 2008, I-2483 Rn. 99; EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis 380/07 Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 Rn. 198.

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§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung

forme Auslegung nicht mit Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG begründen lässt, bedarf es für sie – mangels ausdrücklicher Regelung im Vertrag – in der Tat eines Bezuges auf Ziele und Zwecke des Vertrages im Allgemeinen. Diese Begründung entwertet aber nicht die Verankerung der richtlinienkonformen Auslegung in Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG.22 3.

Zeitpunkt 23

Für die Umsetzung der Richtlinienvorgaben gilt die in der jeweiligen Richtlinie vorgegebene Umsetzungsfrist. Dies bedeutet für die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung, dass diese erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist eingreift.24 Dies ist in der Rechtsprechung des EuGH (jedenfalls bisher) anerkannt.25 Damit ist eine Richtlinie im Stadium vor Ablauf der Umsetzungspflicht jedoch keineswegs völlig bedeutungslos.26 Zwar greift noch nicht die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung aus Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG, doch kommt für den Gesetzgeber die auf Art. 4 Abs. 3 EUV/10 EG beruhende Loyalitätspflicht27 der Mitgliedstaaten ins Spiel: Der Mitgliedstaat hat alle Maßnahmen zu unterlassen, die geeignet sind, das von den Richtlinien angestrebte Ziel ernsthaft in Frage zu stellen.28 Für die mitgliedstaatlichen Gerichte ist eine gleichlaufende Pflicht zwar anzunehmen,29 doch sind Judikate nur schwer vorstellbar, die eine solche Gefahr heraufbeschwören könnten.30 Im übrigen ist es allein eine Frage des nationalen Rechts, ob die Gerichte schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist die Vorgaben der Richtlinie bei der Auslegung ihres nationalen

22 Von Interesse ist allein, dass der Gerichtshof das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung mit dem Gedanken der vollen Wirksamkeit des Unionsrechts verknüpft und begründet und dabei die Verpflichtung der nationalen Gerichte betont, im Rahmen ihrer Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 114. S. auch schon EuGH v. 15.5.2003 – Rs. C-160/01 Mau, Slg. 2003, I-4791 Rn. 34. 23 Dazu vertieft Hofmann, in diesem Band, § 16. 24 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 115; EuGH v. 23.9.2008 – Rs. C-427/06 Birgit Bartsch, Slg. 2008, I-7245 Rn. 25; v. Danwitz, JZ 2007, 697, 700. 25 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial SA u.a., Slg. 2000, I-4941 Rn. 31; ebenso BGHZ 138, 55, 61. Davon abweichen will GA Tizzano, SchlA v. 30.6.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Tz. 115 ff. Dem ist EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 74 ff. in der Begründung und in der Sache nicht gefolgt. EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 115. 26 Dazu zuletzt eingehend Röthel, ZEuP 2009, 34; Gronen, Die „Vorwirkung“ von EG-Richtlinien (2006); sowie Hofmann, in diesem Band, § 16. 27 Dazu die Nachweise bei Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 296 Fn. 34. 28 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environment-Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 45; weitergehend Bühring/Lang, ZEuP 2005, 88, 95 ff. 29 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn.123. Im Einzelnen Hofmann, in diesem Band, § 16 Rn. 52 ff. 30 Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 102. Weitergehend Franzen, JZ 2007, 191, 192 wo als mögliches Beispiel BGHZ 138, 59–64 angeführt wird. Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 28 empfehlen eine Anküdigung im Urteil, dass das Gericht nach Ablauf der Umsetzungsfrist an der von der Richtlinie abweichenden Rechtsprechung nicht mehr festhalten werde. Wulf-Henning Roth

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Rechts berücksichtigen können.31 Dies gilt auch für den Fall, dass der Gesetzgeber die Richtlinie rechtzeitig umgesetzt hat und nun das Gericht das Umsetzungsrecht auszulegen hat. 4.

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Richtlinienkonforme Auslegung und unmittelbare Anwendbarkeit

Im Schrifttum wird die große Bedeutung der richtlinienkonformen Auslegung für diejenigen Fälle betont, in denen die Richtlinienvorschriften keine unmittelbare Wirkung zugunsten der Bürger entfalten können.32 Dies gilt zum einen in solchen Fällen, in denen die einzelne Richtlinienvorschrift nicht unbedingt33 oder nicht hinreichend genau gefasst ist.34 Hier kann und muss das Regelungsziel der Richtlinie(nbestimmung) ohne weiteres in die Auslegung des nationalen Rechts mit einfließen. Dem steht das Urteil Pfeiffer nicht entgegen, soweit dort die Eignung einer Richtlinienbestimmung vor der Reichweite der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung erörtert wird. Die Abfolge der Prüfung durch den EuGH ist durch das Vorlageersuchen veranlasst, in dem das Arbeitsgericht Lörrach danach fragt, ob Artikel 6 der Richtlinie 93/104 „inhaltlich unbedingt und hinreichend genau [ist], so dass sich einzelne Personen auf diese Bestimmungen gegenüber den nationalen Gerichten berufen können […]“. Der Gerichtshof stellt erneut klar, dass trotz der Unbedingtheit und hinreichenden Genauigkeit einer Richtlinienbestimmung eine Berufung auf sie im Verhältnis zwischen Privaten (horizontale Wirkung) ausgeschlossen ist.35 Die darauf folgenden Erörterungen zur richtlinienkonformen Auslegung nehmen auf die Kriterien der Unbedingtheit und hinreichenden Bestimmtheit keinen Bezug. Ein solcher Bezug wäre auch mit der bisherigen Rechtsprechung des EuGH nicht zu vereinbaren.36

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Dies gilt zum anderen auch, wenn es um Rechtsstreitigkeiten im Bürger-Bürger(Horizontal-)Verhältnis geht und von daher eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie ausscheiden muss.37 31 32 33 34

Dazu BGHZ 138, 55, 61. Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 75. EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-131/97 Carbonari, Slg. 1999, I-1103 Rn. 47–48. Vgl. EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 27; EuGH v. 12.7.1990 – Rs. C-188/89 Foster, Slg. 1990, I-3348 Rn. 18; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 103. BGHZ 138, 55, 61 sieht hingegen in der Eindeutigkeit der Richtlinienregelung eine Voraussetzung für eine richtlinienkonforme Auslegung. 35 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 109: „Daraus folgt, dass sogar eine klare, genaue und unbedingte Richtlinienbestimmung, mit der dem Einzelnen Rechte gewährt oder Verpflichtungen auferlegt werden sollen, im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen, nicht als solche Anwendung finden kann.“ 36 Vgl. etwa EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 18, 23, 27 (zu Sanktionen); EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 79/83 Harz, Slg. 1984, 1921 Rn. 18, 23, 27; EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-131/97 Carbonari, Slg. 1999, I-1103 Rn. 47–48. 37 Grundlegend EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 24; zuletzt EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, (noch nicht in Slg.) Rn. 59. Vertieft zur Funktion der richtlinienkonformen Auslegung als Einbruchstelle in das Dogma der fehlenden Horizontalwirkung: Mörsdorf, EuR 2009, 219, 222–232; Craig, E.L.Rev. 34 (2009) 349, 357–364.

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§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung

Dies berechtigt freilich nicht zu dem Gegenschluss, dass immer dann, wenn eine Berufung des Privaten auf die Richtlinie im Verhältnis zum Staat möglich ist (sog. Vertikalwirkung), also die Voraussetzungen einer „unmittelbaren Anwendbarkeit“ einer Richtlinienbestimmung gegeben sind, eine richtlinienkonforme Auslegung auszuscheiden hat. Im Gegenteil: Der nationale Richter hat immer zunächst dem Umsetzungsbefehl des Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG Folge zu leisten und – im Rahmen seiner Möglichkeiten – eine richtlinienkonforme Auslegung zu versuchen. Erst wenn ihm eine solche verwehrt ist, kann eine Richtlinienbestimmung unmittelbar angewendet werden.38 Diese Subsidiarität der unmittelbaren Anwendbarkeit (im Vertikalverhältnis) ist – auch wenn sie in der Praxis nicht immer praktiziert wird – eine notwendige Konsequenz des Instruments der Richtlinie: Primär muss es darum gehen, den Organen der Mitgliedstaaten die Aufgabe zu überlassen, die geeignete Einpassung der Zielsetzungen der Richtlinie in das nationale Recht zu erreichen. Dazu dient die richtlinienkonforme Auslegung. Erst wenn diese Einpassung durch die richtlinienkonforme Auslegung nicht gelingt, kann zum Instrument der unmittelbaren Anwendbarkeit gegriffen werden.39 5.

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Anwendungsbereich

Seit langem ist anerkannt, dass sich das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung nicht nur auf den Umsetzungsakt erstreckt, mit dem der Gesetzgeber die Vorgaben der Richtlinie erfüllen will, sondern auf das nationale Recht insgesamt und insoweit auch auf Regelungen, die zeitlich vor der Richtlinie erlassen worden sind.40 Diese Tragweite ist in dem Urteil Pfeiffer noch einmal nachdrücklich bestätigt worden, wenn es dort heißt:

38 In diesem Sinne auch zuletzt EuGH v. 25.7.2008 – Rs. C-237/07 Dieter Janacek, Slg. 2008, I-6221 Rn. 36. 39 Dieser Grundsatz ist auch und vor allem zu beachten, wenn es um Bestimmungen geht, die zu Lasten der Einzelnen gehen. Eine unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen zu Lasten der Einzelnen wird (im Verhältnis zum Staat) in st. Rspr. verneint: EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 Rn. 13; EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-60/02 X, Slg. 2004, I-651 Rn. 61 (beide Urteile betreffen die strafrechtliche Verantwortlichkeit). Eine Berufung auf eine Richtlinienbestimmung zugunsten eines Einzelnen scheidet auch aus, wenn dadurch eine Verpflichtung eines Dritten begründet wird, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Begünstigung steht; EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02 Delena Wells, Slg. 2004, I-723 Rn. 56–57. Eine richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts zu Lasten des Einzelnen ist grundsätzlich möglich, soweit dies das nationale Recht zulässt. Vgl. auch EuGH v. 3.5.2005 – verb. Rs. C-387/02, C-391/02 und C-403/02 Berlusconi u.a., Slg. 2005, I-3565 Rn. 74 (mit dem Hinweis, dass eine Richtlinie „für sich allein und unabhängig von zu ihrer Durchführung erlassenen innerstaatlichen Vorschriften“ nicht zu Lasten des Einzelnen sich auswirken dürfe). 40 EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 8; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 26; EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial SA u.a., Slg. 2000, I-4941 Rn. 30; EuGH v. 17.2.2009 – Rs. C-465/07 Meki Elgafeji, Slg. 2009, I-921 Rn. 42. Vertiefend Domröse, JbJZ 2009, S. 109–125.

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2. Teil: Allgemeiner Teil Der „vom Gemeinschaftsrecht aufgestellte Grundsatz der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts betrifft zwar in erster Linie die zur Umsetzung der fraglichen Richtlinie erlassenen innerstaatlichen Bestimmungen, beschränkt sich jedoch nicht auf die Auslegung dieser Bestimmungen, sondern verlangt, dass das nationale Gericht das gesamte nationale Recht berücksichtigt, um zu beurteilen, inwieweit es so angewendet werden kann, dass es nicht zu einem der Richtlinie widersprechenden Ergebnis führt“.41

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Letztlich kommt hierin die alle Träger der öffentlichen Gewalt der Mitgliedstaaten – und damit auch die Gerichte – treffende Verpflichtung aus Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG zum Ausdruck, für eine Durchsetzung der von der Richtlinie verfolgten Ziele zu sorgen.42 6.

„Auslegung“ und Rechtsfindung

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Wenn und soweit der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung die Verpflichtung der Gerichte anspricht, das nationale Recht im Lichte der Richtlinienziele „auszulegen“, sind diese Aussagen nicht auf das in der deutschen Methodenlehre verbreitete Verständnis von Gesetzesauslegung im Sinne einer Sinnermittlung aufgrund der klassischen Auslegungsmethoden beschränkt, sondern beziehen sich – der französischen Tradition folgend43 – auch auf die Methoden zulässiger Rechtsfortbildung.44

18

Es ist zwar einzuräumen, dass der Gerichtshof in manchen seiner Formulierungen seine eigene Rolle als auf die Auslegung im herkömmlichen Sinne beschränkt ansieht: So heißt es im Bidar-Urteil, „dass sich die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts durch den Gerichtshof darauf beschränkt, zu erläutern und zu verdeutlichen, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite (eine) Vorschrift (nunmehr des Unionsrechts) seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre“.45

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Generalanwalt Jacobs bestätigt diese Einschätzung, wenn er formuliert: „Der Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass seine Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts die Bedeutung und Tragweite der betreffenden

41 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 115. 42 S. z.B. EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 26. 43 Zur französischen Tradition vgl. die differenzierten Ausführungen von Babusiaux, Die richtlinienkonforme Auslegung im deutschen und französischen Zivilrecht, S. 29 ff. S. auch Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 5. 44 Dies verkennt Rüffler, ÖJZ 1997, 121, 126; zutreffend dagegen Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 291; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 38; Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 81 ff.; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 4 ff.; zuletzt BGHZ 179, 27, 36 Rn. 21. Die Kompetenz des EuGH zur Rechtsfortbildung wird auch vom Bundesverfassungsreicht anerkannt; vgl. etwa BVerfGE 75, 223, 243. Ausführlich zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 24 ff. 45 EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 66; vgl. zur Anwendung der „klassischen“ Auslegungsmethoden (Wortlaut; Entstehung; Systematik; Zweck) exemplarisch die SchlA des GA Léger v. 13.11.2003 – Rs. C-371/02 Björnekulla Fruktindustrier AB, Slg. 2004, I-5791 Tz. 29 ff., 44 ff., 79 ff.

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§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung Vorschrift erläutert und definiert, so wie diese von ihrem Inkrafttreten an hätte verstanden und angewandt werden sollen.“ 46

Auch Generalanwalt Léger scheint die Auslegung des Unionsrechts in tradierten klassischen Bahnen und Schranken zu sehen, wenn er davon ausgeht, dass der Wortlaut einer Bestimmung die unüberschreitbare Schranke der Auslegung darstellt, die weder durch eine Berufung auf den Zweck der (Richtlinien-)Bestimmung noch auf den effet utile überwunden werden kann: 47

20

Bei einem klaren Wortlaut bestehe „die einzige mögliche Lösung somit darin, sich an die durch den Wortlaut der Vorschrift vorgegebene Auslegung zu halten und den Zweck zu vernachlässigen, den die Richtlinie, zu der die Vorschrift gehört, verfolgt. Es wäre mit dem Erfordernis der Rechtssicherheit nämlich nicht vereinbar, auf die teleologische Auslegung oder den Begriff der ,praktischen Wirksamkeit‘ zurückzugreifen, um einer Gemeinschaftsrechtsvorschrift aufgrund dessen, dass ihr Wortlaut nicht zur Erreichung des Zieles beiträgt, das mit der Richtlinie, zu der sie gehört, verfolgt wird, einen Sinn zu verleihen, den sie offensichtlich nicht haben kann.“ 48

Generalanwalt Jacobs beruft sich auf den Grundsatz der Rechtssicherheit als einem fundamentalen Prinzip der Unionsrechtsordnung, der es erfordere, dass die unionsrechtlichen Vorschriften klar und ihre Anwendung für alle Betroffenen vorhersehbar sein sollten.49

21

Man geht aber kaum fehl in der Annahme, dass solche Aussagen typischerweise in einem Zusammenhang getroffen worden sind, in dem eine rechtsfortbildende Entwicklung des Unionsrechts nicht in Rede stand. Dagegen fehlt es an solchen Aussagen in Urteilen (und Schlussanträgen), in denen eine Fortbildung des Unionsrechts angestoßen werden sollte – einen Vorgang, den wir besonders häufig im Rahmen des primären Unionsrechts beobachten können.

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Als Beispiel dafür mögen die Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs zu den Auswirkungen der Unionsbürgerschaft (Art. 20, 21 Abs. 1 AEUV/17, 18 Abs. 1 EG) auf das internationale Namensrecht dienen: In der Rechtssache Niebüll 50 folgert Generalanwalt Jacobs aus den Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft, dass die nationalen Regelungen des Namensrechts auch ohne Vorliegen jeglicher Diskriminierung in einer Weise ausgestaltet sein müssen, dass der Unionsbürger bei wechselndem Aufenthalt in den verschiedenen Mitgliedstaaten in seiner Identitätsausstattung mit dem einmal erworbenen Namen geschützt wird. In – ungenannter – Parallele zum Sitzwechsel der Gesellschaften soll die im Geburtsstaat des Kindes (rechtmäßig) erfolgende Namensgebung in den anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen sein – eine Konsequenz, die das internationale Namensrecht einiger Mitgliedstaaten aus den Angeln hebt und im Widerspruch zu

46 GA Jacobs, SchlA v. 17.3.2005 – Rs. C-475/03 Banca Populare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Tz. 74. 47 GA Léger, SchlA v. 28.9.2004 – Rs. C-350/03 Elisabeth Schulte, Slg. 2005, I-9215 Tz. 81 ff. 48 GA Léger, SchlA v. 28.9.2004 – Rs. C-350/03 Elisabeth Schulte, Slg. 2005, I-9215 Tz. 94. 49 GA Jacobs, SchlA v. 17.3.2005 – Rs. C-475/03 Banca Populare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Tz. 93. 50 GA Jacobs, SchlA v. 30.6.2005 – Rs. C-96/04 Standesamt Stadt Niebüll, Slg. 2006, I-3561 Tz. 54–56. Dass es sich hier um eine unzulässige Vorlage handelt, EuGH v. 27.4.2006 – Rs. C-96/04 Standesamt Stadt Niebüll, Slg. 2006, I-3561, Rn. 20, steht auf einem anderen Blatt. Wulf-Henning Roth

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2. Teil: Allgemeiner Teil bestehenden völkerrechtlichen Abkommen steht. Man wird kaum umhinkommen, die Erstreckung der Art. 20 und 21 Abs. 1 AEUV/17 und Art. 18 Abs. 1 EG auf das internationale Namensrecht mit diesen Folgen als einen Vorschlag zur Rechtsfortbildung zu qualifizieren. In der Sache Leffler geht es um Art. 8 Abs. 1 VO Nr. 1348/2000 51, wonach bei einer grenzüberschreitenden Zustellung der Empfänger ein Annahmeverweigerungsrecht hat, wenn das Schriftstück nicht in der Amtssprache des Empfängerstaates oder einer dem Empfänger verständlichen Sprache abgefasst ist. Die Regelung trifft keine Bestimmung über die Rechtsfolgen. Obwohl die Sprachenregelung zwischen den Mitgliedstaaten streitig gewesen ist und in dem Verfahren unbestritten vorgetragen wurde, dass eine Rechtsfolgenregelung bewusst nicht getroffen worden ist, argumentiert Generalanwältin StixHackl, dass diese ungeregelte Frage nicht etwa – wie bisher – dem nationalen Recht überlassen bleiben, sondern, weil eine einheitliche Regelung wünschenswert sei, durch eine unionsautonome „Auslegung“ gelöst werden soll:52 Rechtsfortbildung als „Auslegung“.

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Es liegt von daher nicht fern anzunehmen, dass die oben zitierten Stellungnahmen auch dazu dienen (sollen), die legitime, sich im Rahmen der Unionskompetenzen bewegende rechtsfortbildende Funktion der Rechtsprechung des Gerichtshofs53 eher zu verschleiern, um einem denkbaren Konflikt mit den Mitgliedstaaten über die legitime Rolle des Gerichtshofs im System der Institutionen der Union aus dem Wege zu gehen.54

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Wie auch immer diese Rolle des Gerichtshofs bei der Anwendung und Fortbildung des Unionsrechts einzuschätzen ist, so sollte doch eines klar sein: Für das Gebot der richtlinienkonformen „Auslegung“ gilt, dass dieses Gebot nicht auf ein „Auslegungs“Verständnis verweist, wie es von den Unionsgerichten im Umgang mit dem Unionsrecht praktiziert wird. Vielmehr geht es um eine von Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG gesteuerte Aufgabe für die nationalen Gerichte, nämlich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Instrumenten das nationale Recht in Übereinstimmung mit den europäischen Vorgaben zu bringen. Im Schrifttum wird deshalb zu Recht vorgeschlagen, statt von einem Gebot richtlinienkonformer Auslegung von einem Gebot richtlinienkonformer Rechtsfindung zu sprechen.55 7.

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Methodische Vorgaben für die nationalen Gerichte

Der Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung auf der Grundlage des Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG und im Hinblick auf den Grundsatz der Wirksamkeit des

51 Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates v. 29.5.2000 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- und Handelssachen in den Mitgliedstaaten, ABl. 2000 L 160/37. 52 GA Stix-Hackl, SchlA v. 28.6.2005 – Rs. C-443/03 Götz Leffler, Slg. 2005, I-9611 Tz. 62 ff. 53 Zur Befugnis des EuGH zur Rechtsfortbildung s. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 341 ff.; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 17 f., sowie Neuner, in diesem Band, § 13. 54 Grundsätzliche Kritik an der Praxis des Gerichtshofs finden sich in den Beiträgen in G.H. Roth /Hippold (Hrsg.), Der EuGH und die Souveranität der Mitgleistaaten (2008); s. auch Gerken/Rieble/G.H. Roth/Stein/Streinz, „Mangold“ als ausbrechender Rechtsakt (2009). S. zuletzt auch Wieland, NJW 2009, 1841. 55 Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 50.

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§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung

Unionsrechts56 eine Reihe von Vorgaben methodologischer Art entwickelt, an die sich der nationale Richter bei der Auslegung und Anwendung seines nationalen Rechts zu halten hat. a)

„So weit wie möglich“

Seit dem Urteil von Colson wird der nationale Richter dazu angehalten, die richtlinienkonforme Auslegung bzw. Rechtsfindung „unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums“, den das nationale Recht einräumt,57 zu praktizieren. Damit wird zunächst auf das nationale Recht mit den darin entwickelten und anerkannten Auslegungsmethoden verwiesen. Freilich bleibt es nicht bei dieser Verweisung auf das nationale Recht. Seit dem Urteil Marleasing58 wird die Zielrichtung für die volle Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums dahingehend umschrieben, dass es darum gehen müsse, die Auslegung des nationalen Rechts „soweit wie möglich“ am Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten.59 Die richtlinienkonforme Auslegung gewinnt hier die Bedeutung einer interpretatorischen Vorrangregel60, wonach einer im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethode gegenüber einer anderen der Vorrang einzuräumen ist, wenn und soweit dies dem Ziel der Richtlinie dient.61 b)

26

Umsetzungsgesetzgebung

Im Urteil Wagner Miret 62 – und erneut in der Rechtssache Pfeiffer 63 – formulierte der Gerichtshof eine unionsrechtliche Vorgabe speziell für die Auslegung solcher innerstaatlicher Vorschriften, die zur Umsetzung der Richtlinie erlassen wurden und dem Einzelnen Rechte verleihen sollen. In einer solchen Konstellation habe, so der Gerichtshof,

56 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 114. 57 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 28. 58 EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 8. An das Urteil Marleasing knüpft sich eine intensive Diskussion der Frage, ob die richtlinienkonforme Auslegung auch zu einer Auslegung contra legem zwingen könne; s. etwa Prechal, Directives in European Community Law, S. 227 f. 59 So die st. Rspr.; z.B. EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial SA u.a., Slg. 2000, I-494 Rn. 30; EuGH v. 15.5.2003 – Rs. C-160/01 Mau, Slg. 2003, I-4791 Rn. 36; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling (noch nicht in Slg.) Rn. 60. 60 So die (gegenüber der „Vorzugsregel“; so Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 616) vorzugswürdige Terminologie bei Canaris, FS R. Schmidt (2006), S. 41, 49. 61 Gebauer, AnwBl 2007, 314, 317. In diesem Sinn wird man die im Folgenden in Rn. 28 diskutierte Aussage in EuGH v. 29.4.2004 – Rs. C-371/02 Björnekulla Fruktindustrier AB, Slg. 2004, I-5791 Rn. 13, deuten müssen, wonach das nationale Gericht im Hinblick auf das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung entgegenstehende Auslegungshinweise, die sich aus den vorbereitenden Arbeiten zu der nationalen Regelung ergeben, zu ignorieren habe. 62 EuGH v. 16.12.1993 – Rs. C-334/92 Wagner Miret, Slg. 1993, I-6911 Rn. 20. 63 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil „[d]as Gericht […] in Anbetracht des Artikels 249 Absatz 3 EG davon auszugehen, dass der Staat, wenn er von dem ihm durch die (Richtlinien-)Bestimmung eingeräumten Gestaltungsspielraum Gebrauch gemacht hat, die Absicht hatte, den sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen in vollem Umfang nachzukommen“.64

28

Die potentielle Tragweite dieser Aussage wird deutlich, wenn man sie mit einer eher beiläufigen Stellungnahme zum Verhältnis richtlinienkonformer und historischer Auslegung im Urteil Björnekulla Fruktindustrier AB in Zusammenhang bringt, wo es an der einschlägigen Stelle heißt: Eine richtlinienkonforme Auslegung sei vorzunehmen „und zwar ungeachtet entgegenstehender Auslegungshinweise, die sich aus den vorbereitenden Arbeiten zu der nationalen Regelung ergeben könnten“.65 Nimmt man den EuGH hier beim Wort, würde damit die für das nationale Recht diskutierte Frage, ob und inwieweit auf den konkreten Willen des Gesetzgebers, die Richtlinie umzusetzen, zurückzugreifen ist (dazu Rn. 53 ff.),66 durch das Unionsrecht überlagert bzw. eingefärbt: Der Wille des Gesetzgebers, die Richtlinie umzusetzen, wäre für das nationale Gericht nicht nur als Auslegungstopos relevant. Vielmehr müsste der nationale Richter bei der Auslegung des Umsetzungsrechts immer davon ausgehen, dass der Gesetzgeber den sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen „in vollem Umfang“ nachkommen wollte. Damit würde eine wichtige Vorgabe für die Auslegung (bzw. Fortbildung) des Umsetzungsrechts festgeschrieben: Die konkrete Zwecksetzung des Gesetzgebers hätte hinter seinem (bloß) zu vermutenden Willen, richtlinienkonform umzusetzen, zurückzutreten – dies zumindest immer dann, solange nicht konkrete Hinweise dafür vorlägen, dass der Gesetzgeber bewusst eine richtlinienwidrige Lösung verfolgt hat.

29

Ob der EuGH einen solchen Ansatz (weiterhin) tatsächlich verfolgen will, erscheint schon deshalb zweifelhaft, weil in der Folgerechtsprechung auf die „Vermutungsregel“ nicht mehr Bezug genommen worden ist. Vielmehr betont der EuGH seit dem Urteil Adeneler, dass „[d]ie Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, den Inhalt einer Richtlinie heranzuziehen, ... nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen [dürfe].“67,67a Diese Urteilspassage ließe sich dahingehend verstehen, dass der EuGH den nationalen Richter auf die im jeweiligen Mitgliedstaat geltenden methodischen Grenzen der Rechtsfindung festlegen will.68 Eine durch den EuGH selbst definierte, unionsrechtliche Auslegungsregel, welche den konkret feststellbaren Normssetzungswillen des nationalen

64 65 66 67

EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 112. EuGH v. 29.4.2004 – Rs. C-371/02 Björnekulla Fruktindustrier AB, Slg. 2004, I-5791 Rn. 13. Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 77. EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 110; EuGH v. 15.4. 2008 – Rs. C-268/06 Impact, Slg. 2008, I-2483 Rn. 100; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, (noch nicht in Slg.) Rn. 61; vgl. auch schon EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285 Rn. 47 (zu einem Rahmenbeschluss). 67a Ähnlich Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, S. 99. 68 So BGHZ 179, 27, 36 Rn. 21 – Quelle; Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 123, 127; Grosche/ Höft, NJOZ 2009, 2294, 2301.

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§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung Gesetzgebers hinter einen lediglich zu vermutenden Umsetzungswillen zurücktreten ließe, wäre hiermit aber kaum zu vereinbaren.69 Andererseits findet sich im Urteil Adeneler und in der Folgerechtsprechung70 kein Hinweis darauf, ob der Begriff des contra-legem-Judizierens sich auf die nationalen Auslegungsmethoden bezieht, oder ob der Begriff nicht vielmehr unionsautonom zu definieren ist. In letzterem Falle bliebe der Aussagegehalt des Urteils Adeneler gegenüber dem unter demselben Berichterstatter ergangenen Urteil Pfeiffer im Verborgenen.71 Dass das Unionsrecht eine contra legem Auslegung durch das nationale Recht jedoch nicht verhindern will, deutet die englische Version des Urteils an, wenn es darin heißt, dass die unionsrechtskonforme Auslegung „… cannot serve as the basis for an interpretation of national law contra legem“.72 Damit korrespondiert der Verweis auf die „allgemeinen Rechtsgrundsätze“, und hier insbesondere den Grundsatz der Rechtssicherheit, die der Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung ihrerseits Schranken ziehen sollen.73 Das bedeutet im Ergebnis: Das Unionsrecht zwingt den nationalen Richter nicht zu einer contra legem-Auslegung („… no obligation to interpret … contra legem“74), sondern überlässt die Zulässigkeit einer solchen ganz dem nationalen Recht.75

Im Übrigen ist dem EuGH dringend zu raten, sich von der „Vermutungsregel“ (explizit) zu verabschieden. Denn es erscheint völlig ungewiss, auf welche unionsrechtliche Grundlage eine solche „Vermutungsregel“ gestützt werden könnte. Gewiss ist der EuGH im Rahmen seiner Auslegungskompetenz befugt, die Reichweite und Wirkungsweise sekundärrechtlicher Maßnahmen im Rahmen des Art. 288 Abs. 3 AEUV/ Art. 249 Abs. 3 EG zu bestimmen. Die „Vermutungsregel“ der vorbezeichneten Art trifft dazu aber keine Aussage, sondern ist vielmehr eine Aussage zum nationalen Umsetzungsakt, genauer: dem vom nationalen Gesetzgeber verfolgten Umsetzungszweck. Dieser Problemkreis hat aber mit der in Rn. 27 angesprochenen Frage eines interpretatorischen Vorrangs von Richtlinien76 gegenüber dem nationalen Recht nichts zu tun. c)

Methodische Gleichbehandlung

Der für die Behandlung des Unionsrechts in der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelte Äquivalenzgrundsatz (Grundsatz der Gleichwertigkeit)77 steuert den Aus-

69 70 71 72 73 74 75

76 77

29a

Zurückhaltend insoweit BGHZ 179, 27, 36 Rn. 25 – Quelle. EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, (noch nicht in Slg.) Rn. 61. Mörsdorf, EuR 2009, 219, 229; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 912. Kursiv von mir. In der französischen Fassung heißt es gleichsinnig „(…) l’interprétation conforme ne peut servir de fondement (…)“. So ausdrücklich EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, (noch nicht in Slg.) Rn. 61. EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis 380/07 Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 Rn. 199. Abweichend hiervon etwa Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2300 f.; wohl auch BAG, DB 2010, 850, 852 (ohne Berücksichtigung der englischen Sprachfassungen); wie hier Gänswein, Der Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts, S. 65. Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 168, spricht insoweit von einem „Beachtungsvorrang“. Aus der Rspr. z.B. EuGH v. 14.12.1995 – verb. Rs. C-430/93 und C-431/93 van Schijndel u.a., Slg. 1995, I-4705 Rn. 13; EuGH v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 Draempaehl, Slg. 1997, I-2195

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2. Teil: Allgemeiner Teil

legungs- bzw. Rechtsfindungsvorgang durch das nationale Gericht: Der nationale Richter hat, um richtlinienkonforme Ergebnisse zu erreichen, sich desselben methodischen Instrumentariums zu bedienen, das ihm bei der Entscheidung von Fällen im Rahmen des autonomen nationalen Rechts zur Verfügung steht.78 Das bedeutet: Wenn und soweit dem Richter die teleologische Extension oder Reduktion und die Analogie im Umgang mit autonomem nationalen Recht zur Hand sind, muss er diese Instrumente auch zum Zwecke richtlinienkonformer Auslegung des nationalen Rechts einsetzen, um dem Vorwurf einer Diskriminierung des Unionsrechts zu entgehen.

31

Im Urteil Pfeiffer geht der Gerichtshof sogar noch einen Schritt weiter. Dort heißt es – soweit ersichtlich zum ersten Mal –, dass das nationale Gericht, soweit unüberbrückbare Divergenzen zwischen den Richtlinienvorgaben und dem nationalen Recht existieren, solche Kollisionen zwischen Unionsrecht und nationalem Recht in entsprechender Weise aufzulösen hat wie Normenkollisionen im Rahmen des nationalen Rechts.79 Bemerkenswert ist hieran vor allem, dass damit der richtlinienkonformen Auslegung ein erweitertes Anwendungsfeld erschlossen wird: Diese Vorgabe macht eine Besinnung auf die im nationalen Recht verankerten Methoden der Vermeidung von Normenkollisionen durch restriktive Auslegung der miteinander kollidierenden Normen oder gar Nichtanwendung einer Norm erforderlich. Erneut geht es hier nicht um den Vorrang des Unionsrechts, sondern um seine bloße Gleichbehandlung (im Sinne einer Gleichwertigkeit/Äquivalenz) mit dem nationalen Recht.80 Dabei werden Richtlinienrecht und nationales Recht auf eine Stufe gestellt und bei Widersprüchen auf die nationalen Regeln über die Auflösung von Normenkollisionen verwiesen.

32

In der Rechtssache Pupino formuliert der Gerichtshof – unter entsprechender Wiederholung der Aussage in Pfeiffer, wonach das nationale Gericht gegebenenfalls das gesamte nationale Recht berücksichtigen muss, um zu beurteilen, inwieweit es so angewendet werden kann, dass es nicht zu einem der Richtlinie widersprechenden Ergebnis führt 81 – im Hinblick auf einen Rahmenbeschluss nach Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b) EU anscheinend zurückhaltender: Es heißt hier, dass

78 79

80

81

Rn. 28–30; EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-60/02 X, Slg. 2004, I-651 Rn. 67; EuGH v. 3.5.2005 – verb. Rs. C-387/02, C-391/02 und C-403/02 Berlusconi u.a., Slg. 2005, I-3565 Rn. 65 (Gleichbehandlung bei Sanktionen); EuGH v. 13.3.2007 – Rs. C-432/05 Unibet (London) Ltd., Slg. 2007, I-2271 Rn. 82; zuletzt EuGH v. 6.10.2009 – Rs. C-40/08 Asturcom Telecomunicaciones, (noch nicht in Slg.) Rn. 49 f. EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact u.a., Slg. 2008, I-2483 Rn. 101. Vgl. Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 123, 124. EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 116. Gleichsinnig für eine durch das nationale Recht anerkannte contra legem Auslegung: Timmermans, YEL 17 (1997), 1, 23. A.A. Mörsdorf, EuR 2009, 219, 224, wonach es für die Anwendung des Gleichbehandlungsgebots in der vorliegenden Konstellation an der Vergleichbarkeit der Sachverhalte fehlt. Wer stärker den Grundsatz der Gleichwertigkeit (Äquivalenz) im Blick hat, kann zu einem gegenteiligen Ergebnis kommen. EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 115.

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§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung „die Verpflichtung des nationalen Gerichts, bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften seines nationalen Rechts den Inhalt des Rahmenbeschlusses heranzuziehen, endet, wenn diese(r) nicht so angewandt werden kann (können), dass ein Ergebnis erzielt wird, das mit dem durch den Rahmenbeschluß angestrebten Ergebnis vereinbar ist“.82

Von der Behandlung eines Konflikts zwischen Unionsrecht und nationalen Recht nach Art der Lösung von Normenkollisionen im innerstaatlichen Recht ist hier nicht die Rede. In der Rechtssache Mono Car Styling wird allerdings wieder auf das Pfeiffer-Urteil verwiesen:

33

„Ermöglicht es das nationale Recht durch die Anwendung seiner Auslegungsmethoden, eine innerstaatliche Bestimmung unter bestimmten Umständen so auszulegen, dass eine Kollision mit einer anderen Norm innerstaatlichen Rechts vermieden wird, oder die Reichweite dieser Bestimmung zu diesem Zweck einzuschränken und sie nur insoweit anzuwenden, als sie mit dieser Norm vereinbar ist, so ist das nationale Gericht verpflichtet, die gleichen Methoden anzuwenden, um das in der fraglichen Richtlinie festgelegte Ergebnis zu erreichen (vgl. Urteil Pfeiffer u.a., Randnr. 116).“83

Damit werden die in Rn. 31 skizzierten Aussagen bestätigt. 8.

Schranken einer richtlinienkonformen Auslegung

a)

Allgemeine Rechtsgrundsätze

Das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung setzt für den nationalen Richter voraus, dass er sich des Inhalts und der Tragweite der Richtlinienvorgaben vergewissert, also die Richtlinie nach den für das Unionsrecht geltenden Auslegungsgrundsätzen interpretiert (dazu § 11). Bei der Umsetzung einer Richtlinie durch den nationalen Gesetzgeber wie auch bei der richtlinienkonformen Interpretation sind zur Ermittlung der Vorgaben und der Tragweite der Richtlinie die im Unionsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze (Rückwirkungsverbot, Rechtssicherheit sowie die Unionsgrundrechte) mit heranzuziehen,84 in deren Rahmen sich sekundäres Unionsrecht bewegen und in deren Licht es interpretiert werden muss (dazu § 9). b)

34

Richtlinienkonforme Auslegung auch zu Lasten des Einzelnen?

Während der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen im Verhältnis des Einzelnen zum Staat eine Grenze dann gezogen ist, wenn die Anwendung zu Lasten des Einzelnen geht,85 besteht eine solche Schranke für die richtlinienkon-

82 EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285 Rn. 47. Die deutsche Übersetzung ist nicht geglückt. 83 EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, (noch nicht in Slg.) Rn. 63. 84 Zuletzt EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, (noch nicht in Slg.) Rn. 61. 85 S. Nachweise in Fn. 39 sowie EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, Slg. 1986, 723 Rn. 48; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 20 u.ö. Wulf-Henning Roth

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35

2. Teil: Allgemeiner Teil

forme Auslegung nur im Bereich strafrechtlicher Regelungen.86 Für den Bereich des Privatrechts gibt es solche Schranken nicht: Die richtlinienkonforme Auslegung einer zivilrechtlichen Bestimmung geht immer auch zu Lasten einer am konkreten Verfahren beteiligten Partei. Darauf basiert – wie selbstverständlich – die bisherige Judikatur des Gerichtshofs.87 Insoweit geht auch der Anwendungsbereich der richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts in privatrechtlichen Beziehungen, an denen der Staat oder öffentliche Unternehmen beteiligt sind, über die Konstellationen, in denen Richtlinienbestimmungen unmittelbare Anwendbarkeit zukommt (nämlich nur zugunsten des Einzelnen), hinaus. c)

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Schranken des nationalen (Verfassungs-)Rechts

In ständiger Rechtsprechung anerkennt der Gerichtshof aus dem Recht der Mitgliedstaaten erwachsende Begrenzungen bzw. Schranken für eine richtlinienkonforme Auslegung bzw. Rechtsfindung, wenn er formuliert, Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG geböte den mitgliedstaatlichen Gerichten, die Auslegung (nur) „so weit wie möglich“ am Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten.88 Mit dieser so gefassten Einschränkung korrespondiert die Formulierung, das nationale Gericht hätte „im Rahmen seiner Zuständigkeit“89 die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten. Damit wird auf eine aus dem innerstaatlichen Recht resultierende Schranke verwiesen, die aus der – evtl. vom nationalen Verfassungsrecht geprägten – Rollenverteilung zwischen Gesetzgeber und Judikative erwachsen oder in der tradierten nationalen Methodenlehre, die die Grenzen der Auslegung und/oder Rechtsfortbildung markiert, verankert sein kann. Darauf ist im folgenden einzugehen. Auf diese aus dem nationalem Recht erwachsende Schranke für die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung wird seit dem Urteil Adeneler ausdrücklich Bezug genommen, wenn der Gerichtshof betont, dass diese Pflicht nicht als Basis (Begründung) für eine – nach nationalem Recht unzulässige – Auslegung des nationalen Rechts contra legem dienen könne (zum Urteil Adeneler bereits oben Rn. 29).

86 S. etwa EuGH v. 26.9.1996 – Rs. C-168/95 Arcaro, Slg. 1996, I-4705 Rn. 37; EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-60/02 X, Slg. 2004, I-651 Rn. 61; EuGH v. 3.5.2005 – verb. Rs. C-387/02, C-391/02 und C-403/02 Berlusconi u.a., Slg. 2005, I-3565 Rn. 74; s.a. EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285 Rn. 45. 87 Zuletzt EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, (noch nicht in Slg.). 88 EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 8; EuGH v. 5.5.1994 – C-421/92 Habermann-Beltermann, Slg. 1994, I-1657 Rn. 10; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113; EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 108; EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact, Slg. 2008, I-2483 Rn. 98; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, (noch nicht in Slg.) Rn. 60. 89 Zuletzt EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 Rn. 198.

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Wulf-Henning Roth

§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung

II.

Die Umsetzung im nationalen (deutschen) Recht

1.

Pflicht zur richtlinienkonforme Auslegung kraft nationalen Rechts

a)

Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG

Die Verpflichtung zu einer Umsetzung der Richtlinienvorgaben und einer richtlinienkonformen Auslegung ergibt sich nicht nur aus dem Unionsrecht, sondern auch aus dem deutschen Verfassungsrecht.90 Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG begründet eine solche Pflicht, soweit sie mit dem deutschen Verfassungsrecht im Übrigen vereinbar ist. Gem. Art. 20 Abs. 3 GG ist der Richter an „Gesetz und Recht“ gebunden; 91 der Bezug auf „Gesetz und Recht“ bindet ihn nicht nur an die geltenden methodischen Standards92 bei der Auslegung93 und Fortbildung des deutschen (Gesetzes-) Rechts,94 sondern nimmt das Unionsrecht mit in die Bindung auf. Dabei sind die deutschen Gerichte über Art. 23 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG nicht nur an das unmittelbar anwendbare (primäre und sekundäre) Unionsrecht gebunden, sondern ebenfalls an das Richtlinienrecht: Der Umstand, dass im Zivilverfahren die Parteien ihren Anspruch mangels unmittelbarer Anwendbarkeit nicht (allein) auf eine Richtlinienbestimmung stützen können, steht der Bindung der Gerichte nicht entgegen. Aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Gebotes der richtlinienkonformen Auslegung95 zählen die Richtlinien zu den von den deutschen Gerichten zu beachtenden „Gesetzen“ im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG.96

90 Jarass/Pieroth-Jarass, Grundgesetz (10. Aufl. 2009), Art. 23 GG Rn. 41; s. auch etwa Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 303 ff. 91 Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 83 f., zur Begründung der Annahme einer Gesetzeslücke bei unvollkommener Richtlinienumsetzung. 92 BVerfG, NJW 2004, 3407, 3411. 93 Zur Auslegung zivilrechtlicher Normen durch das Bundesverfassungsgericht BVerfG, NJW 2005, 1561, 1566. 94 Einen Überblick über die Rechtsprechung des BVerfG bietet Bleckmann, JuS 2002, 942 ff. 95 Das BVerfG hat eine Bindung der deutschen Gerichte an die EMRK unter Hinweis auf Art. 20 Abs. 3 GG begründet; BVerfG, NJW 2004, 3407, 3410. Die EMRK ist durch ein Transformationsgesetz in deutsches Recht überführt; insoweit beziehen sich die Aussagen auf eine mittelbare Bindungswirkung an die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Richtlinien bedürfen, um eine Geltung und damit Bindung für die deutschen Gerichte zu entfalten, keiner Umsetzung in deutsches Gesetzesrecht. 96 A.A. Babusiaux, Die richtlinienkonforme Auslegung im deutschen und französischen Zivilrecht, S. 43, dort insbes. Fn. 185; wohl auch Jarass/Pieroth-Jarass, Grundgesetz (10. Aufl. 2009), Art. 20 GG Rn. 38 (nur Bindung an unmittelbar anwendbares Richtlinienrecht); Sachs-Sachs, Grundgesetz (5. Aufl. 2009), Art. 20 GG Rn. 65. Die hier vertretene Sicht auf Art. 20 Abs. 3 GG geht Hand in Hand mit der Judikatur des BVerfG, wonach ein Entzug des „gesetzlichen Richters“ gem. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG gegeben sein kann, wenn ein deutsches letztinstanzliches Gericht seiner Vorlageverpflichtung aus Art. 267 Abs. 3 AEUV/234 Abs. 3 EG nicht nachkommt; vgl. BVerfG, EuZW 2001, 255. Für die Auslegung von Richtlinien setzt dies eine Bindung des deutschen Gerichts an die Richtlinie als „Gesetz“ voraus. Wulf-Henning Roth

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2. Teil: Allgemeiner Teil

b)

38

Eine weitere Grundlage für eine Pflicht der Gerichte zur richtlinienkonformen Auslegung kann man im Willen des Gesetzgebers sehen,97 wenn er zur Erfüllung seiner Umsetzungspflicht tätig geworden ist. Diese auf den Willen des Gesetzgebers gestützte richtlinienkonforme Auslegung kraft nationalen Rechts unterscheidet sich in ihrer Tragweite von der aus dem Unionsrecht abgeleiteten Pflicht vor allem in zwei Richtungen: (1) Sie geht einerseits über das unionsrechtliche Gebot der richtlinienkonforme Auslegung hinaus, weil sie nicht erst mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie eingreift, sondern schon mit dem Erlass des Umsetzungsgesetzes vor Ablauf der Umsetzungsfrist.98 (2) Sie bleibt andererseits hinter der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung kraft Unionsrechts sowie der auf Art. 20 Abs. 3, 23 Abs. 1 GG gestützten Pflicht insoweit zurück, als sie nicht die vor Erlass der entsprechenden Richtlinie erlassenen nationalen Rechtsnormen erfassen kann.99 Im Übrigen lässt sich auf der Grundlage nationalen Rechts eine unvollkommene, insbesondere unvollständige (und erst recht eine noch gar nicht erfolgte) Umsetzungsgesetzgebung nur schwer unter Berufung auf den Willen des Gesetzgebers korrigieren.100 2.

39

Wille des deutschen Gesetzgebers

Berücksichtigung im Rahmen der klassischen Auslegungsmethoden

Das Institut der richtlinienkonformen Auslegung ist – zumindest auch – bereits in die klassischen Auslegungscanones des deutschen Rechts101 integriert.102 Dies ist kurz zu erläutern. Im Rahmen der historischen Auslegung sind – jedenfalls bei zeitlich noch nicht weit zurückliegenden Regelungen – die Regelungsabsichten des Gesetzgebers103 von Belang. Dies gilt dann natürlich auch, wenn der Gesetzgeber die Umsetzung einer Richtlinie intendiert.104 Für die teleologische Auslegung muss der Zweck des Gesetzes, eine Richtlinienvorgabe umzusetzen, erst recht eine entscheidende Rolle spielen, geht es hier doch nicht um eine autonom getroffene Entscheidung des Gesetzgebers, sondern um die Erfüllung einer aus dem Unionsrecht und der Verfassung 97 Zu der vom Gerichtshof in der Rechtssache Pfeiffer postulierten „Vermutungsregel“, wonach der Gesetzgeber „die Absicht hatte, den sich aus der betreffenden Richtlinie ergebenden Verpflichtungen in vollem Umfang nachzukommen“ (EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 112) s. oben Rn. 28–29. 98 Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 51; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 30. 99 Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 79; Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 50 f. 100 Im Ergebnis ebenso Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 81. 101 Dazu Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 428 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 312 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 133 ff. 102 M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 590; Anders Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, S. 259 f. (zweistufige Auslegung einerseits; Ausnahmen dazu andererseits). Ähnlich Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 80 f., der zunächst die Argumentationslage allein mit Hilfe der „klassischen“ Auslegungskriterien ohne Rücksicht auf das Gebot richtlinienkonformer Auslegung ermitteln und erst bei richtlinienwidrigem Ergebnis im Wege eines „Hin- und Herwandernds des Blickes“ die klassischen Auslegungskriterien im Lichte der Richtlinie berücksichtigen möchte (dreistufige Auslegung). 103 BVerfGE 54, 277, 297 („erhebliches Gewicht“). 104 Als Beispiel BGH, NJW 2005, 53, 54 f.

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§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung

(Art. 23 Abs. 1 GG) stammenden Pflicht. Schließlich ist für die grammatikalische Auslegung daran zu erinnern, dass der deutsche Gesetzgeber sich in der Umsetzungsregelung möglicherweise nicht mehr in den Traditionen nationaler Begrifflichkeit bewegen will, sondern Begriffe des Unionsrechts eins zu eins, also deckungsgleich in das nationale Recht einführen und damit zu einer Auslegung zwingen will, die auf die autonome Begrifflichkeit des Unionsrechts zurückgreift.105 Aber auch für überkommenes und vom Gesetzgeber nach Erlass der Richtlinie unverändert gelassenes Recht gilt, dass seine Auslegung von den Vorgaben der Richtlinie beeinflusst werden kann, ist doch allgemein anerkannt, dass sich die Auslegung von Normen durch die Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, aber auch des rechtlichen Umfeldes106 wandeln kann. 3.

Richtlinienkonforme Auslegung als interpretatorische Vorrangregel

Führen die klassischen Auslegungscanones trotz der gerade angedeuteten Einbeziehung des Umsetzungszwecks in die Auslegung zu unterschiedlichen Ergebnissen,107 ist nicht erst aufgrund des unionsrechtlichen Gebots zur richtlinienkonformen Auslegung, sondern schon aufgrund der besonderen Zwecksetzung der Umsetzungsgesetzgebung vom Vorrang derjenigen Auslegungsmethode auszugehen, die zu einem richtlinienkonformen Ergebnis führt.108

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Eine solche interpretatorische Vorrangregel kraft nationalen Rechts109 findet ihre Parallele in der Rechtsprechung des BVerfG zur völkervertragskonformen Auslegung.110 Zur Umsetzung der EMRK in das deutsche Recht heißt es:

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„Soweit im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet sind, trifft deutsche Gerichte die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben“.111

Als Grenze für eine solche völkervertragskonforme Auslegung wird der Fall angedeutet, dass die Auslegung zu einem Verstoß gegen „eindeutig entgegenstehendes Gesetzesrecht“ führen würde.112

105 W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH (2000), S. 875; Ackermann, in diesem Band, § 21 Rn. 34 ff. Zum Grundsatz der unionsautonomen Auslegung, gestützt auf die einheitliche Auslegung des Unionsrechts und den Gleichheitssatz, etwa EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 29. Zu diesem Urteil Riesenhuber/Domröse, EWS 2005, 97 ff. 106 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 170 ff., sprechen insoweit von einem Wandel der Normsituation. 107 In der Rechtsprechung wird vielfach die richtlinienkonforme Auslegung als zusätzliche Auslegungsmethode verwendet, um ein bereits erreichtes Ergebnis zu bekräftigen (z.B. BGH, NJW 2005, 418, 420) oder wenigstens nicht in Frage zu stellen (BGH, ZIP 2005, 357, 358). 108 Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 34. 109 Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 616; in der Sache auch M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 591. 110 Anders Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 123, 124 Fn. 16. 111 BVerfG, NJW 2004, 3407, 3411. 112 Dies gilt erst recht, wenn es zu einem Verstoß gegen Verfassungsrecht käme. Andererseits ist das Grundgesetz im Lichte der EMRK (und der Rechtsprechung des EGMR) völkervertragskonform auszulegen; BVerfG, NJW 2005, 1765, 1766.

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Die hier für die völkervertragskonforme Auslegung gefundene Lösung ist schon kraft nationalen Rechts ohne weiteres auf die Umsetzung von Richtlinienrecht zu übertragen. Dass das Unionsrecht im Übrigen zu einer solchen Vorrangregel zwingt, ist oben bereits gezeigt worden:113 Da Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG in der hier vertretenen Auslegung die deutschen Gerichte auch an das Richtlinienrecht und an die Verpflichtung zu richtlinienkonformer Auslegung nach Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG binden, liegt insoweit ein Gleichlauf zwischen der aus dem Unionsrecht erwachsenden Pflicht der nationalen Gerichte und der interpretatorischen Vorrangregel kraft deutschen Rechts vor. 4.

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Richtlinienkonforme Auslegung und ihre Grenzen im nationalen Recht

Die richtlinienkonforme Auslegung stößt auf eine erste – jedoch nicht unüberwindbare – Grenze, wenn die Auslegung des nationalen Rechts ihrerseits auf Schranken stößt. Als eine solche Schranke für die Auslegung wird allgemein der mögliche Wortsinn angesehen.114 Nach der Rechtsprechung des BVerfG darf im Wege der Auslegung einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigem Gesetz nicht ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der auszulegenden Norm nicht grundlegend neu bestimmt, das gesetzgeberische Ziel nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt werden.115 Oder positiv formuliert: Ist der Wortlaut klar und eindeutig, ist der Rückgriff auf andere Auslegungsmethoden gesperrt.116 Methodisch bedenklich erscheint daher der Vorlagebeschluss des BGH im Verfahren Heininger, in dem der BGH zunächst ausführte, dass § 5 Abs. 2 HWiG a.F. von seinem Wortlaut her klar und eindeutig und daher einer richtlinienkonformen Auslegung nicht zugänglich sei.117 Nach Bestätigung der Richtlinienwidrigkeit der deutschen Regelung durch den EuGH118 relativierte der BGH indes seine vorhergehende Rechtsauffassung dahingehend, dass bereits die Bestimmung des möglichen Wortsinns nicht ohne Berücksichtigung des Zweckes der Richtlinienumsetzung erfolgen dürfe.119

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Kann sich die richtlinienkonforme Auslegung innerhalb der Grenzen des Wortsinns bewegen, so hat sie auch dann zu erfolgen, wenn der Gesetzgeber richtlinienwidrig umsetzen wollte.120 Die historische Auslegung hat insofern der Wortlautauslegung im Lichte der Richtlinienkonformität als interpretatorische Vorrangregel zu weichen. Die Wortlautgrenze bildet insoweit eine Schranke für die Gesetzesauslegung (im engeren Sinne); 121 davon zu unterscheiden ist die in der deutschen Rechtspraxis all-

113 114 115 116 117 118 119 120 121

S. oben im Text bei Fn. 60 sowie Lutter, JZ 1992, 593, 604. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 467 f. So wörtlich: BVerfGE 54, 277, 299 mwN aus der Rspr.; BVerfGE 71, 81, 105. BVerfGE 63, 131, 148; BVerfGE 67, 369, 380 f.; BVerfGE 69, 92, 104 f.; BVerfGE 69, 209, 219; BVerfGE 71, 81, 105 (jeweils zu den Schranken verfassungskonformer Interpretation). BGH, ZIP 2000, 117, 118. EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945. BGHZ 150, 248, 254 ff. Zutr. Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 54. So die Terminologie in BGHZ 179, 27 Rn. 20, 21 – Quelle.

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§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung

gemein anerkannte Rechtsfortbildung,122 die insoweit auch als Fortsetzung der Auslegung (im engeren Sinne) angesehen werden kann.123 5.

Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung

Das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung verpflichtet (kraft Unionsrechts) den nationalen Richter dazu, den ihm zustehenden Beurteilungsspielraum „soweit wie möglich“ auszuschöpfen.124 Damit wird auf die nationale Methodik der Rechtsfortbildung und den ihr durch das nationale Recht gesetzten Schranken verwiesen. Die Konsequenzen des Gebots richtlinienkonformer Auslegung können daher nur für jede nationale Rechtsordnung gesondert festgestellt werden.125 Für die deutschen Gerichte bedeutet dies, dass sie sich jenseits nicht mehr zulässiger Auslegung der für das deutsche Recht anerkannten Methoden der Rechtsfortbildung bedienen müssen, soweit diese (verfassungsrechtlich) zulässig sind.126 a)

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Grundlage: Bindung an die Richtlinie über Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG

Die Befugnis der Gerichte zur Rechtsfortbildung127 ist in der Rechtsprechung des BVerfG anerkannt. Für den Bereich des Strafrechts und des Eingriffsrechts ist freilich eine Rechtsfortbildung zu Lasten des Bürgers ausgeschlossen und eine Verkürzung von Rechtspositionen gegen den Wortlaut der Norm als unzulässig anzusehen.128 Da das Privatrecht dem Interessenausgleich zwischen den Bürgern (Unternehmen) dient, geht jede Rechtsfortbildung, die zu Gunsten einer der Parteien wirkt, notwendig zu Lasten der anderen Partei. Dies allein steht anerkanntermaßen der Rechtsfortbildung nicht im Wege. Die Gerichte haben die Befugnis zur Rechtsfortbildung, wenn das geltende Recht entweder (innere) Regelungslücken aufweist129 oder aufgrund der Änderung der wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Verhältnisse ein Anpassungsbedarf entsteht130 oder aber die gesetzlichen Vorgaben sich als unzureichend erweisen.131 Als Grenze der Rechtsfortbildung gilt der im Wortlaut und Sinn einer Norm eindeutig zum Ausdruck gelangende Wille des Gesetzgebers132 wie auch ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz.133

122 So ausdrücklich Larenz, Methodenlehre, S. 241 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 472 ff.; Pawlowski, Methodenlehre, § 11; Zippelius, Methodenlehre, § 11. 123 BGHZ 179, 27 Rn. 21 ff. – Quelle. 124 S. oben Rn. 25 ff. 125 Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), S. 451. 126 Dieser Ansatz kommt etwa bei Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 56 zu kurz. 127 Zu den rechtsfortbildenden Aufgaben der höchsten Gerichte und deren Grundlage und Absicherung im Verfahrensrecht s. eingehend Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung (1995). 128 BVerfGE 69, 315, 372. 129 BVerfGE 69, 315, 371 f.; BVerfGE 87, 273, 280; BVerfGE 88, 145, 167; BVerfGE 98, 49, 59 f. 130 BVerfGE 82, 6, 12. 131 BVerfGE 84, 212, 226; BVerfGE 88, 103, 116. 132 BVerfGE 59, 330, 334; BVerfGE 71, 81, 105; s. i.ü. BVerfGE 87, 273, 280. 133 BVerfGE 71, 354, 362. Wulf-Henning Roth

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Mit Blick auf die Verpflichtung zu richtlinienkonformer Auslegung ist als Grundlage für eine Rechtsfortbildung (nach hier vertretener Ansicht) Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG anzusehen, wonach die Richtlinien des Unionsrechts als „Gesetz bzw. Recht“ von den Gerichten zu beachten und anzuwenden sind. Die vom Unionsrecht anerkannte und vom deutschen Recht markierte Grenze der Rechtsfortbildung ist damit aus der Perspektive des Art. 20 Abs. 3 GG zu bestimmen. Hierbei geht es um zweierlei: Mit der Bindung des Richters an „Gesetz und Recht“ iSd Art. 20 Abs. 3 GG wird einerseits eine Bindung der Judikative an die Vorgaben der Legislative dergestalt markiert, dass eine Korrektur der vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidungen durch die Gerichte aus (bloß) rechtspolitischen Überlegungen nicht in Betracht kommen kann (dazu Rn. 53 ff.).134 Andererseits lockert Art. 20 Abs. 3 GG die richterliche Bindung an das (die Richtlinie nur unvollkommen umsetzende) Gesetz, wenn und soweit mit dem Verweis auf das „Recht“ die allgemeinen rechtlichen Prinzipien (und hier auch Art. 23 Abs. 1 GG) in Bezug genommen werden. Die in Art. 20 Abs. 3 GG angeordnete Bindung an „Gesetz und Recht“ verweist den Richter damit auf die Maßstäbe der Gesamtrechtsordnung einschließlich des Unionsrechts.135 b)

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Lücke als Voraussetzung der Rechtsfortbildung?

Die Befugnis zur Rechtsfortbildung wird nach hergebrachter,136 aber keineswegs unbestrittener137 Ansicht an die Existenz einer Regelungs-(Gesetzes-) oder Rechtslücke geknüpft.138 Freilich macht diese Voraussetzung nur dort Sinn, wo der Gesetzgeber für einen bestimmten Bereich eine (einigermaßen) vollständige Regelung angestrebt und verwirklicht hat.139 Eine „Lücke“ setzt insoweit eine planwidrige Unvollständigkeit voraus.140 Wo hingegen der Gesetzgeber ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder gar nicht tätig geworden ist, überlässt er – wie etwa im Arbeitsrecht – die Rechtsfindung der Judikative. Von einer „Lücke“ zu sprechen macht hier ebenso wenig Sinn

134 Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 83 („externe Maßstäbe“). 135 Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 84; vgl. auch Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 45. 136 Larenz, Methodenlehre, S. 370 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 191 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 472 ff. Das BVerfG hat Rechtsfortbildung in Bindung an Art. 20 Abs. 3 GG für den Fall einer Regelungslücke akzeptiert (z.B. BVerfGE 69, 315, 371; BVerfGE 87, 273, 280; BVerfGE 88, 145, 167; BVerfGE 98, 49, 59), aber nicht auf diesen Fall beschränkt. 137 Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 461 ff.; ders., Einführung in die Juristische Methodenlehre (2. Aufl. 2000), Rn. 208 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 254; weitere Nachweise z.B. bei Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung (1995), S. 152 ff. 138 BGHZ 179, 27 Rn. 22 – Quelle: planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes. 139 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 192. 140 Eine solche planwidrige Unvollständigkeit ist auf der Grundlage des Gesetzeszwecks zu ermitteln: Es geht um das Fehlen einer nach dem Gesetzeszweck zu erwartenden Regel; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 196. Ähnlich auch BVerfGE 82, 6, 13: Es wird „aus den Wertungen des Gesetzes entnommen, ob eine Lücke besteht (…)“.

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§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung

wie in den Fällen, in denen Gesetzgebung einem Alterungsprozess unterworfen ist.141 Hier sind die Gerichte zur Rechtsfortbildung nicht nur (gem. Art. 20 Abs. 3 GG) berechtigt, sondern ggf. sogar verpflichtet.142 Die Befugnis der Gerichte zur Rechtsfortbildung ist bei näherem Zusehen denn auch nicht (nur) als Interpretationsproblem, sondern vor allem als ein (verfassungsrechtliches) Problem der Rollenverteilung von Legislative und Judikative143 bei der Weiterentwicklung und Modernisierung des Rechts unter der Herrschaft des Art. 20 Abs. 3 GG zu begreifen.144 In dieser Perspektive ergibt sich die Legitimation der Gerichte zu rechtsfortbildender Richtlinienumsetzung, wenn der Gesetzgeber (unionsrechtswidrig) nicht (umsetzend) tätig geworden ist, ohne weiteres aus dem Umstand, dass sich mit dem Richtlinienerlass das rechtliche Umfeld für das nationale Recht geändert hat145 und dieses insoweit innerhalb der Umsetzungsfrist der Anpassung bedarf. Hat der Gesetzgeber vor Erlass der Richtlinie eine flächendeckende Regelung geschaffen und stößt eine bloße Auslegung im Lichte der Richtlinienzwecke auf Grenzen, stellt der Erlass der Richtlinie die Legitimationsbasis für eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung dar.146 Wer eine Lücke als Voraussetzung jeglicher Rechtsfortbildung verlangt, wird hier eine Lücke im weiteren Sinn annehmen können: Sie ergibt sich aus den Erfordernissen der Gesamtrechtsordnung,147 die (auch im Lichte des Art. 23 Abs. 1 GG) auf eine Anpassung des nationalen Rechts an die Vorgaben der Richtlinie drängen.148

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Anders ist die Lage, wenn der Gesetzgeber nach Erlass der Richtlinie durch ihre Umsetzung (mehr oder weniger flächendeckend) tätig geworden ist. Hier ist die Rollenverteilung zwischen Legislative und Judikative eine andere: Dem Lückenbegriff muss hier die Aufgabe zugeschrieben werden, die Entscheidungen des Gesetzgebers vor einer unzulässigen Korrektur aus rechtspolitischen Gründen durch die Judikative ab-

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141 BVerfGE 98, 49, 59 f. Für diesen Fall verwendet BVerfGE 82, 6, 12, auch die Lückenterminologie. Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 217 ff. dagegen spricht für die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung im Hinblick auf die Verschiedenartigkeit der Gesetzgeber und das damit einhergehende Fehlen eines gesetzgeberischen Gesamtplans von einem „heteronomen Regelungsdefizit“. Zum Alterungsproblem i.Ü. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 148 ff. 142 BVerfGE 82, 6, 13. Zur Bindung an Art. 20 Abs. 3 GG s. BVerfGE 69, 315, 372. 143 So treffend das Minderheitsvotum in BVerfG, NJW 2009, 1469 Rn. 97, 103. 144 Zutr. Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung (1995), S. 57 ff. 145 Zur Änderung des rechtlichen Umfelds s. BVerfGE 82, 6, 12. 146 Zu deren Voraussetzungen und Schranken im Übrigen Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 245 ff. Zu kurz greift insoweit die These, das deutsche Recht lasse ein contra legem Judizieren nicht zu; so aber Unberath, ZEuP 2005, 6 f. Siehe unten im Text unter Rn. 53 ff. 147 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 246. 148 Das Bundesverfassungsgericht hat die Grenzen der Rechtsfortbildung durch Analogie dahingehend umschrieben, dass die Analogie sich nicht als Äußerung unzulässiger richterlicher Eigenmacht, durch die der erkennbare Wille des Gesetzgebers beiseite geschoben werde, darstellen dürfe; BVerfGE 82, 6, 12. Zur Zulässigkeit der Rechtsfortbildung praeter legem BVerfGE 88, 145, 167. Wulf-Henning Roth

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2. Teil: Allgemeiner Teil

zuschirmen.149 Aber auch hier entsteht ein Bedürfnis nach Rechtsfortbildung, wenn der Gesetzgeber – unbewusst – die Regelungszwecke der Richtlinie verfehlt oder hinter ihnen zurückbleibt. In solchen Konstellationen wird man die für eine Rechtsfortbildung vorauszusetzende „Lücke“ vor dem Hintergrund des Art. 20 Abs. 3 GG darin sehen müssen, dass das Umsetzungsgesetz hinter der Richtlinie zurück bleibt.150 Der Bundesgerichtshof spricht in seiner Quelle-Entscheidung insoweit von einer „verdeckten“ Regelungslücke.151 Die für die Rechtsfortbildung notwendige Legitimation152 des Richters liegt in der Bindung des Gerichts an „Gesetz und Recht“ iSd Art. 20 Abs. 3 GG und damit an die Vorgaben der Richtlinie.153 c)

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Die Instrumente der Rechtsfortbildung

Das deutsche Recht kennt verschiedene Instrumente, deren sich die Gerichte bedienen können und müssen, um eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung zu erreichen.154 Bleibt etwa der Gesetzgeber in der Ausgestaltung des nationalen Umsetzungsrechts hinter den Anforderungen der Richtlinienvorgaben zurück, kann mittels einer teleologischen Extension155 oder teleologischen Reduktion156 der in Betracht kommenden Norm(en) der Zweck der Richtlinie verfolgt werden. Fehlt es an jeglicher Umsetzung, kann u.U. die Analogie helfen. Sind deren Voraussetzungen – Ähnlichkeit der Tatbestände – nicht gegeben, ist den Vorgaben der Richtlinien durch die Ausbildung einer Fallnorm157 zu entsprechen, so wie dies die deutsche Rechtsprechung seit jeher etwa im Bereich des Arbeitsrechts, aber auch des Allgemeinen und des Besonderen Schuldrechts (Delikts- und Bereicherungsrecht; c.i.c.; Störung der Geschäftsgrundlage) praktiziert hat.

149 S. BVerfGE 82, 6, 12 f.; Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 83. Zu verweisen ist auch auf die grundsätzlichen (aber nicht auf eine Richtlinienumsetzung bezogenen) Aussagen des Minderheitsvotums in BVerfG, NJW 2009, 1469 Rn. 97, 103. 150 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 416; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 40. 151 BGHZ 179, 27 Rn. 25 – Quelle. 152 Zu Voraussetzungen und Grenzen der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung außerhalb des Richtlinien-Kontextes s. nur Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 245 ff. 153 Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 84. 154 Die Umsetzung der Richtlinienvorgaben durch die Rechtsprechung wird aber in vielen Fällen nicht genügen; der Gerichtshof betont in st. Rspr., dass etwa der Verbraucher seine Rechte durch klare Regelungen im nationalen Recht erkennen können soll; z.B. EuGH v. 23.3.1995 – Rs. C-365/93 Kommission ./. Griechenland, Slg. 1995, I-499 Rn. 9; EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/199 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 17. Dies erfordert nicht immer, aber zumeist eine Regelung durch Gesetz oder Verordnung. 155 Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 48, 51; Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 90; Larenz/ Canaris, Methodenlehre, S. 216, 245. 156 BGHZ 179, 27 Rn. 22 – Quelle; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 49, 51; Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 90; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 210 f. 157 Fikentscher, Methoden des Rechts IV, S. 202 ff., 279 ff.

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§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung

d)

Die Grenzen der Rechtsfortbildung

Als unübersteigbare Schranke der Rechtsfortbildung gilt allgemein der am Wortlaut der Norm festgemachte Regelungszweck („Wortsinn“) des Gesetzgebers. Diese von der ganz h.L. im Schrifttum vertretene Position158 wird von den deutschen Höchstgerichten geteilt. Als Grenze für eine richterliche Rechtsfortbildung hat das BVerfG in seinem Beschluss vom 14. Juni 2007 festgestellt, dass eine Rechtsfortbildung, die den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, ihren Widerhall nicht im Gesetz findet und die vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder stillschweigend gebilligt wird, unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers eingreife159 Abweichung von Wortlaut und Zweck der zu interpretierenden Vorschriften bedingen mithin nur kumulativ einen Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG.

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Dies verkannte der BGH noch in seinem Urteil Heininger, wo er auf den möglichen Wortsinn als entscheidende Grenze der richtlinienkonformen Auslegung abstellte und diesen sodann über seine mögliche grammatikalische Bedeutung hinausgehend im Sinne der Richtlinie ausdehnte.160 Im viel diskutierten Urteil Quelle hat der BGH diese Sichtweise nunmehr korrigiert und spricht im Zusammenhang mit einer Rechtsfindung jenseits der möglichen grammatikalischen Bedeutung der zu interpretierenden Norm methodenehrlicher von richtlinienkonformer Rechtsfortbildung, deren Grenze allein der Regelungszweck darstelle.161

Für die Bestimmung des Regelungszwecks einer Norm wird man auf den Regelungsanlass und den Willen des Gesetzgebers abzustellen haben. Ergibt sich dabei, dass der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen hat, so darf der Richter diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen, die so im Parlament nicht erreichbar gewesen wäre.162 Diese vom Minderheitsvotum im Rügeverkümmerungs-Beschluss bestätigte Aussage163 bringt die Dinge auf den Punkt und bedarf strikter Beachtung, um dem (legitimen) Instrument der Rechsfortbildung Grenzen zu ziehen.

53a

Bei der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung zur Korrektur einer nicht geglückten Umsetzung einer Richtlinie besteht jedoch die vom BVerfG umschriebene Gefahr, die Entscheidung des Parlaments durch eigene rechtspolitische Vorstellungen des Gerichts zu ersetzen, solange der Gesetzgeber nicht, wie zu erkennen gegeben hat, dass

53b

158 Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, S. 226; Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 92 ff.; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 43; Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts (1994), S. 95 f.; Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 94. Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen auch Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, S. 156 ff. 159 BVerfGE 118, 212, 243; zu den Voraussetzungen einer unzulässigen Rechtsfortbildung im Einzelnen vgl. zudem das Minderheitsvotum in BVerfG, NJW 2009, 1469 Rn. 96 ff. Spezifisch zur unionsrechts- und verfassungskonformen Auslegung BAG, NZA 2003, 742, 747. 160 BGHZ 150, 248. 254. Dazu bereits oben Rn. 44. Vgl. auch BGH, NJW 2004, 2731, 2732. Allein auf den „klaren Gesetzeswortlaut“ als Schranke stellt ab BGH, NJW 2004, 154, 155. 161 BGHZ 179, 27 Rn. 26 – Quelle. 162 Minderheitsvotum in BVerfG, NJW 2009, 1469 Rn. 97; BGHZ 179, 27 Rn. 31 – Quelle. 163 BVerfG, NJW 2009, 1469 Rn. 97. Wulf-Henning Roth

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2. Teil: Allgemeiner Teil

er eine richtlinienkonforme Umsetzung anstrebt. Gelingt dem Gesetzgeber eine richtlinienkonforme Umsetzung gleichwohl nicht, steht der Richter vor der Wahl, entweder der vom Gesetzgeber gewählten (aber die Richtlinienvorgabe verfehlende) Lösung des Sachproblems im Einzelfall zu folgen oder aber den allgemeinen Zweck der Umsetzungsgesetzgebung zu folgen, eine richtlinienkonforme und damit unionsrechtskonforme Lösung zu erreichen. Wenn und solange der Gesetzgeber nachweisbar164 eine richtlinienkonforme Umsetzung anstrebt, wird man diesem – ggf. im konkreten Fall unvollkommen verwirklichten – allgemeinen Zweck den Vorrang vor der mit der konkreten Norm verknüpften Zielsetzung einräumen müssen.165 Eine rechtsfortbildende Gesetzeskorrektur in einer solchen Konstellation basiert auf der Vorgabe des Art. 23 Abs. 1 GG (oben Rn. 37) und verstößt gerade nicht gegen die von Art. 20 Abs. 3 GG vorausgesetzte und geschützte Rollenverteilung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung, wie sie das Minderheitsvotum im Rügeverkümmerungs-Beschluss thematisiert.166 Bleibt dagegen der Gesetzgeber bewusst hinter den Richtlinienvorgaben zurück, ist das Gericht an die gesetzliche Vorgaben gebunden; hier kann nur der Gesetzgeber selbst korrigierend eingreifen. Der Bundesgerichtshof geht in seinem Quelle-Urteil den soeben beschriebenen Weg:167 Da der Gesetzgeber sich bei der Schaffung des § 439 Abs. 4 BGB von der Absicht hat leiten lassen, die Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie richtlinienkonform umzusetzen, liegt in der teleologischen Restriktion des § 439 Abs. 4 BGB keine rechtspolitische Korrektur der Entscheidung des Parlaments durch das Gericht, sondern im Gegenteil vielmehr die Vollstreckung der konkret gegebenen Absicht des Gesetzgebers, eine richtlinienkonforme

164 BGHZ 179, 27 Rn. 31 – Quelle („konkrete Absicht“ des Gesetzgebers, eine richtlinienkonforme Regelung zu schaffen). 165 Babusiaux, Die richtlinienkonforme Auslegung im deutschen und französischen Zivilrecht, S. 45; Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 47, 85. Grundmann, ZEuP 1996, 399, 422; Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration (1999), S. 72 ff.; Möllers/ Möhring, JZ 2008, 919. Ähnlich Herresthal, EuZW 2007, 396, 400, nach dem eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung entgegen der (konkreten) Wertungsentscheidung des Gesetzgebers möglich ist, wenn letztere auf einem unzutreffenden Verständnis der vom Gesetzgeber umszusetzenden (Richtlinien-)Vorgabe basiert; s. auch Herresthal, NJW 2008, 2475, 2477. Ablehnend bezüglich eines hypothetischen Willens zur korrekten Umsetzung Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 258; Piekenbrock/Schulze, WM 2002, 521, 524 ff.; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 916 f.; Fischinger, EuZW 2008, 312, 313. Der hier im Text vertretene Ansatz würde sich im Ergebnis mit der in dem Urteil Pfeiffer (EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 112) angedeuteten – und oben Rn. 29 abgelehnten – unionsrechtlichen „Vermutungsregel“ decken, dass der Staat, wenn er von dem ihm durch die Richtlinie eingeräumten Gestaltungsspielraum Gebrauch macht, die Absicht hat, den sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen in vollem Umfang nachzukommen. 166 Wenig einleuchtend ist es, wenn in diesem Zusammenhang der Teufel einer „Entmündigung“ des Gesetzgebers an die Wand gemalt wird; so Piekenbrock/Schulze, WM 2002, 521, 527. Der Gesetzgeber kann doch jederzeit nachsteuern! Es geht allein darum, den richtlinienwidrigen Zustand bis zu einem Tätigwerden des Gesetzgebers, das allemal wegen der gebotenen Normklarheit erforderlich sein mag (!) durch Richterrecht zu beseitigen. 167 BGHZ 179, 27 Rn. 31 – Quelle.

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§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung Regelung zu schaffen.168 Eine andere und von der Befugnis zur gesetzeskorrigierenden Rechtsfortbildung zu unterscheidende Frage ist, ob das rechtsfortbildende Urteil Wirkungen ex tunc oder ex nunc entfalten soll. Die Bindung an das rechtsstaatliche Prinzip der Rechtssicherheit, Art. 20 Abs. 3 GG, mag, wie der BGH im Quelle-Urteil betont,169 zu einem Schutz des Vertrauens hinsichtlich der bisher bestehenden Gesetzeslage und damit zu einer ex nunc-Wirkung führen können. Dieser u.U. gebotene Vertrauensschutz ist jedoch kein Anlass, von einer Rechtsfortbildung ex nunc abzusehen; im Übrigen liegt eine ex tunc-Wirkung nahe, wenn die Umsetzungsregelung in ihrer Richtlinienwidrigkeit immer schon problematisiert worden ist.170

Die hier vertretene Position nimmt nicht nur Rücksicht auf die Vorgaben der Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG, sondern auch auf die Erfordernisse einer sinnvollen Rollenverteilung zwischen Gerichten und Parlament bei der fortlaufenden Überprüfung der Unionsrechtskonformität des deutschen Rechts. Angesichts des sich immer weiter ausdehnenden sekundären Unionsrechts einerseits und der Klärung von Auslegungsfragen durch den EuGH oft erst Jahre nach Erlass der jeweiligen Richtlinie, wäre der Gesetzgeber völlig überfordert, wenn man ihm allein die Korrektur richtlinienwidrigen Rechts überließe. Da die Probleme zudem oftmals erst in einem konkreten Streitfall deutlich werden, liegt es nahe, den Gerichten den ersten Zugriff für die Herstellung richtlinienkonformer Ergebnisse im Wege rechtsfortbildender Judikate zu eröffnen.171 e)

53c

Normenkollisionen

Die Problematik der durch Wortlaut und Gesetzeszweck markierten Grenze für eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung wird im deutschen Schrifttum zumeist ohne Bezugnahme auf Konstellationen erörtert, in denen Wortlaut und Regelungszweck von unterschiedlichen Normen sich widersprechen (Gesetzeskollisionen) oder aber Normen Ausdruck entgegenlaufender Wertungen sind (Wertungswidersprüche). In seiner Pfeiffer-Entscheidung (Rn. 31) hat der Gerichtshof für Zwecke der richtlinienkonformen Auslegung auch auf solche im nationalen Recht ausgebildeten Grundsätze über die Lösung von Normenkollisionen verwiesen und diesen Verweis in dem Mono Car Styling-Urteil bestätigt (Rn. 33).

54

Dies erscheint aus zweierlei Gründen bedeutsam:

55

– Im Gegensatz zu den allein aus dem nationalen Recht erwachsenden Normenkollisionen geht es bei der richtlinienkonformen Auslegung um potentiell kollidierende Regelungen zweier unterschiedlicher Normgeber.172 Der Gerichtshof scheint sich daran nicht zu stören. Für das deutsche Recht enstehen daraus auch keine Pro-

168 Zust.: Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 123, 126; Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 922. Abl. auch insoweit: Höpfner, JZ 2009, 403, 405; Sperber, EWS 2009, 358, 363. 169 BGHZ 179, 27 Rn. 33 – Quelle. 170 BGHZ 179, 27 Rn. 33 – Quelle unter Hinweis auf BGH, NJW 2006, 3200 Rn. 20. 171 Dass der Gesetzgeber unionsrechtlich verpflichtet ist, richtlinienwidrige gesetzliche Bestimmungen zu korrigieren, steht insoweit nicht entgegen. 172 Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 91. Wulf-Henning Roth

421

2. Teil: Allgemeiner Teil

bleme:173 Da Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG eine Bindung des Richters an die Richtlinie neben die Bindung an deutsches Gesetzesrecht stellt, sind die Normenkollisionen mit denen des innerstaatlichen Rechts durchaus vergleichbar. – Der Gerichtshof sieht die Möglichkeit einer Normenkollision zwischen Richtlinienrecht und nationalem Recht auch dann eröffnet, wenn und soweit nicht von einer unmittelbaren Anwendbarkeit einer Richtlinienbestimmung auszugehen ist. Dies bedeutet: Richtlinie und innerstaatliche Norm stehen für Zwecke der Lösung von Normenkollisionen auf einer Stufe. Der Äquivalenzgrundsatz (Rn. 30 ff.) gebietet es dann, in der nationalen Methodenlehre praktizierte Techniken der Lösung von Normenkollisionen – soweit möglich (s. Rn. 56–57) – auf das Verhältnis von Richtlinie und nationalem Recht zu übertragen. aa)

56

Soweit – im Verhältnis Bürger – Staat – Richtlinienbestimmungen zugunsten des Einzelnen als unmittelbar anwendbar anzusehen sind, ist die Normenkollision aufgrund des (in den Fällen der unmittelbaren Anwendbarkeit eingreifenden) Vorrangs des Unionsrechts zugunsten der konkreten Regelung in der Richtlinie zu lösen. Dies entspricht auch im Ergebnis der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs.174 bb)

57

Unmittelbar anwendbares Richtlinienrecht

Nicht unmittelbar anwendbares Richtlinienrecht

Problematisch ist allein der Bereich, in dem eine nationale Regelung mit nicht unmittelbar anwendbarem Richtlinienrecht kollidiert.175 Das deutsche Recht kennt zur Auflösung von Normenkollisionen verschiedene Methoden. – Normenwidersprüche können etwa nach dem lex posterior-Satz176 entschärft werden. Dieser Satz kann es rechtfertigen, nach Inkrafttreten einer Richtlinie früher erlassenes, der Richtlinie entgegenstehendes Gesetzesrecht außer Anwendung zu lassen und ggf. zur Lückenfüllung im Wege der Rechtsfortbildung eine Fallnorm zu entwickeln. – Geht es dagegen um nach der Richtlinie in Kraft getretene gesetzliche Regelungen, muss es Aufgabe der Auslegung sein, eine mit der Richtlinie widerspruchsfreie Lösung zu finden, sei es durch eine restriktive Auslegung der nationalen Regelung, oder, wo dies nicht möglich ist, dadurch, dass einer Norm der Vorrang zuerkannt wird.177 Dies wirft die Frage auf, ob und unter welchen Voraussetzungen der Richter bei einer Kollision einer nationalen Norm mit einer Richtlinie an die Vorgaben des nationalen Gesetzes gebunden bleibt, also dem Umsetzungsrecht den Vorrang einzuräumen hat.

173 174 175 176 177

422

Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2299; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 912. Seit EuGH v. 19.1.1982 – Rs. 8/81 Becker, Slg. 1982, 53. Zum Folgenden a.A. Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 32 ff. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 572 f. Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 155. Wulf-Henning Roth

§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung

Vor dem Hintergrund der in Art. 20 Abs. 3 GG statuierten Gesetzesbindung des Richters liegt es nahe danach zu unterscheiden, welches die Gründe für die Normenkollision sind:178

58

Wenn und soweit davon ausgegangen werden kann, dass der Gesetzgeber beim Erlass des Umsetzungsgesetzes den Vorgaben der Richtlinie entsprechen wollte, dieses Ziel aber, aus welchen Gründen auch immer, nicht erreicht hat, erscheint (außerhalb des Strafrechts und des Eingriffsrechts) eine Korrektur der nationalen Regelung – bis hin zur Derogation der Norm179 – vom Willen des Gesetzgebers, eine richtlinienkonforme Lösung zu verwirklichen, gedeckt.180 Dies gilt etwa, wenn im Gesetzgebungsprozess fehlerhafte Vorstellungen über die Tragweite einer Richtlinienbestimmung bestanden haben oder aber die Bedeutung einer Richtlinienregelung erst durch spätere Judikatur des Gerichtshofs geklärt worden ist. Wird der Umsetzungszweck verfehlt, weil der Gesetzgeber sich falsche Vorstellungen über die Tragweite der Richtlinie macht, sollte die Judikative (außerhalb des Straf- und des Eingriffsrechts) als ermächtigt angesehen werden, die erforderlichen Korrekturen bzw. Nachbesserungen vorzunehmen.181

59

Die Situation ist eine andere, wenn sich aus dem Wortlaut der Norm und dem vom Gesetzgeber verfolgtem Regelungszweck klar und eindeutig entnehmen lässt,182 dass von den Richtlinienvorgaben (bewusst) abgewichen werden soll (was in der Praxis durchaus, wenn auch eher selten vorkommen mag).183 Hier ergibt sich eine unübersteigbare Hürde für eine richterliche Gesetzeskorrektur.184 Denn sonst drohte die Gefahr, dass der sich im Wortlaut abbildende erkennbare Wille des Gesetzgebers beiseite geschoben und durch eine autark getroffene richterliche Abwägung der Interessen –

60

178 Die im Text vorgenommene Differenzierung wird in der Rspr. (BAG, NZA 2003, 742, 747; BGH, NJW 2004, 154, 155) nicht vorgenommen und im Schrifttum zumeist abgelehnt; z.B. Piekenbrock/Schulze, WM 2002, 521, 524 ff.; Hochleitner/Wolf/Großerichter, WM 2002, 529, 531 ff.; Osnabrügge, NJW 2005, 1093; Franzen, JZ 2003, 321, 324; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 98–99; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 41; Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 94. Im Ansatz wie hier: Grundmann, ZEuP 1996, 399, 422; Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration (1999), S. 72 ff. 179 Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 321 ff. A.A. die wohl h.M.: Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 47, 97; Gebauer, AnwBl 2007, 314, 318 f.; Mörsdorf, EuR 2009, 219, 231; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 53. Offen lassend: BGHZ 179, 27, Rn. 29 – Quelle. 180 Vgl. im Ergebnis BGH, NJW 2002, 1881, 1882 f., freilich als Konsequenz der Auslegbarkeit der entsprechenden Bestimmung und nicht als Folge einer Normenkollision; ebenso BGH, NJW 2004, 2731, 2732. 181 Siehe dazu bereits oben Rn. 53 ff. 182 Vgl. auch BVerfGE 18, 97, 111; BVerfGE 71, 81, 105, worin als Schranke für eine verfassungskonforme Interpretation auf Wortlaut und den „klar erkennbaren“ Regelungswillen abgestellt wird. 183 Wann man von einer bewussten Umsetzungsverweigerung ausgehen kann, ist umstritten: Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 399 für eine deutliche Markierung im Normtext; a.A. Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 47, 86: Unvollständige Umsetzung als Ausdruck eines „beredten Schweigens“ des Gesetzgebers. 184 In diesem Sinne auch Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), S. 452. Wulf-Henning Roth

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2. Teil: Allgemeiner Teil

einem Akt unzulässiger richterlicher Eigenmacht – ersetzt wird.185 Die Bindung des (nationalen) Richters an die Vorgaben des nationalen Gesetzgebers muss sich insoweit durchsetzen.186 Und diese Bindung wird vom Unionsrecht in der Deutung des Gerichtshofs auch respektiert.187 Soweit der BGH in seinem „Heininger“-Urteil § 5 Abs. 2 HWiG a.F. – trotz der (scheinbar) eindeutigen Konkurrenzregelung zugunsten des VerbrKrG a.F. – einschränkend in der Weise ausgelegt hat, dass Kreditverträge insoweit nicht als Geschäfte (im Sinne des HWiG a.F.) anzusehen sind, die „die Voraussetzungen eines Geschäfts nach dem Verbraucherkreditgesetz“ erfüllen, soweit dieses dem Darlehensnehmer kein gleich weit reichendes Widerrufsrecht einräumt,188 hat das Gericht in der Sache eine weitgehende Korrektur im Anwendungsbereich des § 5 Abs. 2 HWiG a.F. vorgenommen. Es war dazu nach dem soeben Ausgeführten auch legitimiert, konnte es doch davon ausgehen, dass der deutsche Gesetzgeber mit § 5 Abs. 2 HWiG a.F. eine richtliniengemäße Regelung schaffen wollte.189

185 BVerfGE 82, 12 f.; BVerfGE 87, 273, 280. 186 Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, S. 269; Grundmann, ZEuP 1996, 399, 420; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 51. 187 S. oben im Text bei Fn. 57 f. 188 BGH, NJW 2002, 1881, 1883; BGH, VersR 2002, 1034, 1035; bestätigt durch BGH, NJW 2004, 2731, 2732; BGH, NJW 2004, 2744. 189 Anders insoweit aber BGH, NJW 2004, 154, 155, zu § 1 Abs. 2 Nr. 3 HWiG a.F. Hier sieht der BGH angesichts des klaren und keiner restriktiven Auslegung zugänglichen Wortlauts der Norm keinen Raum für eine richtlinienkonforme Auslegung, ohne freilich die Grundsätze über eine Normenkollision oder eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung anzusprechen.

424

Wulf-Henning Roth

§ 15 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien Mathias Habersack/Christian Mayer

Übersicht I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Grundtatbestand der überschießenden Umsetzung . . . . . . . . . . . . . 2. Die überschießende Umsetzung als Rechtsproblem . . . . . . . . . . . . . . . II. Tatbestand und europarechtliche Zulässigkeit der überschießenden Umsetzung 1. Fallgruppen überschießender Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Persönlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verbraucherschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Handels-, Bilanz- und Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . cc) Lauterkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sachlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Örtlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abgrenzung der überschießenden Umsetzung gegenüber verwandten Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inhaltliche Übererfüllung von Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Fakultative Umsetzung, opt-out . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Textgleiche Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur europarechtlichen Zulässigkeit von überschießender Umsetzung und inhaltlicher Übererfüllung von Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Auslegung des nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus Gemeinschaftsrecht? . . . . . . . . a) Unmittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung auch im Überschussbereich? . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtsprechung des EuGH zu TRIPS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Keine Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus nationalem Recht . . . . . . 4. Kriterien zur Auslegung der Norm im Überschussbereich . . . . . . . . . a) Auslegung als interpretatorische Gesamtabwägung . . . . . . . . . . . b) Bedeutung des gesetzgeberischen Willens . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vermutung für einheitliche Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Gründe für eine gespaltene Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verfassungskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Überwiegende Bedeutung der Sachentscheidung und erhebliche Abweichung von dieser durch die richtlinienkonforme Auslegung . cc) Zusätzliche Auslegungsgesichtspunkte, die nur im überschießenden Bereich der Norm vorhanden sind . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Mathias Habersack/Christian Mayer

Rn. 1–4 1–2 3–4

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5–22 5–12 6–9 7 8 9 10–11 12

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13–17 14–15 16 17

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18–22

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23–48 23–23b 24–35

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26–32 33–35 36–36a 37–48 37 38–38a 39 40–48 41

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42

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43–48

425

2. Teil: Allgemeiner Teil IV. Überschießende Umsetzung und Internationales Privatrecht V. Zur Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs 1. Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . 2. Präzisierung der Fragestellung . . . . . . . . . 3. Vorlagemöglichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zusammenfassung und Ausblick

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48a

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49–55 50 51 52–55

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56–57

Literatur: Christian Bärenz, Die Auslegung der überschießenden Umsetzung von Richtlinien am Beispiel des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts, DB 2003, 375–376, Gert Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien (2003); Josef Drexl, Die gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur einheitlichen richtlinienkonformen Auslegung hybrider Rechtsnormen und deren Grenzen, in: Stephan Lorenz u.a. (Hrsg.) Festschrift für Andreas Heldrich (2005), S. 67–86; Mathias Habersack/Christian Mayer, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, JZ 1999, 913–921; dies., Der Widerruf von Haustürgeschäften nach der „Heininger“ – Entscheidung des EuGH, WM 2002, 253–259; Burkhardt Heß, Rechtsfragen des Vorabentscheidungsverfahrens, RabelsZ 66 (2002), 470–502; Clemens Höpfner/Bernd Rüthers, Grundlagen einer europäischen Methodenlehre, AcP 209 (2009), 1–36; Jochen Hoffmann, Der Verbraucherbegriff des BGB nach der Umsetzung der Finanz-Fernabsatzrichtlinie, WM 2006, 560–567; Peter Hommelhoff, Die Rolle der nationalen Gerichte bei der Europäisierung des Privatrechts, in: Claus-Wilhelm Canaris u.a. (Hrsg.) 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Band 2 (2000), S. 889–925; Torsten Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht (2006); Marcus Lutter, Zur überschießenden Umsetzung von Richtlinien der EU, in: Allfred Söllner u.a. (Hrsg.) Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze (2005), S. 571–584; Christian Mayer/Jan Schürnbrand, Einheitlich oder gespalten? – Zur Auslegung des nationalen Rechts bei überschießender Umsetzung von Richtlinien, JZ 2004, 545–552; Thomas Riehm, Die überschießende Umsetzung vollharmonisierender EG-Richtlinien im Privatrecht, JZ 2006, 1035–1045; Wulf-Henning Roth, Europäisches Recht und nationales Recht, in: Claus-Wilhelm Canaris u.a. (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Band 2, (2000), S. 847–888; York Schnorbus, Autonome Harmonisierung in den Mitgliedstaaten durch Inkorporation von Gemeinschaftsrecht, RabelsZ 65 (2001), 654–705.

1

I.

Einleitung

1.

Der Grundtatbestand der überschießenden Umsetzung

Bei der Umsetzung europäischer Richtlinien entscheidet sich der deutsche Gesetzgeber bisweilen dafür, über den Anwendungsbereich der Richtlinie hinauszugehen und auch Sachverhalte dem von der Richtlinie vorgegebenen Regelungsregime zu unterwerfen, die von der Richtlinie selbst nicht erfasst werden. Hierfür hat sich der Begriff der überschießenden Umsetzung von Richtlinien eingebürgert.1 Prominente

1 So erstmals Habersack/Mayer, JZ 1999, 913. Dieser Begrifflichkeit folgen nunmehr die Rechtsprechung (s. BVerfG, NJW-RR 2007, 1684 Rn. 20; BVerwG, DVBl 2008, 1255 Rn. 11 f.; BGHZ 159, 280, 284 f.; BGH, ZIP 2009, 2004 Rn. 32) und die weit überwiegende Literatur (s. etwa Palandt-Heinrichs, Einl. Rn. 44; MünchKommBGB-Casper, vor § 676a BGB Rn. 14 f.; MünchKommBGB-Lorenz, vor § 474 BGB Rn. 3; Bamberger/Roth-Faust, § 433 BGB Rn. 9 ff.; Bärenz, DB 2003, 375; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 28 ff.; Langenbucher-

426

Mathias Habersack/Christian Mayer

§ 15 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

Beispiele überschießender Umsetzung bilden die Umsetzung der Haustürgeschäfterichtlinie2 und die Umsetzung der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf 3: Während die Haustürgeschäfterichtlinie nach ihrem Art. 1 Abs. 1, 3 und 4 voraussetzt, dass es in der Haustürsituation selbst zum Vertragsschluss oder jedenfalls zur Abgabe eines nach Annahme durch den Unternehmer verbindlichen Angebots durch den Verbraucher kommt,4 ist das deutsche Haustürwiderrufsrecht seit jeher auf alle Geschäfte anzuwenden, bei denen der Verbraucher zu seiner auf den Vertragsschluss gerichteten Willenserklärung durch eine Haustürsituation bestimmt worden ist, mag auch der Vertragsschluss selbst später außerhalb der Haustürsituation erfolgen.5 Und während die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie nach Art. 1 Abs. 1, 4 für Kauf- und Werklieferungsverträge über bewegliche Sachen zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher gilt, wobei Verbraucher nach Art. 1 Abs. 2 lit. a) der Richtlinie jede natürliche Person ist, die zu einem Zweck handelt, der nicht ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann, gelten die §§ 474 ff. BGB für alle Verbraucher im Sinne des § 13 BGB und damit auch für Personen, die zu einem unselbständigen beruflichen Zweck handeln;6 das gleichfalls der Umsetzung dienende allgemeine Kaufrecht gilt für alle Kaufverträge, das allgemeine Leistungsstörungsrecht gar für sämtliche Schuldverhältnisse.

2 3

4 5

6

Langenbucher, § 1 Rn. 23 f., 104 ff.; Lutter-Lutter, Umwandlungsgesetz (4. Aufl. 2009), Einl. Rn. 40 ff.; ders., GS Heinze, S. 571). Daneben werden für die hier interessierende Konstellation auch der Begriff der autonomen Harmonisierung (so Schnorbus, RabelsZ 65 [2001], 654), derjenige der Übererfüllung von Richtlinien (so Büdenbender, ZEuP 2004, 36) und der Begriff des Gold-Plating (so Burmeister/Staebe, EuR 2009, 444, 445 f.) gebraucht. Eine letztlich allein terminologische Frage ist es, ob man den Begriff der überschießenden Umsetzung auch zur Kennzeichnung derjenigen Konstellationen verwendet, in denen nicht der Anwendungsbereich des – auch – der Richtlinienumsetzung dienenden nationalen Rechts über den der Richtlinie hinausgeht, sondern in denen das nationale Recht innerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie über deren inhaltliche Vorgaben hinausgeht. In dem letztgenannten Sinn gebrauchen den Begriff der überschießenden Umsetzung etwa Brandner, Überschießende Umsetzung, S. 11 ff.; Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, S. 55 ff.; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 22 sowie Riehm, JZ 2006, 1035 ff.; s. hierzu noch unten Rn. 14. Richtlinie 1985/577/EWG des Rates v. 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31. Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. EuGH v. 22.4.1999 – Rs. C-423/97 Travel Vac, Slg. 1999, I-2195 Rn. 35; GA Léger, SchlA v. 12.7.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Tz. 23. Zu den Anwendungsvoraussetzungen des deutschen Haustürwiderrufsrechts MünchKommBGB-Masuch, § 312 BGB Rn. 22 ff. mwN. Zur überschießenden Umsetzung Habersack/ Mayer, WM 2002, 253, 254; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 546 f.; ausführlich und mit Vergleich zu dem die Richtlinienvorgaben exakt abbildenden italienischen Recht Gabrielli, in: Canaris/Zaccaria (Hrsg.), Die Umsetzung von zivilrechtlichen Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft in Italien und Deutschland (2002), S. 42 ff. S. dazu Begr. RegE BT-Drs. 14/6040, S. 243; Jauernig-Berger, § 474 Rn. 2.

Mathias Habersack/Christian Mayer

427

2. Teil: Allgemeiner Teil

2

Ausgangspunkt überschießender Umsetzung ist der häufig punktuelle Charakter 7 der umzusetzenden Richtlinie: Zum derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts8 und mit Blick auf das in Art. Art. 5 AEUV/5 EG verankerte Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung9 und das Subsidiaritätsprinzip10 erfolgt europäische Rechtsangleichung namentlich im Privatrecht nicht mit dem Ziel einer systematischen Ausgestaltung der Rechtsordnung, sondern regelmäßig nur zur Beseitigung konkreter Missstände und zur Vermeidung von Beeinträchtigungen des Binnenmarktes.11 Demgegenüber muss der nationale Gesetzgeber seine Regelung in die Systematik des bestehenden Rechts einpassen und Abgrenzungsschwierigkeiten, Wertungswidersprüche und Überschneidungen vermeiden.12 Auf der Ebene des nationalen Rechts entstehen hierdurch Rechtsnormen, die in einem Teil ihres Anwendungsbereiches der Umsetzung einer europäischen Richtlinie dienen, aber zugleich aufgrund der autonomen Entscheidung des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers auch Fälle außerhalb der gemeinschaftsrechtlichen Regelung erfassen.13

7 Rittner, JZ 1995, 849, 851 und Palandt-Heinrichs, Einl. Rn. 31 sprechen von europarechtlichen Inseln im nationalen Recht. Der punktuelle Charakter schließt freilich nicht aus, dass sich aus der Zusammenschau mehrere Richtlinien gemeinsame Leitgedanken und Prinzipien finden lassen. Dazu für das Europäische Vertragsrecht Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 886 ff. 8 Nicht zu verkennen ist, dass der bislang überwiegend punktuelle Charakter des Gemeinschaftsprivatrecht auch auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts in der Diskussion ist. So ist für die Zukunft eine weitergehende und dann auch systembildende Rechtsangleichung des Privatrechts nicht ausgeschlossen. Für sie bestehen wissenschaftliche Vorüberlegungen namentlich im Bereich des Europäischen Vertragsrechts mit dem Draft Common Frame of Reference (dazu Eidenmüller/Faust/Grigoleit/Jansen/Wagner/Zimmermann, JZ 2008, 529 ff.; Jansen/Zimmermann, NJW 2009, 3401 ff.), den European Principles of Contract Law (Lando/Beale, dazu Zimmermann, ZEuP 2000, 391 ff.) und dem Vorentwurf eines Europäischen Vertragsgesetzbuches der Akademie Europäischer Privatrechtswissenschaftler (Gandolfi-Entwurf, abgedr. in ZEuP 2002, 135 ff. und 365 ff.). Siehe daneben die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan, KOM(2003) 68 endg, ABl. 2003 C 63/1 sowie den Vorschlag der Kommission für eine Horizontalrichtlinie zum Vebraucherrecht, KOM(2008) 614 und dazu die Beiträge von Artz und Gsell, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Volharmonisierung im Privatrecht (2010), S. 209 f. und 219 f. 9 Ausführlich zur Kompetenz der Gemeinschaft zur Angleichung des Vertragsrechts Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 139 ff.; zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung allgemein Grabitz/Hilf-Grabitz, Art. 189 Rn. 4; Schwarze-Biervert, Art. 249 EG Rn. 11. 10 S. zur Geltung des Subsidiaritätsprinzips auch im Rahmen der Rechtsangleichung nach Art. 114 AEUV/95 EG EuGH v. 10.12.2002 – Rs. C-491/01 British American Tobacco, Slg. 2002, I-11453 Rn. 177 ff. 11 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545; Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 2 ff. 12 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545; näher dazu Tröger, ZEuP 2003, 525 f.; W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 880 f.; Schnorbus, RabelsZ 65 (2001) 654, 669. 13 S. dazu Drexl, FS Heldrich, S. 68: Hybride Normen.

428

Mathias Habersack/Christian Mayer

§ 15 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

2.

Die überschießende Umsetzung als Rechtsproblem

Setzt der nationale Gesetzgeber europäische Richtlinien überschießend um, so entstehen neben den mit der Umsetzung von Richtlinien allgemein verbundenen Fragen zwei spezifische Probleme: Zum einen ist fraglich, ob auch in Fällen, die außerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie liegen, aber von den der Richtlinienumsetzung dienenden Normen erfasst werden, eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 AEUV/234 EG) möglich und für letztinstanzliche Gerichte gar verpflichtend ist.14

3

Zum anderen ist zu überlegen, wie sich der hybride Charakter der nationalen Norm auf deren Auslegung auswirkt. Dabei versteht es sich von selbst, dass innerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie die nationale Norm richtlinienkonform auszulegen ist.15 Schwieriger zu entscheiden ist demgegenüber die Frage nach der richtigen Auslegungsmethode in den Fällen, die nicht von der Richtlinie erfasst werden: Folgt hier bereits aus europäischem Recht eine Pflicht zu einheitlicher und damit stets richtlinienkonformer Auslegung? 16 Zwingt das nationale Recht zu einheitlicher Auslegung der auf der Ebene des nationalen Rechts einheitlichen Norm17 oder ist die Auslegung der nationalen Norm in dem nicht richtliniendeterminierten Bereich von der richtlinienkonformen Auslegung innerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie zu unterscheiden und kommt im Einzelfall auch ein unterschiedliches Auslegungsergebnis und damit eine gespaltene Auslegung der nationalen Norm in Betracht?18

4

14 Dazu unten, Rn. 49 ff. 15 Allgemein zur richtlinienkonformen Auslegung W.-H. Roth, oben § 14 Rn. 3 ff. Zur Pflicht, eine hybride Norm (zumindest) im richtliniendeterminierten Bereich richtlinienkonform auszulegen, Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545 f. 16 Ausführlich Drexl, FS Heldrich, S. 81 ff. Ebenso MünchKommBGB-Ernst, vor § 275 BGB Rn. 23; W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 883 f.; ders., in: Grundmann/Medicus/Rolland (Hrsg.), Europäisches Kaufgewährleistungsrecht (2000), S. 119. So auch die Interpretation der Rechtsprechung des EuGH bei AnwaltKommBGB-Büdenbender, vor § 433 BGB Rn. 20; anders ders., ZEuP 2004, 36, 51 ff. 17 So für das Umwandlungsgesetz Lutter, GS Heinze, S. 575 ff., ebenso Lutter-Lutter, Umwandlungsgesetz (4. Auflage 2009), Einleitung Rn. 41. Anders aber noch Lutter-ders., Umwandlungsgesetz (2. Auflage 2000), Einleitung Rn. 30: Pflicht zu einheitlicher Auslegung ergebe sich aus europäischem Recht. 18 So schon Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 921; am Beispiel der Richtlinie über Haustürgeschäfte Habersack/Mayer, WM 2002, 253, 257 f.; vertiefend Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 548 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

5

II.

Tatbestand und europarechtliche Zulässigkeit der überschießenden Umsetzung

1.

Fallgruppen überschießender Umsetzung

Im deutschen Recht finden sich zahlreiche Beispiele überschießender Umsetzung von Richtlinien.19 Diese lassen sich im Anschluss an Drexl 20 in verschiedene Fallgruppen einordnen: Der Gesetzgeber kann mit den der Umsetzung dienenden Vorschriften über den sachlichen, den persönlichen oder den örtlichen Anwendungsbereich der Richtlinie hinausgehen. Um einen Fall der überschießenden Umsetzung – jedenfalls im weiteren Sinne – handelt es sich daneben auch dann, wenn der Gesetzgeber in zeitlicher Hinsicht den Richtlinienvorgaben zuvorkommt und etwa eine in der Richtlinie vorhandene Übergangsfrist nicht nutzt, sondern das der Umsetzung dienende nationale Recht unmittelbar in Kraft setzt.21 Konstellationen einer zeitlich überschießenden Umsetzung ist an dieser Stelle jedoch nicht weiter nachzugehen. Zum einen sind insoweit bei der Auslegung des nationalen Rechts zusätzlich und in erster Linie spezifische Fragen der zeitlichen Vorwirkung von Richtlinien zu beachten.22 Zum anderen stellen sich die Fragen einer zeitlichen Vorwirkung in der Praxis eher im Öffentlichen Recht als im Privatrecht.23 a)

6

Wohl am häufigsten ist die Konstellation anzutreffen, dass der persönliche Anwendungsbereich des zur Umsetzung dienenden nationalen Rechts weiter ist als der persönliche Anwendungsbereich der Richtlinie. aa)

7

Persönlicher Anwendungsbereich

Verbraucherschutz

So erfassen im Verbraucherschutzrecht, wie erwähnt, die Vorschriften der §§ 474 ff. BGB iVm § 13 BGB über den Verbrauchsgüterkauf auch Personen, die im Rahmen einer unselbständigen, aber beruflichen Tätigkeit handeln, während die Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf diesen Personenkreis nicht erfasst. Ganz ähnlich gilt das deutsche Verbraucherkreditrecht gem. § 507 BGB auch für Existenzgründer, obgleich diese von der Verbraucherkreditrichtlinie24 nicht erfasst werden,25 das Fern19 Umfassender Überblick bei Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 15 ff.; s. daneben Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 914 f. 20 Drexl, FS Heldrich, S. 70 ff. 21 Ein solcher Sachverhalt lag den Vorlagebeschlüssen des BVerwG zum Asylverfahrensrecht zugrunde, DVBl 2008, 1255. 22 S. dazu Hofmann, in diesem Band, § 16 Rn. 26–58. 23 S. neben der in Fn. 20 genanten Entscheidung Gödicke, WM 2008, 1621, 1624 m.w.N. 24 Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/66. 25 MünchKommBGB/Schürnbrand, § 507 BGB Rn. 1; Drexl, FS Heldrich, S. 71. Zur gleichfalls richtlinienüberschießenden Anwendung des Verbraucherkreditrechts auf nichtkommerzielle BGB-Gesellschaften eingehend Mülbert WM 2004, 905, 906 ff. und MünchKomBGB/ Schürnbrand, § 491 BGB Rn. 25 f.

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§ 15 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

absatzrecht nach § 312b BGB gilt für alle Verbraucher im Sinne von § 13 BGB, obschon die zugrunde liegenden Richtlinien auch hier nur Geschäfte erfassen, die keiner gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit des Vertragspartners zugerechnet werden können,26 und Teile des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, darunter namentlich das Transparenzgebot nach § 307 Abs. 1 S. 2 BGB, gelten für sämtliche Verträge, während die Europäische Richtlinie über missbräuchliche Klauseln27 nur auf Verbraucherverträge Anwendung findet. bb)

Handels-, Bilanz- und Gesellschaftsrecht

Ein im Vergleich zur Richtlinie erweiterter persönlicher Anwendungsbereich findet sich daneben häufig bei der Umsetzung handels-, gesellschafts- und bilanzrechtlicher Richtlinien. So gilt § 15 Abs. 3 HGB für sämtliche Kaufleute, während die Publizitätsrichtlinie28 nur auf Kapitalgesellschaften Anwendung findet. Die Verschmelzungs-29 und die Spaltungsrichtlinie30 gelten nur für Aktiengesellschaften, sie wurden vom deutschen Gesetzgeber jedoch nur zum Teil durch die gleichfalls nur für Aktiengesellschaften geltenden §§ 60 bis 77 und §§ 141 bis 146 UmwG, zum Teil aber auch durch die auf verschiedene Gesellschaftsformen anwendbaren allgemeinen Vorschriften der §§ 2 bis 38 UmwG betreffend die Verschmelzung und der §§ 123 bis 137 UmwG betreffend die Spaltung umgesetzt.31 In diesem Zusammenhang ist schließlich die Umsetzung der bilanzrechtlichen Richtlinien32 zu nennen. Die Richtlinien verlangen Geltung nur für Kapitalgesellschaften und atypische Personenhandelsgesellschaften. Dementsprechend erfolgte die Umsetzung in das deutsche Recht durch die diesen Gesellschaften vorbehaltenen §§ 264 ff. HGB. Daneben wurden wesentliche Bestimmungen der Richtlinie über den Jahresabschluss aber auch durch die allgemeinen, für sämtliche rechnungslegungspflichtige Unternehmen geltenden Vorschriften der §§ 238 bis 263 HGB umgesetzt. 26 Bamberger/Roth-Schmidt-Räntsch, § 13 BGB Rn. 4 und § 312b BGB Rn. 13. 27 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29. 28 Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates v. 9.3.1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Abs. 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1968 L 65/8 (Publizitätsrichtlinie). Zu ihr Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 5 Rn. 1 ff., zu Problemen durch die überschießende Umsetzung dort Rn. 115 f. 29 Dritte Richtlinie 78/855/EWG des Rates v. 9.10.1978 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages betreffend die Verschmelzung von Aktiengesellschaften, ABl. 1978 L 295/36. 30 Sechste Richtlinie 82/891/EWG des Rates v. 17.12.1982 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages betreffend die Spaltung von Aktiengesellschaften, ABl. 1982 L 378/47. 31 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 914 f.; Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 7 Rn. 3 ff. 32 Vierte Richtlinie 78/660/EWG des Rates v. 25.7.1978 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, ABl. 1978 L 222/11 (Jahresabschlussrichtlinie); Siebente Richtlinie 83/349/EWG des Rates v. 13.6.1983 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den konsolidierten Abschluss, ABl. 1983 L 193/1 (Richtlinie über den konsolidierten Abschluss). Mathias Habersack/Christian Mayer

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cc)

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Einen weiteren und für die Wirtschaftspraxis besonders bedeutenden Fall der überschießenden Umsetzung infolge eines gegenüber der Richtlinie erweiterten persönlichen Anwendungsbereichs stellt das Gesetz über unlautere Geschäftspraktiken dar.33 Denn während die Europäische Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken34 nur Verbraucher schützen soll und dementsprechend nur im Verhältnis zwischen Unternehmer und Verbraucher gilt,35 dient das deutsche Lauterkeitsrecht auch dem Schutz anderer Unternehmer; es gilt daher mit Ausnahme von § 3 Abs. 2 und Abs. 3 UWG auch im Verhältnis zwischen Unternehmern. Dabei ist für den Charakter als überschießende Umsetzung unerheblich, dass das deutsche Lauterkeitsrecht längst vor Verabschiedung und Inkrafttreten der Richtlinie bestand.36 b)

10

Lauterkeitsrecht

Sachlicher Anwendungsbereich

Beispiele für überschießende Umsetzung infolge eines gegenüber der Richtlinie erweiterten sachlichen Anwendungsbereiches der zur Umsetzung dienenden nationalen Norm finden sich im Verbraucherschutz-, im Handels- und – mit Einschränkungen – im Steuerrecht. Zu dieser Fallgruppe zählt die bereits angesprochene Umsetzung der Haustürgeschäfterichtlinie durch die §§ 312 f., 355 ff. BGB. Soweit das deutsche Haustürwiderrufsrecht auch auf Verträge anwendbar ist, die nicht in der Haustürsituation abgeschlossen, aber durch eine Haustürsituation mitveranlasst wurden, geht der sachliche Anwendungsbereich des deutschen Haustürwiderrufsrechts über denjenigen der Haustürgeschäfterichtlinie hinaus. Ebenso wird die gleichfalls bereits als Beispiel einer Erweiterung des persönlichen Anwendungsbereichs vorgestellte Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf auch in Bezug auf den sachlichen Anwendungsbereich überschießend umgesetzt, soweit diese Richtlinie durch allgemeines Kaufrecht und durch das allgemeine Leistungsstörungsrecht umgesetzt wird (Rn. 1). Auch der Anwendungsbereich des in §§ 651a ff. BGB geregelten deutschen Reisevertragsrechts geht über denjenigen der Pauschalreiserichtlinie zumindest insofern hinaus, als das deutsche Reisevertragsrecht, anders als die Richtlinie, nach § 651 Abs. 1 BGB

33 Drexl, FS Heldrich, S. 72. 34 Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.5.2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. 2005 L 149/22. 35 Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie; dazu Drexl, FS Heldrich, S. 72; Hefermehl/Köhler/BornkammKöhler, UWG (27. Aufl. 2009), Einl. UWG Rn. 3.57. Die Bundesrepublik Deutschland hatte sich für eine Geltung der Richtlinie auch im Wirtschaftsverkehr zwischen Unternehmen ausgesprochen, konnte sich aber mit dieser Position im Rat nicht durchsetzen. 36 Dazu, dass auch älteres mitgliedstaatliches Recht der Umsetzung von Richtlinien dienen und der richtlinienkonformen Auslegung unterfallen kann, W.-H. Roth, in diesem Band, § 14 Rn. 15 f.

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§ 15 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

grundsätzlich auch Gastschulaufenthalte erfasst.37 Zu nennen ist des Weiteren auch hier § 15 Abs. 3 HGB, der nicht nur, wie beschrieben, durch die Einbeziehung auch derjenigen Kaufleute, die keine Kapitalgesellschaft sind, über den persönlichen Anwendungsbereich der Publizitätsrichtlinie hinausgeht,38 sondern auch in seinem sachlichen Anwendungsbereich von der Richtlinie abweicht, indem er nicht nur den seltenen, aber in der Richtlinie allein geregelten Fall einer Divergenz von richtiger Eintragung und unrichtiger Bekanntmachung, sondern auch den praktisch wesentlich bedeutsameren Fall erfasst, dass Eintragung und Bekanntmachung unrichtig sind.39 Ein weiterer, für die Rechtspraxis besonders bedeutsamer und bereits in der Vergangenheit viel diskutierter40 Fall überschießender Umsetzung durch erweiterten sachlichen Anwendungsbereich ergibt sich, wenn man die Vorschriften des Handelsgesetzbuchs, welche die Bilanzrichtlinie umsetzen, über den Maßgeblichkeitsgrundsatz des § 5 Abs. 1 EStG auch zur Ermittlung der Steuerbilanz heranzieht. Allerdings wird die Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes und damit die Intensität der Verknüpfung von Handels- und Steuerbilanz in letzter Zeit zunehmend in Frage gestellt und auch durch gesetzliche Maßnahmen relativiert,41 so dass die Probleme der mittelbaren Richtlinienwirkung bei überschießender Umsetzung insoweit durch die Frage nach der Bedeutung des der Richtlinienumsetzung dienenden nationalen Rechts für die Steuerbilanz als Sachverhalt außerhalb des sachlichen Anwendungsbereichs der Bilanzrichtlinie und damit durch die Frage, ob und inwieweit eine überschießende Umsetzung aus der Perspektive des nationalen Rechts überhaupt vorliegt, zusätzlich erschwert werden. Denn soweit die Steuerbilanz eigenen Regeln unterliegt und nicht mit Rückgriff auf die handelsrechtlichen Grundsätze zu bilden ist, stellt sich auch die Frage nach einer mittelbaren Bedeutung der Bilanzrichtlinie nicht. c)

11

Örtlicher Anwendungsbereich

Die Probleme der überschießenden Umsetzung stellen sich schließlich auch dann, wenn der nationale Gesetzgeber hinsichtlich des örtlichen Anwendungsbereichs über die Vorgaben der Richtlinie hinausgeht. So gelten Richtlinien bisweilen lediglich für grenzüberschreitende Sachverhalte, während der nationale Gesetzgeber zur Vermeidung einer Inländerdiskriminierung42 eine Anwendung der die Richtlinie umsetzenden Vorschriften auch auf rein innerstaatliche Sachverhalte vorsehen kann. Aus dem Bereich des deutschen Privatrechts sind hier die – am 31. Oktober 2009 allerdings

37 S. § 651 Abs. 1 BGB und zu dessen Charakter als überschießende Umsetzung Pohar/Sendmeyer, RRa 2004, 247, 250 sowie Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 171. 38 Dazu oben Rn. 8. 39 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 915. 40 Herlinghaus, IStR 1997, 529, 535 ff.; Hennrichs, ZGR 1997, 66, 68 ff., jeweils mwN. 41 Dazu statt vieler Tipke/Lang-Lang, Steuerrecht (20. Aufl. 2010), § 17 Rn. 40 ff.; zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Modernisierung des Bilanzrechts vom 28.5.2009, BGBl. 2009 I, 1102, auf das Bilanzsteuerrecht s. Dörfler/Adrian, DB 2009, Sonderbeilage Nr. 5, S. 58 ff. 42 S. zu den hiervon erfassten Sachverhalten Schwarze-Holoubek, Art. 12 EG Rn. 33. Mathias Habersack/Christian Mayer

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außer Kraft getretenen43 – Vorschriften des Überweisungsrechts (§§ 676a ff. BGB a.F.) zu nennen; durch sie war die nur für grenzüberschreitende Überweisungen geltende Überweisungsrichtlinie44 umgesetzt worden, allerdings mit der Maßgabe, dass die nationalen Vorschriften auch auf inländische Überweisungen Anwendung fanden.45 2.

13

Die hier aufgegriffene Problematik von Auslegung und Rechtsweg bei überschießender Umsetzung von Richtlinien ist gegenüber drei mit ihr eng verwandten, aber nicht identischen Konstellationen abzugrenzen. a)

14

Abgrenzung der überschießenden Umsetzung gegenüber verwandten Konstellationen

Inhaltliche Übererfüllung von Richtlinien

Zu unterscheiden ist die überschießende Umsetzung von Richtlinien zunächst von der inhaltlichen Übererfüllung. Eine inhaltliche Übererfüllung ist gegeben, wenn der nationale Gesetzgeber über den von der Richtlinie vorgegebenen Regelungsauftrag hinausgeht, ohne dabei den Anwendungsbereich des nationalen Rechts gegenüber der Richtlinie zu erweitern.46 Ein Beispiel für die inhaltliche Übererfüllung fand sich im Verbraucherdarlehensrecht: Nach § 495 Abs. 1 BGB kann der Verbraucher den Verbraucherdarlehensvertrag widerrufen, während die alte Verbraucherkreditrichtlinie, deren Umsetzung die §§ 492 ff. BGB dienen, ein Lösungsrecht des Verbrauchers nicht

43 Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie, des zivilrechtlichen Teils der Zahlunsdiensterichtlinie sowie der Neuordnung der Vorschriften über das Widerrufs- und Rückgaberecht v. 29.7.2009, BGBl. 2009 I, 2355; zum neuen Recht der Zahlungsdienste s. Derlederer, NJW 2009, 3195. 44 Richtlinie 97/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.1.1997 über grenzüberschreitende Überweisungen, ABl. 1997 L 43/25. 45 MünchKommBGB-Casper, vor § 676a BGB Rn. 14; Drexl, FS Heldrich, S. 73, siehe auch dort Fn. 39 zum erweiterten sachlichen Anwendungsbereich des deutschen Überweisungsrechts. 46 S. bereits Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 914 und Mayer/Schürnbrand JZ 2004, 545. Im Grundsatz ebenso Drexl, FS Heldrich, S.73. Abgrenzung beider Fallgruppen auch bei Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 11 ff. Dessen Einschätzung, der Begriff der überschießenden Umsetzung umfasse auch die inhaltliche Übererfüllung, ist freilich unzutreffend, siehe zur Begrenzung der überschießenden Umsetzung auf Fälle, in denen der Anwendungsbereich der nationalen Norm über den Anwendungsbereich der Richtlinie hinausgeht, schon Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 914. Dementsprechend geht auch die an die eigene unzutreffende Inhaltsbestimmung anknüpfende Kritik Brandners, a.a.O., am Begriff der überschießenden Umsetzung ins Leere. Demgegenüber unterscheiden Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, S. 55 ff., Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 22 und Riehm, JZ 2006, 1035, 1036 f. zwischen Gegenstandsbereich und Harmonisierungsintensität, ordnen aber ein Abweichen des nationalen Gesetzgebers in beiden Fällen der überschießenden Umsetzung zu. Ähnlich sprechen Burmeister/Staebe, EuR 2009, 444, 445 bei inhaltlicher Übererfüllung von „echtem“, bei – im hier verwendeten Sinne – überschießender Umsetzung hingegen von „unechtem“ Gold-Plating.

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§ 15 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

vorsieht.47 Von der überschießenden Umsetzung unterscheidet sich die inhaltliche Übererfüllung der Richtlinie insofern, als das die Richtlinie übererfüllende nationale Recht innerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie liegt. Zumindest soweit ein Rechtsstreit, wie regelmäßig, nicht allein auf die übererfüllende Rechtsfolge gründet, ist bei Fragen zur Auslegung der Richtlinie eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof möglich und für letztinstanzliche Gerichte verpflichtend. Soweit es sich hingegen um Auslegungsfragen handelt, die allein den über die Richtlinie hinausgehenden Teil der nationalen Regelung betreffen, stellt sich die Frage des Einflusses des europäischen Rechts und der Möglichkeit der Vorlage an den EuGH schon deshalb nicht, weil die Richtlinie zu diesen Fragen naturgemäß nichts beitragen kann. Nicht zuletzt deshalb sollte der Begriff der überschießenden Umsetzung den Konstellationen vorbehalten bleiben, in denen das der Richtlinienumsetzung dienende nationale Recht infolge eines über die Richtlinie hinausgehenden Anwendungsbereiches des nationalen Rechts Fälle erfasst, die von der Richtlinie nicht erfasst werden. Der überschießenden Umsetzung gemeinsam ist den Fällen der inhaltlichen Übererfüllung hingegen die unten aufzugreifende Frage, ob ein von der Richtlinie in ihrer Auslegung durch den EuGH vorgegebenes Regelungsziel, welches im nationalen Recht innerhalb des durch die Richtlinie erfassten Bereiches durch richtlinienkonforme Auslegung erreicht werden kann und muss, auch in dem von der Richtlinie nicht erfassten Bereich ausschlaggebend zu berücksichtigen ist und ob in diesen Fällen die Möglichkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens und für letztinstanzliche Gerichte eine Vorlagepflicht besteht. b)

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Fakultative Umsetzung, opt-out

Zu unterscheiden ist die überschießende Umsetzung wie auch die allein auf nationalem Recht beruhende inhaltliche Übererfüllung von Richtlinien von denjenigen Fällen, in denen der nationale Gesetzgeber eine Richtlinienvorgabe umsetzt, obgleich er infolge eines in der Richtlinie selbst vorgesehenen Rechts zum opt-out hierzu nicht verpflichtet ist.48 Macht der Mitgliedstaat von der Möglichkeit des opt-out in der dafür ggf. vorgesehenen Weise49 Gebrauch, so gilt insoweit die Vorgabe der Richtlinie einschließlich der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung für diesen Mit-

47 Anders hingegen Art. 14 der Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/ EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/66; zur Umsetzung durch das – insoweit am 11.6.2010 in Kraft getretene – Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie, des zivilrechtlichen Teils der Zahlungsdiensterichtlinie sowie der Neuordnung der Vorschriften über das Widerrufs- und Rückgaberecht v. 29.7.2009, BGBl. 2009 I, 2355, s. Franck/Massari, WM 2009, 1117. 48 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 547 f.; dort auch zur Frage eines teilweisen opt-out. 49 S. dazu, dass ein Recht zum opt-out häufig, aber nicht immer, von einer Pflicht zur Notifizierung gegenüber der Kommission begleitet wird Prechal, Directives in European Community Law (1995), S. 51 f.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

gliedstaat nicht, während die Richtlinie andernfalls insgesamt, also einschließlich der „fakultativen“ Regelungen, schon kraft europäischen Rechts zu beachten ist.50 c)

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Zu unterscheiden ist der hier im Vordergrund stehende Fall einer nationalen Norm, die zugleich der Umsetzung einer Richtlinie und der Regelung von in der Richtlinie nicht erfassten Konstellationen dient, schließlich von dem Fall, dass der nationale Gesetzgeber zwei textgleiche Normen schafft, von denen die eine der Umsetzung einer Richtlinie dient, während die andere rein nationale oder in einer anderen Richtlinie geregelte Sachverhalte regelt. Als Beispiel hierfür mag die Zurechnung von Stimmrechten nach dem die Transparenzrichtlinie umsetzenden § 22 WpHG einerseits und nach der textgleichen und in Teilen die Übernahmerichtlinie umsetzenden Zurechnungsnorm des § 30 WpÜG andererseits dienen.51 Zwar könnte man auch hier angesichts des übereinstimmenden Wortlauts von – im weiteren Sinne – überschießender Umsetzung sprechen,52 doch stellt sich insoweit die Frage nach der Zulässigkeit der Normspaltung und einer europarechtlichen Pflicht zu einheitlicher Auslegung nicht in gleicher Schärfe.53 3.

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Textgleiche Normen

Zur europarechtlichen Zulässigkeit von überschießender Umsetzung und inhaltlicher Übererfüllung von Richtlinien

Bevor anschließend die Auslegung des nationalen Rechts und damit das Kernproblem überschießender Umsetzung in den Blick genommen werden soll, ist zu klären, ob die überschießende Umsetzung als solche mit dem europäischen Recht vereinbar ist. Hierbei gilt es zweifach zu differenzieren: Zum einen sind für die Frage nach der generellen Zulässigkeit überschießender Umsetzung die Fälle einer unrichtigen Umsetzung und die daran anschließende Frage, wie eine fehlerhafte Umsetzung durch richtlinienkonforme Auslegung beseitigt werden kann, außer Betracht zu lassen. Stattdessen ist zunächst die vorgelagerte Frage zu beantworten, ob schon eine inhaltlich fehlerfreie, aber überschießende Umsetzung europarechtlichen Bedenken begegnet. Zum zweiten ist die bereits oben aufgezeigte Differenzierung zwischen überschießender Umsetzung und inhaltlicher Übererfüllung zu beachten.

50 So im Ergebnis auch EuGH v. 25.4.2002 – Rs. C-52/00 Kommission ./. Frankreich, Slg. 2002, I-3827 Rn. 47: Art. 15 der Richtlinie 85/374/EWG erlaubt zwar, die in Art. 7 lit. e) der Richtlinie vorgesehene Haftungsfreistellung insgesamt auszuschließen, ein Mitgliedsstaat handelt aber richtlinienwidrig, wenn er die Haftungsfreistellung von weiteren Voraussetzungen abhängig macht. 51 S. einerseits Art. 7 und 8 der Transparenzrichtlinie I v. 12.12.1988, ABl. 1988 L 348/62, und sodann Art. 9 ff. der Transparenzrichtlinie II v. 15.12.2004, ABl. 2004 L 390/38; andererseits Art. 5 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 lit. d) und Abs. 2 der Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 betreffend Übernahmeangebote, ABl. 2004 L 142/12; zur Problematik des vom nationalen Gesetzgeber gewollten Gleichlaufs zwischen beiden Vorschriften s. Habersack, FS H.P. Westermann (2008), S. 913, 928 ff. 52 So denn auch Franck, BKR 2002, 709, 712 f. 53 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 548.

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§ 15 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

Auszugehen ist hierbei von dem in Art. 288 AEUV/249 EG niedergelegten Grundsatz, dass sich Richtlinien an die Mitgliedsstaaten wenden und dass sie nur hinsichtlich ihres Ziels verbindlich sind, die Wahl von Form und Mittel zum Erreichen dieses Ziels aber den innerstaatlichen Stellen überlassen. Richtlinien sind zwar Mittel zur Erzwingung und Absicherung mitgliedstaatlicher Rechtsetzung, sie dienen dabei aber zugleich der Integration unter Schonung mitgliedstaatlicher Entscheidungsspielräume und nationaler Regelungsstrukturen, indem es grundsätzlich den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, wie die von der Richtlinie vorgegebenen Ziele durch nationales Recht erreicht werden.54 Der Richtlinie selbst lässt sich daher keine Vorgabe hinsichtlich der Form ihrer (verbindlichen) Umsetzung entnehmen; auch enthält das Gemeinschaftsrecht keine Pflicht, jede Richtlinie für sich durch ein eigenes nationales Gesetz umzusetzen. Ist somit die Form der überschießenden Umsetzung als solche keinen Bedenken ausgesetzt, so ist weiter zu prüfen, ob eine überschießende Umsetzung aus inhaltlichen Gründen gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen kann. Diesbezüglich ist zwischen inhaltlicher Übererfüllung und überschießender Umsetzung zu unterscheiden.

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Inhaltliche Übererfüllung stellt eine strengere nationale Rechtsfolge innerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie dar. Wird aber der Anwendungsbereich der Richtlinie nicht verlassen, so folgt daraus ohne weiteres, dass auch die Frage, ob die strengere nationale Regelung zulässig ist, mit Blick auf das Gemeinschaftsrecht beantwortet werden muss. Eine inhaltliche Übererfüllung ist daher nur dann zulässig, wenn die Richtlinie und das sonstige Gemeinschaftsrecht die von der Richtlinie erfassten Sachverhalte nicht abschließend regeln. In diesem Bereich ist daher die bisweilen schwierige Frage zu beantworten, ob das europäische Recht eine Vollharmonisierung anstrebt und damit weitergehendes nationales Recht ausschließt, oder ob es lediglich eine Mindestharmonisierung begründet und strengeres nationales Recht zulässt.

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Demgegenüber erfolgt durch die überschießende Umsetzung eine Erstreckung des Regelungsplans der Richtlinie auf Sachverhalte, die nicht im Anwendungsbereich der Richtlinie liegen. Steht aber fest, dass die von der nationalen Regelung betroffenen Konstellationen von der Richtlinie gar nicht erfasst werden, so ist die nationale Regelung auch aus der Perspektive des Europarechts grundsätzlich zulässig, ohne dass es darauf ankäme, ob die Richtlinie innerhalb ihres Anwendungsbereiches eine Mindest- oder eine Vollharmonisierung vorgibt. Auch die in jüngerer Zeit zunehmenden Fälle vollharmonisierender Richtlinien im Bereich des Wirtschaftsrechts55 können da-

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54 S. dazu statt aller Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EGV Rn. 124, 130 ff. 55 So etwa die Richtlinie 2002/65/EG über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen v. 23.9. 2002, und die Richtlinie 2005/29/EG über missbräuchliche Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr gegenüber Verbrauchern v. 1.5.2005. S. zum vollharmonisierenden Charakter der Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen Mülbert, WM 2004, 905, 909, zum vollharmonisierenden Charakter der UGP-Richtlinie deren BE 6 und dazu Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig-Keller, UWG (2. Aufl. 2009), Einl. A Rn. 19; Hefermehl/Köhler/Bornkamm-Köhler, UWG (27. Aufl. 2009), Einl. UWG Rn. 3.56. Zur Vollharmonisierung im Gesellschaftsrecht Schürnbrand, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht (2010), S. 273 ff. Mathias Habersack/Christian Mayer

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2. Teil: Allgemeiner Teil

her in dem hier verstandenen Sinne überschießend umgesetzt werden.56 Sollte eine Richtlinie demgegenüber bestimmte sachliche Regelungen ausdrücklich spezifischen Konstellationen vorbehalten und die gleiche Regelung damit für einzelne oder auch alle anderen Konstellationen verbieten, so würde bereits der Anwendungsbereich dieser Richtlinie notwendig auch die von ihr negativ geregelten Fälle umfassen.57 Die nationale Erstreckung einer Regelung, die von dieser Richtlinie spezifischen Konstellationen vorbehalten ist, auf andere Sachverhalte stellt dann keinen Fall einer überschießenden, sondern einen Fall der inhaltlich fehlerhaften Richtlinienumsetzung dar. Diesem ist mit dem hierfür vorgesehenen Instrumentarium – richtlinienkonforme Auslegung und richtlinienkonforme Rechtsfortbildung, ggf. unmittelbare Anwendung der Richtlinie, Vertragsverletzungsverfahren und Haftung des Staates für fehlerhafte Umsetzung – zu begegnen.

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All dies schließt freilich nicht aus, dass die überschießende Umsetzung im Einzelfall aus anderen Gründen des Gemeinschaftsrechts, beispielsweise wegen einer damit verbundenen Beschränkung einer Grundfreiheit oder eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot, europarechtswidrig ist; insofern unterscheidet sich die überschießende Umsetzung jedoch nicht von jeder anderen nationalen Rechtsetzung.

III. Die Auslegung des nationalen Rechts 1.

23

Problemstellung

Im Folgenden ist die Frage zu untersuchen, ob und inwieweit in Fällen überschießender Umsetzung die Richtlinie Maßstab für die Auslegung des nationalen Rechts ist. Praktische Bedeutung erlangt diese Frage in den Fällen, in denen das aus rein nationaler Sicht zutreffende Auslegungsergebnis mit den Anforderungen des europäischen Rechts nicht übereinstimmt, die Diskrepanz von europarechtlicher Vorgabe und nationaler Umsetzung aber durch europarechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts beseitigt werden kann.58 Zur Verdeutlichung des Problems sei hier auf das

56 Wie hier zum Lauterkeitsrecht Drexl, FS Heldrich, S. 76; zur Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen Bamberger/Roth-Schmidt-Räntsch, § 13 BGB Rn. 4; s. auch Lutter, GS Heinze, S. 572 f.: Eine solche Erweiterung „stört das europäische Recht in aller Regel nicht“; ferner Riehm, JZ 2006, 1035, 1037 f.; dezidiert a.A. zur Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen Hoffmann, WM 2006, 560, 562; skeptisch auch v. Danwitz, JZ 2006, 1, 7 f. 57 Soweit erkennbar enthält indes keine Richtlinie im Bereich des Privatrechts einen so umfassenden Anwendungsbereich; in einem solchen Fall wären zudem die Kompetenz der Gemeinschaft zum Erlass einer so weitgehenden Regelung und deren Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsgrundsatz sorgfältig zu prüfen. Vgl. dazu aber auch Hoffmann, WM 2006, 560, 562, der einen entsprechend weiten Anwendungsbereich der Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen annimmt und deshalb für eine gespalten-einschränkende Auslegung von § 13 BGB plädiert; dagegen Bamberger/Roth-Schmidt-Räntsch, § 13 BGB Rn. 4. 58 Für eine ausdrückliche Divergenzprüfung daher Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 155 („dreistufige Rechtsanwendung“); in aller Regel wird es sich freilich eher um einen allgemeinen Abwägungsprozess handeln.

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§ 15 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

Erfordernis einer Fristsetzung vor Rücktritt des Gläubigers bei Nicht- oder nicht vertragsgemäßer Erfüllung durch den Schuldner hingewiesen.59 Nach § 323 Abs. 1 BGB ist ein Rücktritt nur möglich, wenn der Gläubiger dem Schuldner zuvor erfolglos eine angemessene Frist zur Leistung oder Nacherfüllung bestimmt hat. Diese Norm gilt vorbehaltlich der in §§ 323 Abs. 2, 440 BGB vorgesehenen Ausnahmen für alle gegenseitigen Verträge und damit, wie die §§ 437 Nr. 2, 440 BGB ausdrücklich klarstellen, auch für das Rücktrittsrecht des Käufers bei Lieferung einer mangelhaften Sache. Demgegenüber soll der Käufer einer mangelhaften Sache nach Art. 3 Abs. 5 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie sich bereits dann von dem Vertrag lösen können, „wenn der Verkäufer nicht innerhalb einer angemessenen Frist Abhilfe geschaffen hat.“ Hieraus wird überwiegend geschlossen, dass nach der Richtlinie Voraussetzung des Rücktritts allein der Ablauf einer angemessenen Frist, nicht aber deren förmliche Setzung durch den Gläubiger ist.60 Folgt man dem und geht man weiter davon aus, dass das deutsche Recht einer richtlinienkonformen Auslegung zugänglich ist,61 so stellt sich die hier interessierende Folgefrage, ob eine solche Auslegung auf die von der Richtlinie erfassten Fälle und damit auf Kaufverträge über bewegliche Sachen zwischen Unternehmern und Verbrauchern im engen Sinne der Richtlinie zu beschränken ist oder ob eine Erstreckung auf alle Fälle des Verbrauchsgüterkaufs im Sinne der §§ 474 ff. BGB, auf alle Kaufverträge oder gar auf alle gegenseitigen Verträge veranlasst ist. Dieser Konflikt ist zwar durch die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs insoweit wesentlich entschärft worden, als danach bereits eine unzweideutige Aufforderung zur sofortigen Nacherfüllung eine angemessene Frist in Gang setzt und damit dem Fristsetzungserfordernis genügt.62 Die Frage bleibt aber für das Verständnis der überschießenden Umsetzung und der damit verbundenen Probleme lehrreich, zumal zwischen nationalem Kaufrecht und Kaufrichtlinie auch darüber hinaus potentielle Konflikte bestehen, die im Wege der richtlinienkonformen Auslegung aufzulösen sind und bei denen sich daher die Folgefrage einer einheitlichen oder einer gespaltenen Auslgung des nationalen Recht stellt.63

59 Dazu und zum Folgenden Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 546. 60 Ernst/Gsell, ZIP 2000, 1410, 1418; ebenso Canaris, Schuldrechtsmodernisierung 2002 (2002), S. XXIII; AnwaltKomm-Dauner-Lieb, § 323 BGB Rn. 20; MünchKommBGB-Ernst, § 323 BGB Rn. 248; Bamberger/Roth-Faust, BGB, § 437 BGB Rn. 17 f.; Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 160; Tröger, ZEuP 2003, 525, 535. 61 Die Begründung des Gesetzesentwurfs des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes schlägt für diesen – aus Sicht des von Richtlinienkonformität ausgehenden Gesetzgebers: hypothetischen – Fall eine erweiternde Auslegung des § 440 BGB vor, BT-Drs. 14/6040, S. 222. Richtig erscheint demgegenüber eine erweiternde Auslegung des § 323 Abs. 2 Nr. 3 BGB, so Bamberger/Roth-Faust, § 437 BGB Rn. 18 und MünchKommBGB-Ernst, § 323 BGB Rn. 248. Für teleologische Reduktion der Rücktrittsvoraussetzungen Canaris, JZ 2001, 499, 510; ders., Schuldrechtsmodernisierung 2002 (2002), S. XXIV sowie Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 160. 62 BGH, NJW 2009, 3153. 63 S. neben den sogleich (Rn. 23a) anzusprechenden Entscheidungen in Sachen „Quelle“ etwa den Vorlagebeschluss des BGH zur Nacherfüllungspflicht bei unverhältnismäßigen (Ausbau-)Kosten, NJW 2009, 1660.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

23a

Einen wichtigen Anwendungsfall für das Zusammenspiel von überschießender Umsetzung und Zwang zur richtlinienkonformen Auslegung bildet denn auch die – zum Kaufrecht ergangene – Quelle-Entscheidung des VIII. Zivilsenats des BGH. In ihr ging es um die Frage eines Rechts des Verkäufers zur Geltendmachung von Nutzungsersatz in Fällen, in denen es zur Nacherfüllung eines Kaufvertrages durch Nachlieferung einer neuen Kaufsache kommt und der Käufer zuvor die zunächst gelieferte – mangelhafte – Kaufsache nutzen konnte und auch tatsächlich genutzt hat. Das BGB bestimmt diesbezüglich in § 439 Abs. 4 BGB, dass der Verkäufer bei Nacherfüllung durch Lieferung einer mangelfreien Sache von dem Käufer die Rückgewähr der mangelhaften Sache nach den §§ 346 bis 348 verlangen kann. Die damit in Bezug genommenen Vorschriften der §§ 346 Abs. 1, 347 Abs. 1 BGB verpflichten ausdrücklich zur Herausgabe gezogener Nutzungen bzw. zur Zahlung von Nutzungsersatz. Demgegenüber verlangt die Richtlinie über den Verbauchsgüterkauf in ihrem Art. 3 ausdrücklich, dass dem Käufer bei vertragswidriger Kaufsache eine Nacherfüllung unentgeltlich zusteht. Demgemäß hat der EuGH auf Vorlage des BGH entschieden, dass Art. 3 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie einer nationalen Vorschrift, die den Käufer verpflichtet, im Falle der Nacherfüllung durch Nachlieferung für die Zeit zwischen Kaufabschluss und Nachlieferung Nutzungsersatz zu zahlen, entgegensteht.64 Für den Bundesgerichtshof hat sich daraufhin zunächst die Frage gestellt, ob das deutsche Recht insoweit einer richtlinienkonformen Auslegung überhaupt zugänglich ist;65 bejahendenfalls war über die Folgefrage zu entscheiden, ob sich die richtlinienkonforme Auslegung auf die von der Richtlinie erfassten Fälle des Verbrauchsgüterkaufs beschränkt oder darüber hinaus für die Fälle des Verbauchsgüterkaufs nach deutschem Recht oder gar für sämtlich Kaufverträge Geltung beansprucht. Darauf ist in Rn. 36a, 38 f. zurückzukommen.

23b

Bereits zuvor hatte sich der XI. Zivilsenat des BGH in der Rechtssache Heininger zur richtlinienkonformen Auslegung der – ihrerseits überschießenden Charakter aufweisenden – Vorschriften über Haustürgeschäfte zu äußern. Zu entscheiden war über die Frage, ob dem Verbraucher nach der Haustürgeschäfterichtlinie (Rn. 1) das Recht zum Widerruf eines Realkreditvertrags zusteht, obgleich ein solcher Kreditvertrag zwar Teilen der alten Verbraucherkreditrichtlinie (Rn. 14) unterlag, diese indes kein Widerrufsrecht vorsah.66 Nachdem der EuGH die Anwendbarkeit der Haustürgeschäfterichtlinie – und damit die mitgliedstaatliche Pflicht zur Gewährung eines Widerrufsrechts – bejaht hatte,67 sah sich der Bundesgerichtshof veranlasst, entgegen der bis dahin herrschenden und auch zunächst von ihm geteilten Meinung68 § 5 Abs. 2 HWiG a.F. richtlinienkonform einschränkend auszulegen und hierdurch den Anwen-

64 EuGH v. 17.4.2008, Rs. C-404/06 – Quelle, Slg. 2008, I-2685 Rn. 33 f., 36, 43. 65 Zu Recht krit. Schürnbrand, JZ 2007, 910, 915, 917; für Möglichkeit richtlinienkonformer Auslegung sodann aber BGHZ 179, 27 Rn. 19 ff. 66 Die neue Verbraucherkreditrichtlinie (Fn. 47) sieht nun zwar ein Widerrufsrecht vor, nimmt aber in ihrem Art. 2 Abs. 2 lit. a) grundpfandrechtlich gesicherte Kredite von ihrem Anwendungsbereich aus. 67 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Rn. 33. 68 BGH, NJW 2000, 521, 523 mit zahlreichen Nachweisen auch zur Gegenmeinung.

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§ 15 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

dungsbereich des Haustür-Widerrufsrechts zu eröffnen.69 Dabei hat sich der Bundesgerichtshof auf den Willen des Gesetzgebers zur einheitlichen Anwendung des Haustürwiderrufsgesetzes auf die von der Richtlinie erfassten Fälle des Vertragsschlusses an der Haustür und die – vom Haustürwiderrufsgesetz darüber hinaus erfassten – Fälle der bloßen Mitveranlassung des Vertrages durch eine Haustürsituation berufen.70 2.

Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus Gemeinschaftsrecht?

Bisweilen wird vertreten, eine Pflicht zur einheitlichen Auslegung des nationalen Rechts folge schon aus dem Gemeinschaftsrecht selbst, so dass hybride Normen innerhalb und außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie gleich und damit stets richtlinienkonform ausgelegt werden müssten.71 Zur Begründung dieser These wird zumeist auf die Rechtsprechung des EuGH in den Rechtssachen Leur-Bloem72 und Giloy73 verwiesen und angeführt, der EuGH habe in diesen Entscheidungen ein klares Interesse der Gemeinschaft an einheitlicher Auslegung konstatiert und damit eine europarechtlich fundierte Pflicht zu einheitlicher Auslegung begründet. Ergänzend hat Drexl den Versuch unternommen, die Rechtsprechung des EuGH zur Auslegung von Vorschriften des TRIPS-Abkommens zum Schutz des geistigen Eigentums auch für das Problem der überschießenden Umsetzung von Richtlinien fruchtbar zu machen.74 a)

24

Unmittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung auch im Überschussbereich?

Eine unmittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung (auch) im Überschussbereich setzte voraus, dass die der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung zugrundeliegenden Mechanismen auf die nationale Norm auch insoweit Anwendung finden, als die nationale Norm über den Anwendungsbereich 69 BGHZ 150, 248, 253 ff.; BGH, NJW 2003, 199 f.; zust. Frisch, BKR 2002, 84, 85; Hoffmann, ZIP 2002, 145; Pfeiffer, EWiR 2002, 261; Staudinger, NJW 2002, 653, 655. Die besseren Argumente sprachen indes dafür, dass § 5 Abs. 2 HWiG einer solchen richtlinienkonformen Auslegung nicht zugänglich war, so vor Erlass der Entscheidung Edelmann, BKR 2002, 80, 82; Habersack/Mayer, WM 2002, 253, 256 f.; v. Heymann/Annertzok, BKR 2002, 234, 235; Hochleitner/Wolf/Großerichter, WM 2002, 529; für gespaltene Auslegung bereits Habersack, WM 2000, 981, 991. Aus der Rechtsprechung etwa LG München I, WM 2002, 285, 287; OLG Bamberg, WM 2002, 537, 544 f. Instruktiv zum Ganzen Franzen, JZ 2003, 321, 324 f., 327. 70 BGHZ 150, 248, 261 f.; BGH, ZIP 2004, 1402, 1403; BGH, ZIP 2005, 565, 567. Demgegenüber lässt nunmehr BGH, NJW 2006, 2099, 2101 die Möglichkeit einer gespaltenen Auslegung offen; dazu Habersack, BKR 2006, 305 ff. 71 MünchKommBGB-Ernst, vor § 275 BGB Rn. 23; W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 883 f.; ders., in: Grundmann/Medicus/Rolland (Hrsg.), Europäisches Kaufgewährleistungsrecht (2000), S. 119. So auch die Interpretation der Rechtsprechung des EuGH bei AnwaltKommBüdenbender, vor § 433 BGB Rn. 20; anders ders., ZEuP 2004, 36, 51 ff. 72 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161. 73 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4291. 74 Drexl, FS Heldrich, S. 82 f.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

der Richtlinie hinausreicht. Dagegen spricht vor allem das jedem Handeln der Gemeinschaft zugrunde liegende Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, aufgrund dessen das Gemeinschaftsrecht außerhalb seines Anwendungsbereichs eine gemeinschaftsrechtliche Wirkung nicht entfalten kann.75 In den Worten von Generalanwalt Darmon: „Es gibt kein Gemeinschaftsrecht außerhalb des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts“.76 Da aber die überschießende Umsetzung den Anwendungsbereich des umzusetzenden Rechts schon deshalb unberührt lässt, weil den Mitgliedstaaten die Befugnis fehlt, den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts einseitig zu bestimmen,77 bleibt es dabei, dass der überschießende Teil der nationalen Norm außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie liegt. Es kommt hinzu, dass die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung ihrerseits in der Pflicht des Mitgliedstaates zur Umsetzung der Richtlinie wurzelt. Sie kann deshalb nicht über den mit der Richtlinie den Mitgliedstaaten aufgegebenen Regelungsauftrag hinausgehen und dieser Regelungsauftrag ist durch die inhaltlichen Vorgaben und den Anwendungsbereich der Richtlinie umschrieben und begrenzt.78 b)

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Mittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung

Besteht somit richtigerweise keine unmittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung des nicht richtliniendeterminierten Teils nationalen Rechts bei überschießender Umsetzung von Richtlinien, so könnte doch eine Pflicht zu einheitlicher und damit einheitlich richtlinienkonformer Auslegung mittelbar daraus entstehen, dass andernfalls die nationale Norm auch im Anwendungsbereich der Richtlinie falsch ausgelegt werden könnte und der Mitgliedstaat damit seine Umsetzungspflicht verletzt.79 In diesem Zusammenhang sind die Entscheidungen in Sachen Leur-Bloem und Giloy zu bedenken. Die Rechtssache Leur-Bloem betrifft mehrere vom Gerichtshof Amsterdam vorgelegte Fragen zur Auslegung der FusionssteuerRichtlinie,80 während die vom Hessischen Finanzgericht vorgelegte Rechtssache Giloy Fragen zur Auslegung des gemeinschaftlichen Zollkodex81 zum Gegenstand hat. Beide Verfahren betrafen allerdings nationales Recht außerhalb des Anwendungsbereichs der jeweiligen europäischen Rechtsnormen. Das Verfahren Leur-Bloem betraf die steuerlichen Auswirkungen der Einbringung von Anteilen zweier niederländischer

75 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 919 und Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 915 ff. 76 GA Darmon, SchlA v. 3.7.1990 – verb. Rs. C-297/88 und C-197/89 Massam Dzodzi ./. Belgischer Staat, Slg. 1990, I-3780 Tz. 11. 77 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 919. 78 Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung (1994), S. 273 ff.; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 548; Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 685; s. fener Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 29. 79 In diesem Sinne Drexl, FS Heldrich, S. 83 f. 80 Richtlinie 90/434/EWG des Rates v. 23.7.1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, ABl. 1990 L 225/1. 81 Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates v. 12.10.1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften, ABl. 1992 L 321/23.

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§ 15 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

Gesellschaften in eine dritte, ebenfalls niederländische Gesellschaft, während die Fusionssteuerrichtlinie Steuerhindernisse bei grenzüberschreitenden Fusionen innerhalb der Gemeinschaft beseitigen soll und dementsprechend nur für grenzüberschreitende Vorgänge gilt.82 Die streitgegenständliche Norm des niederländischen Einkommensteuerrechts sieht allerdings eine gleichlautende Definition des Begriffs der „Fusion durch Austausch von Anteilen“ vor und stellt damit einen Fall überschießender Umsetzung durch einen gegenüber der Richtlinie erweiterten örtlichen Anwendungsbereich dar. Das Verfahren Giloy betraf einen Fall der Einfuhrumsatzsteuer. Auf diese ist zwar der Zollkodex nicht anwendbar, doch enthält das nationale Steuerrecht für die Einfuhrumsatzsteuer einen Verweis auf den Zollkodex.

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In seiner Entscheidung in Sachen Leur-Bloem führt der Gerichtshof aus: „Richten sich nationale Rechtsvorschriften zur Regelung rein innerstaatlicher Sachverhalte nach den im Gemeinschaftsrecht getroffenen Regelungen, um insbesondere zu verhindern, dass es zu Benachteiligungen der eigenen Staatsangehörigen oder – wie im vorliegenden Fall – zu Wettbewerbsverzerrungen kommt, so besteht ein klares Interesse der Gemeinschaft daran, dass die aus dem Gemeinschaftsrecht übernommenen Bestimmungen oder Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden sollen, einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu verhindern.“83

Damit scheint zwar der Gerichtshof in Leur-Bloem, wie auch in einer Reihe nachfolgender Entscheidungen,84 eine europarechtliche Pflicht zu einheitlicher Auslegung zu bejahen (Interesse der Gemeinschaft), doch ist dieses Diktum des EuGH bei näherer Betrachtung keineswegs eindeutig. Beachtlich ist zunächst der Hintergrund, vor dem der Gerichtshof das Interesse der Gemeinschaft an einheitlicher Auslegung jeweils betont: In Leur-Bloem und in den nachfolgenden Rechtsstreitigkeiten war, wie in einer Reihe vorangehender Entscheidungen auch,85 schon die Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Beantwortung von Fragen nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts in Fällen, in denen das Gemeinschaftsrecht nicht von sich aus anwendbar ist, sondern nur durch überschießende Umsetzung bzw. Verweis nationaler Normen auf gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen Bedeutung für den Rechtsstreit erlangt, streitig. Daher zielt in Leur-Bloem das niederländische Gericht mit seiner ersten Vorlagefrage ausdrücklich auf die Zuständigkeit des Gerichtshofs, und in dem Verfahren sprachen sich Generalanwalt Jacobs 86, aber auch die Kommission, die niederländische und die deutsche Regierung 87 gegen eine Zuständigkeit des EuGH aus. Die 82 Dazu ausführlich Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 918. 83 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161 Rn. 32; ähnlich EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4291 Rn. 23, 28. 84 S. aus jüngerer Zeit EuGH v. 16.3.2006 – Rs. C-3/04 Poseidon Chartering, Slg. 2006, I-2505 Rn. 20 ff.; EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-280/06 Autorita Garante della Concorrenza, Slg. 2007, I-10863 Rn. 21 f. 85 Sog. Dzodzi-Rechtsprechung, dazu ausführlich Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 915 ff. 86 GA Jacobs, SchlA v. 17.9.1996 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem und Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4161 Tz. 47 ff. 87 S. GA Jacobs, SchlA v. 17.9.1996 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem und Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4161 Tz. 44. Mathias Habersack/Christian Mayer

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Betonung des Interesses der Gemeinschaft an einheitlicher Auslegung kann daher auch als Rechtfertigung der Zuständigkeit des Gerichtshofs und nicht als Begründung einer europarechtlichen Pflicht zu einheitlicher Auslegung verstanden werden. Denn schon in der Entscheidung Leur-Bloem selbst lautet die unmittelbar folgende Randnummer: „In einem solchen Fall ist es jedoch im Rahmen der in Artikel 177 vorgesehenen Verteilung der Rechtsprechungsaufgaben zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof allein Sache des nationalen Gerichts, die genaue Tragweite dieser Verweisung auf das Gemeinschaftsrecht zu beurteilen; die Zuständigkeit des Gerichtshofs beschränkt sich auf die Prüfung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen (Urteile Dzodzi und Federconsorzi aaO, Rn. 41 und 42 bzw. 10). Für die Berücksichtigung der Grenzen, die der nationale Gesetzgeber der Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf rein innerstaatliche Sachverhalte setzen wollte, gilt nämlich das nationale Recht, so dass dafür ausschließlich die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind“.88

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In der Zusammenschau beider Aussagen lässt sich das Urteil des Gerichtshofs daher nur so verstehen, dass zwar, soweit eine einheitliche Auslegung gewollt ist, ein Interesse der Gemeinschaft daran besteht, dass die Norm auch tatsächlich einheitlich, also richtlinienkonform ausgelegt wird (Rn. 32 des Urteils), und dass deshalb, soweit eine einheitliche Auslegung zu erfolgen hat, der Gerichtshof auch in Fällen außerhalb des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts eine Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen im Vorabentscheidungsverfahren vornehmen kann,89 die Frage, ob eine einheitliche Auslegung erfolgen soll, aber eine Frage allein des nationalen Rechts ist (Rn. 33 des Urteils).

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Ihre Bestätigung findet diese Interpretation der Rechtsprechung des Gerichtshofs in der nachfolgenden Entscheidung des EuGH in Sachen ICI.90 Hier hatte sich der Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsersuchen des House of Lords ebenfalls mit der Frage nach der Auslegung nationaler Normen, die in einem Teil ihres Anwendungsbereiches gemeinschaftsrechtskonform auszulegen waren, zu befassen. Zwar ging es im konkreten Fall nicht um eine Frage der richtlinienkonformen Auslegung, sondern um die Auslegung englischen Konzernsteuerrechts im Lichte der Niederlassungsfreiheit, doch war das Grundproblem insoweit identisch, als die Tochtergesellschaften des steuerbetroffenen englischen Konzerns ihren Sitz mehrheitlich nicht nur außerhalb des Vereinigten Königreichs, sondern auch außerhalb der Gemeinschaft hatten, so dass in casu schon deshalb ein möglicher, durch gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts ggf. abzuwendender Verstoß gegen Art. 49 AEUV/43 EG nicht gegeben war. Das House of Lords legte deshalb die allgemeine Frage vor, ob eine uneinheitliche Auslegung der nationalen Norm möglich ist,91 und der Gerichtshof hat diese Frage mit den nachfolgend wiedergegebenen Worten auch allgemein beantwortet. Die Tatsache, dass es vorliegend um einen Fall gemeinschafts-

88 89 90 91

EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161 Rn. 33. Was indes durchaus Bedenken begegnet, dazu unten, Rn. 49 ff. EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 Imperial Chemical Industries, Slg. 1998, I-4695. S. das Zwischenurteil des House of Lords v. 14.3.1996 zur Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens All E.R. [1996] 2, 23 ff.

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rechtskonformer und nicht um einen Fall richtlinienkonformer Auslegung ging, steht deshalb einer Bewertung von ICI als Klarstellung zu Leur-Bloem nicht entgegen.92 Denn auch der EuGH stellt bei seiner Betonung des Interesses der Gemeinschaft an einheitlicher Auslegung nicht auf die Besonderheiten gerade der richtlinienkonformen Auslegung und die mitgliedstaatliche Pflicht zur Umsetzung von Richtlinien ab, wie sich mittelbar bereits daraus ergibt, dass der Gerichtshof die oben wiedergegebene Formulierung aus Leur-Bloem nahezu wortgleich in der Entscheidung in Sachen Giloy verwendet,93 bei der die Ausstrahlungswirkung des Zollkodex und damit einer europäischen Verordnung im Mittelpunkt stand, die innerhalb ihres Anwendungsbereichs unmittelbar und zwingend gilt (Art. 288 AEUV/249 EG)) und keiner Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber bedarf. In ICI stellt der EuGH fest: „Betrifft der Rechtsstreit vor dem nationalen Gericht also einen Sachverhalt, der nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt, so ist dieses Gericht nach dem Gemeinschaftsrecht weder verpflichtet, seine Rechtsvorschriften gemeinschaftsrechtskonform auszulegen, noch, sie unangewendet zu lassen. Falls ein und dieselbe Vorschrift in einer in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallenden Situation unangewendet bleiben müsste, in einer nicht in diesen Anwendungsbereich fallenden Situation jedoch weiterhin angewandt werden könnte, wäre das zuständige Organ des betreffenden Staates verpflichtet, diese Rechtsunsicherheit zu beseitigen, soweit sie die sich aus Gemeinschaftsvorschriften ergebenden Rechte beeinträchtigen könnte.“94

Die besseren Gründe sprechen denn auch gegen eine mittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur einheitlichen Auslegung wegen der abstrakten Gefahr einer Beeinträchtigung der Richtlinienwirkung im Anwendungsbereich der Richtlinie. Beachtlich ist, dass schon der Gerichtshof selbst in ICI ein Regel-Ausnahmeverhältnis konstatiert, wonach eine Verpflichtung zu einheitlich gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung grundsätzlich nicht besteht, und ein Tätigwerden des zuständigen Organs nur verlangt ist, soweit eine Rechtsunsicherheit die sich aus Gemeinschaftsrecht ergebenden Rechte beeinträchtigen könnte. Es kommt hinzu, dass die bei uneinheitlicher Auslegung des nationalen Rechts angeführten Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen dem richtliniendeterminierten und dem nicht richtliniendeterminierten Teil der Norm ihren Ursprung nicht in der uneinheitlichen Auslegung, sondern im Anwendungsbereich der Richtlinie selbst haben: Würde der Gesetzgeber die Richtlinie wortgetreu umsetzen, so wären zur Ermittlung des Anwendungsbereichs der nationalen Norm just die in der Richtlinie enthaltenen Merkmale heranzuziehen, ohne dass dem Mitgliedstaat der Vorwurf unrichtiger Umsetzung gemacht werden könnte.

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Im Kern ist daher aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht das Problem uneinheitlicher Auslegung nicht die Abgrenzung als solche, sondern die Tatsache, dass sich die Abgrenzungskriterien bei überschießender Umsetzung nicht aus der nationalen Norm

32

92 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 919; wie hier Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 889, 892; Bärenz, DB 2003, 375; Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 691 f.; dezidiert a.A. W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 884, dort Fn. 216; Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 101. 93 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4291 Rn. 28. 94 EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 Imperial Chemical Industries, Slg. 1998, I-4725 Rn. 34.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

selbst, sondern nur aus der Richtlinie gewinnen lassen. Soweit man hierin einen Verstoß gegen die Pflicht des Mitgliedstaates, die Richtlinie transparent umzusetzen, sieht95, ist der Gesetzgeber des Mitgliedsstaates aufgerufen, dieses Transparenzdefizit zu beseitigen – eine Pflicht, die den nationalen Gesetzeber in diesen Fällen aber auch abgesehen vom überschießenden Charakter der Umsetzung schon deshalb trifft, weil eine nur mittels richtlinienkonformer Auslegung zu erreichende Richtlinienkonformität des nationalen Rechts dem Transparenzgebot ohnehin nicht genügt.96 c)

33

Rechtsprechung des EuGH zu TRIPS

Schließlich ist zu prüfen, ob sich aus der Rechtsprechung des EuGH zu dem TRIPSAbkommen Aussagen über die Auslegung nationaler Normen bei überschießender Umsetzung von Richtlinien gewinnen lassen. TRIPS ist ein Abkommen zum Schutz geistigen Eigentums, welches von der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten als gemischtes Abkommen mit Drittstaaten geschlossen wurde. Das Abkommen enthält Vorschriften, die sowohl für die nationale Marke als auch für Gemeinschaftsmarken gelten, darunter der in zwei niederländischen Verfahren streitgegenständliche Art. 50 Abs. 6 TRIPS über die Ausgestaltung des einstweiligen Rechtsschutzes im Zusammenhang mit Markenverletzungen. Im Urteil Hermes97, dessen Sachverhalt den einstweiligen Rechtsschutz bei Verletzung einer nationalen Marke betraf, beantwortet der EuGH die Vorlagefrage unter Verweis auf die Rechtsprechung in Sachen Leur-Bloem und bestätigt das Interesse der Gemeinschaft an einheitlicher Auslegung,98 und in Dior u.a.99 geht der Gerichtshof hierüber noch scheinbar hinaus und konstatiert eine Verpflichtung zur einheitlichen Auslegung des Art. 50 Abs. 6 TRIPS:100 „Ist eine Vorschrift wie Artikel 50 des TRIPS-Übereinkommens sowohl auf dem innerstaatlichen Recht unterliegende als auch auf dem Gemeinschaftsrecht unterliegende Sachverhalte anwendbar, wie dies im Markenrecht der Fall ist, so ist der Gerichtshof ebenfalls für ihre Auslegung zuständig, um voneinander abweichende Auslegungen in der Zukunft zu verhindern (vgl. Urteil Hermès, Rn. 32 und 34). Insoweit sind die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaftsorgane bei der Erfüllung der Verpflichtungen, die sie bei der geteilten Zuständigkeit für den Abschluss des WTOÜbereinkommens – einschließlich des TRIPS-Übereinkommens – übernommen haben, zu enger Zusammenarbeit verpflichtet (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/94 Rn. 108).

95 S. zur Transparenzrechtsprechung allgemein EuGH v. 9.9.1999 – Rs. C-217/97 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1999, I-5087 Rn. 1 ff.; EuGH v. 23.5.1985 – Rs. 29/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1985, 1661 Rn. 23 sowie Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EGV Rn. 51. 96 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 20 f.; EuGH v. 19.9.1996 – Rs. C-236/95 Kommission ./. Griechenland, Slg. 1996, I-4459 Rn. 13 ff.; Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EGV Rn. 141 und Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EGV Rn. 112 mit abweichenden Stimmen aus dem deutschen Schrifttum. 97 EuGH v. 22.2.1996 – Rs. C-53/96 Hermès International, Slg. 1998, I-3603. 98 EuGH v. 22.2.1996 – Rs. C-53/96 Hermès International, Slg. 1998, I-3603 Rn. 32. 99 EuGH v. 14.12.2000 – verb. Rs. C-300/98 und C-392/98 Christian Dior u.a., Slg. 2000, I-11307. 100 So zumindest die Interpretation des Urt. v. 14.12.2000 – verb. Rs. C-300/98 und C-392/98 Christian Dior u.a., Slg. 2000, I-11307 Rn. 36 f. durch Drexl, FS Heldrich, S. 83.

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§ 15 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien Da Artikel 50 des TRIPS-Übereinkommens eine Verfahrensvorschrift ist, die für alle in ihren Geltungsbereich fallenden Sachverhalte in gleicher Weise gilt und sowohl auf dem innerstaatlichen Recht unterliegende als auch auf dem Gemeinschaftsrecht unterliegende Sachverhalte anwendbar ist, gebietet es diese Verpflichtung sowohl aus praktischen wie aus rechtlichen Gründen, dass die Stellen der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft sie einheitlich auslegen.“101

Abgesehen davon, dass schon die Entscheidungszuständigkeit des EuGH in diesen Rechtssachen keineswegs unbestritten war,102 erscheint fraglich, ob sich aus dem Urteil für die hier interessierenden Konstellationen Regeln ableiten lassen. Beachtlich ist, dass in den Fällen des TRIPS-Übereinkommens die Anwendung einer gemischten Norm im Raume steht, während es bei überschießender Umsetzung um die mittelbare Wirkung einer gemeinschaftlichen Norm außerhalb ihres Anwendungsbereiches geht. In Dior u.a. nimmt der Gerichtshof für sich die Entscheidung über das „ob“ der einheitlichen Anwendung einer gemischten Norm in Anspruch, während im Bereich der überschießenden Umsetzung das „ob“ der einheitlichen Auslegung einer nationalen Norm zu prüfen ist. Aus der Entscheidung in Sachen Dior u.a. folgt daher keineswegs, dass der Gerichtshof auch die hier allein interessierende Frage nach dem „ob“ der einheitlichen Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts künftig anders handhaben wird, als in den Entscheidungen Leur-Bloem und ICI vorgegeben. Dafür spricht auch, dass der EuGH in späteren Entscheidungen zur überschießenden Umsetzung von Richtlinien das „ob“ einer einheitlichen Auslegung der Prüfung durch die mitgliedstaatlichen Gerichte überlässt,103 woraus mittelbar folgt, dass es sich dabei nicht um eine Frage des Gemeinschaftsrechts handelt, wären doch zu dessen Auslegung allein die europäischen Gerichte berufen.

34

Insgesamt lässt sich somit in Einklang mit der überwiegenden Literaturmeinung104 eine europarechtliche Pflicht zu einheitlicher Auslegung nicht begründen; die Frage

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101 EuGH v. 14.12.2000 – verb. Rs. C-300/98 und C-392/98 Christian Dior u.a., Slg. 2001, I-11307 Rn. 35 ff. 102 Deutlich die Schlussanträge von GA Cosmas in dieser Entscheidung: „Unter diesen Umständen liegt es auf der Hand, dass im Rahmen des Art.177 EG-Vertrag die Ausdehnung der Auslegungszuständigkeit des Gerichtshofs auf Bestimmungen des TRIPs-Übereinkommens bezüglich der Gebiete, auf denen die (potentielle) Zuständigkeit der Gemeinschaft nicht ausgeübt worden ist, auf eine Politik richterlicher Rechtsschöpfung hinausliefe, die einem verfassungsgemäßem Verständnis zuwiderlaufen und mit Zweckmäßigkeitsgründen kaum gerechtfertigt werden könnte.“, SchlA v. 11.7.2000 – verb. Rs. C-300/98 und C-392/98 Christian Dior u.a., Slg. 2001, I-11307 Tz. 51. 103 EuGH v. 7.1.2003 – Rs. C-306/99 BIAO, Slg. 2003, I-1 Rn. 88 ff. 104 Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 74; Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 3 Rn. 53 f.; Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 921; Hoffmann, WM 2006, 560, 564; Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 892; Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, S. 120 ff.; Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 104; MünchKommBGB-Lorenz, vor § 474 BGB Rn. 4; Lutter, GS Heinze, S. 574 f.; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 548; Grabitz/HilfNettesheim, Art. 249 EG Rn. 151; Langenbucher-Riehm, § 4 Rn. 35; Schnorbus, RabelsZ (2001) 654, 685 f.; Schmidt-Räntsch, in diesem Band, § 23 Rn. 80; Streinz-Schroeder, Art. 249 EG Rn. 131.

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nach einheitlicher oder gespaltener Auslegung ist vielmehr eine solche des nationalen Rechts. 3.

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Keine Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus nationalem Recht 105

Lässt sich ein gemeinschaftsrechtlich fundiertes Gebot einheitlicher Auslegung nicht begründen, so könnte doch eine einheitliche und damit richtlinienkonforme Auslegung aus Gründen des nationalen Rechts geboten sein. Hiervon gehen nicht wenige Autoren im Schrifttum aus, wenn auch regelmäßig unter dem Vorbehalt, dass aus „sehr wichtigen sachlichen Gründen“ oder aufgrund „ganz besonderer Umstände“ im Einzelfall anders zu entscheiden sein könne.106 Nicht nur überfordere eine divergierende Auslegung identischer Normen Gerichte und Rechtsunterworfene; sie gerate überdies mit dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Gebot der Klarheit und Bestimmtheit von Normen in Konflikt. Wenn auch der Hinweis auf die Relativität von Rechtsbegriffen107 die gespaltene Auslegung identischer Normen nicht unmittelbar zu rechtfertigen vermag,108 so bleibt doch festzuhalten, dass die Normspaltung seit Jahrzehnten ein geläufiges Problem vor allem des Wirtschaftsrechts und des Internationalen Privatrechts darstellt.109 Und auch der Einwand, eine gespaltene Auslegung könne Gerichte wie Rechtsunterworfene verwirren, ist letztlich nicht überzeugend, ist doch die Erwartung, das richtige Verständnis einer Norm durch schlichte Lektüre des Gesetzestextes ermitteln zu können, ein ganz allgemein von einer komplexen und dynamischen Rechtsordnung nicht zu erfüllender Wunsch. Aus dem Rechtsstaatsprinzip lässt sich daher ein generelles Verbot gespaltener Auslegung nicht herleiten.110 Es kommt hinzu, dass nach der bereits in Rn. 24 ff. angesprochenen Transparenz-Rechtsprechung des EuGH die Zeitdauer, während derer eine gespaltene Auslegung inhaltlich zum Tragen kommt, ohnehin begrenzt ist: Die gespaltene Auslegung kommt nur dort in Betracht, wo das nach nationalem Recht ermittelte Auslegungsergebnis mit den Anforderungen der Richtlinie nicht übereinstimmt und deshalb innerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie durch richtlinienkonforme Auslegung zu korrigieren ist. Da aber das der Umsetzung europäischer Richtlinien dienende nationale Recht nach der Rechtsprechung des EuGH bestimmt, klar und transparent zu sein hat und eine nur durch richtlinienkonforme Auslegung zu erreichende Rechtslage hierfür

105 Die folgenden Ausführungen folgen weitgehend Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 549 f. 106 Bärenz, DB 2003, 375 f.; Staudinger-Beckmann, vor § 433 BGB Rn. 55; Erman-Grunewald, vor § 433 Rn. 36; Heß, RabelsZ 66 (2002), 470, 486; W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 883; Schulte-Nölke, ZGS 2006, 201; R. Schulze, in: ders. (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999), S. 18. Zurückhaltend gegenüber einer gespaltenen Auslegung auch Schmidt-Räntsch, in diesem Band, § 23 Rn. 81, 82. 107 Hennrichs, ZGR 1997, 66, 78. 108 Bärenz, DB 2003, 375, 376; Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 106. 109 Ausführlich und mit weiteren Nachweisen dazu Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 549. 110 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 550; Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art.249 EG Rn. 151. Speziell zur Frage ob eine einheitliche Auslegung aus Gründen der Gleichbehandlung nach Art. 3 GG erforderlich ist, Herdegen, WM 2005, 1921, 1930.

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§ 15 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

regelmäßig nicht ausreicht, bleibt der nationale Gesetzgeber trotz richtlinienkonformer Auslegung des nationalen Rechts durch die Gerichte verpflichtet, die Vorgaben der Richtlinie korrekt umzusetzen.111 Der Gesetzgeber kann im Zuge der Umsetzung selbstverständlich frei entscheiden, wie er zukünftig die bislang im Überschussbereich angesiedelten Fälle behandelt wissen möchte. So hat der deutsche Gesetzgeber im Anschluss an die Heininger-Entscheidung des EuGH (Rn. 23b) zwar §§ 312a, 355, 491 Abs. 3 BGB neu gefasst und hierdurch seine Umsetzungspflicht erfüllt,112 hierbei indes an dem weiten Anwendungsbereich des deutschen Rechts der Haustürgeschäfte (§ 312 BGB) festgehalten. Und auch im Zuge der Quelle-Entscheidung hat der deutsche Gesetzgeber den nach der Auslegung der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie durch den EuGH erforderlichen nationalen Rechtsstand trotz der die Vorgaben des EuGH berücksichtigenden Entscheidung des VIII. Zivilsenats des BGH (Rn. 23a) durch Art. 5 des Gesetzes zur Durchführung des Übereinkommens vom 30. Oktober 2007 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung in Zivil- und Handelssachen und zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches vom 10. Dezember 2008113 in dem neuen § 474 Abs. 2 S. 1 BGB festgeschrieben, hierbei indes den Ausschluss von Nutzungsherausgabe und Nutzungsersatz (im Einklang mit der Abschlussentscheidung des BGH) auf Verbrauchsgüterkaufverträge im Sinne des deutschen Rechts beschränkt. 4.

Kriterien zur Auslegung der Norm im Überschussbereich

a)

Auslegung als interpretatorische Gesamtabwägung

Nachdem festgestellt werden konnte, dass sich bei überschießender Umsetzung von Richtlinien weder aus europäischem noch aus nationalem Recht eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts im Überschussbereich besteht, sind nachfolgend die – allein maßgebenden nationalen – Kriterien für die Auslegung im Überschussbereich zu bestimmen. Dabei gilt es zunächst, die Unterschiede zwischen der richtlinienkonformen Auslegung im Anwendungsbereich der Richtlinie und der nationalen Auslegung außerhalb dieses Anwendungsbereichs zu verdeut111 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 20 f.; EuGH v. 19.9.1996 – Rs. C-236/95 Kommission ./. Griechenland, Slg. 1996, I-4459 Rn. 13 ff.; Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EG Rn. 141 und Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EG Rn. 112 mit abweichenden Stimmen aus dem deutschen Schrifttum. 112 Ob weitere Umsetzungsdefizite, insbesondere durch die Pflicht des Darlehensnehmers zur Rückgewähr des Darlehens auch in den Fällen, in denen die Valuta – freilich: vereinbarungsgemäß – an Dritte bezahlt wurde, bestehen, war Gegenstand der Vorabentscheidungsersuchen des LG Bochum, NJW 2003, 2612 und des OLG Bremen, NJW 2004, 2238. S. hierzu die Urteile des EuGH v. 25.10.2005, Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 und Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, Slg. 2005, I-9273 = JZ 2006, 86 m. Anm. Habersack = BKR 2005, 441 m. Anm. Derleder, in deren Folge sich erneut die Frage nach einheitlicher oder gespaltener Auslegung des deutschen Haustürwiderrufsrechts stellt. S. zum Ganzen auch unten Rn. 43 ff. 113 BGBl 2008 I, 2399.

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lichen.114 Die richtlinienkonforme Auslegung ist ihrer rechtstheoretischen Struktur nach interpretatorische Vorrangregel: 115 Innerhalb der Grenzen richterlicher Gesetzesauslegung muss der nationale Rechtsanwender den europarechtlichen Vorgaben ohne weitere Abwägung Geltung verschaffen.116 Im nicht europarechtlich determinierten Überschussbereich vollzieht sich Auslegung hingegen als interpretatorische Gesamtabwägung aller zu berücksichtigenden Auslegungskriterien, wobei – vorbehaltlich der verfassungskonformen Auslegung – keinem Auslegungskriterium per se Vorrang einzuräumen ist.117 Es empfiehlt sich, worauf erstmals Hommelhoff hingewiesen hat,118 diesen Methodenunterschied auch begrifflich zu markieren, den Rechtsbegriff der richtlinienkonformen Auslegung den Fällen im Anwendungsbereich der Richtlinie vorzubehalten und außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie von „Ausstrahlungswirkung der Richtlinie auf das richtlinienfreie Recht“119, „quasi-richtlinienkonformer“120 oder „richtlinienorientierter“121 Auslegung zu sprechen. b)

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Bedeutung des gesetzgeberischen Willens

Verbreitet wird für die möglichst einheitliche Auslegung des nationalen Rechts im Überschussbereich und im richtliniendeterminierten Bereich auf den Willen des historischen Gesetzgebers abgestellt, der seinen Ausdruck nicht zuletzt in der Schaffung der einheitlichen Norm gefunden habe und der eine gespaltene Auslegung nur in besonderen Ausnahmefällen zulasse.122 Diese Sichtweise greift jedoch, wie erst unlängst herausgearbeitet wurde, gerade in den kritischen Fällen zu kurz;123 diese sind vielmehr dadurch gekennzeichnet, dass der Gesetzgeber im nationalen Recht zwei Entscheidungen getroffen hat, von denen sich jedoch unter dem Einfluss der Richtlinie die eine nicht aufrechterhalten lässt: So hat der Gesetzgeber des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes die Strukturentscheidung124 getroffen, die Voraussetzungen des Rücktritts bei vertragswidriger Kaufsache grundsätzlich nicht für den Verbrauchsgüterkauf getrennt zu regeln, sondern diese in das allgemeine Leistungsstörungsrecht

114 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. 115 Überzeugend Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 68 ff.; eingehend W. H. Roth, in diesem Band, § 14 Rn. 26, 40 ff. 116 Zutr. P. Ulmer, ZIP 2002, 1080, 1081 zur überflüssigen Absicherung des richtlinienkonformen Ergebnisses durch nationale Abwägung in BGHZ 150, 248. 117 Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 74; dem folgend Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. A.A. Lutter-Lutter, Umwandlungsgesetz (3. Aufl. 2004), Einl. Rn. 32. 118 Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 915. 119 Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 74. 120 So Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 915. 121 MünchKommBGB-Lorenz, vor § 474 BGB Rn. 4. 122 Etwa BGHZ 150, 248, 261; Staudinger, NJW 2002, 653, 655; Bärenz, DB 2003, 375; Hoffmann, ZIP 2002, 145, 150; Lutter, GS Heinze, S. 575 f.; für die Auslegung von Kaufrecht und Leistungsstörungsrecht nach Maßgabe der Richtlinie über den Verbauchsgüterkauf Erman-Grunewald, vor § 433 BGB Rn. 36; Staudinger-Beckmann, vor § 433 BGB Rn. 55. 123 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. 124 Die Bezeichnung als Sach- und Strukturentscheidung verdanken wir Schürnbrand, s. Mayer/ Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551.

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§ 15 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

einzupassen und hierfür mit § 323 BGB eine einheitliche Norm zu schaffen. Gleichzeitig hat er aber die Sachentscheidung getroffen, den Rücktritt von Ablauf und Setzen einer angemessenen Frist abhängig zu machen. Soweit sich nun die Sachentscheidung für den Verbrauchsgüterkauf als richtlinienwidrig erweist, wird man kaum allein unter Berufung auf die Strukturentscheidung das Fristsetzungserfordernis in allen von § 323 BGB erfassten Fällen einschränkend auslegen können. Ähnlich hatte der Gesetzgeber des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes für die kaufrechtliche Nacherfüllung durch Lieferung einer mangelfreien Sache in § 439 Abs. 4 BGB ausdrücklich auf die allgemein für Rückgewährschuldverhältnisse geltenden §§ 346 bis 348 verwiesen. Der Gesetzgeber hatte damit ursprünglich explizit einen allgemeinen Anspruch des Verkäufers auf Nutzungsersatz vorgesehen, mithin die Strukturentscheidung getroffen, insoweit nicht zwischen Verbrauchsgüterkäufen und sonstigen Käufen zu unterscheiden, vielmehr generell die §§ 346 ff. BGB zur Anwendung zu bringen. Ebenso hatte der Gesetzgeber des HWiG die Strukturentscheidung getroffen, die der Richtlinie unterfallenden, an der Haustür abgeschlossenen Verträge so zu behandeln wie diejenigen Verträge, die durch die Haustürsituation lediglich mitveranlasst wurden, und diese Strukturentscheidung kam seinerzeit im Anwendungsbereich des HWiG zum Ausdruck. Zugleich hat der Gesetzgeber des HWiG jedoch die in § 5 Abs. 2 HWiG seinerzeit ebenso zum Ausdruck kommende Sachentscheidung getroffen, bei Realkreditverträgen, nicht zuletzt mit Blick auf den Grundsatz der taggenauen Refinanzierung, ein Widerrufsrecht auszuschließen.125 Dieses Zusammentreffen von Sach- und Strukturentscheidung führt dazu, dass selbst die Feststellung, der Gesetzgeber habe die Strukturentscheidung bewusst getroffen und eine einheitliche Auslegung auch mit Blick auf die Richtliniengebundenheit des europarechtlich geforderten Teils der Norm gewollt, für sich genommen noch nicht automatisch zu einer einheitlichen Auslegung führt.126 Stets ist nämlich zu beachten, dass der Gesetzgeber die Richtlinienwidrigkeit der zugleich mit der Strukturentscheidung getroffenen Sachentscheidung nicht kannte. Ein Festhalten an der Strukturentscheidung trotz abweichender Sachentscheidung ist damit letztlich hypothetischer Natur.127 Nicht zuletzt die Reaktionen des Gesetzgebers auf die bereits angesprochen Verfahren in Sachen Heininger und Quelle (Rn. 23a f.) bestätigen im Übrigen die hier dargelegten Bedenken gegenüber der Maßgeblichkeit der Strukturentscheidung bei richtlinienkonform nicht aufrecht zu erhaltender Sachentscheidung. In Reaktion auf das Heininger-Verfahren hat nämlich der Gesetzgeber durch Neufassung der §§ 312a, 355, 491 Abs. 3 BGB für sämtliche Realkreditverträge ein Haustürwiderrufsrecht einge-

125 Dazu und zum Folgenden Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. 126 Ebenso Prütting/Wegen/Weinreich-D. Schmidt, BGB (4. Aufl. 2009), vor § 433 BGB Rn. 17; Bamberger/Roth-Faust, § 433 BGB Rn. 9; a.A. Lutter, GS Heinze, S. 575 ff. 127 Zutr. für die Heininger-Argumentation Rohe, BKR 2002, 575, 576; M. Wolf, BKR 2002, 614, 616. Zum Ganzen Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551 f.; dem folgend Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, S. 146 f. Noch weitergehend sieht Herdegen, WM 2005, 1921, 1930 in der gespaltenen Auslegung eine den objektiven Gesetzeswillen schonende und deshalb vorzugswürdige Auslegung. Herdegen stellt damit die Sachentscheidung über die Strukturentscheidung des Gesetzgebers. Mathias Habersack/Christian Mayer

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2. Teil: Allgemeiner Teil

führt und damit die vom Europäischen Recht geforderte Sachentscheidung auf den gesamten Anwendungsbereich der überschießenden Umsetzung erstreckt (mithin an der ursprünglichen Strukturentscheidung, den Abschluss des Vertrags an der Haustür und die bloße Veranlassung des Vertrags durch die Haustürsituation gleichzubehandeln, festgehalten). Demgegenüber hat er im Anschluss an die Quelle-Entscheidung mit § 474 Abs. 2 S. 1 BGB eine Norm geschaffen, welche für die Nacherfüllung durch Nachlieferung den Nutzungsersatz nur bei Verbrauchsgüterkäufen ausschließt. Für alle anderen Kaufverträge gilt hingegen weiterhin, dass der Käufer im Falle der Nacherfüllung durch Lieferung einer mangelfreien Sache für die Zeit der Nutzung der mangelhaften Kaufsache Nutzungsersatz schuldet. An der ursprünglich getroffenen Strukturentscheidung einer Gleichbehandlung aller Kaufverträge und der Einpassung des Nutzungsersatzes in das allgemeine Recht der Rückgewähr hat der Gesetzgeber insoweit also angesichts der Vorgaben des Europarechts nicht festgehalten; vielmehr bestimmt § 474 Abs. 2 S. 1 BGB nunmehr ausdrücklich, dass § 439 Abs. 4 BGB gespalten zur Anwendung zu bringen ist. c)

39

Vermutung für einheitliche Auslegung

Wenn sich die einheitliche Auslegung somit auch nicht allein auf die Strukturentscheidung des historischen Gesetzgebers stützen lässt, so lässt sich doch insgesamt eine Vermutung für eine einheitliche Auslegung formulieren. Diese kann, soweit der Gesetzgeber ausdrücklich auch auf die Richtlinie oder sonstige Normen des Gemeinschaftsrecht in ihrer jeweiligen Auslegung durch den EuGH verweisen wollte, auch den Willen des Gesetzgebers für sich in Anspruch nehmen.128 Aber auch jenseits dieser speziellen Fälle spricht die Einheitlichkeit der nationalen Norm und damit ein systematisches Argument für eine einheitliche Auslegung. Dieses systematische Argument verliert hingegen an Überzeugungskraft, wenn der Gesetzgeber, wie beispielsweise hinsichtlich der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf mit den §§ 474 ff. BGB geschehen, an anderer Stelle Sondernormen für den der Richtlinie unterfallenden Bereich schafft.129 Gleichfalls für einheitliche Auslegung streitet das für sich allein

128 Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 110. S. beispielsweise für das deutsche Kartellrecht Ackermann, in diesem Band, § 21 Rn. 36. Dafür streitet im Überschussbereich aber nicht die vom EuGH in seinem Urt. v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 112 formulierte Vermutung, der nationale Gesetzgeber habe bei Umsetzung einer Richtlinie die Richtlinienkonformität des Umsetzungsgesetzes gewollt, denn auch diese Vermutung gilt nur für den Anwendungsbereich der Richtlinie und lässt sich auf die Frage, ob der Gesetzgeber stets eine einheitliche Auslegung des nationalen Rechts gewollt habe, nicht übertragen. Generell gegen eine Vermutung für einheitliche Auslegung hingegen Herdegen, WM 2005, 1921, 1930. 129 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551; dezidiert a.A. Lutter, GS Heinze, S. 576 und LutterLutter, Umwandlungsgesetz (4. Aufl. 2009), Einl. Rn. 41: Gerade das Vorliegen einzelner Sondernormen für den von der Richtlinie erfassten Bereich spreche dafür, dass der Gesetzgeber außerhalb dieser Sondernormen eine einheitliche Behandlung gewollt habe; zur Problematik des Abstellens auf die Strukturentscheidung des historischen Gesetzgebers s. aber bereits Rn. 38 f.

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§ 15 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

nicht durchschlagende Argument, eine gespaltene Auslegung erschwere die Rechtsanwendung und führe zu neuen Abgrenzungsschwierigkeiten.130 d)

Gründe für eine gespaltene Auslegung

Ist somit die nationale Norm nur im Zweifel einheitlich auszulegen und kommt wegen des Charakters der Auslegung als interpretatorische Gesamtabwägung grundsätzlich eine gespaltene Auslegung durchaus in Betracht, so ist nachfolgend zu untersuchen, welche Gründe im Einzelfall für eine gespaltene Auslegung streiten können. aa)

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Verfassungskonforme Auslegung

Am einfachsten ist dabei der – bislang wohl theoretische – Fall zu entscheiden, dass die von der Richtlinie gebotene Auslegung des nationalen Rechts mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren wäre: Zumindest innerhalb des durch die Solange/ Maastricht-Rechtsprechung gezogenen Rahmens gilt nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, dass, soweit ein Umsetzungsermessen nicht besteht, nicht nur die europäischen Rechtsakte, sondern auch das der Umsetzung dienende nationale Recht nicht am Maßstab des Grundgesetzes zu messen sind.131 Jedenfalls aber wäre das Grundgesetz seinerseits richtlinienkonform auszulegen.132 Beides gilt indes nur im Anwendungsbereich der Richtlinie, da auch nur insoweit die Gemeinschaft selbst im Sinne von Art. 23 GG rechtsetzend tätig war.133 Für den überschießenden Bereich des nationalen Rechts bewendet es daher in jedem Fall bei der uneingeschränkten verfassungsrechtlichen Überprüfbarkeit am Maßstab des nicht richtlinienkonform auszulegenden Grundgesetzes und damit beim Vorrang der verfassungskonformen Auslegung.134 Weicht diese von der durch die Richtlinie gebotenen Auslegung des nationalen Rechts ab, so ist eine gespaltene Auslegung zwingend.135

130 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. 131 So ausdrücklich BVerfG, NJW 2001, 1267, 1268 unter II. 1 b). Zwar wird dort nur die Überprüfung eines deutschen Umsetzungsgesetzes am Maßstab der Verfassung verweigert, doch kann für die verfassungskonforme Auslegung schwerlich etwas anderes gelten; ebenso Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 920; a.A. – freilich ohne Auseinandersetzung mit dieser Rechtsprechung – Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 675, dort Fn. 77; diesem folgend Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 103. 132 Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 79 f. 133 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 920. Zur Umgrenzung des in der Richtlinie enthaltenen Regelungsauftrags durch Inhalt und Anwendungsbereich der Richtlinie oben Rn. 25. 134 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 550; Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, S. 168 f. 135 Dies gilt auch dann, wenn der Gesetzgeber ausdrücklich die Orientierung am europäischen Recht vorgibt oder unmittelbar auf europäisches Gemeinschaftsrecht verweist; Auslegungsmaxime wie Verweisung erfolgen aus nationalem Recht und unterliegen daher der Bindung durch die Verfassung. Mathias Habersack/Christian Mayer

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2. Teil: Allgemeiner Teil

bb)

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Überwiegende Bedeutung der Sachentscheidung und erhebliche Abweichung von dieser durch die richtlinienkonforme Auslegung

Eine gespaltene Auslegung kommt daneben dann in Betracht, wenn die Sachentscheidung des Gesetzgebers besondere Bedeutung beansprucht und die durch die Richtlinie gebotene Auslegung sich von dieser Sachentscheidung weit entfernt. Hierzu ist erforderlich, den Stellenwert, den der Gesetzgeber der Sachentscheidung auf der einen Seite und der Strukturentscheidung auf der anderen Seite jeweils zugemessen hat, zu ermitteln und die Ergebnisse wertend miteinander zu vergleichen. So spricht angesichts der Bedeutung der Fristsetzung und dem in § 323 Abs. 1 BGB klar zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers viel dafür, die ggf. gebotene richtlinienkonform erweiternde Auslegung des § 323 Abs. 2 BGB auf die Fälle des Verbrauchsgüterkaufs im Sinne von § 474 BGB zu beschränken.136 Eine noch weitergehende Beschränkung auf diejenigen Fälle, die auch unter den Anwendungsbereich des engeren Verbraucherbegriffs der Richtlinie fallen,137 ist dagegen abzulehnen, da durch diese ein Differenzierungskriterium in das nationale Recht eingeführt würde, welches diesem bislang fremd ist, und zudem Verwerfungen mit der allgemeinen Wertung des § 13 BGB drohten.138 cc)

Zusätzliche Auslegungsgesichtspunkte, die nur im überschießenden Bereich der Norm vorhanden sind

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Die letzte und vermutlich in der Praxis bedeutsamste Gruppe von Fällen, in denen eine gespaltene Auslegung der einheitlichen Norm ernsthaft in Erwägung zu ziehen ist, stellen diejenigen Konstellationen dar, in denen durch den erweiterten und über die Richtlinie hinausgehenden Anwendungsbereich des nationalen Rechts abweichende Auslegungsgesichtspunkte zu berücksichtigen sind. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des EuGH, dass zur Auslegung der Richtlinie deren Anwendungsbereich heranzuziehen ist.139 Da der Gerichtshof aber im Rahmen der Aufgabenteilung des Art. 267 AEUV/234 EG stets nur das Gemeinschaftsrecht auslegt, kommen bei der Auslegung der Richtlinie notwendig allein diejenigen Gesichtspunkte zum Tragen, die den Anwendungsbereich der Richtlinie berühren. Insbesondere soweit aus dem weiteren Anwendungsbereich des nationalen Rechts neue Auslegungsgesichtspunkte erwachsen, kommt eine gespaltene Auslegung des nationalen Rechts in Betracht.140

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Dies gilt namentlich dann, wenn der Gesetzgeber allein dem Verbraucherschutz dienende Richtlinien durch Normen umsetzt, die in Erweiterung des persönlichen Anwendungsbereichs auch für den unternehmerischen Rechtsverkehr Geltung ver136 So auch Canaris, Schuldrechtsmodernisierung 2002 (2002), S. XXV f.; ders., JZ 2003, 831, 838; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 552; im Ergebnis ebenso Bamberger/Roth-Faust, § 437 BGB Rn. 19. 137 S. dazu oben Rn. 7. 138 Bamberger/Roth-Faust, § 437 BGB Rn. 19; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 552. 139 Dazu W.-H. Roth, in diesem Band, § 14. 140 Palandt-Heinrichs, Einl. Rn. 44.

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§ 15 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

langen, wie dies bei der Umsetzung der Klauselrichtlinie durch die §§ 305 ff. BGB, bei der Umsetzung der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf durch das allgemeine Kaufrecht und bei der Umsetzung der Richtlinie zum Schutz der Verbraucher gegen unlautere Geschäftspraktiken durch das deutsche Lauterkeitsrecht der Fall ist. In all diesen Fällen legt der Gerichtshof die Richtlinie allein unter dem Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes und dabei nach der gefestigten Maxime aus, wonach die Gemeinschaft insgesamt ein hohes Verbraucherschutzniveau anstrebt und verbraucherschützende Rechte daher im Zweifel weit, Ausnahmen von verbraucherschützenden Bestimmungen hingegen im Zweifel eng auszulegen sind.141 Da diese Maximen im Verkehr zwischen Unternehmern nicht notwendig zu sachgerechten Ergebnissen führen und umgekehrt Gesichtspunkte, die für den Rechtsverkehr zwischen Unternehmen bedeutsam sind, bei der Auslegung der Richtlinie notwendig unberücksichtigt bleiben, kommt in diesen Fällen auch ein unterschiedliches Auslegungsergebnis und damit eine gespaltene Auslegung in Betracht.142 Aus den gleichen Gründen liegt eine gespaltene Auslegung auch im Bereich der Bilanzrichtlinien nahe. Denn während der Gerichtshof insoweit stets die Auslegung von Normen vornimmt, die für die Aufstellung des handelsrechtlichen Jahresabschlusses verbindlich sind, und dabei allein die mit dieser Bilanz verfolgten Zwecke berücksichtigt, kommen im Bereich der Steuerbilanz hiervon abweichende Gesichtspunkte wie der Grundsatz der gleichmäßigen Besteuerung und derjenige der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zum Tragen.

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Schließlich liegt eine gespaltene Auslegung auch dann nahe, wenn es um in der Richtlinie nicht enthaltene und damit im richtliniendeterminierten Bereich – soweit eine einschränkende Auslegung möglich ist – nicht anwendbare Tatbestandsmerkmale geht, die bei Lichte betrachtet nicht der Richtlinienumsetzung, sondern der Begrenzung der Reichweite des überschießenden Charakters der nationalen Norm dienen. Zu nennen ist hier die Frage der Zurechnung einer Haustürsituation und damit ein neuerliches Versatzstück aus der für die Wissenschaft von der überschießenden Umsetzung noch immer ergiebigen „Heininger-Saga“. Nach der Rechtsprechung des EuGH in Sachen Heininger, der Berücksichtigung dieser Rechtsprechung durch den BGH in seiner Auslegung des § 5 Abs. 2 HWiG a.F. und der Neufassung der §§ 312a, 355 und 491 Abs. 3 BGB durch das OLG-Vertretungsänderungsgesetz steht mittlerweile fest, dass auch Realkreditverträge, die in den Anwendungsbereich des Haustürwiderrufsrechts fallen, von dem Darlehensnehmer widerrufen werden können. Damit hat sich die aktuelle Auseinandersetzung zum einen auf die Rechtsfolgen des Widerrufs und zum anderen auf die Voraussetzung der Anwendung des Haustürwiderrufsrechts verlagert. Was die letztgenannte Problematik angeht, so hatte der Bundesgerichtshof bislang in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, dass für das Bestehen eines verbraucherschützenden Widerrufsrechts nach § 312 BGB nicht nur auf das objektive Bestehen einer Haustürsituation abzustellen ist, sondern auch

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141 Dazu zu Recht kritisch Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 54 ff. 142 A.A. für das AGB-Recht MünchKommBGB-Basedow, vor § 305 BGB Rn. 56; wie hier hingegen Palandt-Grüneberg, vor § 305 BGB Rn. 13.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

auf deren Zurechenbarkeit gegenüber dem Unternehmer,143 mithin in den HeiningerFällen gegenüber der darlehensgewährenden Bank. Dieses Zurechenbarkeitskriterium findet zwar im Wortlaut des § 312 BGB keine unmittelbare Stütze, es gründet aber auf der allgemeinen Systematik der Verantwortlichkeit für das Handeln Dritter und entspricht dem Willen des historischen Gesetzgebers.144 Die Zurechenbarkeit sollte sich deshalb nach den zu § 123 Abs. 2 BGB entwickelten Grundsätze beurteilen.145 Allerdings findet sich im Wortlaut der Haustürgeschäfterichtlinie nicht eigens ein Zurechenbarkeitskriterium, und daher hatte das OLG Bremen dem EuGH mit Beschluss vom 27. Mai 2004 unter anderem folgende Frage vorgelegt: „1. Ist es mit Art. 1 I der Richtlinie 85/577/EWG vereinbar, die Rechte des Verbrauchers, insbesondere sein Widerrufsrecht, nicht nur vom Vorliegen einer Haustürsituation nach Art. 1 I der Richtlinie abhängig zu machen, sondern auch von zusätzlichen Zurechnungskriterien wie der vom Gewerbetreibenden bewusst herbeigeführten Einschaltung eines Dritten in den Vertragsabschluss oder von einer Fahrlässigkeit des Gewerbetreibenden hinsichtlich des Handelns des Dritten beim Vertrieb mittels Haustürgeschäft?“146

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In ihrer Stellungnahme kommt die Kommission zu dem Schluss, dass ein solches Zurechnungskriterium mit der Haustürgeschäfterichtlinie nicht vereinbar sei, denn nach Art. 5 dieser Richtlinie sei Voraussetzung des Widerrufsrechts nur, „a) dass ein Rechtsgeschäft zwischen dem Verbraucher und dem Gewerbetreibenden objektiv abgeschlossen wurde, und b) dass dieser Vertragsschluß in einer Haustürsituation zustande kam.“147

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Dem haben sich Generalanwalt Legèr in seinem Schlussantrag148 und der EuGH149 in seinem Urteil vom 25. Oktober 2005 angeschlossen. Aus Sicht des nationalen Rechts war daher zu entscheiden, ob weiterhin § 312 BGB einheitlich dahingehend auszulegen ist, dass ein Widerrufsrecht allein das objektive Bestehen einer Haustürsituation voraussetzt, oder ob im Überschussbereich der Norm das Zurechnungskriterium weiterhin Anwendung findet, § 312 BGB also gespalten auszulegen ist. Der II. und der XI. Zivilsenat des BGH haben sich in nachfolgenden Urteilen dafür ausgesprochen, auf das Kriterium der Zurechnung in Umsetzung der Rechtsprechung des

143 BGH, NJW 2003, 424, 425; BGH, ZIP 2005, 1314, 1315; ebenso die bislang h.M., s. MünchKommBGB-Ulmer, § 312 BGB Rn. 30; Palandt-Heinrichs, § 312 BGB Rn. 4; a.A. KG, NJW 1996, 1480 und Derleder/Knops/Bamberger-Derleder, Handbuch des deutschen und europäischen Bankrechts (2. Aufl. 2009), § 10 Rn. 51. 144 Amtliche Begründung zum HWiG, BT-Drs. 10/2876, S. 11. 145 BGH, NJW 2003, 424, 425; ebenso die h.M., s. MünchKommBGB-Ulmer, § 312 BGB Rn. 30; Palandt-Heinrichs, § 312 BGB Rn. 4; a.A. KG, NJW 1996, 1480 und Derleder/Knops/Bamberger-Derleder, Handbuch des deutschen und europäischen Bankrechts (2. Aufl. 2009), § 10 Rn. 51. S. nunmehr aber auch BGH, ZIP 2006, 221, 222 f. 146 OLG Bremen, NJW 2004, 2238. 147 Kommission, Stellungnahme v. 14.9.2004 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, Umdruck S. 13. 148 GA Legèr, SchlA v. 2.6.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, Slg. 2005, I-9273 Tz. 31 ff. 149 EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, Slg. 2005, I-9273 Rn. 41 ff.

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§ 15 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

EuGH insgesamt zu verzichten.150 Demgegenüber ist in diesem Zusammenhang beachtlich, dass das Zurechnungskriterium den Unternehmer vor den Folgen einer durch ihn nicht steuerbaren und nicht veranlassten Haustürsituation schützen soll. Hierzu kann es aber bei Lichte betrachtet allein im Überschussbereich der Norm kommen, denn der wesentlich engere Anwendungsbereich der Richtlinie setzt einen wirksamen Vertragsschluss zwischen Unternehmer und Verbraucher oder zumindest die Abgabe eines Angebots durch den Verbraucher in der Haustürsituation voraus.151 Innerhalb des Anwendungsbereichs der Haustürgeschäfterichtlinie kann deshalb schon nach nationalem Recht das Zurechnungskriterium des BGH keine begrenzende Wirkung entfalten, denn soweit der Vermittler als rechtsgeschäftlicher Vertreter des Unternehmers (Vertragsschluss in der Haustürsituation!) oder sonst in dessen Namen und für dessen Rechnung handelt (Art. 2 zweiter Spiegelstrich der Richtlinie), ist auch das Zurechnungskriterium ohne weiteres erfüllt. Im Ergebnis erfüllt damit – lässt man Transparenzerwägungen außer Betracht – das nationale Recht auch nach der Auslegung der bisher herrschenden Meinung den Regelungsauftrag der Richtlinie, was freilich der Vorlagebeschluss des OLG Bremen listig verschwieg. Zumindest aber dürfte der Entfall des Zurechnungskriteriums innerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie keine gravierende Wirkung haben, innerhalb des überschießenden Bereichs des nationalen Rechts aber eine unabsehbare Ausweitung des Haustürwiderrufsrechts für Unternehmer bewirken. Da umgekehrt der EuGH wie auch der Richtliniengeber wegen des engeren Anwendungsbereichs der Richtlinie gar keine Veranlassung haben, über ein zusätzliches Zurechnungskriterium nachzudenken, spricht in einem solchen Fall alles dafür, die Wirkung der Richtlinie auf deren Anwendungsbereich zu begrenzen und § 312 BGB gespalten auszulegen.152

IV.

Überschießende Umsetzung und Internationales Privatrecht

Der hybride Charakter der nationalen Normen in Fällen überschießender Umsetzung zeigt sich nicht nur bei der Auslegung des nationalen Rechts, sondern auch bei der im Kollisionsrecht angesiedelten Frage, ob und, wenn ja, inwieweit die nationale Vorschrift trotz Maßgeblichkeit ausländischen Rechts Geltung beansprucht. Hintergrund der besonderen Problematik der überschießenden Richtlinienumsetzng ist insoweit nicht die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung und deren Umsetzung innerhalb und außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie, sondern die europarechtliche Pflicht zur internationalprivatrechtichen Rechtsdurchsetzung zwingender

150 BGH, BB 2006, 346, 347; BGH, BB 2006, 853, 854. 151 Zum überschießenden Charakter des deutschen Haustürwiderrufsrechts oben Rn. 10 f. Ebenso Thume/Edelmann, BKR 2005, 477, 479 f. 152 Ebenso Palandt-Heinrichs, Einl. Rn. 44; mit gleicher Tendenz bereits Habersack, JZ 2006, 91, 94; Hoffmann, ZIP 2005, 1985, 1988; Thume/Edelmann, BKR 2005, 477, 479 f.; a.A. BGH, BB 2006, 346, 347; BGH, BB 2006, 853, 854; Hofmann, BKR 2005, 487, 490; Staudinger, NJW 2005, 3521, 3522.

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48a

2. Teil: Allgemeiner Teil

Richtlinienvorgaben nach der Entscheidung des EuGH in Sachen Ingmar GB Ltd 153. Da die europarechtlich geschuldete Rechtsdurchsetzung national ggf. unter Rückgriff auf Art. 34 EGBGB erreicht werden kann, stellt sich auch hier die Frage, ob im Falle einer überschießenden Umsetzung die nationale Umsetzungsnorm kollisionsrechtlich mit ihrem nationalen Anwendungsbereich Geltung oder nur insoweit Geltung beansprucht, als diese Norm der Richtlinienumsetzung dient. Bedenkt man, dass die Rechtsdurchsetzungspflicht nur im Anwendungsbereich der Richtlinie bestehen kann, dass einer gespaltene Anwendung der nationalen Norm keine zwingenden Gründe des nationalen Rechts entgegenstehen und dass es die internationalprivatrechtliche Vertragstreue und damit korrespondierend der Ausnahmecharakter von Art. 34 EGBGB nahelegen, das anzuwendende Recht außerhalb eines zwingenden Geltungsanspruchs nach den IPR-Regeln zu bestimmen,154 so spricht alles dafür, in diesen Fällen die Umsetzungsnorm nur in den Teilen als Sachrecht zur Anwendung zu berufen, die der zwingenden Richtlinienumsetzung dienen.155

V. 49

Abschließend ist auf die Frage einzugehen, ob das nationale Gericht berechtigt sowie ggf. sogar verpflichtet ist, ein Vorabentscheidungsverfahren auch in Fällen einzuleiten, die außerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie liegen, aber von den auch der Richtlinienumsetzung dienenden Normen erfasst werden. Dabei sei zunächst auf die andernorts ausführlich beschriebenen, auf nationalem wie auf europäischem Recht gründenden Bedenken gegen eine Vorlagebefugnis – und erst Recht gegen eine Vorlagepflicht – in Fällen überschießender Umsetzung verwiesen.156 An dieser Stelle gilt es allein, die zwischenzeitlich ergangene Rechtsprechung des EuGH vor dem Hintergrund der mittlerweile deutlich vorangekommenen mitgliedstaatlichen Dogmatik der Auslegung nationalen Rechts im Überschussbereich zu würdigen. 1.

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Zur Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs

Rechtsprechung des EuGH

In nunmehr gefestigter Rechtsprechung157 beantwortet der EuGH Fragen nach der Auslegung europäischer Richtlinien auch dann, wenn der streitgegenständliche Fall 153 EuGH v. 9.1.2000 – Rs. C-381/98 Ingmar GB Ltd, Slg. I-9323 Rn. 25 f.; dazu Freitag/Leible, RIW 2001, 287 ff.; Kindler, BB 2001, 11 ff. 154 Dazu BGH, NJW 2006, 762 Rn. 28 mwN. 155 So denn auch BGH, ZIP 2009, 2004 Rn. 32; zuvor bereits BGH, NJW 2006, 762 Rn. 29; für Anwendung des Art. 34 EGBGB auch im Überschussbereich hingegen Pfeiffer, IPRax 2006, 238, 241. 156 Eingehend Habersack/Mayer, JZ 1999, 913 ff. 157 S. namentlich EuGH v. 7.1.2003 – Rs. C-306/99 BIAO, Slg. 2003, I-1 Rn. 88 ff. mit zahlreichen Nachweisen zur älteren Rechtsprechung. Gleicher Ansicht die überwiegende Meinung in der Literatur, z.B. Heß, RabelsZ 66 (2002), 470, 484 ff.; Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, S. 198 ff.; Lutter, FS Heldrich, S. 577 ff.; Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 693 ff.; Schön, JbFfSt 2001/2002, 2002, 29, 31 ff. Krit. demgegenüber neben Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 919 ff. insbes. Hakenberg, RabelsZ 66 (2002), 367, 378 f. und Grigoleit/Herresthal, JZ 2003, 118, 119.

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§ 15 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

außerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie angesiedelt, aber eine Auslegung der Richtlinie infolge einer nationalen Erstreckung zur Entscheidung des Verfahrens vor dem mitgliedstaatlichem Gericht erforderlich ist. Der Gerichtshof überlässt die Frage, ob eine solche Auslegung erforderlich ist, der Einschätzung durch das vorlegende Gericht und beschränkt sich auf eine Missbrauchskontrolle.158 2.

Präzisierung der Fragestellung

Nach den bislang getroffenen Feststellungen gründet die Richtlinienorientierung der Auslegung des nationalen Rechts im Überschussbereich allein auf nationalem Recht. In diesem Bereich wirkt die Richtlinie nicht durch richtlinienkonforme Auslegung als interpretatorische Vorrangregel; sie stellt vielmehr einen Auslegungsgesichtspunkt innerhalb einer interpretatorischen Gesamtabwägung dar. Ob im Ergebnis eine einheitliche oder eine gespaltene Auslegung der nationalen Norm vorzunehmen ist, hängt seinerseits bisweilen von dem Ergebnis der Auslegung der Richtlinie durch den EuGH ab, da im Rahmen dieser Gesamtabwägung auch zu berücksichtigen ist, inwieweit sich die richtlinienkonforme Auslegung von der ursprünglichen Sachentscheidung des Gesetzgebers entfernt. Die für die Vorlageberechtigung und ggf. Vorlagepflicht mitgliedstaatlicher Gerichte entscheidende Frage lautet daher, ob eine Vorlage auch dann möglich ist, wenn die Richtlinie weder nach europäischem noch nach nationalem Recht unmittelbar anwendbar ist, die Richtlinie aber nach nationalem Recht einen Auslegungsgesichtspunkt innerhalb einer interpretatorischen Gesamtabwägung bildet und der Richtlinie innerhalb dieser Gesamtabwägung zwar Gewicht, aber kein Vorrang zukommt. 3.

51

Vorlagemöglichkeit?

Versucht man die soeben formulierte Frage mit den vom EuGH entwickelten Kriterien zu beantworten, so zeigt sich, dass die Rechtsprechung hierzu keineswegs eindeutig ist. Vielmehr finden sich zwei unterschiedliche Begründungsstränge, die zu diametral abweichenden Ergebnissen führen. Einerseits betont der EuGH in seiner Dzodzi-Rechtsprechung (Rn. 28) den Kooperationscharakter des Verfahrens nach Art. 267 AEUV/234 EG und gewährt damit den mitgliedstaatlichen Gerichten ein weites Vorlageermessen. Nach diesem Begründungsstrang sind Vorlagen deutscher Gerichte zulässig.

52

Andererseits hat der Gerichtshof bislang davon Abstand genommen, die in Kleinwort Benson entwickelten Kriterien eines unmittelbaren und zwingenden Verweises des nationalen Rechts auf Gemeinschaftsrecht159 aufzugeben. Den von den Generalanwälten vorgebrachten Bedenken gegen ein Vorabentscheidungsverfahren, welches den Charakter eines Rechtsgutachtens hätte,160 begegnet er durch Verweis auf die

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158 Zu dieser Missbrauchskontrolle s. namentlich EuGH v. 10.12.2002 – Rs. C-153/00 Paul der Weduwe, Slg. 2002, I-11319. 159 EuGH v. 28.3.1995 – Rs. C-346/93 Kleinwort Benson, Slg. 1995, I-615 Rn. 16; krit. dazu Ackermann, in diesem Band, § 21 Rn. 37 ff. 160 Zusammenfassend GA Jacobs, SchlA v. 15.11.2001 – Rs. C-306/99 BIAO, Slg. 2003, I-1 Tz. 61.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Bindung der mitgliedstaatlichen Gerichte an das Ergebnis des Vorabentscheidungsverfahrens.161 Betrachtet man diesen Begründungsstrang, so sind auch nach der Rechtsprechung des EuGH Vorlagen deutscher Gerichte bei überschießender Umsetzung von Richtlinien unzulässig. Die gegenteiligen Sachentscheidungen des EuGH beruhen dann einerseits auf einer Fehleinschätzung der nationalen Gerichte hinsichtlich der Zulässigkeitsvoraussetzungen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV/234 EG und andererseits auf einer Fehleinschätzung des EuGH hinsichtlich der Wirkung und Verbindlichkeit seiner Urteile bei richtlinienorientierter Auslegung im Rahmen der überschießenden Umsetzung von Richtlinien.

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Versucht man einzuschätzen, wohin sich die Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickeln wird, so muss angesichts der bisherigen Tendenz des Gerichtshofs zu einer Ausweitung der eigenen Zuständigkeit auch hier der von Schön in einem Diskussionsbeitrag geprägte Satz gelten: „Und eines ist beim EuGH klar: Wer fragt, der bekommt auch eine Antwort.“ 162

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Versucht man hingegen, einzuschätzen, wie sich die Rechtsprechung entwickeln sollte, so sind die bereits bekannten Bedenken nicht geringer geworden. Nicht zuletzt die erste Frage des OLG Bremen im Vorabentscheidungsverfahren in Sachen Crailsheimer Volksbank zeigt, dass gerade im Bereich überschießender Umsetzung taktische Vorlagefragen163 möglich sind. Der EuGH hat die erste Vorlagefrage des Hanseatischen Oberlandesgerichts – aus Sicht des Gemeinschaftsrechts: konsequent und, wie man annehmen darf, ganz im Sinne des vorlegenden Gerichts – mit einem Verbot zusätzlicher Zurechnungskriterien entschieden. Richtigerweise hätte der BGH gleichwohl eine gespaltene Auslegung des § 312 BGB vornehmen und das Berufungsurteil ggf. aufheben sollen. Schwer zu begegnen wäre dann freilich dem tatsächlich gänzlich unbegründeten Eindruck, der BGH halte sich nicht an die Rechtsprechung des EuGH. Im Ergebnis hätte die Vorlage dann weder den Parteien des Rechtsstreits noch der Rechtsfindung gedient, die Reputation aller Beteiligten aber gelitten.

VI. Zusammenfassung und Ausblick 56

Die mit der überschießenden Umsetzung von Richtlinien verbundenen Probleme gehören zu den dogmatisch reizvollen und dabei gleichzeitig praxisrelevanten Methodenfragen unserer Tage. Nach der hier vertretenen Ansicht bestimmt sich die Auslegung des nationalen Rechts im Überschussbereich allein nach nationalen Kriterien. Eine danach erforderliche richtlinienorientierte Auslegung hat das von der Richtlinie

161 EuGH v. 7.1.2003 – Rs. C-306/99 BIAO, Slg. 2003, I-1 Rn. 92. Zu kurz greift daher der Ansatz von Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, S. 201 ff. und S. 217 ff., wonach eine Bindungswirkung schon deshalb bestehe, weil das vorlegende Gericht an die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH gebunden sei, und der EuGH die u.a. in Kleinwort-Benson und BIAO aufgestellten zusätzlichen Voraussetzungen aufgeben solle. 162 Schön, JbFfSt 2001/2002, 2002, S. 29, 34. 163 Dazu allgemein Thüsing, BB 2006, Heft 23, S. I.

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§ 15 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

innerhalb ihres Anwendungsbereiches geforderte Auslegungsziel im Wege der interpretatorischen Gesamtabwägung zu bedenken. Hierbei spricht zwar eine generelle Vermutung für die einheitliche Auslegung identischer Normen; doch konnte gezeigt werden, dass in verschiedenen Fallgruppen auch die gespaltene Auslegung der nationalen Norm zutreffendes Auslegungsergebnis sein kann. Der gegenwärtige Trend zu einer Ausdehnung der Grenzen richtlinienkonformer Auslegung164 und zu einer unmittelbaren Geltung der Grundfreiheiten auch zwischen Privaten165 nimmt dem Problem der überschießenden Umsetzung nichts von seiner Bedeutung. Im Gegenteil: Je weiter die Grenzen richtlinienkonformer Auslegung sind und je unmittelbarer Gemeinschaftsrecht innerhalb seines Anwendungsbereiches wirkt, desto schärfer stellt sich die Frage nach der mittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts bei überschießender Umsetzung.

164 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 116; BGHZ 179, 27 Rn. 19 ff.; s.a. Roth, in diesem Band, § 14 Rn. 31 ff. 165 EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 Angonese, Slg. 2000, I-4139 Rn. 30 ff.

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§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien Christian Hofmann

Übersicht I. Einleitung

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II. Allgemeine Grundsätze zur Wirkung von EU-Richtlinien 1. Umsetzungspflicht nach Ablauf der Umsetzungsfrist . 2. Graduelle Entfaltung von Rechtswirkung . . . . . . . 3. Keine Bindungswirkung durch Richtlinienvorschläge .

. . . .

. . . .

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. . . .

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. . . .

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. . . .

. . . .

3–6 3 4–5 6

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7–25 8–14 8–9 10–14 15–16 17–19 20–25

IV. Die Bedeutung der Vorwirkung für die Auslegung nationalen Rechts . . . . . . 1. Umsetzung durch den Gesetzgeber vor Ablauf der Umsetzungsfrist . . . . . . 2. Auslegung während des Laufs der Umsetzungsfrist vor legislativem Tätigwerden a) Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Adeneler . . . . . . . . . . b) Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Berechtigung und Verpflichtung der Rechtsprechung zu richtlinienkonformer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Geteiltes Meinungsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . c) Nationale Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Europäische Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26–58 27–28 29–38 30–34 35–38

III. Das sog. Frustrationsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Vorgaben in der Rechtssace Inter-Environnement Wallonie . . b) Die Vorgaben in den Rechtssachen ATRAL, Mangold und Stichting 2. Keine generelle Sperrwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsfolgen des Frustrationsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Keine Auswirkungen auf die Horizontalwirkung von Richtlinien . . .

. . . .

. . . .

. . . .

Rn. 1–2

39–58 39–43 44–48 49–50 51–58

V. Die Vorwirkung von Richtlinien bei der Anwendung nationaler Vorschriften durch die Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59–64

VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65–69

Literatur: Thomas v. Danwitz, Rechtswirkungen von Richtlinien in der neueren Rechtsprechung des EuGH, JZ 2007, 697–706; Ulrich Ehricke, Vorwirkungen von EU-Richtlinien auf nationale Gesetzgebungsvorhaben, ZIP 2001, 1311–1317; ders., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts vor Ende der Umsetzungsfrist, EuZW 1999, 553–559; Martin Franzen, Anmerkung zu EuGH v. 4.7.2006 – Rs. 212/04 Adeneler, JZ 2007, 191–194; Vera I. Gronen, Die „Vorwirkung“ von Richtinien (2006); Christoph Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung (2003); Christian Hofmann, Die zeitliche Dimension der richtlinienkonformen Auslegung, ZIP 2006, 2113–2118; Abbo Junker/Oliver Aldea, Augenmaß im Europäischen Arbeitsrecht –

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Christian Hofmann

§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien Die Urteile Adeneler und Navas, EuZW 2007, 13–17; Jürgen Kühling, Vorwirkungen von EGRichtlinien bei der Anwendung nationalen Rechts – Interpretationsfreiheit für Judikative und Exekutive?, DVBl. 2006, 857–866; Jörg Neuner, Die Vorwirkung von Gesetzen im Privatrecht, in: Johannes Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung – Beiträge für Claus-Wilhelm Canaris zum 65. Geburtstag (2002), S. 83–112; Anna v. Oettingen/David Rabenschlag, Europäische Richtlinien und allgemeiner Gleichheitssatz im innerstaatlichen Recht – Anmerkungen anlässlich des Mangold-Urteils des EuGH, ZEuS 2006, 363–380; Anne Röthel, Vorwirkung von Richtlinien: viel Lärm um Selbstverständliches, ZEuP 2009, 34–55; Utz Schliesky, Die Vorwirkung von gemeinschaftsrechtlichen Richtlinien, DVBl. 2003, 631–641; Wolfgang Weiß, Zur Wirkung von Richtlinien vor Ablauf der Umsetzungsfrist, DVBl. 1998, 568–575; Hinnerk Wollenweber, Das „Mangold“-Urteil und die unmittelbare Wirkung gemeinschaftsrechtlicher Diskriminierungsverbote im deutschen Arbeitsrecht (2008). Rechtsprechung: EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, Slg. 1979, 1629; EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-1744; EuGH v. 8.5.2003 – Rs. C-14/02 ATRAL, Slg. 2003, I-4431; EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-157/02 Rieser, Slg. 2004, I-1477; EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981; EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler, Slg. 2006, I-6057; EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-138/05 Stichting Zuid Hollandse Milieufederatie, Slg. 2006, I-8339; BGHZ 138, 55–66; BVerwGE 100, 370–388; BVerwGE 107, 1–29; BVerwGE 110, 302–320.

I.

Einleitung

Der Begriff der „Vorwirkung von Richtlinien“ steht für die Rechtswirkungen, die eine Richtlinie im Stadium zwischen Inkrafttreten und Ablauf der Umsetzungsfrist auf das nationale Recht entfaltet.1 Es geht dabei um die Reichweite der Verpflichtung nationaler Stellen, die Bestimmungen der Richtlinie während des Laufs der Umsetzungsfrist zu beachten. Die wesentlichen Vorgaben finden sich in den Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen Inter-Environnement Wallonie, Mangold und Adeneler, ergänzend treten ATRAL und Stichting Zuid-Hollandse Milienfederatie hinzu.

1

Ausgehend von den allgemeinen Grundsätzen zur Wirkung von Richtlinien im nationalen Recht (dazu II.) stellt sich die Sachfrage, ob sich aus einer in Kraft getretenen Richtlinie vor Ablauf der Umsetzungsfrist Vorgaben für den nationalen Gesetzgeber ergeben und welche Rechtsfolgen sich daraus für Verwaltung und Rechtsprechung ableiten (unter III). Darauf soll die Vorwirkung von Richtlinien in Weiterentwicklung der EuGH-Rechtsprechung zum Frustrationsverbot für den Gesetzgeber in den von Richterrecht geprägten Bereichen untersucht werden (unter IV.). Diese Rechtsprechung bildet auch die Grundlage für die letzte Frage, die nach der Verpflichtung der Verwaltung, bei der Anwendung nationalen Rechts eine Vereitelung der Richtlinienziele mitberücksichtigen zu müssen (unter V.).

2

1 Ähnlich Schliesky, DVBl. 2003, 631, 633. Christian Hofmann

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2. Teil: Allgemeiner Teil

3

II.

Allgemeine Grundsätze zur Wirkung von EU-Richtlinien

1.

Umsetzungspflicht nach Ablauf der Umsetzungsfrist

Im Unterschied zu Verordnungen sind EU-Richtlinien im Sinne von Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG nur hinsichtlich ihrer Zielvorgaben verbindlich, während die Modalitäten der Umsetzung den Mitgliedsstaaten überlassen bleiben.2 Für die Einpassung in das nationale Recht steht den Mitgliedstaaten die in der Richtlinie angeordnete Umsetzungsfrist zur Verfügung.3 Ist diese Frist abgelaufen, müssen nicht nur die Vorgaben der Richtlinie im nationalen Recht umgesetzt sein. Darüber hinaus dürfen die Umsetzungsvorschriften sowie das gesamte nationale Recht nur noch in einer richtlinienkonformen Weise verändert werden.4 Für die Rechtsprechung bedeutet der Ablauf der Umsetzungsfrist, dass sie das nationale Recht, das in den Anwendungsbereich einer Richtlinie fällt, im Lichte von Wortlaut und Zweck der Richtlinie auslegen muss,5 und zwar auch dann, wenn es unverändert schon vor Erlass der Richtlinie bestand.6 Gleiches gilt für die Rechtsanwendung durch die nationale Verwaltung.7 2.

Graduelle Entfaltung von Rechtswirkung

4

Die Frage nach der Vorwirkung von Richtlinien ist zugleich die Frage nach dem zeitlichen Beginn der normativen Bindungswirkung einer Richtlinie. Durch die Umsetzungsfrist unterscheidet sich die Richtlinie nicht nur von der Verordnung, sondern auch von nationalen Gesetzen, die zugleich mit Inkrafttreten ihre vollen Rechtswirkungen entfalten.8

5

Richtlinien hingegen treten gemäß Art. 297 AEUV/254 EG nach den dort vorgeschriebenen Verfahren in Kraft, schieben jedoch ihre wesentlichen Rechtswirkungen

2 Statt aller Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EG Rn. 144. 3 EuGH v. 22.9.1976 – Rs. 10/76 Kommission ./. Italien, Slg. 1976, 1359 Rn. 11 f.; EuGH v. 19.1.1982 – Rs. 8/81 Becker, Slg. 1982, 53 Rn. 18. 4 Vgl. Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EG Rn. 150. 5 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 26; EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 79/83 Harz ./. Deutsche Tradax, Slg. 1984, 1921 Rn. 26; EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 Rn. 12; EuGH v. 7.11.1989 – Rs. 125/88 Nijman Slg. 1989, 3543 Rn. 6; aus der deutschen Rspr. vgl. BGH, NJW 1993, 3139. Einzelheiten bei W.-H. Roth, in diesem Band, § 14 Rn. 16. 6 EuGH 13.11.1990 – Rs. 106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 8; dazu ausführlich etwa Craig/de Búrca, EU Law – Text, Cases and Materials (3. Aufl. 2003), S. 213–219. S.a. W.-H. Roth, in diesem Band, § 14 Rn. 15. 7 EuGH v. 22.6.1989 – Rs. 103/88 Fratelli Constanzo Spa, Slg. 1989, 1839 Rn. 28–33; EuGH v. 29.4.1999 – Rs. C-224/97 Ciola ./. Land Voralberg, Slg. 1999, I-2517 Rn. 30; Klein, FS Everling, Bd. I (1995), S. 648; Grabitz/Hilf-v.Bogdandy, Art.10 EG Rn. 24. 8 Schliesky, DVBl. 2003, 631, 635; Neuner, in: Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, S. 86; vgl. auch Klein, FS Everling, Bd. I (1995), S. 645; Sack, WRP 1998, 241, 243.

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§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien

bis zum Zeitpunkt des Ablaufs der Umsetzungsfrist hinaus.9 Zu nennen ist insbesondere die nach Ablauf der Umsetzungsfrist mögliche unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie.10 Der Einzelne kann sich gegenüber dem Staat auf die Bestimmungen einer Richtlinie berufen, wenn diese inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen und die Richtlinie nicht oder nur unzulänglich umgesetzt wurde.11 Demgegenüber ist es den staatlichen Stellen untersagt, die Bestimmungen der Richtlinie zulasten des Einzelnen anzuwenden, unabhängig davon, ob zum maßgeblichen Zeitpunkt die Umsetzungsfrist bereits abgelaufen ist.12 Zugleich ist auch die Phase vor Ablauf der Umsetzungsfrist nicht frei von Rechtswirkungen.13 Das Harmonisierungsziel der Gemeinschaft ist bereits endgültig konkretisiert und der Umsetzungsbefehl an die Mitgliedstaaten ergangen.14 Die Richtlinie ist daher schon in dieser Phase hinsichtlich ihrer Ziele verbindlich und wird insoweit Bestandteil der nationalen Rechtsordnung.15 Für Richtlinien gilt damit eine graduelle Wirkungsintensität: Die erste Stufe beginnt mit Inkrafttreten, die zweite mit Ablauf der Umsetzungsfrist.16 3.

Keine Bindungswirkung durch Richtlinienvorschläge

Obgleich sich Inhalt und Ziele einer Richtlinie mitunter schon Jahre vor ihrem Erlass in den Richtlinienvorschlägen der Kommission abzeichnen, geht von solchen Vorschlägen keine Bindungswirkung für die Träger öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten aus. Vor Erlass der Richtlinie fehlt es an einem rechtswirksamen Legislativakt im Sinne von Art. 288 AEUV/249 EG. Dafür sprechen auch sachliche Gründe: Den

9 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler, Slg. 2006, I-6057 Rn. 118; Weiß, DVBl. 1998, 568, 570; zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien nach Ablauf der Umsetzungsfrist vgl. auch BVerfGE 75, 223, 234 ff.; vgl. auch EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, Slg. 1979, 1629 Rn. 43–45, wonach die Mitgliedstaaten innerhalb der Umsetzungsfrist ihre Handlungsfreiheit behalten; zu Zwangsgeldern wegen Nichtumsetzung EuGH v. 4.7.2000 – Rs. C-387/97 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2000, I-5047 Rn. 79–99; GA Jacobs, SchlA v. 25.6.1992 – Rs. C-156/91 Hansa Fleisch Ernst Mundt, Slg. 1992, I-5578 Tz. 13. 10 Dazu allgemein EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, Slg. 1979, 1629 Rn. 43–45; EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, Slg. 1986, 723 Rn. 46; EuGH v. 10.11.1992 – Rs. C-156/91 Hansa Fleisch Ernst Mundt, Slg. 1992, I-5567 Rn. 19 f.; ausführlich Calliess/Ruffert-Kahl, Art. 10 EG Rn. 57–61; Bach, JZ 1990, 1108, 1110; Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, Rn. 149–151; Gronen, Die „Vorwirkung“ von Richtlinien, S. 130 f. 11 EuGH v. 19.1.1982 – Rs. 8/81 Becker, Slg. 1982, 53 Rn. 25; EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 Rn. 7; EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, Slg. 1979, 1629 Rn. 43–45. 12 EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 Rn. 15 f.; SchwarzeBiervert, Art. 249 EGV Rn. 29. 13 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 41. 14 Ehricke, ZIP 2001, 1311, 1313. 15 Schliesky, DVBl. 2003, 631, 638. 16 Vgl. dazu Schliesky, DVBl. 2003, 631, 636; GA Jacobs, SchlA v. 24.4.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1992, I-5578, Tz. 30, 39.

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6

2. Teil: Allgemeiner Teil

Kommissionsvorschlägen fehlt es an gesetzgeberischer Legitimation,17 und es ist in diesem Stadium noch unklar, ob und mit welchem Inhalt ein Rechtsakt der Gemeinschaft zustande kommen wird.18

III. Das sog. Frustrationsverbot 7

Ist die Richtlinie hingegen in Kraft getreten, existiert ein Rechtsakt der Union, aus dem sich der Umsetzungsbefehl an den nationalen Gesetzgeber ergibt. Da die Richtlinienziele erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist im nationalen Recht gelten müssen, darf der Gesetzgeber zunächst untätig bleiben, also richtlinienwidriges altes Recht unverändert lassen, andererseits jedoch auch darauf verzichten, die Umsetzungsfrist (voll) auszuschöpfen, und schon vor Ablauf die nationalen Vorschriften an die Richtlinienziele anpassen. Problematisch ist ein dritter Fall, wonach der Gesetzgeber während des Laufs der Umsetzungsfrist tätig wird und Vorschriften erlässt, die mit den Richtlinienzielen nicht zu vereinbaren sind. Diese Konstellation betrifft die Frage nach der gesetzgeberischen Freiheit in der Umsetzungsphase. 1.

Die Rechtsprechung des EuGH

Der EuGH war bereits mehrfach mit dieser Fragestellung befasst. a)

8

Die Vorgaben in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie

Richtungsweisend ist die den Ausgangspunkt bildende Entscheidung Inter-Environnement Wallonie19. In dieser ging es um ein belgisches Gesetz, das in der Umsetzungsphase erlassen worden war und mit den Umweltzielen der umzusetzenden Richtlinie nicht im Einklang stand. Der EuGH kam zu dem Schluss, dass die Mitgliedstaaten aus Art. 5 Abs. 2, 189 Abs. 3 EGV (heute Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV/10 Abs. 2 EG, Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG) und aus der Richtlinie verpflichtet seien, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um das durch die Richtlinie vorgeschriebene Ziel bei Ablauf der Umsetzungsfrist zu erreichen. Daraus ergebe sich, dass während des Laufs der Unsetzungsfrist keine Vorschriften erlassen werden dürften, die geeig-

17 Schliesky, DVBl. 2003, 631, 633; Gronen, Die „Vorwirkung“ von Richtlinien, S. 21; vgl. auch Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 64, im Zusammenhang mit der Frage nach einer Heranziehung von Regelungsentwürfen für eine systematische Auslegung. 18 Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 29; Schliesky, DVBl. 2003, 631, 633; Neuner, in: Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, S. 110 f.; ders., in diesem Band, § 13 Rn. 20; Meßerschmidt, ZG 1993, 11 f.; i.Erg. auch Hilf, EuR 1993, 1, 7; Callies/RuffertRuffert, Art. 249 EG Rn. 46; nach dem Maß der Konkretisierung des Vorschlags einschränkend Furrer, Die Sperrwirkung des sekundären Gemeinschaftsrechts auf die nationalen Rechtsordnungen (1994), S. 141 f. 19 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411.

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§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien

net seien, das in der Richtlinie vorgeschriebene Ziel ernstlich in Frage zu stellen.20 Dem nationalen Gericht obliege die Prüfung, ob die Ziele der Richtlinie durch die gesetzgeberischen Maßnahmen ernstlich in Frage gestellt würden. Es habe insbesondere zu prüfen, ob die nationalen Vorschriften eine vollständige Umsetzung der Richtlinie darstellten, ihre Geltungsdauer zu beachten und die konkreten Folgen einer Anwendung dieser Vorschriften für die Ziele der Richtlinie zu untersuchen. Stelle die gesetzliche Regelung eine vollständige und endgültige Umsetzung dar und stimme sie mit den Vorgaben der Richtlinie nicht überein, sei zu vermuten, dass das vorgegebene Ziel nicht fristgerecht erreicht werde, wenn eine rechtzeitige Änderung der Vorschriften nicht mehr möglich sei. Demgegenüber stelle der Erlass vorläufiger Vorschriften oder die schrittweise Umsetzung die Ziele der Richtlinie nicht zwangsläufig in Frage.21 Der EuGH versteht die Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten daher nicht nur im Sinne einer Verpflichtung zu fristgemäßer Umsetzung des Richtlinienziels. Das ist selbstverständlich und nur eine Mindestanforderung. Hinzu tritt vielmehr das Verbot, durch zwischenzeitliche Maßnahmen die Erreichung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist zu gefährden. In Anlehnung an das aus Art. 18 WVK22 resultierende Prinzip wird dieser Grundsatz verbreitet als „Frustrationsverbot“ bezeichnet.23 b)

9

Die Vorgaben in den Rechtssachen ATRAL, Mangold und Stichting

Diese Grundsätze wurden in weiteren Entscheidungen bestätigt, zunächst in der Rechtssache ATRAL24. Der Kläger hatte Alarmsysteme in Belgien in den Verkehr gebracht und hierbei die Vorgaben der einschlägigen Richtlinie 1999/5/EG25 erfüllt. Die Umsetzungsfrist war jedoch noch nicht abgelaufen, und der belgische Staat hatte eine Verordnung erlassen, die das Inverkehrbringen der Alarmsysteme einem Genehmigungsverfahren unterwarf, was mit den Vorgaben der Richtlinie nicht vereinbar war. Der EuGH entschied, der belgische Staat hätte während des Laufs der Umsetzungs-

20 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 40, 44 f.; bestätigt durch EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-157/02 Rieser, Slg. 2004, I-1477, Rn. 66; EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler, Slg. 2006, I-6057 Rn. 117–121; so auch schon GA Jacobs, SchlA v. 24.4.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Tz. 30, 39; vgl. dazu die Berichterstattung und Folgerungen von Van Calster, E.L.Rev. 23 (1998), 385, 389; zustimmend Schwarze-Biervert, Art. 249 EG Rn. 12; Lenz/BorchardtHetmeier, Art. 249 EG Rn. 11. 21 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-1744, 1748 Rn. 46–49. 22 Vgl. dazu Weiß, DVBl. 1998, 568, 571. 23 Streinz-Streinz, Art. 10 EG Rn. 43; Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EG Rn. 150; Klein, FS Everling, Bd. I (1995), S. 645 f.; v. Danwitz, JZ 2007, 697, 700; Streinz, Europarecht, Rn. 460; Oettingen/Rabenschlag, ZEuS 2006, 363, 372; Wollenweber, Das „Mangold“-Urteil und die unmittelbare Wirkung gemeinschaftsrechtlicher Diskriminierungsverbote, S. 93 f. Gegen jede Art von Vorwirkung spricht sich hingegen Zuleeg, ZGR 1980, 466, 481 f., aus. 24 EuGH v. 8.5.2003 – Rs. C-14/02 ATRAL, Slg. 2003, I-4431. 25 Richtlinie 1999/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 9.3.1999 über Funkanlagen und Telekommunikationseinrichtungen und die gegenseitige Anerkennung ihrer Konformität, ABl. 1999 L 91/10.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

frist der Richtlinie einen Rechtsakt, der den Vorgaben der Richtlinie zuwider ein Genehmigungsverfahren einführte, nicht erlassen dürfen, da hierdurch die Erreichung der Richtlinienziele ernstlich gefährdet sei.26

11

Die Entscheidung in der Rechtssache Mangold 27 hat gerade in Deutschland große Beachtung gefunden. Das Verfahren betraf eine Altersregelung im deutschen Teilzeitund Befristungsgesetz (TzBfG). Erneut stellte sich die Frage, ob der nationale Gesetzgeber die Kompetenz besaß, während des Laufs der Umsetzungsfrist den Richtlinienzielen widersprechendes nationales Recht zu erlassen. Der EuGH bestätigte wiederum seine Kernaussage in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie, wonach die Mitgliedstaaten während der Umsetzungsfrist keine Vorschriften erlassen dürfen, die geeignet sind, die Erreichung des in der Richtlinie vorgeschriebenen Ziels ernstlich in Frage zu stellen. Dabei wurde erstmals klargestellt, dass dies unabhängig davon gilt, ob die fragliche und nach Inkrafttreten der Richtlinie erlassene nationale Regelung die Umsetzung der Richtlinie bezweckt. Auch gilt nichts anderes, wenn die gesetzliche Regelung nur wenige Wochen nach Ablauf der Umsetzungsfrist außer Kraft tritt.28

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Dieses Frustrationsverbot begründete der EuGH in Mangold einerseits mit einer Besonderheit des Einzelfalls, die darin bestand, dass die Bundesrepublik Deutschland eine Verlängerung der Umsetzungsfrist zugestanden bekommen hatte, dabei aber zur jährlichen Berichterstattung über die zur Erreichung der Richtlinienziele unternommenen Maßnahmen verpflichtet wurde. Ein solches Zugeständnis impliziere, dass der Mitgliedstaat Maßnahmen ergreife, um die nationalen Vorschriften dem in der Richtlinie vorgeschriebenen Ergebnis anzunähern. Wäre es dem Mitgliedstaat gestattet, in dieser Zeit Maßnahmen zu erlassen, die mit den Zielen der Richtlinie unvereinbar sind, wäre der Verpflichtung jede Wirksamkeit genommen.29 Darüber hinaus stützte der EuGH das Verbot auf den Umstand, dass einige der von dem Übergangsgesetz Betroffenen auch nach Auslaufen des Gesetzes nicht mehr von den dann geltenden arbeitnehmerfreundlicheren Regelungen hätten profitieren können,30 und schlug damit die Brücke zu seiner Entscheidung in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie. Der EuGH lässt auch Übergangsregelungen nicht gelten, wenn sie vollendete Tatsachen schaffen werden und sich hierdurch auf die von der Richtlinie Geschützten nachteilig auswirken. Dies entspricht dem Verbot in der Rechtssache Inter-Environne-

26 EuGH v. 8.5.2003 – Rs. C-14/02 ATRAL, Slg. 2003, I-4431 Rn. 57–60. 27 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981. Das Urteil hat in der Literatur vor allem wegen seiner arbeitsrechtlichen Konsequenzen Beachtung gefunden, siehe etwa Thüsing, ZIP 2005, 2149–2151; E. Müller, ArbRB 2006, 4; Strybny, BB 2005, 2753 f.; Annuß, BB 2006, 325–327; Nicolai, DB 2005, 2641; Koenigs, DB 2006, 49 f.; Gas, EuZW 2005, 737; Reich, EuZW 2006, 20–22; Brock/Windeln, EWiR 2005, 869; Streinz, JuS 2006, 357–361; Bauer/Arnold, NJW 2006, 6–12. 28 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 67, 70. 29 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 70–72. 30 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 73.

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§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien

ment Wallonie, die Ziele der Richtlinie ernstlich in Frage zu stellen, und stellt einen typischen Anwendungsfall dieser Grundsätze dar.31 Hinzu kam, dass die nationale Maßnahme nach Auffassung des EuGH gegen einen – vom Gericht postulierten, jüngst bestätigten und nach wie vor höchst umstrittenen32 – allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, das Verbot der Altersdiskriminierung, verstieß. Zu diesem Verstoß stellte der EuGH fest, die Wahrung des Grundsatzes könne nicht vom Ablauf der Umsetzungsfrist abhängen. Das ausdrückliche Gebot an die nationalen Gerichte, keine entgegenstehende nationale Bestimmung anzuwenden, selbst wenn die Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen ist, bezog der Gerichtshof auch nur auf diesen Verstoß; gleichwohl hätte auch die vom Gerichtshof festgestellte Gefährdung der Richtlinienziele eine derartige Verpflichtung der nationalen Gerichte zu begründen vermocht, worauf sogleich (Rn. 17) näher einzugehen ist.

13

Schließlich wurden diese Grundsätze in der Entscheidung Stichting Zuid-Hollandse Milieufederatie 33 auf eine Sonderkonstellation angewandt. Die betroffene Richtlinie gestattete, die nationalen Vorschriften für Pflanzenschutzmittel über einen längeren Zeitraum schrittweise an die Richtlinienvorgaben heranzuführen. Der EuGH strich die Parallele zur Vorwirkung von Richtlinien heraus und entschied, dass auch während dieses Übergangszeitraums die Ziele der Richtlinie zu beachten seien. Der nationale Gesetzgeber sei daran gehindert, während des Übergangszeitraums Vorschriften zu erlassen, mit denen die Richtlinienziele ernsthaft in Frage gestellt werden könnten.34

14

2.

Keine generelle Sperrwirkung

Diese Rechtsprechung hat zu Recht breite Zustimmung gefunden.35 Die Vorwirkungsproblematik führt zum Konflikt zweier Grundsätze des Richtlinienrechts: Einerseits behält der nationale Gesetzgeber während des Laufs der Umsetzungsfrist seine Souveränität im Grundsatz bei, andererseits sind die Mitgliedstaaten gehalten, dem Richtlinienziel mit Ablauf der Umsetzungsfrist auf nationaler Ebene Geltung zu verschaffen. Letzterer ist der Grundsatz, der zur Realisierung der Ziele der Union erforderlich ist, weswegen er sich durchzusetzen vermag. Zugleich gelingt es dem EuGH, die Interessen des nationalen Gesetzgebers nur schonend und im erforderlichen Maße einzuschränken. Ist eine Gefährdung der Richtlinienziele nach Fristablauf nicht zu befürchten, ist der nationale Gesetzgeber auch während des Laufs der Umsetzungsfrist nicht gehindert, richtlinienwidrige Vorschriften zu erlassen.

31 Röthel, ZEuP 2009, 34, 39. 32 Bestätigt durch EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, (noch nicht in Slg.) Rn. 21. Zur Kritik siehe etwa Preis, NZA 2006, 401–410. 33 EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-138/05 Stichting Zuid Hollandse Milieufederatie, Slg. 2006, I-8339. 34 EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-138/05 Stichting Zuid Hollandse Milieufederatie, Slg. 2006, I-8339 Rn. 42–48. 35 Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EG Rn. 46, 199; Streinz-Streinz, Art. 10 EG Rn. 43; Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EG Rn. 150; Klein, FS Everling, Bd. I (1995), S. 645 f.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

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Damit beschränkt die Ansicht, die aus der Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV/10 Abs. 2 EG eine generelle Sperrwirkung gegenüber richtlinienwidrigem nationalem Recht in der Umsetzungsphase ableitet,36 die Mitgliedstaaten über das gebotene Maß hinaus. Da eine richtlinienkonforme Rechtslage erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist hergestellt sein muss, trägt eine umfassende Sperrwirkung der Zweistufigkeit der Richtlinien-Rechtssetzung nicht ausreichend Rechnung.37 3.

Rechtsfolgen des Frustrationsverbots

17

Zur Durchsetzung der Richtlinienziele sind alle nationalen Stellen, nicht nur das mit der Umsetzung unmittelbar befasste Organ berufen. Erlässt der Gesetzgeber Vorschriften, die das Richtlinienziel ernsthaft in Frage stellen, sind die nationalen Behörden und Gerichte gehalten, einen möglichst richtlinienkonformen Zustand herzustellen. Für die Zeit nach Ablauf der Umsetzungsfrist ist dies allgemein anerkannt.38 Unter den vom EuGH vorgegebenen Voraussetzungen kann jedoch auch für die Zeit davor nichts anderes gelten. Dagegen lässt sich nicht einwenden, die richtlinienkonforme Auslegung in diesem Stadium verstoße gegen die Gewaltenteilung, da der Gesetzgeber sein Ermessen bereits ausgeübt hat.39 Somit gilt in konsequenter Umsetzung der Vorgaben des EuGH eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass die Gerichte und Behörden erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist zu richtlinienkonformer Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts verpflichtet sind.

18

Vorauszugehen hat stets eine sorgfältige Prüfung, ob die Richtlinienziele tatsächlich ernstlich in Frage gestellt werden. Dabei ist zu beachten, dass sich der EuGH gerade nicht gegen jede richtlinienwidrige nationale Vorschrift in der Übergangsperiode ausspricht. Unbedenklich sind daher schrittweise Umsetzungen, etwa erste unzureichende Maßnahmen, sofern weitere Teilumsetzungen noch vor Ablauf der Umsetzungsfrist erfolgen und stufenweise auf das angestrebte Endziel hingearbeitet wird.40

19

Ob eine Regelung, die mit Ablauf der Umsetzungsfrist automatisch außer Kraft tritt, nach diesen Grundsätzen zulässig ist, kann nicht pauschal beantwortet werden.41

36 Pieper, DVBl. 1990, 684, 685; vgl. insoweit auch GA Mancini, SchlA v. 7.10.1986 – Rs. 30/85 Teuling, Slg. 1987, 2507 Tz. 7. 37 In diesem Sinne Streinz-Schroeder, Art. 249 EG Rn. 130; Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EG Rn. 153; Callies/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EG Rn. 46; Oettingen/Rabenschlag, ZEuS 2006, 363, 371 f.; Gronen, Die „Vorwirkung“ von EG-Richtlinien, S. 97–99; Zuleeg, ZGR 1980, 466, 481 f.; Kühling, DVBl. 2006, 857, 859. 38 Dezidiert EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, (noch nicht in Slg.) Rn. 47 f.; EuGH v. 22.6.1989 – Rs. 103/88 Fratelli Costanzo, Slg. 1989, 1839 Rn. 28–33; EuGH v. 29.4.1999 – Rs. C-224/97 Ciola/Land Voralberg, Slg. 1999, I-2517 Rn. 30; Klein, FS Everling, Bd. I (1995), S. 648; Grabitz/Hilf-v.Bogdandy, Art. 10 EG Rn. 24. 39 Streinz-Schroeder, Art. 249 EG Rn. 83 f. 40 Ehricke, ZIP 2001, 1311, 1314. 41 Die somit erforderliche Einzelfallentscheidung kann sich an den Vorgaben des EuGH in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie ausrichten. Während eine vorläufige und stufenweise Durchsetzung der Richtlinienziele die mangelnde Übereinstimmung nationaler Über-

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§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien

Einerseits entfaltet sie für Neufälle keine Rechtswirkungen mehr; andererseits mögen Altfälle Bestandsschutz genießen oder irreversible Zustände schaffen und somit die richtlinienwidrigen Wirkungen auch in die Phase nach Ablauf der Umsetzungsfrist hineintragen, insbesondere wenn sie quantitativ oder qualitativ ins Gewicht fallen. Neben dem Beispiel in der Rechtssache Mangold ist etwa an Genehmigungen zu denken, die auch nach Außerkrafttreten der zugrunde liegenden nationalen Normen Bestand haben und deren richtlinienwidrige Folgen daher nachwirken. Eine ernsthafte Gefährdung der Richtlinienziele ist zugleich nur bei einer größeren Breitenwirkung solcher Genehmigungen zu befürchten. Davon ist etwa bei einem Planfeststellungsverfahren auszugehen, wenn wesentliche Naturbelange irreversibel beeinträchtigt werden, so dass die naturschützenden Ziele einer Richtlinie auch dann unterlaufen werden, wenn die nationalen Vorgaben mit Ablauf der Umsetzungsfrist an die Richtlinienziele angeglichen werden.42 4.

Keine Auswirkungen auf die Horizontalwirkung von Richtlinien

Umstritten ist, wie sich die Vorwirkung auf das Horizontalverhältnis auswirkt. Einige Stimmen in der Literatur interpretieren das Mangold-Urteil dahin, dass der EuGH eine unmittelbare Horizontalwirkung anerkannt habe und somit von seiner bisherigen Dogmatik für die Phase der Umsetzungsfrist abgekehrt sei.43 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH können Richtlinien nur im Verhältnis von Staat und Bürger unmittelbar angewandt werden, so dass eine horizontale Drittwirkung ausscheidet.44

20

Im Mangold-Urteil hatte der EuGH im Ergebnis einem Arbeitgeber untersagt, sich auf die Vorschriften einer nationalen Norm zu stützen, wenn hierdurch für einen Arbeitnehmer ein Zustand entstehen würde, der die Erreichung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist ernstlich in Frage stellt. Jedenfalls rein faktisch war daher das Verhältnis privater Rechtssubjekte von der Anwendung der Vorwirkungsgrundsätze betroffen. Der EuGH hatte dieses Ergebnis jedoch, wie bereits dargestellt, auf einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts gestützt. Daher wird dem Urteil die Aussagekraft zur Horizontalwirkung von Richtlinien ganz überwiegend abgespro-

21

gangsvorschriften mit der Richtlinie nicht zwangsläufig begründe, sollen Vorschriften, die sich als eine endgültige und vollständige Umsetzung der Richtlinie darstellen, vermuten lassen, dass die Richtlinienziele nicht fristgerecht erreicht werden, wenn eine rechtzeitige Änderung der Vorschriften nicht möglich ist, vgl. EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 48 f. 42 Dazu die noch unten, Rn. 63 ff., anzusprechenden Urteile BVerwGE 100, 370; BVerwGE 107, 1; BVerwGE 110, 302, wobei es dort nicht um die Anwendung während der Sperrfrist erlassenen, sondern älteren nationalen Rechts ging. 43 So etwa Hailbronner, NZA 2006, 811, 814; Streinz/Herrmann, RdA 2007, 165, 168; Preis, NZA 2006, 401, 404; Giesen, SAE 2006, 45, 50; Thüsing, ZIP 2005, 2149, 2150. S.a. GA Tizzano, SchlA v. 30.6.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. I-9981 Tz. 106–111. 44 Jüngst bestätigt in EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, (noch nicht in Slg.) Rn. 46. Zu den Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendung von Richtlinien vgl. die Nachweise in Fn. 10.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

chen.45 Unabhängig davon bietet die Diskussion Anlass zu einer Stellungnahme zu der Frage, welche Wirkungen sich aus dem Frustrationsverbot für das horizontale Verhältnis Privater ergeben können. Anders formuliert: Können die Grundsätze zur Vorwirkung von Richtlinien dazu führen, dass es einem Privatrechtssubjekt wie in der Rechtssache Mangold untersagt ist, sich zulasten eines anderen Privatrechtssubjekts auf nationale Vorschriften zu berufen?

22

Die Parallelen dieser Fragestellung zur allgemein anerkannten Horizontalwirkung richtlinienkonformer Auslegung sind bestechend.46 Aus dem Gebot richtlinienkonformer Auslegung ergibt sich zwar nur die generelle Vorgabe an die Träger hoheitlicher Gewalt, das nationale Recht in Übereinstimmung mit den Richtlinienvorgaben zu bringen, nicht jedoch, eine nationale Norm unangewendet zu lassen.47 Dieses Ergebnis kann sich jedoch aus einer Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden nationalen Grundsätze ergeben, wenn diese dem Richter die Möglichkeit an die Hand geben, die Richtlinienkonformität des nationalen Rechts dadurch zu erreichen, dass eine den Zielen entgegenstehende nationale Bestimmung unangewendet bleibt.48

23

Diese Grundsätze gelten auch in der Umsetzungsphase. Der EuGH hat in der Rechtssache Adeneler entschieden, dass ein unionsrechtliches Gebot zu richtlinienkonformer Auslegung nationalen Rechts auch in der Umsetzungsphase existiert (dazu sogleich näher in Rn. 30 ff.).49 Gefährdet eine nationale Norm die Ziele der Richtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist, kann dies in konsequenter Fortführung der Grundsätze zur Vorwirkung von Richtlinien dazu führen, dass eine nationale Vorschrift unangewendet bleiben muss. Ob von einer solchen Nichtanwendung das Verhältnis von Staat und Bürger oder ein Privatrechtsverhältnis betroffen ist, kann keine Relevanz besitzen, wenn die Prämisse (richtigerweise) lautet, dass die Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist nicht gefährdet werden dürfen.

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Diese Wirkung kann nicht als unmittelbare Anwendung der Richtlinie verstanden werden. Der Private leitet keine Ansprüche unmittelbar aus der Richtlinie ab. Vielmehr wirkt die Richtlinie auf die objektive Rechtslage ein, und die nationalen Grundsätze verpflichten die staatlichen Organe dazu, die nationalen Bestimmungen, die den Richtlinienzielen entgegen stehen, unangewendet zu lassen.50 Dass sich hieraus posi45 Callies/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EGV Rn. 83, Fn. 260; Röthel, ZEuP 2009, 34, 42; Streinz/ Herrmann, RdA 2007, 165, 168; Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union (8. Aufl. 2009), § 6 Rn. 34; Oettingen/Rabenschlag, ZEuS 2006, 363, 377 f.; Reich, EuZW 2006, 20, 21; Giesen, SAE 2006, 45, 51; vgl. auch Kühling, DVBl. 2006, 857, 860. 46 Dazu W.-H. Roth, in diesem Band, § 14 Rn. 13. 47 Ein derartiges Verbot ergibt sich nur bei Verstößen gegen Primärrecht, siehe EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, (noch nicht in Slg.) Rn. 53; grundl. W.-H. Roth, in diesem Band, § 14, Rn. 9. 48 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 116. Zu den Möglichkeiten der deutschen Gerichte BGHZ 179, 27, 34 f. – Quelle: „richtlinienkonforme Rechtsfortbildung durch teleologische Reduktion“. Einzelheiten bei W.-H. Roth, in diesem Band, § 14 Rn 9; Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 220 EG Rn. 27–30. 49 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler, Slg. 2006, I-6057. 50 So die Bewertung zur Rechtssache Unilever durch Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EG Rn. 177; Oettingen/Rabenschlag, ZEuS 2006, 363, 367.

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§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien

tive Wirkungen zugunsten eines Privatrechtssubjekts ergeben, denen die Nachteile eines anderen entsprechen, ist unschädlich. Insoweit lassen sich Folgerungen allgemeiner Art aus den Grundsätzen zur unmittelbaren Anwendung von Richtlinien ableiten: Lediglich reflexartige Belastungen privater Dritter stehen einer unmittelbaren Anwendung von Richtlinien nicht entgegen.51 In diesen Wirkungen sind gewisse Parallelen der Mangold-Entscheidung zur Rechtssache Unilever zu erkennen.52 Daran zeigt sich überdies, dass auch für den Umsetzungszeitraum gilt, dass die Grenzen von richtlinienkonformer Auslegung und unmittelbarer Anwendung von Richtlinien fließend sein können.53 Entgegen einer Vielzahl kritischer Stimmen lässt sich folgern, dass Mangold die Vorwirkungsdogmatik konsequent anwendet und die bisherige Dogmatik des EuGH zur unmittelbaren Anwendung von Richtlinien im Horizontalverhältnis nicht antastet. Damit ist ausdrücklich keine Bewertung der weiteren und hier irrelevanten Frage verbunden, ob der vom EuGH behauptete allgemeine Grundsatz des Unionsrechts exisitiert und die vom EuGH abgeleiteten Folgerungen trägt.

IV.

Die Bedeutung der Vorwirkung für die Auslegung nationalen Rechts

Die Grundsätze zur Auslegung von Richtlinien durch nationale Gerichte vor Ablauf der Umsetzungsfrist haben durch die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Adeneler an Konturen gewonnen. Dennoch sind weiterhin zahlreiche Detailfragen streitig. Zu deren Beantwortung ist es erforderlich, nach den nationalen und den europäischen Vorgaben zu differenzieren und davon ausgehend zu eruieren, ob eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts zulässig und sogar geboten ist. 1.

25

26

Umsetzung durch den Gesetzgeber vor Ablauf der Umsetzungsfrist

Hat der Gesetzgeber die nationalen Vorschriften vor Ablauf der Umsetzungsfrist an die Vorgaben der Richtlinie angepasst, hat er das ihm eingeräumte Ermessen frühzeitig ausgeübt und über Form und Mittel der Umsetzung in nationales Recht entschieden. In diesen Fällen ergibt sich für die Gerichte jedenfalls aus nationalen Grundsätzen die Pflicht zur Berücksichtigung des gesetzgeberischen Willens.54

51 EuGH v. 22.6.1989 – Rs. C-103/88 Fratelli Costanzo, Slg. 1989, 1839, Rn. 28 ff.; Streinz/ Herrmann, RdA 2007, 165, 167; Herrmann, EuZW 2006, 69, 70. 52 EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-433/98 Unilever, Slg. 2000, I-7535 Rn. 49–52. 53 Röthel, ZEuP 2009, 34, 44; feststellend und zugleich kritisch Hailbronner, NZA 2006, 811, 814. 54 Ehricke, EuZW 1999, 553, 554; Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, S. 120; Sack, WRP 1998, 241, 242; Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507, 2508; W.-H. Roth, ZIP 1992, 1054, 1056 f.; Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 52; Neuner, in: Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, S. 108, Fn. 105; Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 75; Oettingen/Rabenschlag, ZEuS 2006, 363, 373.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

28

Ein unionsrechtliches Gebot zu richtlinienkonformer Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist existiert hingegen nur dann, wenn im Sinne der dargestellten EuGHRechtsprechung jede andere Auslegung zu einer ernsthaften Gefährdung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist führen wird.55 In diesen Fällen setzt sich die richtlinienkonforme Auslegung gegenüber nationalen Auslegungsprinzipien durch.56 2.

29

Auslegung während des Laufs der Umsetzungsfrist vor legislativem Tätigwerden

Problematischer ist die Beurteilung der Rechtslage hingegen in den Fällen, in denen ein nationales Gericht während des Laufs der Umsetzungsfrist mit der Auslegung nationalen Rechts befasst ist, das schon vor Erlass der Richtlinie bestand und bislang von Umsetzungsbestrebungen des nationalen Gesetzgebers unbeeinflusst geblieben ist. Dabei ist zunächst zu untersuchen, ob ein Gericht richtlinienkonform auslegen darf, und sodann, unter welchen Umständen es hierzu verpflichtet ist. a)

Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Adeneler57

30

Da der EuGH in den Rechtssachen Inter-Environnement Wallonie, ATRAL und Mangold primär zur Rolle des Gesetzgebers Stellung bezog, beschränkten sich seine Ausführungen zur Rechtsprechung auf den Hinweis, wie diese mit den gegen das Frustrationsverbot verstoßenden Vorschriften umzugehen hat. In der Rechtssache Adeneler befasste sich der EuGH hingegen auf Vorlage eines griechischen Gerichts mit der Rolle der nationalen Gerichte bei der Auslegung älteren nationalen Rechts während der Umsetzungsphase.

31

Die Vorlagefrage lautete, von welchem Zeitpunkt an ein Gericht das nationale Recht in Ansehung einer Richtlinie, die erst verspätet umgesetzt wurde, auslegen muss. Hierfür benannte das vorlegende Gericht drei denkbare Zeitpunkte, das Inkrafttreten der Richtlinie, den Ablauf der Umsetzungsfrist und den Zeitpunkt des nationalen Umsetzungsaktes.58 Der nationale Gesetzgeber hatte in der Umsetzungsphase keine den Richtlinienzielen widersprechenden Vorschriften erlassen, so dass es um die Frage ging, ob der nationale Richter schon während der Umsetzungsphase gehalten

55 So i.Erg. auch Herrmann, Richtlinienkonforme Umsetzung durch die Rechtsprechung, S. 195; W.-H. Roth, ZIP 1992, 1054, 1057; Steindorff, AG 1988, 57, 58. 56 Dies ist die Folge des gemeinschaftsrechtlichen Gebotes, das nationale Umsetzungsrecht richtlinienkonform zu interpretieren, vgl. zu diesem EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 26; EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 79/83 Harz ./. Deutsche Tradax, Slg. 1984, 1921 Rn. 26; EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 Rn. 12; EuGH v. 7.11.1989 – Rs. 125/88 Nijman, Slg. 1989, 3543 Rn. 6, und zum Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung i.Erg. wie hier Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EG Rn. 153; Lutter, JZ 1992, 593, 604; ders., FS Bydlinksi (2002), S. 75; Bach, JZ 1990, 1108, 1111; Zuleeg, ZGR 1980, 466, 471; einschränkend Jarass, EuR 1991, 211, 218; a.A. Di Fabio, NJW 1990, 954, 953 (allerdings vor Neufassung des Art. 23 GG). 57 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adelener, Slg. 2006, I-6057. 58 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler, Slg. 2006, I-6057 Rn. 32.

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§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien

war, das alte, schon vor Erlass der Richtlinie bestehende Recht richtlinienkonform auszulegen. Ausgehend von dem Grundsatz, dass alle staatlichen Stellen im Mitgliedstaat der Verpflichtung unterliegen, den Vorgaben des Unionsrechts zu voller Wirkung zu verhelfen, betonte der EuGH die Verpflichtung der nationalen Gerichte, sich behindernder Maßnahmen im Sinne der Inter-Environnement Wallonie-Rechtsprechung zu enthalten. Daraus folge, dass die nationalen Gerichte vom Zeitpunkt der Wirksamkeit der Richtlinie an gehalten seien, so weit wie möglich jede Auslegung nationalen Rechts, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist die Richtlinienziele ernsthaft gefährden könne, zu vermeiden.59

32

In Adeneler ging der EuGH damit über seine bisherigen Aussagen hinaus. In den früheren Entscheidungen hatte der EuGH nur vorgegeben, dass die nationalen Gerichte aus unionsrechtlichen Gründen die Regelungen einer Richtlinie vor Ablauf der Umsetzungsfrist in zwei Konstellationen bei der Auslegung nationalen Rechts heranziehen müssen: erstens, wenn der Gesetzgeber nationales Recht in Kraft gesetzt hat, das die Erreichung der Richtlinienziele ernsthaft in Frage stellt; zweitens, wenn der Gesetzgeber die Vorgaben der Richtlinie schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist umgesetzt hat und eine nicht an den Richtlinienzielen orientierte Auslegung die Gefahr birgt, die Erreichung der Richtlinienziele zu gefährden.

33

Da die Vorgabe des EuGH in Adeneler demgegenüber lautete, dass die nationalen Gerichte jede Auslegung nationalen Rechts unterlassen müssen, die ernsthaft geeignet ist, die Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist zu verhindern, wurden nunmehr auch die Fälle einbezogen, in denen es an einem nationalen Gesetzgebungsakt in Reaktion auf den Richtlinienerlass fehlte.60

34

b)

Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs

In der deutschen Rechtsprechung war der Bundesgerichtshof mit der Problematik befasst, als er nach Erlass der Richtlinie 97/55/EG 61 die Frage entscheiden musste, ob vergleichende Werbung bisheriger Rechtsprechungstradition entsprechend auch weiterhin einen Verstoß gegen § 1 UWG darstellte oder aufgrund der Vorgaben der Richtlinie nunmehr als zulässig zu beurteilen war. Zum Zeitpunkt der BGH-Entscheidung war § 1 UWG a.F. bekanntlich vom Gesetzgeber nur generalklauselartig

59 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler, Slg. 2006, I-6057 Rn. 122 f.; so auch schon GA Tizzano, SchlA v. 30.6.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. I-9981 Tz. 120. Junker/Aldea, EuZW 2007, 13, 15, ist beizupflichten, dass es sich dabei zwar um eine neue, jedoch lediglich konsequente und aus der bisherigen Vorwirkungsdogmatik abzuleitende Aussage handelt. Dagegen Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht (6. Aufl. 2009), Rn. 338. 60 Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 25. 61 Richtlinie 97/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 6.10.1997 zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG über irreführende Werbung zwecks Einbeziehung der vergleichenden Werbung, ABl. 1997 L 290/18.

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35

2. Teil: Allgemeiner Teil

ausgestaltet worden und bedurfte der Ausformung durch die Rechtsprechung.62 Die Fallgruppen sittenwidriger Beeinflussung des Wettbewerbs waren als Richterrecht gebildet und beständig weiterentwickelt worden.63

36

Der Bundesgerichtshof vertrat vor diesem Hintergrund den Standpunkt, seine Rechtsprechung auch schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist an die Vorgaben einer Richtlinie anpassen zu können. Dies beruhe darauf, dass der Richter nach deutschem Rechtsverständnis befugt sei, sein bisheriges Auslegungsergebnis zu korrigieren und den geänderten rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen Rechnung zu tragen, was auch für den Zeitraum vor Ablauf der Umsetzungsfrist von Richtlinien gelte. Voraussetzung hierfür sei, dass die nationale Rechtslage mit den Regelungen der Richtlinie nicht im Einklang stehe.64

37

Der BGH betonte jedoch auch, dass primär der Gesetzgeber berufen sei, das den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Umsetzung der Richtlinie eingeräumte Ermessen auszuüben, und sich die Rechtsprechung daher grundsätzlich erst dann zu richtlinienkonformer Auslegung verpflichtet sehen müsse, wenn die Umsetzungsfrist abgelaufen und der Inhalt der Richtlinie eindeutig sei.65 Gleichwohl greife die Rechtsprechung auch bei früherer Berücksichtigung der Richtlinienziele nicht in die Kompetenzen des Gesetzgebers ein, und zwar nicht nur dann, wenn ohnehin kein Spielraum bei der Umsetzung verbleibe, sondern auch in den übrigen Fällen, da sie der Entscheidung des Gesetzgebers nicht vorgreife.66

38

Diese Ausführungen belegen, dass sich der BGH durch nationales Recht nicht gehindert sah, vor Ablauf der Umsetzungsfrist richtlinienkonform auszulegen. Darüber hinaus hielt er sich dazu auch verpflichtet. Es sei sachlich geboten, dass sich die Rechtsprechung vor Ablauf der Umsetzungsfrist an der Richtlinie orientiere.67 Diese Gebotenheit schien der BGH aus den Vorgaben des EuGH abzuleiten, da er dessen Rechtsprechung in Inter-Environnement Wallonie heranzog.68

62 Erst einige Zeit nach Entscheidung des BGH nahm der deutsche Gesetzgeber die einschlägige Richtlinie zum Anlass, das UWG grundlegend zu überarbeiten und konzeptionell teilweise neu zu gestalten, vgl. dazu das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) v. 3.7.2004, BGBl. 2004 I, 1414. 63 Vgl. etwa (unter bewusster Bezugnahme auf ältere Auflagen) Baumbach/Hefermehl, Wettbewerbsrecht (20. Aufl. 1998), Einl. UWG Rn. 72; Beater, Unlauterer Wettbewerb (2002), § 12 Rn. 1–7; ders., AcP 194 (1994), 82, 83–85; Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht (6. Aufl. 1999), § 2 Rn. 21. 64 BGHZ 138, 55, 59–64; seine auf die Richtlinie gestützte Rechtsprechungsänderung hat der BGH mehrfach bestätigt, vgl. BGH, NJW 1998, 3561; BGHZ 139, 378; BGH NJW-RR 2000, 631. 65 BGHZ 138, 55, 61; zustimmend Herrmann, Richtlinienkonforme Umsetzung durch die Rechtsprechung, S. 198. 66 BGHZ 138, 55, 62 f. 67 BGHZ 138, 55, 64. 68 BGHZ 138, 55, 62–64. Zu einer anderen Interpretation des Urteils gelangt Kühling, DVBl. 2006, 857, 862: Der BGH habe entscheidend auf den Gedanke einer gewandelten Rechtsordnung, nicht auf die Vorgabe der Richtlinie abgestellt. Tatsächlich wird der Gedanke der gewandelten Rechtsordnung jedoch nur bekräftigend nachgeschoben. Siehe auch die ältere

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§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien

3.

Berechtigung und Verpflichtung der Rechtsprechung zu richtlinienkonformer Auslegung

a)

Geteiltes Meinungsbild

Im Schrifttum werden vereinzelt Bedenken gegen eine Befugnis der Rechtsprechung erhoben, vor Ablauf der Umsetzungsfrist richtlinienkonform auszulegen. Diese Bedenken werden teils auf Aspekte des nationalen Rechts, teils auf solche des Unionsrechts gestützt. In nationaler Hinsicht wird vorgebracht, dass eine richtlinienkonforme Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist zu einer Kompetenzanmaßung in den Fällen führen würde, in denen nach innerstaatlicher Kompetenzverteilung die Legislative die Umsetzung der Richtlinie übernehme. Hier werde der Entscheidung des Gesetzgebers über Form und Mittel der Umsetzung vorgegriffen und der gesetzgeberische Entschluss, die bisherige nationale Rechtslage (zunächst) beizubehalten, missachtet.69 Die Folge sei ein nationaler Zuständigkeitskonflikt, wenn die Rechtsprechung anstelle des Gesetzgebers den von der Richtlinie eingeräumten Umsetzungsspielraum ausübe.70 Aus europarechtlicher Sicht sind es hingegen Gründe der Umsetzungssicherheit, die gegen die frühzeitige Zulässigkeit richtlinienkonformer Auslegung sprechen sollen.71

39

Überwiegend wird die Zulässigkeit richtlinienkonformer Auslegung hingegen bejaht. Der Richter dürfe schon im Zeitraum zwischen Erlass der Richtlinie und Ablauf der Umsetzungsfrist die Vorgaben der Richtlinie berücksichtigen, wenn er vor der Richtlinie in Kraft getretenes nationales Recht auslege, und seine Rechtsprechung daran anpassen.72 Dafür werden Praktikabilitätserwägungen und der Einwand bloßer Förmelei der Gegenansicht angeführt: Stehe eine Umsetzung der Richtlinie bevor, sei es widersinnig, zunächst noch eine die Richtlinie ignorierende Lösung anzuwenden, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist keinen Bestand mehr haben könne.73 Auch sei eine richtlinienkonforme Rechtsprechung geeignet, die Tätigkeit des Gesetzgebers zu fördern, da für diesen erkennbar werde, inwieweit eine Umsetzung der Richtlinienziele

40

69 70

71 72

73

Entscheidung des BGH, NJW 1993, 3139, in der er davon ausgegangen war, aus den Vorgaben des europäischen Rechts erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist zu richtlinienkonformer Auslegung verpflichtet und schon ab deren Inkrafttreten hierzu berechtigt zu sein. Ehricke, EuZW 1999, 553, 556; Götz, NJW 1992, 1849, 1854. Vgl. Scherzberg, Jura 1993, 225, 232; Staudinger, JR 1999, 198, 199 f. (Anm. zu BGHZ 138, 55): Der Judikative sei nur untersagt, von einer richtlinienkonformen Rechtsprechung während der Umsetzungsfrist abzuweichen, nicht aber, eine richtlinienwidrige aufrecht zu erhalten. Ehricke, EuZW 1999, 553, 556. Lutter, JZ 1992, 593, 605; ders., FS Bydlinksi (2002), S. 76; Neuner, in: Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, S. 108; zweifelnd, ob nicht doch sogar eine Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung besteht, Ress, DÖV 1990, 489, 492 f. Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 57. Nach Everling, ZGR 1992, 376, ist es wenig sinnvoll, während einer längeren Umsetzungsfrist die bisherige Rechtsprechung im Wissen um die Tatsache, diese ab einem bestimmten Zeitpunkt ändern zu müssen, beizubehalten; so auch Sack, WRP 1998, 241, 244.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

allein durch Rechtsprechungsänderung möglich sei oder noch Handlungsbedarf verbleibe.74

41

Zugleich wird von Vertretern dieser Ansicht betont, dass aus Sicht des Unionsrechts keine Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung bestehe: Der den Mitgliedstaaten vom Unionsrecht zugestandene Handlungsspielraum würde durch eine vor Fristablauf bestehende Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung entwertet, wenn ein solches Gebot bestünde. Daraus folge, dass die nationalen Gerichte ihre bisherige, mit der Richtlinie nicht im Einklang stehende Rechtsprechung wahlweise auch beibehalten dürften.75 Eine Ausnahme leite sich jedoch wiederum aus dem Frustrationsverbot ab. Werde die Erreichung der Richtlinienziele gefährdet, müsse schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist richtlinienkonform ausgelegt werden.76

42

Wieder andere Stimmen bejahen die Kompetenz der Rechtsprechung zu richtlinienkonformer Auslegung nur in eingeschränktem Maße: Eine Ausnahme von der grundsätzlichen Zulässigkeit bestehe dann, wenn der Gesetzgeber vor Ablauf der Frist noch nicht vollständig umsetzen wollte.77 Noch restriktiver ist die Ansicht, wonach die Rechtsprechung sich nur dann vor Ablauf der Umsetzungsfrist an den Vorgaben der Richtlinie orientieren darf, wenn eine gesetzliche Anpassung nicht zu erwarten ist, wenn eine solche schon vorliegt oder wenn der Rechtsprechung die Aufgabe der Rechtsfortbildung zufällt.78 Schließlich wird vertreten, dass der Rechtsprechung die Kompetenz zu richtlinienkonformer Auslegung in ihrem ureigensten Kompetenzbereich, der Ausformung unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln, zuzugestehen, ihr Rechtsfortbildung vor Ablauf der Umsetzungsfrist jedoch zu untersagen sei.79

43

Um die aufgeworfenen Fragen beantworten zu können, ist nach den nationalen und den europäischen Vorgaben zu unterscheiden. Die nationalen Vorgaben sind davon abhängig, welcher Träger öffentlicher Gewalt mit der Umsetzung befasst ist. Daher stellt sich die Vorfrage der innerstaatlichen Zuweisung der Umsetzungsaufgabe. b)

44

Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung

Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG überlässt den Mitgliedstaaten die Wahl der Form und der Mittel der Umsetzung, schreibt also keinen bestimmten nationalen 74 Herrmann, Richtlinienkonforme Umsetzung durch die Rechtsprechung, S. 203. 75 Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507, 2508; Forsthoff, DStR 2006, 613, 618; i.Erg. auch Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EG Rn. 118. 76 Streinz-Schroeder, Art. 249 EG Rn. 130; Oettingen/Rabenschlag, ZEuS 2006, 363, 374; Franzen, JZ 2007, 191, 192. 77 Lutter, JZ 1992, 593, 605; Jarass, EuR 1991, 211, 221. 78 Zu allen Kriterien W.-H. Roth, ZIP 1992, 1054, 1056; zur frühzeitigen Umsetzung Steiner/ Woods/Twigg-Flesner, Textbook on EC Law (8. Aufl. 2003), S. 95. 79 So die Unterscheidung von Herrmann, Richtlinienkonforme Umsetzung durch die Rechtsprechung, S. 204 f.; ebenso Forsthoff, DStR 2006, 613, 618; gerade das Beispiel des § 1 UWG a.F. zeigt jedoch, dass die Auslegung generalklauselartiger Bestimmungen eine Praxis der Rechtsfortbildung durch die Rechtsprechung begründen kann und darf, so dass eine derartige Differenzierung ungeeignet ist.

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§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien

Umsetzungsakt vor. Nach der Rechtsprechung des EuGH erfordert die Umsetzung einer Richtlinie zwar nicht notwendig ein Tätigwerden des Gesetzgebers, doch muss die vollständige Anwendung der Richtlinie durch die nationalen Behörden gewährleistet sein. Die Rechtslage muss hinreichend bestimmt und klar sein und die Begünstigten in die Lage versetzen, von ihren Rechten Kenntnis zu erlangen und diese gerichtlich geltend zu machen.80 Daher hat der EuGH einer Umsetzung durch eine ständige Verwaltungspraxis und durch Verwaltungsvorschriften mehrfach eine Absage erteilt.81 Folglich muss eine Richtlinie regelmäßig durch einen nationalen Legislativakt umgesetzt werden, während eine Umsetzung durch die Judikative unter den Gesichtspunkten der Rechtsklarheit und Bindungswirkung Bedenken hervorrufen kann.82 Unter der Voraussetzung, dass Rechtssicherheit und Rechtsklarheit bestehen und damit die genannten Vorgaben des EuGH erfüllt sind, scheidet ein solcher Weg jedoch nicht grundsätzlich aus.

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So hat auch der EuGH die Berufung des Mitgliedstaats auf eine klare und eindeutige Rechtsprechung in einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich gebilligt. Es sei unerlässlich, dass die Rechtslage, die sich aus den nationalen Umsetzungsmaßnahmen ergebe, ausreichend bestimmt und klar sei, um es den Einzelnen zu ermöglichen, Kenntnis vom Umfang ihrer Rechte und Pflichten zu erlangen. Dies ändere jedoch nichts daran, dass die Mitgliedstaaten schon nach dem Wortlaut von Art. 189 Abs. 3 EGV (heute Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG) die Form und die Mittel für die Umsetzung der Richtlinien wählen könnten, die das mit den Richtlinien angestrebte Ergebnis am besten gewährleiste. Aus dieser Vorschrift ergebe sich damit, dass die Umsetzung einer Richtlinie in das innerstaatliche Recht nicht unbedingt in jedem Mitgliedstaat eine Handlung des Gesetzgebers verlange.83 Da die Richtlinie dem Ein-

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80 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 17; EuGH v. 7.5.2002 Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden, Slg. 2002, I-4147 Rn. 18; EuGH v. 23.3.1995 – Rs. C-365/93 Kommission ./. Griechenland, Slg. 1995, I-499 Rn. 9; EuGH v. 17.10.1991 – Rs. C-58/89 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1991, I-4983 Rn. 13; EuGH v. 28.2.1991 – Rs. C-131/88 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1991, I-825 Rn. 6; EuGH v. 1.3.1983 – Rs. 300/81 Kommission ./. Italien, Slg. 1983, 449 Rn. 10. 81 Vgl. EuGH v. 25.5.1982 – Rs. 96/81 Kommission ./. Niederlande, Slg. 1982, 1791 Rn. 12; EuGH v. 25.5.1982 – Rs. 97/81 Kommission ./. Niederlande, Slg. 1982, 1819 Rn. 12; EuGH v. 6.5.1980 – Rs. 102/79 Kommission ./. Belgien, Slg. 1980, 1473 Rn. 10; EuGH v. 1.3.1983 – Rs. 300/81 Kommission ./. Italien, Slg. 1983, 449 Rn. 10; EuGH v. 15.12.1982 – Rs. 160/82 Kommission ./. Niederlande, Slg. 1982, 4637 Rn. 4; EuGH v. 28.2.1991 – Rs. C-131/88 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1991, I-825 Rn. 8; EuGH v. 30.5.1991 – Rs. C-361/88 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1991, I-2567 Rn. 20; EuGH v. 17.10.1991 – Rs. C-58/89 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1991, I-4983 Rn. 18; dazu etwa Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EG Rn. 142f.; Everling, NVwZ 1993, 209, 213 f.; Himmelmann, DÖV 1996, 145, 146–151; Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EG Rn. 48–62. 82 Vgl. dezidiert Ehricke, EuZW 1999, 553, 558; Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EG Rn. 141; Everling, NVwZ 1993, 209, 212 f.; Himmelmann, DÖV 1996, 145, 147; i.Erg. auch ablehnend Neuner, in: Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, S. 105. 83 EuGH v. 26.6.2003 – Rs. C-233/00 Kommission ./. Frankreich, Slg. 2003, I-6625 Rn. 76.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

zelnen kein konkretes Recht verlieh oder eine klare und bestimmte Verpflichtung auferlegte, ließ es der EuGH ausreichen, dass die Umsetzung im Wege klarer und bestimmter Begriffe durch die Rechtsprechung erfolgte.84

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Daraus lässt sich ableiten, dass die europarechtlichen Vorgaben an eine ordnungsgemäße Umsetzung auch ohne Gesetzeserlass eingehalten werden können, wenn die Richtlinie eher allgemeine Vorgaben enthält und von einer gefestigten Rechtsprechung im Mitgliedstaat auszugehen ist.85 Sind die Vorgaben der Richtlinie jedoch konkret und detailliert, muss auch im Wege präziser Normen umgesetzt werden.86

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Sind diese europarechtlichen Vorgaben erfüllt, wird Richtlinienumsetzung im Wege von Richterrecht in den Fällen relevant, in denen die von der Richtlinie erfasste Materie im nationalen Recht von Richterrecht geregelt oder jedenfalls durchdrungen ist. Liegt eine lange höchstrichterliche Rechtsprechungstradition vor, der auch die Untergerichte folgen, stehen auch die Einwände, dass weder die Untergerichte einer höchstrichterlichen Rechtsprechung unterliegen, noch diese an ihre eigenen Präjudizien gebunden ist,87 nicht entgegen.88 Erweist sich die bisherige Rechtsprechung im Wesentlichen als richtlinienkonform – sonst wäre schon aus europarechtlichen Gründen ein legislatives Tätigwerden zu fordern –, im Detail jedoch nachbesserungsbedürftig, kann dieser Mangel nicht nur durch legislative Korrekturen, sondern auch durch richtlinienkonforme Fortbildung des Richterrechts beseitigt werden.89 c)

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Nationale Vorgaben

Legt die Rechtsprechung vor Ablauf der Umsetzungsfrist richtlinienkonform aus, so ist in nationaler Hinsicht zu beachten, dass sie sich innerhalb der ihr zugewiesenen Kompetenzen halten muss. Daher ist es im Grundsatz zutreffend, hier gewisse Einschränkungen zu fordern. Sofern die Auslegung auf eine Rechtsfortbildung hinausläuft, kann der Rechtsprechung eine Kompetenz hierzu nur in den Bereichen zuerkannt werden, in denen ihr traditionellerweise eine derartige Zuständigkeit zukommt.

84 EuGH v. 26.6.2003 – Rs. C-233/00 Kommission ./. Frankreich, Slg. 2003, I-6625 Rn. 78, 83. 85 Dazu einerseits EuGH v. 26.6.2003 – Rs. C-233/00 Kommission ./. Frankreich, Slg. 2003, I-6625 Rn. 55–87: die Umsetzung eines generalklauselartig formulierten Ausnahmetatbestandes durch eine ständige höchstrichterliche Rechtsprechung sollte ausreichen; EuGH v. 7.5.2002 – Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden, Slg. 2002, I-4147: Gesetzgebungsmaterialien ausreichend; andererseits EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 19–22, wonach die detaillierten Vorgaben der Klauselrichtlinie durch richterliche Präjudizien nicht ausreichend umgesetzt werden können; vgl. auch Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), S. 433; Staudinger, WM 1999, 1546, 1547. Herdegen, Europarecht (11. Aufl. 2009), S. 166, stellt darauf ab, dass eine generelle Verbindlichkeit auch für Gerichte und Einzelne eindeutig gewärleistet sein muss. 86 Staudinger, WM 1999, 1546, 1547; Himmelmann, DÖV 1996, 146. 87 Deutlich geringere Bedenken bestehen in Staaten mit Common Law-Tradition, vgl. Ehricke, EuZW 1999, 553, 559; Anklänge auch bei Staudinger, WM 1999, 1546, 1548. 88 So der Einwand von Neu, ZEuP 1999, 123, 138 f. 89 Herrmann, Richtlinienkonforme Umsetzung durch die Rechtsprechung, S. 190; i.Erg. auch Staudinger, WM 1999, 1546, 1547 f.

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§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien

Diese Voraussetzungen lagen etwa in dem vom BGH entschiedenen Fall zu vergleichender Werbung vor (s. oben Rn. 35 ff.); dieser hielt sich daher zu Recht zu richtlinienkonformer Auslegung befugt. Zugleich ist die Unterscheidung nach der innerstaatlichen Umsetzungsverantwortung auch für die Frage nach einem nationalen Gebot zu richtlinienkonformer Auslegung relevant. Steht zu erwarten, dass der Gesetzgeber keinen Umsetzungsakt erlassen wird, da der betroffene Bereich traditionellerweise der Rechtsprechung zur Rechtsfortbildung zugewiesen ist, sind die Gerichte nach nationalen Grundsätzen gehalten, richtlinienkonform auszulegen. Dabei lässt sich die Frage, ab welchem Zeitpunkt eine solche nationale Verpflichtung besteht, nur unter Berücksichtigung der Vorgaben des Unionsrechts beantworten. Unter der Prämisse, dass der Mitgliedstaat den Vorgaben des Unionsrechts nachkommen möchte, werden die europarechtlichen Vorgaben insoweit zugleich zu nationalen Geboten. Ist der Rechtsprechung innerstaatlich die Umsetzungsaufgabe zugewiesen, folgt aus einem europarechtlichen Umsetzungsgebot zugleich ein nationales, um einen vom Mitgliedstaat nicht gewollten Verstoß gegen Unionsrecht zu vermeiden. d)

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Europäische Vorgaben

Europarechtliche Gründe, der nationalen Rechtsprechung die richtlinienkonforme Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist zu untersagen, bestehen nicht, da die Richtlinie vom Zeitpunkt ihrer Wirksamkeit an Rechtswirkungen entfaltet und nur im Interesse der Mitgliedstaaten eine zeitlich hinausgeschobene Umsetzungspflicht anordnet. Demgegenüber ist die umgekehrte Fragestellung, ob ein europarechtliches Gebot besteht, schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist richtlinienkonform auszulegen, problematisch.

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Die dargestellten Literaturansichten setzen mehrheitlich die europarechtlichen Verpflichtungen der Legislative, die sich unstreitig bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist Zeit lassen darf, mit denen der Judikative gleich und folgern daraus, dass diese an ihrer bisherigen Rechtsprechung bis zum Ende der Frist soll festhalten dürfen. Eine solche Gleichsetzung berücksichtigt jedoch die Konsequenzen nicht ausreichend, die sich für die Rechtsprechung aus dem Prinzip der funktionellen Beschränkung ergeben. Für die Gerichte ist es unmöglich, die Wirkung ihrer Rechtsprechung exakt zu terminieren. Ihre Kompetenz erschöpft sich darin, über konkrete Streitfälle zu befinden, während abstrakte Ausführungen zu irrelevanten Rechtsfragen ausscheiden.

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Betrifft der Regelungsgehalt der Richtlinie – wie etwa bei der Auslegung der Sittenwidrigkeit im Sinne von § 1 UWG – einen traditionell durch Richterrecht geprägten Bereich und steht nicht zu erwarten, dass der Gesetzgeber die Richtlinie überhaupt oder auch nur fristgerecht umsetzen wird, haben die Gerichte die Signalwirkung zu beachten, die von ihrer Rechtsprechung auch für die Zeit nach Ablauf der Umsetzungsfrist ausgehen kann. Es ist eine vorausschauende Planung erforderlich, die dazu führen kann, dass richtlinienrelevante Fragen schon frühzeitig im Sinne der Richtlinie entschieden werden müssen. Die Möglichkeit zu rechtzeitiger Korrektur wird nur im Ausnahmefall bestehen, etwa wenn feststeht, dass die Fragestellung zu einem

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2. Teil: Allgemeiner Teil

späteren, vor Ablauf der Umsetzungsfrist liegenden Zeitpunkt erneut zur Entscheidung anstehen wird.

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Eine solche Verpflichtung wird, wenn überhaupt, nur aus den Grundsätzen des nationalen Rechts gefolgert,90 während entsprechende europarechtliche Vorgaben überwiegend dezidiert ausgeschlossen werden.91 Kombiniert man jedoch die Vorgaben des EuGH in den Rechtssachen Inter-Environnement Wallonie, Mangold und Adeneler mit den Folgen der funktionellen Beschränkung der Gerichte in den Fällen, in denen die vom Richtlinienzweck betroffene nationale Rechtsmaterie wesentlich durch Richterrecht geprägt ist, spricht dies für eine andere Bewertung. Nach den Vorgaben des EuGH muss die allgemeine Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus der Richtlinie, deren Ziele zu erreichen und alle zur Erfüllung dieser Pflicht geeigneten Maßnahmen zu treffen, mit Ablauf der Umsetzungsfrist erreicht sein. Zugleich trifft diese Verpflichtung alle Träger öffentlicher Gewalt und im Rahmen ihrer Zuständigkeit daher auch die Gerichte.92 Außerdem darf die Erreichung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist nicht durch Maßnahmen während ihres Laufs ernsthaft gefährdet werden.93 Dem entspricht es, wenn der EuGH in Adeneler die Verpflichtung der nationalen Gerichte betont, sich behindernder Maßnahmen im Sinne der InterEnvironnement Wallonie-Rechtsprechung zu enthalten, und folgert, dass die nationalen Gerichte vom Zeitpunkt der Wirksamkeit der Richtlinie an gehalten sind, so weit wie möglich jede Auslegung nationalen Rechts, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist die Richtlinienziele ernsthaft gefährden kann, zu vermeiden.94

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Eine Gefährdung der Richtlinienziele ist nicht nur denkbar, wenn die Gerichte während der Umsetzungsfrist ihre Rechtsprechung richtlinienwidrig fortbilden,95 sondern auch dann, wenn sie ihre bisherige Linie unverändert beibehalten und hierdurch eine negative Signalwirkung für den Rechtsverkehr aussenden, die über den Ablauf der Umsetzungsfrist hinaus wirkt. Davon ist aber gerade in den Fällen auszugehen, in denen die Rechtsprechung, nicht die Gesetzgebung, eine Materie beherrscht. Ein Verstoß des Mitgliedstaates gegen die Gemeinschaftsziele nach Art. 10 Abs. 3 EUV/10 EG und die Richtlinienziele nach Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG liegt in diesen Fällen primär in der richtlinienwidrigen Rechtsprechung der Gerichte begründet,

90 Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507, 2508, Fn. 17. 91 Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EG Rn. 118; Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EG Rn. 153. In der Tendenz wie hier Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 28. 92 EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 Rn. 12; EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 26; EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 8; EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 40; Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 53. 93 Nochmals der Hinweis auf EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 44 f. 94 Nochmals der Hinweis auf EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler, Slg. 2006, I-6057 Rn. 122 f. 95 So Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507, 2508; Neuner, in: Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, S. 106.

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§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien

allenfalls zweitrangig in der legislativen Untätigkeit des Gesetzgebers, der dieser Entwicklung in der Rechtsprechung hätte entgegensteuern können.96 Zweifel an dieser Bewertung können sich aus der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Ratti 97 ableiten, werden jedoch im Ergebnis ausgeräumt. Auch dort ging es um das grundsätzliche Verhältnis von nationalem Recht und den Vorgaben der Richtlinie in der Umsetzungsphase. Ein nationales Gericht hatte über die Strafbarkeit eines Betroffenen zu befinden, der die nationalen Kennzeichnungspflichten bei der Herstellung von Lösungsmitteln und Lacken nicht beachtet hatte. Der Betroffene wandte ein, die Vorgaben der Richtlinie erfüllt zu haben, und vertrat die Ansicht, nicht nach strengeren nationalen Vorschriften beurteilt werden zu dürfen. Dem folgte der EuGH nicht, sondern stellte fest, dass bei Richtlinienerlass bereits bestehendes nationales Recht auch in der Umsetzungsphase grundsätzlich weiterhin angewandt werden dürfe. Eine Richtlinie könne erst am Ende der Umsetzungsfrist und nur für den Fall, dass der Mitgliedstaat dem Umsetzungsbefehl nicht nachgekommen sei, Wirkungen für den Einzelnen entfalten. Bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist behielten die Mitgliedstaaten ihre Handlungsfreiheit.98 Daher blieb es dem Einzelnen verwehrt, sich gegenüber den nationalen Vorschriften auf die Vorgaben der Richtlinien zu berufen.99

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Vor dem Hintergrund der neueren ATRAL-Entscheidung100 erscheint zweifelhaft, ob der EuGH an dieser Rechtsprechung festhalten würde. Dass der nationale Gesetzgeber in ATRAL während der Umsetzungsphase neue Vorschriften erlassen hatte, in der Rechtssache Ratti hingegen älteres Recht weiterhin angewandt wurde, erscheint kaum als Differnzierungskriterium geeignet, da in Adeneler klargestellt wurde, dass altes wie neues Recht gleichermaßen behindernd wirken kann. Zugleich ist nicht zu übersehen, dass es für das Frustrationsverbot stets auf die konkreten Auswirkungen nach Ablauf der Umsetzungsfrist ankommt. Der EuGH könnte durchaus weiterhin zu dem Ergebnis kommen, dass es keine Gefährdung der Richtlinienziele darstelle, bei Zuwiderhandlung gegen altes, zukünftig jedoch richtlinienwidriges Recht Sanktionen zu verhängen (Ratti-Konstellation), während davon bei einem Gebot, in der Umsetzungsphase erlassene und richtlinienwidrige Vorschriften zu befolgen (ATRALKonstellation), auszugehen sei.

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96 I.E. so wohl auch Bayreuther, EuZW 1998, 478, 479; vgl. auch Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 102, wonach entscheidend sein soll, ob durch die Rechtsprechung derart vollendete Tatsachen geschaffen werden, dass die Umsetzung der Richtlinie ernstlich in Frage steht. 97 EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, Slg. 1979, 1629. 98 EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, Slg. 1979, 1629 Rn. 43–45; ausführlich dazu etwa Craig/deBúrca, EU Law – Text, Cases and Materials (3. Aufl. 2003), S. 204–206; bestätigt durch EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-157/02 Rieser, Slg. 2004, I-1477 Rn. 66–69. 99 Zu diesem Grundsatz EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-157/02 Rieser, Slg. 2004, I-1477 Rn. 67–69; EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, Slg. 1979, 1629 Rn. 43–45. 100 Nochmals der Hinweis auf EuGH v. 8.5.2003 – Rs. C-14/02 ATRAL, Slg. 2003, I-4431, Rn. 57–60. Christian Hofmann

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2. Teil: Allgemeiner Teil

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Entscheidend sind stets die Wirkungen, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist verbleiben. Soweit der Rechtsprechung (wie in der Ratti-Konstellation) nicht die innerstaatliche Umsetzungsaufgabe zukommt, sondern eine rechtzeitige Gesetzesänderung zu erwarten ist, steht kaum zu befürchten, dass durch Sanktionen in der Umsetzungsphase ein richtlinienkonformes Verhalten nach Ablauf der Umsetzungsfrist verhindert wird. Daher sind Ratti und die hier vertretenen Grundsätze durchaus zu vereinbaren.

V.

Die Vorwirkung von Richtlinien bei der Anwendung nationaler Vorschriften durch die Verwaltung

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Schließlich stellt sich die Frage nach einer Vorwirkung von Richtlinien auch für die Rechtsanwendung der nationalen Verwaltung. Nach den bisherigen Feststellungen kann ausgeschlossen werden, dass die Verwaltung mit der Umsetzung der Richtlinienvorgaben betraut ist. Auch lauten die nationalen Vorgaben an die Verwaltung, Gesetze nur anzuwenden und dabei die Auslegung durch die Rechtsprechung zu beachten, nicht jedoch, selbst Rechtsfortbildung zu betreiben.

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Erneut ist darauf hinzuweisen, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts von allen staatlichen Stellen zu beachten ist,101 somit auch von der Verwaltung. Dies gilt jedenfalls nach Ablauf der Umsetzungsfrist102 und, wie oben in Rn. 17–19 ausgeführt, zudem davor, soweit das Frustrationsverbot gegenüber den in der Umsetzungsphase erlassenen Gesetzen eingreift. Im Ergebnis kann nichts anderes gelten, wenn ältere, schon vor Richtlinienerlass bestehende Vorschriften zur Anwendung kommen. Auch diese dürfen nur unter Berücksichtigung der Richtlinienziele angewandt werden, wenn anderenfalls eine ernsthafte Gefährdung dieser Ziele zu befürchten ist.

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In der deutschen Rechtsprechung findet sich eine Auseinandersetzung mit dieser Frage in Urteilen des BVerwG. Das Gericht unterschied zunächst nach dem Zeitpunkt, zu dem ein Antrag auf Verwaltungshandeln gestellt wurde, und interpretierte die Rechtsprechung des EuGH derart, dass einschlägige Richtlinien nur dann von der nationalen Verwaltung bei ihrer Rechtsanwendung zu beachten seien, wenn der Antrag nach Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie gestellt wurde. Hingegen sollte ein vor Ablauf der Umsetzungsfrist gestellter Antrag allein nach den geltenden nationalen Vorschriften zu beurteilen sein. Das sollte selbst dann gelten, wenn das beantragte Vorhaben erst nach dem Ablauf der Umsetzungsfrist zugelassen wurde103 und damit zu diesem Zeitpunkt den Vorgaben der Richtlinie widersprach.

101 Zur Gemeinschaftstreue aller staatlichen Stellen Calliess/Ruffert-Kahl, Art. 10 EG Rn. 18; Grabitz/Hilf-v.Bogdandy, Art. 10 EG Rn. 24. 102 EuGH v. 22.6.1989 – Rs. 103/88 Fratelli Costanzo, Slg. 1989, 1839 Rn. 28–33. 103 BVerwGE 100, 370, 374.

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§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien

Eine derartige Unterscheidung findet sich in der Rechtsprechung des EuGH, auf die das BVerwG Bezug nahm, jedoch gerade nicht,104 und ist vor dem Hintergrund der Inter-Environnement Wallonie-, Mangold- und Adeneler-Rechtsprechung auch unzutreffend, da nicht der Zeitpunkt der Antragstellung, sondern die Vereitelung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist als entscheidendes Differenzierungskriterium dienen muss.

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Das wird mittlerweile auch vom BVerwG anerkannt. In späteren Urteilen verwies es auf die Vorgaben des EuGH in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie und folgerte aus dem Gebot der Vertragstreue, dass es den Verwaltungsstellen des Mitgliedstaates auch vor Ablauf der Umsetzungsfrist untersagt sei, vollendete Tatsachen zu schaffen, die eine Erfüllung der Vertragspflichten nach Ablauf der Umsetzungsfrist vereiteln würden.105

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Auch für die Rechtsanwendung gilt daher, dass nicht alleine der Ablauf der Umsetzungsfrist für die Pflicht zur Beachtung der Richtlinienvorgaben entscheidend ist, sondern es darüber hinaus auf die Wirkungen der Verwaltungsmaßnahme ankommt. Daher ist während des Laufs der Umsetzungsfrist zu prüfen, ob die Vorgaben des EuGH erfüllt sind, also eine ernsthafte Gefährdung der Richtlinienziele droht. Regelmäßig wird dies bei Verwaltungshandeln nicht zu befürchten sein. Eine Ausnahme kann etwa bei einem Planfeststellungsverfahren bestehen, da es aufgrund seiner Breitenwirkung geeignet ist, derart erhebliche Wirkungen zu entfalten. Ähnliches wird gelten, wenn die Verwaltung gesetzgebungsähnliche Funktionen wahrnimmt, etwa bei Aufstellung von Flächennutzungs- und Bebauungsplänen.

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VI. Zusammenfassung Die Vorwirkung von Richtlinien ist die Frage nach der Wirkung von Richtlinienzielen auf nationale staatliche Stellen während des Laufs der Umsetzungsfrist. Da Richtlinien ihre rechtlichen Wirkungen erst mit Wirksamkeit der Richtlinienziele im Sinne von Art. 297 AEUV/254 EG entfalten, geht von vorbereitenden Rechtsakten keine Vorwirkung auf staatliche Stellen aus.

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Während des Laufs der Umsetzungsfrist ist der nationale Gesetzgeber grundsätzlich frei darin, auch den Richtlinienzielen widersprechende Gesetze zu erlassen. Eine Grenze findet diese Freiheit in der als Frustrationsverbot bezeichneten Rechtsprechung des EuGH, wonach die Verwirklichung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist nicht gefährdet werden darf. Diese Folgen sind von Rechtsprechung und Verwaltung zu beachten und können dazu führen, dass die nationalen Vorschrif-

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104 Vgl. EuGH v. 11.8.1995 – Rs. C-431/92 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1995, I-2189 Rn. 29: Der EuGH bezieht nur zu nach Ablauf der Umsetzungsfrist ergangenen Anträgen Stellung, lässt die problematischen Fälle der davor gestellten Anträge, zu denen auch der vom BVerwG zu entscheidende Sachverhalt zählt, hingegen unbeantwortet. 105 BVerwGE 107, 1, 22; BVerwGE 110, 302, 308. Kritisch dazu Kühling, DVBl. 2006, 857, 860. Christian Hofmann

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2. Teil: Allgemeiner Teil

ten richtlinienkonform ausgelegt werden. Die allgemeinen Grundsätze zur richtlinienkonformen Auslegung können daher schon im Umsetzungszeitraum zur Anwendung kommen.

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Die nationale Rechtsprechung und Verwaltung muss zudem auch bei der Auslegung und Anwendung älteren nationalen Rechts die Richtlinienziele berücksichtigen. Das schon vor Richtlinienerlass bestehende nationale Recht darf während des Laufs der Umsetzungsfrist weiter zur Anwendung gelangen. Dabei sind jedoch die Folgen für die Verwirklichung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist zu berücksichtigen. Sofern diese ernsthaft gefährdet sind, müssen Rechtsprechung und Verwaltung dies beachten und richtlinienkonform auslegen bzw. anwenden.

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Soweit der Rechtsprechung kraft innerstaatlicher Kompetenzverteilung die Umsetzungsaufgabe zugewiesen ist, hat sie überdies die aus der funktionellen Beschränkung erwachsenden Konsequenzen zu bedenken. Die Gerichte müssen ihre Rechtsprechung frühzeitig an die Vorgaben der Richtlinie anpassen, wenn anderenfalls nicht auszuschließen ist, dass eine negative Signalwirkung dazu geeignet sein kann, die Verwirklichung der Richtlinienziele ernsthaft zu gefährden.

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Die Vorwirkungsdogmatik kann auch dazu führen, dass sich Wirkungen in Privatrechtsverhältnissen ergeben. Dabei handelt es sich um Wirkungen mittelbarer Natur, die keine Abkehr von den anerkannten Grundsätzen zur Horizontalwirkung von Richtlinien bedeuten. Auch während der Umsetzungsfrist scheidet aus, dass ein Privatrechtssubjekt unmittelbar aus der Richtlinie Ansprüche gegen ein anderes Privatrechtssubjekt herleitet.

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3. Teil: Besonderer Teil Abschnitt 1 Methodenfragen in einzelnen Rechtsgebieten § 17 Europäisches Vertragsrecht Martin Schmidt-Kessel

Übersicht I. Vertragsrecht als Topos im Europäischen Rechtssystem . . . . . . . . . . . . . . 1. Vertragsrecht statt Obligationenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Begriffskern und Unschärfen am Begriffsrand . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Methoden des Unionsrechts im Vertragsrecht

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rn. 2–7 2–4 5–7 8–11

III. Normative Besonderheiten des Vertragsrechts und deren Konsequenzen für das methodische Instrumentarium . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Instrumentarium des Vertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ergänzungsfunktion des dispositiven Rechts . . . . . . . . . . . . . 3. Zwingendes Recht als Grenze der Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . .

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12–16 13 14 15–16

IV. Vertragsauslegung . . . . . . . . . . . . . 1. Parteiwille als maßgebliches Kriterium 2. Objektivierungen . . . . . . . . . . . . a) Bestimmung des Auslegungsmaterials b) Risikozuweisungen . . . . . . . . . .

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17–22 18 19–22 20 21–22

V. Zum Umgang mit dispositivem Vertragsrecht . . . . . . . 1. Anpassung der Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beschränkte Bedeutung des klassischen Kanons . . . . a) Wortlaut und Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . b) Telos der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Systemgestützte Erwägungen . . . . . . . . . . . . . 3. Auswirkungen auf die Rechtsquellenlehre . . . . . . . . 4. Parteidispositives, aber staatenzwingendes Vertragsrecht

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23–37 24–25 26–33 27–28 29 30–33 34–35 36–37

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38–44 39 40–41 42 43–44

VII. Ausblick: Methodenfragen im Umgang mit dem Gemeinsamen Referenzrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Funktionen des Gemeinsamen Referenzrahmens . . . . . . . . . . . . 2. Systembildung durch den Gemeinsamen Referenzrahmen . . . . . . . 3. Zur künftigen Auslegung des Instruments . . . . . . . . . . . . . . . .

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45–51 46 47 47a–51

VI. Anwendungsfragen bei zwingendem Vertragsrecht 1. Vertragsfreiheit als Auslegungsdirektive . . . . 2. Anwendung des etablierten Kanons? . . . . . . 3. Zur Leitbildfunktion des dispositiven Rechts . 4. Verbot der Analogie? . . . . . . . . . . . . . .

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3. Teil: Besonderer Teil Literatur: Christian von Bar/Ulrich Drobnig, The interaction of contract law and tort and property law in Europe (2004); Christian Baldus/Peter Ch. Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht: Zur Leistungsfähigkeit der deutschen Wissenschaft aus romanischer Perspektive (2006); Hugh Beale/Arthur Hartkamp/Hein Kötz/Dennis Tallon (Hrsg.), Cases, Materials and Text on Contract Law (2002); Jack Beatson, Anson’s Law of Contracts (28. Aufl. 2002); Claus-Wilhelm Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz: eine methodologische Studie über Voraussetzungen und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung praeter legem (2. Aufl. 1983); Joseph Chitty, Chitty on Contracts (30. Aufl. 2008); Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts (4. Aufl. 1990); ders., Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung (1972); Werner Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Band II, Das Rechtsgeschäft (4. Aufl. 1992); Martin Gebauer/Thomas Wiedmann (Hrsg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss, Die richtlinienkonforme Auslegung des BGB und anderer Gesetze – Erläuterung der wichtigsten EG-Verordnungen (2005); Bernhard Gomard, Obigationsret (2006); Thomas Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode: Entwurf einer rechtsvergleichend gewonnenen juristischen Methodenlehre (2009); Ernst Kramer, Juristische Methodenlehre (1998); Torsten Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004); Hein Kötz, Europäisches Vertragsrecht (1996); Karl Larenz/Manfred Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts (9. Aufl. 2004); Filippo Ranieri, Europäisches Obligationenrecht (3. Aufl. 2009); Karl Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht (2. Aufl. 2006); ders., System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts (2003); ders., Systembildung durch den CFR – Wirkungen auf die systematische Auslegung des Gemeinschaftsrechts –, in: Martin Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen, Entstehung, Inhalte, Anwendung (2009), S. 173–216; Matthias Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts: eine verfassungsrechtliche Untersuchung zur Privatrechtswirkung des Grundgesetzes (2001); Peter Schlechtriem/Martin Schmidt-Kessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil (6. Aufl. 2005); Peter Schlechtriem/Ingeborg Schwenzer, Kommentar zum Einheitlichen UN-Kaufrecht (5. Aufl. 2008); Martin SchmidtKessel, Methoden des Europäischen Vertragsrechts, in: Karl Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre – Grundfragen der Methoden Europäischen Privatrechts (2006), S. 309–329; Reinhard Zimmermann, The Law of Obligations: Roman foundations of the civilian tradition (1996). Rechtsprechung: EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, Slg. 1986, 723; EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-194/94 CIA Security, Slg. 1996, I-2201; EuGH v. 4.12.1997 – verb. Rs. C-253/96 bis C-258/96 Kampelmann, Slg. 1997, I-6907; EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 Angonese, Slg. 2000, I-4139; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-443/98 Unilever Italia, Slg. 2000, I-7535; EuGH v. 17.9.2002 – Rs. C-334/00 Tacconi, Slg. 2002, I-7257; EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835; EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685.

1

Die Besonderheiten des Gegenstands Vertragsrecht haben Besonderheiten gegenüber der allgemeinen juristischen Methodenlehre zur Folge. Das gilt insbesondere soweit es um das Europäische Privatrecht geht, dessen Eigenheiten die vorbehaltlose Übernahme nationaler Methodik der eigenen Heimatrechtsordnung ausschließen. Vorgeschaltet ist zunächst die Frage, was den Vertrag und das Vertragsrecht eigentlich ausmacht – eine Frage, bei deren Beantwortung hinsichtlich des Kerns des Vertragsbegriffs in Europa vermutlich Einigkeit besteht, während sich an den Begriffsrändern ganz massive Divergenzen auftun (I.). Unabhängig vom speziellen Gegenstand des Vertragsrechts finden die verschiedenen allgemeinen Aspekte der Methoden des – seit dem Vertrag von Lissabon – Unions- und des Unionsprivatrechts auch für das Vertragsrecht Anwendung (II.). In diesen beiden Punkten erschöpft sich die Frage nach

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§ 17 Europäisches Vertragsrecht

den Methoden des Europäischen Vertragsrechts freilich schon aus dem Grunde nicht, dass sich Europäisches Vertragsrecht und das Vertragsrecht im Unionsprivatrecht bei weitem nicht gleichsetzen lassen. Vielmehr ergeben sich aus den normativen Besonderheiten des Vertragsrechts (III.) erhebliche Konsequenzen für das methodische Instrumentarium: Methodische Besonderheit des Vertragsrechts sind zunächst die Regeln zur Auslegung des Vertrags respektive der Parteierklärungen (IV.). Zentrales Charakteristikum des Vertragsrechts ist seine ganz überwiegende Dispositivität, auf welche die herkömmliche – auf Konturierung der Rechtsbindung des Richters ausgerichtete – Methodenlehre nur unzureichend abgestimmt ist (V.). Daraus ergeben sich auch Konsequenzen für die lex artis der Anwendung zwingenden Vertragsrechts (VI.). Der in seinem akademischen Entwurf vorliegende Gemeinsame Referenzrahmen für das Europäische Vertragsrecht stellt zusätzliche Herausforderungen an die Methodik (VII.).

I.

Vertragsrecht als Topos im Europäischen Rechtssystem

1.

Vertragsrecht statt Obligationenrecht

Bemerkenswert erscheint zunächst, dass das Vertragsrecht in einer Vielzahl mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen keinen eigenständigen systematischen Topos darstellt; es erscheint vielmehr regelmäßig und namentlich auf dem Kontinent nur als Subkategorie zum Obligationenrecht,1 also dem Recht der Obligationen oder – wie es in Deutschland im Anschluss an die unglückliche doppeldeutige Begriffsprägung durch das BGB heißt2 – der Schuldverhältnisse. Im Rahmen dieses Rechts der Rechtsverhältnisse und Pflichten zwischen Personen bilden die vertraglichen Obligationen nur eine Unterkategorie. Vertragsrecht als eigenständiger Topos im System oder jedenfalls in der Darstellung des Rechts ist hingegen heute vor allem in der Tradition des Common Law verwurzelt.3 Für die nordischen Rechtsordnungen lässt sich ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen einem bisweilen anzutreffenden allgemeinen Vertragsgesetz und den ebenso anzutreffenden Lehrbüchern zum Obligationenrecht 4 feststellen.

2

In der Rechtsvergleichung wie in zahlreichen Projekten der Rechtsvereinheitlichung ist das Vertragsrecht hingegen ein feststehender Topos: Prominentestes Beispiel ist die entsprechende Ordnung der International Encyclopedia of Comparative Law, welche keine zusammenfassende Behandlung des Obligationenrechts enthält, sondern für das Vertragsrecht, das Deliktsrecht sowie für das Recht der ungerechtfertigten Bereicherung einschließlich der negotiorum gestio jeweils eigene Bände vorhält. Die Prin-

3

1 Schlechtriem/Schmidt-Kessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 451. 2 Dazu Schlechtriem/Schmidt-Kessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 3. 3 Siehe nur die klassischen Lehrbücher Beatson, Anson’s Law of Contracts und Chitty, Chitty on Contracts. 4 So etwa für Dänemark das vierbändige Lehrbuch von Gomard, Obligationsret (seit 1971 in mehreren Auflagen).

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3. Teil: Besonderer Teil

ciples for International Commercial Contracts und die Principles of European Contract Law lassen ihre Ausrichtung bereits im Namen deutlich werden5 und dasselbe gilt für den Code Européen de Contrats der sog. Gandolfi-Gruppe. Auch komparatistisch angelegte Lehr- und Textbücher sind vielfach dem Europäischen Vertragsrecht6 und nicht etwa einem Europäischen Obligationenrecht7 gewidmet. Unionsrechtlich ist das Europäische Vertragsrecht als Topos spätestens mit den seit 2001 publizierten Mitteilungen der Kommission und die darum entstandene Diskussion als Gegenstand etabliert;8 die Literatur hat sich auch insoweit der Thematik angenommen.

4

Ist das Europäische Vertragsrecht insgesamt heute auch eine allgemein anerkannte Kategorie, so wird doch ihr wesentlicher Kern, welcher sie von den benachbarten Gebieten des Obligationenrechts scheidet, nur selten angesprochen: der besondere Geltungsgrund der vertraglichen Pflichten in der autonomen Entscheidung der Parteien für eine Bindung.9 Insoweit unterscheidet sich das Vertragsrecht entscheidend von anderen Quellen von Obligation – und als Konsequenz auch seine Methodik von denen der übrigen Gebiete des Privatrechts. 2.

Begriffskern und Unschärfen am Begriffsrand

5

Über die Frage, was ein Vertrag und damit der Gegenstand des Vertragsrechts sei, besteht keine vollständige Einigkeit. Immerhin findet sich jedoch ein gesicherter Begriffskern, welcher aus drei Elementen besteht: der Einordnung des Vertrags als Instrument der Selbstbindung, das Erfordernis des Konsenses als Voraussetzung dieser Bindung und ihre Durchsetzung im Wege des Schadensersatzes.

6

Zugleich ergeben sich jedoch erhebliche Unschärfen am Begriffsrand. Diese betreffen zunächst die Frage, wie weit die Selbstbindung reicht, ob namentlich der Vertrag tendenziell das gesamte Verhältnis zwischen den Parteien einschließlich des Schutzes solcher Integritätsinteressen erfasst, welche nicht zum Kern des Vertrags gehören.10 Hinzu kommen offene Punkte hinsichtlich des Anwendungsbereichs des Vertragsrechts: Erfasst dieses auch einseitig verpflichtende Rechtsverhältnisse (oder gar einseitige Versprechen) oder ist die Gegenleistung (consideration) ein konstituierendes

5 Allerdings enthalten beide Werke in ihrer jüngsten Fassung auch nicht spezifisch vertragsrechtliche Regeln wie die Abtretung und die Aufrechnung. 6 So Kötz, Europäisches Vertragsrecht; Beale/Hartkamp/Kötz/Tallon (Hrsg.), Contract Law. Ebenso das auf das Unionsrecht konzentrierte Lehrbuch Riesenhubers zum „Europäischen Vertragsrecht“. 7 Prominentestes Gegenbeispiel ist Zimmermann, The Law of Obligations. Siehe ferner Ranieri, Europäisches Obligationenrecht. 8 Siehe Schmidt-Kessel, GPR 2005, 2 ff. mwN. 9 Eine wichtige – wenngleich umstrittene – Ausnahme hierzu ist die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 5 Nr. 1 und 3 EuGVVO für Fälle des Fehlverhaltens im Umfeld des Vertragsschlusses, dazu EuGH v. 17.9.2002 – Rs. C-334/00 Tacconi, Slg. 2002, I-7357 und dazu Anm. Schmidt-Kessel, ZEuP 2004, 1019. 10 Dazu bis heute grundlegend Schlechtriem, Vertragsordnung und außervertragliche Haftung (1972).

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§ 17 Europäisches Vertragsrecht

Element?11 Und wie steht es mit Fehlern bei der Vertragsanbahnung? Unterfallen diese dem Vertragsrecht oder zählen sie mangels Eintritt einer Bindung zum außervertraglichen Bereich? Wie ist das Verhältnis des Vertragsrechts zu den Regeln über andere Quellen von Obligationen wie Delikt, rechtsgrundlose Bereicherung, Geschäftsführung ohne Auftrag, bailment oder agency? Alles andere als gesichert ist schließlich die Rechtsbehelfsseite: Während in Deutschland – ermöglicht erst durch die jedenfalls insoweit unglückliche Windscheid’sche Trennung von materiellem Anspruch und dessen prozessualer Durchsetzung – die Erfüllung in Natur überwiegend in das Zentrum des Systems gerückt wird,12 steht die Mehrzahl der Mitgliedstaaten der Durchsetzung in Natur deutlich zurückhaltender gegenüber.13 Der in Vorbereitung befindliche gemeinsame Referenzrahmen für ein Europäisches Vertragsrecht wird vermutlich nicht alle dieser Fragen beantworten. Ausgehend von der Erwartung, dass der Draft Common Frame of Reference die Basis dieses Instruments bilden wird, lässt sich immerhin zunächst erkennen, dass dieses nicht auf gegenseitige Verträge beschränkt sein wird: Europäisches Vertragsrecht erfasst auch einseitig verpflichtende Rechtsgeschäfte (vgl. II.–4:301– 4:303 DCFR). Selbstverständlicher Kern des Referenzrahmens wird das Leistungsstörungsrecht mit einem System der Rechtsbehelfe des verletzten Teils sein, in welchem der Zwang zur Naturalerfüllung keine Vorzugsstellung genießt (siehe Buch III Kapitel 3 DCFR). Auch Störungen bei der Vertragsanbahnung dürften – entgegen der Mehrheitsauffassung unter den Mitgliedstaaten und auch entgegen den Weichenstellungen für das Internationale Zivilverfahrensrecht14 und das Internationale Privatrecht15 der Union – weitgehend dem Vertragsrecht zugeschlagen werden.16 Elemente zu einer solchen Haftung für culpa in contrahendo enthält der DCFR an mehreren Stellen, insbesondere in II.–2:104, 3:109, 3:501, 6:107, 7:204, 7:214, 7:304 sowie in VI.–2:204, 2:205, 2:207, 2:208, 2:210. Offen bleibt hingegen, in welchem Umfang nach dem DCFR eine vertragliche Haftung wegen solcher Integritätsverletzungen besteht, welche nicht auf der Verletzung einer zum Vertragskern gehörenden Pflicht beruhen. Die Abgrenzung vom Deliktsrecht, welche bereits den nationalen Rechtsordnungen vielfach Schwierigkeiten bereitet, wird hier dauerhaft schwierig bleiben. Das gilt erst recht für den Fall, dass das Buch VI DCFR über die außervertragliche Schadensersatzhaftung keinen Eingang in den Gemeinsamen Referenzrahmen finden sollte.17 11 Vgl. Kötz, Europäisches Vertragsrecht, S. 84 ff. sowie ders., in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Stichwort: Seriositätsindizien. 12 Dazu das Rabel’sche Wort vom Erfüllungsanspruch als dem „Rückgrat der Obligation“ (Rabel, Recht des Warenverkaufs, Bd. 1 [1936], S. 376). 13 Siehe Schmidt-Kessel, in: Wagner (Hrsg.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics (2009), S. 69–86. 14 Zur Tacconi-Entscheidung des EuGH siehe oben Fn. 9. 15 S. Art. 1 Abs. 2 Ziff. i) Rom I-VO sowie Art. 2 Abs. 1 Rom II-VO. 16 Siehe Buch II Kap. 3 DCFR. Außerdem Art. 1104–1104-1 des Catala-Entwurfs zur Reform des Code Civil. 17 Zum Verhältnis von Vertrags- und Deliktsrecht (sowie von Vertrags- und Sachenrecht) unlängst wegweisend von Bar/Drobnig, The interaction of contract law and tort and property law in Europe.

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7

3. Teil: Besonderer Teil

II.

Methoden des Unionsrechts im Vertragsrecht

8

Das Europäische Vertragsrecht kann sich, jedenfalls soweit es bereits heute der Feder des Unionsgesetzgebers entspringt, den methodischen Vorgaben des Unionsrechts selbstverständlich nicht entziehen. Insoweit gelten dann grundsätzlich die allgemeinen Regeln und zwar zunächst diejenigen über die Anwendbarkeit und den Vorrang des Unionsrechts unter Privaten. Während jene für die Art. 101 f. AEUV/81 f. EG sowie bei Verordnungen, wie sie sich für Verträge vor allem im Transportrecht finden,18 selbstverständlich ist, kommt es bei Richtlinien und bei den Grundfreiheiten jedenfalls im Grundsatz zu keiner unmittelbaren horizontalen Anwendung. Für die Grundfreiheiten lässt sich allerdings eine – vor allem für vertragsrechtliche Bestimmungen bedeutsame – Tendenz zur Anwendung unter Privaten konstatieren: Gesichert ist insoweit, dass das Primärrecht die Beschränkung von Grundfreiheiten durch solche Private verbietet, die als sog. intermediäre Gewalten einzuordnen sind und aufgrund ihrer Macht staatsähnlich auftreten.19 Darüber hinaus hat der Gerichtshof bereits vereinzelt erkennen lassen, dass Private auch in anderen Fällen Adressaten von Grundfreiheiten sein können.20 Von praktisch ungleich größerer Bedeutung für das Vertragsrecht sind die Grundfreiheiten jedoch als Maßstab einer primärrechtskonformen Auslegung.21

9

Auch die zahlreichen vertragsrechtlichen Richtlinien entfalten grundsätzlich keine horizontale Direktwirkung. Zentraler methodischer Aspekt des durch Richtlinien gesteuerten Vertragsrechts sind daher diejenigen Fragestellungen, welche sich aus dem Gebot richtlinienkonformer Auslegung des nationalen Rechts ergeben.22 Die Union stellt damit lediglich ein Optimierungsgebot auf und verlangt von den mitgliedstaatlichen Rechtsanwendern daher nur solche Schritte, welche sich im Rahmen der für das autonome nationale Recht maßgebenden Methodik halten. Allerdings muss diese auch vollständig ausgeschöpft werden, so dass etwa die Überwindung einzelner Vor-

18 Siehe vor allem die Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.2.2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91, ABl. 2004 L 46/1 sowie die Verordnung (EG) Nr. 2027/97 des Rates v. 9.10.1997 über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei Unfällen, ABl. 1997 L 285/1, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 889/2002, ABl. 2002 L 140/2. Unmittelbar anwendbar sind etwa auch die Verordnungen zur Euroeinführung, dazu Schmidt-Kessel, WM 1997, 1732 ff. 19 Streinz/Leible, EuZW 2000, 459, 468 mwN. 20 EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 Angonese, Slg. 2000, I-4139. Dazu Streinz/Leible, EuZW 2000, 459, 460; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 680. Die Übertragbarkeit dieser Regeln auf die Dienstleistungsrichtlinie (DLRL) ist allerdings fraglich, s. Schlachter/OhlerSchmidt-Kessel, Europäische Dienstleistungsrichtlinie – Handkommentar (2008), Art. 16 DLRL Rn. 10. 21 S. Leible/Domröse, in diesem Band, § 9; aus der Sicht des deutschen Vertragsrechts etwa Schlechtriem/Schmidt-Kessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 12 ff. 22 S. W.-H. Roth, in diesem Band, § 14.

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§ 17 Europäisches Vertragsrecht

schriften durch die Anwendung von Generalklauseln geboten sein kann.23 Soweit in den Mitgliedstaaten die Gerichte auch rechtsfortbildend tätig werden dürfen, ergibt sich aus der mitgliedstaatlichen Umsetzungsverpflichtung nach Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG auch das Gebot einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung,24 wie sie der Bundesgerichtshof in der Rechtssache Quelle auch praktiziert hat.25 Noch weiter reichen die Richtlinienwirkungen bei privatrechtlich ausgestalteten Verträgen zwischen Privaten und der öffentlichen Hand. Praktische Bedeutung hat dieser Punkt bislang vor allem für Beschäftigungsverhältnisse des öffentlichen Dienstes erlangt, für welche insbesondere die arbeitsrechtlichen Richtlinien unmittelbar zugunsten der Beschäftigten gelten, wenn sie nicht rechtzeitig oder nicht ordnungsgemäß umgesetzt sind und die Richtlinie den Beschäftigten eine hinreichend präzise gefasste Rechtsposition einräumt.26 Künftig dürfte er mit Blick auf die Zahlungsverzugsrichtlinie (ZVerzRL)27 auch für Vergütungsansprüche Privater gegen die öffentliche Hand Bedeutung erlangen; dies gilt insbesondere für eine Reihe öffentlich-rechtlich organisierter Rechtsverhältnisse28 und für Bauaufträge der öffentlichen Hand. Bislang nicht näher untersucht ist außerdem die Frage einer Francovich-Haftung als Haftung in einem Vertrag.29 Ebenfalls offen ist, ob eine unmittelbare Richtliniengeltung entsprechend der Ausweitung der Wirkung der Grundfreiheiten auf sog. intermediäre Gewalten möglich ist. Die Standardformel des Gerichtshofs zur Abgrenzung erfasst den Staat sowie Organisationen und Einrichtungen, die dem Staat oder dessen Aufsicht unterstehen oder mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über diejenigen hinausgehen, die sich aus den für die Beziehungen zwischen Privatpersonen geltenden Vorschriften ergeben.30 Die Ausweitung dieser Formel etwa auf die von den Grundfreiheiten angesprochenen privaten Verbände erscheint zumindest vorstellbar.31

10

Unmittelbare Wirkungen vermögen Richtlinien ferner dort zu erzeugen, wo sie lediglich mittelbar auf vertragliche Rechtsverhältnisse einwirken. Das gilt insbesondere dort, wo eine Richtlinie bestimmte technische Standards verbietet, auf die der Vertrag oder das Gesetz – etwa zur Bestimmung der geschuldeten Qualität von Ware –

10a

23 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 Rn. 116; dazu Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47 ff.; Staffhorst, GPR 2005, 89, 90 f.; Schlechtriem/ Schmidt-Kessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 154a. 24 Siehe nochmals W.-H. Roth, in diesem Band, § 14. 25 BGH, NJW 2009, 427, 428 Rn. 19 ff. in Befolgung von EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685. 26 Grundlegend EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, Slg. 1986, 723. Zu den Einzelheiten etwa Streinz-Schroeder, Art. 249 EG Rn. 106 ff. 27 Richtlinie 2000/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 29.6.2000 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr, ABl. 2000 L 200/35. 28 Siehe die Nachweise bei Gebauer/Wiedmann-Schmidt-Kessel, Kap. 4 Rn. 9, 14. 29 Zur dogmatischen Verortung dieser Haftung etwa Streinz-Gellermann, Art. 288 EG Rn. 39. 30 Etwa EuGH v. 4.12.1997 – verb. Rs. C-253/96 bis C-258/96 Kampelmann, Slg. 1997, I-6907 Rn. 47. 31 Siehe aber für die Dienstleistungsrichtlinie nochmals Schlachter/Ohler-Schmidt-Kessel, Europäische Dienstleistungsrichtlinie – Handkommentar (2008), Art. 16 DLRL Rn. 10.

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3. Teil: Besonderer Teil

Bezug nehmen;32 die Richtlinie schließt den verbotenen Standard dann jedenfalls insoweit aus, als er sich nicht aus dem tatsächlichen Parteiwillen ergibt. Entsprechendes kann beim Verbot bestimmter Zulassungsanforderungen an Dienstleister geschehen, soweit die daran geknüpfte (Un-)Wirksamkeit des Vertrages dem Richtlinienziel zuwiederläuft.33 Dieser Verwerfung nationaler Standards aufgrund kollidierender Umsetzungspflichten stehen positive Pflichten unter Bezug auf Unionsrechtsakte bislang hingegen allein bei Verordnungen gegenüber.34

11

Soweit das Unionsrecht für die Entscheidung vertragsrechtlicher Streitigkeiten Bedeutung erlangt, folgt seine Auslegung im Grundsatz den allgemeinen Regeln unionsrechtlicher Methodik.35 Insbesondere sind die betreffenden Vorschriften und ihre Begriffe autonom und nicht etwa nur mit Blick auf die jeweils berufene nationale Rechtsordnung auszulegen.36 Von den klassischen canones der Auslegung tritt die historische eher in den Hintergrund.37 Die Bedeutung des Wortlauts ist in mehrfacher Hinsicht ambivalent. Ihm müsste zunächst im Blick auf die souveränitätsbeschränkende Wirkung unionsrechtlicher Rechtsakte besondere Bedeutung zukommen. Diese wird jedoch durch die Vielsprachigkeit der Rechtstexte sowie durch die bislang mangelnde Ausbildung einer kohärenten Terminologie des Vertragsrechts der Union erheblich relativiert. Entgegen der insoweit besonders restriktiven deutschen Tradition aber in Übereinstimmung der herrschenden Methodenlehre in einigen anderen Mitgliedstaaten38 markiert die Wortlautgrenze zudem nicht notwendig eine Grenze zwischen kategorial zu unterscheidender Auslegung und Fortbildung des Unionsrechts.39 Neben den insoweit großzügigeren Traditionen anderer Mitgliedstaaten hat dies seine Ursache auch im zentralen Gewicht der teleologischen Auslegung im Unionsrecht. Bei dieser ist das in Bezug genommene Telos zudem ein doppeltes: Zu fragen ist

32 EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-443/98 Unilever Italia, Slg. 2000, I-7535 (gemeinschaftsrechtswidrige Etikettierungsvorschriften begründen keine Vertragswidrigkeit). Vgl. auch EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-194/94 CIA Security, Slg. 1996, I-2201 (verbotswidriges Betreiben eines Gewerbes nicht unlauter, wenn nationale Bestimmung gegen Richtlinie verstößt). 33 Vgl. zur Dienstleistungsrichtlinie und den von ihr erfassten Eingriffsnormen Schlachter/ Ohler-Schmidt-Kessel, Europäische Dienstleistungsrichtlinie – Handkommentar (2008), Art. 16 DLRL Rn. 27. 34 Etwa LG Trier, NJW-RR 1996, 564 = CISG-online 160 (zur Verordnung (EWG) Nr. 822/87 und der dadurch begründeten fehlenden Verkehrsfähigkeit von Wein). 35 Dazu in diesem Band Pechstein/Drechsler, in diesem Band, § 8, sowie Riesenhuber, ebd., § 11. 36 GA Trstenjak, SchlA v. 11.9.2008 – Rs. C-180/06 Ilsinger, Slg. 2009, I-3961 Tz. 54 mwN. 37 In diesem Sinne Baldus, in: ders./Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht (2006), S. 1, 4–6; anders Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 30. 38 Das gilt insbes. für Frankreich, Spanien, Portugal, die Niederlande und teilweise auch für Italien. Vgl. die Nachweise bei Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 132 f., 158 f., 166, 172, 178. Entsprechendes gilt für die Schweiz, vgl. Kramer, Methodenlehre, S. 152. 39 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 358; Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen (2006), S. 317 f.; Baldus/Becker, ZEuP 1997, 873, 883. Hieran knüpft der Bundesgerichtshof ausdrücklich an: BGH, NJW 2009, 427, 428 Rn. 21. Abweichend (und vielleicht zu sehr in der deutschen Methodenlehre verwurzelt) Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 20; Neuner, ebd., § 13 Rn. 2 f., 17.

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einerseits nach dem Zweck der einzelnen Norm und andererseits – und insoweit auch systemprägend – nach den aus der Binnenmarktfinalität des Unionsrechts für die einzelne Sachfrage zu ziehenden Konsequenzen.40

III. Normative Besonderheiten des Vertragsrechts und deren Konsequenzen für das methodische Instrumentarium Dem Vertragsrecht kommt eine Doppelaufgabe zu: Es organisiert die vertragliche Bindung und es bestimmt den Inhalt des Vertrags einschließlich der Folgen von Störungen. Für die Erfüllung dieser Doppelaufgabe stehen dem Vertragsrecht drei Instrumente zur Verfügung: Maßgebend sind zunächst die Parteierklärungen und ihr Zusammenkommen im vertragsbegründenden Konsens; der Code civil spricht insoweit in Art. 1134 Abs. 1 treffend davon, der Vertrag sei das Gesetz der Parteien.41 Weiterhin sind das dispositive Vertragsrecht und weitere Mechanismen heteronomer Vertragsergänzung in den Blick zu nehmen und schließlich das die Freiheit der Parteien beschränkende zwingende Recht. 1.

Instrumentarium des Vertragsrechts

Die – gegenseitigen oder gemeinschaftlichen – Parteierklärungen sind unter der Herrschaft der zweigliedrigen Vertragsfreiheit der notwendige Ausgangspunkt für die Behandlung der den Vertrag betreffenden Rechtsfragen: Zunächst ist jeweils zu fragen, ob die Erklärungen hinreichend kongruent sind, um Bindungen zwischen den Parteien hervorrufen zu können, ob also ein Konsens vorliegt. Sodann ist die Frage zu klären, welchen Inhalt dieser Konsens hat. Beide Vorgänge erfolgen mit den Mitteln der Auslegung – zunächst der Parteierklärungen, dann des Konsenses. Diese bildet dementsprechend die primäre methodische Aufgabe des Vertragsrechts. Beherrscht wird die Auslegung von Erklärungen und Konsens bekanntlich durch das Spannungsverhältnis zwischen dem richtigerweise vorrangigem Parteiwillen einerseits und verschiedenen objektiven Gesichtspunkten andererseits, welche sich als notwendige Konsequenz aus dem Umstand ergeben, dass der Parteiwille auch kommuniziert werden muss. 2.

12

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Ergänzungsfunktion des dispositiven Rechts

Dem dispositiven Recht kommt die Aufgabe zu, den im Wege der Auslegung von Parteierklärungen und Konsens ermittelten Befund zu ergänzen und zu konkretisieren. Dabei tritt es im Kollisionsfalle hinter diesem Befund zurück, ist also dem Gesetz der

40 Rösler, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Stichwort: Auslegung des Gemeinschaftsrechts, sub 1 (Verwirklichung der Integrationsziele). S. auch GA Trstenjak, SchlA v. 24.4.2008 – Rs. C-265/07 Caffaro, Slg. 2008, I-7085 Tz. 34. 41 Entsprechend Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 345.

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3. Teil: Besonderer Teil

Parteien gegenüber nachrangig. Auch soweit das dispositive Recht mit Mechanismen einer individuellen, d.h. auf den einzelnen Vertrag bezogenen, heteronomen Vertragsergänzung, etwa der implication in fact (vgl. II.–9:101 DCFR) oder der ergänzenden Vertragsauslegung, konkurriert, tritt es richtigerweise zurück: Für diese am individuellen Vertrag und damit enger am Willen der Parteien anknüpfenden Mechanismen gebietet dies die Herrschaft der Privatautonomie im Vertragsrecht. Dabei können dispositives Recht und die Mechanismen zur heteronomen wie autonomen Ergänzung des Vertrags im Einzelfall nicht immer klar unterschieden werden: Die verschiedenen Elemente von Art. 35 Abs. 2 CISG und – soweit er den Parteien Spielräume belässt – Art. 2 Abs. 2 Kaufgewährleistungsrichtlinie (KGRL)42 etwa lassen sich m.E. am besten als Auslegungshilfen auffassen und sind im englischen Recht des 19. Jahrhunderts auch genau so entstanden, nämlich als terms implied in fact.43 Damit klingt zugleich das Ideal für die inhaltliche Ausgestaltung dispositiven Rechts an: die Ausrichtung am typisiert-hypothetischen Parteiwillen. Dieses Ideal bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Methodik des dispositiven Rechts. 3.

Zwingendes Recht als Grenze der Vertragsfreiheit

15

Zwingendes Vertragsrecht setzt alldem Grenzen: Wege zur vertraglichen Bindung wie auch Vertragsinhalte werden ausgeschlossen oder – bis hin zum Kontrahierungszwang – vorgegeben.44 Gleichwohl sind zwingende Normen vom Handeln der Parteien nicht unabhängig: Sie kommen nämlich erst zum Tragen, wenn sich die Parteien – beim Kontrahierungszwang der freie Teil – für ein von ihnen erfasstes Vertragsschlussverfahren oder eine von ihnen erfasste Vertragsgestaltung entscheiden. Auch steht das zwingende Vertragsrecht nicht isoliert, sondern knüpft weitgehend an die Vorgaben des dispositiven Rechts an, indem bestimmte – sich auch unter diesem stellende – Fragen der privatautonomen Regelung entzogen werden. Dass sich die Parteien etwa von der Schadensersatzhaftung für eigenen Vorsatz regelmäßig nicht freizeichnen können,45 setzt nicht nur stillschweigend den Vertragsschluss und eine Pflicht des vertragsbrüchigen Teils voraus, sondern verlangt überdies, dass der Rechtsbehelf des Schadensersatzes überhaupt zur Verfügung steht und sich damit die Frage nach dem (Mindest-)Standard der Haftung überhaupt stellt. Auch diese Verknüpfung kann für die heranzuziehende Methodik nicht folgenlos bleiben.

16

Diese strukturelle Abhängigkeit des zwingenden vom dispositiven Recht hat der deutsche Gesetzgeber in § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB dadurch perfektioniert, dass er das vornehmlich vom dispositiven Recht gezeichnete gesetzliche Leitbild zum Maßstab der Anwendung einer Norm zwingenden Rechts, nämlich des Verbots unangemessen

42 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. 43 Siehe notes zu II.–9:101 DCFR sowie notes zu IV.A.–2:301 und 2:302 DCFR. 44 S. GA Trstenjak, SchlA v. 15.11.2007 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685 Tz. 52. 45 Siehe nur § 276 Abs. 3 BGB. Offener der DCFR in II.–9:403–9:405; strikt jedoch für die außervertragliche Haftung in VI.–5:401 Abs. 1 DCFR.

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§ 17 Europäisches Vertragsrecht

benachteiligender Vertragsbestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen, erhoben hat. Indem bekanntlich § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB außerdem auf die wesentlichen Rechte und Pflichten verweist, die sich aus der Natur des Vertrages ergeben, geht das Gesetz noch einen Schritt weiter und macht sich die Erkenntnis zueigen, dass das dispositive Recht insoweit nicht allein die Standards setzt, welche den Vertragsinhalt bestimmen.46 Diese flächendeckende enge Verknüpfung des dispositiven Rechts mit den Standards der Inhaltskontrolle entspricht europäischem Standard freilich nicht einmal dort, wo das Unionsrecht selbst Regeln zur Inhaltskontrolle vorsieht.47 Lediglich Art. 3 Abs. 3 ZVerzRL scheint hier in die Richtung des deutschen Rechts zu verweisen, freilich ist der dortige Verweis auf das „Leitbild“ von Art. 3 Abs. 1 lit. a)–d), Abs. 2 ZVerzRL erheblich zurückhaltender, weil die Anknüpfung an die dispositiven Vorschriften dort endet, wo der andere Teil einen „objektiven Grund“ für die Abweichung benennen kann. Selbstverständlich gehören auch in anderen europäischen Rechtsordnungen die Standards, von denen abgewichen wird, zu den Kontrollgesichtspunkten, jedoch kommt es dort nicht zu einer dem deutschen Recht vergleichbaren Engführung.

IV.

Vertragsauslegung

Obwohl die Vertragsauslegung nach dem Vorstehenden den Kern der vertragsrechtlichen Methodik bildet, ist insoweit eine Beschränkung auf wenige einzelne Punkte geboten. Dies zum einen, weil hier – einheitsrechtlich vor allem zurückgehend auf Art. 8 CISG und die Praxis seiner Anwendung – weitgehende Einigkeit über die anzulegenden materiellen Maßstäbe besteht und zum anderen, weil sich Schwierigkeiten bei der Vertragsauslegung vor allem im tatsächlichen Bereich ergeben und damit eng mit den prozessualen Rahmenbedingungen verknüpft sind – etwa den zugelassenen Beweismitteln, den Regeln für die richterliche Überzeugungsbildung oder der Frage nach Möglichkeit und Umfang der Kontrolle tatrichterlicher Auslegung durch Rechtsmittelgerichte. Zudem sind die unionsrechtlichen Ansätze zu einer allgemeinen Methodik der Vertragsauslegung bislang eher rudimentär, so dass man sich ohnehin weitgehend auf II.–8:101 ff. DCFR sowie auf Art. 8 CISG stützen muss.48 1.

17

Parteiwille als maßgebliches Kriterium

Ausgangspunkt ist jeweils der Parteiwille, zunächst im Blick auf die Vertragsschlusserklärungen und sodann begrenzt darauf, wie er Eingang in den Konsens gefunden

46 Im Einzelfall hat dies sogar dazu geführt, dass die geübte Vertragspraxis dispositive Normen in einer Weise überspielt hat, dass den Verwendern von AGB die Rückkehr zum Gesetz verwehrt wurde. 47 Art. 3, 4 Klauselrichtlinie. 48 Siehe daher zum Folgenden Schlechtriem/Schwenzer-Schmidt-Kessel, Art. 8 CISG sowie Vogenauer, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Stichwort: Auslegung von Verträgen.

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3. Teil: Besonderer Teil

hat.49 Er ist, soweit er sich mit dem Verständnis respektive dem Willen des anderen Teils deckt, auch dann maßgebend, wenn er im Wortlaut der getätigten Äußerungen für einen Dritten nicht sichtbar oder nicht erkennbar wird – falsa demonstratio non nocet. Das ergibt sich unmittelbar aus II.–8:101 Abs. 1 DCFR und Art. 8 Abs. 1 CISG, während es für das Unionsprivatrecht bislang abgeleitet werden muss und zwar aus der dieses beherrschenden (formalen) Vertragsfreiheit. Der Parteiwille wirkt auch dort fort, wo er nicht mehr hinreichend konkret ist, um unmittelbar die Beantwortung einzelner Detailfragen leisten zu können, nämlich über den – in Randbereichen nicht selten diffusen – Zweck, welchen die Parteien verfolgt haben, II.–8:102 Abs. 1 lit. e) DCFR, oder welchen eine Partei in Kenntnis und ohne Widerspruch der anderen zum Gegenstand des Vertrags gemacht hat, II.–8:101 Abs. 2 DCFR.50 Die Orientierung der beim Kauf geschuldeten Beschaffenheit der Ware am tatsächlichen oder gewöhnlichen Verwendungszweck, Art. 2 Abs. 2 lit. b) und c) KGRL, VI.A.– 2:302 lit. a) und b) DCFR und Art. 35 Abs. 2 lit. a) und b) CISG, ist ein Beispiel für diese Form der vermittelten Wirkung des Parteiwillens.51 2.

19

Im Übrigen geht es bei den die Auslegung steuernden Regeln einerseits darum, das zur Feststellung des Parteiwillens und des von den Parteien objektiv zu erwartenden Verständnisses heranzuziehende Auslegungsmaterial festzulegen, und andererseits um Zweifelsregeln, welche die Risiken des Schweigens bei Vertragsschluss und der Beweisbelastung im nachfolgenden Prozess zuweisen. a)

20

Objektivierungen

Bestimmung des Auslegungsmaterials

Dabei ist der unionsprivatrechtliche Befund zum Auslegungsmaterial marginal; allenfalls lassen sich Ansätze für ein Gebot zur Auslegung des Vertrags als Ganzes nachweisen,52 nämlich in Art. 4 Abs. 1 Klauselrichtlinie.53 Der Grund dafür liegt in dem Umstand, dass in Europa ein weitestgehender Konsens darüber besteht, dass grundsätzlich jeder Umstand, welcher Schlüsse auf den Willen und das Verständnis der Parteien erlaubt, bei der Auslegung zu berücksichtigen ist, II.–8:102 DCFR und Art. 8 Abs. 3 CISG. Das Europäische Privatrecht kennt insbesondere keine parol evidence rule im strengen Sinne, also keine strikte Beschränkung der Auslegungsgesichtspunkte auf eine den Vertrag verkörpernde Urkunde, soweit die Parteien dies nicht 49 Abweichend zum Gegenstand der Auslegung Vogenauer, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Stichwort: Auslegung von Verträgen, sub 1 b; die dort vertretene Konzentration auf den Vertrag negiert freilich die Auslegung als Mittel zur vorgelagerten Feststellung des Konsenses. 50 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 356. 51 Vgl. BGer v. 22.12.2000 – 4C.296/2000, CISG-online 628; Schlechtriem/Schwenzer-SchmidtKessel, Art. 8 CISG Rn. 26. 52 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 357. Vgl. auch II.–8:105 DCFR sowie Schlechtriem/ Schwenzer-Schmidt-Kessel, Art. 8 CISG Rn. 29. 53 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29.

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mittels einer merger clause vereinbart haben. Der Rückgriff auf die Verhandlungen der Parteien als Auslegungshilfe ist also möglich.54 Das Unionsrecht stünde vielmehr umgekehrt einer solchen Regel – oder ggf. auch Vertragsklausel – entgegen, wo diese die effektive Durchsetzung einer gewährten Rechtsposition beschränkt. So wäre eine parol evidence rule im strengen Sinne etwa mit Art. 2 Abs. 2 KGRL unvereinbar. Auch die deutsche Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit einer Urkunde bedarf insoweit einer behutsamen Anwendung.55 Generell dürften dem Unionsrecht solche nationalen Auslegungsregeln entgegenstehen, welche die praktische Verwirklichung der betreffenden Regel verhindern.56 b)

Risikozuweisungen

Auch an Regeln, welche bewusst Auslegungsrisiken zuweisen, ist das Unionsprivatrecht nicht eben reich. Selbstverständlich ergeben sich solche Risikozuweisungen als Nebenfunktion einer jeden dispositiven Norm, weshalb auch hier die Abgrenzung von der Auslegungsregel oder Vermutung häufig nicht zu leisten ist. An allgemeinen Risikozuweisungen enthält das Unionsprivatrecht ausdrücklich nur das Gebot einer Auslegung contra proferentem von nicht im Einzelnen ausgehandelten Klauseln in Art. 5 Abs. 2 Klauselrichtlinie, welches sich – angesichts der europaweiten Akzeptanz dieses Grundsatzes – über den Anwendungsbereich der Richtlinie hinaus verallgemeinern lässt, II.–8:103 DCFR: Wer einseitig Vertragsinhalte vorgibt, trägt das Risiko einer nicht hinreichend klaren Formulierung.57 Für den gelegentlich postulierten allgemeinen Grundsatz einer verbraucherfreundlichen Auslegung58 findet sich hingegen weder im Unionsrecht noch im DCFR eine hinreichende Basis.

21

Für die im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr bedeutsame Frage nach der Zuweisung von Sprachrisiken59 lässt sich hingegen bislang nicht klar beantworten, wie Art. 4 Abs. 3 und Art. 5 Timesharingrichtlinie (TSRL) 60 und Art. 36 Lebensversiche-

22

54 S. Vogenauer, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Stichwort: Auslegung von Verträgen, sub 3 b, dort auch zur abweichenden Entscheidung des House of Lords in Chartbrook Ltd. v Persimmon Homes Ltd. [2009] UKHL 38. 55 Vgl. zur entsprechenden Rechtslage unter dem UN-Kaufrecht Schlechtriem/SchwenzerSchmidt-Kessel, Art. 8 CISG Rn. 32 ff. Anders als dort könnte freilich der Verkäufer seine Haftung nicht durch eine merger clause zu beschränken suchen (s. ebd., Rn. 35). 56 Siehe aber Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 359. 57 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 357 f.; Schlechtriem/Schwenzer-Schmidt-Kessel, Art. 8 CISG Rn. 47 f.; Vogenauer, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Stichwort: Auslegung von Verträgen, sub 1 a. 58 So Möllers, ZHR 2007, 754, 757. Skeptisch auch Vogenauer, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Stichwort: Auslegung von Verträgen, sub 1. S.a. Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 54–60 mwN. 59 Zu den Sprachrisiken im internationalen Einheitsrecht s. Schlechtriem/Schwenzer-SchmidtKessel, Art. 8 CISG Rn. 41 ff. mwN. 60 Richtlinie 2008/122/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.1.2009 über den Schutz der Verbraucher im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Teilzeitnutzungsverträgen, Verträgen über langfristige Urlaubsprodukte sowie Wiederverkaufs- und Tauschverträgen, ABl. 2009 L 33/10.

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3. Teil: Besonderer Teil

rungsrichtlinie (LVersRL)61 einzuordnen sind:62 Ist die mit der Pflicht zur beglaubigten Übersetzung des Vertrags nach der Timesharingrichtlinie richtigerweise verbundene Zuweisung des Sprachrisikos für Mängel der Übersetzung an den Unternehmer verallgemeinerungsfähig oder handelt es sich insoweit um eine Ausnahme von II.–8:107 DCFR? Noch weniger aussagekräftig ist die nicht einmal durchweg zwingende versicherungsrechtliche Regel. Manches spricht hier für eine auf Verbraucherverträge beschränkte Verallgemeinerung, aus welcher sich eine Generalausnahme vom Grundsatz der Maßgeblichkeit der Ursprungsfassung für Verbraucherverträge ergäbe. Insgesamt dürfte die Freiheit der Mitgliedstaaten bei der privatrechtlichen Zuweisung von Sprachrisiken aber recht groß sein, dafür spricht nicht zuletzt die berufszulassungsrechtliche Regelung in Art. 53 Berufsqualifikationsanerkennungsrichtlinie63, die den Mitgliedstaaten erlaubt, bei der Berufsausübung (nicht für die Zulassung) Anforderungen an die Sprachkenntnisse zu stellen.

V.

Zum Umgang mit dispositivem Vertragsrecht

23

Bislang fehlt es – jedenfalls in Deutschland – an einer generellen Theorie vom dispositiven Recht. Ansätze finden sich lediglich im Kontext der deutschen Leitbildfunktion bei der AGB-Kontrolle64 sowie bei Äußerungen zur ökonomischen Analyse des Vertragsrechts.65 Dementsprechend fehlt es auch weitgehend an der Vergewisserung, ob die klassischen Auslegungsregeln tatsächlich auch dann unmodifiziert Anwendung finden können, wenn nicht zwingende, sondern dispositive Normen Gegenstand der Auslegung sind.

23a

Ein zusätzliches methodisches Problem könnte sich ergeben, falls sich die Union künftig dazu verstünde staatendispositives Recht zu setzen, also solche Bestimmungen, von denen die Mitgliedstaaten abweichen dürfen und die daher auch nur subsidiär zur Anwendung gelangen. Für eine derartige Selbstbeschneidung des höherrangigen Rechts gibt es national einige Beispiele,66 wobei deren methodische Konsequenzen bislang kaum ausgeleuchtet sind.

61 Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.11.2002 über Lebensversicherungen, ABl. 2002 L 345/1. 62 Dazu Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 280 ff. 63 Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 7.9.2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, ABl. 2005 L 255/22. 64 Zur Beschränkung der Leitbildfunktion dispositiven Rechts auf die „wesentlichen Grundgedanken“ und die damit verbundene Binnendifferenzierung etwa Staudinger-Coester, § 307 BGB Rn. 247 ff. 65 Zuletzt Unberath/Czuipka, AcP 209 (2009), 37–83. 66 Siehe nur Art. 72 Abs. 3, Art. 84 Abs. 1 GG für die (partiell) länderdispositiven deutschen Bundesgesetze.

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1.

Anpassung der Methodik

Dispositivität von Normen erfordert, wie noch im Einzelnen auszuführen sein wird, eine nicht unerhebliche Anpassung der Methodik; diese lässt sich auf zwei Wegen begründen, nämlich entweder systemimmanent mit dem Argument, dass das Telos des dispositiven Rechts einen besonderen methodischen Umgang mit diesem erfordere, oder mit dem Hinweis, der Gegenstand dispositives Recht weise eine vom Recht im Übrigen verschiedene Qualität auf, welche die Entwicklung einer eigenständigen Methodik erfordere. Diese beiden Begründungsstränge führen nicht zu divergierenden Ergebnissen und können daher nebeneinander stehen.

24

Ein weiteres Argument lässt sich anfügen: Gemeinhin wird das methodengeleitete Vorgehen bei der Anwendung und Auslegung von Normen auf den allgemeinen Gleichheitssatz zurückgeführt.67 Dieser gilt freilich im Vertragsrecht nur eingeschränkt, weil die Parteien dem Gebot der Gleichbehandlung zumindest grundsätzlich nicht unterworfen sind: Vertrag ist Diskriminierung. Bereits die Verschiedenheit der beteiligten Parteien genügt, um die Ergebnisse unterschiedlich ausfallen zu lassen. Die Anforderungen an die Methodik des dispositiven Rechts sind daher andere als bei anderen Materien.

25

2.

Beschränkte Bedeutung des klassischen Kanons

Soweit eine Norm des dispositiven Rechts in Ergänzung eines Vertrags zur Anwendung kommt, erlangt der klassische Kanon der Auslegungsgesichtspunkte nur eingeschränkte Bedeutung für deren Auslegung. Der Grund dafür liegt in der Einstellung der Norm in den individuellen vertraglichen Kontext und der damit verbundenen Einbindung in das System des individuellen Vertrags; wie einzelne express terms des Vertrags ist die dispositive Norm nur als Teil des Vertragsganzen zu behandeln und im Blick auf dieses auszulegen – II.–8:105 DCFR. Hierin liegt auch die methodische Rechtfertigung für die gelegentlich anzutreffende und etwas hilflos wirkende Formulierung, die Norm passe auf die konkrete Situation nicht.68 a)

26

Wortlaut und Entstehungsgeschichte

Überwindbar werden damit zunächst Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Norm. Für den individuellen Vertrag ist die gelegentlich auf die frühe römische Republik zurückreichende Vor- und Entstehungsgeschichte einer Norm nicht bindend. Gerade im Vertragsrecht älterer Kodifikationen ist der Erlassgrund mancher Normen die Tradition und nicht eine bewusste politische Entscheidung eines Gesetzgebers. Und selbst wenn eine solche – wie bei den allermeisten Bestimmungen in Richtlinien – vorliegt, überspielt im Zweifelsfalle die konkrete vertragliche Konstellation inter partes den historischen Willen des Gesetzgebers bereits allein aufgrund der Dispositivität 67 Grundlegend Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme: methodenrechtliche Analyse und Fortentwicklung der Theorie der „beweglichen Systeme“ (1997). 68 Etwa BGH, NJW 1975, 1116, 1117.

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3. Teil: Besonderer Teil

der Norm. Das kann bei Fehleinschätzungen des Gesetzgebers bezüglich des typischen Parteiwillens zur praktischen Derogation der Norm führen.69

28

Auch der Wortlaut einer Norm erscheint vor diesem Hintergrund nicht als unüberwindbar: Die Sprache und – vor allem – die damit verbundenen Grenzziehungen durch den Gesetzgeber entsprechen vielfach nicht denjenigen der Parteien. Das gilt um so mehr für das Unionsprivatrecht mit seiner Vielsprachigkeit, wo die Termini regelmäßig überdies nicht denjenigen der Rechtssprache des eigenen Umfelds entsprechen. Wichtiger noch ist, dass auch wesentliche Funktionen der Wortlautgrenze nicht zum Tragen kommen. Das gilt zum einen für die Funktion des Schutzes der Gewaltenteilung: Da die Kompetenz zur Feststellung des individuellen Vertragsinhalts bei den (nationalen) Gerichten liegt70 und sich der Gesetzgeber mit der Setzung dispositiven Rechts in seinem Regelungsanspruch selbst zurücknimmt71, besteht bei dessen Auslegung ohnehin nur eine eingeschränkte Konfliktlage zwischen Legislative und Judikative. Der Wortlautgrenze kommt aber auch nicht die gewohnte Funktion einer vertikalen Kompetenzabgrenzung zu: Auch dies hat seinen Grund in der Selbstbeschränkung des Unionsgesetzgebers, welcher zwar den nationalen Gesetzgeber hinsichtlich der Umsetzungsverpflichtung bindet, nicht jedoch die Parteien, und damit den nationalen Gerichten die typischen Spielräume dispositiven Rechts belässt: Insbesondere ist der von den nationalen Gerichten festgestellte typische Parteiwille – etwa über die Begründung tatsächlicher Vermutungen – auch dazu geeignet, dispositive Normen des Unionsrechts zu überspielen und damit – inter partes – zu derogieren. Die Kompetenzausübung des Unionsgesetzgebers ist bei der Setzung dispositiven Rechts also weit weniger einschneidend und verringert damit auch in diesem Punkt das Gewicht der Wortlautgrenze und damit des Wortlauts. b)

29

Telos der Norm

Auch ein besonderes Telos, welches der Unionsgesetzgeber mit einer Norm verbindet und welchem im Blick auf die Pflichten des nationalen Gesetzgebers zur Umsetzung, zur effektiven Durchsetzung oder zur Nichtdiskriminierung besondere Bedeutung zukommt, hat bei dispositivem Recht bei weitem nicht das gewohnte Gewicht: Geht es über die Abbildung eines feststellbaren typischen Parteiwillens hinaus, wird die betreffende Norm schnell leerlaufen, ohne dass die nationalen Rechtsanwender insoweit pflichtwidrig handeln. Dieses Schicksal könnte etwa Art. 3 Abs. 1 lit. d) ZVerzRL für bestimmte Branchen drohen, soweit die dort festgelegten Zinssätze über den für diese Branchen üblichen und allseitig akzeptierten liegen. Ein solches Vorgehen entspricht der Binnenmarktfinalität (nunmehr auch) des Unionsrechts, weil es der damit verbundenen Vorstellung von der Selbstorganisation der Parteien am Markt in den Grenzen des wettbewerbsrechtlichen und des ordnungsrechtlichen Rahmens Vorschub leistet.

69 Siehe etwa BGH, NJW 1979, 1705 zu §§ 161 Abs. 2, 131 Nr. 4 HGB a.F. 70 Vgl. EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 21 ff. 71 Das gilt unabhängig davon, ob er dazu vielleicht gezwungen ist, weil er nach den Maßgaben des vorrangigen Rechts – etwa der Grundfreiheiten – an der Setzung zwingenden Rechts gehindert ist.

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c)

Systemgestützte Erwägungen

Gravierend sind schließlich die Auswirkungen der Dispositivität auf das System und systematische Argumente72 bei der Auslegung der betreffenden Normen: Auch soweit die gesetzliche – äußere – oder die dogmatische – innere – Ordnung des Normgefüges den Anforderungen entspricht, die herkömmlich an ein System gestellt werden, tritt dieses bei der Anwendung des Gesetzes hinter den individuellen Vertrag und dessen Regelungen zurück. Das Phänomen lässt sich als das systematische Paradoxon des dispositiven Rechts bezeichnen: Der individuelle Vertrag, d.h. der Anwendungsfall für das gesetzliche System, bewirkt eine Systemstörung und beschränkt daher die Bedeutung des gesetzlichen Systems. Die Störung ist jedem individuellen Vertrag inhärent, sie wirkt sich um so stärker aus, je atypischer der Vertrag ist. Sie ist – ökonomisch gesprochen – Konsequenz des vollständigen Vertrags als Leitbild dispositiven Rechts.73

30

Die probate gesetzgeberische Reaktion heißt Generalklausel; durch sie erst öffnet der Gesetzgeber seine Regelung dem individuellen Vertrag und muss damit richtigerweise den Primat seines Systems verloren geben. Die vielfach kritisierte Zunahme von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen durch die deutsche Schuldrechtsmodernisierung ist daher nicht mehr als den Realitäten der Privatautonomie geschuldet. Dasselbe gilt im Unionsrecht etwa für den auf die „Verantwortlichkeit“ des Schuldners für die Verzögerung abstellenden Haftungsstandard nach Art. 3 Abs. 1 lit. c) Ziff. ii) ZVerzRL sowie für die Generalklauseln zur Inhaltsbestimmung des Handelsvertretervertrags in Art. 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 Handelsvertreterrichtlinie (HVertrRL).74

31

Mit der Bedeutung des Systems fallen auch wesentliche systemgestützte Argumente: Das gilt vor allem für das argumentum e contrario, weil dieses auf der Überlegung beruht, ein System erhebe den Anspruch der Vollständigkeit, wie er von einigen Kodifikationen ausdrücklich infragegestellt wird.75 Ohne diesen Vollständigkeitsanspruch fehlt es nämlich am tertium non datur, was den Umkehrschluss zu einem unvollständigen und damit nicht tragfähigen werden lässt. Soweit nun Normen des gesetzlichen Systems unter dem individuellen Vertrag Anwendung finden, fehlt es notwendig an der Vollständigkeit dieser in den Vertrag integrierten Systemteile. Die Dispositivität

32

72 Zu einer denkbaren systematischen Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Blick auf den (D)CFR s. Riesenhuber, in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen, S. 202 ff. 73 Zu diesem Leitbild eingehend zuletzt Unberath/Czuipka, AcP 209 (2009), 37, 44 ff., wo freilich keine methodischen Konsequenzen für die Behandlung dispositiven Rechts gezogen werden. 74 Richtlinie 86/653/EWG des Rates v. 18.12.1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17. 75 S. Art. 10 Abs. 3 port. CC. Vgl. auch die Hinweise zur Schwäche des argumentum e contrario im französischen Recht bei Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 132.

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der Normen nimmt dem gesetzlichen System somit – für den Fall der Anwendung – den Vollständigkeitsanspruch; das argumentum e contrario trägt folglich nicht.76

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Umgekehrt scheitert mit der Analogie eine zentrale systemgestützte Argumentationsform in ihrer klassischen Ausprägung an der Vollständigkeit des Systems des individuellen Vertrags. Insoweit fehlt es schlicht an der nach in Deutschland vorherrschender Auffassung erforderlichen planwidrigen Regelungslücke.77 Dem Vertrag liegt nämlich unter der Herrschaft der Privatautonomie die Regel zugrunde, dass eine inter partes geltend gemachte Rechtsposition einer Basis im Vertrag bedarf. Fehlt diese, kommt es nicht etwa zur Rechtsverweigerung, sondern zur Klageabweisung, respektive zur Zurückweisung des entsprechenden Verteidigungsvorbringens. Mit dieser ex lege jedem Vertrag zugrundeliegenden Regel aber ist kein Vertrag unvollständig oder lückenhaft. Das Festhalten am Lückenerfordernis ließe die Analogie im dispositiven Vertragsrecht leer laufen. 3.

Auswirkungen auf die Rechtsquellenlehre

34

Die vorstehenden Ausführungen lassen in der Konsequenz auch die Rechtsquellenlehre nicht unberührt: Zu erwägen sind einerseits Zweifel an der Qualität dispositiver Gesetzesregeln als Rechtsquelle und andererseits die Frage nach den Wirkungen von Präjudizien im Vertragsrecht. Zweifel an der Einordnung dispositiver gesetzlicher Regeln als Rechtquelle nährt deren Bezogenheit auf den individuellen Vertrag. Insbesondere kommen sie nur im Einklang mit dem Parteiwillen zur Anwendung und sind damit – soweit es um ihre Anwendung geht – Teil der „lex contractus“.78 Norm und Rechtquelle ist die dispositive Regel insoweit nicht mehr als der Vertrag selbst.

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Umgekehrt kommt der Rechtsprechung bei der Suche nach dem typischen Parteiwillen in aller Regel eine zentrale Bedeutung zu, verfügt sie doch über weit größere praktische Erfahrung im Umgang mit den entsprechenden Verträgen als der Gesetzgeber. Eine ständige Rechtsprechung im Bereich dispositiven Rechts lässt sich daher als Verkörperung eines typisierten Parteiwillens und damit zugleich als Aussage über den typischen Parteiwillen begreifen. Damit aber kommt ihr für die Bestimmung des Vertragsinhalts keine geringere Dignität zu als dem dispositiven Gesetzesrecht. Ordnet man dieses noch als Rechtsquelle ein, könnte für jene nichts anderes gelten.

76 Dazu die Zweifel bei Schmidt-Kessel, in: Wagner (Hrsg.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics (2009), S. 69, 77, sowie Schmidt-Kessel, in: Jud/Wendehorst (Hrsg.), Neuordnung des Verbraucherprivatrechts in Europa? (2009), S. 21, 24 f. sowie 30 f. Vgl. auch den Gebrauch des Arguments durch Faust und Ackermann in ihren Beiträgen in dem von Wagner herausgegebenen Band, S. 24 und 43, 67, sowie durch Schauer in dem von Jud und Wendehorst herausgegebenen Band, S. 105. 77 Grundlegend für das von dieser Auffassung postulierte Erfordernis der Lücke bis heute Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz. 78 Vgl. Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 3 Rn. 5. Vorliegend geht es selbstverständlich um die rechtstheoretische und nicht um die kollisionsrechtliche Bedeutung dieses Terminus.

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4.

Parteidispositives, aber staatenzwingendes Vertragsrecht

Ein Sonderproblem ergibt sich aus der Doppelung der Adressaten des Unionsrechts. Dieses richtet sich ganz generell an die Mitgliedstaaten (Art. 4 Abs. 1 UAbs. 2 EUV/ 10 EG) und gibt der Rechtsanwendungs- und -durchsetzungspflicht bei der Richtlinienumsetzung in Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG eine besondere Gestalt. Alle davon erfassten Regeln sind für die Mitgliedstaaten nicht dispositiv und zwar auch dann nicht, wenn parteidispositive privatrechtliche Normen gesetzt werden. Vor allem dispositives Vertragsrecht der Union ist daher staatenzwingend und zugleich parteidispositiv (zum bislang nur denkbaren Phänomen staatendispositiven Vertragsrechts der Union s. oben, Rn. 23a).

36

Bei der Auslegung solch doppelt adressierter Regeln ist danach zu unterscheiden, welche Durchsetzungs- und gegebenenfalls Umsetzungspflichten für die Mitgliedstaaten entstehen und welche Bedeutung der jeweiligen Norm – respektive ihrer Umsetzung – bei der Anwendung im Rahmen des einzelnen Vertrags zukommt. Legt man die hier entwickelten Sonderregeln für die Auslegung dispositiven Rechts zugrunde, können sich hier ganz erhebliche Unterschiede zwischen den Auslegungsergebnissen ergeben. So ist insbesondere der Umsetzungsgesetzgeber an das Binnenmarktziel und das konkrete Telos des Unionsgesetzgebers gebunden, welches gelegentlich auch auf die Setzung eines Symbols gerichtet sein kann. Die Parteien sind es hingegen nicht und für sie mag die betreffende Norm im Einzelfall eine gänzlich andere Bedeutung erlangen. So würde die Zahlungsverzugsrichtlinie eine Umsetzung der hohen – aber dispositiven – Verzugszinssätze auch dort verlangen, wo ihre Derogation eine völlige Selbstverständlichkeit wäre. Das Ziel des Unionsgesetzgebers, den typischen Parteiwillen auch durch das Umsetzungsgesetz selbst zu beeinflussen, gäbe dem auch einen Sinn.

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VI. Anwendungsfragen bei zwingendem Vertragsrecht Die gesonderte Frage nach der Methode in der Anwendung des dispositiven Vertragsrechts erlaubt nun den Blick auf das Komplement, das zwingende Vertragsrecht. Dabei wird zunächst und vorrangig zu erwägen sein, inwieweit dessen Methodik vom Grundsatz der Vertragsfreiheit gesteuert ist. Ferner stellt sich die Frage nach der Anwendung des etablierten Methodenkanons. Schließlich ist auf zwei Sonderfragen einzugehen, nämlich die Konkretisierung von unabdingbar wirkenden Generalklauseln anhand dispositiver Normen und die Möglichkeiten und Grenzen einer Analogie im zwingenden Vertragsrecht. 1.

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Vertragsfreiheit als Auslegungsdirektive

In einem von der Vertragsfreiheit beherrschten Vertragsrecht ist jene die beherrschende allgemeine Auslegungsdirektive für freiheitsbeschränkende Vorschriften. Das ergibt sich national wie unionsrechtlich aus den betreffenden Freiheitsgrundrechten und Grundfreiheiten.79 Zwingende Vorschriften sind daher eng auszulegen, soweit 79 Vgl. für das deutsche Recht Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 130. Martin Schmidt-Kessel

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3. Teil: Besonderer Teil

dies den Umfang der Zwingendstellung reduziert. Unionsrechtlich entspricht eine derartige Restriktion zwingender Normen dem Binnenmarktziel, wie es vor allem in den Grundfreiheiten seinen Niederschlag gefunden hat. In der Konsequenz dieser Haltung hätte es – wie von der Kommission ursprünglich vorgeschlagen80 – gelegen, die kollisionsrechtliche Wählbarkeit anerkannter Grundsätze und Regeln des materiellen Vertragsrechts in der Rom I-VO festzuschreiben. 2.

Anwendung des etablierten Kanons?

40

Anders als beim dispositiven Recht, ist der klassische deutsche Kanon der Auslegungsgesichtspunkte auch für die Auslegung zwingenden Unionsrechts von Belang. Das gilt zunächst für den Wortlaut und die durch diesen gezogene Grenze richterlicher Gesetzesauslegung. Während diese bei dispositiven Normen im Blick auf deren Funktion respektive das Telos der Norm ohne weiteres überwindbar ist, kommt ihr bei zwingendem Privatrecht sowohl unter dem Gesichtspunkt des Gesetzesvorbehalts als auch unter demjenigen der Kompetenzabgrenzung zwischen den Staatsgewalten entscheidende Bedeutung zu: Überwindbar ist der Wortlaut daher nur zugunsten der eingeschränkten Freiheit. Ähnlich beschränkt ist letztlich die Funktion der historischen Auslegung (i.e.S.): Ein Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte der Norm erscheint bei der Auslegung zwingenden Vertragsrechts vor allem zugunsten der in ihrer Gestaltungsfreiheit eingeschränkten Partei möglich. Daraus ergibt sich letztlich auch die Lösung des Konflikts eines mit der Wortlautschranke oder der Entstehungsgeschichte in Widerspruch stehenden Telos der Norm: Es lässt sich in Anwendung der Norm insoweit nicht verwirklichen, als die Vertragsfreiheit dadurch beschnitten wird.

41

Von besonderem Interesse ist schließlich die Frage nach dem Wert systematischer Argumente bei der Auslegung zwingenden Vertragsrechts. Zunächst ist dazu festzuhalten, dass ein eigenständiges, von den dispositiven Normen gelöstes System zwingenden Vertragsrechts weder in den Mitgliedstaaten noch im Unionsrecht existiert. Mag es auch – in sich in bestimmter Hinsicht geschlossene – systematische Inseln zwingenden Rechts geben, so knüpfen Beschränkungen der Vertragsfreiheit durchweg tatsächlich an deren Ausübung und regelungstechnisch an das dispositive Recht an. Wegen der Ergänzungsfunktion des dispositiven Rechts hat sich dessen System jedoch als ein rein darstellendes ohne Regelungswirkungen entpuppt, welches genau ohne normativen Verlust auch erheblich andere Gestalt haben könnte.81 Damit ist der – durch die Regelungstechnik nahegelegte – Verweis auf das System des dispositiven Rechts für die Auslegung des ius strictum bestenfalls wertlos. Eine Auslegungsstütze kann sich allein aus Regelungszusammenhängen zwingenden Rechts ergeben.

80 KOM(2005) 650 endg, S. 5 f. Zum Vorschlag der Kommission Schäfer, GPR 2006, 54 ff. Zur endgültigen Fassung etwa MünchKommBGB-Martiny, Art. 3 Rom I-VO Rn. 28. 81 Darin liegt wohl auch der tiefere Grund für die – jedenfalls insoweit zutreffende – These der am Vertragsrecht geschulten Rechtsvergleichung, nationale Rechtsordnungen kämen jeweils zu grundsätzlich identischen Ergebnissen und seien daher funktional äquivalent: siehe Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 33 ff.

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§ 17 Europäisches Vertragsrecht

Denkbar erscheint etwa im Blick auf Art. 102 AEUV/82 EG eine restriktive Auslegung der verschiedenen Diskriminierungsverbote des sekundären Unionsrechts dort, wo es überhaupt – also auch in der heterogenen Gruppe der potentiellen Diskriminierenden – an jeder Spur einer marktbeherrschenden Stellung respektive an entsprechenden Wirkungen als allgemeines Zugangshindernis fehlt.82 3.

Zur Leitbildfunktion des dispositiven Rechts

Besondere Fragen stellen sich dort, wo das Vertragsrecht dispositives Recht zum Maßstab der Inhaltskontrolle, also zum Maßstab der Konkretisierung zwingender Normen erhebt; auf die entsprechende Ausnahmestellung des deutschen Rechts wurde oben schon hingewiesen. Hier scheint der Gesetzgeber dem zuvor nur darstellenden System dispositiven Rechts einen normativen Wert verliehen zu haben. Entscheidend ist insoweit wiederum § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB: Indem der Gesetzgeber jenseits des dispositiven Gesetzesrechts Maßstäbe vorsieht, die gegebenenfalls auch in Widerspruch zu diesem stehen können, bleibt es beim Vorrang des typischen Parteiwillens. 4.

42

Verbot der Analogie?

Die besondere Bedeutung des Wortlauts und die weitgehende Relativierung systematischer Argumente für die Auslegung zwingenden Vertragsrechts lassen schließlich die Analogie auch im Bereich des zwingenden Vertragsrechts als ein fragwürdiges methodisches Instrument erscheinen. Hinzuweisen ist insoweit zunächst einmal auf den Gesetzesvorbehalt, welcher bei eingreifenden hoheitlichen Akten nicht nur eine Rechtfertigung fordert, sondern an diese auch formale Anforderungen stellt und damit zugleich die Zuständigkeiten klarstellt: Ohne gesetzlich geschriebene Rechtfertigung darf der Eingriff nicht stattfinden.83 Soll eine Analogie zu zwingenden Normen wiederum zu einem unabdingbaren Satz führen, gerät dieser Vorgang in Konflikt mit der staatlichen Zuständigkeitsverteilung.

43

Dürfte dieses erste Bedenken angesichts der offenbaren Rechtsfortbildungszuständigkeiten der Rechtsprechung noch überwindbar sein, scheitert die Analogie in ihrem strengen klassischen Sinne auch für das zwingende Vertragsrecht am Fehlen der Lücke: Ist nämlich die Vertragsfreiheit Grundnorm des Vertragsrechts, ist den Parteien jegliche Gestaltung gestattet, soweit nicht Regeln des ius strictum eingreifen. Damit bleibt auch im zwingenden Vertragsrecht der déni de justice immer aus; es fehlt immer an einer Lücke.

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82 Zu Parallelen zwischen wettbewerbsrechtlichen Diskriminierungsverboten und denjenigen des Antidiskriminierungsrechts siehe die Andeutung bei Schmidt-Kessel, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz im Privatrecht (2006), S. 53, 54. 83 Siehe den allgemeinen Gesetzesvorbehalt in Art. 52 GRCh.

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3. Teil: Besonderer Teil

VII. Ausblick: Methodenfragen im Umgang mit dem Gemeinsamen Referenzrahmen 45

Besondere methodische Fragen stellen sich beim Umgang mit dem künftigen Gemeinsamen Referenzrahmen für ein Europäisches Vertragsrecht. Entscheidend für das methodische Instrumentarium sind dabei die Funktionen, welche dieses neuartige Gebilde erfüllen soll. Von Interesse ist außerdem die mit dem ersten Punkt eng verknüpfte Frage, ob und inwieweit durch den Gemeinsamen Referenzrahmen Systembildung betrieben wird. Schließlich ist ein Blick auf die Relevanz des klassischen Kanons der Auslegungsgesichtspunkte für das Verständnis des neuen Instruments zu richten.84 1.

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Der Entwurf zum Gemeinsamen Referenzrahmen ist zunächst einmal nicht mehr als eine rechtsvergleichende Großstudie von kaum vorstellbarem Ausmaß. Das zeigt bereits die Zahl von 25 Staaten, deren teilweise regional sehr unterschiedlichen Vertragsrechtsordnungen neben dem acquis communautaire Eingang in das Projekt finden sollen. Die Verlautbarungen der Europäischen Kommission zum Zweck des Referenzrahmens gehen freilich deutlich darüber hinaus:85 Die Kommission möchte zunächst eine „Toolbox“, welcher sie bei Gelegenheit rechtsvergleichend abgesicherte Versatzstücke entnehmen kann, um diese in neue oder zu überarbeitende Rechtsakte einzufügen. Insoweit steht die Verbesserung der Qualität vorhandener wie zukünftiger Rechtssetzung im Mittelpunkt. Tatsächlich reicht die Funktion des künftigen Gemeinsamen Referenzrahmens damit viel tiefer: Er soll die Lücke schließen, welche sich aus dem Fehlen einer – bislang nur in Ansätzen erkennbaren – europäischen Vertragsrechtsdogmatik ergibt. Es geht mithin um Ordnung, zunächst um eine Ordnung der Diskussion, in welcher viele Akteure aneinander vorbei argumentieren, sodann um eine Ordnung der Begriffe und schließlich – aber erst auf dem Vorangehenden aufbauend – um eine Ordnung des Unionsprivatrechts selbst. Nicht ausgeschlossen ist freilich, dass ein von den Organen der Union sehr eng gefasster Gemeinsamer Referenzrahmen in dieser Funktion durch die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeiten und insbesondere durch den DCFR ganz oder teilweise überlagert wird. 2.

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Funktionen des Gemeinsamen Referenzrahmens

Systembildung durch den Gemeinsamen Referenzrahmen

Bereits aus dem DCFR wird deutlich, dass der Gemeinsame Referenzrahmen systematisch gefasst sein wird. Geht es also um die Schaffung eines Systems des Europäischen Vertragsrechts? 86 Dafür spricht vor allem die beschriebene Funktion des In84 Nicht näher eingegangen werden kann hingegen auf die besonderen Fragen einer Wählbarkeit des Gemeinsamen Referenzrahmens durch kollisionsrechtliche Rechtswahl. Dazu bereits oben Fn. 80. 85 Siehe Schmidt-Kessel, GPR 2005, 2 ff. mwN sowie zum letzten Stand ders., GPR 2005, 204 f. und GPR 2006, 102. 86 Skeptisch insoweit wiederum Riesenhuber, in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen, S. 204 ff.

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§ 17 Europäisches Vertragsrecht

struments als Ersatz für die fehlende gemeinsame Vertragsrechtsdogmatik, während die „Toolbox“-Funktion einer solchen Systembildung jedenfalls tendenziell zuwiderläuft. Jenseits aller möglichen Herauslösungen einzelner Teile des Referenzrahmens im Zuge verschiedener denkbarer Gesetzgebungsvorhaben, einschließlich der von der Kommission erwogenen optionalen Instrumente,87 kann die Bedeutung des Systems im Unionsvertragsrecht nicht höher sein als in einer auf der zweigliedrigen Vertragsfreiheit beruhenden Rechtsordnung generell. Das zu erwartende System ist also Lehrund Darstellungssystem, dem ganz überwiegend keine normativen Folgen eignen.88 Damit ist es weitgehend auch systematischen Argumenten und vor allem dem argumentum e contrario abhold. 3.

Zur künftigen Auslegung des Instruments

Für die Auslegung eines künftigen Gemeinsamen Referenzrahmes wird es zunächst darauf ankommen, ob dieser selbst Festlegungen zur Methodik seiner Auslegung und Fortentwicklung trifft. I.–1:102 DCFR sieht – in teilweiser Anlehnung an Art. 7 CISG und Art. 1:106 PECL – eine entsprechende Bestimmung vor, welche einerseits die Autonomie des Instruments als Leitlinie vorgibt, Abs. 1, andererseits die Auslegung an die anwendbaren Grundrechte und -freiheiten sowie an anwendbares Verfassungsrecht bindet, Abs. 2. Hinzu kommen Leitlinien der Auslegung, nämlich die Einheitlichkeit der Auslegung, good faith and fair dealing sowie Rechtssicherheit, Abs. 3. Hinweise auf die kanonischen Argumente finden sich hingegen nicht; allenfalls der in Abs. 5 angeordnete Vorrang der lex specialis lässt sich als Beleg für eine systematische Auslegung des Textes begreifen. Dafür spricht auch die Art. 7 Abs. 2 CISG fortentwickelnde Regelung der Lückenfüllung in Abs. 4, die sich jedoch von der einheitskaufrechtlichen Fassung ganz erheblich dadurch unterscheidet, dass dem DCFR vier Grundprinzipien – freedom, security, justice, efficiency – ausdrücklich vorangestellt und ausführlich erläutert sind.89

47a

Gemünzt auf das Vertragsrecht im Besonderen stellt sich auch für den DCFR und – perspektivisch – für den CFR die Frage nach der Anwendbarkeit des klassischen deutschen Kanons der Auslegungsgesichtspunkte und dessen mögliche Bedeutung unter dem neuen Instrument. Entsprechend den vorstehenden allgemeinen Überlegungen zur Methodik des Vertragsrechts im allgemeinen, ist auch insoweit Zurückhaltung angezeigt. Kern dieser Methodik bleiben auch unter einem Gemeinsamen Referenzrahmen die Regeln über die Vertragsinhaltsbestimmung, II–8:101 ff. (dazu bereits oben, Rn. 17–22).

48

Zusätzlich geschwächt werden demgegenüber zunächst historische Argumente betreffend den Normtext. Eine Rückbindung an den Inhaber der Kompetenz zur Rechtssetzung ist nämlich mangels Verbindlichkeit des Gemeinsamen Referenzrahmens

49

87 Vgl. Schmidt-Kessel, GPR 2005, 204 f. 88 Wie hier nun auch Riesenhuber, in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen, S. 205 f. 89 Siehe v. Bar/Clive/Schulte-Nölke u.a. (Hrsg.), Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Full Edition, S. 57–99. Martin Schmidt-Kessel

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3. Teil: Besonderer Teil

nicht geboten. Zwar dürfte das politische Gewicht des Instruments beträchtlich sein, jedoch resultiert dieses Gewicht mehr aus der Sachkompetenz der mit dem Entwurf betrauten Wissenschaftler denn auf einer besonderen politischen Legitimation. Der primäre Charakter des Referenzrahmens als rechtsvergleichende Großstudie wirkt damit zurück auf die Auslegung des künftigen Instruments; verschiedene Schichten des Entstehungsprozesses werden vor allem Widersprüchlichkeiten erklären helfen. Die klassische Funktion als Verwerfungsargument90 kann dem Referenzrahmen selbst damit nicht zukommen; die Entwicklung von Normen aus ihm durch den Gesetzgeber mag aber besser ablesbar sein.91

50

Beim Rückgriff auf Wortlautargumente gelten zusätzliche Besonderheiten. Diese beruhen zunächst auf der hervorgehobenen Bedeutung des Englischen als der Arbeitssprache der wissenschaftlichen Vorarbeiten. Der englischen Fassung wird daher selbstverständlich eine gewisse Oberhof-Funktion zukommen. Ein zweiter Punkt ergibt sich aus der ursprünglichen Idee der Principles of European Contract Law (PECL), lediglich Grundprinzipien zu formulieren: Zwar bieten die Principles damit eine gewisse Sicherheit bei der Bedeutung des jeweiligen Begriffskerns (beispielsweise kann ein Vertrag danach auch nur eine Seite zu Leistungen verpflichten), jedoch erlaubt die ursprüngliche Formulierung als „Prinzipien“ bisweilen keinen sicheren Schluss auf die Bedeutung an den Begriffsrändern.

51

Während die teleologische Auslegung des Referenzrahmens vor allem die generellen Schwächen einer auf das Telos bezogenen Argumentation im Vertragsrecht teilen würde, ergibt sich eine zusätzliche Besonderheit schließlich im Blick auf systemgestützte Argumente: Der Gemeinsame Referenzrahmen ist von vornherein nicht auf eine vollständige Abbildung des Vertragsrechts gerichtet. Jenseits aller generellen Bedenken gegen eine systemgestützte Argumentation im Bereich des Vertragsrechts wird hierdurch vor allem das argumentum e contrario entscheidend geschwächt.92

90 Baldus, in: ders./Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht, S. 1, 4 f. 91 Im Blick auf die technischen Mängel des derzeit diskutierten Vorschlags der Kommission für eine Horizontalrichtlinie Verbraucherschutz, KOM(2008) 614 endg, mag man dies freilich bezweifeln, vgl. Schmidt-Kessel, in: Jud/Wendehorst (Hrsg.), Neuordnung des Verbraucherprivatrechts in Europa? (2009), S. 21 ff., sowie dort die weiteren Beiträge. 92 S. oben, Rn. 32, 41.

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§ 18 Europäisches Arbeitsrecht Robert Rebhahn

Übersicht I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unterschiede je nach Rechtsquelle oder Rechtsgebiet? 2. Verweis auf Vorjudikatur . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schlussanträge der Generalanwälte . . . . . . . . . 4. Einheitliche Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . .

Rn. 1–5

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6–14 6–8 9–10 11–12 13–14

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15–53 16–19 20–23 24–28 29–33 34–41 42 43–44 45–52 45–49 50 51–52 53

IV. Ausgewählte Entscheidungen und Fragen . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff des Arbeitnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verbot der Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grundfreiheiten und Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Individualarbeitsrecht: Arbeitszeit, Betriebsübergang, Nachweis 5. Kollektives Arbeitsrecht und Mitwirkung der Sozialpartner . . 6. Unmittelbare Wirkung von Richtlinien . . . . . . . . . . . . .

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54–71 54–55 56–59 60–63 64–66 67–69 70–71

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72–74

VI. Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75–77

III. Zu den verschiedenen Argumenten . . . . . . . . . 1. Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtstextzusammenhang . . . . . . . . . . . . 3. Kompetenzkonforme Interpretation? . . . . . . 4. Regelungszweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Inneres System und favor laboris als Argumente? 6. Pragmatische Schlüsse . . . . . . . . . . . . . . 7. Entstehungsgeschichte und Rechtsvergleichung 8. Allgemeine Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . a) Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . . . . . c) Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . . . 9. Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . .

V. Richter und Urteilsstile

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Literatur: Cathrine Barnard, EC Employment law (3. Aufl. 2006); Peter Hanau/Hans-Dietrich Steinmeyer/Rolf Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts (2002); Jacob Joussen, Die Auslegung europäischen (Arbeits-)Rechts aus deutsch-italienischer Perspektive (2000); Neil MacCormick, Rhetoric and the Rule of Law (2005); Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. II: Europarecht (2007); Siofra O’Leary, Employment Law at the European Court of Justice (2002); Karl Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht (2009); MoRobert Rebhahn

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3. Teil: Besonderer Teil nika Schlachter, Der Europäische Gerichtshof und die Arbeitsgerichtsbarkeit (1995); Dagmar Kaiser, Entzweiung von europäischem und deutschem Arbeitsrecht, NZA 2000, 1144–1152; Silvana Sciarra (Hrsg.), Labour Law and the Courts (2001). Rechtsprechung: EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne ./. SABENA, Slg. 1976, 455 – Defrenne II; EuGH v. 15.6.1978 – Rs. 149/77 Defrenne ./. SABENA, Slg. 1978, 1365 – Defrenne III; EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, Slg. 1986, 723 – Marshall I; EuGH v. 18.3.1986 – Rs. 24/85 Spijkers ./. Benedik, Slg. 1986, 1119; EuGH v. 15.5.1986 – Rs. 222/84 Johnston, Slg. 1986, 1651; EuGH v. 8.11.1990 – Rs. 177/88 Dekker, Slg. 1990, I-3941; EuGH v. 19.11.1991 – Rs. C-6/90 Francovich und Bonifaci, Slg. 1991, I-5357 – Francovich I; EuGH v. 2.8.1993 – Rs. C-271/91 Marshall, Slg.1993, I-4367 Rn. 21 – Marshall II; EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921; EuGH v. 12.11.1996 – Rs. C-84/94 Vereinigtes Königreich ./. Rat, Slg. 1996, I-5755; EuGH v. 21.9.1999 – Rs. C-67/96 Albany, Slg. 1999, I-5751; EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835; EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885; EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981; EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, Slg. 2006, I-2397; EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 ITF ./. Viking Line, Slg. 2007, I-10779; EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 Laval un Partneri, Slg. 2007, I-11767; EuGH v. 3.4.2008 – Rs. C-346/06 Rüffert, Slg. 2008, I-1989.

I. 1

Einleitung

Der Beitrag befasst sich nur mit der Bestimmung des Inhaltes der für das Arbeitsrecht unmittelbar relevanten Bestimmungen des Gemeinschafts- bzw. nun Unionsrechts durch die Gerichte und dazu primär mit den Aussagen des EuGH,1 nicht mit jener der nationalen Gerichte. Der Beitrag befasst sich also nicht mit der Rechtssetzung der Union durch den Gesetzgeber, nur am Rande mit der Frage, ob die vorhandenen Normen eine Systembildung erlauben, und auch nicht mit Fragen der Anpassung des nationalen Rechts an das vordringende Unionsrecht.2 Der EuGH hat entscheidende Schritte bei der Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts anhand arbeitsrechtlicher Fälle getan. Zu nennen sind insbesondere die unmittelbare Anwendung von Primärrecht zwischen Privaten, die unmittelbare Anwendung von Richtlinien gegenüber dem Staat, die Haftung der Mitgliedstaaten für fehlerhafte Aus-

1 Vgl. dazu – außer der oben genannten Literatur – insbes. Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 445 ff.; Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 61 ff.; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 ff.; Hanau/Steinmeyer/Wank-Wank, § 9 Rn. 175 ff. 2 Zur Frage der Systembildung vgl. kurz unten bei Rn. 29 ff. Zum Umgang der nationalen Gerichte mit dem Arbeitsrecht der EG und den Anpassungsschwierigkeiten vgl. Sciarra (Hrsg.), Labour Law and the Courts; Schlachter, Der Europäische Gerichtshof und die Arbeitsgerichtsbarkeit; Kaiser, NZA 2000, 1144 ff. Zur Zulässigkeit richtlinienkonformer Interpretation unter Ausklammerung der Entstehungsgeschichte und des entgegenstehenden ursprünglichen Gesetzeszwecks s. Wank, FS Birk (2008), S. 931 ff.

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Robert Rebhahn

§ 18 Europäisches Arbeitsrecht

führung von Richtlinien und die Verschärfung der richtlinienkonformen Anwendung nationalen Rechts.3 Auf diese allgemeinen Fragen ist hier nicht einzugehen. Im deutschen und überwiegend im österreichischen Recht geht es der Methodenlehre primär um die Ableitung und Begründung der rechtlich „richtigen“ Aussage zum Rechtsinhalt aus dem Gesetz. Man unterscheidet zwischen Auslegung im engeren Sinne und Rechtsfortbildung. Jedenfalls bei der Auslegung im engeren Sinne handelt es sich nach verbreiteter Auffassung um eine Frage der Erkenntnis, die als „wahr“ oder „falsch“ qualifiziert werden kann; und in Bezug auf die Rechtsfortbildung versucht man Regeln legitimer Fortbildung anzugeben. Diese Sichtweise findet sich aber keineswegs in allen Mitgliedstaaten. In mehreren wird nicht scharf zwischen Auslegung und Fortbildung unterschieden, und die Funktion der Gerichte wird nicht primär nur in der Anwendung des Gesetzes gesehen.4 Aussagen zur Methodenlehre des Unionsrechts müssen nicht nur auf diese verschiedenen Traditionen Bedacht nehmen. Aussagen dazu setz(t)en vielmehr auch Klarheit über die Rechtsquellen des Gemeinschafts- bzw. nun Unionsrechts voraus, insb. über das Verhältnis von geschriebenem (positivem) Recht und Urteilen des EuGH. Diese Urteile gelten nach wohl herrschender Meinung nicht als eigene Rechtsquelle.5 De facto nähert sich der EuGH diesem Zustand aber immer mehr, indem in vielen Bereichen Vorjudikatur (zumindest) ebenso wichtig ist wie ein Normtext.6 Allerdings orientiert er sich dabei nicht an einer ratio decidendi der Vorjudikatur, und belastet sich daher meist nicht mit deren genauer Analyse nach Art des distinguishing (vgl. unten Rn. 9 f.). Auf der anderen Seite orientiert der EuGH sich zuweilen kaum am Normtext und/oder „gestaltet“ vage Texte ganz nach seinem Willen.7

2

Vor diesem Hintergrund hat/hätte eine Methodenlehre zum Unionsrecht primär die Aufgabe jene Regeln anzugeben, welche die Aussage des Gerichts zur Norm leiten und legitimieren können. Sie soll jene Bedingungen angeben, bei deren Einhaltung auch jene Personen, die vom Gehalt des Urteils rechtspolitisch noch nicht überzeugt waren, dieses Ergebnis als legitime Aussage zum geltenden Recht ansehen und damit

3

3 Primärrecht: EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne ./. SABENA, Slg. 1976, 455 Rn. 8 ff. – Defrenne II; Unmittelbare Anwendung: EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, Slg. 1986, 723 Rn. 48 f. – Marshall I; Staatshaftung: EuGH v. 19.11.1991 – Rs. C-6/90 Francovich und Bonifaci, Slg. 1991, I-5357 – Francovich I; Interpretation: EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835. 4 Vgl. dazu Assmann/Brüggemeier/Sethe (Hrsg.), Unterschiedliche Rechtskulturen – Konvergenz des Rechtsdenkens (2001); Müller/Christensen, Juristische Methodik II, insbes. S. 416 ff.; MacCormick/Summers, Interpreting Statutes (1991), S. 461 f.; Hager, Rechtsmethoden in Europa. 5 Vgl. aber Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 236 ff. 6 Zur Bedeutung des EuGH für das unionsrechtliche Arbeitsrecht vgl. z.B. Barnard, EC Employment Law, S. 33 ff.; Bercusson, European Labour Law (2. Aufl. 2009), S. 655 ff. 7 Zur Kritik an der Auslegungspraxis des EuGH aus der Sicht verschiedener Rechtsgebiete vgl. z.B. die Beiträge in Roth/Hilpold (Hrsg.), Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten (2008); dort auch Egger, S. 55–102. Robert Rebhahn

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3. Teil: Besonderer Teil

akzeptieren können.8 Dafür ist entscheidend, ob das Gericht – insbesondere der EuGH – seine Auffassung nachvollziehbar herleitet und begründet, und zwar mit dem erforderlichen, aber auch ausreichenden Aufwand an Argumenten und damit Überzeugungsarbeit leistet. Bleibt der Begründungsaufwand dahinter zurück, dann erscheint die Entscheidung als Dezision, die man hinnehmen, oder als Offenbarung, die man glauben kann – oder auch nicht. Die Anforderungen an die Begründung steigen m.E. – zumindest in einem demokratischen Umfeld und bei einem Gericht, das als Organ einer demokratischen Gesellschaft verstanden werden will – mit der Schwierigkeit des Gesetzgebers, korrigierend einzugreifen. Sie sind also z.B. bei Verfassungsrecht höher als bei einfachem Recht. Da Normen des primären Unionsrechts in aller Regel, jene des sekundären Unionsrechts (auch nach 2014) jedenfalls faktisch, meist schwieriger abzuändern sind als nationales Verfassungsrecht, wären die Anforderungen noch höher.

4

Leider löst der EuGH dieses Postulat selten ein. Insbesondere erreicht die Klarheit der Rechtslage auch nach einem oder mehreren Urteilen selbst in wichtigen Fragen selten jenen Stand, bei dem der EuGH selbst einen „acte clair“ annimmt; auch die Auslegungsbemühungen des EuGH selbst entsprechen nur selten den Anforderungen, die er den Gerichten der Mitgliedstaaten mit auf den Weg gibt.9 Allerdings hat der EuGH bisher auch wenig Unterstützung bei der Erarbeitung einer gemeinschaftsrechtlichen Methodenlehre erfahren. Wichtige und wertvolle Beiträge zu konkreten Fragen beurteilen und verarbeiten die Judikatur des EuGH zwar wissenschaftlich, aber nicht anhand immanenter Maßstäbe des positiven Rechts. Andere beurteilen primär nach rechtspolitischen Maßstäben. Wieder andere Beiträge begnügen sich mit der Wiedergabe des vom EuGH Gesagten und verzichten auf jede Verarbeitung oder Beurteilung (sie verstehen sich gleichwohl häufig als Wissenschaft statt als – durchaus nützliche – Rechtskunde).

5

Man kann daher fragen, ob eine Orientierung an den (bei uns) traditionellen Auslegungsregeln überhaupt geeignet ist, die aktuelle Entscheidungspraxis des EuGH zu analysieren (vgl. auch unten Rn. 77). Manche durchaus juristisch gedachten Stellungnahmen kommen bei ihrer kritischen Analyse ohne erkennbare Bezugnahme auf diese Auslegungsmittel aus.10 M.E. ist oder wäre die erkennbare Orientierung des EuGH am vorhin genannten Postulat und insoweit auch an traditionellen Auslegungsmitteln sinnvoll, um seinen Entscheidungen die erwünschte Legitimität zu geben. Der vorliegende Beitrag kann näher nur die Rahmenbedingungen für die Begründungsarbeit speziell im Arbeitsrecht skizzieren. Dafür wurden die wichtigsten arbeitsrechtlichen Entscheidungen der letzten Jahre – insgesamt über 100 – auf

8 Dieser Aspekt ist gerade für transnationale Spruchkörper wie dem EuGH von großer Bedeutung. Entscheidungen solcher Gerichte werden bezüglich compliance nicht selten einer politischen Kosten-Nutzen-Analyse unterworfen; vgl. Haltern, Europarecht (2007), Rn. 298 ff. 9 Vgl. EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 16 ff. 10 So z.B. O’Leary, Employment Law.

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§ 18 Europäisches Arbeitsrecht

methodische Aspekte durchgesehen.11 Dies hat die Basis der hier vorgetragenen generalisierenden Aussagen verstärkt, ohne dass – schon aus Platzgründen – für jede einzelne alle einschlägigen Urteile benannt werden können. Allerdings ist diese Art der Darstellung nicht wirklich geeignet zu prüfen, ob Urteile den genannten Postulaten genügen, weil meist nur referiert werden kann, was der EuGH gesagt hat, und nicht was er nach Auffassung des Beobachters hätte sagen sollen.12

II.

Allgemeines

1.

Unterschiede je nach Rechtsquelle oder Rechtsgebiet?

Verbreitet wird zwischen der Anwendung des Primär- und des Sekundärrechts unterschieden (so auch in diesem Buch). Fraglich ist, ob allfällige Unterschiede nicht eher zwischen Primärrecht und Verordnungen auf der einen Seite und Richtlinien auf der anderen Seite zu suchen sind, weil nur die erste Gruppe von Normen auf unmittelbare Anwendung angelegt ist. Bei Richtlinien weist schon die Rechtssatzform auf eine zusätzliche Ausführung durch die Mitgliedstaaten hin, und verweist damit auch auf die nationale Methodenlehre. Die Kompetenz des EuGH reicht dann grundsätzlich nur soweit, als die Richtlinie wirklich eine bindende Vorgabe trifft. Unmittelbar anwendbares Unionsrecht soll hingegen einen Fall entscheiden, so dass auch die Kompetenz des EuGH entsprechend weiter reicht, außer die Norm verweist ausdrücklich auf Entscheidungen der Mitgliedstaaten. Allerdings kommt diesen Unterschieden wohl auch nicht allzuviel Bedeutung zu, weil Primärrecht oft der Ausführung durch nationale Gesetze bedarf und Richtlinien häufig sehr detailliert sind. Überdies übernimmt der EuGH auch bei Urteilen zur Auslegung von unmittelbar anwendbarem Unionsrecht nur selten die Verantwortung für die Anwendung seiner Vorgaben auf den konkreten Fall.

6

EuGH und Lehre unterscheiden bei den Methoden der Auslegung grundsätzlich nicht zwischen den verschiedenen Bereichen des (sekundären) Unionsrechts, also etwa nach Wettbewerbs-, Verbraucherschutz- und Arbeitsrecht. Nur bestimmte Argumente oder Argumentationsmuster – Förderung des Binnenmarkts, effektiver Wettbewerb, Verbraucherleitbild – sind für einzelne Bereiche charakteristisch.13 Für den größten Teil der arbeitsrechtlichen Vorschriften des Unionsrechts lassen sich kaum vergleichbare Muster festmachen.14 Dies entspricht grds. auch den nationalen Rech-

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11 Die Auswertung wurde für die Vorauflage v.a. von Herrn Mag. Reiner vorgenommen. Für Unterstützung bei der Neubearbeitung durch Einarbeiten neuer Urteile oder die Vorbereitung dazu danke ich Herrn Univ. Ass. Dr. Pacic. 12 Es wäre wohl ein lohnendes Projekt, für etwa 25 wichtige Urteile des EuGH, deren Begründung methodisch zweifelhaft erscheint, in Zusammenarbeit aus verschiedenen Mitgliedstaaten alternative Begründungen zu erarbeiten, und so die Möglichkeit einer „besseren“ Methode zu erproben. 13 Vgl. zum Gedanken des Leitbildes Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 44. 14 Anders könnte es beim Recht der Antidiskriminierung sein, wo der EuGH den menschenrechtlichen Charakter stark betont. Robert Rebhahn

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3. Teil: Besonderer Teil

ten. Auch dort haben sich besondere Auslegungsgrundsätze für das Arbeitsrecht nicht entwickelt oder doch nicht durchgesetzt.15 Insbesondere gibt es, soweit zu sehen, in keinem Mitgliedstaat eine Interpretationsregel, dass arbeitsrechtliche Gesetze im Zweifel zugunsten der Arbeitnehmer ausgelegt werden, auch wenn die Gerichtspraxis mancher Länder in diese Richtung gehen mag.

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In der Literatur wird zuweilen vertreten, dass sich die Auslegungsmethode (auch) des Unionsrechts gezielt am auszulegenden Rechtsgebiet zu orientieren habe. So folgert Joussen aus der Erweiterung der Kompetenzen durch / in Art. 153 AEUV/137 EG, dass wirtschaftliche und soziale Angleichungsziele nun gleichwertig seien, weshalb bei der teleologischen Auslegung die sozialpolitischen Ziele („Sozialunion“) nun zumindest gleichwertig seien (vgl. unten Rn. 34 ff.).16 2.

Verweis auf Vorjudikatur

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Auch für Urteile zum Arbeitsrecht gilt, dass sich Entscheidungen des EuGH primär an der Vorjudikatur orientieren.17 Andere Auslegungsaspekte werden regelmäßig nur dort ins Treffen geführt, wo keine Vorjudikatur existiert.18 Am wichtigsten ist daher häufig die zeitlich erste Entscheidung zu einer Frage. Allerdings prüft der EuGH, wenn er sich auf Vorjudikatur beruft, selten ob die Vorentscheidung wirklich bereits die nun relevante Rechtsfrage „entschieden“ hat oder nur eine Frage im Umfeld der nun relevanten (nächste Rn.). Zuweilen geht der EuGH von einer Vorentscheidung auch wieder ab oder bildet sie fort, auch wenn dies bislang kaum offen gelegt wird. Besonders zu nennen sind zwei Fälle, in denen die Politik durch die Judikatur sehr irritiert war: das Urteil Schmidt zum Betriebsübergang und das Urteil Kalanke zu Quotenregelungen. In beiden Fällen ruderte der EuGH alsbald zurück.19

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Entscheidungen des EuGH sind nach h.M. nicht selbst Rechtsquelle und (daher) für den EuGH nicht bindend. Das Unionsrecht enthält daher keine doctrine of prece-

15 Vgl. dazu aus deutscher Sicht z.B. Schlachter, Auslegungsmethoden im Arbeitsrecht (1987); für Österreich vgl. Rebhahn, in: Zeller Kommentar zum Arbeitsrecht (2006), § 1151 ABGB Rn. 28. 16 Joussen, Auslegung, S. 172 ff., S. 220 f. 17 So allgemein z.B. Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 230 ff.; ausführlich Dederichs, Die Methodik des EuGHz.B. EuGH v. 30.6.1998 – Rs. C-394/96 Mary Brown ./. Rentokil, Slg. 1998, I-4185 Rn. 21 ff. (Berufung auf das Urteil Hertz); Stotz, in diesem Band, § 22 Rn. 40 ff. 18 Z.B. EuGH v. 17.9.2002 – Rs. C-320/00 Lawrence ./. Regent Office Care u.a., Slg. 2002, I-7325 Rn. 17. 19 EuGH v. 14.4.1994 – Rs.C-392/92 Christel Schmidt ./. Spar- und Leihkasse, Slg. 1994, I-1311; korrigiert von EuGH v. 11.3.1997 – Rs. C-13/95 Süzen ./. Zehnacker Gebäudereinigung Krankenhausservice, Slg. 1997, I-1259; EuGH v. 17.10.1995 – Rs. C-450/93 Kalanke ./. Freie Hansestadt Bremen, Slg. 1995, I-3051; korrigiert durch EuGH v. 11.11.1997 – Rs. C-409/95 Marschall ./. Land Nordrhein-Westfalen, Slg. 1997, I-6363; zur Entwicklung nach dem Urteil Schmidt vgl. Lo Faro, in: Sciarra (Hrsg.), Labour Law and the Courts, S. 210 ff.

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dent.20 Der Verweis auf eigene Vorjudikatur stellt dann kein eigenes Argument zur Auslegung der Norm dar, das den anderen Begründungsargumenten an die Seite gestellt werden kann. Vielmehr handelt es sich dann um eine Möglichkeit ökonomischer Fallbearbeitung, vergleichbar mit dem Verweis auf eine herrschende Meinung, indem auf bereits geleistete Begründungsarbeit verwiesen wird. Freilich leidet darunter nicht nur die Lesbarkeit des Urteils. Der Verweis auf eine Vorentscheidung leistet vor allem nur dann einen überzeugenden Beitrag zur Begründung, wenn die Vorentscheidung tatsächlich jene Rechtsfrage bereits entschieden hat, die nun zur Entscheidung ansteht, und nicht nur eine im Umfeld gelegene Frage. Um dies zu erreichen, wäre – auch wenn Vorentscheidungen nicht bindend, sondern nur persuasive sind – eine theory of precedent erforderlich, die zu ermitteln erlaubt, was eine Entscheidung wirklich entschieden hat (Herausarbeiten des tragenden Grundes – ratio decidendi). Eine solche Interpretationslehre für Urteile des EuGH fehlt bislang. Der EuGH trägt wenig zu einer solchen Lehre bei, weil er sich oft, vor allem bei Auslegung allgemeiner Normen des Primärrechts, mit der Berufung auf Vorjudikatur zu ähnlichen Fragen begnügt.21 Dies begünstigt naheliegenderweise die Bereitschaft von manchen Autoren, in die Urteile noch mehr hineinzulesen als der EuGH vielleicht daraus herauslesen würde. Eine Rechtsordnung, die wie das Unionsrecht de facto wesentlich aus Fallrecht besteht, ist ohne eine theory of precedent aber auf Dauer nicht überzeugend,22 insbesondere wenn Entscheidungen des EuGH – bloß faktisch oder auch rechtlich – als Rechtsquelle gesehen werden. Abschließend kann zum Gewicht der Vorjudikatur gesagt werden, dass europäische Methode im Arbeitsrecht häufig weniger die Arbeit am Normtext, als die Berufung auf – mehr oder weniger einschlägige – Vorjudikatur bedeutet. 3.

Schlussanträge der Generalanwälte

Schwierig zu beantworten ist, welche Bedeutung den Anträgen der Generalanwälte aus methodischer Sicht zukommt. Sie sind nicht nur theoretisch, sondern (anders als die Vorjudikatur) auch praktisch sicher keine direkten Argumente zur Auslegung der Norm. Sehr wohl aber sind sie für die Auslegung des Urteils relevant und damit indirekt auch für die der Norm. Meist sind die Schlussanträge ausführlicher begründet als das Urteil. Man sagt häufig, dass man die Urteile des EuGH vor dem Hintergrund der Schlussanträge lesen müsse. Was aber heißt dies? Eine Übernahme der Begründung im Schlussantrag – und damit der darin angewendeten Methode – kann

20 Vgl. zur Bedeutung von precedents für die Rechtserkenntnis MacCormick, Rhetoric and the Rule of Law, S. 143 ff.; dort auch zur Unterscheidung zwischen doctrine und theory of precedent. 21 Ein Beispiel ist unten in Rn. 62 dargelegt. Vgl. auch Wyatt/Dashwood, European Union Law (5. Aufl. 2006), Rn. 12-016 f., die aber feststellen, dass es Anzeichen für eine zunehmend konzisere Auseinandersetzung mit Vorjudikatur gebe. 22 Rechtsordnungen des common law haben naheliegender Weise mehr Erfahrung mit dieser Auslegungstechnik. Zu einem Vorschlag zur Identifikation der ratio decidendi – allerdings für Urteile, die den Fall endgültig entscheiden – vgl. MacCormick, Rhetoric and the Rule of Law, S. 153. Robert Rebhahn

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3. Teil: Besonderer Teil

man nur dann mit Sicherheit bejahen, falls das Gericht dem Schlussantrag ausdrücklich zustimmt. Aber auch eine Ablehnung kann methodisch hilfreich sein. Im Arbeitsrecht wurde, betrachtet man die Entscheidungen der letzten Jahre, nur in einem geringen Teil der Entscheidungen dem Schlussantrag ausdrücklich gefolgt.23 Auch hier wäre erst zu prüfen, ob die Entscheidung den Schlussantrag zur wesentlichen Frage heranzieht oder zu einem Randproblem.

12

Auf der anderen Seite folgt das Gericht dem Schlussantrag oft nicht, und zwar ohne dies offen zu legen oder gar sich mit den Argumenten des Generalanwaltes auseinanderzusetzen. Ein Beispiel dafür ist das Urteil Hlozek aus 2004 zu Sozialplanzahlungen.24 Das Diskriminierungsverbot des (nun) Art. 157 Abs. 1 AEUV gilt auch nach der Judikatur nur, wenn sich die Arbeitnehmer in vergleichbarer Lage befinden. Differenziert eine Regelung direkt nach einem missbilligten Kriterium, etwa zwischen Frauen und Männern, so lässt sich mit der Behauptung, es liege keine vergleichbare Lage vor, die Unzulässigkeit vermeiden. Denn eine unmittelbare Diskriminierung kann in der Regel nicht gerechtfertigt werden. Generalanwältin Kokott hat sich redlich bemüht darzutun, dass die Lagen vergleichbar sind, der EuGH hat mit drei Absätzen anders befunden, ohne sich mit den Ausführungen der Generalanwältin auseinanderzusetzen. 4.

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Einheitliche Auslegung

Auch im Arbeitsrecht ist primär zu fragen, ob ein Begriff des (sekundären) Unionsrechts autonom auszulegen ist. Dies ist – auch hier – im Zweifel zu bejahen.25 Beispiele aus der Judikatur zum Arbeitsrecht sind die Begriffe „Betrieb“ in der Betriebsübergangsrichtlinie oder „Entlassung“ in der Massenentlassungsrichtlinie.26 Gestützt werden kann die einheitliche Auslegung auch durch den Zweck der Regelung oder durch das Fehlen des Begriffes in einer Liste, welche die von der Regelung unberührt bleibenden Begriffe nennt. Beide Argumente wurden im Urteil Mau zum Begriff

23 Zu nennen sind etwa folgende Entscheidungen, in denen die Schlussanträge zustimmend erwähnt werden: EuGH v. 11.5.1999 – Rs. C-309/97 Angestelltenbetriebsrat der Wiener Gebietskrankenkasse, Slg. 1999, I-2865 Rn. 19; EuGH v. 9.9.1999 – Rs. C-281/97 Krüger, Slg. 1999, I-5127 Rn. 11; EuGH v. 25.5.2000 – Rs. C-50/99 Podesta, Slg. 2000, I-4039 Rn. 34; EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Rn. 50; EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-438/99 Jiménez Melgar, Slg. 2001, I-6915 Rn. 46; EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-133/00 Bowden u.a., Slg. 2001, I-7031 Rn. 40; EuGH v. 19.3.2002 – Rs. C-476/99 Lommers, Slg. 2002, I-2891 Rn. 29; EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 Köbler, Slg. 2003, I-10239 Rn. 48; EuGH v. 23.10.2003 – Rs. C-4/02 Schönheit, Slg. 2003, I-12575 Rn. 103; EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-380/01 Schneider, Slg. 2004, I-1389 Rn. 27; EuGH v. 3.4.2008 – Rs. C-346/06 Rüffert, Slg. 2008, I-1989 Rn. 37; EuGH v. 19.6.2008 – Rs. C-319/06 Kommission ./. Luxemburg, Slg. 2008, I-4323 Rn. 32, 79; EuGH v. 18.12.2008 – Rs. C-306/07 Andersen, Slg. 2008, I-10279 Rn. 47, 52. 24 EuGH v. 9.12.2004 – Rs. C-19/02 Hlozek, Slg. 2004, I-11491 insbes. Rn. 44 ff. 25 Vgl. Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 7. 26 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 34.

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„Arbeitsverhältnis“ in der Insolvenz-Richtlinie verwendet.27 Im Vordergrund stand dabei der „soziale Zweck“ der Richtlinie. In manchen Fällen enthalten die generellen Normen der Union aber einen Verweis auf nationale Begriffe. So ist es etwa häufig, wenn eine Richtlinie von „Arbeitnehmer“ spricht.28 Dafür wird zuweilen der Zweck der Regelung ins Treffen geführt.29 Wenn das Unionsrecht auf den jeweiligen nationalen Begriff z.B. der Arbeitnehmer verweist, dann sind die Mitgliedstaaten an den üblichen nationalen Begriffsinhalt auch bei der Ausführung von Richtlinien gebunden.30 Immer größer wird gerade im Arbeitsrecht die Zahl von Bestimmungen, welche auf die „Gesetze und Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten“ verweisen. Zu nennen sind insbesondere die Arbeitszeitrichtlinie31 (Art. 7, 8, 10 und 18), die Richtlinie über die Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE32 (Art. 2, 3, 12 und 15), die Gleichbehandlungsrichtlinie33 (Art. 7, 8b und 8c) und die Richtlinie zu Unterrichtung und Anhörung34 (Art. 2 und 4). Diese Verweise finden sich zum Teil in Begriffsbestimmungen (z.B. „Betrieb“), zum Teil auch bei materiellen Regeln. Aus ihrer Existenz darf nicht geschlossen werden, dass die anderen Richtlinien die dort geregelten Fragen abschließend, also ohne Ausführung durch die Mitgliedstaaten regeln. Die Formel vom Verweis auf „Gesetze und Gepflogenheiten“ stellt daher wohl nur eine zusätzliche Art des Verweises auf die nationalen Lagen dar, die auch nichtnormative Übungen einbezieht und dem Mitgliedstaat wohl mehr Spielraum lässt als andere Verweisungen.

27 EuGH v. 15.5.2003 – Rs. C-160/01 Karen Mau ./. Bundesanstalt für Arbeit, Slg. 2003, I-4791 Rn. 39–44. 28 Dazu unten Rn. 54; sowie ausführlich Pottschmidt, Arbeitnehmerähnliche Personen in Europa (2006), S. 200 ff. 29 Z.B. EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 Danmols Inventar, Slg. 1985, 2639 Rn. 27. 30 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, Slg. 2003, I-8389 Rn. 59. Vgl. auch GA Cosmas, SchlA v. 14.5.1998 – Rs. C-125/97 A.G.R. Regeling ./. Bestuur van de Bedrijfsvereniging, Slg. 1998, I-4493 Tz. 49. 31 Richtlinie 93/104/EG des Rates v. 23.11.1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, ABl. 1993 L 307/18; geändert durch Richtlinie 2000/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 22.06.2000 zur Änderung der Richtlinie 93/104/EG des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung hinsichtlich der Sektoren und Tätigkeitsbereiche, die von jener Richtlinie ausgeschlossen sind, ABl. 2000 L 195/41. 32 Richtlinie 2001/68/EG des Rates v. 8.10.2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, ABl. 2001 L 294/22. 33 Richtlinie 76/207/EWG des Rates v. 9.2.1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl. 1976 L 39/40; geändert durch Richtlinie 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.9.2002 zur Änderung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl. 2002 L 269/15. 34 Richtlinie 2002/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.3.2002 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft, ABl. 2002 L 80/29.

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3. Teil: Besonderer Teil

III. Zu den verschiedenen Argumenten 15

Bei den Argumenten zur Sache unterscheidet der EuGH – anders als etwa die deutsche Methodenlehre – nicht scharf anhand der Wortlautgrenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung.35 Und selbst in der deutschsprachigen Literatur wird die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung nicht immer einheitlich gesehen, indem etwa Analogie und Reduktion noch zur Auslegung gezogen werden.36 1.

Wortlaut

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Auch in der Judikatur des EuGH zum Arbeitsrecht spielt der Wortlaut der anzuwendenden Norm eine herausragende Rolle. Er ist in allen Entscheidungen der Ausgangspunkt, soweit keine Vorjudikatur existiert.37 Allerdings schöpft der EuGH selten die Möglichkeiten der Wortlautinterpretation wirklich aus. So ist es z.B. auch im Urteil Simap zur Frage, ob Arbeitsbereitschaft zur Arbeitszeit zählt (dazu unten Rn. 64). Meistens begnügt der EuGH sich mit der Bezugnahme auf den Wortlaut, ohne dass dazu vertiefte Überlegungen angestellt werden.

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Die Rolle des Wortlautes kann allerdings in Frage gestellt werden, weil jede Sprachfassung des Unionsrechts an sich gleich verbindlich ist und es daher keinen wirklich verbindlichen Wortlaut gibt. Jüngst hat der EuGH in einer arbeitsrechtlichen Entscheidung wieder zur Frage der Auslegung Stellung genommen und dabei gesagt, dass die Vorschriften des Unionsrecht „im Lichte ihrer Fassungen in allen Sprachen auszulegen“ sind.38 Tatsächlich argumentiert der EuGH jedoch kaum mit dem Wortlaut in verschiedenen Sprachfassungen. So ist es etwa im Urteil Henke betreffend den Begriff „Betrieb“ der Betriebsübergangsrichtlinie.39 Das Urteil behauptet eher, dass die verschiedenen Sprachfassungen das Ergebnis stützen, als dass es dies nachweist. Ergeben sich aus den verschiedenen Sprachfassungen unterschiedliche Bedeutungen, so wäre gem. Art. 33 WVK jene Auslegung zu wählen, die unter Berücksichtigung von Ziel und Zweck die Wortlaute am besten miteinander in Einklang bringt.40 Dem scheint es zu entsprechen, wenn das Gericht bei unterschiedlichen Ergebnissen der Wortlautinterpretation sogleich andere Auslegungsmittel heranzieht.41 Allerdings ver-

35 S.a. Neuner, in diesem Band, § 13 Rn. 2. 36 Vgl. Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 33 ff., 277, der die Grenze danach zieht, ob sich eine Begründung noch auf die Ableitung aus einer Norm mit Hilfe anerkannter Kommunikationsregeln stützen kann. Für eine Unterscheidung anhand der Wortlautgrenze Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 47; Bydlinski, Grundzüge der Juristischen Methodenlehre (2005), S. 55. 37 Vgl. z.B. EuGH v. 23.3.1982 – Rs. 55/81 Levin, Slg. 1982, 1035 Rn. 9; EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler, Slg. 2006, I-6057 Rn. 60. 38 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 33. 39 Richtlinie 2001/23/EG des Rates v. 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen, ABl. 2001 L 82/16. 40 Vgl. z.B. Streinz, Europarecht, Rn. 279. 41 So z.B. EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-448/93 Rockfon, Slg. 1995, I-4291 Rn. 28.

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mindert dies die Bedeutung des Wortlautes und vergrößert damit den Gestaltungsspielraum des EuGH. Im Hinblick auf die Arbeitssprache des EuGH könnte man erwägen, der französischen Fassung die größte faktische Autorität zuzuschreiben. Im deutschen Sprachraum sollte man daher neben der deutschen zumindest stets die französische Fassung der Norm und des Urteils berücksichtigen.42 Die Überlegungen des EuGH zum Wortlaut bleiben auch in Fällen, in denen dies eines oder gar das entscheidende Argument ist, m.E. häufig hinter dem Niveau zurück, das in manchen Mitgliedstaaten bei der Wortlautinterpretation erreicht wird. Kaum jemals versucht das Gericht, die Nuancen des Wortlautes aufzudecken und damit zu argumentieren. Der Grund dafür liegt – wohl auch dann, wenn keine unterschiedlichen Bedeutungen verschiedener Sprachfassungen behauptet werden – darin, dass alle Sprachfassungen gleich verbindlich sind. Es gibt dann ja keinen wirklich verbindlichen Normtext mehr, den der Interpret auf seine Bedeutung hin „abhören“ könnte.43 Im Unionsrecht scheint der Wortlaut der Norm wirklich nur mehr der „Ausgangspunkt“ für die Begründung zu sein.44 Allerdings müsste dieses Manko durch den verstärkten Einsatz anderer Argumente ausgeglichen werden, was aber oft nicht der Fall ist.

18

Ein Beispiel für den – potentiellen – Blick auf verschiedene Sprachfassungen bietet das Urteil Junk.45 Bei der Massenentlassungsrichtlinie46 stellt sich die Frage, ob unter „Entlassung“ in der Richtlinie bereits der Ausspruch der Kündigung oder erst das Ende des Arbeitsverhältnisses nach Ablauf der Kündigungsfrist zu verstehen ist. In Deutschland vertrat man das Zweite. Der EuGH sagt, dass die anderen Sprachfassungen entweder die Kündigungserklärung meinen oder aber beide Varianten abdecken. Das Urteil sagt dies aber nur kurz, ohne es näher darzutun; der Schlussantrag geht nur auf die englische Fassung ein. Allerdings hat die österreichische Regierung die Meinung der deutschen Regierung zur Bedeutung des Wortlautes nicht geteilt – wohl weil sie „Entlassung“ nicht aus der Sicht des deutschen Rechts, sondern eher aus der Sicht der deutschen Sprache verstanden hat.

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42 Allerdings finden sich noch immer Fußnoten, welche als Beleg für eine „herrschende Meinung“ zum Gemeinschaftsrecht nur deutschsprachige Literatur zitieren. 43 Man kann geradezu vom „Verlust des Normtextes“ sprechen. 44 Gleichzeitig werden die (oft dürren) Sätze des EuGH von manchen Autoren ehrfürchtig und andächtig nach allen Seiten hin gedreht und gewendet, um daraus abzuleiten, was der Gerichtshof meine und wie er wohl das nächste Mal entscheiden werde. Das erste Ziel erwartet wohl oft zuviel, das zweite ist aus mehreren Gründen wenig erfolgversprechend. 45 EuGH v. 15.10.1996 – Rs. C-298/94 Henke ./. Gemeinde Schierke, Slg. 1996, I-4989 Rn. 15; EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 34. Zur Entscheidung Junk vgl. Riesenhuber/Domröse, EWS 2005, 97 ff.; so wie hier Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, § 11 Rn. 21 ff. 46 Richtlinie 98/59/EG des Rates v. 20.7.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen, ABl. 1998 L 225/16.

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2.

Rechtstextzusammenhang

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Neben dem Wortlaut spielt die Systematik eine entscheidende Rolle. Mit Potacs sollte man besser vom Rechtstextzusammenhang als (semantisches) Interpretationsmittel sprechen.47 Ein Aspekt davon ist die These von der Einheit der Rechtssprache.48 Der EuGH wendet sie etwa beim Begriff des Arbeitnehmers in Art. 157 AEUV an (dazu unten, Rn. 54 f.). Ein anderer Aspekt ist die These/Regel, dass Ausnahmen eng auszulegen sind.49 Diese wurde beim Verbot der Diskriminierung bei den sonstigen Arbeitsbedingungen nach der Gleichbehandlungsrichtlinie wiederholt verwendet und findet sich heute noch in anderen Bereichen.50 Zum Diskriminierungsverbot ist an die Stelle dieser Regel hingegen eher der Satz getreten, dass bei Ausnahmen von einem Individualrecht (wie jenem auf Gleichbehandlung) „der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist, wonach Ausnahmen nicht über das hinausgehen dürfen, was zur Erreichung des verfolgten Zieles angemessen und erforderlich ist, und der Grundsatz der Gleichbehandlung so weit wie möglich mit den Erfordernissen des auf diese Weise angestrebten Zieles in Einklang gebracht werden muss.“51 Der Satz von der engen Auslegung von Ausnahmen wird zur Gleichbehandlung seit dem Urteil Kalanke wohl nicht mehr verwendet.52

21

Systematische Erwägungen zur konkreten Norm, die das Zusammenspiel verschiedener Bestimmungen heranziehen, finden sich (leider) nur selten.53 Ein deutliches Beispiel für systematische Interpretation zum Arbeitsrecht findet sich aber im Urteil Albany, das Tarifverträge weithin vom primärrechtlichen Kartellverbot ausnimmt (vgl. unten Rn. 48). Oft kommt die systematische Interpretation in Verbindung mit der teleologischen Interpretation vor; das Ergebnis ist dann eine Zusammenschau mehrerer Bestimmungen, wobei aber nicht näher dargelegt wird, wie die einzelnen Normen sich zusammenfügen. Methodisch weit klarer ist etwa das Urteil Andersen. Es ging um die Frage, ob der in Art. 8 Abs. 2 UAbs. 2 der Nachweisrichtlinie54 enthal-

47 48 49 50

51 52

53 54

Vgl. Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 71 ff. Eher zweifelnd dazu Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 21. Vgl. dazu Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 61 ff. EuGH v. 15.5.1986 – Rs. 222/84 Johnston, Slg. 1986, 1651 Rn. 36, 44; EuGH v. 17.10.1995 – Rs. C-450/93 Kalanke ./. Freie Hansestadt Bremen, Slg. 1995, I-3051 Rn. 21. Zur Arbeitszeit siehe EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Rn. 35; EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, Slg. 2003, I-8389 Rn. 89; und EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 52, 65. Wohl erstmals in EuGH v. 15.5.1986 – Rs. 222/84 Johnston, Slg. 1986, 1651 Rn. 38; z.B. EuGH v. 19.3.2002 – Rs. C-476/99 Lommers, Slg. 2002, I-2891 Rn. 39. Deutlich zeigen dies die späteren Entscheidungen zu Vorrangregeln; EuGH v. 11.11.1997 – Rs. C-409/95 Marschall ./. Land Nordrhein-Westfalen, Slg. 1997, I-6363; EuGH v. 28.3.2000 – Rs. C-158/97 Badeck u.a., Slg. 2000, I-1875; EuGH v. 6.7.2000 – Rs. C-407/98 Abrahamsson und Anderson, Slg. 2000, I-5539. So etwa EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels, Slg. 1985, 469 Rn. 36 f. (dazu Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 24). Richtlinie 91/533/EWG des Rates v. 14.10.1991 über die Pflicht des Arbeitgebers zur Unterrichtung des Arbeitnehmers über die für seinen Arbeitsvertrag oder sein Arbeitsverhältnis geltenden Bedingungen, ABl. 1991 L 288/32.

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tene Begriff „ein Arbeitsvertrag oder ein Arbeitsverhältnis auf Zeit“ dahin auszulegen ist, dass er sich auf alle zeitlich begrenzten Arbeitsverträge und -verhältnisse bezieht oder nur auf diejenigen, die für eine kurze Laufzeit abgeschlossen werden. Hier wird nicht nur gesagt: „Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Gemeinschaftsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden.“ Das Urteil arbeitet in der Tat mit Hilfe des Wortlautes und der Systematik, aber auch unter Rückgriff auf historische und teleologische Argumente den unterschiedlichen Bedeutungsgehalt eines „befristeten Arbeitsvertrages“ in verschiedenen Richtlinien heraus.55 Hier zu nennen ist auch die Erwägung, ob das Unionsrecht eine Total- oder nur eine Teilharmonisierung der geregelten Angelegenheit enthält. In mehreren einschlägigen Entscheidungen zu den Richtlinien über Betriebsübergang, Massenentlassung und Insolvenzschutz56 kommt diese Überlegung vor. In manchen hat sie zur Entscheidung beigetragen, insbesondere wenn es um das Anknüpfen an die nationalen Begriffe des Arbeitnehmers geht.57 In anderen hat sie hingegen nicht zu einer Verringerung der Pflichten der Mitgliedstaaten geführt.58 Meist sind die Überlegungen des EuGH überzeugend. Anders ist es bei dem Urteil Delahaye.59 Sie stützt sich auf das Argument der Teilharmonisierung, das hier m.E. konkret aber nichts beiträgt.

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Systematische Interpretation zum Gemeinschaftsrecht stand stets vor zwei Schwierigkeiten. Erstens wurde das Gemeinschaftsrecht nicht erst in seinen Details, sondern bereits in seinen Grundstrukturen als „dynamische“ Rechtsordnung verstanden, und damit letztlich als „unfertige“. Damit fehlte häufig ein ausreichend stabiler Gesamtrahmen für die Auslegung.60 Man kann nur hoffen, dass der Lissabonner Vertrag die auch für systematisches Verständnis erforderliche Stabilität bringt. Zweitens regelte und regelt das Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht (auch) zum Arbeitsrecht nur einen

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55 EuGH v. 18.12.2008 – Rs. C-306/07 Andersen, Slg. 2008, I-10279 Rn. 40, sowie 40 ff. Der EuGH kommt zum Ergebnis, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber die Absicht gehabt habe, nicht alle befristeten Arbeitsverträge zu erfassen, sondern nur solche mit einer kurzen Laufzeit. Eine solche Auslegung entspreche dem Anliegen, das Gemeinschaftsrecht soweit wie möglich so auszulegen, dass seine „innere Kohärenz“ gewahrt und gewährleistet wird. 56 Richtlinie 80/987/EWG des Rates v. 20.10.1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. 1980 L 283/23; geändert durch Richtlinie 2002/74/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.9.2002 zur Änderung der Richtlinie 80/987/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. 2002 L 270. 57 Z.B. EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 Foreningen af Arbejdsledere i Danmark ./. Danmols Inventar, Slg. 1985, 2639 Rn. 26 ff.; vgl. auch EuGH v. 12.5.1985 – Rs. 284/83 Dansk Metalarbejderforbund ./. Nielsen & Søn, Slg. 1985, 553 Rn. 12 ff. 58 Vgl. EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-383/92 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2479 Rn. 24 ff.; EuGH v. 14.7.1998 – Rs. C-125/97 A.G.R. Regeling ./. Bestuur van de Bedrijfsvereniging, Slg. 1998, I-4493 Rn. 19 zur Insolvenzrichtlinie. 59 EuGH v. 11.11.2004 – Rs. C-425/02 Delahaye, Slg. 2004, I-10823 insbes. Rn. 32 ff. 60 Vgl. Haltern, in: Schuppert/Pernice/Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, S. 37, 64.

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Teil der relevanten spezifischen und allgemeinen Fragen, sodass häufig das für eine wirklich systematische Interpretation erforderliche Normenumfeld fehlt.61 3.

Kompetenzkonforme Interpretation?

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Der Gedanke der rechtskonformen Interpretation erfordert es an sich, Sekundärrecht im Zweifel so auszulegen, dass die Grenze der jeweils in Anspruch genommenen Kompetenz der Union nicht überschritten wird.62 Bei den arbeitsrechtlichen Richtlinien gibt es eine Reihe von Fragen, in denen diese Überlegung von Interesse ist. Allerdings kommt die genannte Überlegung in der Judikatur soweit zu sehen kaum vor. Dies kann darauf beruhen, dass der EuGH sich damit nur befasst, wenn er ausdrücklich danach gefragt wird, was nur selten geschieht. Es könnte aber auch darauf beruhen, dass der EuGH die Kompetenzen von Organen der Gemeinschaft/Union stets extensivst versteht (auch und insbesondere seine eigenen) und daher hier kaum Kompetenzgrenzen sehen will.

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Die Union darf heute auf der Grundlage des Art. 153 AEUV/137 EG verschiedene Fragen des Arbeitsrechts regeln, wie etwa die Arbeitsbedingungen oder den Schutz bei Beendigung des Arbeitsvertrages. Der EuGH hatte sich dazu noch nicht zu äußern. Die wichtigste Entscheidung zur Kompetenzlage vor dem Art. 137 EG war jene zur Arbeitszeitrichtlinie.63 Der Gerichtshof hat dort primär mit Wortlaut und Zweck der Kompetenznorm argumentiert. Er hat eine Detailbestimmung, welche die Wochenruhe verpflichtend auf das Wochenende festlegte, aufgehoben, weil diese Festlegung von der Kompetenz zum Schutz der Arbeitnehmer nicht mehr erfasst war – was m.E. auch für Art. 137 EG gilt.

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Wichtig war die Aussage, dass die Kompetenz zu „Mindestvorschriften“ nicht bloß zu einem sozialen Minimalprogramm ermächtigte (wie auch deutsche Autoren meinten), sondern den Mitgliedstaaten das Erlassen strengerer Vorschriften erlaubt. Heute sagt Art. 153 Abs. 4 Sps. 2 AEUV, dass die aufgrund dieses Artikels erlassenen Bestimmungen die Mitgliedstaaten nicht daran hindern, „strengere Schutzmaßnahmen“ zu treffen. Fraglich ist, was „strenger“ hier bedeutet. Die Problematik ist anders als beim Günstigkeitsvergleich im nationalen Recht, weil es bei Art. 153 AEUV nicht auf die Günstigkeit für den oder die Arbeitnehmer ankommt, sondern nur darauf, ob eine nationale Bestimmung objektiv und für sich betrachtet die Arbeitnehmer mehr schützt. Die Frage von Kompensationsmöglichkeiten kommt in der Regel gar nicht ins Spiel.64

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Die bei vielen Richtlinien außerhalb des Arbeitsrechts relevante Frage, ob die Mitgliedstaaten strengere Vorschriften erlassen dürfen, stellt sich bei Richtlinien, die aufgrund des Art. 137 EG erlassen wurden, daher gar nicht. Relevant ist sie im Bereich 61 Vgl. z.B. allgemein Höpfner/Rüthers, AcP 2009, 1, 12. 62 Es handelt sich um einen Fall der primärrechtskonformen Interpretation von Sekundärrecht; vgl. Potacs, Auslegung im Öffentlichen Recht, S. 75 ff.; ebenso Leible/Domröse, in diesem Band, § 9 Rn. 8 und mit einem Beispiel in Rn. 35. 63 EuGH v. 12.11.1996 – Rs. C-84/94 Vereinigtes Königreich ./. Rat, Slg. 1996, I-5755. 64 Vgl. zur Frage Schwarze-Rebhahn/Reiner, Art. 137 EG Rn. 62 ff.

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des Arbeitsrechts nur bei der Entsenderichtlinie.65 Für eine abschließende Regelung spricht vor allem deren Art. 3 Abs. 10, wonach das Recht der Mitgliedstaaten, bestimmte weitergehende Maßnahmen vorzuschreiben, unberührt bleibt. Überdies spricht auch die Kompetenzgrundlage der Richtlinie dafür, nämlich die Art. 55 und 47 Abs. 2 EG.66 Gleichwohl wurde die abschließende Regelung in der Literatur oft verneint. Der EuGH hat 2007 entschieden, dass die Entsenderichtlinie abschließend regelt, welche arbeitsrechtlichen Normen der Arbeitsstaat für entsendete Arbeitnehmer vorschreiben darf.67 Allerdings hat er dies weder mit einem dieser Argumente noch mit einem anderen konkreten Argument begründet. Er hat daher auch nicht die Gelegenheit ergriffen zu sagen, welche Bedeutung die Kompetenzgrundlage für den Inhalt einer Richtlinie hat.68 Art. 153 AEUV gilt nach seinem Abs. 5 nicht für das Arbeitsentgelt. Fraglich ist daher, inwieweit bei Ausübung der Kompetenzen nach Abs. 1 und 3 auch Fragen des Arbeitsentgelts mitgeregelt werden dürfen.69 Konkret ist fraglich, ob etwa die Teilzeitrichtlinie70 die Gleichbehandlung auch beim Entgelt anordnen darf, die Mutterschutzrichtlinie71 die Fortzahlung des Entgelts verlangen darf, oder jene zur Gleichbehandlung, dass nach dem Ende eines Elternurlaubes die Entgeltbedingungen fortgeschrieben werden. Zu dieser Frage der Interpretation von Kompetenznormen erging 2007 das Urteil Alonso. Fraglich war, ob die Befristungsrichtlinie72 auch die Diskriminierung beim Entgelt verbieten darf. Anders als der Generalanwalt und manche Mitgliedstaaten hat der EuGH die Kompetenz treffend bejaht. Andernfalls würden einige Kompetenzen des Art. 153 AEUV/137 EG selbst „ihrer Substanz beraubt werden“.73 Der EuGH sieht als Inhalt der Regelungssperre zum Entgelt also nur die Festlegung der Entgelthöhe selbst. Nicht erfasst scheinen davon hingegen die Auswirkungen anderer Regelungen auf das Entgelt oder die Inpflichtnahme von Entgeltfragen für andere Regelungsziele.

65 Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.12.1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. 1996 L 18/1. 66 So bereits Erfurter Kommentar ArbR-Schlachter (5. Aufl. 2005), § 1 AEntG Rn. 2; Rebhahn, DRdA 1999, 173, 177. 67 EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 Laval un Partneri, Slg. 2007, I-11767 Rn. 80; EuGH v. 3.4.2008 – Rs. C-346/06 Rüffert, Slg. 2008, I-1989 Rn. 33. 68 Vgl. allgemein Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 324 ff. (wenig weiterführend). 69 Vgl. Schwarze-Rebhahn/Reiner, Art. 137 EG Rn. 57. 70 Richtlinie 97/81/EG des Rates v. 15.12.1997 zu der von UNICE, CEEP and EGB geschlossenen Rahmenvereinigung über Teilzeitarbeit – Anhang: Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit, ABl. 1997 L 14/9. 71 Richtlinie 92/85/EWG des Rates v. 19.10.1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (zehnte Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG), ABl. 1992 L 348/1. 72 Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28.6.1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge, ABl. 1999 L 175/43. 73 EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05 Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109 Rn. 31 ff. Robert Rebhahn

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4.

Regelungszweck

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Als nächstes ist der Regelungszweck zu nennen. In erster Linie geht es dabei um den Zweck der konkreten Regelung und des Rechtsaktes; davon zu unterscheiden ist die Frage, ob der Rechtsakt Teil eines inneren Systems ist, aus dem sich auf den Zweck der konkreten Regelung schließen lässt (dazu Rn. 34 ff.). Manche Autoren sehen den Regelungszweck als das erste und vorrangige Auslegungsmittel.74 Die Analyse neuerer arbeitsrechtlicher Entscheidungen kann diese These aber nicht voll bestätigen. Dies gilt jedenfalls, wenn man die Erwägung, eine mögliche Auslegungsalternative würde der auszulegenden Bestimmung ihre praktische Wirksamkeit nehmen,75 für sich allein noch nicht als telelogisches Argument zur Sache ansieht. Die Berufung bloß auf den effet utile76 ist nämlich nur ein (selbstverstärkendes) Argument zur Wirkungskraft des Gemeinschaftsrechts, aber noch kein Argument zum Regelungszweck der konkreten Regelung. Eine intensivere Auseinandersetzung mit den Zwecken der Regelung im Lichte unterschiedlicher Auslegungsvarianten findet sich zwar zuweilen (dazu Rn. 32 ff.), aber nicht sehr häufig.

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Für die Ermittlung des Regelungszweckes orientiert sich der EuGH auch im Arbeitsrecht vorwiegend an den Begründungserwägungen oder direkt am Wortlaut,77 nur selten an anderen Quellen, wie z.B. an der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte oder an der jeweiligen Primärrechtsgrundlage.78 Der Text der konkreten Norm und deren Zweck müssen dabei m.E. bedeutsamer sein als die Begründungserwägungen, deren rechtliche Qualität ohnehin zweifelhaft ist.79 Am Öftesten zieht der EuGH den Normtext für die Zweckherleitung heran (objektiv-teleologische Interpretation). Nicht selten wird zur Begründung des Zwecks bloß ein anderer, ebenfalls möglicher und in den Erklärungen vorgebrachter Zweck, durch eine Art Folgenanalyse ad absurdum geführt 80.

74 So z.B. Joussen, Auslegung, der von einem „Krönungskriterium“ spricht (S. 130 f., S. 170 f.). 75 Vgl. etwa EuGH v. 11.10.2007 – Rs. C-460/06 Paquay, Slg. 2007, I-8511 Rn. 35; EuGH v. 3.4.2008 – Rs. C-346/06 Rüffert, Slg. 2008, I-1989 Rn. 33. 76 Vgl. dazu – teilweise krit. – Potacs, EuR 2009, 465–487. 77 Vgl. EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-13/05 Chacon Navas, Slg. 2006, I-6467 Rn. 44 zur Richtlinie 2000/78: „Mit der Verwendung des Begriffes „Behinderung“ in Artikel 1 dieser Richtlinie hat der Gesetzgeber jedoch bewusst ein Wort gewählt, das sich von dem der „Krankheit“ unterscheidet. Daher lassen sich die beiden Begriffe nicht schlicht und einfach einander gleichsetzen.“ 78 Vgl. allgemein Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 77 ff.; Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 40 f.; auf die Begründungserwägungen stellt ab z.B. EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 12. 79 Vgl. dazu treffend Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 36. 80 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 76; EuGH v. 30.3.2000 – Rs. C-236/98 Jämställdhetsombudsmannen, Slg. 2001, I-2189 Rn. 53; EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99 The Queen ./. Secretary of State for Trade and Industry, ex parte BECTU, Slg. 2001, I-4881 Rn. 48 f. – BECTU; EuGH v 2.12.1999 – Rs. C-234/98 Allen ./. Amalgamated Construction, Slg. 1999, I-8643 Rn. 20; EuGH v 6.4.2000 – Rs. C-226/98 Kreil, Slg. 2000, I-2447 Rn. 39; EuGH v. 21.10.1999 – Rs. C-333/97 Lewen, Slg. 1999, I-7243 Rn. 42; EuGH v. 20.3.2003 – Rs. C-187/00 Kutz-Bauer, Slg. 2003, I-2741 Rn. 60, 74.

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Im Urteil Pfeiffer hat der EuGH 2004 – soweit zu sehen erstmals – die Unterlegenheit des Arbeitnehmers als Argument bei der Auslegung verwendet. Art. 18 der Arbeitszeitrichtlinie erlaubt es, die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 48 Stunden zu überschreiten, wenn der Arbeitnehmer individuell zustimmt. Der EuGH hat für diesen Verzicht verlangt, dass der Arbeitnehmer dies „frei und in voller Sachkenntnis“ selbst tut. Er fährt fort: „Diese Anforderungen sind um so bedeutsamer, als der Arbeitnehmer als die schwächere Partei des Arbeitsvertrags anzusehen ist, so dass verhindert werden muss, dass der Arbeitgeber den Willen des Vertragspartners umgehen oder ihm eine Beschränkung seiner Rechte auferlegen kann, ohne dass dieser dem ausdrücklich zugestimmt hätte.“81 Im Ausland hat diese Passage aus dem Urteil der Großen Kammer große Aufmerksamkeit gefunden, weil der EuGH sich darin die These von der typischen Unterlegenheit zu Eigen gemacht habe.82 Seither wurde dieses Argument vom EuGH aber nicht wieder verwendet.

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Sehr fein nach dem Zweck differenzierte der EuGH im Urteil Paletta II. Es ging um die Anerkennung von Bestätigungen der Erkrankung aus Sizilien, an deren Richtigkeit der deutsche Arbeitgeber nachvollziehbar zweifelte. Die relevante gemeinschaftsrechtliche Norm war zwar primär sozialrechtlich, der Inhalt aber im Kontext arbeitsrechtlich.83 Der EuGH hatte schon wiederholt gesagt, dass „die missbräuchliche oder betrügerische Geltendmachung von Gemeinschaftsrecht nicht gestattet ist.“ „Die nationalen Gerichte können also das missbräuchliche oder betrügerische Verhalten des Betroffenen auf der Grundlage objektiver Kriterien zwar in Rechnung stellen, […] haben jedoch bei der Würdigung eines solchen Verhaltens die Ziele der fraglichen Bestimmungen zu beachten.“ Aus dem Zweck der Bestimmungen zur Anerkennung ausländischer Bestätigungen folgert der EuGH dann, dass bei deren Vorliegen dem Arbeitnehmer nicht die volle Beweislast für die Arbeitsunfähigkeit zugeschoben werden darf, wenn der Arbeitgeber nur ernsthafte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit dartun kann. Die Arbeitsunfähigkeit darf entgegen der Bestätigung erst verneint werden, falls der Arbeitgeber selbst Beweise für den Missbrauch dartun kann. Allerdings liegt es dann beim nationalen Gericht, wann es den Beweis des Missbrauches für erbracht ansieht. Das Urteil Junk leitet zur Massenentlassungsrichtlinie die Auffassung, dass unter „Entlassung“ bereits der Ausspruch der Kündigung zu verstehen ist, vor allem aus dem Inhalt der Regelung ab. Ansonsten wären nämlich die von der Richtlinie verlangten Beratungen wenig sinnvoll, weil sie auf die Entscheidung des Arbeitgebers

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81 EuGH v. 5. 10. 2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 82. 82 Collins, ERCL 1 (2005), 115, 124; Sargos, Dr Soc 2005, 123 f. 83 EuGH v. 3.6.1992 – Rs. C-45/90 Paletta ./. Brennet, Slg. 1992, I-3423 – Paletta I; EuGH v. 2.5.1996 – Rs. C-206/94 Brennet ./. Paletta, Slg. 1996, I-2357 Rn. 24 ff. – Paletta II; vgl. zum ganzen Verfahren Kaiser, NZA 2000, 1144, 1146 mwN. Der EuGH ging im Urteil Paletta I sehr formal an die Sache heran und meinte wie häufig: Alles was in Europa den gleichen Namen hat, sei auch gleichwertig. Erst auf den Widerstand der deutschen Gerichte hin fand er einen Ausweg, der beiden das Gesicht wahrte, nämlich eine Missbrauchsklausel. Robert Rebhahn

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keinen Einfluss mehr haben können.84 Dies ist methodisch überzeugend,85 auch wenn es in Staaten, in denen das nationale Recht die Kündigung stark beschränkt, zusätzliche Probleme bereitet. In einem früheren Verfahren zur Massenentlassungsrichtlinie ging es um die Frage, ob diese die Mitgliedstaaten auch verpflichtet, gesetzliche Regelungen über eine Arbeitnehmervertretung zu schaffen, auch wenn es sonst keine gibt. Der EuGH hat zugestanden, dass die Richtlinie nur eine Teilharmonisierung der Frage einer Anhörung der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen enthalte. Die Tatsache einer Teilharmonisierung befreie aber nicht von der Pflicht jene Maßnahmen zu treffen, welche für die Ausführung des Inhalts der Richtlinie „zweckmäßig“ sind (gemeint war wohl: „erforderlich sind“). Parallel war die Argumentation zur Betriebsübergangsrichtlinie.86 Der Normzweck spielt wohl auch in den neueren Urteilen zum Anspruch der Arbeitnehmer auf bezahlten Urlaub eine entscheidende Rolle.87

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Der Regelungszweck war auch in Entscheidungen zur Richtlinie zum Europäischen Betriebsrat88 das entscheidende Argument. Alle drei Urteile betrafen die Mitwirkung der Arbeitgeber bei der Organisation des Europäischen Betriebsrats, und in allen hat der EuGH seine Entscheidung mit dem Argument begründet, das ordnungsgemäße Funktionieren des Europäischen Betriebsrats oder doch die Möglichkeit dafür erforderten eine bestimmte Auslegung, die im Ergebnis eine Regelungslücke schließt.89 Er hat also primär auf den Zweck der Regelung abgestellt, das Bestehen einer Lücke aber (leider) nicht erwähnt. Große Bedeutung hatte der Regelungszweck auch bei dem Urteil über das Verständnis von „Eintritt der Zahlungsunfähigkeit“ in der Insolvenzrichtlinie. Der EuGH legte dar, dass dieser Begriff in Art. 3 und 4 der Insolvenz-

84 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 35–37. 85 Ebenso Riesenhuber/Domröse, EWS 2005, 97 ff.; a.A. Wank, FS Birk (2008), S. 931, der eine teleologische Auslegung dahingehend erwartet hätte, ob auch das Anzeigeverfahren so wie das Beratungsverfahren „individualschützende oder arbeitsmarktpolitische Zwecke“ verfolgt. 86 Massenentlassungen: EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-383/92 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2479 Rn. 24 ff. Betriebsübergang: EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-382/92 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2435 Rn. 27 ff. 87 Vgl. EuGH v. 6.4.2006 – Rs. C-124/05 Federatie Nederlandse Vakbeweging, Slg. 2006, I-3423; EuGH v. 20.1.2009 – verb. Rs. C-350/06 und C-520/06 Schultz-Hoff ./. Deutsche Rentenversicherung Bund, Slg. 2009, I-179; EuGH v. 10.9.2009 Rs. C-277/08 Vicente Pereda, (noch nicht in Slg.). Vgl. auch EuGH v. 18.12.2008 – Rs. C-306/07 Andersen, Slg. 2008, I-10279 Rn. 40 ff. 88 Die Entscheidungen betrafen noch die Richtlinie 94/45/EG des Rates v. 22.9.1994 über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen, ABl. 1994 L 254/64, die nunmehr ersetzt ist durch Richtlinie 2009/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 6.5.2009 über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen oder Unternehmensgruppen, ABl. 2009 L 122/28. 89 EuGH v. 29.3.2001 – Rs. C-62/99 Bofrost, Slg. 2001, I-2579; EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-440/00 Kühne & Nagel, Slg. 2004, I-787; EuGH v. 15.7.2004 – Rs. C-349/01 ADS Anker, Slg. 2004 I-6803.

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richtlinie anders zu verstehen sei als nach der Definition des Art. 2.90 Eine spätere Entscheidung griff dann nur mehr auf dieses Verständnis zurück, ohne erneut telelogische Erwägungen im konkreten Zusammenhang anzustellen.91 Das führte dann zu einer Korrektur der Insolvenzrichtlinie und damit des EuGH.92 5.

Inneres System und favor laboris als Argumente?

Fraglich ist, inwieweit im Arbeitsrecht – so wie zu anderen Teilgebieten des Unionsrechts – von einem übergreifenden Zweck ausgegangen werden kann, der dann die Anwendung einzelner Vorschriften (zusätzlich) steuern könnte. Das Arbeitsrecht der EG bzw. nun der Union kann theoretisch drei Zwecke bzw. Ziele verfolgen: die Verbesserung der Arbeitsbedingungen als sozialpolitisches Ziel; ökonomische Ziele wie Effizienz, Wettbewerb und hohe Beschäftigung; sowie das Ziel der Integration, insb. um Störungen des Wettbewerbes zu vermeiden.93 Arbeitsrechtliche Vorschriften, die auf der Grundlage der Art. 151 ff. AEUV/Art. 137 ff. EG erlassen sind, sind allerdings stets nur „Mindestvorschriften“. Rechtssetzung auf dieser Grundlage dient sohin letztlich immer zumindest auch, wenn nicht primär, dem Schutz der Arbeitnehmer; alternative Ziele gemeinschaftlicher Rechtssetzung zum Arbeitsrecht können insoweit nur beschränkt verfolgt werden. Arbeitsrechtliche Normen auf dieser Grundlage dienen insbesondere nicht primär dem Binnenmarkt, dessen Förderung auch nicht Leitlinie der Interpretation sein kann. Anders ist es, wenn eine Richtlinie – wie jene zur Entsendung – auf eine Binnenmarktkompetenz gestützt ist.

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Das Arbeitsrecht ist wohl jener Teil des wirtschaftsrelevanten Privatrechts, in dem die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten noch am größten sind. Die Vorgaben betreffen nur Teile des Arbeitsrechts. Im Individualarbeitsrecht sind vor allem Arbeitsschutz und Arbeitszeit einschließlich Mindesturlaub, Diskriminierungsverbote, Information über Arbeitsbedingungen, „atypische“ Arbeitsverhältnisse wie Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverhältnisse, Verfahren bei Massenentlassung, Betriebsübergang sowie Mutterschutz zu nennen, im Kollektivarbeitsrecht nur Europäischer Betriebsrat, Information und Konsultation sowie Vertretung der Arbeitnehmer in Unternehmensorganen bei der SE.94 Manche sehen zumindest in einem Teil dieser Regelungen

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90 EuGH v. 10.7.1997 – verb. Rs. C-94/95 und C-95/95 Bonifaci und Berto ./. INPS, Slg. 1997, I-3969 Rn. 36–42. 91 EuGH v. 15.5.2003 – Rs. C-160/01 Karen Mau ./. Bundesanstalt für Arbeit, Slg. 2003, I-4791. 92 Richtlinie 2002/74/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.9.2002 zur Änderung der Richtlinie 80/987/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. 2002 L 270. 93 Diese drei Ziele der arbeitsrechtlichen Rechtsetzung der EG unterscheidet Syrpis, EU Intervention in Labour Law (2007), S. 10 ff. Vgl. auch v.Bogdandy/Bast-Rödl, S. 869 ff. 94 Vgl. den Überblick bei Hanau/Steinmeyer/Wank-Wank, §§ 3, 11 f.; sowie z.B. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht.

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ein inneres System.95 Geht man hingegen von dem aus, was in den Mitgliedstaaten üblicherweise geregelt ist, so stellen die unionsrechtlichen Vorgaben zum Arbeitsrecht nur vereinzelte Regelungen dar, die wichtige Fragen aussparen, insbesondere folgende: Kündigungsschutz, Entgeltfortzahlung, Haftung, Risikoverteilung und Nebenpflichten sowie das Recht der Koalitionen, der Tarifverträge und der Kollektiven Konflikte. Das Recht der Koalitionen und der Konflikte sind sogar ausdrücklich von der Kompetenz nach Art. 153 AEUV ausgenommen. Man kann daher sagen, dass das Unionsrecht nur „Fragmente“ des Arbeitsrechts regelt.96 Das erschwert eine systematische Interpretation, wie sie im Unionsrecht etwa beim Wettbewerbsrecht und zunehmend beim Kapitalmarkt- und Gesellschaftsrecht sowie in Bereichen des Öffentlichen Wirtschaftsrechts möglich ist.

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Jenes Teilstück, das am weitesten in sich geschlossen ist, sind die Diskriminierungsverbote. Dazu hat der EuGH lange Zeit im Zweifel häufig jene Interpretation gewählt, die das Verbot am weitesten ausdehnte, auch bei den erforderlichen Sanktionen. Für die letzten Jahre lässt sich dies so wohl nicht mehr sagen. Beleg dafür ist die Judikatur zur vergleichbaren Lage oder zur gemeinsamen Quelle der Regelung (vgl. Rn. 57). Auch zur extensiven Auslegung bleibt anzumerken: Das Diskriminierungsverbot normiert, sieht man vom Schutz der Schwangeren ab, keinen typischen Mindeststandard, weil es den Arbeitgeber nicht hindert, alle gleich schlecht zu behandeln.

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Bei den typischen arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften, die einen Mindeststandard setzen sollen, zeigt sich der Mangel eines einheitlichen Hintergrundes der Normen – und damit die Möglichkeit eines Vorverständnisses – besonders stark. Die Eigenschaft einer Richtlinie als Mindestvorschrift bewirkt, dass der Gedanke der wirklichen Vereinheitlichung des Rechts bei der Auslegung keine Rolle spielen kann. Es geht dann um die relative Position der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber, allenfalls auch um die Auswirkungen auf den Binnenmarkt.

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In der politischen Diskussion ist oft von einem Europäischen Sozialmodell die Rede.97 Diese Vorstellung hat aber in der Rechtsprechung des EuGH noch nie eine erkennbare Rolle gespielt; und sie ist wohl auch sonst heute eher ein Mythos denn ein Postulat, wenn man unter dem Europäischen Modell nicht bloß die Tatsache eines „gewissen Unterschiedes“ zu vielen außereuropäischen Staaten versteht. Real stellt sich bei der Anwendung von Vorschriften, die einen arbeitsrechtlichen Mindeststandard vorsehen, rechtspolitisch vielmehr stets die Frage, inwieweit die EU aktiv dazu beitragen soll, diese Unterschiede einzuebnen. Die einen meinen, über die Unter-

95 Grundmann, GS Blomeyer (2004), S. 71–97; ders., Europäisches Schuldvertragsrecht, § 6 Rn. 35 ff.; auch Riesenhuber (in diesem Band, § 11 Rn. 12) meint, man müsse stets einen „Systembildungswillen“ vermuten und damit unterstellen. Allerdings stimmt dies wohl nur für eine Rechtsordnung, die auf ein kohärentes und umfassendes Regelungssystem zumindest angelegt ist; selbst letzteres traf für das Gemeinschaftsrecht jedenfalls bislang nicht zu. 96 So die überwiegende Einschätzung; vgl. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 1 Rn. 41 ff., der selbst etwas mehr an System erkennt. 97 Vgl. dazu z.B. Rebhahn, ZESAR 2009, 159 ff. mwN.; Poiares-Maduro, in: Hesselink (Hrsg.), The Politics of a European Civil Code (2006), S. 125–142.

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schiede und deren Ausgleich solle der Markt entscheiden; geringere Arbeitsstandards und damit Arbeitskosten seien ein Wettbewerbsfaktor, den man den betroffenen Staaten nicht gegen ihren Willen nehmen dürfe, weder innerhalb der Union noch gegenüber anderen Staaten. Die anderen meinen, dass die staatlich gesetzten Sozialstandards von Lissabon bis Vilnius möglichst einheitlich sein sollen, um einen Wettbewerb mit Arbeitskosten insoweit zu verhindern, weil man befürchtet, dass es ein Wettbewerb nach unten wird.98 Das eine führt im Zweifel zu einer restriktiven Interpretation der Richtlinie, das andere zu einer extensiven. Nach der Idee des Binnenmarktes sollen primär die Rahmenbedingungen für Unternehmen vereinheitlicht werden, um einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten. Daraus könnte man ableiten, dass primär Unternehmen, nicht aber Staaten konkurrieren sollen, was für eine Angleichung sprechen könnte. Manche leiten aus Art. 150 AEUV/136 f. EG ab, dass die Auslegung primär an der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen orientiert sein müsse. Diese Maxime hat in der Judikatur des EuGH bislang, soweit zu sehen, aber noch keine maßgebende Rolle gespielt.99 Methodisch bedeutet dies, dass die Gerichte bei der Auslegung einzelner Rechtsakte der Union kaum von einem geschlossenen Konzept des Arbeitsrechts ausgehen können.100 Es gibt im Bereich des Arbeitsrechts kein wirkliches „Leitbild“.101 Man muss letztlich jeden arbeitsrechtlichen Rechtsakt – jedes der Fragmente – aus sich selbst heraus auslegen. Damit ist es durchaus vereinbar, wenn der EuGH zu Teilbereichen von einem „Grundsatz des Sozialrechts der Gemeinschaft“102 spricht; allein daraus folgt nicht, dass der EuGH darüber hinaus eine gewisse Systematik im Europäischen Arbeitsrecht annimmt. Soweit zu sehen gibt es aber beim EuGH z.B. kein einheitliches Vorverständnis zur Frage, ob arbeitsrechtliche Mindestvorschriften eher extensiv oder restriktiv auszulegen sind. Zu manchen nicht eindeutigen Fragen urteilt er eher restriktiv, wie zum Begriff des Arbeitnehmers oder zur Bedeutung der Nachweisrichtlinie, zu anderen eher extensiv, wie zum Begriff der Arbeitszeit oder dem Vorliegen eines Betriebsüberganges. Allenfalls kann man sagen, dass der EuGH früher eher jene Auslegung gewählt hat, die den Arbeitnehmerschutz stärkt. Man kann dafür etwa jene Entscheidungen nennen, die in Deutschland große Aufregung verursacht haben: Paletta zur Entgeltfortzahlung, Schmidt zum Betriebsübergang, und Bötel zur Fortbildung teilzeitbeschäftigter Betriebsräte.103 Junker hat von der „schwarzen 98 Vgl. zur Diskussion z.B. Barnard, EC Emplyoment Law, S. 36 ff.; Schwarze-Rebhahn/Reiner, Art. 136 EG Rn. 29 ff. 99 Auch Joussen, Auslegung, S. 246 nennt keine einschlägige Entscheidung des EuGH. 100 Zur Bedeutung des normativen Umfeldes einer Norm für deren Verständnis vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 442 ff. (systematische Auslegung), S. 472 ff. (ergänzende Auslegung). 101 Vgl. zu diesem Auslegungstopos Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 44. 102 So zum bezahlten Urlaub EuGH v. 6.4.2006 – Rs. C-124/05 Federatie Nederlandse Vakbeweging, Slg. 2006, I-03423 Rn. 28. 103 EuGH v. 2.5.1996 – Rs. C-206/94 Brennet ./. Paletta, Slg. 1996, I-2357 – Paletta II; EuGH v. 14.4.1994 – Rs. C-392/92 Christel Schmidt ./. Spar- und Leihkasse, Slg. 1994, I-1311; EuGH v. 4.6.1992 – Rs. C-360/90 Arbeiterwohlfahrt der Stadt Berlin ./. Bötel, Slg. 1992, I-3589. Robert Rebhahn

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Serie“ des EuGH gesprochen.104 Allerdings lassen sich diese Urteile zwanglos – ganz ohne favor laboris – durch das Bestreben des EuGH erklären, das Gemeinschaftsrecht möglichst „effektiv“ durchzusetzen. Ob dies zugunsten der Arbeitnehmer oder – wie später in den Urteilen Viking und Laval 105 – zugunsten der Arbeitgeber ausgeht, spielt aus dieser Perspektive keine Rolle (wenn man davon absieht, dass die Grundfreiheiten eine Tendenz gegen Schutzvorschriften haben). Die fehlende Einbettung der Judikatur in einen Gesamtzusammenhang zeigt sich auch bei den Urteilen des EuGH zum Verhältnis von Grundfreiheiten und Arbeitskampf (dazu unten Rn. 63), nun allerdings mit einer den Arbeitnehmern nicht günstigen Tendenz. Die Regelung von Streik und Boykott wird traditionell jedenfalls „auch“ als Frage des Arbeitsrechts angesehen. Der EuGH betrachtet die Fragen hingegen ganz überwiegend im Kontext der Grundfreiheiten und kommt dabei weitgehend ohne die typischen arbeitsrechtlichen Überlegungen und Wertungen zum Verhältnis von Arbeitnehmer und Arbeitgeber aus.

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Fraglich ist dann, inwieweit der EuGH explizit den Schutz der Arbeitnehmer als Auslegungsargument – über den Zweck der konkreten Regelung hinaus – einsetzt. Denn bei den Mindestvorschriften geht es ja letztlich stets um die relativen Positionen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Auf der einen Seite hat der EuGH bis vor kurzem – soweit zu sehen – noch nie ausdrücklich in die Erwägung einbezogen, inwieweit eine Regelung die Arbeitgeber belastet. Offenkundig – und fast schon anstößig – ist diese Nichtberücksichtigung insbesondere bei der Rückwirkung der Anwendung des Art. 157 AEUV/141 EG auf Betriebspensionen (vgl. Rn. 51). Allerdings entspricht dies der allgemeinen (m.E. grob verfehlten) Linie zur zeitlichen Wirkung von Urteilen des EuGH. Im Urteil Werhof berücksichtigte der EuGH erstmals ausdrücklich die Interessen der Arbeitgeber. Fraglich war, ob der Unternehmenserwerber (konkret: aufgrund einer Verweisung im Arbeitsvertrag) nach Betriebübergang Kollektivvertragsänderungen gegen sich gelten lassen muss. In diesen Zusammenhang sprach der EuGH aus: „Außerdem können … die Interessen des Erwerbers nicht unberücksichtigt bleiben, der in der Lage sein muss, die für die Fortsetzung seiner Tätigkeit erforderlichen Anpassungen vorzunehmen“.106 Auf der anderen Seite hat der EuGH aber noch nie explizit gesagt, dass arbeitsrechtliche Schutzvorschriften im Zweifel zugunsten der Arbeitnehmer auszulegen seien. Soweit zu sehen praktiziert er eine derartige Auslegungsregel bei den Mindestvorschriften auch nicht. Bei der Interpretation arbeitsrechtlicher Mindestvorschriften blickt der EuGH also wohl nur auf den konkreten Zweck der Richtlinie, und nicht auf einen dahinter stehenden allgemeinen Schutz der Arbeitnehmer. Allerdings nennen die arbeitsrechtlichen Richtlinien in der Regel letztlich nur den Schutz der Arbeitnehmer als Regelungsziel. Nationale Gerichte würden sich dadurch nicht abhalten lassen, auch die Interessen der anderen

104 Junker, NJW 1994, 2527 ff. Zu diesen Entscheidungen – weit zurückhaltender – Kaiser, NZA 2000, 1144 ff. 105 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 ITF ./. Viking Line, Slg. 2007, I-10779; EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 Laval un Partneri, Slg. 2007, I-11767. 106 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, Slg. 2006, I-2397 Rn. 32.

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Seite und Dritter bei der Interpretation zu bedenken. Die eher knappe Argumentation des EuGH tut dies jedenfalls nicht ausdrücklich. Sie begünstigt die in der Literatur wiederholt konstatierte Eindimensionalität der Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften.107 Die Interpretation arbeitsrechtlicher Normen wäre danach primär nur am Arbeitsverhältnis (und nicht der Gesamtheit der Rechtsordnung) und hier wiederum primär an den Arbeitnehmern ausgerichtet. Diese Eindimensionalität bei der Auslegung von arbeitsrechtlichen Richtlinien ist jedenfalls durch die Normen nicht zwingend vorgegeben.108 Sonderfälle stellen die Richtlinien zum Betriebsübergang und zur Entsendung dar. Bei der Entsenderichtlinie ist fraglich, welche Arbeitnehmer sie schützen soll (dazu Rn. 62). Bei der Betriebsübergangsrichtlinie ist fraglich, wie sie Arbeitnehmer schützen will (Rn. 65). De facto dient die vom EuGH gepflogene extensive Interpretation dieser Richtlinie vorwiegend dem Schutz der Arbeitnehmer. Dies vergrößert die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten eher als sie zu verringern. Die Betriebsübergangsrichtlinie liefert auch ein Beispiel für das Nebeneinander verschiedener Regelungszwecke im Unionsrecht und deren – fehlende – Abstimmung. Besonders auffällig ist das Urteil Abler, wo es um die Neuverpachtung einer Krankenhausküche ging; das bisherige Essen war den Patienten nicht länger zuzumuten.109 Sie verlangt bei einem gepachteten Betrieb, der auf der Seite des Pächters im Wesentlichen aus Kundenbeziehungen und der verpachteten Kücheneinrichtung besteht, die Übernahme des Personals durch den neuen Pächter. Damit wird eine Ausschreibung wohl zur Farce, jedenfalls wenn die bislang schlechte Qualität durch das Personal (mit)verursacht war. Der EuGH hat sich im Urteil Oy Liikenne bemüht, die Vereinbarkeit der Arbeitsvertragsübernahme mit den Wertungen des Vergaberechts (die er sonst bis zum Exzess strapaziert) darzutun.110 Allerdings überzeugen diese Versuche bislang nicht. Im Ergebnis können so jedenfalls viele Bemühungen um eine Ausschreibung von Dienstleistungsaufträgen konterkariert werden. 6.

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Pragmatische Schlüsse

Potacs fasst unter pragmatischen Schlüssen Umkehr-, Analogie- und Größenschluss zusammen. Soweit zu sehen, hat der EuGH noch in keinem Urteil zu arbeitsrechtlichen Fragen ausdrücklich einen Analogieschluss bejaht oder abgelehnt, obwohl er diesen Begriff in anderen Sachbereichen durchaus verwendet. Auch Schlussanträge argumentieren nur selten damit. Soweit zu sehen haben sie den von Verfahrensbetei-

107 Vgl. Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 461 ff.; Kaiser, NZA 2000, 1144, 1149. Soweit zu sehen gibt es in keinem Mitgliedstaat eine Interpretationsregel, wonach arbeitsrechtliche Gesetze im Zweifel zugunsten der Arbeitnehmer ausgelegt werden, auch wenn die Gerichtspraxis mancher Länder in diese Richtung gehen mag. 108 So zutreffend schon Schlachter, Der Europäischer Gerichtshof und die Arbeitsgerichtsbarkeit, S. 36. 109 EuGH v. 20.11.2003 – Rs. C-340/01 Abler u.a., Slg. 2003, I-14023 Rn. 30 ff. 110 EuGH v. 25.1.2001 – Rs. C-172/99 Oy Liikenne Ab, Slg. 2001, I-745 Rn. 22–25.

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ligten befürworteten Analogieschluss nur abgelehnt.111 Die eher geringe Rolle des Analogieschlusses im Gemeinschaftsrecht mag zum einen damit erklärt werden, dass er in anderen nationalen Methodenlehren weniger Bedeutung hat als in den deutschsprachigen Staaten. Zum anderen setzt eine Analogie das Feststellen einer planwidrigen Lücke voraus. Dies ist im Gemeinschaftsrecht bislang weitaus schwieriger als in einer nationalen Rechtsordnung, weil es zum Teil nur aus Fragmenten besteht, und im Übrigen weithin nicht als systematische Ordnung verstanden wird. Anders als der Analogieschluss findet sich der Umkehrschluss in Verbindung mit der Wortlautinterpretation häufiger als Argumentationsmittel.112 So hat etwa im Urteil Simap das vorlegende Gericht gefragt, ob die Ausnahme (nur) der Ärzte in Ausbildung e contrario für die Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie auf andere Ärzte spreche. Der EuGH geht darauf nicht ein, und bejaht die Anwendbarkeit ohne Bezugnahme auf die genannte Ausnahme.113 In den hier einschlägigen Schlussanträgen kommt das Wort Umkehrschluss allerdings kaum vor.114 Selten wird mit einem Größenschluss argumentiert.115 Auch wenn pragmatische Schlüsse selten explizit verwendet werden, schließt dies nicht aus, dass der EuGH faktisch jene Erwägungen und Interpretationen anstellt, die wir unter Analogie- und Umkehrschluss verstehen.116 Er spricht dann nur leider nicht davon, was die Diskussion der Begründungen erschwert. 7.

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Entstehungsgeschichte und Rechtsvergleichung

Die Entstehungsgeschichte, verstanden als Rückgriff auf die Materialien und den Gesetzgebungsprozess, spielt jedenfalls in den Entscheidungen zum Arbeitsrecht kaum eine Rolle.117 Die Schlussanträge nehmen häufiger auf die Entstehungsgeschichte Be-

111 Vgl. GA van Gerven, SchlA v. 30.1.1990 – Rs. 262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889 Tz. 21; GA Cosmas, SchlA v. 29.5.1997 – Rs. C-117/96 Mosbæk ./. Lønmodtagernes Garantifond, Slg. 1997, I-5017 Tz. 60; GA Jacobs, SchlA v. 23.3.2000 – Rs. C-180/98 Pavel Pavlov u.a., Slg. 2000, I-6451 Tz. 94. 112 EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 Dellas, Slg. 2005, I-10253 Rn. 43; EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99 The Queen ./. Secretary of State for Trade and Industry, ex parte BECTU, Slg. 2001, I-4881 Rn. 46 – BECTU; den Umkehrschluss ablehnend: EuGH v. 14.6.2007 – Rs. C-127/05 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, Slg. 2007, I-4619 Rn. 49. 113 EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Rn. 29–38. 114 Vgl. aber GA Kokott, SchlA v. 18.5.2004 – Rs. C-313/02 Wippel, Slg. 2004, I-9483 Tz. 82. 115 EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-234/96 und 235/96 Deutsche Telekom AG ./. Vick, Slg. 2000, I-929 Rn. 55; EuGH v. 9.3.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis 403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 112; EuGH v. 11.1.2007 – Rs. C-208/05 ITC GmbH ./. Bundesagentur für Arbeit, Slg. 2007, I-181 Rn. 27. 116 Vgl. z.B. EuGH v. 12.5.1985 – Rs. 284/83 Dansk Metalarbejderforbund ./. Nielsen & Søn, Slg. 1985, 553 Rn. 10 zur Massenentlassungsrichtlinie. 117 Es gibt kaum einschlägige Urteile, in denen „Entstehungsgeschichte“, „Wille des Gesetzgebers“ oder „historische Auslegung“ vorkommt, oder in denen sie eine Rolle spielen. Ausnahmen sind EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-448/93 Rockfon, Slg. 1995, I-4291 Rn. 33; EuGH v. 20.9.2007 – Rs. C-116/06 Kiiski, Slg. 2007, I-7643 Rn. 46. Zum Sozialrecht finden sich diese Begriffe hingegen zunehmend häufiger. Für eine größere Bedeutung der historischen Auslegung im Allgemeinen Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 30.

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zug,118 auch weil sich nationale Regierungen darauf berufen. Die Bedeutung der historischen Auslegung ist allerdings deutlich größer, wenn man dazu auch die Berufung auf Begründungserwägungen zählt.119 In einer wichtigen Frage hat sich der EuGH schon früh von der historischen Motivation der Norm gelöst, nämlich beim früheren Art. 119 EG, dem Vorläufer zu Art. 156 AEUV. Das Verbot der Diskriminierung beim Entgelt war eindeutig mit dem Ziel erlassen worden, eine Verfälschung des Wettbewerbs durch unterschiedliche nationale Regelungen zu verhindern. Der EuGH hat es hingegen sofort als sozialpolitische und wenig später als menschenrechtliche Norm verstanden.120 Der wirtschaftspolitische Zweck tritt demgegenüber zurück.121 Die Rechtsvergleichung hat in den arbeitsrechtlichen Entscheidungen eine sehr geringe Bedeutung.122 Insbesondere lässt sich der EuGH durch rechtsvergleichende Erwägungen nicht in seiner Auslegung beschränken.123 Die Stellungnahmen der Generalanwälte enthalten zuweilen rechtsvergleichende Ausführungen; zu nennen sind insbesondere jene von Generalanwalt Jacobs zur Frage, ob es eine gemeinschaftsrechtliche Absicherung der Tarifautonomie gebe.124 Jüngst hätte der EuGH seine Auffassung, das Recht auf kollektive Maßnahmen sei ein allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, jedenfalls in Bezug auf den Streik (kaum hingegen in Bezug auf den Boykott) überzeugend aus der – rechtsvergleichend ermittelten – Verfassungstradition der Mitgliedstaaten begründen können, hat stattdessen aber einen weit weniger überzeugenden Weg gewählt (vgl. unten, Rn. 49).

118 Z.B. GA Geelhoed, SchlA v. 6.2.2003 – Rs. C-25/02 Rinke, Slg. 2003, I-8349 Tz. 63 f. 119 Dafür Höpfner/Rüthers, AcP 2009, 1, 15; Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 33. Beispiel jüngst etwa in EuGH v. 23.4.2009, verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 Rn. 72, 80, 111, 148; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling SA, (noch nicht in Slg.) Rn. 39; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-537/07 Gómez-Limón SánchezCamacho ./. INSS, (noch nicht in Slg.) Rn. 60 ff. 120 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne ./. SABENA, Slg. 1976, 455 Rn. 8 ff. – Defrenne II, dort Sozialpolitik; EuGH v. 15.6.1978 – Rs. 149/77 Defrenne ./. SABENA, Slg. 1978, 1365 Rn. 27 – Defrenne III, dort Menschenrecht. 121 EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Deutsche Post ./. Sievers und Schrage, Slg. 2000, I-929 Rn. 53 ff. 122 Bei allgemeinen Fragen wie Staatshaftung, Verhältnismäßigkeit und Grundrechte hat die Rechtsvergleichung mehr Bedeutung; Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 383 ff. S.a. Schwartze, in diesem Band, § 4 Rn. 23 ff. 123 Zum Versuch mancher Autoren, dies zur Betriebsübergangsrichtlinie zu tun, vgl. Simitis, in: Sciarra (Hrsg.), Labour Law and the Courts, S. 297 ff. Zu Zielen einer Interpretation auf rechtsvergleichender Grundlage vgl. Deinert, Der europäische Kollektivvertrag (1999), S. 289 ff. mwN. 124 GA Jacobs, verb. SchlA v. 28.1.1999 – Rs. C-67/96, verb. Rs. C-115/97 bis C-117/97 und Rs. C-219/97 Albany u.a., Slg. 1999, I-5751 Tz. 79 ff. Robert Rebhahn

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8.

Allgemeine Rechtsgrundsätze

a)

Grundrechte

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Der EuGH argumentiert auch zum Arbeitsrecht zuweilen mit Grundrechten. Die Regel, wonach „abgeleitetes Gemeinschaftsrecht gemäß den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts ausgelegt wird“, wird auch in arbeitsrechtlichen Urteilen zum Ausdruck gebracht.125 Allerdings prüft der EuGH bislang kaum von sich aus, ob (sein Verständnis von) Sekundärrecht mit Grundrechten vereinbar ist. Die „Befugnis des nationalen Gesetzgebers“, – hier: festzulegen, welche Leistungen zu Lasten der Garantieeinrichtung gehen – „findet ihre Grenze in der Beachtung der Grundrechte, zu denen insbesondere der allgemeine Grundsatz der Gleichheit und der Nichtdiskriminierung gehört. Nach diesem Grundsatz dürfen gleiche Sachverhalte nur unterschiedlich behandelt werden, wenn eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt ist.“126 Zuweilen nimmt der EuGH auch auf die Gemeinschaftscharta über die sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer aus 1989 Bezug.127 Bis vor kurzem hatten diese Hinweise allerdings wohl keine tragende Bedeutung.

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Zu den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts zählt insbesondere die Beseitigung von Diskriminierungen aufgrund bestimmter Merkmale. Seit langem trifft dies für Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts zu.128 2005 hat der EuGH im Urteil Mangold ausgesprochen, dass das Primärrecht auch die Diskriminierung aufgrund des Alters verbietet, und zwar auch zwischen Privaten.129 Dies kam für viele überraschend, wurde die Einführung dieses Verbots durch eine Richtlinie doch eben erst als große Neuerung angesehen. Das Urteil liest das Verbot ohne Begründung in völkerrechtliche Verträge und eine angebliche gemeinsame Verfassungstradition der Mitgliedstaaten hinein.130 Dies kann allenfalls überzeugen, wenn der EuGH als allgemeinen Grundsatz nur die Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes auf Unterscheidungen nach dem Alter meint, nicht hingegen wenn er damit ein spezifisches und strengeres Verbot der Diskriminierung aufgrund des Alters meint. Das Urteil Mangold war zu dieser zentralen Frage zumindest unklar, das Urteil Kücükdevici

125 Z.B. EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, Slg. 2006, I-2397 Rn. 32. 126 EuGH v. 12.12.2002 – Rs. C-442/00 Rodríguez Caballero, Slg. 2002, I-11915 Rn. 29 ff.; EuGH v. 16.12.2004 – Rs. C-520/03 Olaso Valero, Slg. 2004, I-12065 Rn. 34. 127 EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 Dellas, Slg. 2005, I-10253 Rn. 40. 128 EuGH v. 15.6.1978 – Rs. 149/77 Defrenne ./. SABENA, Slg. 1978, 1365 Rn. 26 – Defrenne III; EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-13/94 P. ./. S. and Cornwall County Council, Slg. 1996, I-2143 Rn. 19. 129 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981; krit. z.B. Preis, NZA 2006, 401. Das Urteil wird von vielen als dunkel bis unverständlich gekennzeichnet. Unterschiedlich gesehen wird auch, ob die Bezugnahme auf das Primärrecht überhaupt erforderlich war; vgl. Wank, FS Birk (2008), S. 941. 130 Zuvor hatte der EuGH noch entschieden, dass in internationalen Verträgen anerkannte Grundrechte auf Nichtdiskriminierung die Zuständigkeiten der Gemeinschaft nicht erweitern könnten; EuGH v. 17.2.1998 – Rs. C-249/96 Grant ./. South-West Trains, Slg. 1998, I-621 Rn. 45 f.

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hat nun – apodiktisch – wohl das Zweite vertreten.131 Manche sehen im Urteil einen „ausbrechenden Rechtsakt“, mit dem der EuGH seine Kompetenzen überschritten hätte, falls daraus (auch für andere in Art. 19 AEUV genannte Merkmale) ein strenges Diskriminierungsverbot folge, das zwischen Privaten wirkt. In Bezug auf Unterscheidungsmerkmale, die nicht in Art. 19 AEUV genannt sind, hat der EuGH die Reichweite der Mangold-These wohl bereits im Urteil Chacon Navas entscheidend reduziert.132 Darin wird ein unmittelbar wirkendes Verbot der Diskriminierung aufgrund von Krankheit im Berufsleben zwar nicht ausdrücklich, aber doch wohl eindeutig abgelehnt, weil das Gemeinschaftsrecht ein derartiges Verbot derzeit nicht kennt. Entscheidungswesentlich war das Argument des Grundrechts wohl auch im Urteil Katsikas zur Frage, ob die in der Betriebsübergangsrichtlinie vorgesehenen Rechtsfolgen auch eintreten, falls der Arbeitnehmer dem Übergang des Arbeitsverhältnisses ausdrücklich widerspricht. Frühere Entscheidungen waren dahin interpretiert worden, dass ein Widerspruch unbeachtlich sei. 1992 erklärte der EuGH aber, dass er derartiges nie entschieden habe, und lässt den Widerspruch ausdrücklich zu. Ein wesentliches Argument dafür ist auch, dass eine Verpflichtung der Arbeitnehmer, gegen ihren Willen beim Erwerber zu arbeiten, gegen Grundrechte des Arbeitnehmers verstieße, der bei der Wahl seines Arbeitgebers frei sein muss.133 Allerdings überlässt der EuGH die Regelung der Rechtsfolgen eines Widerspruchs dem nationalen Recht. Das nationale Recht darf daher auch das Ende des Arbeitsverhältnis als Rechtsfolge vorsehen, und vielleicht auch das Einhalten einer Kündigungsfrist.

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Die Vereinigungsfreiheit wurde erstmals im Fall Bosman als Gemeinschaftsgrundrecht anerkannt.134 Allerdings ging die Freizügigkeit der Arbeitnehmer vor. Auch die Tarifautonomie wurde in einigen Verfahren an sich anerkannt, konnte bisher aber die Anwendung des Gemeinschaftsrechts in der Regel nicht verhindern.135 Die Frage nach einem Grundrecht auf Tarifautonomie trat zum ersten Mal im Urteil Albany aus 1999 klar zu Tage.136 Generalanwalt Jacobs hat dazu umfassende Überlegungen angestellt, und die Frage verneint.137 Der EuGH hat aufgrund systematischer und teleologischer Überlegungen entschieden, dass Tarifverträge der Sozialpartner, die

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131 EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-550/07 Kücükdevici, (noch nicht in Slg.) Rn. 21 f. unter Berufung auf Art. 21 Abs. 1 GRCh. Vgl. zu verschiedenen Urteilen und Schlussanträgen zwischen Mangold und Kücükdevici insbes. GA Sharpston, SchlA v. 22.5.2008 – Rs. C-427/06 Bartsch ./. Bosch, Slg. 2008, I-7245 Tz. 28 ff. 132 EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-13/05 Chacon Navas, Slg. 2006, I-6467 Rn. 53 ff. 133 EuGH v. 16.12.1992 – Rs. C-132/91 Katsikas u.a. ./. Konstantinidis u.a., Slg. 1992, I-6577. 134 EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 79. 135 Vgl. z.B. EuGH v. 7.2.1991 – Rs. C-184/89 Nimz ./. Freie und Hansestadt Hamburg, Slg. 1991, I-297 Rn. 11; EuGH v. 21.10.1999 – Rs. C-333/97 Lewen, Slg. 1999, I-7243 Rn. 26; EuGH v. 28.10.1999 – Rs. C-187/98 Kommission ./. Griechenland, Slg. 1999, I-7713 Rn. 46, alle zu Art. 141 EG. Ferner z.B. EuGH v. 30.1.1985 – Rs. 143/83 Kommission ./. Dänemark, Slg. 1985, 427 Rn. 8. 136 EuGH v. 21.9.1999 – Rs. C-67/96 Albany, Slg. 1999, I-5751. 137 GA Jacobs, verb. SchlA v. 28.1.1999 – Rs. C-67/96, verb. Rs. C-115/97 bis C-117/97 und Rs. C-219/97 Albany u.a., Slg. 1999, I-5751 Tz. 132–160. Robert Rebhahn

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der Verbesserung von Arbeitsbedingungen dienen, nicht unter das Kartellverbot (Art. 101 AEUV/81 EG) fallen. Er konzentriert seine Überlegungen aber auf das Allernotwendigste, und nimmt zu einem Grundrecht nicht Stellung. 2006 hat der EuGH bei der Auslegung von Art. 3 Betriebsübergangsrichtlinie mit dem Grundrecht des Arbeitgebers auf negative Koalitionsfreiheit argumentiert.138 Es ging um den nach Betriebsübergang auf einen nicht tarifgebundenen Erwerber anwendbaren Tarifvertrag. Der EuGH billigte die Anwendung des bisher anwendbaren Tarifvertrages mit versteinertem Inhalt. Eine dynamische Übernahme lehnte er auch mit dem Argument ab, diese Dynamik würde die negative Koalitionsfreiheit des Erwerbers verletzen. Diese Bezugnahme war m.E. nicht notwendig. Sie ist zu kursorisch begründet, und sie unterscheidet nicht ausreichend zwischen der Anordnung einer dynamischen Verweisung durch Gesetz oder durch Vertrag oder durch ergänzende Auslegung. Ein derart oberflächlicher Umgang mit Grundrechten dürfte diesen auf Dauer mehr schaden als nutzen. Insbesondere darf aus dem Urteil Werhof nicht auf die Unzulässigkeit der Erstreckung von Tarifverträgen auf Ungebundene geschlossen werden. Von dieser Zulässigkeit geht auch das Sekundärrecht, insb. die Entsenderichlinie, aus.

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2007 nahm der EuGH erstmals zur Anwendbarkeit der Grundfreiheiten auf Arbeitskampfmaßnahmen Bezug. Die beiden Urteile ITF/Viking Line und Laval haben dabei – ebenfalls erstmals – ausdrücklich gesagt, dass das Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme ein fester Bestandteil der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und damit ein Gemeinschaftsgrundrecht sei.139 Der EuGH hätte dieses Grundrecht – jedenfalls in Bezug auf Streiks um eigene Arbeitsbedingungen – methodisch überzeugend aus der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten, und allenfalls auch (nur) aus der GRCh ableiten können. Er hat hingegen leider den Weg über ein Amalgam aus Hinweisen gewählt, der methodisch fragwürdig und rechtlich gefährlich ist.140 Konkret hat das neu „entdeckte“ Grundrecht aber keine Bedeutung für die Urteile, weil diese zur Rechtfertigung der Beschränkung der Grundfreiheit durch Streik bzw. Boykott nur die sozialpolitischen Ziele der EG heranziehen (vgl. unten, Rn. 63). Der EuGH hat damit eine wichtige Gelegenheit versäumt, methodisch klar zur Bedeutung der Gemeinschaftsgrundrechte Stellung zu nehmen. b)

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Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Der EuGH hat schon früh zur mittelbaren Diskriminierung eine Rechtfertigung – nur – zugelassen, wenn die Unterscheidung zum Erreichen eines legitimen Zieles geeignet und erforderlich ist. Er hat damit den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – ohne direkte Grundlage im positiven Recht der Union – in das Arbeitsverhältnis ein-

138 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, Slg. 2006, I-2397 Rn. 33 ff. Dazu Thüsing, NZA 2006, 473. 139 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 ITF ./. Viking Line, Slg. 2007, I-10779 Rn 43 f.; EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 Laval un Partneri, Slg. 2007, I-11767 Rn. 90 f. 140 Vgl. z.B. Rebhahn, ZESAR 2008, 109, 111.

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§ 18 Europäisches Arbeitsrecht

geführt. Inzwischen hat der Gemeinschaftsgesetzgeber nachgezogen.141 Das Anwenden des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zwischen Privaten ist aus unserer Sicht durchaus bemerkenswert, und aus traditioneller Sicht eher systemfremd.142 Die Frage, ob eine Differenzierung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht, ist derzeit wohl der wichtigste unbestimmte Begriff im gemeinschaftsrechtlichen Arbeitsrecht. Der EuGH überlässt die Prüfung der Verhältnismäßigkeit in weitem Umfang den nationalen Gerichten, und gibt nur wenige Vorgaben. Das ist dort, wo es um die Anwendung einer Richtlinie geht, durchaus nachvollziehbar, weil die Richtlinie die Entscheidung eben nicht voll determiniert. Allerdings zerfällt auf diese Weise gerade der entscheidende Teil der mittelbaren Diskriminierung in nationale Teilrechtsordnungen. Auch methodisch fragwürdig ist die Verweisung auf die nationale Judikatur hingegen bei der mittelbaren Diskriminierung beim Entgelt, weil das Verbot des Art. 157 AEUV/141 EG unmittelbar anwendbar ist. Allerdings erreicht der EuGH so einen Gleichklang der Kontrolldichte bei Entgelt und sonstigen Arbeitsbedingungen. c)

Vertrauensschutz

Der EuGH berücksichtigt im Allgemeinen bei der Auslegung auch das Argument des Vertrauensschutzes, auch wenn die Norm es nicht ausdrücklich nennt. Im Arbeitsrecht stellt sich die Frage des Vertrauensschutzes vor allem bei den Sanktionen für Diskriminierung, insbesondere bei Betriebspensionen. Hat der Arbeitgeber etwa teilzeitbeschäftigte Frauen benachteiligt, so fragt sich, inwieweit er auch für die Vergangenheit nachträglich Anwartschaften begründen oder Pensionen nachbezahlen muss. Der EuGH vertritt generell eine sehr scharfe Haltung zur Frage, inwieweit seine Judikatur auch dann zurückwirkt, wenn die Rechtslage eher unklar war;143 diese scharfe Haltung ist aber methodisch kaum begründet. Er hat diese Haltung grundsätzlich auch bei den Betriebspensionen vertreten.144 Die Judikatur zum Verbot der mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere von teilzeitbeschäftigten Frauen, wirkt daher bereits seit jenem Zeitpunkt, zu dem der EuGH erstmals die unmittelbare Wirkung des früheren Art. 119 EGV (heute Art. 157 AEUV) im Arbeitsverhältnis und dessen Anwendbarkeit auf Betriebspensionen ausgesprochen hat, also seit 1976 – obwohl der EuGH das Verbot der mittelbaren Diskriminierung erst später konkret entwickelt hat. Der EuGH kümmert sich hier wenig um die methodische Frage, ob es nicht Gründe gegen diese Rückwirkung gibt, zumal diese für die Durchsetzung in der Zukunft nicht notwendig ist.

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Der EuGH begrenzt die Rückwirkung vielmehr nur dann, wenn der Unionsgesetzgeber selbst den Eindruck erweckt hat, dass eine Diskriminierung auch den privaten Arbeitgebern erlaubt sei, nämlich beim Anfallsalter der Betriebspensionen. Ver-

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141 Z.B. Art. 2 Abs. 2 Sps. 2 der Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207/EWG idF der 2002/73/EG (s.o. Fn. 33). 142 Vgl. zum Thema H. Hanau, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke privater Gestaltungsmacht (2004). 143 Vgl. EuGH v. 18.1.2007 – Rs. C-313/05 Brzezin´ski, Slg. 2007, I-513, Rn. 55 ff. 144 Vgl. z.B. EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-57/93 Vroege ./. NCIV, Slg. 1994, I-4541.

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trauensschutz wird also nur bei Maßnahmen des Gesetzgebers gewährt.145 Einen „partiellen Vertrauensschutz“ für Normunterworfene einzelner Staaten hat der EuGH auch in der Rechtssache Junk nicht erwogen, wo angesichts unterschiedlicher Wortfassungen der Richtlinie die Grundlage für Vertrauensschutz in den Mitgliedstaaten unterschiedlich waren und die Auslegung der Massenentlassungsrichtlinie durch den EuGH der bis dahin allgemein anerkannten Auslegung in einem Staat (hier Deutschland) widersprach.146 Das Urteil Impact hat hingegen die Pflicht verneint, ein nationales Gesetz gemeinschaftsrechtskonform rückwirkend auszulegen, wenn dies aus nationaler Sicht eindeutig „contra legem“ wäre. Die Rückwirkung einer Auslegung des EuGH wird dadurch aber wohl nicht unmittelbar eingeschränkt.147 9.

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Rechtsfortbildung

Wie erwähnt haben arbeitsrechtliche Fälle dem EuGH häufig den Anlass für entscheidende Schritte bei der Ausdehnung/Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts gegeben, die man nur mehr als Rechtsfortbildung einordnen kann.148 Am Anfang war es insbesondere das Verbot der Entgeltdiskriminierung des alten Art. 119 EGV (heute Art. 156 AEUV). 1976 hat das Urteil Defrenne II die unmittelbare Anwendung zwischen Privaten bejaht.149 Begründet wurde dies vergleichsweise wenig und nur mit Argumenten, welche die Mitgliedstaaten betreffen; auf die Pflichten, die sich daraus für Private ergeben, geht das Urteil mit keinem Wort ein. Es spricht auch schon von den mittelbaren Diskriminierungen, verweist dafür aber noch auf nationale Vorschriften. 1981 wurde dann auch das Verbot der mittelbaren Diskriminierung als unmittelbar anwendbar angesehen, ohne Anhaltspunkt im Normtext.150 Auch die Begründung entspricht bei weitem nicht jenen methodischen Anforderungen, die in vielen Rechtsordnungen gestellt werden. 1986 wurde dann für die Gleichbehandlungsrichtlinie erstmals die unmittelbare Anwendung von Richtlinien gegenüber dem Staat bejaht.151 Ebenfalls 1986 wurde erstmals gesagt, dass eine mittelbare Diskriminierung nur zulässig ist, wenn die vom Arbeitgeber „gewählten Mittel einem wirklichen Bedürfnis des Unternehmens dienen und für die Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sind.“152 Damit hat der EuGH den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in das Arbeitsrechtsverhältnis eingeführt. Er hatte dafür zwar Vorbilder bei den Grundfreiheiten, die Geltung des Grundsatzes zwischen Privaten ist aber doch eine

145 146 147 148

151 152

Vgl. Blomeyer, NZA 1995, 49 ff.; ders., NZA-RR 1999, 337 f. Wank, FS Birk (2008), S. 936 f. EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact, Slg. 2008, I-2483 Rn. 103. Umstritten ist allerdings schon die Grenze, ab der Rechtsfortbildung vorliegt. Vgl. z.B. Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 277 ff., der die Grenze eher spät zieht. S.a. Neuner, in diesem Band. § 13 Rn. 2. EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne ./. SABENA, Slg. 1976, 455 Rn. 8 ff. – Defrenne II. EuGH v. 31.3.1981 – Rs. 96/80 Jenkins ./. Kingsgate, Slg. 1981, 911 Rn. 17 f.; vgl. auch EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 129/79 Macarthys ./. Smith, Slg. 1980, 1275; EuGH v. 11.3.1981 – Rs. 69/80 Worringham and Humphreys ./. Lloyds Bank, Slg. 1981, 767. EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, Slg. 1986, 723 Rn. 48 f. – Marshall I. EuGH v. 13.5.1986 – Rs. 170/84 Bilka ./. Weber von Hartz, Slg. 1986, 1607 Rn. 36.

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andere Dimension. 1991 hat das Urteil Francovich an der Insolvenzschutzrichtlinie die Haftung der Mitgliedstaaten für eine fehlerhafte Ausführung von Richtlinien begründet.153 2004 schließlich hat das Urteil Pfeiffer die Anforderungen an die richtlinienkonforme Interpretation nach Ansicht vieler entscheidend erhöht.154 Im Urteil Viking bejaht der EuGH eine Bindung auch der Gewerkschaften an die Grundfreiheiten, so wie er bereits für andere Fälle eine Bindung Privater bejaht hat. Allerdings wird auch hier die Frage, inwieweit Private gebunden sind, nicht wirklich begründet. In all diesen Entscheidungen begnügt sich der EuGH offenbar zum wesentlichen Punkt letztlich mit der folgenden Aussage: Es soll so sein, weil wir es so wollen. Näher kann auf diese allgemeinen Fragen hier nicht eingegangen werden.155

IV.

Ausgewählte Entscheidungen und Fragen

1.

Begriff des Arbeitnehmers

Ausgangspunkt der arbeitsrechtlichen Normen der EU ist der Begriff Arbeitnehmer. Der AEUV verwendet ihn vor allem in Art. 45 zur Freizügigkeit, in Art. 153 zur Kompetenz der Union, und in Art. 157 zum Diskriminierungsverbot. Die Judikatur hatte sich lange nur mit der Freizügigkeit zu befassen, und diesen Begriff eher traditionell ausgelegt.156 Dabei konnte und musste sie den systematischen Zusammenhang mit den Grundfreiheiten der Selbständigen beachten; eine Tätigkeit konnte nur entweder unter die Arbeitnehmer- oder unter die Niederlassungsfreiheit fallen. Bei Art. 153 und 157 AEUV fehlt diese Beschränkung durch systematische Interpretation.157 In der ersten Entscheidung, in der es zentral um den Arbeitnehmerbegriff des Art. 157 AEUV/141 EG ging, dem Urteil Allonby aus 2004, geht der EuGH zwar davon aus, dass das Gemeinschaftsrecht keinen einheitlichen Begriff des Arbeitnehmers kennt.158 Gleichwohl hat er die Rechtsprechung zum früheren Art. 39 EG (heute Art. 45 AEUV) im Wesentlichen auf Art. 157 AEUV/141 EG übertragen und setzt sich mit dem Vortrag der Kommission, dass man bei Art. 157 AEUV/141 EG den Be-

153 EuGH v. 19.11.1991 – Rs. C-6/90 Francovich und Bonifaci ./. Italien, Slg. 1991, I-5357 – Francovich I. Rechtsfortbildend war, dass nationale Parlamente als Vollzugsorgane angesehen werden. 154 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835. 155 Dafür werden regelmäßig verschiedene „Erklärungen“ angeboten, wie Arbeitslast, schwierige Entscheidungsbedingungen und Zwang eines Kollegialorgans; z.B. O’Leary, Employment Law, S. 25 ff. mwN. Diese Umstände mögen Ursachen sein, ändern aber nichts am Defizit. Noch weniger tauglich zur Rechtfertigung ist der Hinweis, der EuGH habe sich dem französischen Stil angeschlossen (s. dazu Babusiaux, in diesem Band, § 24 Rn. 15), weil der EuGH eben kein nationales Gericht ist und sich die Gemeinschaft nicht mit dem abspeisen lassen muss, was in manchen Ländern vor einem anderen Hintergrund zum Verhältnis von Gesetzgeber und Gericht ausreicht. 156 Vgl. z.B. Hanau/Steinmeyer/Wank-Wank, § 14 Rn. 3 ff.; EuGH v. 17.7.2008 – Rs. C-94/07 Raccanelli, Slg. 2008, I-5939 Rn. 32–34. 157 Vgl. Schwarze-Rebhahn/Reiner, Art. 137 EG Rn. 13. 158 EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-256/01 Allonby, Slg. 2004, I-873 Rn. 62 ff.

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3. Teil: Besonderer Teil

griff der Arbeitnehmer weiter verstehen könne, nicht wirklich auseinander. Den Begriff des Arbeitnehmers versteht der EuGH als typologischen Begriff, bei dem es im Wesentlichen auf die persönliche Unterordnung und nicht auf die wirtschaftliche Abhängigkeit ankommt. Dies entspricht dem Verständnis der meisten Mitgliedstaaten; 159 bemerkenswert ist, dass der EuGH hier die übliche Orientierung am effet utile und ähnlichem vermeidet. Der Verweis auf nationale Rechtsvorschriften bezieht sich aber nicht auch auf Modifikationen bei der Festlegung eines Schwellenwertes; es widerspricht daher der „Ergebnispflicht“ der Mitgliedstaaten, wenn sie etwa Teilzeitarbeitnehmer nur anteilig berücksichtigen.160 Der EuGH lässt auch dann keine Einschränkung dieser Ergebnispflicht zu, wenn die Modifikation Unternehmer zur Einstellung von Arbeitnehmern motivieren soll.

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Arbeitnehmer im Sinne des Unionsrechts könnten grundsätzlich auch Personen sein, die nach nationalem Recht nicht Arbeitnehmer sind. Wohl aus diesem Grund verwenden viele arbeitsrechtliche Richtlinien aber keinen einheitlichen Begriff der Arbeitnehmer, sondern wollen nur auf jene Personen Anwendung finden, welche nach nationalem Recht Arbeitnehmer sind. Die Entscheidung, ob eine Richtlinie einen einheitlichen Begriff verwendet oder auf die nationalen Begriffe verweist, erfolgte primär nach dem Wortlaut und subsidiär nach dem Regelungszweck.161 Neuere Richtlinien verbieten allenfalls zusätzlich, die Arbeitnehmereigenschaft aus bestimmten Gründen zu verneinen.162 Das führt zu dem seltsamen Ergebnis, dass das Unionsrecht für dasselbe wirtschaftliche Phänomen in manchen Staaten gilt, in anderen nicht. Die Bedeutung dieser Unterschiede wächst mit der Zahl der Fälle im Bereich zwischen eindeutiger Unselbständigkeit und eindeutiger Selbständigkeit. Inhaltlich halte ich diesen national unterschiedlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts für fragwürdig.163 2.

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Verbot der Diskriminierung

Gerade bei den Verboten der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts hat der EuGH in wichtigen Fragen wohl die Grenzen dessen überschritten, was in Deutschland und Österreich als Aufgabe der Rechtsprechung angesehen würde; darauf wurde bereits hingewiesen (vgl. insbes. oben, Rn. 3 und 53). Hier soll nur auf drei weitere Fragen hingewiesen werden. Zentral für Art. 157 AEUV/141 EG ist auch der Begriff des Entgelts. Der EuGH interpretiert hier Entgelt sehr weit und schließt jede Zuwendung ein, die ihre Ursache im Arbeitsverhältnis hat. Ob auch das nationale Arbeits-

159 Vgl. z.B. Rebhahn, RdA 2009, 154 ff. 160 EuGH v. 18.1.2007 – Rs. C-385/05 CGT ./. Premier ministre, Slg. 2007, I-611 Rn. 30 ff. 161 Vgl. z.B. EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 Foreningen af arbejdsledere i Danmark ./. Danmols Inventar, Slg. 1985, 2639; EuGH v. 23.3.1982 – Rs. 55/81 Levin, Slg. 1982, 1035; Pottschmidt, Arbeitnehmerähnliche Personen in Europa (2006), S. 23 ff. 162 Vgl. Pottschmidt, Arbeitnehmerähnliche Personen in Europa (2006), S. 200 ff. 163 So kann z.B. die Betriebsübergangs-Richtlinie bei Privatisierung auf Beschäftigte mit öffentlich-rechtlichem Dienstverhältnis unanwendbar sein; vgl. GA Maduro, SchlA v. 27.1.2005 – Rs. C-478/03 Celtec, Slg. 2005, I-4389 Tz. 16 f.

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recht einen Vorteil als Entgelt ansieht, oder im Gegenteil als entgeltfremden Vorteil, spiele keine Rolle. Die Diskussion um die Fortbildung teilzeitbeschäftigter Betriebsratsmitglieder hat dies gezeigt.164 Die weite Auslegung kann sich auf den Wortlaut des Vertrages stützen, der schon früher in Art. 119 EGV „aufgrund des Dienstverhältnisses“ sagte. Überdies führt der EuGH für die weite Auslegung wiederholt auch den Zweck an. Methodisch ist die weite Auslegung des EuGH grundsätzlich überzeugend; die konkrete Entscheidung zu den Betriebsratsmitgliedern soll hier nicht beurteilt werden. Ein zunehmend aktuelles Problem zum Inhalt des Verbotes stellt der Satz dar, dass die Diskriminierungsverbote nur gelten, wenn sich die Arbeitnehmer in vergleichbarer Lage befinden. Differenziert eine Regelung direkt nach einem missbilligten Kriterium, etwa zwischen Frauen und Männern, so lässt sich mit der Behauptung, es liege gar keine vergleichbare Lage vor, die Unzulässigkeit vermeiden. Denn eine unmittelbare Diskriminierung kann in der Regel nicht gerechtfertigt werden. Der Ausgangssatz ist kaum angreifbar, weil jede Anwendung des Gleichheitssatzes voraussetzt, dass vergleichbare Lagen vorliegen. Der EuGH verwendet die genannte Behauptung aber zunehmend. So hat sich zum Fall Hlozek, es ging um Sozialplanzahlungen,165 Generalanwältin Kokott bemüht darzutun, dass die Lagen vergleichbar sind.166 Der EuGH hat mit wenigen Absätzen anders befunden, ohne sich mit den Ausführungen der Generalanwältin auseinanderzusetzen. Meist wird mit dem Argument der nicht vergleichbaren Lage einer nachprüfbaren Diskussion ausgewichen. Dies gilt wohl auch in Bezug auf das Urteil Wippel zum Benachteiligungsverbot der Teilzeitrichtlinie. Die Lage von teilzeitbeschäftigten Personen, die ohne vorangehende Pflicht auf Abruf arbeiten, sei nicht an diesem Verbot zu messen, weil es im Unternehmen keine Vollzeitbeschäftigten mit Arbeit auf Abruf ohne vorangehende Leistungspflicht gegeben habe.167 Die Entscheidung über eine Diskriminierung verlagert sich damit tendenziell von der Rechtfertigung zum Tatbestand hin. Es wäre besser, stattdessen auch bei unmittelbarer Diskriminierung eine Rechtfertigung potentiell zuzulassen, und diese dafür streng zu handhaben. Als Konkretisierung der vergleichbaren Lage kann man ansehen, dass das Diskriminierungsverbot nur für Regelungen anwendbar ist, die von derselben Quelle stammen.168 Dies erlaubt auch unterschiedliche Marktergebnisse auf unterschiedlichen Teilmärkten; dies wiederum berücksichtigt systematische und teleologische Aspekte bei der Anwendung des Verbotes.

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Besondere Probleme haben Reaktionen der Arbeitgeber auf die Schwangerschaft bereitet. Der EuGH hat sich hier für die Einordnung einer Benachteiligung als direkte

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164 Vgl. EuGH v. 4.6.1992 – Rs. C-360/90 Arbeiterwohlfahrt der Stadt Berlin ./. Bötel, Slg. 1992, I-3589 und EuGH v. 6.2.1996 – Rs. C-457/93 Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation ./. Lewark, Slg. 1996, I-243 und dazu z.B. Kaiser, NZA 2000, 1144, 1146 f. mwN. 165 EuGH v. 9.12.2004 – Rs. C-19/02 Hlozek, Slg. 2004, I-11491 insbes. Rn. 44 ff. 166 GA Kokott, SchlA v. 1.4.2004 – Rs. C-19/02 Hlozek, Slg. 2004, I-11491 Tz. 53 ff. 167 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-313/02 Wippel, Slg. 2004, I-9483 Rn. 52 ff. 168 EuGH v. 17.9.2002 – Rs. C-320/00 Lawrence ./. Regent Office Care Ltd, Slg. 2002, I-7325 Rn. 18. Robert Rebhahn

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Diskriminierung entschieden.169 Gründe dafür waren wohl der damals nur rudimentäre Normenbestand sowie das Streben nach besonders gutem Schutz. Er hat dabei wirtschaftliche Überlegungen zu den Kosten für die Arbeitgeber, wie auch sonst bei Diskriminierungen, weitgehend nicht beachtet. In einem Teilbereich dürfte dieses Kostenargument aber doch eine – wenn auch nicht offen gelegte – Rolle gespielt haben, und zwar bei den Zahlungen während des Mutterschaftsurlaubes.170 Ähnlich dürfte es m.E. beim Schutz gegen eine Entlassung aufgrund schwangerschaftsbedingter Krankheit sein. Der EuGH hat diesen, ohne nähere Begründung, mit dem Ende des Mutterschaftsurlaubes enden lassen.171 Man wird dies am ehesten als (verdeckte) teleologische Interpretation deuten. Aus methodischer Sicht interessant ist die Korrektur in einem Teilbereich. Die 6. Kammer sah 1997 in der Begründung einer Entlassung mit Fehlzeiten aufgrund schwangerschaftsbedingter Krankheit vor Beginn des Mutterschaftsurlaubes keine Diskriminierung, das Plenum ein Jahr später sehr wohl eine Diskriminierung.172 Das Plenum argumentiert hier – vergleichsweise ausführlich – mit Wortlaut und Zweck der Richtlinie.

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Methodisch interessant sind Entscheidungen zur erforderlichen Sanktion. In den Urteilen Dekker und Draehmpaehl wurde primär aus dem Wortlaut der Richtlinie abgeleitet, dass es nicht auf Verschulden oder Rechtfertigungsgründe ankommen darf, weil die Richtlinie eine solche Einschränkung nicht vorsieht. Überdies wird gesagt, dass andernfalls die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigt wäre.173 Das überzeugt in der Sache jedenfalls dort, wo der Arbeitgeber die Diskriminierung noch in der Zukunft beheben kann sowie in jenen Fällen, in denen die Diskriminierung durch Nachzahlung des Vorenthaltenen beseitigt werden kann. Bei weitergehenden Ersatzansprüchen ist die Lage hingegen fraglicher, auch weil der Mitgliedstaat damals auch eine rein öffentlichrechtliche Strafsanktion hätte wählen können, und diese schon wegen der EMRK wohl nur bei Verschulden verhängt werden kann. Der EuGH hätte sein Ergebnis also wohl besser begründen sollen. Heute verlangen die Richtlinien nur bei Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes ausdrücklich einen verschuldensunabhängigen Ersatzanspruch, während die Antidiskriminierungsrichtlinie174 nur abschreckende Sanktionen verlangt. Man steht dann vor der Frage, ob aus dem Vergleich sachlich verwandter Richtlinien ein Analogie- oder ein Gegenschluss gezogen werden kann.175 169 EuGH v. 8.11.1990 – Rs. 177/88 Dekker, Slg. 1990, I-3941 Rn. 12 f. 170 Vgl. dazu O’Leary, Employment Law, 197 ff. 171 EuGH v. 8.11.1990 – Rs. 179/88 Hertz, Slg. 1990, I-3979; vgl. O’Leary, Employment Law, 193 ff. 172 EuGH v. 29.5.1997 – Rs. C-400/95 Larsson ./. Føtex Supermarked A/S, Slg. 1997, I-2757; EuGH v. 30.6.1998 – Rs. C-394/96 Brown ./. Rentokil, Slg. 1998, I-4185 Rn. 21 ff. 173 EuGH v. 8.11.1990 – Rs. C-177/88 Dekker, Slg. 1990, I-3941 Rn. 22; EuGH v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 Draehmpaehl, Slg. 1997, I-2195 Rn. 17 ff. 174 Richtlinie 2000/78/EG des Rates v. 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000 L 303/16. 175 Vgl. Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 159 ff.; Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 68 ff. nehmen dazu nicht Stellung.

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§ 18 Europäisches Arbeitsrecht

3.

Grundfreiheiten und Arbeitsrecht

Die arbeitsrechtlichen Vorschriften stehen zuweilen in engem Zusammenhang mit anderen Teilgebieten des Unionsrechts. Dies gilt vor allem für die Grundfreiheiten. 1974 hat der EuGH entschieden, dass die (nun) in Art. 45 Abs. 3 AEUV/39 Abs. 2 EG ausgesprochene Pflicht, die „freizügigen“ Arbeitnehmer bei den Arbeitsbedingungen mit den heimischen Arbeitnehmern gleichzubehandeln, auch dem Schutz der inländischen Arbeitnehmer diene.176 Zuweilen wurde vorgetragen, dass arbeitsrechtliche Vorschriften, welche die Betriebstreue belohnen, die Freizügigkeit behindern. Der EuGH hat hier den Eigenwert der arbeitsrechtlichen Vorschriften berücksichtigt.177

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Arbeitsrechtliche Gesetze können die Dienst- oder die Niederlassungsfreiheit jedenfalls faktisch beeinträchtigen. Der EuGH sagt in einschlägigen Urteilen regelmäßig, dass die Mitgliedstaaten in den Bereichen, in denen die Gemeinschaft nicht zuständig ist oder noch nicht gehandelt hat, zwar frei sind zu regeln, „dass sie aber gleichwohl gehalten sind, das Gemeinschaftsrecht bei der Ausübung dieser Befugnis zu beachten.“178 Eine Beschränkung ist dann nur zulässig, wenn sie durch „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“ gerechtfertigt ist und für die Erreichung des Zieles geeignet und erforderlich ist. Der Schutz der Arbeitnehmer wird zwar häufig als „zwingendes Allgemeininteresse“ (an)erkannt,179 die genaue Bedeutung dieses Rechtfertigungsgrundes ist hingegen noch keineswegs geklärt – auch weil die Urteile sich meist nicht näher dazu erklären. Relevant ist das Spannungsfeld v.a. bei Entsendungen und nun auch bei Kollektiven Maßnahmen. Die Rechtslage ist auch wegen der methodischen Mängel der Urteile problematisch.

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Entsendungen von Arbeitnehmern in einen anderen Mitgliedsstaat fallen unter die Dienstleistungsfreiheit. Diese darf nur zur Verfolgung zwingender Gründe des Allgemeininteresses beschränkt werden, soweit dieses Interesse nicht bereits durch die – arbeitsrechtlichen – Vorschriften des Herkunftsstaates geschützt wird. Bei Entsendungen war und ist v.a. fraglich, welche Arbeitnehmer der Arbeitsstaat schützen darf – nur die Entsendeten oder auch die „eigenen“. Im Urteil Finalarte aus 2001 hat der EuGH erstmals deutlich ausgeführt, das vorlegende Gericht müsse „prüfen, ob die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung bei objektiver Betrachtung den Schutz der entsandten Arbeitnehmer fördert.“ Er lehnt zwar den Schutz der inländischen Arbeitnehmer als Rechtfertigungsgrund nicht ausdrücklich ab, sagt aber sehr wohl, dass Beschränkungen des Dienstleistungsverkehrs nicht durch den Schutz der inländischen Unternehmen gerechtfertigt werden können.180 Aus der Sicht des Unionsrechts werden die inländischen Arbeitnehmer so zu unselbständigen Bestand-

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EuGH v. 4.4.1974 – Rs. 167/73 Kommission ./. Frankreich, Slg. 1974, 359. Insbes. EuGH v. 27.1.2000 – Rs. C-190/98 Graf, Slg. 2000, I-493 Rn. 24 f. Z.B. EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 Laval un Partneri, Slg. 2007, I-11767 Rn. 87. Vgl. z.B. EuGH v. 23.11.1999 – Rs. C-369/96 Arblade, Slg. 1999, I-8453 Rn. 36; EuGH v. 15.3.2001 – Rs. C-165/98 Mazzoleni und ISA, Slg. 2001, I-2189 Rn. 27 ff.; EuGH v. 25.10. 2001 – Rs. C-49/98 Finalarte u.a., Slg. 2001, I-7831 Rn. 39 f.; Schwarze-Rebhahn/Reiner, Art. 136 EG Rn. 18. 180 EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-49/98 Finalarte u.a., Slg. 2001, I-7831 Rn. 39 f. Robert Rebhahn

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teilen der inländischen Unternehmen. Erst 2005 hat der EuGH klar zum Ausdruck gebracht, dass es (nur) um den Schutz der Entsendeten geht.181 Allerdings lässt der EuGH es ausreichen, wenn das nationale Recht die entsendeten Arbeitnehmer faktisch schützt, etwa durch einen Mindestlohn, auch wenn dies die Entsendung weniger wahrscheinlich macht.182 Wenig später hat das Urteil Laval hingegen erstmals gesagt, dass auch im „Schutz der Arbeitnehmer des Aufnahmemitgliedstaats gegen ein etwaiges Sozialdumping“ ein zwingender Grund des Allgemeininteresses liegen kann, allerdings (nur) für Kollektive Maßnahmen, die „Sozialdumping“ abwehren wollen. Das Urteil zitiert dazu einige Vorjudikate, in denen von Sozialdumping (oder von Kollektiven Maßnahmen) keine Rede war, und die als Rechtfertigung eher nur den Schutz der Interessen der Entsendeten ansahen. Auch nach dem Urteil Laval ist der Schutz der nationalen Arbeitsrechtsordnung des Arbeitsortes aber kein legitimes Ziel. Fraglich ist überdies, inwieweit das Vorschreiben von Arbeitsbedingungen des Arbeitsstaates auch mit dem Schutz des fairen Wettbewerbes zwischen inländischen und entsendenden Unternehmen gerechtfertigt werden kann. 2004 hat der EuGH dies akzeptiert.183 Das Urteil Laval hingegen sagt ohne weitere Begründung einfach, dies sei kein tauglicher Rechtfertigungsgrund, also das Gegenteil184 Der hier geschilderte Umgang mit Vorjudikatur ist in beiden Fällen – großzügige „Verwertung“ wie schlichtes Verschweigen – nicht bloß irreführend, methodisch unbrauchbar und unseriös, sondern bei einem Höchstgericht in wichtigen Fragen untragbar.

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Die Urteile Viking und Laval betrafen v.a. das Verhältnis von Grundfreiheiten und Arbeitskampf. Die beiden Urteile sagen, dass die Niederlassungs- und die Dienstleistungsfreiheit durch Streik und Boykott, welche Niederlassung oder Dienstleistung weniger attraktiv machen, beschränkt werden, und nur nach allgemeinen Regeln gerechtfertigt werden können.185 Die Anerkennung eines gemeinschaftsrechtlichen Grundrechts auf Kollektive Maßnahmen hat in den Urteilen keine erkennbaren Folgen (vgl. oben, Rn. 49), was für dessen Unterordnung unter die Grundfreiheit spricht. Methodisch ist ferner anzumerken, dass die Urteile die möglichen alternativen Lösungen nicht wirklich diskutieren, sondern dazu nur die eigene Auffassung dekretieren; und dass der nach den Urteilen für die Praxis entscheidende Faktor, nämlich das Verständnis von Verhältnismäßigkeit, weitgehend im Dunkeln bleibt.186 In der

181 EuGH v. 14.4.2005 – Rs. C-341/02 Kommission ./. Deutschland, Slg. 2005, I-2733, Rn. 24; EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 Laval un Partneri, Slg. 2007, I-11767 Rn 57. Die dort dafür in Bezug genommenen früheren Urteile sagen gerade nicht ausdrücklich, dass es nur um die Entsendeten geht. 182 EuGH v. 24.1.2002 – Rs. C-164/99 Portugaia Construções, Slg. 2002, I-787. 183 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-60/03 Wolff & Müller, Slg. I-9553 Rn. 41; vgl. auch EuGH v. 14.4.2005 – Rs. C-341/02 Kommission ./. Deutschland, Slg. 2005 I-2733. 184 EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 Laval un Partneri, Slg. 2007, I-11767 Rn. 118 f. Gleichzeitig akzeptiert das Urteil in Rn. 74 f. diese Zielsetzung aber bei der Entsenderichtlinie. 185 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 ITF ./. Viking Line, Slg. 2007, I-10779; EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 Laval un Partneri, Slg. 2007, I-11767; vgl. dazu z.B. Rebhahn, ZESAR 2008, 109 ff.; v. Danwitz, EuZA 2010, 6 ff. 186 Vgl. dazu z.B. Bercusson, European Labour Law (2. Aufl. 2009), S. 670 ff.

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Sache geht es hier um das Grundproblem, dass weder der EG-Vertrag noch der Unionsvertrag eine umfassende Grundlage für eine rechtliche Organisation der Unionsbürger sind. Er konzentriert sich noch immer auf wirtschaftliche Fragen, und regelt damit nur einen Teil des Ganzen.187 4.

Individualarbeitsrecht: Arbeitszeit, Betriebsübergang, Nachweis

Auf die Interpretation der Begriffe Entgelt und Entlassung wurde bereits eingegangen. Ein weiterer Zentralbegriff ist die Arbeitszeit. Das Unionsrecht verwendet ihn in der Arbeitszeitrichtlinie. Der EuGH hatte erstmals 2000 darüber zu entscheiden, inwieweit Bereitschaftszeiten, während derer die Arbeitnehmer am Arbeitsort nur anwesend zu sein haben (aber auch schlafen können), unter Arbeitszeit fallen.188 Bei der Verabschiedung der Richtlinie 1989 ist man politisch wohl davon ausgegangen, dass diese Arbeitsbereitschaft nicht zur Arbeitszeit im Sinne der Richtlinie zählt.189 Der Wortlaut des zentralen Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie ist zwar nicht eindeutig, er spricht aber für eine restriktive Interpretation.190 Der EuGH kommt im Urteil Simap hingegen in bloß sechs Sätzen zum gegenteiligen Ergebnis. Er argumentiert kaum zum Wortlaut, sondern behauptet nur, dass die Bereitschaftszeiten die charakteristischen Merkmale der Arbeitszeit aufweisen und das weite Verständnis dem Ziel der Richtlinie entspreche. Methodisch ist die Begründung des EuGH äußerst dünn. Das Urteil Simap wurde in mehreren Mitgliedstaaten heftig kritisiert, auch in Deutschland.191 Obwohl sie eine Entscheidung des Plenums war, wurde auch die nächste einschlägige Vorlage – der deutsche Fall Jaeger – im Plenum behandelt. Die Begründung ist eindeutig ausführlicher als in Simap.192 Das stärkste Argument wird aber auch hier kaum entwickelt, nämlich der Zusammenhang mit der Ruhezeit; allerdings hätte dann geprüft werden müssen, ob es nicht auch möglich gewesen wäre, Bereitschaftsdienst weder als Arbeitszeit noch als Ruhezeit zu qualifizieren. Keine der Entscheidungen schöpft also die Möglichkeiten der Argumentation aus, sondern begnügt sich mit jenen Erwägungen, die am besten geeignet scheinen, das gefundene (und wohl gewünschte) Ergebnis zu stützen.

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Die Betriebsübergangsrichtlinie knüpft ihre Rechtsfolgen an den Übergang eines Betriebs oder Betriebsteiles. Die Bestimmung des Anwendungsbereiches muss jedem Gericht große Schwierigkeiten bereiten. Aus der Judikatur des EuGH sei nur an die

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187 Vgl. dazu z.B. Supiot, Critique du Droit du travail (2007), Préface, XXII; Oetker, in: Richardi/Wlotzke (Hrsg.), Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht (3. Aufl. 2009), § 10 Rn. 12 ff.; v. Bogdandy/Bast-Rödl, S. 855 ff. 188 EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Rn. 47–49; seither einige andere Entscheidungen; vgl. zum Problem Kreft, Grundfragen von Arbeitszeitdauerregulierungen (2001), S. 138 ff. 189 Vgl. GA Saggio, SchlA v. 16.12.1999 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Tz. 33. 190 Dies sagt auch GA Saggio, SchlA v. 16.12.1999 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Tz. 34–36, der für das Einbeziehen plädiert. 191 Allerdings hatte sich die deutsche Regierung gar nicht am Verfahren beteiligt – man hat wohl die Bedeutung des Verfahrens nicht erkannt. 192 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, Slg. 2003, I-8389 Rn. 58–67.

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3. Teil: Besonderer Teil

Urteile Schmidt und Süzen erinnert.193 Das Urteil Süzen korrigiert das Urteil Schmidt im entscheidenden Punkt, nämlich dass allein der Übergang des Dienstleistungsauftrags zum Betriebsübergang führt.194 Methodisch fällt allerdings auf, dass das Urteil Süzen die Änderung der Rechtssprechung nicht offen legt und sich auch nicht mit dem Urteil Schmidt auseinandersetzt. In der Sache hatte sich der EuGH schon vor dem Urteil Schmidt vom Wortlaut der ursprünglichen Richtlinie weit entfernt und gesagt, diese finde auf den Übergang einer wirtschaftlichen Einheit Anwendung, und diesen Begriff dann als typologischen entfaltet, bei dem mehrere Elemente in einer Zusammenschau zu würdigen sind.195 Der EuGH nahm für dieses Verständnis wohl die Orientierung am Zweck der Richtlinie in Anspruch, allerdings ist gerade hier der Zweck fraglich: geht es um den Schutz der Arbeitnehmer oder um die Gleichheit der Investitionsbedingungen oder um das Interesse des Arbeitgebers, eine lebende Einheit übertragen zu können.196 Dieses Problem wird bei der Darstellung der Richtlinie allerdings auch sonst nur selten offen angesprochen. Das zentrale Urteil Spijkers, auf dem alle Folgeentscheidungen aufbauen, stellt in einem Satz die „soziale Zielsetzung“ der Richtlinie in den Vordergrund.197 Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat die Auslegung des EuGH in die Neufassung durch die Richtlinie 98/50/EG ausdrücklich aufgenommen, allerdings neben dem alten Text. Die neue Fassung könnte – falls man den Normtext heranzieht – Probleme aufwerfen, weil der neue Tatbestand nur vorbehaltlich des alten gelten soll.198 Auch in der neueren Judikatur steht wohl der soziale Zweck im Vordergrund, weil der EuGH die Arbeitsverhältnisse auch bei der Neuausschreibung eines Dienstleistungsauftrages übergehen lässt, wenn Aufgabe (Kunden) sowie sachliche Betriebsmittel übergehen (vgl. oben Rn. 41). Aus Wortlaut und Zweck der Richtlinie wurde überzeugend abgeleitet, dass diese nicht nur anwendbar ist, wenn die organisatorische Einheit erhalten bleibt.199 Allerdings kann der weite Anwendungsbereich mit dem sozialen Zweck in Konflikt geraten, falls der Arbeitge-

193 EuGH v. 14.4.1994 – Rs. C-392/92 Christel Schmidt ./. Spar- und Leihkasse, Slg. 1994, I-1311 Rn. 17; EuGH v. 11.3.1997 – Rs. C-13/95, Süzen ./. Zehnacker Gebäudereinigung Krankenhausservice, Slg. 1997, I-1259 Rn. 16 ff. 194 Im Sachverhalt des Urteils Christel Schmidt hat der neue Auftragnehmer nämlich der Arbeitnehmerin die Übernahme nur angeboten, diese hat sie aber abgelehnt, so dass die „Hauptbelegschaft“ rechtlich nicht übernommen wurde. Hätte Frau Schmidt das Angebot mit den schlechteren Arbeitsbedingungen akzeptiert und sich dann auf die Rechte bei Betriebsübergang berufen, so hätte auch nach den Kriterien des Urteils Süzen ein Betriebsübergang vorgelegen. 195 Vgl. insbes. EuGH v. 18.3.1986 – Rs. 24/85 Spijkers ./. Benedik, Slg. 1986, 1119 Rn. 12 f. 196 Die Richtlinie wurde nicht mit dem Schutz der Arbeitnehmer sondern mit der Beeinträchtigung des Binnenmarktes durch Unterschiede in der Rechtslage begründet; vgl. auch Bercusson, European Labour Law (1996), S. 234 ff.; Rebhahn, RdA 2006, Sonderbeilage zu Heft 6, S. 4–15. 197 EuGH v. 18.3.1986 – Rs. 24/85 Spijkers ./. Benedik, Slg. 1986, 1119 Rn. 10 f. 198 Im ersten Urteil zur neuen Fassung hat er keine Probleme der Vereinbarkeit gesehene; EuGH v. 15.12.2005 – verb. Rs. C-232/04 und C-233/04 Nurten Güney-Görres u.a. ./. Securicor Aviation Ltd u.a., Slg. 2005, I-11237 Rn. 30. 199 EuGH v. 12.2.2009 – Rs. C-466/07 Klarenberg ./. Ferrotron, Slg. 2009, I-803 Rn. 45–47.

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ber den Übergang einsetzt, um Arbeitnehmer einfacher und billiger „loszuwerden“ (etwa durch Übergang auf eine GmbH, die nach einiger Zeit den Betrieb einstellt). Man wird sehen, ob der EuGH nationale Regelungen akzeptiert, welche den Betriebsübergang in solchen Fällen ausschließen.200 Die Nachweisrichtlinie verpflichtet den Arbeitgeber zu einer Mitteilung an den Arbeitnehmer über Arbeitsbedingungen. Praktisch relevant ist, welcher Beweiswert der Mitteilung zukommt. Nach Art. 6 der Richtlinie berührt diese an sich nicht die nationalen Beweislastregeln. Gleichwohl hat der EuGH zuerst dargelegt, der Zweck der Richtlinie verlange, dass die Mitteilung eine gewisse Beweiskraft habe, die der Arbeitgeber – nur – durch den Beweis des Gegenteils entkräften könne.201 Im Urteil Lange hat er hingegen wieder mehr den Wortlaut des Art. 6 in den Vordergrund gerückt und gesagt, dass sich die Folgen einer fehlenden Mitteilung allein nach nationalem Recht richten – obwohl der Regelungszweck mehr rechtfertigen könnte.202 5.

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Kollektives Arbeitsrecht und Mitwirkung der Sozialpartner

Zum Kollektiven Arbeitsrecht gibt es nur wenige Richtlinien. Auf jene zum Europäischen Betriebsrat wurde bereits eingegangen. Schwierige Auslegungsprobleme wird die Richtlinie zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer aufwerfen. Zum einen ist es bei allen Informationspflichten schwer, das geschuldete Ausmaß an Information zu bestimmen. Darüber hinaus verlangt die Richtlinie „Sanktionen, die wirksam, angemessen und abschreckend“ sind (Art. 8 Abs. 2). Die Kommission hatte viel schärfere Formulierungen vorgeschlagen, die bei Nichtunterrichtung über die geplante Schließung eines Betriebes auch dessen Wiedereröffnung oder doch die finanzielle Abgeltung für das Nichtwiedereröffnen eingeschlossen hätten.203 Die Diskussion darüber hat die Verabschiedung der Richtlinie um Jahre verschoben. Methodisch käme in Betracht, aus dem Gesetzgebungsverfahren zu schließen, dass die Richtlinie nun nicht so scharfe Sanktionen verlangt. Es ist aber fraglich, ob der EuGH solche Schlüsse zieht.204

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Für das – kollektive – Arbeitsrecht ist die Mitwirkung der Sozialpartner charakteristisch, auch diese kann spezifische Methodenprobleme aufwerfen. Auf Unionsebene können die Sozialpartner an der Rechtssetzung der Union beteiligt sein, indem eine von den Europäischen Sozialpartnern abgeschlossene Vereinbarung vom Unionsgesetzgeber beschlossen und damit übernommen wird. In der Folge findet sich der eigentliche Normtext – die Vereinbarung der Sozialpartner – als Anhang zu einer Richtlinie des Rates und des Parlamentes. Das kann zur Frage führen, wessen Vor-

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200 In manchen Fällen könnte der EuGH dies durch ein Abstellen auf den Wortlaut der neuen Richtlinie berücksichtigen, die verlangt, dass die Einheit ihre Identität bewahrt, also schon vor dem Übergang eine Einheit mit Identität war. 201 EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-253/96 Kampelmann, Slg. 1997, I-6907 Rn. 29 ff. 202 EuGH v. 8.2.2001 – Rs. C-350/99 Lange, Slg. 2001, I-1061 Rn. 32 f. 203 Vgl. KOM (1998) 612 endg, ABl. 1999 C 2/3 und dort Art. 7 Abs. 3. 204 Vgl. dazu Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 28; Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 64 ff., S. 310 ff. zum genetischen Argument.

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stellungen bei einer historischen Interpretation mehr zählen, die der Union oder jene der Sozialpartner. Da der EuGH aber ohnehin kaum nachprüfbar historisch interpretiert,205 spielt dies praktisch keine große Rolle. Störender ist schon die Verdoppelung der Begründungserwägungen, welche zu den mit diesen verbundenen Problemen noch zusätzlich beitragen.

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Auf der Ebene der Mitgliedstaaten können die Vorschriften des Unionsrechtes auch für Kollektive Verträge gelten. Das unmittelbar anwendbare Unionsrecht hat Vorrang vor einem Kollektivvertrag, der – wie in den meisten Mitgliedstaaten – aufgrund staatlicher Ermächtigung Normwirkung entfaltet. Unbestritten ist dies für das Diskriminierungsverbot des Art. 157 AEUV/141 EG in Bezug auf das Entgelt. Fraglich kann nur die Sanktion sein. Auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit darf durch Kollektive Verträge nicht beschränkt werden, auch nicht für Fußballer.206 Richtlinien wirken sich auf normativ wirkende Kollektivverträge sicher nicht stärker aus als auf Gesetze. So wie diese werden sie so weit wie möglich unionsrechtskonform zu interpretieren sein, wenn und weil es sich um Normenverträge handelt.207 Im Übrigen hängt die Rechtsfolge eines Verstoßes gegen die Richtlinie primär vom nationalen Recht ab (Nichtigkeit mit Anpassung oder nicht). Schließlich können die Mitgliedstaaten die Umsetzung des Unionsrechts auch den Sozialpartnern anvertrauen. Auch das kann Methodenfragen aufwerfen, etwa inwieweit dann staatliches Recht zur systematischen Interpretation heranzuziehen ist. 6.

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Unmittelbare Wirkung von Richtlinien

Die unmittelbare Anwendung einer Richtlinie führt speziell im Arbeitsrecht in manchen Fällen zu Problemen, die bei anderer Argumentationsmethode vielleicht vermieden würden. Eine Richtlinie kann nach h.M. nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen; sogar eine klare, genaue und unbedingte Bestimmung, mit der dem Einzelnen Rechte gewährt oder Verpflichtungen auferlegt werden sollen, kann daher im Rahmen eines Rechtsstreits ausschließlich zwischen Privaten nicht als solche Anwendung finden.208 Das Urteil Pfeiffer zur Höchstdauer der zulässigen Arbeitszeit aufgrund der Arbeitszeitrichtlinie209 wurde von vielen als Anzeichen für ein Abgehen davon gesehen. Ein Arbeitnehmer kann sich danach gegenüber dem Arbeitgeber auf die Beschränkung auf 48 Stunden berufen, obwohl das nationale Recht längere Arbeitszeiten zulässt, falls das nationale Recht auch nur die kleinste Möglichkeit für gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation aufweist.

205 Vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 310 ff. 206 Vgl. zu Art. 141 EG z.B. EuGH v. 21.10.1999 – Rs. C-333/97 Lewen, Slg. 1999, I-7243 Rn. 26; zur Freizügigkeit EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921. 207 Vgl. in diesem Sinn z.B. Löwisch/Rieble, TVG (2. Aufl. 2004), § 1 TVG Rn. 414. 208 Vgl. z.B. GA Kokott, SchlA v. 14.5.2009 – Rs. C-116/08 Meerts ./. Proost NV, (noch nicht in Slg.) Tz. 59 f.; Streinz-Schroeder, Art. 249 EG Rn. 116. 209 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 107 ff.; vgl. aus arbeitsrechtlicher Sicht z.B. Schlachter, RdA 2005, 115 ff.

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§ 18 Europäisches Arbeitsrecht

Sehr wohl in Betracht kommt die unmittelbare Anwendung im Verhältnis zum Staat, auch wenn dieser nicht als Hoheitsträger, sondern als Arbeitgeber auftritt.210 Für die Zurechnung einer juristischen Person zum Staat hat der EuGH eine Formel entwickelt, die eher weit ist, aber in vielen Fällen keine klaren Schlüsse erlaubt.211 Die Formel wurde offenbar nach reinen Zwecküberlegungen gebildet; eine methodische Begründung ist nicht ersichtlich. Das Nebeneinander der beiden Regeln für „staatliche“ und für andere Arbeitgeber führt gerade im Arbeitsrecht zu unerfreulichen Diskrepanzen, weil der Staat und seine Trabanten viele Arbeitnehmer beschäftigen. Wird eine Richtlinie für beide Bereiche nicht ausgeführt, so können sich nur Arbeitnehmer des Staates auf sie berufen, nicht jene der Privatwirtschaft. Diese sehen darin eine erneute Bevorzugung der Staatsbediensteten, obwohl die dogmatische Begründung für die Unterscheidung gerade den Staat belasten will. Die Partialsicht, das Gemeinschaftsrecht möglichst durchzusetzen, verdunkelt den Blick auf die dadurch ausgelöste Verletzung des Gleichheitssatzes.

V.

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Richter und Urteilsstile

Der EuGH kennt keine feste Geschäftsverteilung, weder in Bezug auf die Zuteilung auf einzelne Spruchkörper (Kammern) noch gar auf die Generalanwälte. Vielmehr kann der Präsident hier frei schalten.212 Von Interesse ist dann, ob der Präsident de facto arbeitsrechtliche Fälle überwiegend bestimmten Generalanwälten und Kammern zuweist, und damit praktisch eine gewisse Geschäftsverteilung einführt, oder ob kein solches Muster erkennbar ist. Eine Spezialisierung der Spruchkörper wäre, zumindest wenn es nur um Fragen des Sekundärrechts geht, sehr sinnvoll und wohl dringend,213 auch weil die Vielfalt der Materien ansonsten überfordern dürfte.

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Für die Vorauflage wurde die Verteilung in Arbeitsrechtssachen bei Vorabentscheidungsverfahren gem Art. 234 EG in den Jahren 1999 bis April 2006 betrachtet.214 Bis

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210 So z.B. zur Gleichbehandlungsrichtlinie EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, Slg. 1986, 723 Rn. 46 ff. – Marshall I; EuGH v. 12.7.1990 – Rs. C-188/89 Foster u.a. ./. British Gas, Slg. 1990, I-3313; EuGH v. 2.8.1993 – Rs. C-271/91 Marshall, Slg.1993, I-4367 Rn. 21 – Marshall II; EuGH v. 20.3.2003 – Rs. C-187/00 Kutz-Bauer, Slg. 2003, I-2741 Rn. 71. 211 Z.B. EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-253/96 Kampelmann, Slg. 1997, I-6907 Rn. 46; EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-57/02 Rieser Internationale Transporte, Slg. 2004, I-1477, Rn. 24; vgl. allgemein Wernicke, Die Privatwirkung im Europäischen Gemeinschaftsrecht (2002). 212 Es erstaunt, wie leicht manche aus Europabegeisterung rechtstaatliche Grundsätze vergessen. Man stelle sich den Aufschrei derselben vor, wenn die feste Geschäftsverteilung im Mitgliedstaat abgeschafft würde und etwa die Präsidenten von BVerfG, BGH oder BAG eine Sache nach Belieben einem Senat zuteilen dürften. 213 In diese Richtung auch Moreau, in: Degryse (Hrsg.), Social developments in the European Union (2008), S. 183 ff. 214 Dieser Abschnitt wurde für die Vorauflage v.a. von Mag. Reiner bearbeitet und für diese Auflage – trotz der freundlichen Aufnahme durch Rezensenten – stark gekürzt.

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3. Teil: Besonderer Teil

zur Osterweitung 2004 gibt es Hinweise auf eine systematische Geschäftsverteilung, danach ist das Bild weniger eindeutig. Eine Überprüfung (für die Neuauflage) der danach bis Ende 2009 ergangenen Urteile enthält keine Hinweise auf die Entwicklung hin zu einer Art „Fachgerichtsbarkeit“. Entscheidend für die Zuweisung an eine Kammer ist jene an den Berichterstatter. Dies führt zur Frage, ob manche Richter deutlich häufiger als Berichterstatter eingesetzt werden. Im Berichtszeitraum für die Vorauflage waren bei ca. 70 arbeitsrechtlichen Urteilen einige Richter überdurchschnittlich häufig Berichterstatter. Es waren dies die Richter Puissochet (zwölf Urteile), Schingten (neun Urteile), Colneric (neun Urteile), Kapteyn (neun Urteile) und Macken (sieben Urteile). In den seit April 2006 bis Oktober 2009 ergangenen arbeitsrechtlichen Urteilen, von denen ca. 45 untersucht wurden, waren es Malenovsky (8 Urteile), Schingten (7 Urteile; inzwischen ausgeschieden) und O’Caoimh (5 Urteile). Man kann somit auch bei den Berichterstattern keine Tendenz zur „Spezialisierung“ erkennen. Lediglich Schintgen scheint über einen längeren Zeitraum häufig als Berichterstatter für arbeitsrechtliche Urteile herangezogen worden zu sein; er war auch Berichterstatter für die Urteile Mangold und Viking.

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In der Vorauflage wurde die Frage gestellt, ob ein Einfluss des jeweiligen Berichterstatters auf den Begründungsstil der Urteile erkennbar ist. Die damalige Auswertung ergab durchaus erkennbare Unterschiede in Bezug auf die genaue „Verwertung“ von Vorjudikatur, die Tiefe der Argumentation zu Wortlaut und Systematik, sowie die Auseinandersetzung mit Stellungnahmen im Verfahren und Schlussanträgen. Dies soll hier nicht weiter fortgeführt werden, schon wegen der abnehmenden Konzentration der Berichterstattung für arbeitsrechtliche Urteile auf bestimmte Richter. Überdies sagen manche Insider, dass die Person des Berichterstatters für die Abfassung des Urteils nicht so wichtig sei.

VI. Schlussbemerkungen 75

Mehrere Entscheidungen des EuGH, die für die Methodenlehre zu Fragen des Privatrechts wichtig sind, betrafen arbeitsrechtliche Probleme. Ein Grund dafür dürfte sein, dass es schon sehr früh gerade zum Arbeitsrecht gemeinschaftsrechtliche Vorschriften gab, die Gelegenheit zu Vorlagen boten. Im Übrigen stellen sich im Arbeitsrecht der Union keine grundsätzlich anderen Probleme als in anderen Rechtsbereichen. Dies gilt auch für die spezifischen Phänomene des Arbeitsrechts wie Kollektive Verträge. Das Arbeitsrecht bietet aber reiches Anschauungsmaterial für vielfältige methodische Fragen, die sich bei Auslegung, Interpretation und Anwendung des unionsrechtlichen Privatrechts stellen. Allerdings bleiben die Begründungen des EuGH (auch) im Arbeitsrecht hinter jenem Argumentationsniveau zurück, das in einigen Mitgliedstaaten bisher üblich war. Darüber hinaus gelingt dem EuGH m.E. gerade in zentralen Fragen oft nicht, seine Auffassung so zu begründen, dass man seine Entscheidung als überzeugende Ableitung aus dem geltenden Recht (an)erkennen kann. Der Begründungsaufwand sollte vor allem auch der Bedeutung der Entscheidung angemessen sein. Bei den Urteilen des EuGH wird die Anzahl der Wörter aber nicht selten umso

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§ 18 Europäisches Arbeitsrecht

geringer, je wichtiger der Inhalt ist.215 Damit nähert sich der Inhalt der „Begründung“ aber zuweilen den Worten: Es soll so sein, weil wir es so wollen. Das beeinträchtigt die Legitimität der Judikatur und des EuGH. Die Politik – einschließlich der Kommission – reagiert auf die Entscheidungen des EuGH unterschiedlich. Die Entwicklungen des EuGH zur mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts fanden ebenso Eingang in spätere Richtlinien wie jene zum Anwendungsbereich der Betriebsübergangsrichtlinie. Deutlich irritiert reagierte die Politik hingegen auf die Urteile Schmidt und Kalanke. In beiden Fällen ruderte der EuGH zurück. Durch die Politik korrigiert wurde u.a. eine Auslegung zur Insolvenzrichtlinie. Über die Korrektur der Entscheidung zur Arbeitsbereitschaft durch eine neue Richtlinie wird – nach mehr als 10 Jahren – noch immer gerungen. Die Urteile zum Verhältnis von Grundfreiheiten und Arbeitskampf haben bei einem Teil der Betroffenen starke Reaktionen hervorgerufen. Urteile zur Auslegung des Primärrechts können durch die Politik so gut wie nicht korrigiert werden, andere auch nur schwer. Die vom EuGH zuweilen vertretene sehr extensive Auslegung ist dann ein großer Schritt auf dem Weg zum Richterstaat.

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Abschließend sei die Frage aufgegriffen, ob eine Orientierung an (bei uns) traditionellen Auslegungsregeln überhaupt geeignet ist, die aktuelle Entscheidungspraxis des EuGH zu analysieren. Methodenlehre im traditionellen Sinn setzt wohl dreierlei voraus: erstens das Bemühen aller Beteiligten – Gesetzgeber, Gerichte, Beobachter – um eine kohärente Rechtsordnung, die möglichst frei von Widersprüchen und damit „systematisch“ ist; zweitens die Überzeugung, dass das maßgebliche Recht primär abgeleitet und damit „gefunden“ und nicht vom Gericht „erfunden“ werden soll; sowie drittens die Überzeugung, dass diese Ableitung nur nach bestimmten Regeln erfolgen soll, die vom Gericht beachtet werden, und deren Beachtung von Beobachtern gewürdigt werden soll (sodass die Beobachter nicht bloß das Entschiedene reportieren und im Übrigen womöglich applaudieren). Jede der drei Voraussetzungen ist heute auf der Ebene des Unionsrechts deutlich schwächer verwirklicht als in vielen Mitgliedstaaten. Derzeit weiß man leider oft nicht recht, welcher Grundstruktur das auf Entscheiden angelegte juristische Denken zum Gemeinschaftsrecht folgt: ist es normativ, oder dezisionistisch, oder topisch, oder doch eher ein konkretes Ordnungsdenken, insbesondere des Binnenmarktes? Es hängt von allen genannten Beteiligten ab, welchen Stellenwert Methoden der Rechtserkenntnis künftig für das Unionsrecht haben werden. Ohne klare Methodenlehre auch des Unionsrechts gibt es wohl keine Rule of Law und keinen Rechtsstaat, denn Methodenfragen sind Verfassungsfragen.

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215 Vgl. Wank, FS Birk (2008), S. 948, der nach einem Hinweis auf die Begründung des EuGH im Urteil Güney Görres bemerkt: „An dieser Stelle hätte eine Begründung beginnen können.“ Robert Rebhahn

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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht Christine Windbichler/Kaspar Krolop Übersicht I. „Gesellschaftsrecht“ im europäischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eingrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Europäische Regelungsdichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dynamik der Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aktuelle Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Allgemeine Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Methodische Aspekte der aktuellen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . 4. Besonderheiten des Gesellschaftsrechts und die Frage der Systemkonvergenz

. . . . . . . . . . . .

Rn. 1–27 1–5 6–14 6–9 10–14 10–11 12–14 15–26 15–17 18–20 21–26 27

II. Anwendungsbeispiel: Die verdeckte Sacheinlage . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Praktisches Ausgangsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Interessenlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Inferent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Gesellschaft selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Gläubiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Übrige Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ökonomische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtlicher Einstieg: Nationales Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . a) Forderungseinbringung als Sacheinlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Lästigkeit“ des Sacheinlageverfahrens und der Versuch der Vermeidung c) Die Lehre von der verdeckten Sacheinlage als Reaktion . . . . . . . . . . 3. Erschließung der europäischen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorlage beim EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) 1. Fragenkreis: Mindest- oder Höchstnorm . . . . . . . . . . . . . . bb) 2. Fragenkreis: Rechtfertigung allgemeinen Umgehungsschutzes . . b) Methodische Erträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . .

28–59 28–38 29–36 30, 31 32 33, 34 35, 36 37, 38 39–45 39, 40 41 42–45 46–59 46–55 48–50 51–55 56–59

III. Europäische und nationale Entwicklungsperspektive . . . . . . . . . . . . . . 1. Europäische Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesellschaftsrecht allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kapitalaufbringungsschutz im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kollisionsrechtliche Ebene: Wahlfreiheit hinsichtlich des Gesellschaftsstatuts a) Gewährleistung der Wahlfreiheit des Gesellschaftsstatuts . . . . . . . . . b) Bestimmung der Reichweite des Gesellschaftsstatuts . . . . . . . . . . . aa) Die Einordnung nach nationalem Kollisionsrecht: Fallbeispiel Insolvenzverschleppungshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . .

60–89 60–66 60, 61 62–66 67–75 68–69c 70–75

.

71, 72

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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht bb) Die europarechtliche Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verzahnung von europäischer und nationaler Ebene: Methodenfragen bei der SE a) Das Verhältnis der Vorgaben in der SE-VO zum nationalen Recht . . . . . b) Die doppelte Dimension von Satzungsstrenge und Satzungsautonomie bei der SE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Stellung der Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer bei der SE in der Normenhierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Nationale Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesellschaftsrecht allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kapitalaufbringungsschutz im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . c) SE als besondere Herausforderung im Wettbewerb der Rechtsordnungen . 5. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73 74, 75 76–82 77, 78 79–81 82 83–88 83 84–87 88 89

Literatur: Ulrich Brandt, Die Hauptversammlung der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) (2004); Horst Eidenmüller (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht (2005); Dorothee Einsele, Verdeckte Sacheinlage, Grundsatz der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung, NJW 1996, 2681–2689; Ulrich Everling, Das europäische Gesellschaftsrecht vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, in: U.H. Schneider u.a. (Hrsg.) Deutsches und europäisches Gesellschafts-, Konzern- und Kapitalmarktrecht – Festschrift für Marcus Lutter (2000), S. 31–45; Jeffrey N. Gordon/Mark J. Roe (Hrsg.), Convergence and Persistence in Corporate Governance (2004); Paul L. Davies, Gower and Davies: The Principles of Modern Company Law (8. Aufl. 2008); Stefan Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht (2004), insbes. §§ 3–6; ders., European Company Law (2007); Mathias Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht (3. Aufl. 2006), insbes. §§ 3, 4, 6; Jan von Hein, Die Rezeption US-amerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland (2008); Reinier R. Kraakmann u.a., The Anatomy of Corporate Law (2. Aufl. 2009); Marcus Lutter (Hrsg.), Europäische Auslandsgesellschaften in Deutschland (2005); ders. (Hrsg.), Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa (ZGR-Sonderheft 17, 2005); ders./Christian Gehling, Verdeckte Sacheinlagen – Zur Entwicklung und zu den europäischen Aspekten, WM 1989, 1445–1460; Peter Nobel, Transnationales und Europäisches Aktienrecht (2006); Katarina Röpke, Gläubigerschutzregime im Europäischen Wettbewerb der Gesellschaftsrechte (2007); Christoph Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht (2006); Peter Ulmer, Gläubigerschutz bei Scheinauslandsgesellschaften – Zum Verhältnis zwischen gläubigerschützenden Gesellschafts-, Delikts- und Insolvenzrecht und der EG-Niederlassungsfreiheit, NJW 2004, 1201–1210; Michael J. Ulmer, Harmonisierungsschranken des Aktienrechts (1998); Marc-Philippe Weller, Neues Anwendungsfeld für die Existenzvernichtungshaftung, IPRax 2003, 207–210; Nina Winkler, Das Stimmrecht der Aktionäre in der Europäischen Union (2006); Irka Zöllter-Petzoldt, Die Verknüpfung von europäischem und nationalem Recht bei der Gründung einer Societas Europaea (SE) (1998). Rechtsprechung: EuGH v. 15.4.2010 – Rs. C-215/08 Friz, (noch nicht in Slg.); EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-210/06 Cartesio, Slg. 2008, I-9641; EuGH v. 23.10.2007 – Rs. C-112/05 Kommission ./. Deutschland, Slg. 2007, I-8995 – VW; EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-411/03 Sevic, Slg. 2005, I-10805; EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155; EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00 Überseering, Slg. 2002, I-9919; EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871; BGHZ 178, 192-203 – Trabrennbahn; BGHZ 110, 47–82 – IBH/Lemmerz.

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3. Teil: Besonderer Teil

I.

„Gesellschaftsrecht“ im europäischen Recht

1.

Eingrenzung

1

Das europäische Primärrecht bezeichnet grundsätzlich keine Rechtsgebiete. Art. 54 Abs. 1 AEUV/48 EG stellt „nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates gegründete Gesellschaften“ natürlichen Personen gleich; Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV/44 Abs. 2 lit. g) EG spricht die Koordination von Schutzbestimmungen an, die den Gesellschaften im Sinne des Art. 54 Abs. 2 AEUV/48 Abs. 2 EG vorgeschrieben sind. Damit ist nicht entscheidend, ob eine Materie, die das Kollisionsrecht, anderes nationales Recht oder die Definition in Lehrbüchern dem Gesellschaftsrecht zuweist, betroffen, sondern nur ob eine Gesellschaft i.S.d. Art. 54 AEUV/48 EG 1 Regelungsadressat ist.2

2

Theoretisch kommen somit sämtliche Gesellschaftsformen als Gegenstand europäischen Rechts in Betracht; praktisch liegt der Schwerpunkt zur Zeit aber im Kapitalgesellschaftsrecht. Ferner bedeutet „Gesellschaftsrecht“ nicht nur Gesellschaftsorganisationsrecht, die „off the shelf housekeeping rules“, sondern auch andere Regelungskomplexe, die die Beziehungen von Gesellschaften zu ihrer wirtschaftlichen Umwelt gestalten.

3

In diesem umfassenden Sinne schließt „Gesellschaftsrecht“ Fragen der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Gesellschaftsorganen, des Bilanz-, Insolvenz- und des Kollisionsrechts, vor allem aber auch des Kapitalmarktrechts ein.3 Letzteres hat seinen Hauptsitz bei der Kapitalverkehrsfreiheit, eine Reihe von älteren kapitalmarktrechtlichen Richtlinien4 wurde jedoch zumindest auch auf Art. 44 Abs. 2 lit. g) EG gestützt.5 Bilanzrecht, in deutscher Rechtstradition dem Handelsrecht zugeordnet,

1 Dieser Begriff ist sehr weit: Alle Gesellschaften des bürgerlichen und des Handelsrechts einschließlich der Genossenschaften und der sonstigen juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts sowie nach h.M. auch nicht-rechtsfähige Gesellschaften, soweit sie einen Erwerbszweck verfolgen (Geiger-Geiger, EUV/EGV (4. Aufl. 2004), Art. 48 EG Rn. 2 f.; Grundmann, European Company Law, § 1 Rn. 12 ff.). 2 Grabitz/Hilf-Randelzhofer/Forsthoff, Art. 44 EG Rn. 14; Art. 48 EG Rn. 7; zum Grenzbereich Gesellschafts-/Vertragsrecht Krolop, in: Domej u.a. (Hrsg.), Einheit des Privatrechts, komplexe Welt, JbJZ 2008, S. 29, 54 ff.; vgl. auch EuGH v. 15.4.2010 – Rs. C-215/08 Friz, (noch nicht in Slg.); zum Vorlagebeschluss des BGH Krolop, ebd. 3 Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 1 Rn. 4, 28 mwN. Speziell zum Kollisionsrecht s. EuGH v. 27.9.1988 – Rs. 81/87 The Queen ./. H.M. Treasury and Commissioners of Inland Revenue, Slg. 1988, I-5483 Rn. 22 – Daily Mail. 4 Richtlinie 79/279/EWG des Rates v. 5.3.1979 zur Koordinierung der Bedingungen für die Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Notierung an einer Wertpapierbörse, ABl. 1979 L 16/21 (Börsenzulassungsrichtlinie, nicht mehr in Kraft); Richtlinie 89/298/EWG des Rates v. 17.4.1989 zur Koordinierung der Bedingungen für die Erstellung, Kontrolle und Verbreitung des Prospekts, der im Falle öffentlicher Angebote von Wertpapieren zu veröffentlichen ist, ABl. 1989 L 124/8 (Emissionsprospektrichtlinie); Richtlinie 89/592/EWG des Rates v. 13.11.1989 zur Koordinierung der Vorschriften betreffend Insider-Geschäfte (Insiderrichtlinie), ABl. 1989 L 334/30. 5 Vgl. Grabitz/Hilf-Randelzhofer/Forsthoff, Art. 44 EG Rn. 14.

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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht

und Kapitalmarktrecht wiederum sind eng verflochten.6 Teilweise wird das Bilanzrecht sogar als Herzstück des europäischen Gesellschaftsrechts bezeichnet.7 Das Steuerrecht, die unerwünschte Rechtsquelle des Gesellschaftsrechts, ist nur in einem engen Bereich (Art. 110 ff. AEUV/90 ff. EG) nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung europäisiert. Mittelbar stehen allerdings auch steuerliche Vorschriften zunehmend auf dem Prüfstand der Grundfreiheiten.8 Einheitliche Mindeststandards für Transparenz und Anlegerschutz sind zentrale Anliegen der europäischen Rechtsangleichung zur Verwirklichung des gemeinsamen Marktes 9, die zu den Kernaufga-

6 Charakteristisch sind hier vor allem die Vierte Richtlinie 78/660 EWG des Rates v. 25.7.1978 aufgrund von Art. 54 Abs. 3 lit. g) über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, ABl. 1978 L 222/11 (Jahresabschlussrichtlinie) und die Siebente Richtlinie 83/349 EWG des Rates v. 13.6.1983 aufgrund von Art. 54 Abs. 3 lit. g) des Vertrages über den konsolidierten Abschluss, ABl. 1983 L 193/1 (Konzernbilanzrichtlinie), beide zuletzt geändert durch die Richtlinie 2009/49/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 18.6.2009 zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates im Hinblick auf bestimmte Angabepflichten mittlerer Gesellschaften sowie die Pflicht zur Erstellung eines konsolidierten Abschlusses, ABl. 2009 L 164/42, sowie die VO (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABl. 2002 L 243/1 (IFRS-VO). Näher zu dieser Überschneidung u.a. auch Großfeld, NZG 2005, 1, 2 ff.; Schwark, WM 1997, 293, 304; Weitbrecht/Wilken, EWS 1994, 418 ff. 7 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 491; ders., European Company Law, Rn. 526: „centrepiece“, vgl. auch Großfeld, NZG 2005, 1, 2 ff.; zu Wechselwirkungen zwischen Bilanz- und Gesellschaftsrecht am Beispiel der GmbH & Co KG Asche, Europäisches Bilanzrecht und nationales Gesellschaftsrecht (2007). 8 Vgl. EuGH v. 11.3.2004 – Rs. C-9/02 Hughes de Lasteyrie du Saillant ./. Ministère de l’Economie, Slg. 2004, I-2409. Die Entscheidung des EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-446/03 Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 zur Nutzung von Verlusten von ausländischen Tochtergesellschaften bei der (im vorliegenden Fall britischen) Gruppenbesteuerung wird Auswirkungen auf die Konzerngestaltung haben; vgl. Saß, DB 2006, 123 ff.; Palmes/Brück/Ribbrock, DB 2006, 186, 188 f.; Bestätigung und Fortführung in EuGH v. 12.9.2006 – Rs. C-196/04 Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995; vgl. auch Richtlinie 2009/133/EG des Rates v. 19.10.2009 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, ABl. 2009 L 310/34, insbes. Begründungserwägungen. 9 Vgl. nur Bröcker, in: Claussen, Bank- und Börsenrecht (4. Aufl. 2008), § 6 Rn. 4. Dabei findet der Anlegerschutz im EG-Vertrag keine eigene Erwähnung. Zu kapitalmarktrechtlichen Schutzbestimmungen als Mittel zum Zweck zur Verwirklichung des europäischen Kapitalbzw. des Binnenmarkts vgl. Grundmann, ZIP 2004, 2401, 2406 ff.; Mülbert, WM 2001, 2085, 2092 jeweils mwN. Zum Standpunkt der Kommission vgl. stellvertretend BE 6 des Vorschlags der Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, KOM(2003) 138 endg, S. 36: „ein gemeinschaftsweit hoher Anlegerschutz würde es ermöglichen, Hindernisse für die Zulassung von Wertpapieren zu geregelten Märkten … zu beseitigen“. Vgl. auch BE 43 der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.1.2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation, ABl. 2003 L 96/16 (Marktmissbrauchsrichtlinie), wo die Ziele des europäischen Kapitalmarktrechts beispielhaft zusammengefasst sind. Christine Windbichler/Kaspar Krolop

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3. Teil: Besonderer Teil

ben der Gemeinschaft zählt (vgl. Art. 114, 115 AEUV/94, 95 EG). Zur Herstellung eines Mindeststandards bei der Transparenz von unternehmens- und bewertungsrelevanten Informationen wirken Kapitalmarktrecht und Gesellschaftsrecht einschließlich Bilanzrecht komplementär zusammen.10

4

Vielfach ist deshalb zwischen rechtlichen Vorgaben, die sich an kapitalmarktorientierte Unternehmen wenden und solchen, die Gesellschaften allgemein betreffen, zu unterscheiden. Das dürfte, sowohl für die wissenschaftliche Analyse als auch die Auslegung anhand von Regelungszielen, ertragreicher sein als eine formale Trennung von Kapitalmarkt- und Gesellschaftsrecht. Letztere ist gleichwohl wichtig und wird z.B. bei kollisionsrechtlichen Fragestellungen relevant.

5

Das für Gesellschaften relevante Insolvenzrecht ist grundsätzlich mit einzubeziehen,11 denn die Qualifizierung einer Vorschrift als insolvenzrechtlich oder gesellschaftsrechtlich hängt von nationalen Traditionen ab, die Funktion mag gleichwohl dieselbe sein. Darauf wird noch zurückzukommen sein.12

6

2.

Europäische Regelungsdichte

a)

Primärrecht

Zentraler Anknüpfungspunkt für die Harmonisierung im Gesellschaftsrecht ist Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV/44 Abs. 2 lit. g) EG, der bei der Niederlassungsfreiheit angesiedelt ist und zu Einzelmaßnahmen ermächtigt, die zur Beseitigung von Hindernissen erforderlich sind. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist diese Vorschrift weit auszulegen; sie ist im Zusammenhang mit Art. 4 Abs. 2 lit. a) AEUV/3 Abs. 1 lit. h) EG (vgl. auch Art. 114, 115 AEUV/94, 95 EG) zu sehen. Danach umfasst die Tätigkeit der Gemeinschaft die Angleichung der nationalen Rechtsvorschriften, soweit dies für das Funktionieren des Gemeinsamen Markts erforderlich ist.13 Somit kann Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV/44 Abs. 2 lit. g) EG Grundlage für jede Regelung sein, die Gesell-

10 Ein Beispiel für die Überlappungen ist die Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 betreffend Übernahmeangebote, ABl. 2004 L 142/12 (Übernahmerichtlinie); so Kleindieck, ZGR 2002, 546, 558 ff.; Schnorbus, ZHR 166 (2002), 72, 86 f. (im Hinblick auf das WpÜG). Ausdruck zunehmender Verzahnung ist auch, dass Grundmann in seinem Lehrbuch zum „Europäischen Gesellschaftsrecht“ im Kapitel „Finanzierung an Kapitalmärkten“ auch kapitalmarktrechtliche Richtlinien erläutert. 11 Deutlich wird dies auch durch die Verschiebungen von Regelungen aus dem GmbHG in die InsO durch die GmbH-Reform, siehe dazu unten, Rn. 85; Ehricke, in: Hommelhoff/Helms (Hrsg.), Neue Wege in die Privatgesellschaft (2001), S. 76 ff.; K. Schmidt, FS Großfeld (1999), S. 1037 ff. 12 Beispiel: Insolvenzverschleppungshaftung in Deutschland und Haftung für wrongful trading in England; näher dazu unten, Rn. 71 f. 13 EuGH v. 9.12.1997 – Rs. C-265/95 Kommission ./. Frankreich, Slg. 1997, I-6959, Rn. 18 – Daihatsu = JZ 1998, 193 m.Anm.v. Schön; näher dazu Leible, ZHR 162 (1998), 594, 597 ff.; Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 3 Rn. 18 f.; 20 f.; Grundmann, European Company Law, Rn. 98 f.

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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht

schafter oder Dritte schützt und dieser Schutz die Verwirklichung einer Grundfreiheit fördert.14 Gleichwohl ist Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV/44 Abs. 2 lit. g) EG eine Einzelermächtigung und keine Grundlage für eine Vollharmonisierung. Die Kommission hat in ihren Planungen die Vollharmonisierung zugunsten einer Kombination von Mindeststandards durch punktuelle Harmonisierung und Wettbewerb der Rechtsordnungen im Übrigen aufgegeben.15 Das Instrument der Empfehlung, Art. 288 AEUV/249 EG, hat an Bedeutung zugenommen. Der Gemeinschaftsgesetzgeber unterliegt den Einschränkungen des Subsidiaritätsprinzips und dem Gebot der Erforderlichkeit (Art. 5 Abs. 3, 4 EUV/5 Abs. 2, 3 EG).16

7

Keine Kompetenzbeschränkung liegt in dem Begriff „Schutzbestimmung“. Letztlich erfolgt jeder gesetzgeberische Eingriff zum Schutze der Interessen eines Beteiligten. Im Gesellschaftsrecht sind das die typischen Gefahren opportunistischen Verhaltens in Agentursituationen zwischen der Gesellschaft und ihren Gläubigern, den Gesellschaftern und dem Management und der Gesellschafter untereinander.17

8

Eine wachsende Rolle im Gesellschaftsrecht spielt die Kapitalverkehrsfreiheit. Die Urteile des EuGH zu Beschränkungen des Anteilserwerbs haben diese vor allem an Art. 63 AEUV/56 EG gemessen.18 Die Beschränkungen waren aber gesellschaftsrechtlich vermittelt, insbesondere in Form der berühmten golden shares. Die genannte Überschneidung von Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht setzt sich in der Überlappung von Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit fort. Die Abgrenzung ist schwierig und nicht abschließend geklärt. Aber damit konnte man leben, da sich mittlerweile die Vorgaben des EuGH für die Rechtfertigung von Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit einerseits und der Kapitalverkehrsfreiheit andererseits nicht mehr wesentlich unterscheiden. Ein bedeutender Unterschied besteht allerdings darin, dass die Kapitalverkehrsfreiheit im Gegensatz zu den anderen Grundfreiheiten auch gegenüber Investoren aus Drittstaaten gilt (Art. 63 Abs. 1 AEUV/56 Abs. 1 EGV). Vor allem bei steuerrechtlich geprägten Sachverhalten ist diese Frage von praktischer Bedeutung: Soweit eine nationale Regelung primär auf die Niederlas-

9

14 Grundmann, European Company Law, Rn. 98; vgl. auch Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 3 Rn. 18; 21, jeweils mwN. 15 Vgl. Aktionsplan der Kommission v. 21.5.2003 zur Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union, KOM(2003) 284 endg; dazu van Hulle/Maul, ZGR 2004, 484 ff.; Habersack, ZIP 2006, 445, 446 f.; vgl. auch Großfeld, NZG 2005, 1 ff.; zu den skeptischen Stimmen vgl. Merkt, RabelsZ 59 (1995), 545 ff. 16 Grundmann, European Company Law, Rn. 100. 17 Armour/Hansmann/Kraakman, in: Kraakman u.a. (Hrsg.), The Anatomy of Corporate Law, S. 35 ff. 18 EuGH v. 23.10.2007 – Rs. C-112/05 Kommission ./. Deutschland, Slg. 2007, I-8995 – VW; EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-503/99 Kommission ./. Belgien, Slg. 2002, I-4809; EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-483/99 Kommission ./. Frankreich, Slg. 2002, I-4781; EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-367/98 Kommission ./. Portugal, Slg. 2002, I-4731. Zu weiteren Urteilen in Sachen golden shares und zur Entwicklung über diese Konstellation hinaus vgl. nur Grundmann/Möslein, ZGR 2003, 317 ff.

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3. Teil: Besonderer Teil

sungsfreiheit zielt, wird nach Auffassung des EuGH die Kapitalverkehrsfreiheit verdrängt, so dass sich Investoren aus Drittstaaten auf diese nicht berufen können.19 Eine Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes erlaubt der Bundesregierung, Investoren unter bestimmten Voraussetzungen den Erwerb eines Anteils von 25 % der Stimmrechte zu untersagen.20 Dies hat eine Diskussion ausgelöst, ob und inwieweit diese Regelung ausschließlich bzw. primär die Niederlassungsfreiheit betrifft, so dass aus der genannten Rechtsprechung des EuGH die Verdrängung der Kapitalverkehrsfreiheit abgeleitet werden kann und damit den betroffenen Investoren aus Drittstaaten die Berufung auf die Golden Share-Rechtsprechung verwehrt ist.21 Die Abgrenzung der Reichweite der Kompetenzzuweisung in Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV/44 Abs. 2 lit. g) EG ist dagegen von vergleichsweise geringer Bedeutung.22 Richtlinien, die primär der Gewährleistung der Kapitalverkehrsfreiheit dienen, sind unmittelbar für die Herstellung eines Europäischen Kapitalmarkts und damit unmittelbar für die Verwirklichung des Binnenmarkts relevant.23 Daher können diese Richtlinien unabhängig von der rechtssystematischen Einordnung auf Art. 114, 115 AEUV/94, 95 EG gestützt werden.24

10

b)

Sekundärrecht

aa)

Verordnungen

Die Verordnung ist das Instrument der Wahl zur Schaffung neuer, europäischer Gesellschaftsformen. Die EWIV, die SCE, die SE und der Entwurf einer Verordnung für eine Europäische Privatgesellschaft sind die prominenten Beispiele dafür.25 Wegen

19 EuGH v. 10.5.2007 – Rs. C-492/04 Lasertec, Slg. 2007, I-3775; EuGH v. 24.5.2007 – Rs. C-157/05 Holböck, Slg. 2007, I-4051; ähnl. im Hinblick auf die Verdrängung der Dienstleistungsfreiheit EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-452/04 Fidium Finanz . /. BaFin, Slg. 2006, I-9521. 20 § 7 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 Nr. 6 AWG iVm § 53 AWV; näher dazu Krolop, ZRP 2008, 40 ff.; Martini, DÖV 2008, 324 ff.; Weller, ZIP 2008, 857 ff. 21 Dazu Krolop, ZRP 2008, 40, 43 f.; Martini, DÖV 2008, 324 ff.; Weller, ZIP 2008, 857 ff.; eingehend Krolop, Stellungnahme zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur 13. Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes (http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse/a09/anhoerungen/ Archiv/18_Anhoerung/Stellungnahmen/A-Drs_16-9-1374.pdf). 22 Jedenfalls ist die Kapitalverkehrsfreiheit im Bereich des hier umrissenen Gesellschaftsrechts weitgehend nur als Diskriminierungs- bzw. Beschränkungsverbot relevant. Nach Grundmann, FS Th. Raiser (2005), S. 84, ergibt sich in der Gesamtschau von Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit ein allgemeines Gebot der Gewährleistung der Mobilität von Kapitalgesellschaften. 23 S.o. Fn. 9. 24 Vgl. Präambel der Marktmissbrauchsrichtlinie: „gestützt auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere Artikel 95“; die Aktionärsrechterichtlinie wird sowohl auf Art. 43 als auch Art. 95 EGV (Konsumentenschutz) gestützt, vgl. Zetzsche, NZG 2007, 686. 25 VO (EWG) Nr. 2137/85 über die Schaffung einer Europäischen Interessenvereinigung (EWIV), ABl. 1985 L 199/1; VO (EG) Nr. 2157/2001 v. 8.10.2001 über das Statut der SE (SE-VO), ABl. 2001 L 294/1; s. auch Gesetz zur Einführung der Europäischen Gesellschaft (SEEG) v. 22.12.2004, BGBl. 2004 I, 3675. Zum Zusammenspiel mit der SE-VO vgl. Münch-

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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht

ihrer vergleichsweise geringeren praktischen Relevanz stehen sie (zunächst) nicht im Vordergrund. Ein rechtstechnischer Hinweis erscheint aber angebracht. Die Verordnungen arbeiten mit zahlreichen Verweisen auf nationales Recht (die EWIV-VO auf das Recht der OHG-äquivalenten Rechtsform, die SE-VO auf das Recht der AG).26 Wie „europäisch“ die jeweilige Rechtsform ist, lässt sich am Umfang der Verweisungen jedoch nicht feststellen. Wenn nämlich die Materie keine oder nur mäßige Harmonisierung erfahren hat, ist die europäische Form nur eine äußerliche Hülle.27 Ist die Materie Gegenstand von Richtlinien, ist die Divergenz zwischen den nationalen Rechten verringert. Als Beispiel können das Gründungsrecht der SE28 einerseits, die Bilanzvorschriften für die SE andererseits dienen. Im Gegensatz dazu enthält der Entwurf der Verordnung zur Europäischen Privatgesellschaft verhältnismäßig wenige zwingende Vorgaben, die vor allem die Gründung und den Gläubigerschutz betreffen. In der Anlage I sieht der Vorschlag einen umfangreichen Katalog von Regelungsaufträgen vor: Die dort genannten Punkte müssen im Gesellschaftsvertrag vereinbart werden; die inhaltliche Ausgestaltung bleibt aber weitgehend den Gesellschaftern überlassen. Dieser Katalog bestimmt zugleich den Bereich, in dem der Satzung Vorrang vor dem jeweiligen nationalen Recht zukommt.29 Leben und Tod von Gesellschaften werden vom Insolvenzrecht wesentlich mitbestimmt. Hier findet die Insolvenzverordnung30 als (teilweise) Vereinheitlichung von Kollisionsrecht ihren Platz im Gesellschaftsrecht. Wiederum im Überschneidungsbereich von Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht bewegt sich die IFRS-Verordnung, die die Anwendung der Internationalen Rechnungslegungsstandards für Konzernbilanzen kapitalmarktorientierter Unternehmen vorschreibt. Die einzelnen Standards

26

27 28 29 30

KommAktG-Schäfer, Art. 9 SE-VO; Brandt, Die Hauptversammlung der Europäischen Aktiengesellschaft, S. 23 ff.; näher dazu unten, Rn. 76 ff.; Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Privatgesellschaft v. 25.6.2008, KOM(2008) 396; dazu Arbeitskreis Europäisches Unternehmensrecht, NZG 2008, 897 (Näheres zu diesem Arbeitskreis unter www.akeur.eu); Bücker, ZHR 173 (2009), 281; Hadding/ Kießling, WM 2009, 145; Hommelhoff, FS K. Schmidt (2009), S. 671; Hommelhoff/Teichmann, DStR 2008, 925; dies., GmbHR 2008, 897; Hügel, ZHR 173 (2009), 309; Krejci, Societas Privata Europaea (2008). Zur EWIV vgl. Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 1070; zur SE ders. ebd., Rn. 1006 ff.; Hopt/Cahn (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft – Umsetzungsfragen und Perspektiven (2004); Lächler/Oplustil, NZG 2005, 381 ff. Dies kommt auch deutlich im SEEG zum Ausdruck. Davies, Gower and Davies: Principles of Modern Company Law, Rn. 1–21; in Fn. 153 wird dort vermerkt “… that the SE proposal started as a sausage and ended up as a sausage skin”. S. dazu Kiem, ZHR 173 (2009), 156, 161 ff.; Zöllter-Petzoldt, Die Verknüpfung von europäischem und nationalem Recht bei der Gründung einer Societas Europaea (SE) (1998). Vgl. Begründung des Kommissionsvorschlags zu Kapitel I, KOM(2008) 396, S. 6 f. Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates v. 29.5.2000 über das Insolvenzverfahren, ABl. 2000 L 160/1 (EuInsVO), in der weitgehend das europäische Abkommen über das Insolvenzverfahren (abgedr. in ZIP 1996, 976) übernommen wurde, näher dazu Becker, ZEuP 2002, 287 ff.

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3. Teil: Besonderer Teil

werden im Komitologieverfahren31 verbindlich gemacht und führen zu einer weitgehenden Harmonisierung auf dem Gebiet der Rechnungslegung. Die erreichte Regelungsdichte ist beträchtlich; im Bereich der börsennotierten Gesellschaften hat der nationale Gesetzgeber immer weniger eigenen Gestaltungsspielraum. bb)

Richtlinien

12

Zum Richtlinienbestand, der hier nicht im Einzelnen vorzustellen ist, gehören auch die Bilanzrichtlinien, die für alle Kapitalgesellschaften und einige kapitalgesellschaftsähnliche Personengesellschaften gelten.32 Das Bilanzrecht hat im deutschen Recht seinen Platz im HGB und gilt nach h.M. als öffentliches Recht. Die gesellschaftsrechtliche Einordnung ergibt sich hier aber nicht nur durch die Bezeichnung durch den europäischen Gesetzgeber selbst, sondern auch materiell. Ferner wird die Kapitalrichtlinie (KapRL)33, die für Aktiengesellschaften ein Mindestkapital und Aufbringung und Erhaltung des festen Grundkapitals vorschreibt, in ihrem Inhalt auch dadurch bestimmt, wie bilanziert wird. Entsprechendes gilt für die Einpersonengesellschaftsrichtlinie34.

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Die insgesamt große Harmonisierungsdichte durch Richtlinien ist durch das sog. Informationsmodell geprägt. Ein zentraler Ansatzpunkt des europäischen Gesellschaftsrechts ist Gewährleistung von Information, nach der die Marktteilnehmer ihr Verhalten ausrichten können.35 Darin bestätigt sich die Binnenmarktdimension, die über 31 Die IAS/IFRS werden vom IASB (International Accounting Standards Board) laufend fortentwickelt. Nach Art. 3, 6 IAS-VO entfalten Standards bzw. deren Änderungen erst mit Übernahme als Kommissionsverordnung im Verfahren nach dem Beschluss 1999/468/EG des Rates vom 28.6.1999 ABl. 1999, L 184/23 (Komitologieverfahren, endorsement); Baumbach/Hopt-Merkt, HGB (33. Aufl. 2008), Einl vor § 238 Rn. 152; eingehend Kalss, in diesem Band, § 20 Rn. 26d. Es handelt sich dabei um eine Art des „Expertenrechts“ (vgl. Köndgen, in diesem Band, § 7 Rn. 55 f.), das aber nicht zu soft law, sondern zu bindenden Normen führt. 32 Jahresabschlussrichtlinie; Konzernbilanzrichtlinie; flankierend die Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2006 über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen (Abschlussprüferrichtlinie). Zusammenfassende Darstellung dieses Komplexes in Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 8, Rn. 1 f.; Grundmann, European Company Law, § 9 Rn. 281 ff. 33 Zweite Richtlinie 77/91/EWG des Rates v. 13.12.1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Abs. 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1977 L 26/1 (Kapitalrichtlinie); s. auch unten Fn. 46. 34 Zwölfte Richtlinie 89/667/EWG des Rates v. 21.12.1989 auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts betreffend Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter, ABl. 1989 L 395/40 (Einpersonengesellschaftsrichtlinie); ersetzt durch Richtlinie 2009/ 102/EG. 35 Näher zum Informationsmodell als einem tragenden Leitgedanken der Harmonisierung im europäischen Gesellschaftsrecht Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 227 ff.; ders., ZIP 2004, 2401, 2405 ff.; Grohmann, Das Informationsmodell im Europäischen Gesellschaftsrecht (2006), insbes., S. 126 ff.; zur Kritik am Informationsmodell Schön, FS Canaris (2007), Bd, I, S. 1193 ff.

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die Niederlassungsfreiheit hinausgeht; die Vergleichbarkeit der Abschlüsse aufgrund eines gemeinsamen Mindeststandards ist Grundlage für den grenzüberschreitenden Erwerb von Anteilen, für die grenzüberschreitende Kreditvergabe und damit für die Kapitalverkehrsfreiheit. Als erster und prägender Transparenzansatz ist die Publizitätsrichtlinie von 196836 zu nennen, welche die Offenlegung der Vertretungsverhältnisse von Kapitalgesellschaften gewährleistet. Jüngere und jüngste Aktivitäten konzentrieren sich auf Bereiche, die von besonderer Relevanz für den grenzüberschreitenden Verkehr sind: Gründung von Tochtergesellschaften und Zweigniederlassungen (Zweigniederlassungsrichtlinie37), grenzüberschreitende Verschmelzung (Verschmelzungsrichtlinie38), – in der Schnittmenge mit dem Kapitalmarktrecht – die Übernahmerichtlinie39 sowie die grenzüberschreitende Teilnahme an Hauptversammlungen, insbesondere die Ausübung des Stimmrechts (Aktionärsrechterichtlinie)40. 3.

Dynamik der Rechtsentwicklung

a)

Aktuelle Entwicklung

Die Publizitätsrichtlinie wurde umfassend geändert41 und der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung angepasst. Seit 1. Januar 2007 können sämtliche Angaben, die nach der Richtlinie offen zu legen sind, in elektronischer Form eingereicht werden, Art. 3 Abs. 2 Publizitätsrichtlinie. Die Umsetzung in Deutschland42 zeigte ein

36 Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates v. 9.3.1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Abs. 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1968 L 65/8 (Publizitätsrichtlinie); ersetzt durch Richtlinie 2009/102/EG. 37 Elfte Richtlinie 89/666/EWG des Rates v. 21.12.1989 über die Offenlegung von Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen errichtet wurden, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen, ABl. 1989 L 395/36. 38 Richtlinie 2005/56/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.10.2005 über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten, ABl. 2005 L 310/1; näheres in Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 895 ff.; Maul, BB 2006 Beil. Nr. 6 (zu Heft 34), 1, 11 ff.; Neye, ZIP 2005, 1893 ff.; Kallmeyer, AG 2006, 224 ff. 39 Umgesetzt durch das Übernahmerichtlinie-Umsetzungsgesetz v. 8.7.2006, BGBl. 2006 I, 1426; zur Relevanz des Übernahmerechts für die Grundfreiheiten näher Kaiser, ZHR 168 (2004), 542 ff.; Grundmann/Möslein, ZGR 2003, 317, 355 ff. 40 Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften, ABl. 2006 L 184/17; näher dazu Grundmann/Winkler, ZIP 2006, 1421; zu dieser Problematik aus rechtsvergleichender Sicht Winkler, Das Stimmrecht der Aktionäre in der Europäischen Union. 41 Richtlinie 2003/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.7.2003 zur Änderung der Richtlinie 68/151/EWG des Rates in Bezug auf die Offenlegungspflichten von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, ABl. 2003 L 221/13; s. auch oben Fn. 36. 42 Gesetz über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister (EHUG) v. 10.11.2006, BGBl. 2006 I, 2553. Vgl. Dauner-Lieb/Linke, DB 2006, 767 ff.; Spindler, WM 2006, 109 ff.

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3. Teil: Besonderer Teil

typisches Problem für das Verhältnis von europäischem und nationalem Recht: Die Handelsregister werden weiter von den Ländern geführt, darüber wird ein (Bundes-) Unternehmensregister gestülpt, was zu einigen Anlaufschwierigkeiten geführt hat.43

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Der am 21. Mai 2003 vorgelegte Aktionsplan der Kommission „Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union“ 44 sieht u.a. weitere Initiativen im Gesellschaftsrecht vor, die in einem gestuften Zeitplan in verschiedenen Formen (Verordnung, Richtlinie, Empfehlung, Studien) ergriffen werden. Wiederum Schwerpunkte sind kapitalmarktorientierte Unternehmen und Transparenz.45 Mit der Aktionärsrechterichtlinie, der Übernahmerichtlinie, der Änderung der Kapitalrichtlinie46 und umfassenden Reformen im Bereich der Rechnungslegung sind bedeutende Punkte des Aktionsplans abgearbeitet. Im Anschluss an eine Anhörung zu Prioritäten im Bereich Gesellschaftsrecht 200647 wurde ein Moratorium erwogen, um den Unternehmen und nationalen Gesetzgebern Zeit zu lassen, die jüngsten Änderungen zu verarbeiten. Allerdings heißt es dort auch: “Nevertheless, a possible moratorium should not extend ‘enabling legislation’.48 Derzeit lassen sich folgende Prioritäten identifizieren: Kurzfristig soll die Europäische Privatgesellschaft eingeführt werden; die Studie zur Durchsetzung von Codices in den Mitgliedstaaten wurde im September 2009 fertiggestellt.49 Weitere offene Punkte des Aktionsplans werden wohl allenfalls mittel- oder langfristig realisiert werden. Der Wahlfreiheit zwischen dualistischem und monistischem Organisationsstatut (Vorstand und Aufsichtsrat oder Verwaltungsrat) wurde bei der genannten Anhörung keine große Priorität beigemessen.50 Die Entscheidung über die Frage, ob das Kapitalschutzkonzept der Kapitalrichtlinie zugunsten eines solvency tests aufgegeben werden soll oder der Weg der punktuellen Deregulierung und Vereinfachung, der mit der Änderung der Kapitalrichtlinie beschritten wurde, weitergegangen werden soll, ist

43 Vgl. Dauner-Lieb/Linke, DB 2006, 767 ff. 44 Dazu s.o. Fn. 15. 45 In Einklang mit Ziff. 3.1.1. des Aktionsplans werden mit der Neufassung der Jahresabschlussrichtlinie in Art. 46a – vergleichbar mit § 161 AktG – börsennotierte Gesellschaften zur Abgabe einer „Erklärung zur Unternehmensführung“ verpflichtet; zur Umsetzung ins deutsche Recht vgl. § 289a HGB. 46 Richtlinie 2006/68/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 6.9.2006 zur Änderung der Richtlinie 77/91/EWG des Rates in Bezug auf Gründung von Aktiengesellschaften und die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals, ABl. 2006 L 224/1, zurückgehend auf die Vorschläge der Empfehlung der Arbeitsgruppe zur Vereinfachung des Gesellschaftsrechts bezüglich der Vereinfachung der ersten und der zweiten Gesellschaftsrechts-Richtlinie, KOM(1999) 6037 (sog. SLIM-Gruppe). 47 S. den Abschlussbericht der Generaldirektion Binnenmarkt und Dienstleistungen unter: http://ec.europa.eu/internal_market/company/consultation/index_de.htm. 48 Abschlussbericht (vorherige Fn.), Nr. 3. 49 Studie über die Systeme zur Überwachung und zur Durchsetzung von Corporate Governance Regeln in den Mitgliedstaaten, abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/ company/ecgforum/studies_de.htm. 50 Krit. gegenüber dieser Zurückhaltung Hopt, FS H.P. Westermann (2008), S. 1051 f.

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offen.51 Pointiert gesprochen wird Deregulierung nicht nur im Sinne von Vereinfachung eingesetzt, sondern auch im Sinne der Flexibilisierung im Gegensatz zum Ausbau der zwingenden inhaltlichen Vorschriften. Auch die Europäische Privatgesellschaft wird von der Kommission primär als Flexibilisierungsinstrument wahrgenommen. Die Kapitalrichtlinie wurde teilweise als Keimzelle für eine Vollharmonisierung angesehen. Von diesem Ziel hat man sich aber mittlerweile verabschiedet.52 Die geänderte Richtlinie sieht inzwischen Lockerungsmöglichkeiten vor. Die ohnehin nur punktuellen Vorgaben für die Haftungsverfassung der Gesellschaft, das Regime der Kapitalaufbringung und die Rechte der Aktionäre bei Kapitalmaßnahmen können flexibilisiert werden,53 wovon der deutsche Gesetzgeber zumindest teilweise Gebrauch gemacht hat.54 Das Konzept des festen Grundkapitals steht langfristig insgesamt auf dem Prüfstand.55 b)

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Allgemeine Tendenzen

Die Skizze der Entwicklung im Sekundärrecht zeigt, dass der Rechtsanwender mit den Anwendungsproblemen einer gestuften Rechtsordnung konfrontiert ist,56 darüber hinaus in verschiedener Hinsicht zwischen gegenläufigen Strömungen steuern muss. Im Gesellschaftsrecht im engeren Sinn dominiert die Öffnung zu Marktprozessen, während im kapitalmarktorientierten Bereich die strenge Regelungsdichte zunimmt.

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Die klassische Richtlinie scheint an Bedeutung zu verlieren. Statt Richtlinien, die viel Umsetzungsspielraum lassen, werden entweder detaillierte Verordnungen oder sehr enge Richtlinien erlassen (Beispiele sind die IFRS-VO sowie die Sekundärrechtsnormen im Kapitalmarktrecht, welche kapitalmarktorientierte Gesellschaften betreffen, wie die Verordnung zur Durchführung der Prospektrichtlinie57 oder die Richtlinie zur Durchführung der Marktmissbrauchsrichtlinie), oder es werden alternativ flexiblere

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51 S. Protokoll zur 8. Sitzung des Sachverständigenausschusses v. 4.12.2007, abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/company/advisory/index_de.htm; eingehend dazu – auch aus rechtsvergleichender Sicht – Lutter (Hrsg.), Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa. 52 S.o. die Nachweise in Fn. 15. 53 Vgl. Ziff. 2.1. des Vorschlags der Kommission für die Richtlinie 2006/68/EG (Fn. 46), KOM(2004) 730 endg; Regelungsschwerpunkte: Erleichterung bei der Einbringung von Sacheinlagen, wenn objektive Maßstäbe für die Bewertung zur Verfügung stehen (z.B. börsennotierte Wertpapiere als Sacheinlage, (vgl. Art. 10 ff.); Erleichterungen bei Erwerb eigener Aktien (vgl. Art. 19). 54 Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG) v. 30.7.2009, BGBl. 2009 I, 2479. 55 Bestandsaufnahme der Debatte, auch aus rechtsvergleichender Sicht bei Lutter (Hrsg.), Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa (2005); näher dazu unten Rn. 87 ff. 56 Schönes Beispiel: Art. 9 SE-VO. Zu den sich dabei ergebenden Methodenfragen näher unten Rn. 76 ff. 57 VO (EG) Nr. 809/2004 der Kommission v. 29.4.2004 zur Umsetzung der Richtlinie 2003/71/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die in Prospekten enthaltenen Informationen sowie das Format, die Aufnahme von Informationen mittels Verweis und die Veröffentlichung solcher Prospekte und die Verbreitung von Werbung (ABl. 2003 L 345/64, Prospektrichtlinie), ABl. 2004 L 149/1 (Prospekt-VO).

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3. Teil: Besonderer Teil

bzw. „weichere“ Instrumente eingesetzt wie Empfehlungen (Empfehlungen zur Vergütung der Mitglieder der Unternehmensleitung58 und zur Tätigkeit der Aufsichtsratsmitglieder bzw. nicht geschäftsführenden Direktoren,59 Erklärung zur Corporate Governance60). Die Übernahmerichtlinie ist hier kein geeignetes Gegenbeispiel. Zwar enthält sie ein sehr komplexes System von Wahlrechten für die Mitgliedstaaten, im Übrigen aber sind die Vorgaben so ausführlich, dass sie nur wenig Raum für die individuelle Gestaltung durch den nationalen Gesetzgeber lassen.61 Ähnliches gilt für die Aktionärsrechterichtlinie, die darauf ausgerichtet ist, das Massenprodukt „Aktie“ zu standardisieren.62

20

Die Aufgabe der Idee der Vollharmonisierung setzt an deren Stelle das Konzept der Gestaltung von Rahmenbedingungen für einen funktionierenden Wettbewerb der Regelungsgeber63 und – im Bereich der kapitalmarktorientierten Gesellschaften – für einen funktionierenden Wettbewerb um das Kapital der Anleger in einem europäischen Kapitalmarkt.64 Zugespitzt formuliert geht die Entwicklung weg von einer Harmonisierung in die Breite und in die Richtung einer Harmonisierung in die Tiefe65 an den Punkten, die für die Gewährleistung der Niederlassungsfreiheit und der Schaffung eines funktionierenden europäischen Kapitalmarkts von besonderer Bedeutung sind.

58 Empfehlung 2004/913/EG der Kommission v. 14.12.2004 zur Einführung einer angemessenen Regelung der Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften, ABl. 2004 L 385/55, ergänzt durch die Empfehlung der Kommission v. 30.4.2009, KOM(2009) 3177. 59 Empfehlung 2005/162/EG der Kommission v. 15.2.2005 zu den Aufgaben von nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften sowie zu den Ausschüssen des Verwaltungs-/Aufsichtsrats, ABl. 2005 L 52/51. 60 Art. 46a Abs. 1 Richtlinie 2006/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.6.2006 zur Änderung der Richtlinien des Rates 78/660/EWG und 83/349/EWG hinsichtlich der Jahresabschlüsse, ABl. 2006 L 224/1. Daneben enthält die Richtlinie Erweiterungen der Transparenz, insbesondere im Bereich der Offenlegung von Geschäften zwischen Organmitgliedern und den Unternehmern sowie die Festschreibung des Prinzips der Gesamtverantwortung aller Organmitglieder für die korrekte Erstellung der Jahresabschlüsse. Näher dazu Habersack, NZG 2004, 1, 6 f.; van Hulle/Maul, ZGR 2004, 484, 490 f. 61 Zu Umsetzungsfragen s.o. Fn. 39. 62 Zetzsche, NZG 2007, 686. 63 So auch Grundmann, in diesem Band, § 10 Rn. 54 ff.; ders., ZGR 2001, 783 ff.; Happ, ZHR 169 (2005), 6, 7 f.; Hommelhoff, ZGR 2001, 238 ff.; G.H. Roth, ZGR 2005, 348, 349 ff. Zu den Rahmenbedingungen für einen funktionierenden Wettbewerb der Regelungsgeber s. Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt (2002); Heine, Regulierungswettbewerb im Gesellschaftsrecht (2003); Röpke, Gläubigerschutzregime im europäischen Wettbewerb der Gesellschaftsrechte (2007). 64 Grundmann, ZIP 2004, 2401, 2405 f.; ders., in diesem Band, § 10 Rn. 54 ff.; ders., ZGR 2001, 783 ff. 65 Vgl. Habersack, NZG 2004, 1, 3, zum Aktionsplan (Fn. 15): „Konzentration auf punktuelle Maßnahmen“.

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c)

Methodische Aspekte der aktuellen Entwicklung

Das europäische Gesellschaftsrecht ist, was für das Europarecht allgemein gilt, in besonderem Maße „law in action“66 und die Gemeinschaft nicht Sein, sondern Werden.67 Der EuGH verlangt, bei der Auslegung europäischen Rechts den jeweiligen Stand der Harmonisierung der Rechtsvorschriften und Integrationstiefe im entscheidungsrelevanten Bereich zu berücksichtigen.68 Methodisch wird das teilweise als „Grundsatz der dynamischen Auslegung“ bezeichnet.69 Dabei handelt es sich wohl um eine besondere Ausprägung der teleologischen Auslegung.70 Jedenfalls besteht im Ergebnis Einigkeit, dass bei der Anwendung von Gemeinschaftsrecht dessen Dynamik und Fortentwicklung eine besondere Rolle spielen. Damit ist der Integrationsfortschritt ein wichtiges Leitprinzip bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts.71

21

Im Einzelnen bedeutet das: Je stärker die Harmonisierung fortgeschritten ist, desto stärker rechtfertigungsbedürftig sind nationale Besonderheiten, desto eher sind europäische Vorgaben im Zweifel weit auszulegen, desto eher können Regelungslücken im Sekundärrecht angenommen werden, desto eher stellt sich die Frage, ob Vorschriften des nationalen Rechts, auch wenn sie nicht unmittelbar im Anwendungsbereich von Primär- oder Sekundärrecht liegen, europarechtskonform72 oder wenigstens europarechtsfreundlich73 auszulegen sind.

22/23

Damit gilt auch im Gesellschaftsrecht ganz allgemein, dass europarechtlich relevante Normen im Hinblick auf den Harmonisierungsstand und die Harmonisierungsziele auszulegen sind. Hinzu kommen Besonderheiten des Gesellschaftsrechts, die in der internationalen rechtsvergleichenden und empirischen Forschung herausgearbeitet wurden. Dieser Ansatz geht möglicherweise über die Frage nach einer europäischen Methodenlehre hinaus, ergänzt aber den speziellen Aspekt der Dynamik. Gleichwohl können die nachfolgend genannten Forschungen hilfreich sein für die Beurteilung,

24

66 So zum Gemeinschaftsrecht allgemein bereits Oppermann, in: Gernhuber (Hrsg.), Tradition und Fortschritt im Recht (1977), S. 428. 67 So Hallstein, FS Müller-Armack (1961), S. 277. 68 Das Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Wortlaut und Systematik der Richtlinie einerseits und der Vergemeinschaftung sowie den allgemeinen Zielen der europäischen Integration andererseits wird besonders deutlich bei der Rspr. des EuGH zu Art. 18 EG (Freizügigkeit), worin er ein Konzept der Unionsbürgerschaft entwickelt, wonach das Gebot der Gleichbehandlung mit Inländern auch den Zugang zu sozialen Leistungen beinhalte (EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193; EuGH v. 12.5.1998 – Rs. C-85/96 Martínez Sala, Slg. 1998, I-2691; EuGH v. 17.9.2002 – Rs. C-413/99 Baumbast und R, Slg. 2002, I-7091); sehr krit. Hailbronner, NJW 2004, 2185 ff. 69 Vgl. Bleckmann, Europarecht, Rn. 555; Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 213 f. mwN; Meyer, Jura 1994, 455, 457 f. 70 So auch Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 43 ff.; vgl. Hallstein, FS Müller-Armack (1961), S. 277. Nach der Kritik von Hailbronner, NJW 2004, 2185, 2187, soll es sich um ein Verdecken der Vernachlässigung „klassischer“ Auslegungsmethoden handeln. 71 S. Hallstein, FS Müller-Armack (1961), S. 277, vgl. auch die in Fn. 68 zitierte Rspr. 72 Diese letzte Frage betrifft auch die Problematik der sog. überschießenden Umsetzung. Dazu eingehend Habersack/Mayer, in diesen Band, § 15. 73 GroßkommAktG-Windbichler, vor § 15 AktG Rn. 48. Christine Windbichler/Kaspar Krolop

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welche Auslegungsvariante im Hinblick auf die Erreichung der mit der Richtlinie verfolgten Zwecke und der europäischen Integration zielführend ist.

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Die „Sachgerechtigkeit“ ist ein Gesichtspunkt der – unter unterschiedlichen Bezeichnungen74 – in Entscheidungen des EuGH immer wieder angesprochen wird, insbesondere im Rahmen der teleologischen Auslegung.75 Nach Pistor et al. gilt Gesellschaftsrecht als „gut“ und „leistungsfähig“, wenn es sich flexibel veränderten Verhältnissen anzupassen vermag. Die genannten Autoren haben Indizien für Anpassungsfähigkeit entwickelt und untersucht, nämlich häufige Gesetzesänderungen, Entwicklung neuer Durchsetzungsmechanismen und ein hoher Anteil an Gestaltungsspielräumen bzw. dispositivem Recht.76 Vergleichsgruppen waren sog. „countries of origin“ und sog. „transplant countries“. Das besondere Zusammenspiel von europäischem und nationalem Recht wurde dabei nicht thematisiert, gleichwohl stellen sich hier dieselben Fragen. Insbesondere die neuen Mitglieder der EU haben zu großen Teilen den Prozess der Institutionenbildung noch nicht vollständig abgeschlossen und finden sich vielfach in der Rolle der „transplant countries“. Ähnliches gilt für Mitgliedstaaten, die im Wege der Richtlinienumsetzung Modelle einführen, die ihrer eigenen Rechtsentwicklung fremd sind.77

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Die Schwerfälligkeit der europäischen Gesetzgebung beschwört die Gefahr von Erstarrung herauf. Explizite Gegenmaßnahmen (die SLIM-Initiative, der Aktionsplan, High Level Group of Independent Stakeholders on Administrative Burdens) wurden bereits ergriffen. Die europäische Rechtsetzung drängt im Gesellschaftsrecht insoweit nationale Regulierung zurück, als die Grundfreiheiten als Beschränkungsverbot wirken. Das Informationsmodell fördert privatautonome Gestaltung und damit Innovation durch Kautelarjurisprudenz. Wie die Rechtsprechung des EuGH zu Inspire Art 78 zeigt, kommt der Wahlfreiheit im Hinblick auf Gesellschaftsstatut, Ort der Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft, Gründungsort und Sitz der Gesellschaft

74 „Sinnvoll“ (EuGH v. 29.11.1956 – Rs. 8/55 Fédération charbonnière de Belgium ./. Hohe Behörde, Slg. 1955/56, 297, 328); „Gesunder Menschenverstand“ (EuGH v. 17.12.1959 – Rs. 14/59 Société des Fondières de Pont-à Mousson ./. Hohe Behörde, Slg. 1958/59, 445, 491); Verhinderung von im Hinblick auf die Ziele der Richtlinie „unsinnigen Ergebnissen“ (vgl. EuGH v. 21.4.1988 – Rs. 338/85 Pardini ./. Ministero del Commercio con l’estero und Banca toscana, Slg. 1988, 2041 Rn. 22, 24; EuGH v. 22.3.1990 – Rs. C-234/88 Lampe-Mühle ./. Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung, Slg. 1990, I-1109 Rn. 16); vgl. dazu Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 207 f. 75 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 207 f.; vgl. auch Beitrag von Stotz, in diesem Band, § 22 Rn. 17 ff.; ähnl. speziell im Hinblick auf das Gesellschaftsrecht Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, S. 187: „Auslegung im Hinblick auf die binnenmarktverträgliche Lösung“. 76 Pistor/Keinan/Kleinheisterkamp/West, JCE 31 (2003), 676; dies., U.Pa.J.Int’l Econ.L. 23 (2002), 791. 77 Allgemeiner zu Rezeption und „transplants“ v. Hein, Die Rezeption US-amerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland, S. 39 ff., 57 ff. 78 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155; s.a. EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00 Überseering, Slg. 2002, I-9919.

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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht

zentrale Bedeutung zu.79 Der Einsatz von Empfehlungen und anderen Formen des soft law ermöglicht die Herausbildung von akzeptanzgetragenen Strukturen.80 Diese andere Form von Dynamik steht im Einklang mit der Aufgabe des Ziels der Vollharmonisierung und der Betonung des Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 Abs. 3 EUV/5 Abs. 2 EG). Die nationalen Gesetzgeber reagieren auf diese Dynamik, indem sie sich stärker auf die Konkurrenz durch ausländische Gesellschaftsformen einstellen. 4.

Besonderheiten des Gesellschaftsrechts und die Frage der Systemkonvergenz

Bisher nur gestreift wurden inhaltliche Elemente des europäischen Gesellschaftsrechts. Das gesetzliche Mindestkapital, die Aufbringung und Erhaltung des satzungsmäßigen Kapitals iSd Kapitalrichtlinie könnten materielle Systemelemente sein. Gerade diese Regelung ist aber im Einzelnen umstritten. Insgesamt gibt es im Gesellschaftsrecht wohl keinen so ausgeprägten gemeineuropäischen Rechtsbestand wie etwa im Vertragsrecht. Deshalb soll hier ein methodisch relevanter Gesichtspunkt aus der internationalen Corporate Governance-Diskussion eingeführt werden. Dort geht es um die Frage, ob eine Konvergenz in Richtung auf ein optimales GovernanceSystem möglich ist.81 Eine umfassende, einheitliche Antwort auf diese Frage wird es nicht geben. Hartnäckig fortbestehende Divergenzen erklären sich zumeist aus Pfadabhängigkeiten. Interessant ist aber auch die Feststellung, dass selbst bei Konsens über eine erstrebenswerte Regelung die Veränderung als solche Kosten verursacht (switching costs), mit vorhandenen anderen Regeln nicht harmoniert (Vernetzungsproblem) und deshalb unterbleibt oder doch zu suboptimalen Ergebnissen führt.82 Darüber hinaus haben die nationalen, pfadabhängigen Entwicklungen ihre eigene Optimierung erfahren. Im eigenen Land wurde nicht etwa ein europäischer Gipfel des besten Gesellschaftsrechts in Angriff genommen, sondern der lokale Hügel erstiegen (local hill phenomenon).83 Die im europäischen Kontext erforderliche Rechtsvergleichung auf der Ebene der Richtlinienumsetzung, der Ebene des sonstigen nationalen Rechts und auch von soft law gewinnt an Gehalt und Plausibilität, indem sie Pfadabhängigkeiten, Vernetzungen und „lokale Hügel“ identifiziert.84

79 Näher dazu unten bei Rn. 67 f. 80 Vgl. Eisenberg, Colum. L. Rev. 99 (1999), 1253. 81 Bratton/McCahery, Colum. J. Transnat’l L. 38 (1999), 313, 333 ff.; Gordon/Roe (Hrsg.), Convergence and Persistence in Corporate Governance (2004); v. Hein, Die Rezeption US-amerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland, S. 33 ff. 82 Bebchuk/Roe, in: Gordon/Roe (Hrsg.), Convergence and Persistence in Corporate Governance (2004), S. 69 ff.; vgl. auch v. Hein, Die Rezeption US-amerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland, S. 364 f. 83 R.H. Schmidt/Spindler, in: Gordon/Roe (Hrsg.), Convergence and Persistence in Corporate Governance (2004), S. 114 ff. 84 Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 395 ff.; für die Mitbestimmung v. Hein, Die Rezeption US-amerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland, S. 222 ff.

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II.

Anwendungsbeispiel: Die verdeckte Sacheinlage

1.

Praktisches Ausgangsproblem

In einem in Deutschland entschiedenen Fall 85 war eine Aktiengesellschaft nicht mehr in der Lage, Lieferantenverbindlichkeiten in Höhe von rund 5 Mio. DM zu bedienen. Daraufhin einigte sie sich mit dem Gläubiger auf Folgendes: Die AG führte eine Kapitalerhöhung im Nennwert von ca. 1,5 Mio. DM (1.562.500 DM) gegen eine Bareinlage von 5 Mio. DM durch. Der Gläubiger (= Inferent) brachte die 5 Mio. DM auf und legte sie in bar ein. Entsprechend einer zuvor getroffenen Abrede tilgte der Vorstand daraus die Lieferantenverbindlichkeiten gegenüber dem Inferenten. Die Einlage des Inferenten war damit wirtschaftlich nicht die Barsumme von 5 Mio. DM, sondern die gegen die Gesellschaft gerichtete Forderung. Rechtstechnisch hätte die Forderung (nach deutschem Recht) offen als Sacheinlage eingebracht werden können. a)

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Interessenlagen

Im internationalen Vergleich ist die Umwandlung von Forderungen in Einlagen, hauptsächlich im Sanierungsfall, aber auch zu anderen Zwecken, nichts Ungewöhnliches. Zur besseren Einordnung in den ökonomischen und europäischen Kontext sei deshalb ein kurzer Überblick über die betroffenen Interessen gegeben. aa)

Inferent

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Für den Inferenten tritt eine Bilanzentlastung ein. Die Umwandlung der Forderung in Eigenkapital ist faktisch ein Besserungsschein für den Fall, dass die (wertlose) Forderung bei gelingender Sanierung als Beteiligung werthaltig wird. Für die Wahl der Konstruktion über eine Bareinlage wird die Umständlichkeit und Beschwerlichkeit der Sacheinlagevorschriften genannt. Das gilt auch außerhalb von Sanierungsfällen.

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Ist der Inferent ein Kreditinstitut, ist dieses grundsätzlich verpflichtet, Eigenmittel, d.h. sog. aufsichtsrechtliches Eigenkapital, zu halten, die in einem angemessenen Verhältnis zum Umfang der vergebenen Kredite und den damit verbundenen Ausfallrisiken stehen. Der Umfang der vorzuhaltenden Eigenmittel hängt von der Risikogewichtung ab, die sich wiederum nach der Bonität des Kreditnehmers richtet.86 Je gefährdeter der Kredit ist, desto mehr Eigenmittel müssen vorgehalten werden. Mit der Umwandlung in eine Einlage kann ohne Abschreibung die Bilanz um einen Risikokredit bereinigt werden, Eigenmittel werden frei. Letztlich besteht bei der For-

85 BGHZ 110, 47 – IBH/Lemmerz. 86 Für diese Risikogewichtung sind die Vorgaben in §§ 10 ff. KWG iVm der Solvabilitätsverordnung v. 14.12.2006, BGBl. 2006 I, 2926, zuletzt geändert durch Art. 13 Abs. 11 des Gesetzes v. 25.5.2009, BGBl. 2009 I, 1102. Die Baseler Eigenkapitalvereinbarung „Basel II“ (Wortlaut unter www.bundesbank.de/bankenaufsicht/bankenaufsicht_basel.php) ist eine internationale Vereinbarung, die u.a. die Konvergenz der Risikobewertung im Hinblick auf die gesetzlich vorgeschriebene Eigenkapitalausstattung der Banken zum Gegenstand hat. S. dazu Wittig, ZHR 169 (2005), 212 f.

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derungseinbringung eine ähnliche Interessenlage wie diejenige, die dem Geschäftsmodell der Unternehmen zugrunde liegt, die Banken „faule“ Kredite abkaufen. bb)

Die Gesellschaft selbst

Für die Gesellschaft ist die Umwandlung attraktiv, da sie die Forderung „aus den Büchern bekommt“, d.h. sie die Forderung nicht mehr passivieren muss und so die Überschuldung, bei der sie zur Beantragung der Eröffnung des Insolvenzverfahrens verpflichtet ist, abwenden kann (§ 15a InsO). Ferner entfallen laufende Zinszahlungen (vgl. § 57 Abs. 2 AktG). Auch unabhängig von der Gefahr der Insolvenzantragspflicht hat die Umwandlung von Forderungen in Grundkapital Vorteile. Es erhöht sich die Eigenkapitalquote, die ein wichtiger Faktor für das Rating nach Basel II und damit für die Kreditbedingungen, insbesondere die Höhe der Zinsen ist. cc)

32

Gläubiger

Auf den ersten Blick kommt die Transaktion den Gläubigern zugute. Die Forderung wird getilgt, ohne dass sich das Nettovermögen der Gesellschaft vermindert. Sie kann von dem Inferenten nicht mehr geltend gemacht werden. Damit gibt es einen weniger, mit dem der Kuchen geteilt werden muss.

33

Dennoch ist die geschilderte verdeckte Sacheinlage im Hinblick auf den Gläubigerschutz problematisch. Durch die Barkapitalerhöhung entsteht der Eindruck, der Gesellschaft werde frisches Eigenkapital zugeführt. Für die sonstigen Gläubiger ist nur die Kapitalerhöhung erkennbar, die Rückzahlung an den Inferenten bleibt ihnen verborgen. Dadurch wird die wahre wirtschaftliche Lage, womöglich Insolvenzreife, verschleiert.87

34

dd)

Übrige Gesellschafter

Grundsätzlich besteht die Gefahr des Verwässerungseffekts: Es werden neue Anteile ohne einen wertmäßig adäquaten Vermögenszufluss ausgegeben. Hierdurch kommt es zu einer wirtschaftlichen Abwertung der bestehenden Anteile.88 Ferner sinkt aufgrund der Neuaufnahme eines Gesellschafters die nominelle Beteiligung, das Stimmgewicht verschiebt sich. Dadurch können Beteiligungen unter für die Ausübung von Minderheitsrechten relevante Quoren absinken. Andererseits droht den Gesellschaftern im Falle der Insolvenz der Totalverlust ihrer Einlagen. Daher dürfte bei einer stark insolvenzgefährdeten Gesellschaft die Verwässerung der Anteile von den übrigen Gesellschaftern häufig als das kleinere Übel angesehen werden.

35

Der flexiblen Handhabung der Wiederanlage von Gewinnen dient das sog. Schüttaus-Hol-zurück-Verfahren, in dem ausgeschüttete Gewinne sogleich zur Kapitalerhöhung wieder eingezahlt werden. Auch hier handelt es sich um ein Hin- und-HerZahlen, das das Aufrechnungsverbot umgehen könnte. Bei transparenter Gestaltung

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87 BGHZ 110, 47, 62 – IBH/Lemmerz. 88 BGHZ 110, 47, 62 – IBH/Lemmerz.

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3. Teil: Besonderer Teil

sind nachteilige Effekte aber nicht zu befürchten. Schließlich gibt es noch die Form des Hin- und Herzahlens, bei der dem Gesellschafter die geleistete Einlage als Darlehen zurückgewährt wird (§ 27 Abs. 4 AktG n.F.). b)

Ökonomische Implikationen

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Die geschilderten Interessen beschreiben bereits eine Reihe von ökonomischen Implikationen. Je komplizierter die Umwandlung von Fremd- in Eigenkapital ist, desto schwerer wird es den Unternehmen gemacht, die in Deutschland vergleichsweise geringe Eigenkapitalquote zu erhöhen. Gesamtwirtschaftlich und im Hinblick auf Basel II ist das nicht unproblematisch. Ferner wird hier ein grundsätzliches ökonomisch-rechtspolitisches Problem berührt: Wie lange soll ein Unternehmen am Rande der Zahlungsunfähigkeit und/oder Überschuldung ohne geregeltes Reorganisationsverfahren am Markt agieren dürfen?89 Die Bewertung hängt stark davon ab, wie man Sanierungschance und Gläubigergefährdung gewichtet. Das deutsche Gesellschaftsund Insolvenzrecht ist tendenziell eher gläubigerfreundlich, andere Rechtsordnungen stehen mehr in der Tradition der Unternehmensfortführung und Sanierung.90 Nicht zuletzt handelt es sich um ein Informationsproblem der übrigen Gläubiger und Gesellschafter, die durch die verdeckte Sacheinlage ein unzutreffendes Bild von der Gesellschaft erhalten.

38

Die Regeln zur Aufbringung und Erhaltung des Grundkapitals werden in ihrer Leistungsfähigkeit als Gläubigerschutz zunehmend kritisiert.91 Die Kapitalschutzvorschriften wiederum sind eng verbunden mit dem Bilanzrecht,92 das für die Bewertung maßgebend ist.

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2.

Rechtlicher Einstieg: Nationales Gesellschaftsrecht

a)

Forderungseinbringung als Sacheinlage

Eine Forderung ist nach deutschem Recht als Sacheinlage einzubringen. Deren Wert bemisst sich nicht nur nach dem Nominalwert, sondern auch nach der Durchsetzbarkeit und Liquidität der Forderung, was wiederum von der Bonität und Liquidität des Schuldners, also hier der AG, abhängt. Um zu gewährleisten, dass der tatsächliche Wert von eingebrachten Vermögensgegenständen der nominellen Erhöhung des Stammkapitals entspricht, sieht das Aktiengesetz (und auch die Kapitalrichtlinie) vor,

89 Vgl. Kübler, ZHR 168 (2004), 216 ff. (mit vergleichendem Blick auf die Entwicklung in den USA); Paulus, ZGR 2005, 309, 312 ff. (mit Blick auf die internationale Entwicklung). 90 Vgl. Paulus, ZGR 2005, 309, 312 ff.; Kübler, ZHR 168 (2004), 216. 91 Davies, Gower and Davies: Principles of Modern Company Law, S. 227 f.; Bericht der High Level Group of Company Law Experts v. 4.11.2002, abgedr. in ZIP 2002, 1310, 1318; Aktionsplan, KOM(2003) 284 endg, Ziff. 3.2.; Kübler, in: Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital Markets and Company Law (2003), S. 95 ff.; im deutschen Schrifttum grundlegend Kübler, Aktie, Unternehmensfinanzierung und Kapitalmarkt (1989), S. 59 ff.; weitere Nachweise bei Merkt, ZGR 2004, 305, 310 Fn. 21. Näher dazu unten Rn. 81 f. und 87 ff. 92 Zur Verflechtung von deutschen und europäischen Vorschriften im Bilanzrecht s.o. Rn. 12 f.

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dass ein neutraler Sachverständiger die Werthaltigkeit prüfen muss (§§ 183, 27 AktG, Art. 10 KapRL). Denn nur soweit die Einlage, hier: die Forderung, werthaltig ist, kommt es zu einer realen Vermögensmehrung bei der Gesellschaft. Daher sieht die ganz h.M. in Deutschland auch im Forderungsverzicht die Einbringung einer Sacheinlage. Diese geschieht durch Erlassvertrag oder Abtretung an die Gesellschaft, woraufhin die Forderung infolge Konfusion erlischt.93 In dem oben (Rn. 28) geschilderten Sachverhalt handelt es sich materiell um den Verzicht auf eine Forderung gegen Gewährung von Gesellschaftsanteilen. Deshalb wurden die Vorschriften über Sacheinlagen angewandt mit der Folge, dass die Zahlung der 5 Mio. DM nicht befreiend wirkte (nicht zur freien Verfügung des Vorstands, vgl. §§ 188 Abs. 2 S. 1, 36 Abs. 2 AktG) und der Inferent nochmals zahlen musste. b)

„Lästigkeit“ des Sacheinlageverfahrens und der Versuch der Vermeidung

Die Durchführung einer Sachkapitalerhöhung nach den gesetzlichen Regeln ist „zeitraubend, teuer und lästig“.94 Gerade in Sanierungsfällen fehlt es meist an Zeit und Geld. Hinzu kommt, dass bei realistischer Bewertung die Transaktion aus der Sicht des Inferenten oft wirtschaftlich sinnlos wird. Da in Sanierungsfällen die Bewertung der Forderung der zu erwartenden Insolvenzquote entspricht, könnte die Gesellschaft nur Geschäftsanteile in Höhe dieses Werts neu ausgeben. Aber eine derart geringe Beteiligung ist für den Inferenten nicht attraktiv. Selbst wenn seine „Wette auf die Zukunft“ Erfolg haben sollte, wäre der Ertrag hieraus nicht ausreichend, um den durch den Verzicht entstandenen Nachteil zu kompensieren.95 Um diese Nachteile zu vermeiden, hat sich die Praxis der Barkapitalerhöhung bedient, bei der die Bareinlage hin- und hergezahlt wird. c)

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Die Lehre von der verdeckten Sacheinlage als Reaktion

Wenn, wie im vorliegenden Fall, der Aktionär zwar formal eine Bareinlage erbringt, er diese jedoch in einem engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang durch ein zweites Rechtsgeschäft gegen Zuführung einer anderen Leistung zurückerhält, liegt nach ständiger Rechtsprechung des BGH eine sog. verdeckte Sacheinlage vor,96 wie sie nun auch in § 27 Abs. 3 S. 1 AktG definiert ist. Es wird eine Abrede vermutet, in der sich die Gesellschaft zur Rückzahlung der auf die Bareinlage geleisteten Zahlungen verpflichtet. Wegen dieser Verwendungsabrede fehle es an einer ordnungsgemäßen Erbringung einer Bareinlage, da die Einlage zu keinem Zeitpunkt – wie von § 36 Abs. 2 AktG verlangt – zur freien Verfügung des Vorstands gestanden habe. Zudem wird in dem Hin- und Herzahlen eine Umgehung des Verbots des § 66 Abs. 1 S. 2

93 BGHZ 110, 47, 60 – IBH/Lemmerz; ferner BGHZ 113, 335, 341; Hüffer, § 27 AktG Rn. 25; GroßkommAktG-Röhricht, § 27 AktG Rn. 80. 94 Lutter/Gehling, WM 1989, 1445. 95 Meilicke, DB 1989, 1067 ff. 96 BGH, NJW 2000, 725, 726; MünchKommAktG-Pentz, § 27 AktG Rn. 85; Hüffer, § 27 AktG Rn. 9 ff.

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3. Teil: Besonderer Teil

AktG gesehen, das dem Inferenten die Aufrechnung gegen Einlageforderungen der Gesellschaft mit eigenen Forderungen verbietet. Einer Umgehungsabsicht bedarf es nicht. Es geht vielmehr um die Durchsetzung des Prinzips der realen Kapitalaufbringung.

43

Die praktischen Folgen wurden als „katastrophal“ bezeichnet.97 Bis vor Kurzem galt Folgendes: Da der Anspruch der Gesellschaft auf Leistung der vereinbarten Bareinlage fortbestand, musste der Aktionär die Bareinlage erneut aufbringen (§ 54 Abs. 1 AktG).98 Zwar stand dem Gesellschafter ein Gegenanspruch aus Bereicherungsrecht zu, da der mit der Zahlung auf die Bareinlage befolgte Leistungszweck – Erfüllung einer Verbindlichkeit – nicht eingetreten war. Dieser war aber meist wertlos. Häufig war die Gesellschaft entreichert (§ 818 Abs. 3 BGB), die Forderung war mangels Liquidität der Gesellschaft nicht werthaltig. Wegen des Aufrechnungsverbots konnte der Aktionär weder Aufrechnung noch Zurückbehaltungsrechte geltend machen. Auch aus der Abrede mit der Gesellschaft konnte der Aktionär nichts herleiten. Diese war nämlich gemäß § 27 Abs. 3 S. 1 AktG a.F. nichtig.99

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Als Hauptargument für diese drakonischen Rechtsfolgen wurde vorgebracht, dass die Vorschriften zur Kapitalaufbringung zum Schutz der Gläubiger und auch der übrigen Gesellschafter gegen Umgehung abgesichert werden müssten.100 Die Möglichkeit der Umgehung der Vorschriften zur Einbringung von Sacheinlagen ist in Deutschland seit mehr als 100 Jahren bekannt. Bereits der Gesetzgeber des Aktiengesetzes von 1884 war mit der Problematik vertraut101 und schon das Reichsgericht hat die

97 Lutter, FS Stiefel (1987), S. 524; Lutter/Gehling, WM 1989, 446; vgl. auch Grunewald, FS Rowedder (1994), S. 114: „drakonisch“. 98 Eine Gegenansicht sprach sich für Differenzhaftung aus, Grunewald, FS Rowedder (1994), S. 111 ff.; Krieger, ZGR 1996, 674, 691; Schöpflin, GmbHR 2003, 57, 64; de lege ferenda Brandner, FS Boujong (1996), S. 44 ff.; vgl. auch Einsele, NJW 1996, 2681, 2688 f. 99 BGHZ 110, 47, 65 – IBH/Lemmerz; BGHZ 173, 145 – Lurgi; BGHZ 175, 265 – Rheinmöve; näher dazu Habersack, ZGR 2008, 48, 60 ff.; Krolop/Pleister, AG 2006, 650, 651 f. mit Hinweisen auf weitere besonders drastische Fälle aus der Praxis. Mittlerweile gilt dies auch für eine verdeckte Sacheinlage bei der GmbH, vgl. BGHZ 155, 329; BGHZ 166, 8, 15 – Cash Pool ersetzen. 100 Vgl. nur BGHZ 110, 47 f. – IBH/Lemmerz: „Ein Umgehungsschutz ist … um so dringlicher, als sich die Kapitalerhöhung mit Sacheinlagen in der modernen Wirtschaft zu einem für die Aktiengesellschaft bedeutenden und unverzichtbaren Finanzierungsinstitut entwickelt hat und … um die Institute der bedingten Kapitalerhöhung (§§ 192 ff. AktG), des genehmigten Kapitals (§§ 202 ff. AktG) und der Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln (§§ 207 ff. AktG) erweitert worden ist. […] Die Lehre von der „verdeckten Sacheinlage“ stellt angesichts der Bedeutung der Kapitalerhöhung in ihren verschiedenen Gestaltungsformen sowie mit Rücksicht auf die Ausgestaltung, die diese Formen bis zum heutigen Zeitpunkt vor allem im Zuge der europäischen Rechtsangleichung erfahren haben, nicht nur einen zweckmäßigen, sondern auch einen notwendigen Bestandteil des Aktienrechts dar, mit dem die Umgehung der Vorschriften über den präventiven Kapitalaufbringungsschutz verhindert werden kann.“; vgl. Schall, ZGR 2009, 126, 129: verdeckte Sacheinlage als „Sinnbild für rigide Durchsetzung“. 101 Begr. zum Entwurf eines Aktiengesetzes, 1884, § 10 III, B, 3 abgedr. in Schubert/Hommelhoff, 100 Jahre Aktienrecht, ZGR Sonderheft 4 (1985), S. 453.

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Lehre von der verdeckten Sacheinlage entwickelt. Eine erste Entscheidung erging bereits 1898,102 weitere folgten.103 Hervorzuheben ist die IDUNA Transport- und Rückversicherungs-AG Entscheidung,104 bei der es – wie bei der hier besprochenen Problematik – um ein Hin- und Herzahlen ging. In Deutschland blickt man auf einen langen Zeitraum mit Umgehungserfahrungen zurück.105 Das deutsche Recht hat hier offenbar nicht nur einen Hügel, sondern einen veritablen lokalen Berg erstiegen. Mit der Einführung der gesetzlichen Definition ist diese Entwicklung zu einem vorläufigen Abschluss gekommen. Gleichzeitig wurde auch bereits der Abstieg eingeleitet. Die mit dem MoMiG106 bei der GmbH eingeführten und dem ARUG auf die AG übertragenen Regelungen zielen vor allem auf eine Entschärfung der Rechtsfolgen. Zwar gilt weiterhin die Einlagepflicht als nicht erfüllt. Jedoch sind die Verträge über eine (verdeckte) Sacheinlage nicht unwirksam (§ 27 Abs. 3 S. 2 AktG). Ferner wird der Wert des eingebrachten Vermögensgegenstands auf die Einlageforderung „angerechnet“.107 Maßgebend für die Verrechnung ist der Wert zum Zeitpunkt der Überlassung des Vermögensgegenstands, wobei der Inferent die Beweislast für die Werthaltigkeit trägt (27 Abs. 3 S. 3 AktG). Dies bedeutet für die Einbringung von „handfesten“ Gegenständen, deren Wert mit der Lebensdauer abnimmt, eine erhebliche Entlastung.108 Soweit aber der verdeckten Sacheinlage der Erlass einer gegen die Gesellschaft gerichteten Forderung zugrunde liegt, nützt die Verrechnung dem Inferenten nur bedingt. In der Krise der Gesellschaft beläuft sich der wirtschaftliche Wert einer solchen Forderung häufig nur auf einen Bruchteil des Nominalbetrags. Damit bleibt es dabei, dass der Inferent zumindest einen bedeutenden Teil der Bareinlage erneut 102 RGZ 41, 120, 122 zu § 186 Abs. 2 HGB 1897, der Vorgängervorschrift von § 27 Abs. 1 AktG 1965: „Auch das Gesetz vom 20. April 1892 will, wie sich aus dem Zusammenhange seiner Bestimmungen unzweideutig ergibt, das Erfordernis aufstellen, dass die Gesellschaft bei ihrer Entstehung nicht bloß in den Besitz gewisser Werte, sondern in den Besitz von Geldern gelangt, über welche sie – in deren Eigenschaft eben als Geldes entsprechend – verfügen, und zwar frei verfügen, kann. Es will ferner Vorkehrungen dagegen treffen, dass durch Einverständnis zwischen dem einzahlungspflichtigen Gesellschafter und dem Geschäftsführer anstelle der bedungenen Geldanlagen Gegenstände gegeben werden, von deren Übernahme der Gesellschaftsvertrag nichts enthält, und für deren zutreffende Schätzung daher eine ausreichende Kontrolle mangelt“. 103 Vgl. RGZ 121, 99. 104 RGZ 157, 213, 223: Barkapitalerhöhung, bei welcher der zur Erfüllung hingegebene Scheck absprachegemäß sofort wieder zurückgegeben wurde. Schon in dieser Entscheidung war das tragende Argument, dass es an der freien Verfügbarkeit des gezeichneten Geldbetrags fehle. 105 Abriss der historischen Entwicklung bei GroßkommAktG-Wiedemann, § 183 AktG Rn. 89; Schäfer/Jahntz, in: Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, Bd. 2 (2007), S. 263 ff. 106 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen v. 23.10.2008, BGBl. 2008 I, 2026, insbes. § 19 Abs. 4 GmbHG a.F.; näher zur GmbH-Reform allgemein Windbichler, Gesellschaftsrecht (22. Aufl. 2009), § 20 Rn. 19 ff. mwN; speziell zur verdeckten Sacheinlage aaO, § 21 Rn. 6, § 26 Rn. 18; Schall, ZGR 2009, 129. 107 Die Rechtsnatur der Anrechung ist noch nicht geklärt; Hirte, NZG 2008, 761, 763; Schall, ZGR 2009, 126, 135 ff.; P. Ulmer, ZIP 2008, 45, 51 ff. 108 Zur Frage, ob noch ausreichend Anreize bestehen, eine Sacheinlage offenzulegen vgl. die ausgewogene Stellungnahme bei Habersack, AG 2009, 557, 560; ähnl. Schall, ZGR 2009, 129, 143 f. (im Hinblick auf § 19 Abs. 4 GmbHG).

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aufbringen muss.109 Die Einbringung einer Forderung im Wege der offenen Sacheinlage wurde somit nicht entscheidend erleichtert.110 Auch die Regelung zum Hin- und Herzahlen in § 27 Abs. 4 AktG hilft nicht weiter, denn sie findet nur soweit Anwendung wie die Zahlung nicht als verdeckte Sacheinlage zu beurteilen ist.111 Damit setzen die Vorgaben zur Sachkapitalerhöhung immer noch erhebliche Umgehungsanreize. Der durch den Umgehungsschutz aufgeschichtete Hügel hat weiterhin eine beachtliche Höhe, zumindest soweit die verdeckte Forderungseinbringung betroffen ist.

45

In Großbritannien wurde erst mit der Umsetzung der Kapitalrichtlinie das Prinzip der Aufbringung eines festen Grundkapitals eingeführt; der Gläubigerschutz wird traditionell über insolvenzrechtliche Instrumente und Durchgriffstatbestände bewirkt.112 Hier ist der Umgehungsschutz, obwohl die Problematik im Kern altbekannt ist,113 für den Gläubigerschutz von stark untergeordneter Bedeutung.114 Bei der Umwandlung von Fremd- in Eigenkapital kommt eine Umgehung der Vorschriften zur Aufbringung von Sacheinlagen ohnehin kaum in Betracht, da sec. 583 (3) Companies Act 2006115 „Bareinlage“ sehr breit definiert und den Erlass einer gegen die Gesell-

109 Je schlechter die Lage der Gesellschaft zum Zeitpunkt des Hin- und Herzahlens war und je dringender sie damit auf den Erlass der Forderung angewiesen war, desto näher reicht der Betrag, der erneut aufzubringen ist, an die nominelle Einlagepflicht heran und desto gefährlicher ist die Transaktion damit für den Inferenten, näher dazu Krolop, GmbHR 2007, 117, 119. 110 So auch Bewertung bei Paape, DZWiR 2009, 9, 10 f.; vgl. auch Krolop, GmbHR 2007, 117, 119. 111 § 27 Abs. 4 AktG n.F. und § 19 Abs. 5 GmbHG n.F. zielen auf Vorgänge ab, bei denen Gesellschafter die geleistete Einlage als Darlehen zurückgewährt wird; näher dazu Habersack, AG 2009, 557, 560 f. und unten Rn. 85a, 89. 112 Davies, Gower and Davies: Principles of Modern Company Law, S. 258 f., 263 f. 113 Vgl. Entscheidung Ooeregum Gold Mining Co of India vs. Roper (1892): Keine Anerkennung einer Transaktion, die offensichtlich dazu führt, dass letztlich Anteile unter dem Nominalwert ausgegeben werden (zitiert in Hannigan, Annotated Guide to the Companies Act [2001], S. 157); vgl. auch Boyle/Birds, Company Law (5. Aufl. 2004), S. 181. Zwar bezieht sich der Umgehungsschutz auf das Verbot der Unterpariemmission, das auch für die private limited gilt (vgl. sec. 100 (1) CA: „A company’s shares shall not be allotted at a discount“; näher dazu Micheler, ZGR 2004, 324, 325 f.), aber mittelbar wird damit auch die Aufbringung des Mindesthaftkapitals geschützt. Daher trifft die Aussage von Lutter/ Gehling, WM 1989, 1445, 1457 f., es fehlten Erfahrungen mit dem Umgehungsphänomen ganz, nur bedingt zu. 114 Zur geringen praktischen Relevanz vgl. Boyle/Birds, Company Law (5. Aufl. 2004), S. 180: „… these rules often have less significance than their volume and complexity would otherwise suggest … It must be said that some of the Directive’s provisions appear to be rather pointless in practise …“ Zu Reformbestrebungen Micheler, ZGR 2004, 324, 330 ff. 115 Wortlaut von sec. 583 (3): “A ‘cash consideration’ means – (a) cash received by the company (b) a cheque received by the company in good faith that the directors have no reason for suspecting will not be paid (c) a release of liability of the company for a liquidated sum (d) an undertaking to pay cash to the company at a future dare, (…); ähnl. auch die Vorgängervorschrift sec. 738 (2) CA 1985.

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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht

schaft gerichteten, fälligen Verbindlichkeit als ordnungsgemäße Erbringung der Bareinlage anerkennt.116 3.

Erschließung der europäischen Dimension

a)

Vorlage beim EuGH

Wie bereits angedeutet war die Praxis in Deutschland mit der Rechtsprechung zur verdeckten Sacheinlage unglücklich. Davon zeugt auch die intensive Befassung von Rechtsprechung und Lehre mit Möglichkeiten für eine „Heilung“ der verdeckten Sacheinlage.117 Meilicke hatte die Kapitalrichtlinie gegen die Lehre von der verdeckten Sacheinlage mobilisiert.118 Er argumentierte, dass der europäische Gesetzgeber mit der Kapitalrichtlinie nicht nur einen Mindestschutz festschreiben wollte, sondern damit eine umfassende Harmonisierung der Vorgaben für die Kapitalaufbringung und Erhaltung bezwecke. Auch das Problem der Umgehung sei vom Richtliniengeber erkannt und in den Vorgaben zur Nachgründung in Art. 11 KapRL abschließend geregelt. Damit lege die Richtlinie nicht nur einen Mindest-, sondern auch einen Höchststandard fest, über den der nationale Gesetzgeber (und die Rechtsprechung) nicht hinausgehen dürfe(n). Damit war die Gretchenfrage gestellt: Ist die Kapitalrichtlinie allgemein bzw. Art.10, 11 KapRL Mindest- oder Höchstnorm?

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Bei dem geschilderten Fall war es für den BGH derart eindeutig, dass es sich nur um eine Mindestnorm handele, dass er, wie es Habersack119 formulierte, unter „beherztem“ Rückgriff auf die acte clair-Doktrin120 eine Vorlage an den EuGH ablehnte. Die Vereinbarkeit der Lehre der verdeckten Sacheinlage mit der Richtlinie stehe außerhalb jedes vernünftigen Zweifels.121 Angesichts der Kritik an der Nichtvorlage122 hat im Verfahren Meilicke/ADV-ORGA, dem ein ähnlicher Sachverhalt zugrunde lag, das LG Hannover dem EuGH die Frage, ob die Lehre von der verdeckten Sacheinlage mit der Richtlinie vereinbar sei, zur Entscheidung vorgelegt.123 Der EuGH hat

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116 Davies, Gower and Davies: Principles of Modern Company Law, S. 275 f. Allerdings wurden für den für einen Forderungsverzicht iSv sec. 738 (2) Bestimmtheit der Schuld und Zustimmung der Gesellschaft verlangt, vgl. Gansen, Kapitalaufbringung im englischen und deutschen Kapitalgesellschaftsrecht (1992), S. 36 ff.; Hannigan, Annotated Guide to the Companies Act (2001), S. 1092, jeweils mwN. 117 Für die GmbH ließ der BGH eine Heilung durch Satzungsänderung zu (BGHZ 132, 141, 150 ff.); zur umstrittenen Übertragbarkeit auf das Aktienrecht und Anwendbarkeit der Nachgründungsvorschriften Krolop/Pleister, AG 2007, S. 650). 118 Meilicke, DB 1989, 1067 ff. 119 Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 6, Rn. 31. 120 Vgl. EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 15. 121 BGHZ 110, 47, 68 ff. – IBH/Lemmerz; bekräftigt in BGH, DStR 2006, 2326. 122 Vgl. statt aller Steindorff, EuZW 1990, 251, 254; vergleichsweise wohlwollend Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 39: „sehr großzügige Interpretation“. 123 LG Hannover, ZIP 1991, 369 – Meilicke/ADV-ORGA; Vorlagefrage wörtlich: „Ist es mit dem Recht der Europäischen Gemeinschaft vereinbar, die Tilgung von einer Kapitalerhöhung einer Aktiengesellschaft begründeten Darlehensverbindlichkeiten der Gesellschaft mit Barmitteln des Darlehensgläubigers nach den Schutzvorschriften für das Sacheinlagegeschäft

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3. Teil: Besonderer Teil

eine Entscheidung über die Vorlagefragen aus prozessualen Gründen abgelehnt.124 Die angeschnittenen Fragen sind also nach wie vor nicht abschließend entschieden.125 Deshalb ist das Plädoyer des Generalanwalts beim EuGH Tesauro besonders beachtenswert, der eine sehr differenzierte Sichtweise dieser Problematik entwickelt und dabei sehr sauber zwischen verschiedenen Fragekreisen trennt.126 aa)

1. Fragenkreis: Mindest- oder Höchstnorm

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In einem ersten Schritt stellt Tesauro fest, dass die abstrakte Frage, ob eine Richtlinie Mindest- oder Höchstnorm sei, nicht allgemein beantwortet werden könne. Es müsse vielmehr jede Bestimmung der Richtlinie individuell analysiert werden.127

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Bei systematischer Betrachtung der Kapitalrichtlinie ergebe sich kein eindeutiges Bild. Einerseits sprechen die Begründungserwägungen lediglich von einem „Mindestmaß an Gleichwertigkeit“, andererseits sprechen einige Vorschriften expressis verbis von einem „Mindeststandard“ und wieder andere räumen Mitgliedstaaten ausdrücklich ein Ermessen ein. Dies lege nahe, dass strengere Vorschriften nur dann zulässig seien, wenn eine solche Möglichkeit ausdrücklich eingeräumt sei.128

50

Der zweite Schritt ist die Anwendung dieser Überlegung. Da Art. 11 KapRL den Mitgliedstaaten für zwei Fälle ausdrücklich das Recht einräume, strengere Regeln zu erlassen,129 sei im Umkehrschluss zu folgern, dass die Bestimmungen im Übrigen abschließend seien und damit einen verbindlichen Mindest- und Höchststandard fest-

124 125

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128 129

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abzuwickeln?“ Das Gericht stellte noch weitere sieben Vorlagefragen mit Alternativen und Unterfragen, u.a. ob die Vorschriften der Richtlinie unmittelbar anwendbar sind und ob Art.10, 11 nur Mindestregelungen sind oder eine abschließende Regelung des Umgehungsschutzes darstellen; vgl. Darstellung bei GA Tesauro, SchlA v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, 4871 Tz. 16 ff. EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871. Zur Kritik an der Lehre von der verdeckten Sacheinlage aus europarechtlicher Sicht vgl. Einsele, NJW 1996, 2681, 2683 ff.; Wilhelm, Kapitalgesellschaftsrecht (3. Aufl. 2009), Rn. 311 ff. GA Tesauro, SchlA v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, 4871 Tz. 16 ff. Dieser Befund, auf den GA Tesauro in der Sache „Siemens Nold“ verwiesen hat, wurde vom EuGH bestätigt. In diesem Verfahren ging es um die Frage, ob die Vorgaben des AktG und des BGH zum Bezugsrecht bei Sachkapitalerhöhungen und dessen Ausschluss mit der Kapitalrichtlinie vereinbar sind. Der EuGH hat dies mit Hinweis darauf bejaht, dass die Richtlinie nur für die Barkapitalerhöhung Vorgaben mache; GA Tesauro, SchlA v. 19.9.1996 – Rs. C-42/95 Siemens ./. Nold, Slg. 1996, I-6017 Tz. 10; EuGH v. 19.11.1996 – Rs. C-42/95 Siemens ./. Nold, Slg. 1996, I-6017 Rn. 18. Daneben spielte die Erwägung eine Rolle, dass gegen eine Verstärkung des Aktionärsschutzes regelmäßig dann keine Einwände bestehen, wenn diese nicht unmittelbar auf Kosten des Gläubigerschutzes geht (EuGH, ebd., Rn. 19); ähnlich auch Meilicke, DB 1989, 1067 ff. GA Tesauro, SchlA v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Tz. 12. Vgl. Art. 11 Abs. 1 UAbs. 2: „Die Mitgliedstaaten können diese Vorschriften auch vorsehen, wenn der Vermögensgegenstand einem Aktionär oder einer anderen Person gehört.“

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legten.130 Dabei sei zu berücksichtigen, dass jedes Hinausgehen über den Mindeststandard nicht nur den Schutz verbessere, sondern gleichzeitig andere schützenswerte Interessen beeinträchtige, da Gläubiger- und Gesellschafterinteressen nicht zwingend gleichlaufend seien.131 Damit sei die Kapitalrichtlinie zwar nicht generell eine Höchstnorm, aber der nationale Gesetzgeber dürfe nicht über den in Art. 10, 11 KapRL festgelegten Schutzstandard hinausgehen. bb)

2. Fragenkreis: Rechtfertigung allgemeinen Umgehungsschutzes

Im Allgemeinen werden die Mitgliedstaaten durch eine Richtlinie nicht gehindert, ihre allgemeinen Rechtsvorschriften und Rechtsinstitute anzuwenden, zu denen auch der Umgehungsschutz zähle. Im deutschen Schrifttum wird zudem mit Hinweis auf den effet utile132 darauf verwiesen, dass einer jeden europarechtlichen Norm das Gebot eines effektiven Umgehungsschutzes immanent sei.133

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Die Frage der Umgehung stelle sich aber nicht, wenn es sich bei der Einbringung einer Forderung um eine Bareinlage iSd Kapitalrichtlinie handele, da ja dann nichts mehr umgangen werde.134 Dabei könne die Definition des Begriffs der Sacheinlage nicht dem nationalen Gesetzgeber überlassen werden, da es dieser sonst in der Hand hätte, über den Anwendungsbereich der Richtlinie zu entscheiden.135 Damit sind wir bei dem auch in diesem Band mehrfach angesprochenen Problem der „autonomen Auslegung“ von gemeinschaftsrechtlichen Begriffen.136 Tesauro gelangt zu dem Ergebnis, dass die Einbringung einer gegen die Gesellschaft gerichteten Forderung jedenfalls dann als Bareinlage anzusehen sei, wenn diese liquide und fällig sei.137 Er be-

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130 GA Tesauro, SchlA v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Tz. 18 f. 131 GA Tesauro, SchlA v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Tz. 12, 13. 132 Das Gebot der möglichst effektiven Umsetzung des Europarechts ist ständige Rspr. und gilt auch im Gesellschaftsrecht; vgl. Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 3 Rn. 50 mwN. 133 Vgl. Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 6 Rn. 32; Lutter/Gehling, WM 1989, 1445, 1456 ff.; Kindler, FS Boujong (1996), S. 299, 308 f.; GroßkommAktG-Röhricht, § 27 AktG Rn. 192. 134 GA Tesauro, SchlA v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Tz. 11. 135 GA Tesauro, SchlA v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Rz. 13. 136 Vgl. dazu Beiträge von Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 4 ff.; Röthel, ebd., § 12 Rn. 32 f. und W.-H. Roth, ebd., § 14 Rn. 22, 28, 39. 137 GA Tesauro, SchlA v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Tz. 14. Wenn man der Auffassung des Generalanwalts folgt, dass der Bareinlagebegriff richtlinienautonom im Hinblick auf die Übung in der übergroßen Mehrzahl der Länder einheitlich auszulegen ist, dann ist die Einbringung einer Forderung als Bareinlage anzusehen, und damit die Behandlung des Hin- und Herzahlens als verdeckte Sacheinlage problematisch. Denn dass die Richtlinie erlaubt, bei einer Sacheinlage über die Mindestanforderungen hinauszugehen, bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Richtlinie erlaubt, einen Vorgang, der nach der Richtlinie (vermeintlich) zwingend als Bareinlage anzusehen ist, wie eine Sacheinlage zu behandeln.

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gründet dies mit dem rechtsvergleichenden Hinweis, dass nahezu alle Mitgliedstaaten zu diesem Ergebnis kämen. Dies sei auch mit dem Zweck der Richtlinie zu vereinbaren, da – anders als bei den klassischen Sacheinlagen – der Nominalwert der Forderung eindeutig zu ermitteln sei und die Bilanz der Gesellschaft ja auch in voller nomineller Höhe der Forderung entlastet werde.138

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Wenn nicht eindeutig feststellbar sei, ob die Forderung liquide ist, dann sei der nationale Gesetzgeber grundsätzlich berechtigt, die Transaktion als Umgehung der Vorgaben zur Sacheinlage zu behandeln. Jedoch setze die Annahme eines Umgehungstatbestandes den Nachweis einer Umgehungsabsicht des Inferenten voraus.139

54

Die rechtsvergleichende Aussage, die Tesauro zum Ausgangspunkt seiner Argumentation machte, ist allerdings so nicht haltbar. Eine echte Gleichstellung mit der Bareinlage findet sich vor allem in England.140 Frankreich und Belgien differenzieren durchaus zwischen Bareinlage und Einlage der Forderung, lassen aber eine Aufrechnung bzw. Verrechnung von Forderungen des Gesellschafters mit Bareinlageforderungen zum Wert der Forderung zu,141 wobei es umstritten ist, ob und wann die Aufrechnung zum nominellen Wert erfolgen darf und wann eine Prüfung der Werthaltigkeit der Forderung erfolgen muss.142 Ähnlich ist die Rechtslage in Spanien.143 Angesichts dieses doch verhältnismäßig uneinheitlichen Bildes sollte man exakter formulieren: Die Einbringung einer Forderung wird oft wie eine Bareinlage behandelt.

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Manche Länder haben sich hingegen der strengen Auffassung des deutschen Rechts angenähert. So ist in Österreich unter dem Gesichtspunkt der Verhinderung von „Umwegkonstruktionen“ die Aufrechnung gegen die Bareinlageverpflichtung nur dann zulässig, wenn die Forderung vollwertig sowie fällig ist, bereits vor der Kapitalerhöhung bestand und die Aufrechnung von allen Beteiligten zum Zeitpunkt der Kapitalerhöhung vereinbart war.144 In Italien ist die Einlage einer Forderung (con-

138 GA Tesauro, SchlA v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Tz. 14. So auch das Argument der deutschen Stimmen im Schrifttum, die sich für die Behandlung der sanierenden Forderungseinbringung als Bareinlage aussprechen; vgl. Geßler, FS Möhring (1971), S. 173, 191; Meilicke, Die verschleierte Sacheinlage (1989), S. 2. 139 GA Tesauro, SchlA v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Tz. 20, 21. 140 S. o. Rn. 45 bei Fn. 112–116. 141 Art. L 225-178 Abs. 2 Code de Commerce (Handelsgesetzbuch) in der Fass. v. 8.5.2010; zur identischen Vorgängervorschrift Art. 178 Abs. 2 Loi Nr. 66-537 v. 24.7.1966 sur les sociétés commerciales (Gesetz über die Handelsgesellschaften) Meilicke, DB 1989, 1070; Drinkuth, Die Kapitalrichtlinie: Mindest- oder Höchstnorm (1998), S. 158. 142 Darstellung bei Meilicke und Drinkuth (vorige Fn.) insoweit missverständlich und verkürzt. Eingehend zu dieser Problematik Hansen, Die verdeckten Sacheinlagen in Frankreich, Belgien und Deutschland (1996), S. 160 ff.; Koll-Möllenhoff, Das Prinzip des festen Grundkapitals im europäischen Gesellschaftsrecht (2004), S. 121 ff. 143 Art. 156 Abs. 1 LSA (spanisches AktG); näher dazu Franzmann, Kapitalaufbringung im spanischen Kapitalgesellschaftsrecht (1995), S. 75 ff., 80. 144 OGH SZ 66/90 = ÖJZ 1993/155 EvBl; näher dazu MünchKommAktG-Doralt/Diregger/ Winner, § 27 AktG Rn. 145; vgl. auch Kalss, in: Kalss/Nowotny/Schauer (Hrsg.), Österreichisches Gesellschaftsrecht (2008), Rn. 3/195, 3/218 ff.

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ferimento di credito) hingegen als eine eigene, dritte Art der Einlage geregelt, wobei Forderungen grundsätzlich wie eine Sacheinlage behandelt werden (Art. 2343 Codice Civile). Forderungen gegen die Gesellschaft werden unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise wie eine Bareinlage behandelt, mit der Folge, dass die Werthaltigkeit der Forderung nicht in dem für Sacheinlagen vorgesehenen besonderen Verfahren überprüft wird. Diese Ausnahme wurde in der Kommission zur Umsetzung der Kapitalrichtlinie kontrovers diskutiert, entspricht aber mittlerweile der wohl herrschenden Meinung145. Um die oben angesprochenen Transformationsländer nicht unberücksichtigt zu lassen, sei als weiteres Beispiel Tschechien erwähnt. Dort besagt das Gesetz ausdrücklich, dass eine gegen die Gesellschaft gerichtete Forderung nicht als (Sach-)Einlage eingebracht werden kann (§ 59 Abs. 8 tschech. HGB). Gleichzeitig erlaubt aber das Gesetz bei Kapitalerhöhungen die Erfüllung der Bareinlageverpflichtung im Wege der Aufrechnung, wenn die Hauptversammlung zustimmt.146 b)

Methodische Erträge

Das Beispiel zeigt, dass im Gesellschaftsrecht – wie meist – ein konkreter Konflikt der Ausgangspunkt ist, der zunächst die nationalen Gerichte beschäftigt. Es wird aber auch deutlich, dass die europäische Dimension oftmals nicht wegen ihrer selbst erschlossen wird, sondern als Instrument im Rechtsstreit147 oder gegen eine nationale Rechtsentwicklung. Der europäische Gehalt gesellschaftsrechtlicher Fragestellungen ist gleichwohl unabhängig von der Instrumentalisierung sowohl in der Beratungspraxis wie in der richterlichen Tätigkeit.148 An erster Stelle steht die Ermittlung primären und sekundären Gemeinschaftsrechts und des Stands der Harmonisierung einschließlich des Entwicklungszieles. Vorliegend ist der Abschied vom Gedanken der Vollharmonisierung des Gesellschaftsrechts also von unmittelbarer Bedeutung für die Auslegung der Richtlinien. Bei der (richtlinienkonformen) Auslegung des nationalen Rechts ist der so ermittelte Stand zugrunde zu legen. Des Weiteren ist das nationale Recht im europäischen Kontext zu positionieren, d.h. der nationale Regelgeber muss entscheiden, welches Angebot im Wettbewerb der Rechtsordnungen unterbreitet werden soll. Insofern besteht eine Wechselwirkung mit der Wahlfreiheit hinsichtlich des Gesellschaftsstatuts. 145 Zu dieser Diskussion Meilicke, DB 1989, 1067, 1069. Aktueller die Darstellung bei Cian/ Trabucchi-Buta, Commentario breve al Codice Civile (8. Aufl. 2007), Art. 2342 Codice Civile Ziff. V. 4; Bonfante u.a. – Coppotelli, Codice commentato delle nuove società (2004), Art. 2342 Codice Civile Rn. 10. 146 § 163 Abs. 2 tschech. HGB; näher dazu Stenglová/Plíva/Tomas, Obchodní zákoník (12. Aufl. 2009), S. 520. Eine Parallelregelung gibt es für die GmbH (s.r.o.) in § 108 Abs. 2 tschech. HGB; vgl. dazu auch Krolop, GmbHR 2007, 117, 121 mwN. 147 So im Ausgangsfall „Überseering“ (EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00 Überseering, Slg. 2002, I-9919), der der Abwehr von Gewährleistungsansprüchen diente, vgl. Eidenmüller, ZIP 2002, 2233 ff.; Neye, EWiR 2002, 1113 f. 148 Hier schon wegen des evtl. Erfordernisses einer Vorlage nach Art. 267 AEUV/234 EG, das nach Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG verfassungsrechtlich geschützt ist; BVerfGE 45, 142, 181 ff.; 73, 339, 366 ff. – Solange-II; Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde (3. Aufl. 2006), Rn. 308.

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Rechtsvergleichende Betrachtungen helfen, das local-hill-Phänomen zu erkennen.149 Das dient aber nicht nur der reiferen Selbsterkenntnis, sondern auch dem europäischen Überblick über die nationalen Täler und Hügel. Denn dort, wo ein Tal durch Harmonisierung aufgefüllt wurde, bleibt meist immer noch eine gewisse Senke – in Großbritannien etwa erfreut sich das feste Grundkapital nach wie vor keiner überwältigenden Sympathie. Eine lebendige Fortentwicklung ist nicht zu erwarten, es handelt sich um ein legal transplant.150 Ebenso ist die Überlebenskraft der in Deutschland neuen GmbH-Variante ohne Mindeststammkapital (Unternehmergesellschaft haftungsbeschränkt, § 5a GmbHG) noch keineswegs gesichert. Das Abtragen von Hügeln ist mühsam, wie die Lehre von der verdeckten Sacheinlage zeigt.

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Der Rechtsvergleich ist aber schon auf der vorgelagerten Ebene der Auslegung der Richtlinie erforderlich. Nur so ist nämlich zu verhindern, dass kraft nationalen Vorverständnisses die acte clair-Doktrin in Anspruch genommen wird, obwohl für Unklarheiten aller Anlass besteht. Im vorliegenden Beispiel der verdeckten Sacheinlage ist die Frage, ob die Umwandlung von Forderungen in Eigenkapital Sacheinlagen i.S.d. Richtlinie sind. Denn die Abgrenzung Bareinlage/Sacheinlage geht in den Mitgliedstaaten verschiedene Wege.151

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Das Beispiel der Kapitalaufbringungsvorschriften und der Bekämpfung ihrer Umgehung verdeutlicht, dass die Anwendung von Gesellschaftsrecht im europarechtlichen Kontext einen breiten Zugriff braucht, der aktuelle europäische und internationale Entwicklungen einbezieht und die Gesamtkonzeption des europäischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrechts berücksichtigt. Dieses Postulat gilt auch in Bereichen, in denen sekundäres Gemeinschaftsrecht keine zwingenden Vorgaben macht. Selbst wenn viel dafür spricht, dass der deutsche Gesetzgeber bzw. die deutsche Rechtsprechung die Freiheit haben, an der Lehre von der verdeckten Sacheinlage festzuhalten, sollte man den Gebrauch dieser Freiheit kritisch hinterfragen. Die strenge Handhabung dürfte insbesondere ausländische Inferenten überraschen,152 enthält also vor allem auch ein Informationsproblem. 149 Rechtsvergleichender Überblick zur verdeckten Sacheinlage etwa bei GroßkommAktGWiedemann, § 183 AktG Rn. 10 ff.; Kindler, ZHR 1994, 339, 342 ff.; vgl. zum Rechtsvergleich als Methode o. Rn. 44, 51 f. 150 Diese Metapher geht auf Alan Watson, Legal Transplants, An Approach to Comparative Law (1993), S. 21 ff., zurück; krit. Teubner, MLR 61 (1998), 12; empirisch Pistor/Keinan/ Kleinheisterkamp/West, JCE 31 (2003), 676; dies., U.Pa.J.Int’l Econ.L. 23 (2002), 791. Zur umgekehrten Problematik der „Transplantation“ angelsächsischer Rechtsfiguren in das deutsche Aktienrecht v. Hein, Die Rezeption US-amerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland mit Kritik zur Terminologie, S. 57 ff. 151 S.o. Rn. 44, 51 f. Hier zeigt sich auch die Gefahr einer spontanen Ausrichtung auf ein „Vorbildrecht“, nämlich des deutschen Rechts hinsichtlich der Kapitalaufbringungsgrundsätze. Der eigene Standort mag der Gipfel eines local hill sein. Methodisch gibt es aber keinen grundsätzlichen Vorrang eines „Vorbildrechts“, vgl. Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 38. 152 Ein gravierender Fall der fehlgeschlagenen Einbringung von Forderungen betraf General Motors. Das Unternehmen wurde im Zuge des Konkurses der IBH Holding AG durch das LG Mainz, AG 1987, 91 ff., zu einer Nachzahlung von 62,8 Mio. DM verurteilt, vgl. dazu Lutter/Gehling, WM 1989, 1445, 1446; Hommelhoff, ZIP 1987, 477, 480 f.; vgl. auch BGH, ZIP 1992, 1464 ff. – IBH/Scheich Kamel; dazu Wiedemann, EWiR 1992, 1153 f.

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III. Europäische und nationale Entwicklungsperspektive 1.

Europäische Ebene

a)

Gesellschaftsrecht allgemein

Wie oben ausgeführt, ist das europäische Gesellschaftsrecht in besonderem Maße „law in action“. Das betrifft nicht nur den Harmonisierungsstand, sondern ebenso materielle Weiterentwicklungen. Dieses hohe Maß an Dynamik bedarf eines stimmigen Zusammenspiels, einer laufenden Anpassung und Abstimmung. Dynamische Auslegung kann daher hier nicht bedeuten, von der schieren Anzahl der Rechtsakte153 im Bereich des Gesellschaftsrechts auf einen hohen Harmonisierungsgrad zu schließen und die europarechtlichen Vorgaben allgemein im Zweifel weit mit dem Ziel einer möglichst weit gehenden Konvergenz auszulegen. Da es aufwendiger ist, europarechtliche Vorgaben zu ändern als nationales Recht, würde bei einer Harmonisierung des Gesellschaftsrechts „in die Breite“ Erstarrung drohen. Hinzu kommt die besondere Problematik einer komplexen Vielstufigkeit und eines vielschichtigen Zusammenspiels von Normen. Ausgangspunkt sind nationale Vorgaben für das Gesellschaftsrecht. Darauf setzen die europäischen Regeln für Kapitalgesellschaften auf. Von diesen gelten wiederum einige nur für die AG, darunter wiederum einige nur für börsennotierte AG. Bei letzteren kommt die Verbindung mit dem Kapitalmarktrecht hinzu. Daher droht dem Recht gerade der börsennotierten Gesellschaften bzw. nationalem Aktiengesellschaftsrecht, dass es zwischen den mannigfaltigen kapitalmarktrechtlichen und gesellschaftsrechtlichen Vorgaben eingezwängt wird und Handlungsund damit Anpassungsspielräume schrumpfen.154 Das gilt nicht nur für private Akteure; die Diskussion über die Vereinbarkeit des Finanzmarktstablisierungsbeschleunigungsgesetzes155 mit der Kapitalrichtlinie verdeutlicht, dass der Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten beschränkt ist.156 Ein gesellschaftsrechtliches Gegengewicht können hier dispositive Vorschriften bilden, genauer: die europarechtliche Festschreibung der Dispositivität. Mittelbar ist das geschehen hinsichtlich der Auswahl des Gründungsstatuts (Inspire Art),157 unmittelbar im SE-Statut betreffend Auf-

153 Vgl. Pistor/Keinan/Kleinheisterkamp/West, JCE 31 (2003), 676; dies., U.Pa.J.Int’l Econ.L. 23 (2002), 791: Anzahl von Veränderungen als Flexibilitätsmaßstab. 154 Ähnlich für das deutsche Aktienrecht Ekkenga, ZGR 1999, 165, 200: „Die börsennotierte AG droht, zwischen zwei aufeinander nicht ausreichend abgestimmten Normenkomplexen eingezwängt zu werden: Hier das zwingende Aktienorganisationsrecht mit seinem institutionalisierten Minderheitenschutz, dort die zunehmende Reglementierung des Marktverhaltens zum Zwecke des Anlegerschutzes.“ 155 Gesetz zur Beschleunigung und Vereinfachung des Erwerbs von Anteilen an, sowie Risikopositionen von Unternehmen des Finanzsektors durch den Finanzmarktstabilisierungsfonds, BGBl. 2008 I, 1982. 156 Statt vieler Grundmann/Hofmann/Möslein, in: dies. (Hrsg.), Finanzkrise und Wirtschaftsordnung (2009), S. 22 ff. 157 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155. Zur Wahlfreiheit in der Praxis s. Riegger, ZGR 2004, 510 ff. Näher dazu unten, Rn. 67 ff.

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sichtsrats- oder Board-System158 und im Entwurf der Verordnung für das Statut der Europäischen Privatgesellschaft159.

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Vor diesem Hintergrund bedeutet „dynamisch“ auslegen, den Harmonisierungsstand differenziert zu betrachten und zwischen Gewährleistung der primären Niederlassungsfreiheit (grenzüberschreitende Gründung und unternehmerische Beteiligung an Gesellschaften, Wahlfreiheit hinsichtlich des Gesellschaftsstatuts) einerseits160 und Beurteilung des nationalen Rechts aufgrund des Gesellschaftsstatuts andererseits zu unterscheiden. b)

Kapitalaufbringungsschutz im Besonderen

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Das Konzept des Gläubigerschutzes durch Kapitalaufbringung und -erhaltung war nie unumstritten und seine Sinnhaftigkeit wird – vor allem aufgrund ökonomischer und rechtsvergleichender Überlegungen – zunehmend in Frage gestellt. Das System sei aufwendig, teuer, bewirke keinen wirklich effizienten Schutz161 und benachteilige unfreiwillige Gläubiger.162 Auch in ihrem Aktionsplan163 gelangt die Kommission zu dem Schluss, dass das Mindestkapitalkonzept zwar nicht aufgegeben werden soll, jedoch eine Vereinfachung der Kapitalrichtlinie wesentlich zur Steigerung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen beitragen würde. Ferner hat sie angekündigt, langfristig Überlegungen anzustellen, ob das System des festen Garantiekapitals durch alternative Systeme des Gläubigerschutzes ersetzt werden sollte.

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Darauf folgte die Änderungsrichtlinie zur Kapitalrichtlinie.164 Diese sieht in einem neuen Art. 10a KapRL vor, dass die Mitgliedstaaten in bestimmten Fällen von dem Erfordernis der Erstellung eines Sachgründungs- bzw. -einlageberichts über die Werthaltigkeit der Einlage absehen können. Dabei handelt es sich um Umstände, bei denen eine objektive Bewertung gewährleistet erscheint (Als Einlage werden an einem geregelten Markt notiere Wertpapiere eingebracht, die Einlage wurde vor kurzem bereits bewertet, Wert geht aus der Vermögensaufstellung eines gesetzlichen Abschlusses hervor, der im Einklang mit den entsprechenden europarechtlichen Vorgaben 158 Die SE-VO gewährt in Art. 38 ein Wahlrecht und macht für beide Varianten Vorgaben (vgl. Art. 39 zum dualistischen System; Art. 43 ff. zum monistischen System). Näher zu den Methodenfragen bei der SE unten, Rn. 76 ff. 159 Siehe oben, Rn. 10, 16. 160 Dazu näher unten, Rn. 67 ff. 161 Enriques/Macey, Cornell L. Rev. 86 (2001), 1165 ff.; Hansmann/Kraakmann, Yale L. J. 110 (2000), 1879 ff.; so bereits aus rechtsvergleichender Sicht Kübler, ZHR 168 (2004), S. 216 ff.; ders., in: Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital Markets and Company Law (2003), S. 95 ff.; ders., EBLR 2004, 1031. Zur aktuellen Diskussion im Hinblick auf die Zukunft des deutschen Aktienrechts siehe Eidenmüller/Engert, AG 2005, 97 ff.; Mülbert, Der Konzern 2004, 151 ff.; Schön, Der Konzern 2004, 162 ff.; umfassende Bestandsaufnahme bei Lutter (Hrsg.), Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa. 162 Speziell zu diesem Aspekt Hansmann/Kraakmann, Yale L. J. 110 (2000), 1879; Escher-Weingart, Reform durch Deregulierung im Kapitalgesellschaftsrecht (2002), S. 138 ff.; vgl. auch die Beiträge in der vorigen Fn. 163 KOM(2003) 284 endg. 164 Näher dazu Maul, BB 2006 Beil. Nr. 6 (zu Heft 34), 11 ff.

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aufgestellt wurde). Dem Minderheitenschutz soll dadurch Rechnung getragen werden, dass Aktionäre, die zusammen genommen mindestens 5 % des gezeichneten Kapitals halten, eine Neubewertung des betreffenden Vermögensgegenstands verlangen können. Aus der Änderungsrichtlinie folgt für die Auslegung der Kapitalrichtlinie, dass dieser nicht unterstellt werden kann, sie wolle einen möglichst umfassenden, in jeder Hinsicht abgesicherten Kapitalaufbringungsschutz gewährleisten.165 Ferner sieht die Richtlinie keine generelle Absenkung des Schutzniveaus vor, sondern schafft ein Wahlrecht. Dies bestätigt den bereits oben erhobenen Befund, dass keine vollständige Vereinheitlichung gewollt ist, sondern der Richtliniengeber in Kauf nimmt, dass in einigen Staaten ein höherer Kapitalaufbringungsschutz betrieben wird als in anderen Staaten.166 Eine eindeutige, generelle Aussage, es handele sich um eine Höchst- oder Mindestnorm, lässt sich daraus aber nicht ableiten.

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Folgendes Beispiel mag das illustrieren. Während nach Art. 10a KapRL die Mitgliedstaaten für bestimmte Fälle beschließen können, dass die Vorgaben zur Sachkapitalerhöhung nicht anzuwenden sind, statuiert Art. 11 Abs. 2 KapRL (vgl. § 52 Abs. 9 AktG), dass auf Geschäfte im laufenden Geschäftsgang die Vorgaben zur Nachgründung in Art. 11 Abs. 1 KapRL nicht anzuwenden sind. Daraus ließe sich im Umkehrschluss folgern, dass Art. 11 KapRL zumindest insoweit als Höchstnorm zu begreifen ist als Geschäfte im laufenden Geschäftsgang keinen besonderen Vorgaben unterliegen dürfen, soweit sie in den zeitlichen Anwendungsbereich der Nachgründung fallen.167 Dieses von Art. 11 Abs. 2 KapRL vorgesehene Privileg läuft aber weitgehend leer, wenn man auf diese Vorgänge die Lehre von der verdeckten Sacheinlage anwendet. Denn der BGH lehnt im Einklang mit der h.M. einen Vorrang der Regelungen zur Nachgründung im Allgemeinen168 und eine Ausnahme nach dem Vorbild von § 52 Abs. 9 AktG und Art. 11 Abs. 2 KapRL im Besonderen169 ab. Zumindest für den speziellen Bereich der Geschäfte im laufenden Geschäftsgang im unmittelbaren Anwendungsbereich der Nachgründung ist die Frage der Vereinbarkeit der Lehre von der verdeckten Sacheinlage mit der Kapitalrichtlinie erneut gestellt.170 Glücklicherweise ist dieses methodisch reizvolle Problem verhältnismäßig wenig praktisch, da sich die Problematik der verdeckten Sacheinlage vor allem bei Kapitalerhöhungen stellt, auf die die Vorschriften zur Nachgründung grundsätzlich keine Anwendung finden.171

64a

165 Vgl. BE 2 RL 2006/68/EG: „… gelangt die Kommission zu dem Schluss, dass eine Vereinfachung der Richtlinie 77/91/EWG wesentlich zur Steigerung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen beitragen würde, ohne den Aktionärs- und Gläubigerschutz zu verringern.“ 166 Vgl. Titel eines Beitrags von H.P. Westermann, ZHR 172 (2008), 144: „Kapitalschutz als Gestaltungsmöglichkeit“ [für den Gesetzgeber – Anm. der Verfasser]. 167 Näher dazu Krolop, NZG 2007, 577, 579. 168 BGHZ 170, 47, 55 ff.; diff. MünchKommAktG-Pentz, § 27 AktG Rn. 97. 169 BGHZ 170, 47, 55 ff.; zust. Habersack, ZGR 2008, 48, 58 f. mwN. 170 Zu weiteren Implikationen Krolop, NZG 2007, 577, 579. 171 Einzelheiten sind allerdings streitig, s. Habersack, ZGR 2008, 48, 59 f.

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3. Teil: Besonderer Teil

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Für die Frage Mindest- oder Höchstnorm ist auch zu berücksichtigen, inwieweit das nationale Recht, das für die Gesellschaft maßgeblich ist (Gesellschaftsstatut), frei wählbar ist. Eine tragende Erwägung, die wohl letztlich hinter der Befürwortung der Einordnung der Kapitalrichtlinie als Höchstnorm stehen dürfte, liegt darin, dass (vermeintlich) überzogene Schutzvorgaben nach deutschem Recht ausländische Gesellschafter/Gesellschaften von der Gründung und damit von der wirtschaftlichen Betätigung in dem jeweiligen Mitgliedstaat abhalten.172 Hier kommt nun die neuere Rechtsprechung des EuGH zur Gewährleistung der Niederlassungsfreiheit im Gesellschaftsrecht für die Auslegung im Lichte der Grundfreiheiten zum Tragen. Grundsätzlich darf einer im EG-Ausland gegründeten Gesellschaft die Eintragung einer Zweigniederlassung in das Handelsregister nicht mit Hinweis auf die Gefahr der Umgehung nationaler gesellschaftsrechtlicher Bestimmungen verweigert werden. Wenn aber der Ort der Gründung der Gesellschaft für deren Rechtsstatut maßgeblich ist und die Gesellschaft dieses huckepack überall hin mitnehmen kann, dann ist nicht einzusehen, inwieweit Vorgaben im deutschen Gesellschaftsrecht, die über den Mindeststandard hinausgehen, die Wahrnehmung der Niederlassungsfreiheit weniger attraktiv machen sollen.

66

Daher ist die Interpretation als Höchstnorm zur Förderung der Niederlassungsfreiheit nicht zwingend erforderlich, so dass sich die Frage nach der Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 3 EUV/5 Abs. 2 EG) stellt. Wenn man davon ausgeht, dass das Ziel der Vollharmonisierung zugunsten des Konzepts eines transparenten (s.o. Rn. 13: „Informationsmodell“) Wettbewerbs der Regelungsgeber aufgegeben wurde, dann ist das Verständnis der Richtlinie als Mindest- und Höchstnorm sogar kontraproduktiv. Denn dem nationalen Gesetzgeber werden Gestaltungsspielräume verschlossen, innerhalb seiner eigenen Pfadabhängigkeiten individuelle Lösungen, die eben keinen gleichen, aber gleichwertigen Gläubiger- und Minderheitenschutz bieten, zu suchen. Es droht die oben genannte Gefahr der Erstarrung. In Sachen Siemens ./. Nold hat der EuGH auch angedeutet, dass ein über die Richtlinie hinausgehendes Schutzniveau durchaus im Sinne der Vorschriften zur Rechtsangleichung sein könne.173 2.

67

Kollisionsrechtliche Ebene: Wahlfreiheit hinsichtlich des Gesellschaftsstatuts

Wie bereits erwähnt, liegt ein Schwerpunkt der europarechtlichen Harmonisierung bei Vorgaben für grenzüberschreitende Transaktionen. Diese werfen die Frage des anwendbaren Rechts auf. Auf dieser kollisionsrechtlichen Ebene ist nicht nur spezielles Sekundärrecht,174 sondern auch das Primärrecht zu berücksichtigen. Ein anschauliches Beispiel für das Einwirken der Niederlassungsfreiheit auf das Kollisionsrecht ist die Behandlung von europäischen Auslandsgesellschaften, insbesondere der (fälsch-

172 Drinkuth, Die Kapitalrichtlinie: Mindest- oder Höchstnorm (1998), S. 174 f.; Steindorff, EuZW 1990, 251, 252 f. 173 S. dazu o. Rn. 48 mit Fn. 127. 174 S. z.B. Art. 12 Verschmelzungsrichtlinie; Art. 4 Abs. 2 lit. a) Übernahmerichtlinie. Die EuInsVO zielt sogar primär auf die Regelung des Kollisionsrechts.

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licherweise) so genannten Scheinauslandsgesellschaft. Bei dieser handelt es sich um eine Gesellschaft, die in einem Mitgliedstaat (Gründungsstaat) ausschließlich zum Zweck der wirtschaftlichen Betätigung in einem anderen Mitgliedstaat (Zuzugsstaat) gegründet wird. In Sachen Überseering175 und Inspire Art176 hat der EuGH statuiert, dass der Zuzugsstaat diese Gesellschaften grundsätzlich ohne Einschränkungen als rechts- und parteifähig anerkennen muss. Die Umgehung bzw. Vermeidung des Gesellschaftsrechts des Zuzugsstaats sei kein Missbrauch, sondern Ausübung der Niederlassungsfreiheit, die nur aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls beschränkt werden dürfe. Bei der Umsetzung dieser Vorgabe im Rahmen der Anwendung des nationalen Rechts sind zwei Ebenen zu trennen, die häufig miteinander vermengt werden: Gewährleistung der Wahlfreiheit der für die Gesellschaft maßgeblichen Gesellschaftsrechtsordnung, das heißt Wahl des Gesellschaftsstatuts, dazu a), und Bestimmung der Reichweite des Gesellschaftsstatuts, dazu b). a)

Gewährleistung der Wahlfreiheit des Gesellschaftsstatuts

Zunächst geht es um die Frage, wie das nationale Kollisionsrecht anzuwenden ist, damit die Anerkennung der im Ausland gegründeten Gesellschaft im Zuzugsstaat gewährleistet ist. Folgte man der in Deutschland lange Zeit herrschenden Sitztheorie,177 wäre der tatsächliche Verwaltungssitz Anknüpfungspunkt für das anzuwendende Sachrecht. Die Rechts- und Parteifähigkeit einer in Großbritannien wirksam gegründeten und eingetragenen Company Limited by Shares (nachfolgend: Limited), deren tatsächliche Hauptverwaltung in Deutschland betrieben wird, würden nach deutschem Gesellschaftsrecht beurteilt. Dies hätte zur Folge, dass in Ermangelung der Eintragung ins Handelsregister die Anerkennung als Kapitalgesellschaft mit beschränkter Haftung versagt und sie als Vor-GmbH, OHG oder GbR qualifiziert werden würde, u.a. mit der Konsequenz der unbeschränkten Haftung der Gesellschafter.178 Hierdurch würde die Niederlassungsfreiheit unzulässig beschränkt.

68

Die Vorgaben des EuGH zur Gewährleistung der Niederlassungsfreiheit durch freie Rechtsformwahl lassen sich im Ergebnis sinnvoll nur dadurch umsetzen, dass die Rechtsverhältnisse der Gesellschaft, insbesondere die Rechts- und Parteifähigkeit nach dem Recht des Gründungstaates beurteilt werden (Gründungstheorie). Die Gründungstheorie an sich ist aber damit keine unmittelbar geltende europarechtliche Norm oder gar selbst Schutzgegenstand der Niederlassungsfreiheit, sondern sie ist die Methode des nationalen Kollisionsrechts zur Umsetzung der Vorgaben des EuGH

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175 EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00 Überseering, Slg. 2002, I-9919. 176 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155. 177 Vgl. nur Darstellung bei MünchKommAktG-Altmeppen, Europäische Niederlassungsfreiheit Rn. 36 ff. mwN und Eidenmüller, in: ders. (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften (2004), § 1 Rn. 4 ff. 178 So der BGH, NZG 2000, 926 im Vorlagebeschluss, der zu der Überseering-Entscheidung des EuGH geführt hat; ähnlich jüngst im Hinblick auf eine in der Schweiz gegründeten Gesellschaft BGHZ 178, 192 – Trabrennbahn.

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3. Teil: Besonderer Teil

bzw. zur Verwirklichung der Grundfreiheit.179 Dafür sprechen auch Art. 7, 8 und 64 der SE-VO, die für die Europäische Gesellschaft verbindlich Sitz und Hauptverwaltung am selben Ort verlangen, also der Sitztheorie nahe stehen, dafür aber die grenzüberschreitende Sitzverlegung regeln.

69a

Der BGH hat deutlich gemacht, dass er jenseits des Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten an der Sitztheorie festzuhalten gedenkt.180 Dieses Zögern beim Verlassen des vertrauten Pfades der Sitztheorie mag einen sachlichen Grund darin finden, dass das Regelungsgefälle innerhalb der EU aufgrund der Rechtsharmonisierung geringer ist als gegenüber Drittstaaten;181 führt aber dazu, dass es derzeit drei verschiedene Regimes für die Behandlung von Auslandsgesellschaften gibt: Gründungstheorie bei Staaten mit Gründungssitz in einem EU-Staat, besondere Vorgaben des deutschamerikanischen Freundschaftsvertrags bei Gründungssitz in den USA182 sowie Sitztheorie bei in anderen Drittstaaten gegründeten Gesellschaften.

69b

Von der Anerkennung von Auslandsgesellschaften mit faktischen Hauptverwaltungssitz im Inland zu unterscheiden ist die Rechtsformwahl durch Sitzverlegung, genauer des Satzungssitzes in einen anderen EU-Staat, durch die die Gesellschaft dem Recht diesen Staates unterliegen soll. Nach herkömmlicher Sicht im deutschen Kollisionsrecht führt eine derartige Transaktion zur Auflösung der Gesellschaft oder zumindest zur Nichtigkeit eines auf eine derartige Sitzverlegung gerichteten Beschlusses.183 In der Cartesio-Entscheidung hat der EuGH betont, dass es Sache der Mitgliedstaaten sei, die Voraussetzungen für die Existenz von auf ihrem Territorium gegründeten Rechtsträgern und deren Fortbestand zu bestimmen. Nur eine nach nationalem Recht existente Gesellschaft könne die Niederlassungsfreiheit beanspruchen; Wegzugsbeschränkungen seien daher grundsätzlich nicht zu beanstanden.184 Jedoch weist der EuGH auf eine Ausnahme hin: Die Gesellschaft hat dann Anspruch auf Umzug in einen anderen Mitgliedstaat, wenn sie bereit ist, die bisherige Rechtsform aufzu179 Dies ebenfalls besonders betonend Schanze/Jüttner, AG 2003, 661, 665. Deshalb sind auch Ansätze im Schrifttum, die bei einzelnen Anknüpfungsfragen weiterhin die Sitztheorie anwenden wollen (Altmeppen, NJW 2004, 97 ff.; vgl. auch P. Ulmer, NJW 2004, 1201, 1208), nicht von vornherein europarechtswidrig, sondern erst dann, wenn die Folge der konkreten Rechtsanknüpfung eine unzulässige Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstellt; zum Ganzen eingehend Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, S. 421 ff. (allgemein), 449 ff. (im Hinblick auf „binnenmartkonformen Gläubigerschutz“); vgl. auch Schilling, Binnenmarktkonformes Kollisionsrecht (2004), S. 249 ff.: „keine flächendeckende kollisionsrechtliche Aussage“. 180 BGHZ 178, 192 – Trabrennbahn. 181 So G.H. Roth, FS H.P. Westermann (2008), S. 1352. 182 Vgl. dazu BGHZ 153, 353; BGH, ZIP 2004, 1549; Drouven/Mödl, NZG 2007, 7. 183 Vgl. Hüffer, § 5 AktG Rn. 12, § 262 AktG Rn. 6, 10; MünchKommAktG-Hüffer, § 262 AktG Rn. 36 f.; Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen, S. 149; MünchKommBGB-Kindler, Intern. Handels- und Gesellschaftsrecht Rn. 507; OLG Brandenburg, BB 2005, 549, 850; OLG Düsseldorf, BB 2001, 901. 184 EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-210/06 Cartesio, Slg. 2008, I-9641 Rn. 109 ff.; näher dazu Kindler, NZG 2009, 130; Zimmer/Naendrup, NJW 2009, 545, 546; ähnlich bereits EuGH v. 27.9.1988 – Rs. 81/87 The Queen ./. H. M. Treasury and Commissioners of Inland Revenue, Slg. 1988, 5483 – Daily Mail.

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geben und eine Rechtsform nach Maßgabe des Rechts des Zuzugsstaates zu wählen. Damit kommt es für die Zulässigkeit der Verlegung des Satzungssitzes entscheidend darauf an, ob eine derartige Umwandlung in eine Rechtsform des Zuzugsstaats von diesem zugelassen wird.185 Auch aus den Vorgaben zu den europäischen Rechtsformen ergibt sich kein eindeutiges Bild: Einerseits verlangen Art. 7 und 64 SE-VO für die Europäische (Aktien)Gesellschaft verbindlich, dass Sitz und Hauptverwaltung sich am selben Ort befinden. Andererseits erlaubt Art. 7 Abs. 2 E-SPE-VO ausdrücklich, dass Verwaltungs- und Satzungssitz der Europäischen Privatgesellschaft auseinanderfallen; sowohl Satzungs- und Verwaltungssitz sollen gesondert in einen anderen Mitgliedstaat verlegt werden können, ohne dass dies die Auflösung der Gesellschaft zur Folge hat (vgl. Art. 35 ff. E-SPE-VO). Gegenstand der Cartesio-Entscheidung186 war die Verlegung des Verwaltungssitzes einer Gesellschaft ins Ausland (Italien) unter Beibehaltung des Gründungsstatuts (Ungarn), das aber die Eintragung eines ausländischen Sitzes ins Handelsregister nicht vorsieht. Dass nach ungarischem Recht eine ungarische Gesellschaft ihren Verwaltungssitz in Ungarn haben und dort ins Handelsregister eingetragen sein müsse, verstoße nicht gegen die Niederlassungsfreiheit. Der deutsche Gesetzgeber wollte wohl eine flexiblere Lösung. Bisher war es nicht möglich, dass eine in Deutschland gegründete Gesellschaft ihre Aktivitäten vollständig in einen anderen Mitgliedstaat verlegt. Nach des § 4a Abs. 2 GmbHG a.F. musste der im Gesellschaftsvertrag als Sitz der Gesellschaft bestimmte Ort (Satzungssitz) an einem Ort liegen, an dem die Gesellschaft einen Betrieb hat, sich ihre Geschäftsleitung befindet oder die Verwaltung geführt wird. Nach der Sitztheorie muss der Verwaltungssitz im Inland liegen, so dass die Verlegung aller Aktivitäten ins Ausland notwendig zu einem Verstoß gegen § 4a Abs. 2 GmbHG a.F. führte. Durch Streichung von § 4a Abs. 2 GmbHG a.F. soll der Mobilitätsnachteil der GmbH gegenüber ausländischen Rechtsformen wie der Limited beseitigt werden; es bedarf lediglich eines (Satzungs-?)Sitzes im Inland. Es ist aber umstritten, ob § 4a GmbHG ein derart weitgehender kollisionsrechtlicher Gehalt entnommen werden kann.187 Die Niederlassungsfreiheit erfordert eine derartige Kollisionsnorm jedenfalls nicht. b)

69c

Bestimmung der Reichweite des Gesellschaftsstatuts

Da der BGH mit Rücksicht auf die Niederlassungsfreiheit für den Zuzug von EUGesellschaften der Gründungstheorie folgt,188 hat sich die Debatte von der Frage

185 EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-210/06 Cartesio, Slg. 2008, I-9641 Rn. 110; näher dazu Zimmer, NJW 2009, 545, 546; den Zuzug erlaubt z.B. Portugal, vgl. Jayme, IPRax 1987, 46, 47. 186 EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-210/06 Cartesio, Slg. 2008, I-9641 Rn. 119 ff. 187 Eidenmüller, ZGR 2007, 168, 205 f. (Kollisionsnorm verneinend); Seibert, Status: Recht 2007 (Beil. zu DB), 22, 23 (Kollisionsnorm bejahend); näher dazu Franz/Laeger, DB 2008, 673, 680 ff. 188 BGHZ 154, 185 – Überseering (1. LS der Abschlussentscheidung). Auch der für das Gesellschaftsrecht zuständige II. Zivilsenat ist dem gefolgt (BGH, NJW 2005, 1648; NJW 2003, 2609); außerhalb des Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten hat der BGH dagegen jüngst wieder die Sitztheorie angewendet (BGHZ 178, 192 – Trabrennbahn).

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3. Teil: Besonderer Teil

„Gründungs- oder Sitztheorie“ (Bestimmung des Gesellschaftsstatuts) auf die Frage verlagert, welche Regelungsbereiche von dem Verweis auf das materielle Gesellschaftsrecht des Gründungsstaates erfasst werden (Inhalt des Gesellschaftsstatuts). Letztere Problematik ist bisher weder auf nationaler noch auf europäischer Ebene gesetzlich geregelt. Zwar sind die Bestrebungen zur Vereinheitlichung des Kollisionsrechts im Bereich des Schuldvertragsrechts und der nicht vertraglichen Schuldverhältnisse durch die Rom I-VO189 bzw. die Rom II-VO190 weit fortgeschritten, jedoch scheint sich beim Gesellschaftsrecht die Geschichte zu wiederholen. So wie das Internationale Gesellschaftsrecht im EGBGB keine eigene Berücksichtigung fand, sitzt es nun auch auf europäischer Ebene als schwierige Querschnittsmaterie (erneut) zwischen allen Stühlen.191 Ein Referentenentwurf aus dem Jahr 2008 192 will die Anwendung der Gründungstheorie gesetzlich festschreiben und zugleich den Inhalt des Gesellschaftsstatuts durch einen Katalog konkretisieren.193 Aber dieser Katalog kann und will auch nicht alle schwierigen Grenzfragen beantworten.194 Dies soll anhand der Insolvenzverschleppungshaftung als pars pro toto verdeutlicht werden. aa)

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Die Einordnung nach nationalem Kollisionsrecht: Fallbeispiel Insolvenzverschleppungshaftung

Besonders diskutiert wird derzeit die Haftung der Gesellschafter und Geschäftsführer einer in Deutschland aktiven, in England gegründeten Limited.195 Der BGH hat in

189 Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.6.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl. 2008, L 177/6. 190 Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7. 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II), ABl. 2007 Nr. L 199/40. 191 So nehmen die Rom I-VO und die Rom II-VO in Art. 1 Abs. 2 lit. f) bzw. Art. 1 Abs. 2 lit. d) Fragen und Haftungstatbestände betreffend das Gesellschaftsrecht vom Anwendungsbereich aus; näher dazu Krolop, NotBZ 2007, 265, 270 ff.; krit. zur „Zersplitterung“ bei der Vereinheitlichung des internationalen Privatrechts ohne eine „Kodifikationsidee“ Jayme/ Kohler, IPRax 2006, 537 ff.; vgl. auch Basedow, NJW 1996, 1921, 1929. 192 RefE eines Gesetzes zum Internationalen Privatrecht der Gesellschaften, Vereine und juristischen Personen, abrufbar unter http://www.bmj.bund.de/files/-/2751/RefE%20Gesetz% 20zum%20Internationalen%20Privatrecht%20der%20Gesellschaften,%20Vereine%20und% 20juristischen%20Personen.pdf; zu Vorarbeiten vgl. Vorschlag des Deutschen Rates für Internationales Privatrecht für eine Regelung des Internationalen Gesellschaftsrechts auf europäischer/nationaler Ebene bei Sonnenberger/Bauer, RIW 2006 Beil. 1 (zu Heft 4), 1, 14 f. 193 Art. 10 Abs. 2 RefE-EGBGB (vorherige Fn.). 194 Begr. zu Art. 10 Abs. 2 Nr. 8 RefE-EGBGB (S. 12) „Bewusst offen lässt der Entwurf, ob und wann bei einer Verletzung gesellschaftsrechtlicher Pflichten auch die außervertragliche Haftung, insbesondere aus Delikt, dem Gesellschaftsstatut unterfällt oder aber gesondert anzuknüpfen ist. Diese Frage soll der Rechtsprechung überlassen bleiben, um interessengerechte Ergebnisse im Einzelfall zu ermöglichen.“ 195 Eidenmüller, in: ders. (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften, § 4 Rn. 5 ff., § 9 Rn. 31 ff.; eingehend Huber und Fleischer, in: Lutter (Hrsg.), Europäische Auslandsgesellschaften, S. 307 ff. bzw. S. 49 ff.; instruktiver Überblick über den Meinungsstand bei Schall, ZIP 2005, 965, 970 ff.

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einer Grundsatzentscheidung anerkannt, dass das Gesellschaftsrecht des Gründungsstaates nicht nur für die Rechts- und Parteifähigkeit, sondern auch für die Haftung der im Namen der Gesellschaft begründeten rechtsgeschäftlichen Verbindlichkeiten maßgeblich ist.196 Daraus ist aber nicht der Schluss zu ziehen, dass sich Haftungsfragen ausschließlich nach englischem Recht richten. So spricht der BGH von der Haftung für rechtsgeschäftliche Verbindlichkeiten. Damit ist die Haftung gegenüber unfreiwilligen Gläubigern, insbesondere Inhabern von deliktischen Ansprüchen, nicht erfasst. Aus Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO ergibt sich in diesen Fällen häufig die Anwendbarkeit deutschen Rechts, da der Erfolgsort regelmäßig in Deutschland liegen wird. Aus diesem Grund wirft insbesondere die Qualifikation der Haftung der Geschäftsführer in der Krise, vor allem die Insolvenzverschleppungshaftung nach § 823 Abs. 2 BGB iVm § 15a InsO (ehemals § 64 Abs. 1 GmbHG), Probleme auf. Als Vorschrift des Deliktsrechts wäre § 823 Abs. 2 BGB grundsätzlich anwendbar, während § 64 Abs. 1 GmbHG a.F. als Norm des Gesellschaftsrechts zumindest im Ausgangspunkt durch das englische Gesellschaftsstatut verdrängt würde. Hinzu kommt, dass § 64 Abs. 1 GmbHG a.F. wiederum an die Begriffe Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung anknüpfte, die in der Insolvenzordnung (§§ 17, 19 InsO) geregelt sind. Aus Art. 4 Abs. 1 iVm Art. 3 Abs. 1 EUInsVO197 ergibt sich für die ausschließlich oder ganz vorwiegend in Deutschland aktive Auslandsgesellschaft regelmäßig die Anwendbarkeit des deutschen Insolvenzrechts. Aus dem Regelungsstandort lässt sich damit keine eindeutige Aussage ableiten. Auch der Referentenentwurf zum Internationalen Gesellschaftsrecht würde hier nicht weiterhelfen: Gemäß Art. 10 Abs. 2 Nr. 8 RefEEGBGB soll vom Gesellschaftsstatut die Haftung für die Verletzung „gesellschaftsrechtlicher Pflichten“ umfasst sein. Ob es sich bei der Insolvenzantragspflicht um eine solche Pflicht handelt, ist gerade die klärungsbedürftige Frage. Im IPR wird die kollisionsrechtliche Qualifikation einer Rechtsfrage nicht allein formal anhand des Standorts der Regelung im nationalen Recht bestimmt. So wenig die Verortung der Insolvenzantragspflicht in § 64 Abs. 1 GmbHG a.F. vorgreiflich für die Zuordnung zum Gesellschaftsrecht war, ist die mit dem MoMiG erfolgte Verschiebung in die InsO (§ 15a Abs. 1 InsO) vorgreiflich für die Zuordnung zum Insolvenzrecht. Die Reichweite des Gesellschaftsstatuts wird zwar auch bei Auslandsgesellschaften nach der lex fori von den deutschen Gerichten nach deutschem Kollisionsrecht ermittelt. Es handelt sich aber um einen sogenannten Rahmenbegriff. Dieser ist, da er ja auch ausländische Rechtserscheinungen erfassen soll, autonom nach den Maßstäben des internationalen Privatrechts zu definieren. Für diese autonome Bestimmung der Reichweite des Gesellschaftsstatuts ist eine funktionale Betrachtungsweise angezeigt,

196 BGH, NJW 2005, 1648. 197 Hiernach ist maßgebend, in welchem Staat der „Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen“ liegt. Die Vermutung von Art. 3 Abs. 1 S. 2 EuInsVO dürfte bei der Auslandsgesellschaft regelmäßig als widerlegt gelten; Paulus, Europäische Insolvenzverordnung, (2. Aufl. 2008), Art. 3 EuInsVO Rn. 27 mwN.

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3. Teil: Besonderer Teil

die sich vor allem daran orientiert, zu welchem Statut die Regelung nach materiellem Regelungsgehalt sowie Sinn und Zweck die größte Nähe aufweist.198

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Bei der Ermittlung des materiellen Regelungsgehalts ist ein rechtsvergleichender Blick, insbesondere eine Suche eines etwaigen funktionalen Pendants in der Rechtsordnung des Gründungsstaates hilfreich.199 Dieses Pendant ist bei der vorliegenden Problematik das sogenannte wrongful trading, welches in sec. 214 Insolvency Act 1986 geregelt ist200 und nach ganz überwiegender Ansicht insolvenzrechtlich qualifiziert wird.201 Für den Anwender des deutschen Kollisionsrechts ergibt sich daraus, dass viel dafür spricht, die Insolvenzverschleppungshaftung dem Insolvenzstatut zuzuordnen.202 Denn würde man sie gesellschaftsrechtlich qualifizieren, gäbe es einen negativen Kompetenzkonflikt der Rechtsordnungen: Das deutsche Gesellschaftsrecht wird bei der in Deutschland aktiven Limited verdrängt, aber auch die Haftung für wrongful trading käme in Ermangelung der Anwendbarkeit des englischen Insolvenzrechts nicht zum Zuge.203 bb)

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Die europarechtliche Dimension

In Sachen Überseering 204 und Inspire Art 205 hat der EuGH statuiert, dass der Zuzugsstaat bei Verlegung des Verwaltungssitzes diese Gesellschaften grundsätzlich ohne Einschränkungen als rechts- und parteifähig anerkennen muss. Dies beinhaltet im Hinblick auf die Gewährleistung der Niederlassungsfreiheit für europäische Auslandsgesellschaften ein allgemeines Beschränkungsverbot im Sinne der „Dassonville“

198 Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht (9. Aufl. 2004), S. 338 ff.; Kropholler, Internationales Privatrecht (6. Aufl. 2006), S. 125 ff.; zur funktional-insolvenzrechtlichen Perspektive vgl. Paulus, DB 2008, 2523, 2524 f.: „Konturen eines modernen Insolvenzrechts – Überlappungen mit dem Gesellschaftsrecht“; Eidenmüller/Engert, FS K. Schmidt (2009), S. 312 ff.: Insolvenzanfechtung als idealkonkurrierende Ausschüttungssperre; d.h. z.B. Ausschüttung bei Insolvenzreife kann vorsätzliche Gläubigerbenachteiligung i.S.v. § 133 InsO sein. 199 Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht (9. Aufl. 2004), S. 343 ff.; Kropholler, Internationales Privatrecht (6. Aufl. 2006), S. 124 f.; grundl. Rabel, RabelsZ 5 (1931), 249 ff. 200 Hannigan, Company Law (2001), S. 844 f.; Habersack/Verse, ZHR 168 (2004), 174, 182 ff. Davies, Gower and Davies: Principles of Modern Company Law, S. 196 ff. 201 Vgl. stellvertretend für das deutsche Recht Eidenmüller, in: ders. (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften, § 9 Rn. 32 und Höfling, Das englische internationale Gesellschaftsrecht (2002), S. 218 ff. jeweils mwN. 202 So auch Goette, DStR 2005, 197, 199; Eidenmüller, NJW 2005, 1618, 1620; i. Erg. die Anwendbarkeit ebenfalls bejahend P. Ulmer, NJW 2004, 1201, 1208; zur Gegenansicht vgl. Schall, ZIP 2005, 965, 974; Spindler/Berner, RIW 2004, 7, 12; so auch die Begr. des RegE zum MoMiG, BT-Drs. 16/6140, 133 f.; ebenso der Vorschlag des Deutschen Rates für Internationales Privatrecht für eine Regelung des Internationalen Gesellschaftsrechts auf europäischer/nationaler Ebene bei Sonnenberger/Bauer, RIW 2006 Beil. 1 (zu Heft 4), 1, 20 f.; a.A. Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, S. 524 ff. 203 Ähnlich begründete auch das KG, ZIP 2009, 2156, 2157 f., die insolvenzrechtliche Qualifizierung des Zahlungsverbots nach § 64 Abs. 1 GmbHG. 204 EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00 Überseering, Slg. 2002, I-9919. 205 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155.

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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht

bzw. „Gebhard“-Formel.206 Die Anwendung der Insolvenzverschleppungshaftung auf eine in Deutschland aktive Limited ist grundsätzlich geeignet, die Wahrnehmung der Niederlassungsfreiheit weniger attraktiv zu machen. Allein durch die Umsetzung von Rechtsinstituten aus dem Gesellschaftsrecht in benachbarte Rechtsgebiete qua kollisionsrechtlicher Qualifikation wird deren Anwendung aber nicht gemeinschaftskonform.207 Vielmehr muss sich die Anwendung der Insolvenzverschleppungshaftung am allgemeinen, für Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit geltenden Maßstab messen lassen. Sie darf daher nicht diskriminierend sein. Sofern nicht bereits die Grundsätze der Keck-Rspr. des EuGH208 zu rein tätigkeitsbezogenen Regelungen, die den Marktzugang nicht nennenswert erschweren, eingreifen209, muss die Maßnahme darüber hinaus für die Wahrung eines zwingenden Belangs des Allgemeinwohls geeignet und erforderlich sein (sog. Vier-Kriterien-Test)210. Dies dürfte man aus folgenden Gründen bei diesem Beispiel bejahen können: Die Insolvenzverschleppungshaftung nach deutschem Recht springt in die Bresche, die erst durch das kollisionsrechtlich veranlasste Auseinanderfallen von Gesellschafts- und Insolvenzstatut entsteht. Auf eine ausschließlich in Deutschland aktive Limited ist, wie eben gezeigt, das englische Pendant zur Insolvenzverschleppungshaftung, die Haftung für wrongful trading, gar nicht anwendbar. Wenn lediglich verhindert wird, dass der Gläubigerschutz bei einer Gesellschaft ausländischen Rechts hinter das in ihrem „Heimatstaat“ gewährleistete Niveau zurückfällt, ist eine unzulässige Behinderung der Niederlassungsfreiheit eher fern liegend, da die Anerkennung der Gleichwertigkeit der ausländischen Teilrechtsordnung kaum in Frage gestellt wird.211 206 Die in EuGH v. 11.7.1974 – Rs. 8/74 Dassonville, Slg. 1974, 855, aufgestellten Grundsätze zur Warenverkehrsfreiheit hat der EuGH in seinem Urteil v. 30.11.1995 – Rs. C-55/94 Gebhard, Slg. 1995, I-4165, Rn. 37, auf die Niederlassungsfreiheit übertragen. S.a. o. Rn. 26. 207 Ähnlich Bayer, BB 2003, 2357, 2362 f.; Eidenmüller/Rehm, ZGR 2004, 159, 182; Eidenmüller, NJW 2005, 1618, 1619 f.; Leible/Hofmann, EuZW 2003, 677 ff.; Meilicke, GmbHR 2003, 1271, 1272; Spindler/Berner RIW 2004, 7 ff. 208 EuGH v. 24.11.1993 – verb. Rs. C-267/91 und 268/91 Keck u.a., Slg. 1993, I-6097. 209 Dies bejahend Eidenmüller, in: ders. (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften, § 9 Rn. 33; KG, ZIP 2009, 2156, 2157. Zur Gegenansicht vgl. Spindler/Berner, RIW 2004, 7, 12. Allerdings ist umstr., inwieweit die Keck-Rspr. des EuGH auf die Niederlassungsfreiheit übertragbar ist. Die Rspr. des EuGH ist insoweit nicht eindeutig. Zur Diskussion dieser Frage allgemein vgl. Grabitz/Hilf-Randelzhofer/Forsthoff, Art. 43 EG Rn. 102, 103; Art. 48 Rn. 35 ff.; speziell im Hinblick auf das Gesellschaftsrecht, Eidenmüller, ebd., § 3 Rn. 14, 16 mwN. 210 Entwickelt in EuGH v. 20.2.1979 – Rs. 120/78 Rewe-Zentral ./. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, Slg. 1979, 649, Rn. 8 und 14 – Cassis de Dijon; übertragen auf die Niederlassungsfreiheit durch EuGH v. 31.3.1993 – Rs. C-19/92 Krauss, Slg. 1993, I-1663, Rn. 32 und EuGH v. 30.11.1995 – Rs. C-55/94 Gebhard, Slg. 1995, I-4165, Rn. 37. Zur Anwendung dieser Grundsätze auf die Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften siehe statt aller Fleischer, in: Lutter (Hrsg.), Europäische Auslandsgesellschaften, S. 102 mwN.; zum kollisionsrechtlichen Gehalt der Grundfreiheiten Schilling, Binnenmarktkonformes Kollisionsrecht (2004), S. 159 ff.; 255 ff. (allgemein), S. 239 ff. (speziell im Hinblick auf das Gesellschaftsrecht). 211 Ähnlich Eidenmüller, NJW 2005, 1618, 1621; Huber, in: Lutter (Hrsg.), Europäische Auslandsgesellschaften, S. 349 f.; Röpke, Gläubigerschutzregime im europäischen Wettbewerb Christine Windbichler/Kaspar Krolop

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cc)

Folgerungen

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Wenn auf eine Gesellschaft ausländisches Gesellschaftsrecht Anwendung findet, handelt es sich um eine Teilrechtsordnung, die es in die Rechtsordnung des Zuzugsstaates und dort insbesondere in die angrenzenden Rechtsgebiete, vor allem das allgemeine Zivilrecht sowie in das Insolvenz- und Arbeitsrecht einzubetten gilt. So vielfältig die nationalen Gesellschaftsrechte sind, so vielfältig sind auch deren Abgrenzungen zu den benachbarten Rechtsgebieten. Dies verdeutlicht auch die kontrovers geführte Diskussion um die kollisionsrechtliche Einordnung der vom BGH entwickelten, nunmehr auf § 826 BGB gestützten Existenzvernichtungshaftung.212

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Da die Anerkennung der ausländischen (Teil-)Rechtsordnung als gleichwertig ein Gebot der Niederlassungsfreiheit darstellt, ist die Vermeidung einer Aufdoppelung von Instituten, insbesondere von Haftungsnormen, nicht nur sachgerecht, sondern europarechtlich geboten. Es ist ein petitum der modernen IPR-Wissenschaft, zur Vermeidung von Doppelregelungen und negativen Kompetenzkonflikten (auch als „Normmangel“ bezeichnet) bei der kollisionsrechtlichen Qualifikation die Rechtsfolgen zu berücksichtigen,213 das im Bereich des Vertragsrechts auch in der Rom I-VO seinen Niederschlag gefunden hat214. Dieser Ansatz hat eine europarechtliche Dimension; eine nationale Kodifizierung des Kollisionsrechts muss sich an den genannten Vorgaben messen lassen. Solange das IPR des Gesellschaftsrechts nicht auf europäischer Ebene harmonisiert ist215, wird dem Rechtsanwender daher bei jeder einzelnen Frage hinsichtlich der Qualifikation einer auf der Grenze zwischen Gesellschaftsrecht und einem „benachbarten“ Statut liegenden Norm eine funktional-rechtsvergleichende Würdigung abverlangt. Zumindest für kleine Kapitalgesellschaften mag der Katalog der Anlage 1 der SPE-VO nach Ihrem Inkrafttreten für die Bestimmung des Inhalts des Gesellschaftsstatuts als Orientierung dienen.216

212

213

214

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der Gesellschaftsrechte, S. 166 ff.; i. Erg. auch Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 3 Rn. 25; vgl. auch Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, S. 525 ff., der eine insolvenzrechtliche Qualifikation zwar ablehnt, aber mit ähnlichen Erwägungen eine Sonderanknüpfung begründet. Es werden alle Anknüpfungsvarianten vom Deliktsrecht über das Gesellschaftsrecht bis hin zum Insolvenzrecht vertreten; zu Meinungsstand und differenzierenden Ansätzen Krolop, NotBZ 2007, 265, 267 ff.; Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, S. 421 ff.; Scholz-H.P. Westermann, GmbHG, (10. Aufl., Bd. 1, 2006), Einl. Rn. 148 mwN. Teilweise wird daher auch von einer funktional-teleologischen Qualifikation gesprochen, vgl. Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht (9. Aufl. 2004), S. 338 ff.; Kropholler, Internationales Privatrecht (5. Aufl. 2004), S. 126 ff. Vgl. Art. 9 Abs. 3 S. 2 Rom I-VO zu den Voraussetzungen für die Anwendung von Eingriffsnormen: „Bei der Entscheidung, ob diesen Eingriffsnormen Wirkung zu verleihen ist, werden Art und Zweck dieser Normen sowie die Folgen berücksichtigt, die sich aus ihrer Anwendung oder Nichtanwendung ergeben.“ Zum Stand der Harmonisierung des Kollisionsrechts im Bereich des Privatrechts s.o. Rn. 70. Näher zu diesem Ansatz Mock, in: Domej u.a. (Hrsg.), Einheit des Privatrechts, komplexe Welt, JbJZ 2008, S. 373, 377 f.

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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht

3.

Verzahnung von europäischer und nationaler Ebene: Methodenfragen bei der SE

Die Europäische Gesellschaft wurde durch die SE-VO eingeführt. Diese trifft keine vollständige Regelung, sondern verweist für die nicht geregelten Bereiche auf das Recht des Sitzstaates der SE (Art. 9 Abs. 1 lit. c) SE-VO). Dort haben die zur Implementierung der SE erlassenen Vorschriften des nationalen Rechts – in Deutschland das Gesetz zur Einführung der SE (SEEG) – Vorrang vor dem allgemeinen Gesellschaftsrecht (Art. 9 Abs. 1 lit. c) Ziff. ii) SE-VO). Daraus ergibt sich ein komplexes Wechselspiel von europäischer Regelungsebene (SE-VO), nationalem Recht und den Regelungen der Satzung in der SE, deren Spielräume sich teilweise aus den europäischen Vorgaben, teilweise aus nationalem Recht ergeben. Hinzu kommen noch Bilanzierungsvorschriften, branchenspezifische Regulierungen, ggf. Kapitalmarktrecht(e) und, last but not least, Mitbestimmungsvereinbarungen und nationale (Auffang-) Regelungen in Umsetzung der Ergänzungsrichtlinie zur SE-VO. a)

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Das Verhältnis der Vorgaben in der SE-VO zum nationalen Recht

Da die SE-VO keine speziellen Regelungen zur Kapitalaufbringung bei Kapitalerhöhungen sowie zur Kapitalerhaltung vorsieht, gelangt gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. c SE-VO das (mit der Kapitalrichtlinie konforme) nationale Recht des Sitzstaates der SE zur Anwendung. Da auch das SEEG keine speziellen Vorgaben enthält, unterliegen Kapitalaufbringung und -erhaltung bei einer in Deutschland gegründeten SE grundsätzlich den allgemeinen Vorgaben des deutschen Aktienrechts. Damit stellte sich die Frage, ob auch die Lehre von der verdeckten Sacheinlage als Produkt einer richterlichen Rechtsfortbildung uneingeschränkt auf die SE anwendbar ist. Zwar wird allgemein davon ausgegangen, dass Gesetze im formellen Sinne und Richterrecht eine Einheit bilden, und die Verweisung daher auch das Richterrecht erfasst.217 Allerdings können sich im Einzelfall Einschränkungen ergeben. So wurde von einer verbreiteten Auffassung aus dem Grundsatz des effet utile abgeleitet, dass die Vorgaben für die SE so ausgelegt werden müssen, dass die Funktionsfähigkeit und die Praktikabilität dieser Rechtsform möglichst wirksam gesichert werden.218 Vor diesem Hintergrund konnte folgende Argumentationskette aufgebaut werden: Der europäische Gesetzgeber hat deshalb auf Vorgaben zur Kapitalaufbringung und -erhaltung in der SE verzichtet, da dieser Bereich durch die Kapitalrichtlinie harmonisiert ist. Im Hinblick auf das durch die SE-VO verfolgte Ziel der Herstellung eines Mindestmaßes an Rechtsvereinheitlichung könnte es daher angezeigt sein, die Kapitalrichtlinie, zumindest soweit die SE betroffen ist, als Höchstnorm zu begreifen.

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Ob dem zu folgen ist, soll hier nicht vertieft werden. Da die aktienrechtlichen Vorschriften für verdeckte Sacheinlagen erheblich vereinfacht wurden, bestehen die ge-

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217 Vgl. Brandt, Die Hauptversammlung der Europäischen Aktiengesellschaft, S. 48 f.; Casper, FS P. Ulmer (2003), S. 65; Wagner, NZG 2002, 985, 987. 218 Vgl. Casper, FS P. Ulmer (2003), S. 55; Teichmann, ZGR 2002, 383, 398; Wagner, NZG 2002, 985, 987; Nagel/Freis/Kleinsorge-Nagel, Beteiligung der Arbeitnehmer im Unternehmen auf der Grundlage des europäischen Rechts (2. Aufl. 2009), GesRSE, Rn. 9 mwN.

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3. Teil: Besonderer Teil

schilderten Bedenken ohnehin nicht mehr.219 Deutsches Aktienrecht kann kraft Verweisung unmodifiziert zur Anwendung kommen. Wichtiger ist der Ertrag für die Methode: Wenn die SE-VO auf das nationale Recht verweist, sollten in richterlicher Rechtsfortbildung gewonnene Grundsätze nicht mechanisch auf die SE übertragen werden. Vielmehr ist sorgfältig zu überprüfen, ob der Verweis in der SE-VO den gesamten geregelten Bereich erfasst, also eine vom europäischen Verordnungsgeber geplante Lücke ausgefüllt wird, oder ob die Rechtsfortbildung in Bereiche ausgreift, die auch von der SE-VO erfasst werden. Vor diesem Hintergrund wäre zum Beispiel zu problematisieren, ob der Verweis in Art. 52 S. 2 SE-VO nur geschriebene Hauptversammlungskompetenzen des nationalen Rechts oder auch die Grundsätze des BGH zur ungeschriebenen Hauptversammlungskompetenz 220 umfasst.221 Die alltägliche Aufgabe des Rechtsanwenders der „Feststellung von Lücken im Gesetz“ 222 bzw. Auslassungen223 und die sorgfältige Differenzierung zwischen Planwidrigkeit und Planmäßigkeit derselben224 wird damit durch die ständige Orientierung in und an den Ebenen der Normhierarchie ergänzt. b)

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Die doppelte Dimension von Satzungsstrenge und Satzungsautonomie bei der SE

Die Satzung der SE ist in Art. 9 SE-VO zweimal erwähnt, in Abs. 1 lit. b) und Abs. 1 lit. c) iii)225 Zur Verdeutlichung der sich daraus ergebenden Probleme sei hier eine Satzungsbestimmung einer SE mit Sitz in Deutschland angenommen, welche das Aufsichtsratsmodell wählt, Ausschüsse des Aufsichtsrates sowie die Beschlussfassung und Beschlussfähigkeit im Aufsichtsrat regelt. Der Satzungsgeber einer in Deutschland ansässigen SE sieht sich einer doppelten Kompetenzregelung gegenüber: Die

219 Vgl. oben Rn. 43. 220 Ausführlich (i. Erg. verneinend) dazu Brandt, Die Hauptversammlung der Europäischen Aktiengesellschaft, S. 142 ff.; abl. auch MünchKommAktG-Kubis, Art. 52 SE-VO Rn. 22; ebenfalls krit. Lutter/Hommelhoff-Spindler, SE-Kommentar (2008), Art. 52 SE-VO Rn. 47 (auch mit Nachweisen zur bejahenden hM). 221 Vgl. BGHZ 83, 122 – Holzmüller; BGHZ 159, 30 – Gelatine. 222 So der Titel des „Klassikers“ der Methodenlehre von Canaris (2. Aufl. 1993). 223 Die deutsche Literatur zur Feststellung und Ausfüllung von Lücken im Gesetz hat das Kodifikationskonzept oder doch die Vorstellung einer einigermaßen vollständigen Regelung für einen bestimmten Bereich zum Hintergrund. Auf die SE-VO passt dies kaum, vgl. Bachmann, ZEuP 2008, 32, 53 ff.; Davies, Gower and Davies: Principles of Modern Company Law, Rn. I-21 Fn. 153: „…that the SE proposal started as a ‘sausage’ and ended up as a ‘sausage skin’ “; hierzu auch Fleischer, AcP 201 (2004), 502, 507; Teichmann, ZGR 2002, 383, 394 ff.; Windbichler, FS Canaris (2007), S. 1425 f. 224 Vgl. dazu die Beiträge im 2. Teil dieses Bandes, insbes. Riesenhuber, § 11 Rn. 23 ff. und Neuner, § 13 Rn. 27 ff. 225 Art. 9 Abs. 1 SE-VO: „Die SE unterliegt … b) sofern die vorliegende Verordnung dies ausdrücklich zulässt, den Bestimmungen der Satzung der SE, c) … iii) den Bestimmungen ihrer Satzung unter den gleichen Voraussetzungen wie im Falle einer nach dem Recht des Sitzstaates der SE gegründeten Aktiengesellschaft …“.

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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht

Satzung darf Bestimmungen treffen, wenn die SE-VO es ausdrücklich zulässt.226 In einigen Fällen verlangt die Verordnung sogar eine Regelung durch die Satzung. Das gilt z.B. für die Wahl zwischen dem Verwaltungsrats- und dem Aufsichtsratsmodell, Art. 38 SE-VO. Im Übrigen weist die Verordnung die Regelungskompetenz dem nationalen Recht zu, womit auch die Reichweite der Satzungsautonomie sich nach nationalem Recht richtet. Über den Verweis in Art. 9 Abs. 1 lit. c) iii) SE-VO gilt daher grundsätzlich die Satzungsstrenge des § 23 Abs. 5 S. 1 AktG. Allerdings gebührt ausweislich Art. 9 Abs. 1 lit. b) SE-VO einer aufgrund einer Ermächtigung in der SE-VO getroffenen Satzungsbestimmung Vorrang vor den Vorgaben des nationalen Rechts, mögen diese auch nach § 23 Abs. 5 AktG zwingend sein.227 Daraus ergibt sich eine doppelte Satzungsdimension: Teilweise hat die Satzung Vorrang vor dem nationalen Recht, teilweise ist sie nachrangig. Für das genannte Beispiel folgt daraus, dass zunächst die Wahl des Leitungsmodells nicht zur zulässig, sondern sogar geboten ist. Zu untersuchen ist weiter, ob die SE-VO Aufsichtsratsausschüsse und Beschlussfähigkeit regelt und gegebenenfalls eine ermächtigende Satzungsbestimmung vorsieht. Die SE-VO trifft zwar Bestimmungen hinsichtlich verschiedener, den Aufsichtsrat betreffenden Einzelfragen, die aber wiederum gespickt sind mit Verweisungen auf Satzungsbestimmungen und das nationale Recht. Insofern ist die Verordnung nicht abschließend.228 Es liegt eine planmäßige Lücke vor, die nach Maßgabe der Verordnung zu füllen ist. Wenn (ausnahmsweise) eine Planwidrigkeit der Lücke festgestellt werden kann, erhebt sich die Frage, inwieweit auch eine Lückenschließung auf Gemeinschaftsrechtsebene, etwa durch analoge Anwendung von Vorschriften der SE-VO in Betracht kommt.229

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Damit richten sich die rechtlichen Vorgaben für die innere Ordnung des Aufsichtsrates nach deutschem Recht, namentlich nach den §§ 107–110 AktG,230 soweit sie das Problem denn lösen. Im deutschen Aktienrecht gilt jedoch der aus § 107 Abs. 3 S. 1 AktG abgeleitete Grundsatz der Organisationsautonomie des Aufsichtsrates, wonach

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226 Dies wird teilweise als SE-spezifische oder auch gemeinschaftsrechtliche Satzungsstrenge bezeichnet; vgl. Hommelhoff, FS P. Ulmer (2003), S. 273.; Brandt, Die Hauptversammlung der Europäischen Aktiengesellschaft, S. 36 ff.; Casper, FS P. Ulmer (2003), S. 71; MünchKommAktG-Schäfer, Art. 9 SE-VO Rn. 26 mwN. 227 Allerdings begrenzt die SE-VO die Gestaltungsermächtigung an vielen Stellen mit (Rück)verweis auf das nationale Recht, vgl. Art. 39 Abs. 2 UAbs. 2, Art. 47 Abs. 1, Abs. 3; Art. 55 Abs. 1 SE-VO. 228 Näher dazu Habersack, AG 2006, 345, 349. Zur Problematik der Abgrenzung eines „Regelungsbereichs“ der SE Bachmann, ZEuP 2008, 32, 37 ff.; Brandt, Die Hauptversammlung der Europäischen Aktiengesellschaft, S. 29 ff.; Casper, FS P. Ulmer (2003), S. 54 ff., 67 f.; ders., ZHR 173 (2009), 181, 184 ff.; Schleifle, Die Gründung der SE (2004), S. 19 ff.; Hommelhoff, in: Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), Die Europäische Gesellschaft (2005), S. 9 ff.; vgl. auch Raiser, FS Semler (1993), S. 282 f.; Teichmann, ZGR 2002, 383, 395 ff. 229 Dazu Brandt, Die Hauptversammlung der Europäischen Aktiengesellschaft, S. 36 ff.; MünchKommAktG-Schäfer, Art. 9 SE-VO Rn. 15 mwN. Zur Situation bei der SPE vgl. Völter, Der Lückenschluss im Statut der Europäischen Privatgesellschaft (2000). Zur Rechtsfortbildung des europäischen Sekundärrechts allgemein siehe Neuner, in diesem Band, § 13 Rn. 28 ff. 230 Näher dazu Habersack, AG 2006, 345, 349; ders., ZHR 171 (2007), 613, 631 ff.

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die Bildung und die Zusammensetzung von Ausschüssen grundsätzlich Sache des Aufsichtsrates selbst sind und die Satzung in diese Autonomie nicht eingreifen darf.231 Hiernach wäre die in diesem Beispiel untersuchte Regelung auch bei der SE unzulässig. Entsprechendes könnte nach deutschem Aktienrecht auch für eine Regelung der Beschlussfähigkeit und Beschlussfassung in der Satzung gelten.232 Für diesen Bereich trifft aber die SE-VO in Art. 50 eine Regelung und unterstellt diese Punkte der Satzungsautonomie. Aufgrund des in Art. 9 Abs. 1 lit. b) SE-VO angeordneten Vorrangs vor dem nationalen Recht für Satzungsbestimmungen, die ihr Grundlage in einer ausdrücklichen Ermächtigung in der SE-VO haben, ist bei der SE eine Satzungsregelung der Voraussetzungen für Beschlussfassung und Beschlussfähigkeit im Aufsichtsrat grundsätzlich zulässig, muss aber Art. 50 Abs. 2 S. 2 SE-VO beachten.233 Etwas anderes kann sich ergeben, wenn ein Mitgliedstaat für den Fall der Arbeitnehmermitbestimmung abweichende Regeln vorsieht, die auch für nationale Aktiengesellschaften gelten (Art. 50 Abs. 3 SE-VO), was in Deutschland allerdings nicht erfolgt ist. c)

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Stellung der Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer bei der SE in der Normenhierarchie

Der europäische Gesetzgeber sieht in der Richtlinie zur Arbeitnehmerbeteiligung bei der SE, in das deutsche Recht umgesetzt durch das SEBG,234 vor, dass eine Vereinbarung mit einem besonderen Verhandlungsgremium der Arbeitnehmer über die Arbeitnehmerbeteiligung getroffen werden soll (nachfolgend: AN-Beteiligungsvereinbarung, vgl. § 21 SEBG). Nur wenn es zu keiner Einigung kommt, finden die gesetzlichen Vorschriften der Auffangregelung zur Arbeitnehmerbeteiligung (§§ 34 ff. SEBG) Anwendung. Eine SE kann erst eingetragen werden, wenn die Mitbestimmungsfrage gelöst ist, Art. 12 Abs. 2 und Abs. 3 SE-VO.235 Zur Absicherung der AN-Beteiligungsvereinbarung statuiert Art. 12 Abs. 4 S. 1 SE-VO, dass die Satzung der SE zu keinem Zeitpunkt dieser Vereinbarung widersprechen darf. Daher erhebt sich die Frage, ob die AN-Beteiligungsvereinbarung die Einrichtung von Ausschüssen des Aufsichtsrates, Beschlussfähigkeit und Beschlussfassung regeln kann, und ob einer solchen Vereinbarung Vorrang vor der Satzung zukommt. Eine Einschränkung der Gestaltungsfreiheit für die Vereinbarung ergibt sich aus den Grenzen der Satzungsautonomie der SE, wobei die unterschiedlichen Schranken aus der SE-VO und dem nationalen Recht zu unterscheiden sind. Die Position der Beteiligungsvereinbarung ist in 231 BGHZ 83, 106, 115; BGHZ 122, 342, 355; GroßkommAktG-Hopt/M. Roth, § 107 AktG Rn. 246 ff.; Hüffer, § 107 AktG Rn. 16, 21; zust. Habersack, AG 2006, 345, 349; ders. ZHR 171 (2007), 613, 631; Windbichler, FS Canaris (2007), S. 1433. 232 Habersack, AG 2006, 345, 349. 233 Windbichler, FS Canaris (2007), S. 1430 ff. 234 Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft – SE-Beteiligungsgesetz, BGBl. 2004 I, 3675. 235 Bei arbeitnehmerlosen SE hat diese Voraussetzung bereits zu Schwierigkeiten geführt, vgl. LG Hamburg, ZIP 2005, 2019; AG Düsseldorf, ZIP 2006, 287; AG München, ZIP 2006, 1300; Blanke, ZIP 2006, 789; Seibt, ZIP 2005, 2248; Schubert, ZESAR 2006, 340; Casper/ Schäfer, ZIP 2007, 653; Ulmer/Habersack/Henssler-Henssler, Mitbestimmungsrecht (2. Aufl. 2006), Einl SEBG Rn. 75 ff., 169 ff.

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der Normenhierarchie insgesamt, also auch im Verhältnis zur SE-VO, dem SEEG, dem AktG und allgemeinen körperschaftsrechtlichen Grundsätzen wie der Verbandsautonomie und der Organisationsautonomie des Aufsichtsrates festzustellen; ein Vorrang der Vereinbarung vor der Satzung ergibt sich dabei nicht.236 Methodisch gesehen ist hier eine teleologische Auslegung der Ermächtigung für die Vereinbarungslösung erforderlich. Dabei ist jedoch Vorsicht geboten; „Verbandsautonomie“ und „Organisationsautonomie des Aufsichtsrates“ sind zunächst Kategorien des deutschen Gesellschaftsrechts. Ob sie universelle Prinzipien des europäischen Gesellschaftsrechts oder vielleicht nur local hills sind, ist zu prüfen. Auch wenn auf eine in Deutschland ansässige SE subsidiär deutsches Aktienrecht Anwendung findet, handelt es sich bei der SE doch um eine europäische Rechtsform, so dass die Rechtsbegriffe und Institute autonom „SE-spezifisch“ im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit der Rechtsform SE auszulegen sind.237 4.

Nationale Ebene

a)

Gesellschaftsrecht allgemein

Mit den Verbesserungen bei der Gewährleistung der Wahlfreiheit im Hinblick auf Sitz und Gesellschaftsstatut ist zunehmend Zurückhaltung bei der Annahme geboten, Schutzvorgaben, die über den in den Richtlinien vorgesehen Mindeststandard hinausgehen, seien wegen Beschränkung von Grundfreiheiten unzulässig. Zurückhaltung ist außerdem geboten, wenn punktuelle Regelungen in Richtlinien (vermeintlich) europarechtskonform auf weitere Sachverhalte angewandt werden sollen. Ferner bedarf es dann keiner zwingenden materiellen Schutzvorgaben, wenn durch Gewährleistung von Transparenz und Bereitstellung der erforderlichen Informationen den Marktteilnehmern ermöglicht wird, sich effektiv selbst zu schützen. Europarechtlich lässt sich der Vorrang des Informationsmodells vor inhaltlichen Vorgaben am Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 3 EUV/5 Abs. 2 EG) festmachen.238 Der Wettbewerb der Regelungsgeber kann seinen Zweck – Optimierung der rechtlichen Regelungen – besser erreichen, wenn nicht nur die Nachfrager, sondern vor allem auch die Anbieter Rechtsvergleich betreiben.239 236 Str.; vgl. Habersack, AG 2006, 345, 346, 348 ff.; ders., ZHR 171 (2007), 613, 627 ff.; MünchKommAktG-Jacobs, § 21 SEBG Rn. 6 f.; Windbichler, FS Canaris (2007), S. 1431 f.; a.A. Lutter/Hommelhoff-Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar (2008), Art. 9 SE-VO Rn. 58; Teichmann, Der Konzern 2007, 89, 93 ff. 237 Dazu Brandt, Die Hauptversammlung der Europäischen Aktiengesellschaft, S. 58 f.; vgl. auch Casper, FS P. Ulmer (2003), S. 55; Teichmann, ZGR 2002, 383, 398; Wagner, NZG 2002, 985, 987; Nagel/Freis/Kleinsorge-Nagel, Beteiligung der Arbeitnehmer im Unternehmen auf der Grundlage des europäischen Rechts (2. Aufl. 2009), GesRSE, Rn. 9 mwN. 238 Grundmann, ZIP 2004, 2401 ff. 239 So die Forderung von Flessner, JZ 2002, 14, 16, 21 hinsichtlich der Anwendung des Privatrechts und der Juristenausbildung allgemein. Zu den ökonomischen und institutionellen Bedingungen für wirksame ökonomische Anreize für die Regelungsgeber Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen (2002); Heine, Regulierungswettbewerb im Gesellschaftsrecht (2003), S. 120 ff.; vgl. auch Merkt, RabelsZ 59 (1995), 545 f.; zu den Grenzen des Regulierungswettbewerbs im Mitbestimmungsbereich A. Johnston, JCLS 6 (2006), 71 ff. Christine Windbichler/Kaspar Krolop

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3. Teil: Besonderer Teil

b)

Kapitalaufbringungsschutz im Besonderen

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Anhand des Rechtsvergleichs lässt sich feststellen, dass es sich bei der Lehre von der verdeckten Sacheinlage um einen „local hill“ handelt. Daran schließt sich die Frage an, ob dieser gar nicht, teilweise oder ganz abgetragen werden soll. Die Rechtstechnik dafür wäre eine europarechtliche Höchstnorm, die (kraft besserer Erkenntnis guten Gesellschaftsrechts) unterhalb des Gipfels bleibt (s.o. Rn. 26, 61 ff.). Dies vermag die Probleme der switching costs und der Vernetzungseffekte aber nicht zu lösen. Hier ist deshalb die Frage nach den Entwicklungsmöglichkeiten im nationalen Recht aufgeworfen.

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Die Diskussion über Reformen ist lebhaft in Gang gekommen. Gerade der sich nach Inspire Art 240 verschärfende Wettbewerbsdruck auf das deutsche Gesellschaftsrecht hat den bereits seit geraumer Zeit angestellten Überlegungen zum deutschen Recht der Kapitalaufbringung bei der GmbH neue Bedeutung verliehen.241 Ähnlich wie auf der europäischen Ebene spricht sich die überwiegende Anzahl der Stimmen für eine Reform anstatt Abschaffung aus.242 So wurde mit dem MoMiG bei der GmbH an der Notwendigkeit eines Mindeststammkapitals von EUR 25.000 festgehalten. Gleichzeitig wurde vor allem zur Erleichterung von Existenzgründungen die Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt) eingeführt, bei der kein Mindeststammkapital vorgesehen ist (§ 5a GmbHG).243 Ferner trug die insolvenzrechtliche Erfassung von Gesellschafterdarlehen anstelle des überkomplizierten Eigenkapitalersatzrechts partiell einen anderen local hill des deutschen Gesellschaftsrechts ab.244 Da die insolvenzrechtlichen Vorschriften rechtsformunabhängig sind, finden sie auch auf

240 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155. 241 Grundl. Kübler, Aktie, Unternehmensfinanzierung und Kapitalmarkt (1989), S. 59 ff. Zur aktuellen Diskussion vgl. Eidenmüller/Engert, AG 2005, 97 ff.; Mülbert, Der Konzern 2004, 151 ff.; Schön, Der Konzern 2004, 162 ff. Vgl. Begr. des RefE zum MoMiG v. 29.5.2006, abrufbar unter http://www.jura.uni-augsburg.de/fakultaet/lehrstuehle/moellers/materialien/ materialdateien/040_deutsche_gesetzgebungsgeschichte/momig/), S. 33: „Soll die Attraktivität der GmbH gegenüber konkurrierenden ausländischen Rechtsformen gesteigert werden.“ 242 Vgl. die diff. Ansätze in Eidenmüller/Engert, AG 2005, 97 ff.; Mülbert, Der Konzern 2004, 151 ff.; Schön, Der Konzern 2004, 162 ff. Zu einer „Radikallösung“ tendierend hingegen Kübler, in: Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital Markets and Company Law (2003), S. 95 ff. Auch das MoMiG sieht zwar eine Aufhebung der Rechtsprechungsregeln zum Eigenkapitalersatz vor (näher dazu unten, Fn. 244), jedoch keine Abschaffung der Regelungen zur Gewährleistung von Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung vor. Im Gegenteil: Teile des Entwurfes zielen auf deren Absicherung gegen Missbrauch und Umgehung. 243 Näher zur GmbH-Reform allgemein Windbichler, Gesellschaftsrecht, (22. Aufl. 2009), § 20 Rn. 19 ff., speziell zur UG haftungsbeschränkt § 21 Rn. 44 ff. mwN. 244 Eckpunkte dieser Vereinfachung sind: Aufgabe der Rechtsprechungsregeln zu § 30 GmbH (§ 30 Abs. 1 S. 3 GmbHG RegE); Streichung der §§ 32, 32b GmbHG; Aufgabe der Unterscheidung zwischen „normalen“ Gesellschafterdarlehen und eigenkapitalersetzenden Gesellschafterdarlehen, vgl. Begr. des RegE zum MoMiG, BT-Drs. 16/6140, 136 ff.; 140 ff.; Windbichler, Gesellschaftsrecht (22. Aufl. 2009), § 20 Rn. 19 ff.

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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht

Auslandsgesellschaften Anwendung.245 Die GmbH fällt zwar nicht unter die Kapitalrichtlinie; es ist aber ein Beispiel für den Vernetzungseffekt, dass die Kapitalaufbringungsvorschriften bei harmonisierten und nicht harmonisierten Kapitalgesellschaften innerhalb einer nationalen Rechtsordnung nur begrenzt auseinander driften.246 Dies zeigt nicht zuletzt die jüngste Gesetzesentwicklung im deutschen GmbH- und Aktienrecht. Die Erleichterungen bei der Kapitalaufbringung durch das MoMiG wurden durch das ARUG auf die AG ausgedehnt. Der Einfluss der Richtlinien für die Auslegung des nationalen Rechts muss bei Änderungen neu durchdacht werden. Neben der Regelung zur verdeckten Sacheinlage wurde in § 27 Abs. 4 AktG auch die Regelung des § 19 Abs. 5 GmbHG übernommen. Diese erleichtert das Hin- und Herzahlen, wenn dem Inferenten die Bareinlage in Form eines Darlehens zurückgewährt wird, das vollwertig ist und von der Gesellschaft jederzeit fällig gestellt werden kann. Dies wurde bisher ebenfalls als eine nicht ordnungsgemäße Kapitalaufbringung erachtet, da wegen der Darlehensabrede die Bareinlage der Gesellschaft nicht zur freien Verfügung steht. Teilweise wird bezweifelt, ob dies mit Art. 9 Abs. 1 KapRL vereinbar ist, wonach die Einlage „endgültig zur freien Verfügung“ stehen muss.247 Was genau darunter zu verstehen ist, ist autonom und unabhängig vom einzelnen nationalen Recht unter Berücksichtigung rechtsvergleichender Erkenntnisse zu beantworten. Die Kapitalrichtlinie sieht für die Finanzierung des Anteilserwerbs mit Geldmitteln der Gesellschaft (financial assistance) besondere Regelungen vor. Ein hierauf gerichtetes Rechtsgeschäft ist gemäß Art. 23 KapRL (§ 71a AktG Abs. 1) grundsätzlich nichtig. Diese Rechtsfolge lässt sich mit der in § 27 Abs. 4 AktG n.F. vorgesehenen Befreiung von der Einlageverpflichtung kaum in Einklang bringen. Nach bisherigem Verständnis war die Auszahlung der Darlehenssumme bereits ein Verstoß gegen § 57 Abs. 1 AktG. Die Frage des Verhältnisses von § 71a AktG zu § 27 Abs. 4 AktG ist damit neu aufgetaucht und muss unter Berücksichtigung der Systematik der Kapitalrichtlinie beantwortet werden. Mit der Änderung der Kapitalrichtlinie wurde den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eingeräumt, eine finanzielle Unterstützung des Aktienerwerbs unter bestimmten Voraussetzungen zuzulassen. Der deutsche Gesetzgeber hat im ARUG deutlich gemacht, dass er davon keinen Gebrauch machen will.248 Dies könnte für einen Vorrang

245 So die Begr. des RegE zum MoMiG, BT-Drs. 16/6140, 137 f. Allerdings macht die Verpflanzung des Eigenkapitalersatzrechts in die InsO allein die Anwendung der Regelungen zum Eigenkapitalersatz bzw. zu Gesellschafterdarlehen auf Auslandsgesellschaften nicht gemeinschaftskonform. Auch bei einer insolvenzrechtlichen Regelung ist grundsätzlich zu prüfen, ob und inwieweit ihre Anwendung auf Auslandsgesellschaften deren Niederlassungsfreiheit auf unzulässige Weise beschränkt (näher dazu o. Rn. 73 f.); so auch Roth/Altmeppen-Altmeppen, GmbHG (6. Aufl. 2009), Anh. §§ 32a, b GmbHG Rn. 75; Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 3 Rn. 24; Krolop, ZIP 2007, 1738, 1745. 246 Besonders stark ausgeprägt ist dies im tschechischen Recht. Dort wird hinsichtlich Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung weitestgehend auf die AG verwiesen, § 123 Abs. 2 tschech. HGB, näher dazu Krolop/Kusak, WiRO 2007, 65, 69, 109 ff. mwN. 247 Habersack, AG 2009, 557, 560 f. 248 Bericht des Rechtsschusses, BT-Drs. 16/13098, 55; näher dazu Habersack, AG 2009, 557, 562. Christine Windbichler/Kaspar Krolop

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3. Teil: Besonderer Teil

von § 71a AktG vor § 27 Abs. 4 AktG sprechen.249 Das Problem zeigt auch, wie die Kapitalrichtlinie der Vernetzung von GmbH und AG Grenzen setzt.

85b

Hinzu kommt ein anderer Aspekt des Vernetzungseffekts. Die strenge Einstellung zur Kapitalaufbringung in Deutschland ging einher mit einem tendenziell gläubigerfreundlichen Gesellschafts-, Bilanz- und Insolvenzrecht.250 Die praktische Unhandlichkeit hat zu kautelarjuristischen Produkten geführt, die in anderen Ländern nicht geläufig sind und die über die nationale Umgehungsrechtsprechung eingefangen wurden. Diese Produkte sind in der Welt und werden im Falle einer Liberalisierung kräftig genutzt, ggf. sogar exportiert werden. Mit anderen Worten, man kann den erreichten Stand der Rechtswirklichkeit nicht zum Verschwinden bringen. Die Unschuld, die die Briten in puncto Kapitalaufbringung haben (weil sie sie sowieso nicht sehr ernst nehmen), haben die Deutschen schon vor langer Zeit verloren.

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Bei der Diskussion um Liberalisierung und Deregulierung darf nicht übersehen werden, dass die Lehre von der verdeckten Sacheinlage, flankiert vom umfassenden Verbot verdeckter Gewinnausschüttungen, Lücken ausfüllt, die das deutsche Insolvenzrecht lässt.251 Hinzu kommt die sogenannte Durchgriffshaftung. Das englische Recht kennt zwar keine Lehre von der verdeckten Sacheinlage, hat aber dafür an der Schnittstelle von Gesellschafts- und Insolvenzrecht ein ausdifferenziertes System von Durchgriffstatbeständen entwickelt, die es erlauben, den Gesellschafter und die Leitung des Unternehmens unter bestimmten Umständen, insbesondere bei Missbrauch und vorsätzlicher Schädigung von Gläubigern, persönlich in Anspruch zu nehmen.252

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Es wäre also problematisch, die Lehre von der verdeckten Sacheinlage als „Investitionshindernis“ ersatzlos zu streichen,253 ohne zu prüfen, ob Schutzlücken entstehen, die im Hinblick auf Gläubigerinteressen nicht hingenommen werden können und auch in anderen Rechtsordnungen nicht hingenommen werden. Hier ist die Entwicklung von Rechtsprechung und Lehre zur Gesellschafterhaftung zu nennen. Wenn auf der Grundlage der Erfahrungen mit den Urteilen des BGH zu „Bremer Vulkan“,254 „KBV“ 255 und „TRIHOTEL“ 256 praktikable, differenzierte und interessengerechte

249 Habersack, AG 2009, 557, 562 f. 250 Vgl. dazu nur Merkt, ZGR 2004, 305, 311 f. 251 Eingehend zum „Binnenmarktkonformen Gläubigerschutz“ bei Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, S. 449 ff.; besonders deutlich wurde dies im Recht der GmbH bei §§ 32a, 32b GmbHG a.F., die zu einem sehr komplexen, kaum zu durchschauenden Geflecht von Gesetzes- und Rechtsprechungsregeln führten. Dies hat Reformbedarf hinsichtlich einer Vereinfachung ausgelöst, wie sie nun durch das MoMiG umgesetzt wurde. 252 Dazu Davies, Gower and Davies: Principles of Modern Company Law, S. 193 ff., 257 ff.; 241 f. 253 Die Kritiker der Lehre von der verdeckten Sacheinlage verlangen keine ersatzlose Streichung, sondern Milderung, insbes. der Rechtsfolgen; vgl. Einsele, NJW 1996, 2681, 2689; Heidenhain, GmbHR 2006, 455, 458 f. Auch das MoMiG hat hinsichtlich des Tatbestands im Kern die Grundsätze zur verdeckten Sacheinlage unangetastet gelassen. 254 BGHZ 149, 10 ff. – Bremer Vulkan; bestätigt durch BGH, ZIP 2004, 2138 ff. 255 BGHZ 151, 181 ff. – KBV; bestätigt durch BGH, ZIP 2005, 121 f. 256 BGHZ 173, 246 ff. – TRIHOTEL.

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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht

Fallgruppen entwickelt werden können257, ist man in geringerem Maße auf die Konstruktion von Rückzahlungs- bzw. Ersatzansprüchen wegen Verletzung der Kapitalaufbringungs- und Kapitalerhaltungsvorschriften angewiesen. Um auf unser Beispiel der Forderungseinbringung zurückzukommen: Wir hatten festgestellt, dass die Forderungseinbringung durchaus ein nützliches und stark nachgefragtes Sanierungsinstrument ist, aber auf der anderen Seite Risiken birgt, insbesondere im Hinblick auf den Gläubigerschutz. Man kann versuchen, diese Risiken präventiv auszuschalten, indem man die Einhaltung der Vorgaben für die Aufbringung einer Sacheinlage, insbesondere eine Werthaltigkeitskontrolle verlangt (so der traditionelle Ansatz). Das Aufstellen solcher Vorgaben macht aber einen großen Teil der Vorteile dieses Sanierungsinstruments zunichte.258 Es könnte interessengerechter sein, auf die umfassende präventive Kontrolle zu verzichten und stattdessen ex post eine persönliche Haftung des Inferenten für den Missbrauch dieses Instruments vorzusehen. c)

SE als besondere Herausforderung im Wettbewerb der Rechtsordnungen

Die SE mit ihrer mehrfach gestuften Normgrundlage verlangt methodisch besonders sorgfältigen Umgang mit den unterschiedlichen Rechtsquellen; die Gefahr, dass europäisches Recht nicht autonom, sondern selbstgewiss nach nationalen Gepflogenheiten, ähnlich wie die sog. verdeckte Sacheinlage, ausgelegt und angewandt wird, ist groß. Das nationale Recht fordert die SE insofern heraus, als versatzstückartig Teile des Aktienrechts zur Anwendung kommen und die notwendige Verzahnung zu leisten ist.259 Darüber hinaus sind Einstrahlungen des SE-Rechts in das nationale Gesellschaftsrecht denkbar. Diese sind weniger Europarechtsfreundlichkeit als Teil des Angebots des Normgeberwettbewerbs.260 5.

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Ausblick

Was könnte sonst noch methodisch hilfreich sein? Zuvor wurde wiederholt die Bedeutung des Informationsmodells, insbesondere für das Gesellschaftsrecht, hervorgehoben.261 Wenn ein nationaler Gesetzgeber strenge Bräuche für gut und richtig hält, muss das kommuniziert werden. Gesellschafter und Gläubiger können dann klar darüber entscheiden, was ihnen wichtig ist. Local hills müssen bei diesem Ansatz nicht zwingend geschleift werden.262 Der durch die Rechtswahlfreiheit eröffnete Wettbe257 Die Diskussion hierzu ist in vollem Gange; vgl. Schön, ZHR 168 (2004), 268 ff.; Sester, ZGR 2006, 2 f., 8 f., 36; umfassend Schall, Kapitalgesellschaftlicher Gläubigerschutz. Grund und Grenzen der Haftungsbeschränkung nach Kapitaldebatte, MoMiG und Trihotel (2009). 258 S.o. Rn. 29 ff. 259 Bachmann, ZEuP 2008, 32, 53 ff. 260 Fleischer, AcP 204 (2004), 502 ff.; zur Bedeutung der SE für den Regulierungswettbewerb Röpke/Heine, ORDO 56 (2005), 157. 261 Vgl. vor allem Grundmann, in diesem Band, § 10 Rn. 39, 43 ff. 262 Nähere Analyse des Kapitalschutzsystems in Bezug auf die deutsche GmbH als „Qualitätssignal“ aus juristischer und ökonomischer Sicht bei Heine/Röpke, RabelsZ 70 (2006), 138, 151 ff.

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3. Teil: Besonderer Teil

werb zwingt den Regelungsgeber aber dazu, sich Gedanken zu machen, welche Elemente local hills sind, die eigene „Hügellandschaft“ mit anderen zu vergleichen und sein Angebot entsprechend zu formulieren. Damit sind die Gewährleistung der Grundfreiheiten und die Offenheit für Gesellschaften mit einem ausländischen Gesellschaftsstatut nicht Bedrohung, sondern Fitnessstudio für das nationale Gesellschaftsrecht.

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§ 20 Kapitalmarktrecht Susanne Kalss

Übersicht I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Junges dynamisches Rechtsgebiet . . . . . . . . . . . . . . . 1. Dramatische Änderung des Markts . . . . . . . . . . . . . 2. Das neue kapitalmarktrechtliche Normsetzungsverfahren 3. Die Rolle von CESR bei der Normsetzung und -auslegung 4. Besonderheiten für die Interpretation der Normen . . . . 5. CESR – Dritte Regelungsebene . . . . . . . . . . . . . . . 6. Exkurs: Internationale Rechnungslegungsstandards . . . .

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. 2–26g . 2–4a . 5–6 . 7–10 . 11–23 . 24–26 . 26a–26g

III. Effizienz als Maßstab des Kapitalmarktrechts

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IV. Kapitalmarktrecht – Eine Querschnittsmaterie 1. Öffentliches – Privates Recht . . . . . . . . 2. Wohlverhaltensregeln – eine Doppelnatur . 3. Auslegung der Regelungen mit Doppelnatur 4. Vertragliche Regelungen . . . . . . . . . . . 5. Schutzgesetzcharakter von Normen . . . . 6. Gespaltene Interpretation . . . . . . . . . .

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V. Resümee

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Rn. 1

26h

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27–35 27 28–29 30 31–32 33 34–35

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36–37a

Literatur: Heinz-Dieter Assmann/Uwe H. Schneider, Kommentar zum WpHG (5. Aufl. 2009); Heinz-Dieter Assmann/Rolf A. Schütze, Handbuch des Kapitalanlagerechts (3. Aufl. 2007); Eilis Ferran, Building an EU Securities Market (2004); Andreas Fuchs, Wertpapierhandelsgesetz (2009); Heribert Hirte/Thomas M.J. Möllers, Kölner Kommentar zum WpHG (2007); Jan Hupka, Die Integration der europäischen Finanzmärkte. Zur Rolle des Committee of European Securities Regulators (CESR) und der Bindungswirkung von Standards, GPR 2008, 286–293; Susanne Kalss, New Challenges for Stock Exchanges, Investment Firms and Other Market Participants, in: Jürgen Basedow u.a. (Hrsg.), Economic regulation and competition (2002), S. 111– 129; Susanne Kalss, Kapitalmarktrecht an der Schnittmenge mehrerer Regelungsfelder, in: Heinz Peter Rill (Hrsg.), Festschrift 100 Jahre Wirtschaftsuniversität Wien (1998), S. 183–213; Susanne Kalss/Martin Oppitz/Johannes Zollner, Österreichisches Kapitalmarktrecht (2005); Thomas M.J. Möllers, Europäische Methoden- und Gesetzgebungslehre im Kapitalmarktrecht. Vollharmonisierung, Generalklauseln und soft law im Rahmen des Lamfalussy-Verfahrens als Mittel zur Etablierung von Standards, ZEuP 2008, 480–505; Frank A. Schäfer/Uwe Hamann, Kapitalmarktgesetze, Loseblatt (Stand: April 2010).

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3. Teil: Besonderer Teil

I. 1

2

Einleitung

Das europäische wie nationale Kapitalmarktrecht wird durch mehrere Charakteristika geprägt, die sich unmittelbar in der Auslegung und Methodik widerspiegeln. Zunächst ist das Kapitalmarktrecht ein sehr junges Gebiet, das sich durch eine dynamische Entwicklung auszeichnet und das ganz wesentlich durch eine neue mehrstufige Regelungstechnik geprägt ist. Weiter ist das Kapitalmarktrecht ein Rechtsgebiet, das sich in besonderer Weise ökonomischen Regelungen öffnet, weil die kapitalmarktrechtlichen Normen regelmäßig mit ökonomischen Überlegungen unterlegt werden.1 Besondere Herausforderungen ergeben sich für das Kapitalmarktrecht aus der Informationsasymetrie zwischen den Marktgegenseiten und den Interessenkonflikten der Finanzdienstleister (Banken). Diese Wertungsgesichtspunkte spielen daher bei der Interpretation der einzelnen Normen eine besondere Rolle. Kapitalmarktrecht bildet schließlich eine Querschnittsmaterie,2 was bedeutet, dass sich kapitalmarktrechtliche Regelungen sowohl aus dem traditionell öffentlich-rechtlichen (regulativen) als auch aus dem traditionell privatrechtlichen Rechtsbereich zusammen finden, wobei principles-based und rules-based regulation einander ergänzen.3 Die großen Bereiche finden wiederum in unterschiedlichen Teildisziplinen Anknüpfungspunkte, wie etwa im Wertpapierrecht, Gesellschaftsrecht, Handelsrecht, Verwaltungsrecht, Wirtschaftsaufsichtsrecht, Strafrecht etc. Dieser Mix von Normen verschiedener Regelungsebenen des europäischen und nationalen Rechts und aus verschiedenen Rechtsbereichen erfordert gerade dort, wo Privat- und öffentliches Recht bzw. europäisches und nationales Recht unmittelbar aufeinander treffen, besonderes Augenmerk auf Fragen der Auslegung zu richten, um allfällige Diskrepanzen von Auslegungstraditionen bzw. Arbeitstechniken in den unterschiedlichen Disziplinen zu überbrücken und ein stimmiges Verständnis der Gesamtregelungen zu entwickeln.4

II.

Junges dynamisches Rechtsgebiet

1.

Dramatische Änderung des Markts

Das europäische ebenso wie das nationale Kapitalmarktrecht bilden ein junges Rechtsgebiet, das sich erst in den letzten rund 20 Jahren in breiter Form entwickelt hat. Zwar war den Architekten eines einheitlichen europäischen Markts von Anfang

1 Möllers, AcP 208 (2008), 1, 6; Fleischer/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Effizienz als Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht (2008), S. 9, 12, 18; Sester, ZGR 2009, 310 ff.; Schall, JZ 2010, 392, 396 f. 2 Siehe nur Hopt, in: Basedow/Hopt/Zimmermann, Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), Bd. I, S. 939; Kalss, FS 100 Jahre Wirtschaftsuniversität Wien, S. 194; U.H. Schneider, AG 2001, 269, 269 f.; ferner Buck-Heeb, Kapitalmarktrecht (3. Aufl. 2009) Rn. 3. 3 Vgl. näher U. H. Schneider, in: Hutter/Baums (Hrsg.), GS Gruson (2009), S. 369–378. 4 Zur Selbstregulierung im Bereich des Kapitalmarktrechts vgl. Kämmerer, in: Hopt/Veil/ Kämmerer (Hrsg.), Kapitalmarktgesetzgebung im Europäischen Binnenmarkt (2008), S. 145– 163.

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§ 20 Kapitalmarktrecht

an klar, dass das Kapitalmarktrecht einer unverzüglichen einheitlichen Regelung bedürfe,5 dennoch dauerte es bis in die 1980er- und 1990er-Jahre, dass sich ein relativ einheitliches europäisches Kapitalmarktrecht herausbilden konnte,6 das eine angemessene sachliche Reichweite der Regelungen und Regelungstiefe erreichte.7 Trotz dieses Schubs an sekundärrechtlichen Regelungen zeigte sich bald die Unzulänglichkeit des europäischen Normgefüges, um den Marktanforderungen auf Anbieter- und Nachfragerseite tatsächlich gerecht zu werden.8 Seit rund 15 Jahren unterliegen die Finanzindustrie und der Kapitalmarkt fundamentalen Änderungen.9 Verkürzt lassen sich die Ursachen in die Schlagworte Globalisierung der Wirtschaft, Internationalisierung der Finanzmärkte sowie die Institutionalisierung der Vermögensanlagen kleiden. Diese Veränderungskräfte wurden durch die enormen Fortschritte in der Informations- und Kommunikationstechnologie erst möglich und in Europa durch die EU-Harmonisierungsbestrebungen und die Einführung des Euro nachhaltig unterstützt.10 Die Globalisierung des Markts, die Zunahme der Mobilität der Marktteilnehmer, die in immer kürzeren Zyklen stattfindende Kreation neuer Finanzinstrumente und Techniken tragen ebenso zum neuen Umfeld bei wie eine offene Politik.

3

Die dramatischen Änderungen veranlassten die Europäische Kommission 1999 einen Aktionsplan für Finanzdienstleistungen vorzulegen (Financial Services Action Plan – FSAP).11 Die Kommission setzte eine Expertengruppe ein, um sowohl inhaltlich Prioritäten als auch verfahrensmäßige Regelungen für die Fortentwicklung des europäischen Kapitalmarktrechts zu formulieren. Auf der Grundlage des Berichts dieser Experten (Bericht der Weisen – Lamfalussy-Bericht) vom November 200012 legte der Europäische Rat in einer Entschließung im März 2001 seine Vorstellung einer wirksameren Regelung des Kapitalmarkts vor. Der Vorsitzende des „Ausschusses der Weisen“, Alexandre Baron Lamfalussy, hebt in seinem Abschlussbericht insbesondere die Fähigkeit zur raschen Anpassung des kapitalmarktrechtlichen Rechtsrahmens an den

4

5 Beredtes Zeugnis davon ist etwa der sogenannte Segré-Bericht: Europäische Wirtschaftsgemeinschaft – EG-Kommission, Der Aufbau eines europäischen Kapitalmarkts – Bericht einer von der EWG-Kommission eingesetzten Sachverständigengruppe 1966. 6 Siehe dazu etwa Assmann, in: Assmann/Schütze (Hrsg.), Handbuch zum Kapitalanlagerecht (3. Aufl. 2007), § 1 Rn. 21 ff.; Weber, in: Dauses (Hrsg.), Europäisches Wirtschaftsrecht (1996), Rn. F III; Moloney, EC Securities Regulation (2. Aufl. 2009), S. 4 ff. 7 Moloney, EC Securities Regulation (2. Aufl. 2009), S. 5; ders., EBOR 2002, 293, 309, 336. 8 Ferrarini, in: Ferrarini/Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital Markets in the Age of the Euro (2002), S. 241. 9 Baum, in: Kono/Paulus/Rajak (Hrsg.), The legal issues of E-commerce (2000), S. 99; Kalss, in: Ferrarini/Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital markets in the Age of the Euro (2002), S. 193. 10 Rudolf, in: Habersack/Mülbert/Schlitt (Hrsg.), Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt (2. Aufl. 2009), § 1 Rn. 5. 11 Kommission – Umsetzung des Finanzmarktrahmens: Aktionsplan Mitteilung der Kommission vom 11.5.1999, Komm (1999) 232 endg, abgedruckt in ZBB 1999, 103 f. 12 Bericht des Ausschusses der Weisen über die Reglementierung der europäischen Wertpapiermärkte v. 9.11.2000, europa.eu.int/comm/internal_market/securities/lamfalussy/index_de. htm.europa.eu.int/comm/internal_market/en/finances/banks/report/de.pdf.

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3. Teil: Besonderer Teil

Wandel der wirtschaftlichen Marktrealität als Kennzeichen des neuen Legislativprozesses hervor.13 Im November 2005 bat die Kommission in einer Pressemitteilung um Kommentare betreffend der Bewertung des FSAP.14

4a

Als Reaktion auf die aktuelle Finanzkrise wird nunmehr im Anschluss an den Bericht der de-Larosière-Gruppe15 ein europäisches Finanzaufsichtssystem mit neuen europäischen Finanzaufsichtsbehörden geschaffen. Ersichtlich sind die institutionellen Einrichtungen im Fluss.16 Naturgemäß wird dies auch Rückwirkungen auf die materielle Anwendung, die Auslegung und das Enforcement der Regelungen haben. 2.

5

Das neue kapitalmarktrechtliche Normsetzungsverfahren

Auf der Grundlage des Lamfalussy-Berichts und der Entschließung des Europäischen Rats wurde für das europäische Kapitalmarktrecht ein vierstufiges Regelungskonzept etabliert. Dabei wurde das bereits in anderen regelungsintensiven Bereichen wie Landwirtschaft, Lebensmittelrecht und ähnlichen Marktordnungen verwendete Komitologieverfahren auf das Kapitalmarktrecht übertragen. Das kapitalmarktrechtliche Regelungsregime ist vierstufig aufgebaut.17 Europaweit werden vom Rat nur mehr (i) als politische Grundentscheidungen einheitliche Rahmenregelungen und Prinzipien geschaffen; (ii) konkretisierende flexible Durchführungsmaßnahmen legt die Kommission unter Beiziehung von Sachverständigen fest, die (iii) möglichst einheitlich in den Mitgliedstaaten umgesetzt und (iv) durch die Kommission in effizienter Weise durchgesetzt werden sollen.18 Auf der ersten Stufe sollen nach dem üblichen Rechtsetzungsverfahren nach Art. 294 AEUV/251 EG in einem neuen Typus von Richtlinien, respektive Verordnungen die politischen Grundentscheidungen getroffen werden.19 Die Richtlinien sind als Rahmenrichtlinien gestaltet und sollen nur die Eckpunkte der jeweiligen Regelungen erfassen. Gerade aber in der Festlegung der notwendigen Konkretheit liegt wiederum der entscheidende Punkt in der gesamten Festlegung des Regelungsprozederes.20 Da der genaue Grad der Konkretheit der Rahmenrichtlinien nicht voll ausgelotet und bei politisch heiklen Fragen tendenziell zu

13 Vgl. Binder/Broichhausen, ZBB 2006, 85, 88. 14 Pressemitteilung IP/05/1377 v. 7.11.2005, abrufbar unter http://europa.eu/rapid/pressReleases Action.do?reference=IP/05/1377&format=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage=de. 15 Abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/finances/docs/de_larosiere_report_de. pdf. 16 Vgl. auch Herdegen, Bankenaufsicht im Europäischen Verbund (2009), passim. 17 Siehe nur Möllers, ZEuP 2008, 480, 483 ff.; Hupka, GPR 2008, 286; Karpf/Kuras-Eder, ÖBA 2002, 758, 758; Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht (2005), § 1 Rn. 43 ff. 18 Siehe dazu nur Doralt/Kalss, in: Bermann/Pistor (Hrsg.), Law and governance in an enlarged European Union (2004), S. 272. 19 Schmolke, NZG 2005, 912, 912 f. 20 Siehe zum Ausmaß der Konkretheit Ferran, Building an EU-securities market, S. 99, vor allem zur ProspektRL, S. 134 ff.; Ferrarini, Contract standards and the markets in financial instruments directive and assessment of the Lamfalussy regulatory achitecture (2005), zur RL über Märkte von Finanzinstrumenten, S. 12 ff.; ders., ERCL 1 (2005), 19, 29, zur MiFID.

608

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§ 20 Kapitalmarktrecht

hoch ist,21 besteht die Gefahr, dass jede künftige kapitalmarktrechtliche Richtlinienbestimmung der Überprüfung durch den EuGH auf die Vertragskonformität insbesondere zur Konkretheit gem. Art. 202 EG unterzogen wird.22 Entsprechend dem Komitologieverfahren werden auf der zweiten Stufe des Regelungsprozesses die technischen Durchführungsmaßnahmen, entweder in Gestalt einer Durchführungsrichtlinie (DurchführungsRL) oder einer Durchführungsverordnung (DurchführungsVO), nur von der Kommission erlassen. Die Kommission erlässt rund 90 % der Durchführungsbestimmungen.23 Das Komitologieverfahren verschiebt somit die Kompetenz für die Festlegung von Durchführungsbestimmungen und technischen Einzelheiten von Rat und Parlament zur Kommission, die sich des Sachverstands von Expertengremien bedienen muss. Seit 2006 ist aber eine höhere Teilhabe des europäischen Parlaments sichergestellt; 24 zudem wurde innerhalb des Ausschusses der EU-Wertpapierregulierungsbehörden (Comitee of European Securities Regulators – CESR) ein Market Participants Consultative Panel geschaffen, der eine Beteiligung der Marktteilnehmer im Normsetzungsverfahren ermöglicht. Die Instrumente der DurchführungsRL oder -VO entsprechen funktional der bisher mehrfach von der Kommission eingesetzten „Amtlichen Mitteilung“,25 mittels der die Kommission den vom Rat gesetzten und von ihr nur vorbereiteten Rechtsakt mehr oder weniger authentisch interpretierte. Die Ermächtigung zur Erlassung von Durchführungsmaßnahmen gibt der Kommission nunmehr eine klare Kompetenz, zudem leistet sie nicht nur einen Auslegungsvorschlag, sondern erlässt eine verbindliche Regelung, um Regelungsspielräume zu konkretisieren. Die Stufen drei und vier betreffen nicht mehr die Rechtsetzung auf Gemeinschaftsebene, sondern die anschließende Umsetzung und Durchsetzung der auf Stufe eins und zwei erlassenen Vorschriften.26 3.

6

Die Rolle von CESR bei der Normsetzung und -auslegung

Die im Jahr 2001 etablierten Ausschüsse, nämlich der EU-Wertpapierausschuss (European Securities Comitee – ESC) 27 und der Ausschuss der EU-Wertpapierregulierungsbehörden (Comitee of European Securities Regulators – CESR)28, werden auf den ersten drei Ebenen in den Regelungsprozess einbezogen. CESR spielt gerade auch für

21 Krit. daher Ferrarini, ERCL 1 (2005), 19, 27 ff. 22 Kalss, in: Basedow/Baum/Hopt/Kanda/Kono (Hrsg.), Economic regulation and competition (2002), S. 118 f. 23 Möllers, ZEuP 2008, 480, 485. 24 Dritter Komitologiebeschluss des Rates 2006/512/EG. 25 Vgl. etwa die Amtliche Mitteilung der Kommission zur zweiten Bankrechtsrichtlinie v. 15.12. 1989, ABl. L 386/34. 26 Schmolke, NZG 2005, 912, 913. 27 2001/528/EG: Beschluß der Kommission v. 6.6.2001 zur Einsetzung des Europäischen Wertpapierausschusses, ABl. 2001 L 191/45. 28 2001/527/EG. Beschluß der Kommission v. 6.6.2001 zur Einsetzung des Europäischen Wertpapierregulierungsbehörden, ABl. 2001 L 191/43.

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die Auslegung des europäischen Kapitalmarktrechts eine herausragende Rolle.29 Während der EU-Wertpapierausschuss (ESC), der vorwiegend aus hochrangigen Vertretern der Mitgliedstaaten zusammengesetzt ist, Beratungsfunktion auf der ersten und zweiten Regelungsebene ausübt, kommt dem Ausschuss der EU-Wertpapierregulierungsbehörden (CESR), das aus Vertretern der nationalen Wertpapier- und Finanzmarktaufsichtsbehörden besteht, beratende Funktion auf der ersten, vor allem aber auf der zweiten Regelungsebene und schließlich vollziehende Funktion auf der dritten Regelungsebene zu.

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Auf der dritten Ebene soll CESR zur Sicherung der möglichst hohen Kohärenz des europäischen Kapitalmarktrechts Empfehlungen zu Auslegungsfragen und Leitsätze für die Umsetzung bzw. Anwendung der allgemeinen Rahmenrichtlinien der konkreten Durchführungsmaßnahmen erarbeiten. Zusätzlich soll er gemeinsame Standards etablieren, sofern keine gemeinsamen Rechtsvorschriften bestehen.

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Auf der vierten Stufe des Regelungsregimes soll schließlich die Kommission um eine effiziente Durchsetzung der kapitalmarktrechtlichen Regelungen bemüht sein, indem eine enge Kooperation der Wertpapieraufsichtsbehörden ebenso angestrebt wird wie eine effiziente sonstige Sanktionierung der Regelung.

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Von herausragender Bedeutung für die Auslegung des derart mehrschichtig aufgebauten europäischen Kapitalmarktrechts ist somit die Aufgabenstellung von CESR, des Ausschusses der Wertpapierregulierungsbehörden. Dessen massive Einbindung zeigt die Verlagerung der Regelungskompetenz von politischen Vertretern hin zu Experten, was eine Erhöhung fachlicher Kompetenz und auch Flexibilisierung des Regelungsprozesses bewirken kann,30 was gerade bei speziellen Aufsichtsfragen im Grundsatz gerechtfertigt ist; aber auch dort kann die zu hohe Detailliertheit und Kasuistik der Regelungen, die vielfach in Kompromissen enden, hemmende Wirkung haben. Zugleich markiert diese prominente Stellung der mit Experten besetzten Ausschüsse eine dramatische Zuspitzung der Regelungsdominanz von zum Teil eng ausgerichteten Sachverständigen, somit zu einer Regelung von fachlich hochspezialisierten Insidern,31 die vielfach den Markt durch die Brille des Aufsehers beobachten.32 Zudem besteht die Gefahr, dass die starke Einbindung von Aufsehern und Regulatoren in den Rechtssetzungsprozess die Zahl und Dichte der Regelungen jedenfalls erhöht.33 Um-

29 Möllers, ZEuP 2008, 480, 481 ff.; Docters van Leeuwen, European Company Law (2005), S. 9 ff. 30 Ferrarini, ILF working paper 02/2005, S. 12; ders., ERCL 1 (2005), 19, 27 ff.; CESR-Standard: A European Regime of Investor Protection, abrufbar unter http://www.cesr.eu/index. php?docid=173, S. 3. 31 Krit. Zimmer, BKR 2004, 421, 421 f.: „Die Experten übernehmen“; ferner Hopt, Diskussionsbeitrag beim Symposion der deutsch-griechischen Juristenvereinigung, Europäisches Wirtschaftsrecht im Umbruch am 2.7.2004 in Hamburg. 32 Zahlreiche expert comitees und subgroups von CESR werden aber nicht nur aus Angehörigen der Kapitalmarktaufsichtsbehörden, sondern auch aus Praktikern (Marktteilnehmern) zusammengesetzt. 33 Vgl. nur Zimmer, BKR 2004, 421, 421 f.

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gekehrt wurde dadurch die Zahl der Generalklauseln und unbestimmter Rechtsbegriffe reduziert. Zwar wird von CESR im Stadium der Erarbeitung und Beratung der einzelnen Durchführungsmaßnahmen ein hoher Grad an Einbindung der gesamten Praxis und interessierten Öffentlichkeit durch umfangreiche elektronisch gestützte Konsultationsverfahren herbeigeführt, die ein hohes Maß an Publizität und Transparenz des Willensbildungsprozesses im Vergleich zu sonstigen Verfahren bewirken.34 Vielfach ist dieser Schub an Publizität und Transparenz im Normwerdungsprozess aber bloß ein scheinbarer und führt die komplexe Regelsetzungsstruktur dazu, dass außenstehende Rechtsanwender und Interessierte einen klaren Informationsnachteil haben und daher Regelungen nur sehr schwer auf ihren tatsächlichen normativen Gehalt ausloten können.35 Gerade die Fragen der Regelungstechnik und -gestaltung sollen nunmehr noch einmal vertieft überprüft werden. Bedenken werden schließlich gegen die ausschließliche Verwendung der englischen Sprache formuliert.36 4.

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Besonderheiten für die Interpretation der Normen

Bislang wurden nach dem neuen Vierstufen-Regelungsverfahren im Bereich des Kapitalmarktrechts37 (Lamfalussy-Verfahren) die Marktmissbrauchsrichtlinie,38 die Prospektrichtlinie,39 die Richtlinie für Märkte von Finanzinstrumenten (MiFID; vormals Wertpapierdienstleistungsrichtlinie)40 und schließlich zuletzt die Transparenzrichtlinie41 in Kraft gesetzt.

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Die meisten im Folgenden angeführten Beispiele stammen aus der Marktmissbrauchsrichtlinie, was sich einfach daraus erklärt, dass diese als erste gemäß dem Komitolo-

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34 Möllers, ZEuP 2008, 480, 486 f.; Ferran, Building an EU-securities market, S. 82; Kalss, in: Basedow/Baum/Hopt/Kanda/Kono (Hrsg.), Economic regulation and competition (2002), S. 117; Schmolke, NZG 2005, 912, 916. 35 So auch Hopt, Diskussionsbeitrag beim Symposion der deutsch-griechischen Juristenvereinigung am 2.7.2004 in Hamburg. 36 Vgl. nur Möllers, ZEuP 2008, 480, 493 ff. mwN. 37 Nach diesem Verfahren wurden auch bereits Richtlinien im Banken und Versicherungsrechts in Kraft gesetzt. 38 Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.1.2003 über Insidergeschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch), ABl. 2003 L 96/16. 39 Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates v. 4.11.2003 betreffend den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel zu veröffentlichen ist, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG, ABl. 2003 L 345/64. Diese Richtlinie ist derzeitig Gegenstand einer Novellierung nach diesem Verfahren. Vgl. dazu Russ, ZFR 2009/120, 188. 40 Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates, ABl. 2004 L 145/1. 41 Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.12.2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG, ABl. 2004 L 390/38. Susanne Kalss

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gieverfahren in Kraft gesetzt wurde und auch bereits in nationales Recht umgesetzt ist. Die ProspektRL war bis zum Juli 2005 in nationales Recht umzusetzen, sodass die Fragen erst nach und nach hervorkommen.

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Die Komplexität des Regelungsgeflechts zeigt sich etwa dadurch, dass die Marktmissbrauchsrichtlinie als Rahmenrichtlinie von drei Durchführungsrichtlinien42 und einer Durchführungsverordnung43 ergänzt wird und diese Ausführung der Normen der Kommission von einer Vielzahl vorbereitender und Beratungstexte von CESR begleitet wird. Allein dieser mehrschichtige Aufbau und die vielen begleitenden Unterlagen zeigen die neue Dimension des Kapitalmarktrechts.

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Welche Besonderheiten ergeben sich nun – abgesehen von den eben genannten Schwierigkeiten – aus diesem besonderen Rechtssetzungsregime für die Auslegung kapitalmarktrechtlicher Bestimmungen?

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a) CESR wurde gerade auch zu dem Zweck geschaffen, eine einheitliche Auslegung der kapitalmarktrechtlichen Regelungen in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU sicherzustellen. In diesem Bereich wurde somit zur Sicherstellung einer einheitlichen Auslegung eine eigenständige Einrichtung etabliert, die Auslegungsaufgaben zu erfüllen hat, was sowohl auf der zweiten Ebene und explizit auf der dritten Ebene des Normsetzungsprozesses verwirklicht wird. Offenbar wird für den Kapitalmarkt und das Kapitalmarktrecht die Einheitlichkeit des Regelungsverständnisses aufgrund des hohen transnationalen Handelsvolumens und des Verflechtungsgrads zumindest von Teilbereichen (Wertpapiermärkte, Abwicklung etc.) für so wichtig erachtet, dass die Auslegung nicht allein den Rechtsunterworfenen, sondern zusätzlich einem europaweit wirkenden Gremium überantwortet wird.

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b) Die Regelungstechnik zwingt den Anwender sowohl zur Zusammenschau und stimmigen Auslegung von mehreren Rechtstexten auf europäischer Ebene als auch auf nationaler Ebene, womit allein schon eine Komplizierung des Auslegungsprozesses und der Anwendung der Regelungen verbunden ist. Die nationalen Texte sind nicht allein auf ihre Europakonformität 44 zu überprüfen, zudem ist Sekundärrecht

42 Richtlinie 2004/72/EG der Kommission v. 29.4.2004 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates – Zulässige Marktpraktiken, Definition von Insider-Informationen in Bezug auf Warenderivate, Erstellung von Insider-Verzeichnissen, Meldung von Eigengeschäften und Meldung verdächtiger Transaktionen, ABl. 2004 L 162/70; Richtlinie 2003/124/EG der Kommission v. 22.12.2003 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Begriffsbestimmung und die Veröffentlichung von Insider-Informationen und die Begriffsbestimmung der Marktmanipulation, ABl. 2003 L 399/70; Richtlinie 2003/125/EG der Kommission v. 22.12.2203 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die sachgerechte Darbietung von Anlageempfehlungen und die Offenlegung von Interessenskonflikten, ABl. 2003 L 399/73. 43 Verordnung 2273/2003/EG der Kommission v. 22.12.2003 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates – Ausnahmeregelungen für Rückkaufprogramme und Kursstabilisierungsmaßnahmen, ABl. 2003 L 336/33. 44 Vgl. dazu W.-H. Roth, in diesem Band, § 14 Rn. 1 ff.

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nicht allein am Primärrecht zu messen.45 Vielmehr wird eine eigene Stufe der Auslegung eingezogen, nämlich die Überprüfung der Konformität der DurchführungsRL bzw. -VO mit der RahmenRL, um den normativen Gehalt auszumessen. c) Die mehrfache Einbindung von CESR in den Regelungsprozess, vor allem auf der zweiten Regelungsebene sowie auf der dritten Ebene, führen in der Realität zu einer Explosion von Dokumenten, Unterlagen und Materialien, die aufgrund der technischen Möglichkeiten (Download im Internet) dem Rechtsunterworfenen zwar relativ einfach zugänglich sind (ausgedruckt als Halbmeterstöße), ihn aber vor die schwierige Aufgabe stellen, diese Informationsflut zu strukturieren und zu bewältigen, um sie sinnvoll für die Auslegung der kapitalmarktrechtlichen Normen verwenden zu können (mangelnde Transparenz wegen Informationsfülle). Diese Flut von Materialien ist vielfach nur für Experten verfasst worden. Dem Außenstehenden fehlen vielfach die notwendigen Insiderkenntnisse, zum Teil replizierende oder absichtlich knapp gehaltene Erläuterungen und Erklärungen richtig deuten zu können.

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d) CESR gibt gegenüber der Kommission Technical Advices 46 (Beratungsunterlagen über einzelne Fragen der geplanten Regelungen der DurchführungsRL bzw. Verordnung der Kommission), Consultation Papers und Feedback Statements. Technical Advices sind nicht als schlichte Erläuterungen der geplanten Regelungen konzipiert, sondern geben Antwort auf eine Vielzahl von Fragen, die rund um einzelne Bestimmungen und Tatbestände gestellt werden. Diese Technical Advice-Dokumente, die im Laufe eines Rechtsetzungsverfahrens mehrfach in verschiedenen Stadien erarbeitet und offen gelegt werden, akzentuieren die einzelnen Fragestellungen unterschiedlich, sodass auch die Qualität der Aussagen divergiert und der Nutzen für die konkrete Auslegung einer nationalen bzw. europarechtlichen Bestimmung unterschiedlich ist. Zwar sind die Advice-Dokumente chronologisch geordnet und legen offen, auf welchen Stand der geplanten Richtlinie oder Durchführungsmaßnahme sie sich beziehen; allerdings wird kein abschließendes vollständiges Schlussdokument, das alle erörterten Fragen zusammenfasst, erstellt; vielmehr bleiben die Unterlagen Stückwerk.47

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Consultation Papers sind vorbereitende Unterlagen von CESR, in denen es das tatsächliche Phänomen, die maßgeblichen Fragestellungen und Regelungsprobleme darlegt und daran anknüpfend die maßgeblichen Sach- und Rechtsfragen formuliert; d.h. die Marktteilnehmer werden zum Zweck der Informationsgewinnung für die Rechtsetzung konsultiert.

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Feedback Statements sind die zusammengefassten und ausgewerteten Antworten, die CESR im Rahmen der dem Rechtssetzungsakt vorgeschalteten Konsultationsverfahren erarbeitet; im Regelfall werden von CESR relativ präzise Fragen zu einzelnen Regelungsbereichen gestellt. Die Feedback Statements lassen die Autorenschaft der Ant-

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45 Vgl. dazu Leible/Domröse, in diesem Band, § 9 Rn. 1 ff. 46 Technical Advices beschäftigen sich mit einzelnen Spezialfragen. 47 Vgl. auch Hupka, GPR 2008, 286, 288.

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worten nicht mehr erkennen.48 Jedenfalls spiegelt sich aber die Diskussion wider und werden wesentliche Argumentationslinien erkennbar. Ein Feedback Statement bildet aber nicht den historischen Willen des Gesetzgebers ab, sondern gibt nur Einblick in die rechtspolitische Diskussion. Ein Advice von CESR stellt keine Erläuterung in dem Sinn dar, dass die Bestimmung vom Regelungsgeber selbst erläutert und erklärt wird, vielmehr bildet ein Advice den Meinungsstand der nationalen Regulierungsbehörden ab und verkörpert mit dem Feedback Statement den Succus der bearbeiteten und vereinheitlichten Antworten durch die Praxis. Aus den Unterlagen kann daher vor allem das Verständnis der kraft Gesetzes eingeschalteten Beratungsgremien ermittelt werden und kann vielfach, wenn nicht regelmäßig, auf eine Erarbeitung eines europäischen Verständnisses hingearbeitet werden, indem die Unterlagen zur Interpretation herangezogen werden.49 Es handelt sich dabei aber nicht um eine subjektiv historische Interpretation im engen eigentlichen Sinn, wonach die Überlegungen des Normgebers selbst zur Ermittlung des normativen Gehalts der Bestimmung herangezogen werden, vielmehr sind die CESR-Papiere Vorbereitungs- und sonstige Unterlagen, die die eine oder andere Konstellation derart aufhellen und illustrieren, sodass auch eine allgemeine Interpretation einer Bestimmung möglich wird.

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e) Ein Beispiel für die Bedeutung der Arbeit und Dokumente von CESR bildet etwa die Konkretisierung der meldepflichtigen Geschäfte von Führungskräften einer Gesellschaft. Gem. Art. 6 Abs. 4 der MarktmissbrauchsRL sind alle Eigengeschäfte mit Aktien bzw. gleichgestellten Wertpapieren des Emittenten von den Führungskräften der Wertpapieraufsichtsbehörde zu melden und dem Publikum offen zu legen. Nach Auffassung der Kommission sollten aber die Geschäfte, die im Rahmen von Dienstverhältnissen getätigt werden, von der Melde- und Offenlegungspflicht ausgeklammert werden. Eine Differenzierung, ob diese Transaktion im Zusammenhang mit einem Dienstverhältnis getätigt worden ist oder nicht, ist aber weder nach dem Regelungswortlaut geboten noch entspricht es dem Zweck der Offenlegungspflicht,50 soll doch gerade der Aktienerwerb bzw. die Disposition der Führungskräfte aus Anlass von „Entgeltleistungen“ dem Markt offen gelegt werden.51 Entgegen der Kommission wandte sich CESR in den Stellungnahmen klar gegen die Ausklammerung von Aktienoptionsprogrammen und belegte damit wesentlich die Notwendigkeit der weiten Interpretation, was die Bedeutung dieser Unterlagen als Interpretationshilfe unterstreicht.52

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Ein weiteres Beispiel für die Notwendigkeit der Berücksichtigung der vorbereitenden Unterlagen von CESR liegt etwa im Begriff der Auslegung der sonstigen Führungs-

48 Dies unterscheidet das Verfahren auch von nationalen Begutachtungsverfahren, bei denen seit geraumer Zeit jedenfalls in Österreich nicht bloß der Ministerialentwurf im Netz von der Homepage des jeweiligen Ministeriums abrufbar ist, sondern auch alle Stellungnahmen dazu. 49 Dazu Möllers, ZEuP 2008, 480, 488 ff.; Hupka, GPR 2008, 286, 289; ders., WM 2009, 1351, 1354. 50 Zum Zweck siehe Fleischer, ZIP 2002, 1217, 1220; Kalss/Zollner, GeS 2005, 106, 106. 51 Siehe. dazu Kalss/Zollner, GeS 2005, 106, 110 f. 52 Vgl. Empfehlung Nr. 39 des Advice for the market abuse directive on the second level, CESR/ 03-212c, 16; Empfehlung Nr. 80 des Feedback Statement, CESR/03-213b, 15.

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kraft gem. Art. 6 Abs. 4 der MarktmissbrauchsRL. Nach § 48d Abs. 4 BörseG bzw. Art. 6 Abs. 4 der ersten DurchführungsRL haben nicht nur Organmitglieder des Emittenten, sondern auch sonstige geschäftsführende Führungskräfte, die die Befugnis haben, unternehmerische Entscheidungen über zukünftige Entwicklungen und Geschäftsperspektiven im Unternehmen zu treffen und auch regelmäßig Zugang zu Insiderinformation haben, die Geschäfte mit Aktien der Gesellschaft offen zu legen. Gerade aus den Unterlagen von CESR ist zu erkennen, dass damit tatsächlich nur Personen mit eigenständigen unternehmerischen Tätigkeiten erfasst werden sollen.53 Nach europäischem Verständnis ist der Begriff der sonstigen Führungskraft eng zu verstehen.54 Aus den Konkretisierungen in den Unterlagen von CESR ergibt sich für die Bestimmung von Art. 6 Abs. 4 klar ein europäisches Verständnis,55 wonach tatsächlich primär nur Organmitglieder erfasst werden sollen. Nur in wenigen Ausnahmefällen, in denen sonstigen Führungskräften tatsächlich dieser eigenständige Entscheidungsspielraum zukommt, sollten diese ebenfalls dem Directors’ Dealings unterworfen werden. Als möglicher Beispielsfall kann der Geschäftsführer nach schwedischem Recht genannt werden, der in eigener Verantwortung unternehmerische Entscheidungen zu tätigen hat.56 f) Die Vorbereitungs- und Beratungsunterlagen von CESR sind Unterlagen eines Gremiums, dem selbst gerade nicht Gesetzgebungskompetenz, sondern bloß die – zweifellos wichtige – Begleitfunktion zukommt, sodass die Unterlagen (technical advices, consultation papers und feedback statements) zwar vielfach instruktiv und weiterführend, sie aber wegen der Verschiedenheit von Regelgeber und Verfasser der Unterlagen nur in begrenztem Maß einsetzbar sind. Ein Beispiel aus der Marktmissbrauchsrichtlinie soll dies veranschaulichen: Nach § 48d Abs. 4 BörseG sind alle Geschäfte der Führungskräfte offenlegungspflichtig. Der Zweck der Regelung spricht aber ebenso wie die systematische Einbettung dafür, dass bloß entgeltliche Geschäfte der Offenlegung unterworfen werden sollen; ganz deutlich weist auch der Wortlaut gem. Art. 6 Abs. 4 der englischen Fassung der RL und der DurchführungsRL in diese Richtung. Schenkungen oder Erbschaften als typisch unentgeltliche Geschäfte sind für den Erwerber risikolos und er wird sie daher jedenfalls annehmen. Es wird somit bei deren Erwerb kein Signal an den Markt gegeben, weshalb die Offenlegung nicht zweckgerecht ist, sondern sogar irreführend sein könnte.57 CESR argumentiert hingegen – unter Hinweis auf Umgehungsmöglichkeiten – genau in die gegenteilige Richtung.58 Darin zeigt sich, dass die Dokumente von CESR eben nur als ein wichtiger Baustein der Auslegung herangezogen werden können; dass aber die Meinung der

53 Empfehlung Nr. 40 des Advice for the market abuse directive on the second level, CESR/ 03-212c, 16 (the material responsabilities). 54 Kalss/Zollner, GeS 2005, 106, 108 f. 55 Vgl. CESR Pkt. 79 des Feedback Statement, CESR/03-213b, 15. 56 Vgl. Art. 43 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 2001/2157 des Rates v. 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. 2000 L 249/1. 57 Kalss/Zollner, GeS 2005, 106, 110; von Buttlar, BB 2003, 2133, 2137. 58 CESR, Empfehlung Nr. 80 des Feedback Statements CESR/03-213b, S. 15.

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3. Teil: Besonderer Teil

Aufsichtsbehörden bzw. konsultierten Praxis durchaus auch fehlliegen kann, was bei Verwertung der Unterlagen stets im Auge zu behalten ist.

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g) Die Durchführungsrichtlinien sind von unterschiedlichem Determinierungsgrad; zum Teil wiederholen sie faktisch den Text der Rahmenrichtlinien, die ihrerseits schon sehr – zum Teil zu – detailliert sind,59 zum Teil sind sie derart gestaltet, dass sie beispielhaft aufzählen, was unter bestimmten Formulierungen der RahmenRL zu verstehen ist. Als Beispiel sei etwa der Begriff der berechtigten Interessen gem. Art. 1 bzw. 2 der MarktmissbrauchsRL im Rahmen der Ad-hoc-Publizität genannt, die den Emittenten berechtigen, eine Insiderinformation nicht sofort zu veröffentlichen. Aus der zusätzlichen Ebene auf europäischer Ebene ergibt sich für den nationalen Gesetzgeber eine neue Form der Umsetzung. Wegen des weiter fortgeschrittenen Determinierungsgrades der Durchführungsbestimmungen verbleibt für den nationalen Gesetzgeber vielfach – abgesehen von ausdrücklichen Regelungsermächtigungen bzw. Aufträgen60 – beinahe kein Regelungsspielraum. Die nationalen – etwa der österreichische – Gesetzgeber begnügen sich vielfach mit der wortwörtlichen Übernahme der europäischen Normtexte, ohne auf den nationalen Kontext einzugehen, d.h. ohne die Systematik der nationalen Gesetze, die Terminologie des nationalen Rechts, den bisherigen Regelungsbestand und das sonstige Regelungsumfeld in angemessener Weise zu berücksichtigen.61 Dies führt dazu, dass die nationalen Regelungen, die zum Teil tatsächlich bloße Abschreibübungen der europäischen Durchführungsnormen sind, bisweilen für das nationale Recht „überschießend“ sind und daher jeweils den nationalen Gegebenheiten entsprechend einschränkend interpretiert werden müssen. Die Besonderheit liegt dabei nicht in der Art der Interpretationstechnik, vielmehr in der unangemessenen Umsetzung, die zum Teil auch durch die mehrstufige Regelungstechnik gefördert wird. Als Beispiel dieser mangelnden Einpassung in den nationalen Normenkontext mag noch einmal – nunmehr unter einem anderen Blickwinkel – der Begriff der sonstigen Führungskräfte gem. § 48d Abs. 4 BörseG herangezogen werden. Die Einschränkung der Offenlegungs- und Meldepflicht auf Organmitglieder von österreichischen – sowie auch deutschen – Gesellschaften ergibt sich nicht bloß aus der europarechtlichen Auslegung mit Hilfe der CESR-Dokumente, sondern auch aus einer systematischen Interpretation der Kompetenzzuweisung in österreichischen oder deutschen Aktiengesellschaften, in denen allein dem Vorstand Leitungskompetenz und damit die Befugnis der strategischen Ausrichtung und der unternehmerischen Entscheidungsführung zukommt, die er zum Teil mit dem Aufsichtsrat teilt.62 Sonstige Einrichtungen bzw. Personen mit der Befugnis zu unternehmerischen Entscheidungen anerkennen das österreichische bzw. deutsche Aktienrecht nicht, woraus folgt, dass Führungskräfte im Sinne der RL nur Organmitglieder sein können. 59 Krit. Ferrarini, ECLR 2005, 19, 27 ff.; siehe. ferner Möllers, AcP 208 (2008), 480, 487 f.; Schädle, Exekutive Normsetzung in der Finanzmarktaufsicht (2006), S. 130. 60 Vgl. etwa Art. 6 der MarktmißbrauchsRL bezogen auf den Zeitpunkt der Mitteilung einer aufgeschobenen Ad-hoc-Publizität gegenüber der Aufsichtsbehörde. 61 Vgl. krit. Kalss/Oppitz/Zollner, Österreichisches Kapitalmarktrecht, § 14 Rn. 32. 62 Vgl. auch Münchener Kommentar AktG-Spindler (2. Aufl. 2009), § 76 AktG Rn. 18; Kalss/ Zollner, GeS 2005, 106, 109.

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§ 20 Kapitalmarktrecht

5.

CESR – Dritte Regelungsebene

Abschließend sei noch auf die Rolle von CESR bei der Vollziehung hingewiesen. Generell hat CESR auf der dritten Ebene dafür zu sorgen, konsistente Anwendungsleitlinien für die Verhaltenspflichten auf nationaler Ebene zu erstellen, Empfehlungen für eine gemeinschaftsweite Interpretation und gemeinsame Standards63 für Bereiche, die noch nicht explizit geregelt sind,64 zu erlassen, Regulierungs- und Vollziehungspraktiken zu vergleichen und zu überprüfen, um eine effektive Durchsetzung in der gesamten Gemeinschaft sicherzustellen und best practice zu definieren.65 Dabei sollen die im CESR vernetzten nationalen Regulierungsbehörden durch wirksame Maßnahmen eine „kohärente und gleichwertige Umsetzung der Rechtsvorschriften von Stufe eins und zwei gewährleisten“.66

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CESR ist ermächtigt, Empfehlungen für die Vollziehung von einzelnen Durchführungsbestimmungen zu erteilen. Während auf der zweiten Ebene CESR bloß einen Rat (Advice) an die Kommission erteilt bzw. die Antworten aus der Praxis aufbereitet und derart auf den Regelungsvorgang einwirkt, kommt ihm auf der dritten Regelungsebene keine Mitwirkungsbefugnis unmittelbar bei einem Rechtsetzungsvorgang zu, vielmehr hat er bereits in Kraft gesetzte Normen zu interpretieren und dadurch zu konkretisieren. Vergleichbar ist diese Aufgabe mit der innerstaatlichen Befugnis, allgemeine Erlässe zur Konkretisierung von Gesetzen zu veröffentlichen; besonders häufig spielt dies etwa im Abgabenrecht eine Rolle.67 Noch näher als die Erlässe von Ministerien stehen die Richtlinien bzw. Empfehlungen, die die nationalen Aufsichtsbehörden zur Auslegung bestimmter Regelungsbereiche – etwa in Form von Rundschreiben – erlassen.68 CESR steht somit mit dieser Rolle grundsätzlich parallel zu den Rechtsanwendern; seine Aufgabe gibt ihm aber – auch wenn eine Bindungswir-

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63 Vgl. CESR-Standard: CESR-Standard: A European Regime of Investor Protection, abrufbar unter http://www.cesr.eu/index.php?docid=173; siehe dazu Birnbaum/Kittelberger, WM 2002, 1911 f. 64 Ein weiteres Beispiel bilden etwa Standards zum Enforcement von Rechnungslegungsbestimmungen. 65 CESR, Consultation paper: The role of CESR at level 3 under the Lamfalussy-Process, abrufbar unter http://www.cesr.eu/popup2.php?id=1994. 66 Schmolke, NZG 2005, 912, 914. 67 Vgl. dazu Wiesner, in Lang/Schuch/Staringer (Hrsg.), Soft Law in der Praxis (2005), S. 79; ein historisches Beispiel in Österreich bildet das Aktienregulativ 1899, das als Verwaltungsverordnung das Aktienrecht des AHGB 1861 konkretisierte, indem es den Verwaltungsorganen der Konzessionsbehörden die Vorgaben machte, ob und unter welchen Voraussetzungen der Satzungsgestaltung der Aktiengesellschaften die Konzession zu erteilen wäre; vgl. dazu Kalss/Burger/Eckert, Die Entwicklung der österreichischen Rechts (2003), S. 245 ff.; Kalss/ Burger, GesRZ-Sonderheft 2002, 51 ff. 68 In Österreich: FMA, Mindeststandard für die Information der Pensionskassen an Leistungsund Anwartschaftsberechtigte, Rundschreiben über Interessenkonflikte wegen Gehaltsregelungen bei Wertpapierfirmen gemäß § 34 WAG 2007; in Deutschland: BAFin, Richtlinie gem. § 35 Abs. 6 des Gesetzes über den Wertpapierhandel zur Konkretisierung der §§ 31 und 32 WpHG für das Kommissionsgeschäft, den Eigenhandel für andere und das Vermittlungsgeschäft der Wertpapierdienstleistungsunternehmen. Susanne Kalss

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3. Teil: Besonderer Teil

kung gegenüber den Kapitalmarktteilnehmern zu verneinen ist 69 – faktisch rechtsetzende Leitfunktion,70 zumal sich diese Auslegungsvorgaben gerade an die nationalen Aufsichtsbehörden richten.71 Zwar sind die Marktteilnehmer, d.h. die Rechtsunterworfenen, nicht die unmittelbaren Adressaten der Empfehlungen von CESR, die Normierungsfunktion folgt aber ganz entscheidend aus der ausdrücklich angeordneten und gerade intendierten Publizität der internen Anleitungen und der damit einhergehenden Vorhersehbarkeit und Planungssicherheit für die Rechtsunterworfenen.72 Gerichte sind daran bei einer nachfolgenden bzw. endgültigen Beurteilung ebenso wenig gebunden wie an nationale verwaltungsinterne Erlässe oder Richtlinien.73 Ebensowenig besteht eine Bindung der nationalen Aufsichtsbehörden.74 Dabei darf CESR nicht über die in der Rahmen- bzw. DurchführungsRL bzw. VO gesetzten Regelungsrahmen hinausgehen und etwa zusätzliche Kriterien verlangen.75

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Als Beispiel einer derartigen Empfehlung sei die Recommendation zur konsistenten Anwendung der DurchführungsVO zur ProspektRL genannt, in der die inhaltlichen Angaben für Prospekte, wie sie die DurchführungsVO sowie die ProspektRL vorsehen, beispielhaft konkretisiert werden. Diese Recommendation hat nur klarstellende Funktion, sie dient der Auslegung und Konkretisierung der allgemein gehaltenen Begriffe in den verschiedenen Regelwerken. Zwar ist die Empfehlung nicht verbindlich, jedenfalls kommt ihr aber hohe Präjudizwirkung zu und muss ein Abgehen von dieser interpretativen Leitlinie von einem Rechtsunterworfenen überzeugend begründet werden. 6.

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Exkurs: Internationale Rechnungslegungsstandards

Das Zusammenwachsen der Kapitalmärkte sowie die Internationalisierung der Wirtschaft verlangen nach einheitlichen internationalen Rechnungslegungsstandards.76 Da die Rechnungslegungsvorschriften vielfach die Basis für kapitalmarktrechtliche Regelungen bilden (z.B. Prospektrecht, Jahresfinanzberichterstattung), sei in wenigen Stichworten auf die besondere Regelungstechnik und damit einhergehend Auslegung

69 Hupka, GPR 2008, 286, 290 f.; ders., WM 2009, 1351, 1354; Möllers, ZEuP 2008, 480, 490 ff.; Schmolke, EuR 2006, 432, 432 ff. 70 Ferran, Building an EU Securities Market, S. 100; vgl. auch Hupka, GPR 2008, 286, 289 ff. 71 Zur Bedeutung der Empfehlungen für die zivilrechtliche Kapitalmarkthaftung und das Kapitalmarktstrafrecht vgl. Hupka, WM 2009, 1351, 1354 ff. 72 Siehe dazu Kalss/Burger, GesRZ-Sonderheft 2002, 51, 55 f., 60 f. 73 Siehe dazu etwa Koller, in: Assmann/Schneider (Hrsg.), Kommentar zum WpHG (5. Aufl. 2009), § 35 WpHG Rn. 4. 74 Hupka, GPR 2008, 286, 291 f.; Möllers, ZEuP 2008, 480, 492 f. 75 Siehe etwa Deutsches Aktieninstitut, Response to the consultation paper related to the role of CESR at level 3 under the Lamfalussy-process, CESR/04-104b, www.dai.de; siehe ferner Fischer zu Cramburg, AG 6/2005, 114 f. 76 Vgl. Merkt, in: Baumbach/Hopt (Hrsg.), Handelsgesetzbuch (33. Aufl. 2008), Einl v § 238 HGB Rn. 93; ausführlich Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/ IFRS (6. Aufl. 2009), S. 23 ff.

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von Rechnnungslegungsbestimmungen eingegangen. Auf europäischer Ebene verpflichtet die IAS-VO77 seit 2005 Gesellschaften, die dem Recht eines Mitgliedstaates unterliegen und deren Wertpapiere in einem Mitgliedstaat zum Handel in einem geregelten Markt78 zugelassen sind, ihre konsolidierten Abschlüsse nach internationalen Rechnungslegungsstandards aufzustellen (Art. 4 IAS-VO). Art. 5 IAS-VO berechtigt Mitgliedstaaten zu gestatten oder vorzuschreiben, dass Gesellschaften im Sinne des Art. 4 auch ihre Jahresabschlüsse, Gesellschaften, die nicht solche im Sinne des Art. 4 sind, ihre konsolidierten Abschlüsse und/oder ihre Jahresabschlüsse nach internationalen Rechnungslegungsstandards aufstellen.79 Die einzelnen Mitgliedstaaten haben von dem ihnen in Art. 5 IAS-VO eingeräumten Wahlrecht unterschiedlich Gebrauch gemacht.80 Der deutsche und österreichische Gesetzgeber haben sich dazu entschlossen nicht von Art. 4 IAS-VO erfassten Unternehmen die Wahl zu überlassen, ob sie ihren Konzernabschluss nach internationalen Rechnungslegungsstandards aufstellen oder nicht (§ 315a Abs. 3 HGB, § 245a Abs. 2 öUGB).81 Eine Verpflichtung zur Aufstellung des Konzernabschlusses nach internationalen Rechnungslegungsstandards besteht nach § 315a Abs. 2 HGB allerdings für Mutterunternehmen, wenn für sie bis zum jeweiligen Bilanzstichtag die Zulassung eines Wertpapiers im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 WpHG zum Handel an einem organisierten Markt im Sinne des § 2 Abs. 5 WpHG im Inland beantragt worden ist.82 Das nationale Rechnungslegungsrecht ist daher durch eine Zweiteilung geprägt, nämlich einerseits IAS/IFRS und andererseits HGB/UGB.

26b

Die IAS-VO bezeichnet als internationale Rechnungslegungsstandards die International Accounting Standards (IAS), die International Financial Reporting Standards (IFRS) und damit verbundene Auslegungen (SIC 83/IFRIC 84-Interpretationen), spä-

26c

77 Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABl. 2002 L 243/1. 78 Im Sinne des Art. 1 Abs. 13 der Richtlinie 93/22/EWG des Rates v. 10.5.1993 über Wertpapierdienstleistungen, ABl. 1993 L 141/27. 79 Art. 9 der IAS-VO enthält Übergangsbestimmunen, wonach Mitgliedstaaten in Abweichung von Art. 4 vorsehen können, dass Art. 4 für Gesellschaften, von denen lediglich Schuldtitel zum Handel in einem geregelten Markt eines Mitgliedstaats zugelassen sind oder deren Wertpapiere zum öffentlichen Handel in einem Nichtmitgliedstaat zugelassen sind und die zu diesem Zweck seit einem Geschäftsjahr, das vor der Veröffentlichung der IAS-VO im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften begann, international anerkannte Standards anwenden, erst für die Geschäftsjahre Anwendung findet, die am oder nach dem 1.1.2007 beginnen. 80 Vgl. die Übersichtstabelle bei Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/IFRS (6. Aufl. 2009), S. 108. 81 Vgl. zu dieser Rechtstechnik F. Kirchhof, in: Hopt/Veil/Kämmerer, Kapitalmarktgesetzgebung im Europäischen Binnenmarkt (2008), S. 169 ff. mwN. 82 Vgl. zum Einbezug durch Verweisung F. Kirchhof, in: Hopt/Veil/Kämmerer, Kapitalmarktgesetzgebung im Europäischen Binnenmarkt (2008), S. 175. 83 Standing Interpretations Committee. Das SIC setzte sich überwiegend aus Wirtschaftsprüfern der großen internationalen Prüfungsgesellschaften zusammen; vgl. Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/IFRS (6. Aufl. 2009), S. 71. 84 International Financial Reporting Interpretations Committee. Das IFRIC ist das Nachfolge-

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tere Änderungen dieser Standards und damit verbundene Auslegungen sowie künftige Standards und damit verbundene Auslegungen, die vom International Accounting Standards Board (IASB)85 herausgegeben oder angenommen wurden (Art. 2 IAS-VO). IAS und IFRS enthalten die internationalen Rechnungslegungsbestimmungen,86 die SIC/IFRIC-Interpretationen stellen weitere Regelungen zur Auslegung der einzelnen Standards dar. Die Zusammensetzung von SIC/IFRIC 87 bringt es mit sich, dass Interessenvertreter das maßgebliche Verständnis derartiger Standards vorgeben.

26d

Die EU-Kommission beschließt nach dem in Art. 6 Abs. 2 IAS-VO geregelten Verfahren über die Anwendbarkeit von internationalen Rechnungslegungsstandards in der Gemeinschaft (Art. 3 Abs. 1 IAS-VO). Der Anerkennungsprozess auf europäischer Ebene wird als endorsement bezeichnet.88 In einem ersten Schritt setzt sich die European Financial Reporting Advisory Group (EFRAG)89 mit dem Standard oder der Interpretation auseinander und gibt eine Empfehlung für oder gegen die Anerkennung ab.90 Daran anschließend erfolgt eine Prüfung durch die Standards Advice Review Group (SARG).91 Auf der Grundlage der Empfehlung der EFRAG erstellt die Europäische Kommission einen Vorschlag, über den wiederum der Regelungsausschuss für Rechnungslegung (Accounting Regulatory Committee, ARC) abstimmt. Zuletzt haben der Rat und das Europäische Parlament über den Kommissionsvorschlag zu entscheiden.92 Die internationalen Rechnungslegungsstandards können nur dann übernommen werden, wenn sie dem Prinzip von Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 78/660/ EWG (Bilanzrichtlinie)93 und von Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 83/349/EWG (Kon-

85

86 87 88 89 90 91 92

93

organ des SIC und setzt sich überwiegend aus erfahrenen Fachleuten mit einer insgesamt breiten geographischen Ausrichtung aus den technischen Grundsatzabteilungen internationaler Prüfungsgesellschaften und dem Finanz- und Rechnungswesen der Wirtschaft sowie auch aus Erstellern und Nutzern von Jahresabschlüssen zusammen; vgl. Kleekämper/Kuhlewind/Alvarez in: Baetge u.a. (Hrsg.), Rechnungslegung nach IFRS (2. Aufl.), Loseblatt (Stand: 2010), Kapitel I Rn. 62 ff.; Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/IFRS (6. Aufl. 2009), S. 73. Zum IASB vgl. Kleekämper/Kuhlewind/Alvarez in: Baetge u.a. (Hrsg.) Rechnungslegung nach IFRS (2. Aufl.), Loseblatt (Stand: 2010), Kapitel I Rn. 20 ff.; Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/IFRS (6. Aufl. 2009), S. 69 ff. Zum Aufbau der Standards vgl. nur Adler/Düring/Schmalz, Rechnungslegung nach Internationalen Standards, Loseblatt (Stand: 2010), Abschnitt 1 Rn. 8. Siehe Fn. 83 und 84. Kritisch diesem Verfahren gegenüber F. Kirchhof, in: Hopt/Veil/Kämmerer, Kapitalmarktgesetzgebung im Europäischen Binnenmarkt (2008), S. 177 f. http://www.efrag.org. Nicht zu unterschätzen sind dabei Rückkoppelungen zwischen den einzelnen Sachverständigen-Gruppen, die die Regelungen noch verzerren können. http://ec.europa.eu/internal_market/accounting/committees/sarg_de.htm. Näher zum Anerkennungsprozess in der EU vgl. Wollmert/Oser/Molzahn in: Baetge u.a. (Hrsg.), Rechnungslegung nach IFRS (2. Aufl.), Loseblatt (Stand: 2010), Kapitel III Rn. 62 ff.; Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/IFRS (6. Aufl. 2009), S. 107 ff. Vierte Richtlinie 78/660/EWG des Rates v. 25.7.1978 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, ABl. 1978 L 222/11.

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zernabschlussrichtlinie)94 nicht zuwiderlaufen sowie dem europäischen öffentlichen Interesse entsprechen und den Kriterien der Verständlichkeit, Erheblichkeit, Verlässlichkeit und Vergleichbarkeit genügen, die Finanzinformationen erfüllen müssen, um wirtschaftliche Entscheidungen und die Bewertung der Leistung einer Unternehmensleitung zu ermöglichen (Art. 3 Abs. 2 IAS-VO). Nach Art. 2 Abs. 3 der Bilanzrichtlinie hat der Jahresabschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft zu vermitteln. Art. 16 Abs. 3 der Konzernabschlussrichtlinie normiert in ähnlicher Weise, dass der konsolidierte Abschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesamtheit der in die Konsolidierung einbezogenen Unternehmen zu vermitteln hat. Übernommene internationale Rechnungslegungsstandards werden als Kommissionsverordnung vollständig in allen Amtsprachen der Gemeinschaft im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht (Art. 3 Abs. 4 IAS-VO). Der Anerkennungsprozess ist kein schlichtes Durchwinken, was sich daran zeigt, dass beispielsweise der Standard IAS 39 (Finanzinstrumente: Ansatz und Bewertung) erst nach Änderungen anerkannt wurde.95 Bei der Durchsetzung internationaler Rechnungslegungsstandards kommt auf Ebene der EU dem CESR eine wichtige Funktion zu. Das CESR beschäftigt sich mit Grundsätzen und der Koordination der Durchsetzung der Rechnungslegung.96

26e

Internationale Rechnungslegungsstandards sind auch dann verbindlich, wenn sie zwischen Vertragsparteien, z.B. zwischen Verkäufer und Käufer eines Unternehmens, zum Zweck der Wertermittlung vertraglich vereinbart werden.97

26f

Das Nebeneinander von in einem aufwendigen Verfahren unter Einbeziehung zahlreicher Organisationen gewonnener Standards sowie von Auslegungen bringt es mit sich, dass sich bei Anwendung der internationalen Rechnungslegungsstandards ähnliche Anwendungs- und Auslegungsfragen wie bei den im Rahmen des neuen kapitalmarktrechtlichen Normsetzungsverfahrens geschaffenen Regelungen stellen. Die Rechtssetzung ist im Rechnungslegungsrecht noch stärker von Praktikern und betroffenen Kreisen geprägt und initiiert als im Kapitalmarktrecht.

26g

94 Siebente Richtlinie 83/349/EWG des Rates v. 13.6.1983 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den konsolidierten Abschluss, ABl. 1983 L 193/1. 95 Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/IFRS (6. Aufl. 2009), S. 111 f. 96 Wollmert/Oser/Molzahn in: Baetge u.a. (Hrsg.), Rechnungslegung nach IFRS (2. Aufl.), Loseblatt (Stand: 2010), Kapitel III Rn. 76; Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/IFRS (6. Aufl. 2009), S. 121; vgl. auch CESR Standard No. 2 on Financial Information – Co-ordination of Enforcement Activities, abrufbar unter http://www.cesr.eu/ index.php?docid=2046. 97 F. Kirchhof, in: Hopt/Veil/Kämmerer, Kapitalmarktgesetzgebung im Europäischen Binnenmarkt (2008), S. 168.

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3. Teil: Besonderer Teil

III. Effizienz als Maßstab des Kapitalmarktrechts 26h

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Die Bedeutung von Effizienz als Interpretationsleitlinie des Kapitalmarktrechts wurde bereits ausgeführt. Das Kapitalmarktrecht ist in besonderer Weise offen für ökonomische Überlegungen. Der Grund liegt darin, dass effiziente Gestaltung als Regelungsziel an mehreren Stellen der Regelungen genannt wird. Die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktrechts gehört zu den traditionellen Zielbestimmungen jeder kapitalmarktrechtlichen Norm auf europäischer Ebene.98 Das Regelungsziel der Markteffizienz findet sich geradezu routinemäßig in den Erwägungsgründen der einschlägigen Richtlinien und Verordnungen.99 Folgende Beispiele seien genannt: Nach der Transparenzrichtlinie100 ist die Effizienz Regelungsziel, zumal transparente und integrierte Wertpapiermärkte zu einem echten Binnenmarkt in der Gemeinschaft beitragen und eine bessere Kapitallokation und eine Senkung der Kapitalkosten ermöglichen. Die Markteffizienz greift auch die Prospektrichtlinie101 auf, wonach die Information die Markteffizienz sicherzustellen habe. Die Marktmissbrauchsrichtlinie102 will wiederum ebenfalls den effizienten Finanzmarkt sicherstellen. Das Kapitalmarktrecht beruht auf der Markteffizienzhypothese,103 wobei deren maßgeblicher Angelpunkt die Informationseffizienz ist. Kapitalmarktrechtliche Regelungen sind somit ganz auf die Sicherung dieser Informationseffizienz und Sicherung der Funktionsfähigkeit auszulegen. Zivile, öffentlich-rechtliche und strafrechtliche Rechtsfolgen sind unter ökonomischen Mechanismen zu beurteilen und zu bewerten.104 Hilfreich ist in diesem Zusammenhang auch eine Unterscheidung nach verschiedenen Typen von Finanzinstrumenten (Dividenden-, Nichtdividendenpapiere; Papier mit angebotsorientierter Preisbildung; Papiere mit Indexorientierung; mit Net-Asset-Value-Orientierung).

IV.

Kapitalmarktrecht – Eine Querschnittmaterie

1.

Öffentliches – Privates Recht

Kapitalmarktrecht bildet – wie bereits erwähnt – eine Gemengelage und eine Querschnittsmaterie aus einer Vielzahl unterschiedlicher Rechtsbereiche, die nach traditioneller Sichtweise einerseits eher dem öffentlichen (regulativen) Recht, andererseits

98 Möllers, AcP 208 (2008), 1, 7; Fleischer/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Effizienz als Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht (2007), S. 18 f. 99 Hellgardt, in: Baum u.a. (Hrsg.), Perspektiven des Wirtschaftsrecht (2008), S. 397, 402 ff.; Langenbucher-Klöhn, § 6 Rn. 13. 100 2004/109/EG. 101 2003/71/EG. 102 2003/6/EG. 103 Fleischer/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Effizienz und Regelungsziel im Handelsund Wirtschaftsrecht (2008), S. 19. 104 Möllers, AcP 208 (2008), 1, 35.

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eher dem Privatrecht zugeschlagen werden.105 Primärrecht106 und Sekundärrecht greifen ineinander. Elemente finden sich aus dem Verwaltungsrecht, dem Wirtschaftsverwaltungsrecht, Privatrecht und Gesellschaftsrecht.107 Bei einem Vergleich einzelner Regelungsinstitute ist stets darauf zu achten, dass die Steuerungsinstrumente Privatrecht und Öffentliches Recht in unterschiedlichem Maß eingesetzt werden.108 Nicht zufällig spricht man in einzelnen Regelungsbereichen von der Zwitter- oder Mehrfachstellung einzelner Normen und Instrumente. 2.

Wohlverhaltensregeln – eine Doppelnatur

Als typisches Beispiel eines Instruments, das einer doppelten Rechtsnatur folgt, sind die Wohlverhaltensregeln (Art. 19 der Richtlinie für Märkte von Finanzinstrumenten [MiFiD]109; §§ 31 ff. WpHG; §§ 38 ff. österreichisches WAG) für Wertpapierdienstleistungsunternehmen (Wertpapierfirmen nach der WertpapierdienstleistungsRL) zu nennen, die nach zutreffender Auffassung110 einerseits öffentlich-rechtlich aufsichtsrechtliche Verhaltensnormen verkörpern,111 andererseits aber zugleich auch als Ausdruck des privatrechtlichen vertraglichen bzw. vorvertraglichen Schuldverhältnisses (Geschäftsbesorgungsvertrag als zentrales Verbindungsglied) anzusehen sind.112 Nach österreichischem Verständnis ist diese Doppelseitigkeit der Rechtsnatur der Wohl-

105 Vgl. zu dieser Teilung Köndgen, in diesem Band, § 7 Rn. 1 ff. 106 Siehe dazu vor allem Riesenhuber, in: Hopt/Veil/Kämmerer (Hrsg.), Kapitalmarktgesetzgebung im Europäischen Binnenmarkt (2008), S. 23. 107 Kalss, FS 100 Jahre Wirtschaftsuniversität, S. 194; Gruber, in: Koppensteiner (Hrsg.), Österreichisches und europäisches Wirtschaftsprivatrecht (1998), Teil IV, S. 10; Klenke, WM 1995, 1089, 1092. 108 Kalss, FS 100 Jahre Wirtschaftsuniversität, S. 194; Dallo, Das Verhältnis der öffentlichrechtlichen und privatrechtlichen Bestimmungen im Schweizer Anlagefondsrecht (1989), S. 49. 109 Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates, ABl. 2004 L 145/1. 110 Siehe die Nachweise in Fn. 113. 111 Der öffentlich-rechtliche Charakter der Wohlverhaltensregelungen wird durch einen CESRStandard über die Berichtspflicht von schwerwiegenden Verstößen gegen Verhaltensregeln von Wertpapierdienstleistungsunternehmen untermauert. Vgl. CESR-Standard: A European Regime of Investor Protection, abrufbar unter http://www.cesr.eu/index.php?docid= 173; siehe dazu Birnbaum/Kittelberger, WM 2002, 1911 f. 112 Zur Frage der gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit über das WpHG/WAG hinausgehender zivilrechtlicher Pflichten Mülbert, WM 2007, 1149, 1157; ders., ZHR 172 (2008), 170, 183 ff.; Knobl/Janovsky, ZFR 2008, 68, 69 f. (verneinend); hingegen Assmann, ZBB 2008, 21, 30; Veil, ZBB 2008, 34, 41 ff. (bejahend); vgl. auch Graf, ZFR 2009/55, 82, 83 ff. Susanne Kalss

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verhaltensregeln eindeutig;113 es besteht nicht bloß eine Ausstrahlungswirkung.114 In anderen Ländern ist die privatrechtliche Seite der Wohlverhaltensregeln allerdings nicht von dieser Klarheit.115 Zum Teil wird geradezu umgekehrt der alleinige aufsichtsrechtlich-öffentliche Charakter der Wohlverhaltensregeln hervorgekehrt, wie etwa das englische Recht gem. Section 150 Financal Services and Markets Act (FSMA) zeigt. Das englische Recht schließt die privatrechtliche Seite der Regelung aus und statuiert explizit, dass sich ein Anleger auf die Verletzung dieser Regelung nicht berufen könne, sondern diese bloß das Verhältnis zwischen dem Marktteilnehmer und der Aufsichtsbehörde regle.116 Zwar wird auch nach deutschem Recht zum Teil vertreten, dass den Wohlverhaltensregelungen (nach der alten Fassung) ausschließlich öffentlich-rechtlich aufsichtsrechtlicher Charakter zukomme und die Durchsetzung ausschließlich Angelegenheit der Aufsichtsbehörde (BAFin) sei.117 Auch den §§ 31–37 WpHG n.F. wird primär aufsichtsrechtliche Qualität zugesprochen und sind sie nach herrschender Auffassung ausschließlich öffentlich-rechtlicher Natur.118 Dafür wird insbesondere die Interpretationsbefugnis der BAFin gemäß § 35 WpHG sowie die allgemeine Zurechnung der Regelungen ins Treffen geführt. Jedenfalls sind die Wohlverhaltensregeln zwingender Natur und können nicht abbedungen werden.119 Zum Teil wird in der Literatur vertreten, dass die Regelungen eine Doppelnatur haben und sie sowohl Aufsichtsrecht und Zivilrecht darstellen.120 Ein Teil der Lehre vertritt hingegen die Auffassung, dass das Aufsichtsrecht auf das Zivilrecht bloß ausstrahlt, d.h. dass der Rechtsgedanke des Aufsichtsrechts ins Zivil- und Vertragsrecht

113 Graf, ZFR 2009/55, 82, 84; Gruber, ecolex 2008, 7, 8 ff.; ders., in: Braumüller u.a. (Hrsg.), Von der MiFID zum WAG (2007), S. 153; Oppitz, in: Apathy/Iro/Koziol, Bankvertragsrecht (3. Aufl. 2007), Kap. VI Rn. 2/57 ff.; zur Rechtslage vor dem WAG 2007: Knobl, in: Frölichsthal u.a. (Hrsg.), Kommentar zum Wertpapieraufsichtsgesetz (1998) § 11 WAG Rn. 1 ff.; Knobl, ÖBA 1997, 3 ff.; Winternitz, Wertpapieraufsichtsgesetz (1998), § 11 WAG Rn. 1; Kalss, FS 100 Jahre Wirtschaftsuniversität, S. 194. 114 So hingegen Brandl/Klausberger, ZFR 2009/89, 131, 131 f.; dies., in: Brandl/Saria (Hrsg.), Praxiskommentar zum WAG (2008), § 38 WAG Rn. 5; Knobl/Janovsky, ZFR 2008, 68, 70; vgl. auch Winternitz/Aigner, Wertpapieraufsichtsgesetz 2007 (2007), S. 18. 115 Siehe dazu ausführlich Tison, in: Ferrarini/Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital Markets in the Age of the Euro (2002), S. 77 f. 116 Tison, in: Ferrarini/Hopt/Wymeersch, Capital Markets in the age of the Euro (2002), S. 78 (zum Recht vor der MiFID). 117 Bliesener, Aufsichtsrechtliche Verhaltenspflichten beim Wertpapierhandel (1998), S. 140 ff. 118 Siehe dazu Fuchs, in: Fuchs (Hrsg.), Wertpapierhandelsgesetz (2009), Vor §§ 31 bis 37a WpHG Rn. 56. 119 Koller, in: Assmann/Schneider (Hrsg.), Kommentar zum WpHG (5. Aufl. 2009), Vor § 31 Rn. 2; Fuchs, in: Fuchs (Hrsg.), Wertpapierhandelsgesetz (2009), Vor §§ 31 bis 37a WpHG Rn. 56. 120 Möllers, in: Hirte/Möllers (Hrsg.), Kölner Kommentar zum WpHG (2007), § 31 WpHG Rn. 9; Benicke, Wertpapiervermögensverwaltung (2006), S. 467 ff.; Mülbert, WM 2007, 1149, 1157; Kumpan/Hellgardt, DB 2006, 1714, 1715; Möllers, in: Hirte/Möllers (Hrsg.), Kölner Kommentar zum WpHG (2007), § 31 WpHG Rn. 9; ders., AcP 207 (2007), 651, 655; Veil, WM 2007, 1821, 1825; Weichert/Wenninger, WM 2007, 627, 635; Einsele, JZ 2008, 477, 482 f.

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transferiert wird und daher die Vertragsregelungen prägt.121 Auf die zivilrechtlichen Ansprüche kann – trotz der Vorprägung durch das Aufsichtsrecht – auch verzichtet werden.122 Ein weiteres Beispiel für die Zwitter- bzw. Doppelstellung von kapitalmarktrechtlichen Regelungen bilden die Bestimmungen über die Informationserteilung und die entsprechenden Dokumentationspflichten für Versicherungsvermittler, die in Umsetzung der VersicherungsvermittlerRL in Kraft gesetzt wurden. Gem. §§ 137 ff. GewO haben Versicherungsvermittler Informations- und spezielle Dokumentationspflichten einzuhalten, die auch verwaltungsstrafrechtlich sanktioniert werden. Zugleich sind sie aber auch Ausfluss der vertragsrechtlichen Beziehung und der damit einhergehenden Sorgfalts- und Schutzpflichten des Versicherungsvermittlers.123 Die Etablierung dieser eigenständigen Informationspflichten der Verwalter führt etwa dazu, dass nicht nur das Versicherungsunternehmen, sondern auch der bloße Verhandlungsgehilfe in Pflicht genommen wird und auch zur Haftung herangezogen werden kann.124 Jedenfalls kann aber auch auf sie die Aufsichtsbehörde unmittelbar zugreifen.125 Weiter lassen sich die in Art. 9 der PensionsfondsRL sowie § 19 PKG statuierten expliziten Informationspflichten des Arbeitgebers nennen, die durch einen Mindeststandard der Finanzmarktaufsicht126 konkretisiert werden und unter diesem Aspekt klar als öffentlich-rechtlich aufsichtsrechtliche Bestimmungen zu deuten sind. Bereits vor Inkraftsetzung dieser Regelungen und der Konkretisierungen durch die Aufsichtsbehörde wurde aber schon aus dem Vertrags- bzw. Schuldverhältnis der hohe Standard an Informations- und Aufklärungspflichten abgeleitet.127 Wiederum zeigt sich, dass hier allgemeine vertragliche Schutz- und Sorgfaltspflichten in Gestalt besonderer Informations- und Aufklärungspflichten bestehen, die vertragsrechtlich zu sanktionieren sind, d.h. jedenfalls zu Haftungsansprüchen führen können, umgekehrt zugleich eine aufsichtsrechtliche Komponente den Pflichten innewohnt und deren Verletzung zu aufsichtsrechtlichen und auch verwaltungsstrafrechtlichen Maßnahmen berechtigt.

121 Vgl. Koller, in: Assmann/Schneider (Hrsg.), Kommentar zum WpHG (5. Aufl. 2009), Vor § 31 WpHG Rn. 3; Fuchs, in: Fuchs (Hrsg.), Wertpapierhandelsgesetz (2009), vor §§ 31 bis 37a WpHG Rn. 58 f.; Kümpel, Bank- und Kapitalmarktrecht (3. Aufl. 2004), Rn. 16.521 f. 122 Koller, in: Assmann/Schneider (Hrsg.), Kommentar zum WpHG (5. Aufl. 2009), Vor § 31 WpHG Rn. 3. 123 Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht, § 1 Rn. 105, § 7 Rn. 12, 38, 42 f.; siehe allg. ausdrücklich EB 616 BlgNR 22.GP 12, 13 (Gewerbenovelle 2004). 124 Schauer, in: Fenyves/Koban/Schauer (Hrsg.), Die Versicherungsvermittlungs-Richtlinie (2003), S. 77 f.; Fenyves, FS Kolhosser (2004), S. 111; Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht, § 7 Rn. 37 ff. 125 Zur Doppelnatur der Aufklärungspflichten Kalss, FS 100 Jahre Wirtschaftsuniversität, S. 194; Schwintowski, FS Männer (1997), S. 384 f. 126 FMA-Mindeststandard für die Information von Pensionskassen an Anwartschaft- und Leistungsberechtigte v. 1.1.2005, abrufbar unter www.fma.gv.at. 127 OGH, ecolex 2003/349, 856 (ORF) sowie OGH v. 24.6.2004 – 8 ObA 52/03k (BA-CA).

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3.

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Auslegung der Regelungen mit Doppelnatur

Die verschiedene Qualifikation der Wohlverhaltensregelungen hat unterschiedliche Auswirkungen auf das Verständnis der Wohlverhaltensregelungen, ihre unmittelbare Inanspruchnahmemöglichkeit durch den einzelnen Anleger und letztlich auch auf die Auslegung dieser Normen. Einigkeit besteht jedenfalls darüber, dass das Aufsichtsrecht und das Privatrecht nicht auseinander laufen sollen;128 für die Sanktionierung sind die Wege aber verschieden. Inwieweit wirkt sich nun diese zweifache Rechtsnatur auf die Gestaltung der zivilrechtlichen Position einerseits bzw. auf die Auslegung der jeweiligen Bestimmungen der Wohlverhaltensregeln andererseits aus? 4.

Vertragliche Regelungen

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Betrachtet man die Wohlverhaltensregelungen tatsächlich als Ausdruck der vertraglichen und vorvertraglichen Pflichten, denen auch ein öffentlich-rechtlicher bzw. aufsichtsrechtlicher Charakter zukommt, sind sie jedenfalls als vertragsrechtliche Regelungen anzusehen und sind für den Zweck der Auslegung des Vertrags nach allgemeinen vertragsrechtlichen Grundsätzen auszulegen. Nach österreichischem Recht ist für die vertraglichen Regelungen vor allem § 914 ABGB anzuwenden, der seine Parallele in § 133 BGB hat, wonach der Wille der Vertragsparteien wesentliches Element der Auslegung darstellt.129 Wenn eine Regelung im Wortlaut der Vereinbarung keine Deckung mehr findet, ist auf die ergänzende Vertragsauslegung zurückzugreifen, d.h. es ist zu überlegen, was vernünftige Parteien – wären sie in Kenntnis der Situation – vereinbart hätten.

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Betrachtet man die vertraglichen oder vorvertraglichen Pflichten hingegen unter dem Brennglas des öffentlichen Rechts, ist auf sie der Kanon der Gesetzesinterpretation öffentlicher und insbesondere strafrechtlicher Normen anzuwenden. Maßgeblich ist nicht der Wille der Parteien, sondern allein der normative Gehalt der gesetzlichen Norm. Für dessen Ermittlung stehen die traditionellen öffentlich-rechtlichen Instrumente der Wortlautinterpretation, der historischen und systematischen Interpretation und mit gebotener Vorsicht auch der teleologischen Interpretation zur Verfügung. Allein aus der unterschiedlichen Zugänglichkeit der Interpretationstechniken können verschiedene Ergebnisse der Rechte- und Pflichtenkonkretisierung erzielt werden. 5.

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Schutzgesetzcharakter von Normen

Betrachtet man die Wohlverhaltensregelungen gem. §§ 31 ff. WpHG als Schutzgesetze, ändert sich der Auslegungsmodus: Nicht mehr vertragliche, sondern gesetzliche Normen gilt es zu interpretieren, sodass nicht das Repertoire der Vertragsauslegung, sondern jenes der Gesetzesauslegung heranzuziehen ist, woraus divergierende Ergebnisse bei der Ausfüllung der konkreten Pflicht möglich sind. Der BGH hat aber etwa 128 Koller, in: Assmann/Schneider (Hrsg.), Kommentar zum WpHG (5. Aufl. 2009), Vor § 31 WpHG Rn. 4; Knobl, ÖBA 1995, 741, 742; Rothenhöfer, in: Baum u.a. (Hrsg.), Perspektiven des Wirtschaftsrechts (2008), S. 57 ff. 129 Siehe nur Rummel, in: Rummel (Hrsg.), ABGB (3. Aufl. 2000), § 914 ABGB Rn. 4.

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§ 31 Abs. 1 Nr. 2 WpHG a.F. jedenfalls zum Teil die Schutzgesetzqualität abgesprochen.130 Bedeutender ist aber die Doppelqualifikation Schutzgesetz – öffentlich rechtliche Verhaltensnorm. Diese Parallele gilt auch bei anderen Schutzgesetzen im Rahmen kapitalmarktrechtlicher Regelungen. Beispiele für Schutzgesetze bilden etwa die Offenlegungspflichten für Emittenten nach dem BörseG, die in Umsetzung einzelner Richtlinien ergangen sind. Als Schutzgesetz genannt sei nach österreichischem Verständnis die Ad-hoc-Publizitätspflicht131 gem. § 48d BörseG (idF BörseG-Novelle 2004, früher § 82 Abs. 6 BörseG), der Art. 6 der MarktmissbrauchsRL umsetzt, und der die Offenlegung von Insiderinformationen, die einen Emittenten unmittelbar betreffen, anordnet. Nach deutschem Verständnis wird die Schutzgesetzqualifikation von § 15 WpHG abgelehnt.132 Ein weiteres Beispiel für ein Schutzgesetz stellt etwa das Verbot der Marktmanipulation gem. § 48a BörseG (entspricht § 20a WpHG) dar133 sowie die Offenlegungspflicht der Stimmrechtsanteile durch einen Anleger gem. §§ 91 ff. BörseG (Beteiligungspublizität – §§ 21 ff. WpHG).134 Die Schutzgesetze sind im Regelfall kapitalmarktrechtliche Verhaltenspflichten, insbesondere Informationsund sonstige Pflichten von Emittenten oder deren Organe oder sonstigen Marktteilnehmern (Wertpapierdienstleistungsunternehmen), deren Verletzung in Österreich mit von der Finanzmarktaufsicht (FMA) zu verhängenden verwaltungsstrafrechtlichen Sanktionen zu ahnden ist. In Deutschland hat die BAFin den Verstoß gegen die öffentlich-rechtlichen Verhaltenspflichten mit der Verhängung von Bußgeldern zu sanktionieren. Die kapitalmarktrechtlichen Verhaltenspflichten stellen somit verwaltungsrechtliche Pflichten dar, die mit einer verwaltungsstrafrechtlichen Sanktion bzw. einem Bußgeld bewehrt sind. Ob allein bereits aus der leicht fahrlässigen Verletzung einer konkreten kapitalmarktrechtlichen Norm die zivilrechtliche Haftung wegen Schutzgesetzverletzung folgt, ist nicht zwingend, sondern hängt von der übertretenen Norm ab, nämlich ob sie auch subjektive Elemente enthält.135

130 BGHZ 170, 226, 228 = ZBB 2007, 193, 195. 131 Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht, § 19 Rn. 12; Kalss/Oppitz, in Hopt/Voigt (Hrsg.), Prospekthaftung und Kapitalmarktinformationshaftung (2004), S. 857; ferner Rüffler, ÖBA 2009, 724, 726 f.; a.A. nunmehr Enzinger, FS Straube (2009), S. 24 ff. 132 Vgl. nur Pfüller, in: Fuchs (Hrsg.), Wertpapierhandelsgesetz (2009), § 15 WpHG Rn. 439; Assmann, in: Assmann/Schneider (Hrsg.), Kommentar zum WpHG (5. Aufl. 2009), § 15 WpHG Rn. 307. 133 Oppitz, ÖBA 2005, 169; Kalss/Puck, in: Aicher/Kalss/Oppitz (Hrsg.), Grundfragen des neuen Börserechts (1998), S. 358; Altendorfer, in: Aicher/Kalss/Oppitz (Hrsg.), Grundfragen des neuen Börserechts (1998), S. 234. 134 Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht, § 19 Rn. 40, 42; Kalss, ÖBA 1993, 918; Kalss/ Zollner, ÖBA 2007, 884, 900. 135 Vgl. dazu Karollus, Diskussionsbeitrag am 20.11.2009 in Linz anlässlich der 6. Gesellschaftsrechtlichen Tagung der Walter Haslinger-Privatstiftung; vgl. weiters ders., Funktion und Dogmatik der Haftung aus Schutzgesetzverletzung (1992), 376. Susanne Kalss

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3. Teil: Besonderer Teil

6.

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Gespaltene Interpretation

Der Zwitterstellung der kapitalmarktrechtlichen Verhaltenspflichten (Schutzgesetz – öffentlich-rechtliche Pflicht) ist bei der Auslegung dadurch Rechnung zu tragen, dass sie weder zur Gänze den allgemeinen zivilrechtlichen Auslegungsgrundsätzen unterliegen, noch allein der regelmäßig engeren Auslegung nach dem öffentlichen Recht. Insbesondere ist das im Verwaltungsstrafrecht geltende Analogieverbot nicht auf die zivilrechtliche Auslegung zu übernehmen,136 vielmehr ist – ähnlich wie etwa im Kartellrecht137 – von einer gespaltenen Gesetzesauslegung auszugehen.138 Dies bedeutet, dass die Auslegung der zivilrechtlichen Verhaltenspflichten dem allgemeinen Bürgerlichen Recht folgt, soweit es um die Auslotung des Schutzgesetzes als Grundlage der Beurteilung von Haftungsfolgen geht. Unter dem Gesichtspunkt der verwaltungsstrafrechtlichen Sanktionierung gelten die für das Verwaltungsstrafrecht geltenden methodologischen Restriktionen. Insbesondere bedeutet dies, dass die Methodenbeschränkung des Verbots der Analogie und einer extensiven Interpretation innerhalb der äußersten Wortlautgrenze zu Lasten des Täters zu berücksichtigen ist.139 Während für die Interpretation der verwaltungsstrafrechtlich sanktionierten Verhaltenspflichten somit im Lichte des öffentlich-rechtlich aufsichtsrechtlichen Regimes das Analogieverbot ebenso wie die Grenze des äußersten möglichen Wortsinns zu beachten sind, gelten diese Auslegungsgrundsätze nicht für die zivilrechtliche Pflicht einschließlich ihrer Absicherung durch Haftungsansprüche. Die Auslegung der zivilrechtlich abgesicherten Verhaltenspflichten folgt den bürgerlich-rechtlichen Grundsätzen, insbesondere können auffüllungsbedürftige Gesetzeslücken durch Analogie beseitigt werden. Pflichten, die die Wohlverhaltensregeln widerspiegeln, können daher vor allem nach österreichischem Verständnis durch analoge Anwendung ausgedehnt werden. Die Zulässigkeit der analogen Anwendung beschränkt sich nicht nur auf die unmittelbaren kapitalmarktrechtlichen Verhaltenspflichten, sondern schließt auch deren zivilrechtliche Absicherung durch Haftung ein.140 Die durch ausdehnende Interpretation oder durch Analogie gewonnene Verhaltenspflicht kann daher ebenso wie die ausdrücklich normierte Norm als Schutzgesetz iSv § 1311 ABGB (§ 823 BGB) qualifiziert werden, sodass insbesondere auch die Verletzung der über den Gesetzeswortlaut hinausgehenden Pflichten eine Haftung auslösen kann.141 Für die deliktische Schutzgesetzhaftung können daher auch Straftatbestände, insbesondere auch Ver-

136 Vgl. nur Walter/Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht (8. Aufl. 2003), Rn. 731. 137 Vgl. nur Koppensteiner, Österreichisches und Europäisches Wettbewerbsrecht (3. Aufl. 1997), Rn. 8 ff. 138 Cahn, ZHR 1998, 1, 8f; Grundmann, in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn (Hrsg.), Handelsgesetzbuch (2. Aufl. 2009), Rn. VI 32; a.A. etwa Fuchs, in: Fuchs (Hrsg.), Wertpapierhandelsgesetz (2009), Einl. Rn. 79 mwN. 139 Siehe nur Leukauf/Steininger, Kommentar zum StGB (2. Aufl. 1979), § 1 StGB Rn. 16, 20; Kienapfel, ÖJZ 1986, 338 ff.; OGH, EvBl 1975/268, OGH, EvBl 1976/278. 140 Cahn, ZHR 1998, 1, 8 f. 141 Karollus, Funktion und Dogmatik der Haftung aus Schutzgesetzverletzung (1992), S. 218 f; siehe ferner Schneider/Anzinger, ZIP 2009, 9.

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waltungsstraftatbestände, durch Analogie erweitert werden.142 Das Analogieverbot beschränkt sich unmittelbar auf die Verhängung der Strafsanktion. Für den deliktischen, d.h. zivilrechtlichen Bereich, besteht aber kein Anlass, die auch sonst zulässige Analogie zu verbieten, weil durch die sekundäre deliktische Anknüpfung der strafrechtliche Anwendungsbereich nicht berührt wird.143 Das für das Analogieverbot maßgebliche Moment der Tatbestandsvorausbestimmtheit trägt nicht in der gleichen Intensität für die deliktische Haftung bei. Vom Straftatbestand wird nur die Verhaltenspflicht übernommen, der strafrechtliche Eingriff wird aber in das Zivilrecht nicht transferiert. Wegen Fehlens dieses Eingriffscharakters bedarf es im Zivilrecht nicht dieser engen wortlautabhängigen Auslegung. Beispiele für die Notwendigkeit derart gespaltener Gesetzesauslegungen bilden etwa die Herstellung einer parallelen Frist für die Mitteilung an die Aufsichtsbehörde und die Offenlegung gegenüber dem Publikum von directors’ dealings-Geschäften (Geschäfte von Führungskräften mit Aktien der eigenen Gesellschaft).144 Als weiteres Beispiel wird in der Literatur die analoge Anwendung von § 25 WpHG auf Cash Settled Equity Swaps angeführt,145 d.h. die Anwendung der Mitteilungspflichten von Aktionären gegenüber der Gesellschaft und dem Markt, obwohl der Wortlaut die Gestaltung nicht erfasst, der Regelungszweck aber dafür spricht.146 Allein eine Bestrafung der gemeinsam vorgehenden, aber nicht offen legenden Veräußerer wird an den Grenzen des Wortlauts scheitern. Sollte aber einem Anleger bzw. der Gesellschaft daraus ein Schaden entstehen, könnte ein Schadenersatz auf die Verletzung der Offenlegungspflicht gestützt werden.

V.

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Resümee

Das europäische Kapitalmarktrecht stellt den Rechtsanwender mit seiner neuen mehrschichtigen Regelungstechnik bei Anwendung und Auslegung europäischer wie nationaler Normen vor neue Aufgaben. Wegen der Fülle des Materials, der neu gewichteten Bedeutung einzelner Auslegungshilfen und des Auslegungsprozederes müs-

142 Karollus, Funktion und Dogmatik der Haftung aus Schutzgesetzverletzung (1992), S. 218; Dellinger, ÖBA 1989, 1124; Dellinger, Vorstandshaftung und Geschäftsführerhaftung im Insolvenzfall insbesondere gegenüber sogenannten Neugläubigern (1989), S. 105 f.; Schmiedel, Deliktsobligationen nach deutschem Kartellrecht, Erster Teil (1974), S. 239 f.; U. H. Schneider/Anzinger, ZIP 2009, 1, 9; Grundmann, in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn (Hrsg.), Handelsgesetzbuch (2. Aufl. 2009), Rn. VI 32; a.A. Jauernig-Teichmann, § 823 BGB Rn. 46; Fuchs, in: Fuchs (Hrsg.), Wertpapierhandelsgesetz (2009), Einl. Rn. 79 mwN. 143 Schmiedel, Deliktsobligationen nach deutschem Kartellrecht, Erster Teil (1974), S. 240; Karollus, Funktion und Dogmatik der Haftung aus Schutzgesetzverletzung (1992), S. 219; U. H. Schneider/Anzinger, ZIP 2009, 1, 9. 144 Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht, § 18 Rn. 48; Kalss/Zollner, GeS 2005, 106, 113 f. 145 U. H. Schneider/Anzinger, ZIP 2009, 1, 7. 146 Ein Cash Settled Equity Swap ist eine Gestaltung, bei der dem Stillhalter ein Vollrecht eingeräumt wird, zum Fälligkeits/Verfallszeitpunkt seine Leistungspflicht entweder durch Lieferung von Aktien oder durch die Zahlung eines Barausgleichs zu erfüllen. Susanne Kalss

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3. Teil: Besonderer Teil

sen sich Markt- und Rechtsanwender neuen Fragen der Interpretation stellen. Erste Erfahrungen lassen die Komplexität des Vorgangs erkennen, zeigen aber auch, dass sich Leitlinien entwickeln.

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Die Auslegung kapitalmarktrechtlicher Normen verlangt eine tiefgehende Einbeziehung ökonomischer Überlegungen, um dem gesetzgeberischen Willen der Effizienzsteigerung gerecht zu werden.

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Der querschnitthafte Charakter zahlreicher kapitalmarktrechtlicher Regelungen soll nicht durch eine krampfhaft verfolgte Einheitlichmachung der verschiedenen Regelungsaspekte hergestellt werden, sondern vielmehr muss der traditionellen Zuordnung durch Anerkennung verschiedener Auslegungsmethoden und gleichzeitigen Anwendung dieser unterschiedlichen Methoden Rechnung getragen werden.

37a

Rechnungslegung bildet eine maßgebliche Basis des Kapitalmarktrechts, insbesondere des Informationsrechts. Das besondere Zusammenspiel von privater und hoheitlicher Normgebung begründet eine Vielzahl von Fragen auch für die Auslegung und das Verständnis der neuen Regelungen.

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§ 21 Europäisches Kartellrecht Thomas Ackermann

Übersicht I. Die Quellen des EU-Kartellrechts . . . . . . . . . . . 1. Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Kartellverordnung . . . . . . . . . . . . . . b) Gruppenfreistellungsverordnungen . . . . . . . c) Die Fusionskontrollverordnung . . . . . . . . . 3. Bekanntmachungen und Leitlinien der Kommission

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Rn. 3 4 6 7 8 9 10

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II. Die Interpretation EU-kartellrechtlicher Normen . . . . . . . . . . . . . 1. Autonome Begrifflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Bedeutung ökonomischer Erkenntnisse für die Kartellrechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Verhältnis der europäischen zur nationalen Anwendungsebene: Das Kohärenzgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Rolle der europäischen Judikative: Einschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte durch Beurteilungsspielräume? . . . . . . . . . . . . . . III. Die Ausstrahlung des EU-Kartellrechts auf das mitgliedstaatliche Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorrang des EU-Kartellrechts und autonome Anpassung des mitgliedstaatlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die europarechtsorientierte Auslegung des deutschen Kartellrechts a) Europarechtsorientierung als Resultat der Auslegung angeblicher GWB-Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vorlagemöglichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dynamische Verweisung auf Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . .

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Literatur: Josef Drexl, Europäisierung und Ökonomisierung des deutschen Kartellrechts, in: Klaus J. Hopt/Dimitris Tzuganatos (Hrsg.), Europäisierung des Handels- und Wirtschaftsrechts (2006), S. 223–264; David Gerber, Law and Competition in Twentieth Century Europe – Protecting Prometheus (1998); Giorgio Monti, EC Competition Law (2007); Ernst-Joachim Mestmäcker/Heike Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht (2004).

Das europäische Kartellrecht genießt den Status einer weitgehend verselbständigten Materie, deren Behandlung vorwiegend auf den Kreis einschlägig ausgewiesener Wissenschaftler, Anwälte und Beamten der Kommission sowie nationaler KartellbehörThomas Ackermann

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1

3. Teil: Besonderer Teil

den beschränkt bleibt. Zeitschriften,1 Vereinigungen und periodische Diskussionsforen,2 reichlich vorhandene Handbücher und Kommentare,3 die sich exklusiv den in diesem Bereich auftretenden Rechtsfragen widmen, sind äußere Zeichen für das Vorliegen einer juristischen Subdisziplin, die, wiewohl unter dem Dach des Europarechts zu Hause und in letzter Instanz auf die Rechtsprechung nicht spezialisierter Richter des EuGH angewiesen, seit langem ein Eigenleben führt. Dazu hat zweifellos beigetragen, dass die Durchdringung des Dickichts primär- und v.a. sekundärrechtlicher Wettbewerbsregeln und der sie überwuchernden Praxis schon wegen des dafür erforderlichen zeitlichen Aufwands ein Expertentum fordert.

2

Aber darum geht es nicht allein: Die Auseinandersetzung mit Fragen des europäischen Kartellrechts zeichnet sich auch durch eine besondere Herangehensweise aus, die ihrerseits auf Besonderheiten des Gegenstands zurückgeht. Hierzu gehört zunächst die – allen Kartellrechten gemeinsame – Ausrichtung auf einen ökonomischen Zweck, nämlich die Ermöglichung und Aufrechterhaltung des Wettbewerbs auf Märkten, sodann die – nur dem europäischen Kartellrecht eigene – Zugehörigkeit der Wettbewerbsregeln zu den konstitutionellen Merkmalen einer supranationalen Institution. Was folgt aus diesem Befund für die Interpretation EU-kartellrechtlicher Normen? Wie strahlt die daraus entwickelte Wettbewerbsordnung für den Binnenmarkt auf die Kartellrechte der Mitgliedstaaten aus? Nach einer Bestandsaufnahme der Quellen des EU-Kartellrechts, welche die besonderen Schwierigkeiten der Rechts1 Einen Schwerpunkt im europäischen Kartellrecht haben insbesondere die folgenden Zeitschriften: Revue des droits de la concurrence (Concurrences), Competition Policy International (CPI), European Competition Journal (ECJ), European Competition Law Review (ECLR), Journal of Competition Law & Economics (JCLE), World Competition (World Comp), Wirtschaft und Wettbewerb (WuW) und Zeitschrift für Wettbewerbsrecht (ZWeR). 2 In Deutschland zeichnen sich das Forschungsinstitut für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb e.V. (FIW) sowie die Studienvereinigung Kartellrecht e.V. durch regelmäßige Veranstaltungen und Publikationen aus; auf internationaler Ebene seien die Academic Society for Competition Law (ASCOLA), das European Competition Law Forum am Europäischen Hochschulinstitut Florenz und das Fordham Competition Law Institute beispielhaft hervorgehoben. 3 Neben in den vorangestellten Literaturhinweisen angeführten Werken von Mestmäcker/ Schweitzer und Monti seien als wichtige Grundlagen für vertieftes inhaltliches Arbeiten genannt: Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, EG-Kartellrecht (2. Aufl. 2009); Bellamy/Child, European Community Law of Competition (6. Aufl. 2008); Faull/Nikpay, The EC Law of Competition (2. Aufl. 2007); Glassen u.a. (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Bände II/III: EG-Kartellrecht (Loseblatt); Gleiss/Hirsch, Kommentar zum EWG-Kartellrecht (1993); Goyder, EC Competition Law (5. Aufl. 2009), Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, Band 1 (Teil 1 und 2): Kommentar zum Europäischen Kartellrecht (4. Aufl. 2007); Korah, An Introductory Guide to EC Competition Law and Practice (9. Aufl. 2007); Langen/Bunte (Hrsg.), Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Band 2: Europäisches Kartellrecht (11. Aufl. 2010); Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Kartellrecht (2. Aufl. 2009); Münchener Kommentar zum Europäischen und Deutschen Wettbewerbsrecht, Band 1: Europäisches Wettbewerbsrecht (2007); Ritter/Braun, European Competition Law: A Practitioner’s Guide (3. Aufl. 2004); Van Bael/Bellis, Competition Law of the European Community (5. Aufl. 2010); Whish, Competition Law (6. Aufl. 2009); G. Wiedemann (Hrsg.), Handbuch des Kartellrechts (2. Aufl. 2008).

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§ 21 Europäisches Kartellrecht

„findung“ und -anwendung in diesem Bereich offen legt, sei diesen Fragen nachgegangen. Ihre Beantwortung hat das Ziel, den Leser, dessen juristische Arbeitstechnik an Gegenständen des deutschen Rechts geschult ist, für die Eigenheiten des Umgangs mit den europäischen Wettbewerbsregeln zu sensibilisieren.

I.

Die Quellen des EU-Kartellrechts

Wirtschaftlichen Wettbewerb gilt es nicht nur vor Beschränkungen durch Unternehmen, sondern auch vor Beeinträchtigungen durch staatliches Handeln zu schützen. Die Wettbewerbsordnung der EU trägt beiden Schutzrichtungen Rechnung. Daher gesellen sich den unternehmensadressierten Normen weitere Regeln hinzu, die auf die Beseitigung von Wettbewerbsverfälschungen durch staatliche Marktregulierung, Beihilfen oder Vergabepraktiken gerichtet sind. Die nachfolgenden Ausführungen konzentrieren sich indes auf den unternehmensadressierten Teil der Wettbewerbsregeln und damit auf den klassischen Kernbestand des Kartellrechts, wie er uns auch in nationalen Rechtsordnungen begegnet. 1.

3

Primärrecht

Anders als etwa sein einfachgesetzliches Pendant im deutschen Recht (das GWB) hat das europäische Wettbewerbsrecht für Unternehmen Verfassungsrang. Unter der Geltung des EG-Vertrags ließen die Zielbestimmungen der Gemeinschaft die konstitutive Bedeutung des Wettbewerbsschutzes für die europäische Integration unmittelbar erkennen: Nach Art. 3 Abs. 1 lit. g) EG zählte zu den der Verwirklichung der Ziele des Art. 2 EG dienenden Tätigkeitsbereichen der Gemeinschaft „ein System, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes vor Verfälschungen schützt“. Der Vertrag von Lissabon hat diese klare Aussage aus den Normtexten des EUV und des AEUV herausgenommen und in das Protokoll über den Binnenmarkt und den Wettbewerb verschoben, das sich in einer nicht sehr glücklich formulierten Parenthese auf die „Tatsache“ bezieht, „dass der Binnenmarkt, wie er in Art. 3 des Vertrags über die Europäische Union beschrieben wird, ein System umfasst, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“. Auch diese Aussage hat freilich primärrechtlichen Rang, und es ist zu hoffen, dass der vergleichsweise versteckte Ort, an dem sie nun zu finden ist, nicht zu Rückschlüssen auf einen verminderten Stellenwert des Wettbewerbs im Gesamtgefüge des Unionsrechts Anlass gibt.4 Die primärrechtlichen Eckpfeiler des Systems, auf das sich das Protokoll über den Binnenmarkt und den Wettbewerb bezieht, finden sich im Kapitel 1 des VII. Titels des AEUV. Von diesen Regeln nehmen das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen in Art. 101 AEUV/81 EG und das Verbot des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung in Art. 102 AEUV/82 EG die Unternehmen in die Pflicht. Bereits seit der Frühzeit der europäischen Integration ist anerkannt, dass diese Verbote unmittelbar anwendbar sind.5 Ebenso an4 Dazu Müller-Graff, ZHR 173 (2009), 443, 445 f. 5 EuGH v. 6.4.1962 – Rs. 13/61 De Geus ./. Bosch, Slg. 1962, 99, 112.

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3. Teil: Besonderer Teil

erkannt ist ihr international zwingender Charakter: Ist der Anwendungsbereich der Verbote eröffnet, haben staatliche wie auch Schiedsgerichte ihnen in privaten Rechtsstreitigkeiten unabhängig von dem auf die rechtliche Beziehung zwischen den Parteien im Übrigen anwendbaren (mitgliedstaatlichen oder drittstaatlichen) Recht Geltung zu verschaffen.6

5

Schon bei oberflächlicher Lektüre der Vorschriften wird deutlich, dass diesem Rechtsanwendungsbefehl nicht leicht nachzukommen ist: Zentrale Tatbestandsvoraussetzungen der Verbote wie das Bezwecken oder Bewirken einer „Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs“ in Art. 101 Abs. 1 AEUV/81 Abs. 1 EG oder die „missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung“ in Art. 102 AEUV/82 EG erweisen sich von vornherein trotz der jeweils beigegebenen Regelbeispiele als ausfüllungsbedürftige Rechtsbegriffe. Andere Begriffe wie der des „Unternehmens“ oder der „Vereinbarung“ wirken möglicherweise vertrauter; aber diese Vertrautheit ist trügerisch, da von einem zivilrechtlichen Vorverständnis getragen, das im Kartellrecht leicht in die Irre führt. Hier in Anbetracht schwankender wettbewerbspolitischer „Moden“ den festen Boden einer gesicherten und zugleich dem Anliegen des Wettbewerbsschutzes gerecht werdenden Auslegung zu gewinnen, ist ein zentrales methodisches Problem, das sich Richtern, Kartellbehörden und Kautelarjuristen gleichermaßen stellt. 2.

6

Die primärrechtlichen Regeln werden durch Verordnungen zu einem umfassenden System des Wettbewerbsschutzes ausgebaut, und zwar mit Blick auf die verfahrensrechtliche Durchsetzung der Art. 101 AEUV/81 EG und 102 AEUV/82 EG, die Handhabung der Freistellungsregelung in Art. 101 Abs. 3 AEUV/81 Abs. 3 EG und die Ergänzung des Kartell- und des Missbrauchsverbots um eine präventive Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen. Die sekundärrechtliche Ebene des EU-Kartellrechts trägt indes in ihrer gegenwärtigen Gestalt nur in Ansätzen zur Lösung des soeben skizzierten Problems der schutzzweckgerechten Konkretisierung der Wettbewerbsregeln bei; teilweise verschärft sie es sogar. a)

7

Sekundärrecht

Die Kartellverordnung

Die auf Art. 87 EWG (nunmehr Art. 103 AEUV/83 EG) gestützte Kartellverordnung 17/627 des Rates, die bis 2004 das Verfahren zur Durchsetzung des Kartell- und des Missbrauchsverbots regelte, gestaltete die zunächst in Art. 85 EWG enthaltenen Regelung über Kartelle und sonstige koordinierte Wettbewerbsbeschränkungen als Verbot mit Erlaubnisvorbehalt aus. Das Monopol zur Erteilung von Freistellungen wurde der Kommission übertragen. Die Bürde, das Vorliegen der Freistellungsvoraus-

6 EuGH v. 1.6.1999 – Rs. C-126 97 Eco Swiss China Time, Slg. 1999, I-3055 Rn. 36 mit Bezug auf Schiedsverfahren. 7 Verordnung (EWG) Nr. 17 des Rates v. 6.2.1962 – Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages, ABl. 1962 13/204.

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§ 21 Europäisches Kartellrecht

setzungen wie das Erfordernis der „Verbesserung der Warenerzeugung und -verteilung“ oder der „Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts“ im Einzelfall zu beurteilen, hatte demnach allein die Kommission – unter der zurückhaltenden Aufsicht des EuG und des EuGH 8 – zu tragen. Hiermit brach die am 1. Mai 2004 an die Stelle der VO 17/62 getretene VO 1/20039 zugunsten eines Systems der Legalausnahme: Art. 1 Abs. 2 VO 1/2003 erklärt nunmehr auch die Freistellungsvorschrift des Art. 101 Abs. 3 AEUV/81 Abs. 3 EG für unmittelbar anwendbar. Damit wird einer dezentralisierten Kartellrechtsanwendung durch die Gerichte und Behörden der Mitgliedstaaten der Boden bereitet. Insbesondere von deutscher Seite wurde die Primärrechtskonformität dieser Neuerung nachhaltig bestritten.10 Unbestreitbar ist jedenfalls, dass sie die ohnehin beträchtliche Schwierigkeit einer unionsweit einheitlichen und für die Rechtsunterworfenen vorhersehbaren Anwendung des Kartellverbots weiter erhöht: Den Problemen der Konkretisierung des Verbotstatbestandes in Art. 101 Abs. 1 AEUV/81 Abs. 1 EG gesellt sich nunmehr für jeden Rechtsanwender die weitere Herausforderung hinzu, die Freistellungsvoraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV/81 Abs. 3 EG anhand komplexer ökonomischer Wertungen auszufüllen. b)

Gruppenfreistellungsverordnungen

Die mit Art. 101 Abs. 3 AEUV/81 Abs. 3 EG verbundenen „Subsumtionsrisiken“ werden durch die sogenannten Gruppenfreistellungsverordnungen (GVOen) in gewissem Umfang verringert. Die Kommission, der hierfür die Zuständigkeit vom Rat übertragen wurde,11 stellt durch diese Verordnungen bestimmte Kategorien von Vereinbarungen, für die bei typisierender Betrachtung eine einheitliche wettbewerbsrechtliche Würdigung getroffen werden kann, vom Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV/81 Abs. 1 EG frei. Nach der Preisgabe des Freistellungsmonopols haben diese Verordnungen ihre ursprüngliche Hauptaufgabe, die Kommission von einer nicht zu bewältigenden Masse von Einzelfreistellungsverfahren zu entlasten, verloren. Ihre Funktion besteht nunmehr darin, die dezentralisierte Kartellrechtsanwendung in den Mitgliedstaaten zu steuern.12 Die vor diesem Hintergrund geschaffene, neue Generation von Freistellungs-

8 Zur Gewährung eines Beurteilungsspielraums durch EuGH und EuG s.u. Rn. 27 ff. 9 Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates v. 16.12.2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003 L 1/1. 10 Kritisch etwa Deringer, EuZW 2000, 5 ff.; Mestmäcker, EuZW 1999, 523 ff.; Mestmäcker/ Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 13 Rn. 9 ff.; Möschel, JZ 2000, 61 ff.; Rittner, DB 1999, 1485 f. – Für die Position der Kommission (die außerhalb Deutschlands weit weniger heftig bekämpft wurde) z.B. Ehlermann, CMLR 37 (2000), 537 ff. 11 Für den Bereich der horizontalen Kooperation durch die VO 2821/71, ABl. 1972 L 285/46 zuletzt geändert durch VO 1/2003, ABl. 2003 L 1/1; für den Bereich der vertikalen Kooperation und des Technologietransfers durch die VO 19/65, ABl. 1965 36/533, zuletzt geändert durch VO 1/2003. – Sektorspezifische Regelungen bleiben hier außer Betracht. 12 Die Wirkung der Verordnungen nur noch deklaratorisch und nicht konstitutiv zu nennen, trifft allerdings nicht zu; dazu zutr. Fuchs, ZWeR 2005, 1, 9 ff., und Baron, WuW 2006, 358 ff.; a.A. etwa Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, EG-Kartellrecht (2. Aufl. 2009), Art. 83 Rn. 12.

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3. Teil: Besonderer Teil

verordnungen13 bedient sich allerdings in dem Bestreben, im Rahmen eines „more economic approach“ wettbewerbsbeschränkende Abreden (Rn. 22) nicht mehr „formalistisch“, sondern wirtschaftlich „realistisch“ zu bewerten, marktbezogener Beurteilungsmaßstäbe. Es versteht sich, dass diese Maßstäbe ihrerseits rechtlich wie tatsächlich nicht einfach zu handhaben sind: Wenn etwa Art. 3 VO 330/2010 eine Marktanteilsschwelle von 30 % vorsieht, jenseits derer die Gruppenfreistellung für Vertikalvereinbarungen nicht gilt, werden unweigerlich Fragen nach den Kriterien der Marktabgrenzung in sachlicher, räumlicher und zeitlicher Hinsicht laut, die sich aus der Verordnung selbst nicht beantworten lassen, und stellt sich das Problem der Ermittlung des für die Marktabgrenzung und -anteilsbestimmung erforderlichen Datenmaterials. c)

9

Die Fusionskontrollverordnung

Mit der Fusionskontrollverordnung (FKVO)14 hat der Rat schließlich den unternehmensadressierten Wettbewerbsregeln in Gestalt des Kartell- und des Missbrauchsverbots eine „dritte Säule“ hinzugefügt, die Unternehmenszusammenschlüsse von unionsweiter Bedeutung einer präventiven Kontrolle durch die Kommission unterwirft, wie sie allein auf der Grundlage der Art. 101 und 102 AEUV/81 und 82 EG nicht möglich wäre.15 Nachdem der europäische Gesetzgeber hierfür zunächst einen Marktbeherrschungstest herangezogen hatte, erhob er in der seit dem 1. Mai 2004 geltenden Fassung der FKVO das Kriterium der erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs (nach der englischen Terminologie „significant impediment of effective competition“ SIEC-Test genannt) zum neuen materiellen Beurteilungsmaßstab. Die Anwendung dieses Maßstabs ist zwar allein der – einer Überprüfung durch das EuG und den EuGH ausgesetzten – Entscheidung der Kommission und nicht den Behörden und Gerichten der Mitgliedstaaten anvertraut, seine relative Unbestimmtheit auch im Vergleich zum älteren Marktbeherrschungstest wirft jedoch die – bisher nicht abschließend beantwortbare – Frage auf, inwieweit die recht strenge Überwachung der Fusionskontrollpraxis der Kommission durch die europäische Judikative16 auch künftig ihre Wirksamkeit behält. 13 Als nicht sektorspezifische Verordnungen sind zu nennen: VO 330/2010, ABl. 2010 L 102/1 (Gruppenfreistellung für Vertikalvereinbarungen); VO 772/2004, ABl. 2004 L 123/11 (Gruppenfreistellung für Technologietransfervereinbarungen); VO 2658/2000, ABl. 2000 L 304/3 (Gruppenfreistellung für Spezialisierungsvereinbarungen); VO 2659/2000, ABl. 2000 L 304/7 (Gruppenfreistellung für Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen). 14 Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates v. 20.1.2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen („EG-Fusionskontrollverordnung“), ABl. 2004 L 24/1 (seit dem 1.5. 2004 in Kraft); ursprüngliche Fassung war die Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 des Rates v. 21.12.1989 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. 1989 L 395/1. 15 Zur Anwendbarkeit von Art. 101 AEUV/81 EG auf Unternehmenszusammenschlüsse EuGH v. 17.11.1987 – verb. Rs. 142/84 und 156/84 BAT und Reynolds ./. Kommission, Slg. 1987, 4487 Rn. 37, zur Anwendbarkeit von Art. 102 AEUV/82 EG EuGH v. 21.2.1973 – Rs. 6/72 Europemballage und Continental Can ./. Kommission, Slg. 1973, 215, 244 f. 16 Der Reform vorangegangen waren im Jahr 2002 drei Niederlagen der Kommission in Fusionskontrollfällen vor dem EuG; vgl. EuG v. 6.6.2002 – Rs. T-342/99 Airtours ./. Kommission, Slg. 2002, II-2585; v. 22.10.2002 – Rs. T-77/02 Schneider Electric ./. Kommission, Slg. 2002, II-4201; v. 25.10.2002 – Rs. T-5/02 Tetra Laval ./. Kommission, Slg. 2002, II-4381.

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§ 21 Europäisches Kartellrecht

3.

Bekanntmachungen und Leitlinien der Kommission

Die begriffliche Unschärfe kartellrechtlicher Normen primär- wie sekundärrechtlicher Provenienz lässt den mit ihrer Anwendung betrauten Behörden und Gerichten faktisch einen beträchtlichen Wertungsspielraum, der durch Vorgaben in den Urteilen der europäischen Gerichte nur ansatzweise eingeengt wird. Dies verschafft der Kommission jenseits ihrer Normsetzungsaufgabe im Bereich der Gruppenfreistellungsverordnungen und ihrer kartellverwaltungsrechtlichen Entscheidungspraxis eine zentrale Rolle bei der Beantwortung von Auslegungsfragen: Nicht nur zur Erläuterung der eigenen Praxis (insbesondere mit Blick auf die Handhabung eines ihr zustehenden Aufgreifermessens), sondern auch zur Orientierung mitgliedstaatlicher Behörden und Gerichte über die Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln behandelt die Kommission zahlreiche der sich insoweit stellenden Fragen in Leitlinien und Bekanntmachungen.17 Diese sollen nach Ansicht der Kommission über eine dadurch herbeigeführte, in ihrer Reichweite noch nicht abschließend geklärte Selbstbindung18 hinaus mittelbar Außenwirkung entfalten. „Selbst wenn Bekanntmachungen und Leitlinien für die innerstaatlichen Instanzen nicht verbindlich sind“, geht die Kommission davon aus, dass sie „einen wertvollen Beitrag zur kohärenten Anwendung des Gemeinschaftsrechts leisten [dürften], da Einzelentscheidungen der Kommission ihren Inhalt bestätigen werden. Soweit diese Entscheidungen auch noch vom Gerichtshof bestätigt werden, bilden die Bekanntmachungen und Leitlinien, auf die sie sich beziehen, einen Teil des Regelwerks, das von den nationalen Behörden angewendet werden muss.“19

10

Der darin zum Ausdruck kommenden Vorstellung, die informellen Instrumente der Kommission könnten durch die richterrechtliche Billigung der auf ihrer Basis getroffenen Entscheidungen zur Rechtsquelle aufgewertet werden, ist zu widersprechen:20 Die Nachprüfung von Entscheidungen der Kommission durch das EuG und den EuGH bezieht sich auf die Normanwendung im Einzelfall, bei der die abstrakt-generellen Aussagen der Leitlinien und Bekanntmachungen im Rahmen ihrer eine Selbstbindung begründenden Wirkung eine Rolle spielen, aber nicht ohne weiteres mit den eigenen interpretativen Aussagen der europäischen Gerichte gleichgesetzt werden dürfen. An deren Vorrang gegenüber den Leitlinien der Kommission hat GA Kokott

11

17 Beispiele: Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags, ABl. 2004 C 101/82; Bekanntmachung über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft, ABl. 1997 C 372/1; Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die den Wettbewerb gemäß Art. 81 Abs. 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft nicht spürbar beschränken (de minimis), ABl. 2001 C 368/13; Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. 2004 C 101/97. 18 Dazu Pampel, Rechtsnatur und Rechtswirkungen horizontaler und vertikaler Leitlinien im reformierten europäischen Wettbewerbsrecht (2005), S. 55 ff.; Smulders, CPI 5 (2009), 25 ff.; Thomas, EuR 2009, 423 ff. 19 Weißbuch über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der Art. 85 und 86 EGVertrag, KOM(1999) 101 endg, ABl. 1999 C 132/1 Rn. 86. 20 Vgl. auch schon Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 3 Rn. 61.

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im Verfahren British Airways zu Recht erinnert.21 Insoweit bestehen Bedenken gegenüber der neuesten Vorgehensweise der Kommission, die in ihrer Mitteilung zur Anwendung von Art. 102 AEUV/82 EG auf Behinderungsmissbräuche22 faktisch interpretative Aussagen über das Missbrauchsverbot macht, diese jedoch als Setzung von Anwendungsprioritäten und damit als Ausdruck ihres Aufgreifermessens deklariert, um so einen möglichen Konflikt mit der Verbotsauslegung durch den EuGH und das EuG zu entgehen.23 Gleichwohl ist die hohe Meinung der Kommission von der Bedeutung des von ihr geschaffenen soft law nicht unberechtigt: Dessen faktischer Einfluss auf die Kartellrechtsanwendung in den Mitgliedstaaten ist groß, weil nationale Behörden und Gerichte zwar nicht an die darin enthaltenen abstrakt-generellen Formulierungen, aber an die darauf beruhende Entscheidungspraxis der Kommission gebunden sind, die dadurch in die Rolle eines authentischen Interpreten der Wettbewerbsregeln hineingewachsen ist.24

II.

Die Interpretation EU-kartellrechtlicher Normen

12

Die Aufgabe, die prima facie schwer zu fassende Begrifflichkeit der europäischen Wettbewerbsregeln zu subsumtionsfähigen Aussagen zu verdichten, fällt nicht nur der Kommission, dem EuG und dem EuGH, sondern auch den Behörden und Gerichten der Mitgliedstaaten zu, welche die Regeln (mit Ausnahme der FKVO) anzuwenden haben. Die praktische Bewältigung dieser Konkretisierungsaufgabe könnte im Ansatz durchaus mit den Mitteln der Auslegungskriterien beschrieben werden, wie sie in deutschen Hörsälen in loser Anknüpfung an Savigny gelehrt werden, und ebenso fiele es nicht schwer, in der EU-kartellrechtlichen Praxis die Verbindung der Auslegung mit rechtsfortbildenden Elementen nachzuweisen, wie sie nach deutscher Modellvorstellung für die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe charakteristisch ist. Die Validität der Argumente, mit denen die Diskussion um die Konkretisierung EU-kartellrechtlicher Begriffe geführt wird, hängt allerdings nicht in erster Linie von solchen Klassifikationen ab.

13

Den methodischen Zugang zum EU-kartellrechtlichen Diskurs findet vielmehr leichter, wer von den beiden eingangs beschriebenen Besonderheiten dieses Rechtsgebiets ausgeht: Zum einen verlangt die Ausrichtung kartellrechtlicher Normen auf den Wettbewerbsschutz vom Rechtsanwender, die in diese Richtung zu steuernden Strukturen und Verhaltensweisen auf Märkten zu verstehen und zu bewerten, um den ausfüllungsbedürftigen Tatbeständen einen dem Normzweck entsprechenden Sinn geben

21 GA Kokott, SchlA v. 23.2.2006 – Rs. C-95/04 P British Airways ./. Kommission, Slg. 2006, I-2331 Tz. 28. 22 ABl. 2009 C 45/7. 23 Zur Rechtfertigung dieser Vorgehensweise vgl. Bulst, RabelsZ 73 (2009), 704, 710 ff. 24 Für eine faktische, aber nicht rechtliche Bindung auch Pohlmann, WuW 2005, 1005, 1008 f., in Erwiderung auf einen Beitrag von Schweda, WuW 2004, 1133 ff., der eine rechtliche Bindung postuliert. – Zur Rolle der Verwaltungspraxis der Kommission im Verhältnis zur nationalen Anwendungsebene s.u. Rn. 23 ff.

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zu können. Hierfür wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse heranzuziehen, ist vor diesem Hintergrund im Kartellrecht weitaus selbstverständlicher als in anderen Bereichen, in denen über die Verhaltenssteuerung durch Recht als Einbruchstelle der ökonomischen Analyse in die Normauslegung gestritten wird.25 – Zum anderen hat die Interpretation der EU-Wettbewerbsregeln als Bestandteil der europäischen Verfassung jenen dynamischen Charakter, der den Umgang der EuGH-Rechtsprechung mit der europäischen Rechtsordnung im Ganzen kennzeichnet:26 Schon mit der Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit der in den Art. 101 Abs. AEUV/81 Abs. 1 EG und Art. 102 AEUV/82 EG niedergelegten Verbote27 hat der Gerichtshof den ersten Schritt getan, um die einzelnen Wettbewerbsregeln des Vertrags zu einer funktionierenden Wettbewerbsordnung für den Binnenmarkt auszugestalten. Diese Aufgabe besteht fort. Wie sich diese Grundaussagen auf die Interpretation des EU-Kartellrechts auswirken, sei nachfolgend anhand von vier Fragestellungen demonstriert. Die beiden ersten Fragen zielen auf das „Wie?“ der Interpretation, nämlich auf die Rolle des normativen und des ökonomischen Kontextes für die kartellrechtliche Begriffsbildung, die beiden letzten auf das „Wer?“, nämlich auf die Hierarchie der Norminterpreten in einem zwischen europäischer und nationaler Ebene sowie zwischen judikativen und administrativen Funktionen unterscheidenden supranationalen System. 1.

14

Autonome Begrifflichkeit

Eine erste Folgerung wurde bereits angedeutet: EU-kartellrechtliche Begriffe sind autonom auszulegen. Der Wettbewerbsschutz im Binnenmarkt als besonderer normativer Kontext, in den sie gestellt sind, lässt es grundsätzlich nicht zu, ihnen Inhalte beizulegen, die aus anderen Verwendungszusammenhängen importiert werden. Gerade beim Umgang mit Begriffen, denen ein spezifisch kartellrechtlicher Gehalt nicht ins Gesicht geschrieben steht, hat der Norminterpret diese Einsicht zu beherzigen.

15

Betrachten wir beispielsweise den Begriff des „Unternehmens“ als Kennzeichnung der Normadressaten in den Art. 101 AEUV/81 EG 28 und 102 AEUV/82 EG:29 Nach ständiger EuGH-Rechtsprechung ist Unternehmen im Sinne der Wettbewerbsregeln

16

25 26 27 28

Vgl. hierzu Kirchner, in diesem Band, § 5, und Franck, ebd., § 6. Vgl. hierzu Riesenhuber, oben § 11 Rn. 43. EuGH v. 6.4.1962 – Rs. 13/61 De Geus ./. Bosch, Slg. 1962, 99, 112. Art. 101 AEUV/81 EG ist außerdem an „Unternehmensvereinigungen“ gerichtet, deren Adressatenstellung von der Unternehmensqualität ihrer Mitglieder, jedoch nicht der Vereinigung selbst abhängt. 29 Vgl. zum Unternehmensbegriff außer der allgemeinen kartellrechtlichen Lit. insbes. die Monographie von Pohlmann, Der Unternehmensverbund im Europäischen Kartellrecht (1999), sowie die Beiträge von Benicke, EWS 1997, 373 ff.; Jennert, WuW 2004, 37 ff.; Louri, LIEI 29 (2002), 143 ff., W.-H. Roth, FS Bechtold (2006), S. 393 ff., und Slot, FS Everling, Bd. II (1995), S. 1413 ff.

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jede „eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit“30. Diese Definition ist darauf ausgerichtet, wirtschaftliches Handeln umfassend und unabhängig von der Substanz und der institutionellen Verfasstheit des jeweiligen Handlungsträgers zu erfassen, damit nicht dem Schutzzweck der Wettbewerbsregeln zuwider ungeschriebene Ausnahmebereiche geschaffen werden, die einer kartellrechtlichen Kontrolle von vornherein entzogen sind. Unternehmen in diesem funktionalen Sinne sind etwa auch Freiberufler31 und diejenigen, die auf den Gebieten des Sports, der Wissenschaft und der Kultur marktmäßig tätig sind32. Dass die Ausübung dieser Tätigkeiten besonderen Regeln unterliegt und dass für die Zwecke des nationalen Steuer-, Handels- oder Gesellschaftsrechts möglicherweise andere Maßstäbe gelten, ändert nichts an der Einordnung der sich auf diesen Gebieten marktmäßig als Anbieter oder als Nachfrager (nicht notwendig mit Gewinnerzielungsabsicht)33 Betätigenden als Unternehmen iSd Art. 101 f. AEUV/81 f. EG. Nicht anders verhält es sich mit der Grenzziehung zwischen Privatrecht und Öffentlichem Recht: Ist die ausgeübte Tätigkeit wirtschaftlicher und nicht hoheitlicher Natur, steht eine öffentlich-rechtliche Organisation oder Rechtsform nicht der Anwendung der Wettbewerbsregeln auf den Staat und dessen Untergliederungen mit Blick auf diese Tätigkeit entgegen.34 Gewisse Inkonsequenzen bei der Handhabung des Unternehmensbegriffs – etwa bei der überwiegend abgelehnten Unternehmenseigenschaft von Arbeitnehmern beim Angebot von Arbeitsleistungen –35 mögen zwar belegen, dass sich auch die kartellrechtliche Praxis nicht ganz von wettbewerbsfremden Vorprägungen befreien kann, doch jedenfalls im Grundsatz dürfte die im funktionalen Unternehmensbegriff zum Ausdruck kommende Autonomie der kartellrechtlichen Begriffsbildung außer Frage stehen.

17

Dieser Autonomie ist auch in umgekehrter Richtung Rechnung zu tragen: Kartellrechtliche Normaussagen dürfen aufgrund ihrer spezifisch wettbewerbsbezogenen

30 EuGH v. 23.4.1991 – Rs. C-41/90 Höfner, Slg. 1991, I-1979 Rn. 21; EuGH v. 11.12.1997 – Rs. C-55/96 Job Centre, Slg. 1997, I-7119 Rn. 21; EuGH v. 18.6.1998 – Rs. C-35/96 Kommission ./. Italien, Slg. 1998, I-3851 Rn. 36. 31 Dazu EuGH v. 19.2.2002 – Rs. C-309/99 Wouters, Slg. 2002, I-1577 Rn. 102 (Rechtsanwälte). 32 Vgl. dazu den Überblick bei W.-H. Roth/Ackermann, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht (Stand: 2009), Grundlagen Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 63 ff. 33 GA Lenz, SchlA v. 20.9.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4930 Tz. 255. 34 Im Grundsatz unstr., statt vieler Langen/Bunte-Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht Bd. 2 (10. Aufl. 2006), Art. 81 EG – Generelle Prinzipien Rn. 8. Missverständlich, da scheinbar auf institutionelle Gegebenheiten abstellend, allerdings EuGH v. 19.1.1994 – Rs. C-364/92 SAT Fluggesellschaft ./. Eurocontrol, Slg. 1994, I-43 Rn. 31 (fehlende Unternehmenseigenschaft einer für die Luftüberwachung zuständigen internationalen Organisation). In der Sache kontrovers beurteilt wird insbes. die Ablehnung der unternehmerischen Natur der Nachfrage der öffentlichen Hand, soweit diese nicht mit einer wirtschaftlichen Angebotstätigkeit korrespondiert, durch EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-205/03 P FENIN, Slg. 2006, I-6295 Rn. 25 ff.; dazu kritisch W.-H. Roth/Ackermann, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht (Stand: 2009), Grundlagen Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 45 ff. 35 So Langen/Bunte-Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht Bd. 2 (10. Aufl. 2006), Art. 81 EG – Generelle Prinzipien Rn. 7; Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 8 Rn. 31; a.A. W.-H. Roth/Ackermann, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Grundlagen Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 53 ff. (Stand: 2009).

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Wertung nicht ohne Weiteres in andere Rechtsgebiete exportiert werden. Symptomatisch für die Verkennung dieser Differenz ist der Versuch, die Klauselkataloge der Gruppenfreistellungsverordnungen für die zivilrechtliche AGB-Kontrolle fruchtbar zu machen. So heißt es etwa im deutschen Schrifttum, der Vertikal-GVO 2790/99 komme bei der Prüfung formularmäßiger Festlegungen der Laufzeit von Bierlieferungsverträgen Leitbildfunktion zu; die in Art. 5 VO 2790/99 zugelassene Obergrenze von fünf Jahren dürfe daher in AGB nicht überschritten werden.36 Diese Ansicht vernachlässigt, dass nicht Gesichtspunkte der Vertragsgerechtigkeit und des angemessenen Interessenausgleichs zwischen den Parteien eines Bierlieferungsvertrags, sondern die (pauschalierte) Einschätzung der Wettbewerbsschädlichkeit einer solchen Vereinbarung den Ausschlag für die kartellrechtliche Festlegung gegeben haben. 2.

Die Bedeutung ökonomischer Erkenntnisse für die Kartellrechtsanwendung

Dass ökonomische Erkenntnisse für ein Rechtsgebiet relevant sind, das sich Märkten widmet, ist ohne Weiteres nachzuvollziehen. Mit dieser Aussage wird das Verhältnis zwischen rechtlichen und wirtschaftswissenschaftlichen Kriterien für die Bewertung des Wettbewerbsgeschehens aber noch nicht methodisch präzise erfasst. Zwei Klarstellungen sind insoweit geboten:

18

Einerseits wäre es naiv, sich von der Wirtschaftswissenschaft eine Definition des Wettbewerbs zu erhoffen, die sich für die Kartellrechtsanwendung unmittelbar fruchtbar machen lässt. Voraussetzungen und Ergebnisse des Wettbewerbs dürfen nicht als mechanistisch greifbarer Zusammenhang von Ursache und Wirkung missverstanden werden, welcher der kartellrechtlichen Würdigung ein sicheres Fundament bieten könnte. Die Freiheit der Marktteilnehmer, über die dezentralen Koordinierungsvorgänge zu entscheiden, die das Marktgeschehen ausmachen, erlaubt solche Festlegungen nicht. Daher würde niemand behaupten, dass das Ziel der Formulierung und Auslegung wettbewerbsschützender Normen die Annäherung realen Marktgeschehens an die preistheoretische Modellvorstellung vollkommener Konkurrenz sein kann, unter deren (gedachten) Bedingungen ein Wohlfahrtsoptimum erzielt wird.

19

Andererseits ginge es fehl, die Bedeutung der Ökonomik für das Kartellrecht auf die Bereitstellung des Datenmaterials zu reduzieren, das erforderlich ist, um im Einzelfall das Vorliegen feststehender rechtlicher Kriterien feststellen zu können. Die materiellen Voraussetzungen, die im Zentrum der unternehmensadressierten Wettbewerbsregeln stehen (nämlich das Bezwecken oder Bewirken einer Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs in Art. 101 Abs. 1 AEUV/81 Abs. 1 EG, die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung in Art. 102 AEUV/82 EG und schließlich auch der SIEC-Test der reformierten FKVO), sind nicht aus sich selbst heraus verständlich, sondern können nur im Rückgriff auf die Ziele konkretisiert werden, welche die Union mit dem Wettbewerbsschutz verfolgt. Dies sind die gesamtwirtschaftlichen Ziele, die insbesondere Art. 3 Abs. 3 EUV normiert, und der Schutz wirtschaftlicher Freiheit, ohne die eine Öffnung und Offenhaltung nationaler

20

36 Palandt-Heinrichs, § 307 BGB Rn. 91 mwN zum Meinungsstand.

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Märkte nicht gedacht werden kann. Wie aber können wettbewerbsbeschränkende Koordinierungen, missbräuchliche Verhaltensweisen und Unternehmensfusionen identifiziert werden, die nicht im Einklang mit diesen Zielsetzungen stehen? An dieser Stelle gewinnen wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse als Grundlage wettbewerbspolitischer Empfehlungen normative Relevanz: Sie verhelfen den Rechtsanwendern dazu, aus den vergleichsweise unbestimmten Begriffen des europäischen Kartellrechts anhand der dem EUV und dem AEUV zugrunde liegenden Funktionen des Wettbewerbsschutzes operable Kriterien zu gewinnen. Dass dies „nur unter Berücksichtigung der Eigengesetzlichkeit der Rechtsanwendung“37 geschehen kann, zwingt allerdings zu selektivem Vorgehen, denn die begrenzten Erkenntnismöglichkeiten in rechtsförmigen Verfahren vor Gerichten und Kartellbehörden lassen es nun einmal nicht zu, beliebig komplexe Analysen anzustellen.

21

Die Verschränkung des Kartellrechts mit wirtschaftswissenschaftlichen Einsichten über das Wettbewerbsgeschehen führt dazu, dass wechselnde ökonomische Strömungen um die wettbewerbspolitische Orientierung nicht nur der Kartellrechtsgesetzgebung, sondern auch der Kartellrechtsanwendung konkurrieren. Umschwünge auf der Ebene wettbewerbspolitischer Leitbilder können vor diesem Hintergrund zu einschneidenden Änderungen in der kartellrechtlichen Praxis führen. Geradezu klassisches Beispiel hierfür ist die unter dem Einfluss der Chicago School erfolgte Abkehr des US-Supreme Court von der bis Mitte der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts verfochtenen strengen Behandlung vertikaler Vertriebsbeschränkungen nach sec. 1 Sherman Act.38 Die Rechtsprechung des EuGH und des EuG hat solche Wendungen bisher nicht vollzogen und es geschafft, ohne deutliche Festlegung auf ein wettbewerbspolitisches Leitbild den Eindruck einer einigermaßen kontinuierlichen Entwicklung zu vermitteln.39

22

Anders sieht es dagegen bei der Kommission aus, die seit Ende der 90er Jahre auf allen Gebieten des europäischen Kartellrechts einen „stärker wirtschaftlichen Ansatz“ („more economic approach“) vorantreibt. Hinter diesem Schlagwort verbirgt sich das Anliegen, mit den bereits umgesetzten Reformen im Bereich des Kartellverbots und der Fusionskontrolle40 sowie mit der allerdings bisher über die Formulierung von

37 Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 2 Rn. 76. Diese Einsicht wird auch von wirtschaftswissenschaftlicher Seite Rechnung getragen, etwa von Evans, 28 World Comp 93 ff. (2005), und I. Schmidt, WuW 2005, 877. 38 Grundlegend ist das Urteil Continental T.V., Inc. v. GTE Sylvania, Inc., 433 U.S. 36 (1977). Näher zu dieser US-amerikanischen Entwicklung Ackermann, Art. 85 Abs. 1 EWGV und die rule of reason (1998), S. 11 ff. 39 Gegen den (bereits einige Zeit zurückliegenden) Versuch Väths, Die Wettbewerbskonzeption des Europäischen Gerichtshofs (1987), aus einzelnen Aussagen des Gerichtshofs wettbewerbspolitische Modellvorstellungen abzuleiten, wendet sich zu Recht Everling, WuW 1990, 995, 1008. Den Versuch, die europäische Praxis zu einer neben die Harvard oder die Chicago School tretenden European School zu stilisieren, macht Hildebrand, The Role of Economic Analysis in the EC Competition Rules (2. Aufl. 2002). 40 Zur „Ökonomisierung“ der Fusionskontrolle Christiansen, WuW 2005, 285 ff.; Díaz, 27 World Comp 177 ff. (2004).

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„Anwendungsprioritäten“ (dazu Rn. 11) nicht hinausgekommenen Modernisierung der Anwendung des Missbrauchsverbots41 die kartellrechtliche Bewertung unternehmerischer Praktiken stärker von ihren Marktwirkungen und weniger von formalen Kriterien abhängig zu machen. Dies ist nicht der Ort, das inhaltliche Für und Wider dieser Neuorientierung zu beurteilen.42 Der Zugang zu der hierüber geführten Diskussion erschließt sich jedoch nur, wenn man auch die methodische Dimension der Beeinflussung der Kartellrechtsgesetzgebung und -anwendung durch divergierende ökonomische Perspektiven in den Blick nimmt: Wenn von einem „more economic approach“ die Rede ist, geht es im Grunde nicht um eine mehr, sondern um eine andere ökonomische Fundierung der Wettbewerbspolitik der Union43, nämlich um die Ablösung des im Kern auf die ordoliberale Freiburger Schule zurückgehenden Wettbewerbsverständnisses, das auf die Erhaltung der Wettbewerbsfreiheit der Marktteilnehmer durch klar zugeschnittene Verbote freiheitsbeschränkender Verhaltensweisen zielt, durch einen wohlfahrtsökonomischen Ansatz, der eine ergebnisbezogene Bewertung unternehmerischen Marktverhaltens nach Effizienzkriterien anstrebt.44 „More economic“ ist dieser Ansatz allerdings in seinen Auswirkungen auf die kartellrechtliche Praxis: Um den Einfluss einer bestimmten unternehmerischen Maßnahme auf das Marktergebnis im Einzelfall ex post feststellen oder zukunftsgerichtet prognostizieren zu können, müssen Rechtsanwender wie auch Rechtsunterworfene, die das Risiko eines Kartellrechtsverstoßes einschätzen wollen, den wirtschaftlichen Kontext der Maßnahme naturgemäß intensiver untersuchen, als dies bei Zugrundelegung eines eher „formalistischen“ Konzepts der Fall wäre: Maßgeblich ist danach die Feststellung einer wohlfahrtsmindernden Wirkung des untersuchten Verhaltens, wobei mehrheitlich nicht eine Beeinträchtigung der Gesamt-, sondern der Verbraucherwohlfahrt für entscheidend gehalten wird. Während sich die Kommission gerade die Vermeidung von Wohfahrtseinbußen der Verbraucher auf die Fahnen geschrieben hat, lassen sich der Rechtsprechung des EuGH allerdings in jüngster Zeit vermehrt Zeichen für eine fehlende Bereitschaft entnehmen, eine entsprechende Wende auf der Ebene der Auslegung des Primärrechts mitzuvollziehen.45

41 Vgl. die Mitteilung: Erläuterungen zu den Prioritäten der Kommission bei der Anwendung von Artikel 82 des EG-Vertrags auf Fälle des Behinderungsmissbrauchs, ABl. 2009 C 45/7; dazu Bulst, RabelsZ 73 (2009), 704 ff.; Möschel, JZ 2009, 1040 ff. 42 Näher zu inhaltlichen Aspekten Basedow, WuW 2007, 712 ff.; Hellwig, FS Mestmäcker (2006), S. 231 ff.; Hildebrand, WuW 2005, 513 ff.; Schmidtchen, WuW 2006, 6 ff.; v. Weizsäcker, WuW 2007, 1078; Zimmer, WuW 2007, 1198; zur Konvergenz der auf einen „more economic approach“ gerichteten Bestrebungen mit den Entwicklungen in den USA Vickers, ECJ 2007, 1 ff. 43 Auch Kritiker des „more economic approach“ bestreiten daher nicht, dass eine wirtschaftliche Betrachtungsweise im Kartellrecht unerlässlich ist; so ausdrücklich Immenga, WuW 2006, 463. 44 Eine gründliche Analyse der hier nur angedeuteten Entwicklung bietet Gerber, Law and Competition in Twentieth Century Europe. 45 Ablehnend zum Erfordernis eines „consumer harm“ EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-8/08 T-Mobile Netherlands, (noch nicht in Slg.) Rn. 36 ff.; EuGH v. 6.10.2009 – Rs. C-501/06 P GlaxoSmithKline, (noch nicht in Slg.) Rn. 63.

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3.

Das Verhältnis der europäischen zur nationalen Anwendungsebene: Das Kohärenzgebot

23

Die Konkretisierung der unmittelbar anwendbaren Regeln des Unionskartellrechts im Bereich des Kartell- und des Missbrauchsverbots ist nicht nur das Alltagsgeschäft der Kommission, deren Generaldirektion Wettbewerb mit der Wahrnehmung dieser Aufgabe betraut ist, sondern obliegt auch den nationalen Kartellbehörden (in Deutschland nach § 50 GWB dem Bundeskartellamt und den nach Landesrecht zuständigen obersten Landesbehörden) sowie jedem nationalen Richter, der im Rahmen eines Rechtsstreits über die Anwendung einer EU-kartellrechtlichen Norm zu entscheiden hat. Damit stellt sich eine für Rechtssysteme mit mehr als einer Anwendungsebene typische Frage: Wie wird die einheitliche Anwendung des Rechts bei parallelen Zuständigkeiten auf der „höheren“ (hier der europäischen) und auf der „niedrigeren“ (hier der nationalen) Ebene sichergestellt? Auch wenn wir Auslegung und Anwendung von Normen zu unterscheiden pflegen, hat die Beantwortung dieser Frage offenkundig Bedeutung für die Interpretationshoheit über die europäischen Wettbewerbsregeln, denn die in der Normanwendung übergeordnete Instanz erlangt auch die interpretatorische Hegemonie über das anzuwendende Recht.

24

Der schlichte Verweis auf den EuGH, der hier wie auch sonst im Europarecht an der Spitze der Pyramide richterlicher Norminterpreten steht, wird dem Problem nicht gerecht. Zwar führen Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Kommission über das EuG zum EuGH und eröffnet Art. 267 AEUV/234 EG in jedem nationalen Anwendungsfall, soweit er nur (spätestens in der Rechtsmittelinstanz) vor ein nationales Gericht gelangt, den Zugang zum Gerichtshof, aber damit wird die Gefahr einander im Einzelfall widersprechender Entscheidungen über die Anwendung der Wettbewerbsregeln auf nationaler und auf europäischer Ebene nicht wirksam gebannt. Es bedarf vielmehr eines Regimes, das bereits die Entstehung von Anwendungskonflikten verhindert, um die Kohärenz der europäischen Wettbewerbsordnung zu wahren.

25

Der EuGH misst dieser Aufgabe primärrechtlichen Rang zu: Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Mitgliedstaaten aus Geist und System des Vertrags dazu verpflichtet, die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu sichern.46 In den Entscheidungen Delimitis47 und Masterfoods48 hat der EuGH daraus aufsehenerregende Konsequenzen für das Verhältnis zwischen der Kommission und den nationalen Gerichten bei der Kartellrechtsanwendung gezogen: Hat der nationale Richter über einen Sachverhalt zu entscheiden, der noch Gegenstand einer Kommissionsentscheidung werden kann, ist er gehalten, eigene Entscheidungen zu vermeiden, die mit der beabsichtigten Kommissionsentscheidung kollidieren könnten. Liegt bereits eine

46 So die Zusammenfassung bei Streinz-Streinz, Art. 10 EG Rn. 16. Mit Blick auf die Wettbewerbsregeln wird die „uneingeschränkte und einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts und die (unbeeinträchtigte) Wirksamkeit der zu seinem Vollzug ergangenen oder zu treffenden Maßnahmen“ postuliert in EuGH v. 13.2.1969 – Rs. 14/68 Walt Wilhelm ./. Bundeskartellamt, Slg. 1969, 1 Rn. 9. 47 EuGH v. 28.2.1991 – Rs. C-234/89 Delimitis ./. Henninger Bräu, Slg. 1991, I-935 Rn. 47. 48 EuGH v. 14.12.2000 – Rs. C-344/98 Masterfoods ./. HB Ice Cream, Slg. 2000, I-11369 Rn. 48 ff.

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Kommissionsentscheidung vor, die denselben Sachverhalt betrifft, darf er keine Entscheidung treffen, die dieser zuwiderläuft. Umgekehrt ist die Kommission an eine vorangehende Entscheidung des nationalen Richters nicht gebunden. Daraus ergibt sich ein absoluter Vorrang von Kommissionsentscheidungen gegenüber den Entscheidungen nationaler Gerichte. Das Resultat mag zu denken geben, weil es einer Vorstellung von europarechtlicher Gewaltenteilung zuwiderläuft, in der die Gerichte der Mitgliedstaaten als Teil der das Europarecht anwendenden Judikative der Kommission als Exekutive gleichrangig gegenüberstehen.49 Doch ist diese Sicht nicht zwingend:50 Der Gewaltenteilungsgrundsatz wird in der Anwendungsstruktur, die der EuGH den Wettbewerbsregeln gegeben hat, im Verhältnis der Unionsorgane EuGH und Kommission verwirklicht. Der nationale Richter hat an der judikativen Überwachungsfunktion gegenüber der Exekutive auf der europäischen Ebene immerhin insoweit teil, als er den Gerichtshof im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV/234 EG anrufen kann. Der Rat hat diese Rechtsprechung zum Verhältnis der Kommission zu den nationalen Gerichten mittlerweile in Art. 16 VO 1/2003 kodifiziert und ihre Grundsätze zudem auf das Verhältnis der Kommission zu nationalen Behörden erstreckt. Der aus dem Kohärenzgebot abgeleitete Primat der europäischen vor der nationalen Anwendungsebene des EU-Kartellrechts ist damit vollständig abgesichert. Für die Interpretation der unmittelbar anwendbaren Wettbewerbsregeln folgt daraus eine eigentümliche Hierarchie: Die einzelfallbezogene Auslegung dieser Regeln in der Verwaltungspraxis der Kommission setzt sich gegenüber einer abweichenden Normkonkretisierung durch nationale Institutionen, und seien es auch Gerichte, durch und ist ihrerseits nur den Maßgaben der europäischen Gerichtsbarkeit unterworfen. 4.

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Die Rolle der europäischen Judikative: Einschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte durch Beurteilungsspielräume?

Es bleibt der zweite Teil der Frage nach der Hierarchie der Norminterpreten: Wie gestaltet sich die vom EuG und vom EuGH verantwortete Kontrolle der Konkretisierung des unmittelbar anwendbaren europäischen Kartellrechts?

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Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage ist die Rechtsprechung des EuGH aus der Zeit vor Inkrafttreten der VO 1/2003. Wie bereits erwähnt, hatte die Kommission damals die alleinige Zuständigkeit zur Erteilung von Freistellungen nach Art. 101 Abs. 3 AEUV/81 Abs. 3 EG. Die Erwägungen, welche die Kommission bei der Würdigung der Voraussetzungen des Freistellungstatbestands anstellte, wurden vom EuGH (und seit 1989 vom EuG) stets nur einer zurückhaltenden Überprüfung unterzogen. Die Kommission sei, heißt es bereits im Urteil Consten und Grundig aus dem Jahr 1966, „bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu schwierigen Wertungen wirt-

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49 Diese Vorstellung erschien mir vorzugswürdig (vgl. Ackermann, Art. 85 Abs. 1 EWGV und die rule of reason [1998], S. 139), hat sich aber nicht durchgesetzt. 50 Zustimmung findet die Masterfoods-Doktrin bei Langen/Bunte-Sura, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht Bd. 2 (10. Aufl. 2006), Art. 16 VO 1/2003 Rn. 4; Kritik bei Geiger, EuZW 2001, 116, 117; Gröning, WRP 2001, 83, 89. Thomas Ackermann

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3. Teil: Besonderer Teil

schaftlicher Sachverhalte gezwungen. Die gerichtliche Nachprüfung dieser Wertungen muss dem Rechnung tragen und sich deshalb auf die Richtigkeit der ihnen zugrunde liegenden Tatsachen und deren Subsumtion unter die Begriffe des geltenden Rechts beschränken.“51 Diese Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle der damals konstitutiven Freistellungsentscheidungen der Kommission hat die Rechtsprechung des EuGH und des EuG wiederholt bestätigt.52 Darüber hinaus hat der EuGH der Kommission aber auch einen Beurteilungsspielraum bei der Konkretisierung des auch damals schon unmittelbar anwendbaren Kartellverbots in Art. 101 Abs. 1 AEUV/81 Abs. 1 EGV zugebilligt. Dies brachte erstmals das Remia-Urteil unmissverständlich zum Ausdruck: In Anbetracht der in diesem Fall erforderlichen „Würdigung komplexer wirtschaftlicher Gegebenheiten“ habe der Gerichtshof „seine Prüfung … auf die Frage zu beschränken, ob die Verfahrensvorschriften eingehalten worden sind, ob die Begründung ausreichend ist, ob der Sachverhalt zutreffend festgestellt worden ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Würdigung des Sachverhalts und kein Ermessensmissbrauch vorliegen.“53

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Wenn die Rücknahme der gerichtlichen Kontrolldichte der Kommission auch bei unmittelbar anwendbarem Kartellrecht zugute kommen soll, ergibt sich unweigerlich die weitere, mit der Dezentralisierung der Kartellrechtsanwendung drängend gewordene Frage: Sollen nicht auch nationale Behörden und Gerichte, ja sogar die rechtsunterworfenen Unternehmen bei der Selbsteinschätzung ihres Wettbewerbsverhaltens einen Beurteilungsspielraum in Anspruch nehmen können, weil und soweit ihnen genauso wie der Kommission die „Würdigung komplexer wirtschaftlicher Gegebenheiten“ bei der Anwendung kartellrechtlicher Normen abverlangt wird?54 In der Tat entstünde eine kaum überzeugend erklärbare Schieflage, wenn der EuGH die Wahrnehmung seiner Auslegungszuständigkeit bei ein und derselben Norm danach diffe-

51 EuGH v. 13.7.1966 – verb. Rs. 56/64 und 58/64 Consten und Grundig ./. Kommission, Slg. 1966, 321, 396. 52 Z.B. EuGH v. 25.10.1977 – Rs. 26/76 Metro ./. Kommission, Slg. 1977, 1875 Rn. 50; EuG v. 8.6.1995 – Rs. T-7/93 Langnese-Iglo ./. Kommission, Slg. 1995, II-1533 Rn. 178; EuG v. 8.6. 1995 – Rs. T-9/93 Schöller ./. Kommission, Slg. 1995, II-1611 Rn. 140. 53 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 42/84 Remia ./. Kommission, Slg. 1985, 2545 Rn. 34; bestätigt durch EuGH v. 17.11.1987 – verb. Rs. 142/84 und 156/84 BAT und Reynolds ./.Kommission, Slg. 1987, 4487 Rn. 62; EuGH v. 15.6.1993 – Rs. C-225/91 Matra ./. Kommission, Slg. 1993, I-3203 Rn. 23 und 25; EuG v. 29.6.1993 – Rs. T-7/92 Asia Motor France ./. Kommission, Slg. 1993, II-669 Rn. 33; EuGH v. 23.10.2003 – Rs. T-65/98 Van den Bergh Foods ./. Kommission, Slg. 2003, II-4662 Rn. 80. In erweitertem (rechtsordnungs- oder disziplinübergreifendem) Zusammenhang behandeln diese Rspr. Adam, Die Kontrolldichte-Konzeption des EuGH und deutscher Gerichte (1993); Herdegen/Richter, in: Frowein (Hrsg.), Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung (1993), S. 209 ff.; Nolte, Beurteilungsspielräume im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft und der Bundesrepublik Deutschland (1997); ausführliche Würdigungen der zitierten Rspr. zu Art. 101 AEUV/81 EG außerdem bei Bailey, CMLR 41 (2004), 1327 ff., Fritzsche, Ermessen und institutionelles Gleichgewicht: Die Kompetenzteilung zwischen Europäischer Kommission und Gericht erster Instanz (2008), und Koch, ZWeR 2005, 380 ff. 54 In dieser Richtung mit Bezug auf nationale Behörden und Gerichte Jaeger, WuW 2000, 1062, 1071 ff., mit Bezug auf die Unternehmen Bechtold, WuW 2003, 343.

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renzierte, ob sie von der Kommission, von einer nationalen Behörde oder von einem nationalen Gericht angewendet wird. Richtigerweise sollte diese Schieflage aber nicht dadurch behoben werden, dass der Gerichtshof die Normkonkretisierung im Kartellrecht generell nur noch auf die Verletzung bestimmter äußerer Grenzen überprüft und sich dadurch seiner Funktion als Wahrer der Einheit des Unionsrechts teilweise begibt. Vielmehr sollte der EuGH den umgekehrten Weg beschreiten und im Zusammenhang mit den Art. 101 AEUV/81 EG und 102 AEUV/82 EG wie auch sonst bei unmittelbar anwendbaren Normen des Europarechts keine Wertungsprärogative einer anderen Institution anerkennen.55

III. Die Ausstrahlung des europäischen Kartellrechts auf das mitgliedstaatliche Kartellrecht In welcher Weise das Europarecht im Allgemeinen die Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts beeinflusst, erläutern die Beiträge zur primärrechts- und zur richtlinienkonformen Auslegung (einschließlich der Frage der überschießenden Umsetzung) in diesem Band.56 Die Ausstrahlung der europäischen auf die nationale Rechtsebene weist jedoch im Bereich des Kartellrechts Besonderheiten auf, die gerade auch im deutschen Kartellrecht Anlass zu methodisch interessanten Neuerungen gegeben haben. 1.

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Vorrang des europäischen Kartellrechts und autonome Anpassung des mitgliedstaatlichen Rechts

Europäisches und nationales Kartellrecht koexistieren seit jeher, ohne dass Akte des europäischen Gesetzgebers für eine Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechte gesorgt hätten. Dass es dennoch zu einer Anpassung der nationalen Kartellrechte an das Vorbild der europäischen Wettbewerbsordnung gekommen ist, hat seine Ursache in Anpassungszwängen, die durch die Bestimmung des Verhältnisses zwischen den beiden Kartellrechtsebenen bedingt sind:

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Die europäischen Wettbewerbsregeln genießen, soweit ihr Anwendungsbereich reicht, Vorrang gegenüber dem nationalen Kartellrecht. In der wegweisenden Entscheidung Walt Wilhelm57 aus dem Jahre 1969 hat der EuGH dieses Rangverhältnis im Sinne eines Anwendungsvorrangs des Unionsrechts interpretiert (sog. modifizierte Zweischrankentheorie). Manches Rätsel, das dieses Urteil aufgibt,58 ist mittlerweile durch

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55 I.E. ebenfalls kritisch zur Reduzierung der Kontrolldichte Fuchs, ZWeR 2005, 1, 21; Koch, ZWeR 2005, 380, 395; etwas zurückhaltender Bailey, CMLR 41 (2004), 1327, 1360. 56 Vgl. Leible/Domröse, in diesem Band, § 9; W.-H. Roth, ebd. § 14; Habersack/Mayer, ebd. § 15. 57 EuGH v. 13.2.1969 – Rs. 14/68 Walt Wilhelm ./. Bundeskartellamt, Slg. 1969, 1 Rn. 3 ff. 58 Es fehlte in Anbetracht der als ungenügend empfundenen richterrechtlichen Vorrangregel vor Verabschiedung der VO 1/2003 nicht an Versuchen des Schrifttums, ein effektiveres Regime zu begründen; vgl. etwa Walz, Der Vorrang des europäischen vor dem nationalen Kartellrecht (1994); Jung, Subsidiarität im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen (1995). Thomas Ackermann

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3. Teil: Besonderer Teil

sekundärrechtliche Regelungen auf der Grundlage von Art. 103 Abs. 2 lit. e AEUV/83 Abs. 2 lit. e EG gelöst worden. Zum einen schließt Art. 21 Abs. 3 FKVO die Anwendung nationalen Wettbewerbsrechts auf die von der Verordnung erfassten Zusammenschlüsse von unionsweiter Bedeutung grundsätzlich aus. Zum anderen schränkt Art. 3 VO 1/2003 den Anwendungsspielraum für nationales Recht im Bereich der von Art. 101 AEUV/81 EG erfassten Sachverhalte erheblich ein: Soweit eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung geeignet ist, den zwischenstaatlichen Handel in der Union zu beeinträchtigen, und daher unter Art. 101 Abs. 1 AEUV/81 Abs. 1 EG fällt, kommt die Anwendung strengeren nationalen Rechts nicht in Betracht. Oberhalb der Schwelle der Zwischenstaatlichkeitsklausel bleibt damit im Wesentlichen nur noch bei der Beurteilung einseitiger missbräuchlicher Verhaltensweisen (also im Bereich des Art. 102 AEUV/82 EG) Raum für eigene Wertungen des nationalen Kartellrechts. Etwas vergröbernd kann man also festhalten: „Große“ Fälle im Bereich der Fusionskontrolle und des Kartellverbots werden nur nach EG-Recht beurteilt, „kleine“ nur nach nationalem Recht.

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Diese Vorrangregelung hat die mitgliedstaatlichen und namentlich den deutschen Gesetzgeber unter erheblichen Anpassungsdruck gesetzt. Zwar mag strengeres nationales Kartellrecht unterhalb der Eingriffsschwellen der EU-Wettbewerbsregeln europa- wie auch verfassungsrechtlich zulässig sein,59 aber ein solches Wertungsgefälle zwischen europäischem und nationalem Recht wäre niemandem verständlich zu machen. Darüber hinaus führen jegliche Abweichungen des nationalen vom europäischen Kartellrecht zumindest im Bereich des Art. 101 AEUV/81 EG zu erheblicher Rechtsunsicherheit, weil in Anbetracht der in mancherlei Hinsicht unklaren Reichweite der Zwischenstaatlichkeitsklausel oft unsicher ist, ob nationales oder europäisches Recht Anwendung findet. Eine autonome Anpassung der nationalen Wettbewerbsregeln an das europäische Vorbild war deshalb spätestens seit Verabschiedung der VO 1/2003 rechtspolitisch geradezu unumgänglich. Der deutsche Gesetzgeber hat sich dieser Einsicht nicht verschlossen und, nachdem bereits die 6. GWB-Novelle 1998 erste Schritte in diese Richtung gemacht hatte, mit der am 1. Juli 2005 in Kraft getretenen 7. GWB-Novelle v.a. eine sehr weitreichende Angleichung der deutschen Regelung wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen an das Regime des Art. 101 AEUV/81 EG vollzogen.60 In methodischer Hinsicht sind zwei Aspekte dieses autonomen Angleichungsakts von besonderem Interesse: die europarechtsorientierte Auslegung der an das EU-Recht angepassten Normen des GWB und die vom Gesetzgeber in § 2 Abs. 2 GWB ausgesprochene dynamische Verweisung auf europäisches

59 Zum Fehlen einer – von Steindorff, in: FIW (Hrsg.), Schwerpunkte des Kartellrechts 1986/87, S. 27, 35 ff., befürworteten – europarechtlichen Pflicht zur Anpassung des mitgliedstaatlichen Kartellrechts Ackermann, in: Weber u.a. (Hrsg.), Europäisierung des Privatrechts – Zwischenbilanz und Perspektiven, JbJZ 1997, S. 203, 210 ff. – Zur Nichtanwendbarkeit von Art. 3 Abs. 1 GG als Grundlage einer Anpassungspflicht mit Blick auf Unterschiede zwischen deutscher und europäischer Fusionskontrolle K. Westermann, Die Einwirkungen der europäischen auf die deutsche Fusionskontrolle (1996), S. 74 ff. 60 Eine informative Darstellung der 7. GWB-Novelle bieten Becker/Hossenfelder, Einführung in das neue Kartellrecht (2006), S. 1 ff.

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Sekundärrecht, nämlich auf die zu Art. 101 Abs. 3 AEUV/81 Abs. 3 EG ergangenen Gruppenfreistellungsverordnungen. 2.

Die europarechtsorientierte Auslegung des deutschen Kartellrechts

Die novellierten §§ 1 und 2 Abs. 1 GWB übernehmen Art. 101 Abs. 1 und Abs. 3 AEUV/81 Abs. 1 und Abs. 3 EG mit Ausnahme der Zwischenstaatlichkeitsklausel im Wortlaut. Damit ist das normative Fundament für einen dies- und jenseits der europarechtlichen Anwendungsschwelle einheitlichen Schutz vor kooperativen Wettbewerbsbeschränkungen gelegt. Anders als etwa der italienische und der britische Gesetzgeber61 hat der deutsche Gesetzgeber sich freilich nicht dazu durchringen können, so wie ursprünglich von der Bundesregierung geplant,62 die Auslegung dieser (und anderer) an das EU-Recht angelehnter Normen des GWB in Übereinstimmung mit den Grundsätzen des europäischen Wettbewerbsrechts gesetzlich vorzugeben. Gleichwohl führt – nicht anders als in den Konstellationen überschießender Richtlinienumsetzung – die Auslegung der angeglichenen GWB-Normen zur Orientierung am europarechtlichen Vorbild, was – wiederum nicht anders als bei der überschießenden Richtlinienumsetzung – die Frage nach der Möglichkeit einer Anrufung des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren hervorruft.63 a)

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Europarechtsorientierung als Resultat der Auslegung angeglichener GWB-Normen

Die Anwender der angeglichenen GWB-Normen sind zunächst nicht ohne Weiteres kraft Unionsrechts verpflichtet, bei der Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale stets zu Ergebnissen zu gelangen, die mit der Handhabung der europarechtlichen Vorbilder durch den EuGH, das EuG und die Kommission übereinstimmen. Der Vorrang des EU-Kartellrechts kommt hier nicht zum Tragen, da dieser – in Gestalt der unmittelbaren Normierung des Rangverhältnisses in Art. 3 VO 1/2003 (die eine deklaratorische Regelung in § 22 GWB wiederholt) – nur eine im Ergebnis abweichende Handhabung der angeglichenen Normen oberhalb der Zwischenstaatlichkeitsschwelle verbietet. Ebensowenig droht eine vom Verständnis gleichlautender europarechtlicher Begriffe abweichende Interpretation der im GWB verwendeten Begriffe die Auslegung des Europarechts so zu beeinflussen, dass dessen Wirksamkeit in Frage gestellt sein könnte.64 Allerdings mag man mit Blick auf die mit § 2 Abs. 2 S. 1 GWB ausgesprochene Verweisung auf EU-Recht an einen (auch) im Unionsrecht gründenden Gleichlauf der Auslegung denken.

61 Vgl. Art. 1 Abs. 4 legge antitrust Nr. 287 v. 10.10.1990 und sec. 60 Competition Act 1998. 62 Vgl. § 23 RegE und dazu BT-Drucks. 15/3640, S. 47. 63 Zur überschießenden Umsetzung von Richtlinien Habersack/Mayer, in diesem Band, § 15 Rn. 37 ff. und 49 ff. 64 Für eine ausführliche Diskussion der Erheblichkeit dieser Überlegung im Zusammenhang mit der überschießenden Richtlinienumsetzung vgl. Habersack/Mayer, in diesem Band, § 15 Rn. 26 ff., sowie Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, 2006, S. 107 ff.

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Unabhängig von einer unionsrechtlichen Verpflichtung bleibt die Möglichkeit, die Ausrichtung am europäischen Vorbild aus Gründen des nationalen Rechts herzuleiten, und zwar, weil es an einer gesetzlichen Anordnung fehlt, im Wege der Interpretation der autonom angeglichenen Normen. Die Übereinstimmung mit dem Wortlaut der entsprechenden EU-Regeln und das gesetzgeberische Anliegen, das deutsche Kartellrecht mit dieser Angleichung auch in der Sache an der europarechtlichen Bewertung wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen und sonstiger Koordinierungsformen auszurichten, lassen die Europarechtsorientierung unabweisbar erscheinen. Dies wird bestätigt durch die Begründung, mit der der Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren die letztlich im Vermittlungsausschuss vorgenommene Streichung der gesetzlichen Auslegungsregel zu Gunsten des Europarechts forderte: Die Auslegung im Lichte der europäischen Regeln sei eine „methodische Selbstverständlichkeit“65. Auch der BGH legt diese Prämisse mittlerweile seiner Rechtsprechung zu § 1 GWB zugrunde.66 Dem ist an dieser Stelle nichts hinzuzufügen.67 b)

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Vorlagemöglichkeit?

Zu klären bleibt, ob der EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens angerufen werden kann, wenn die europarechtsorientierte Auslegung der §§ 1 und 2 Abs. 1 GWB in Frage steht. Hier gelangt man in das Fahrwasser einer mittlerweile sattsam bekannten68 EuGH-Rechtsprechung, zu der einerseits eine Reihe von Urteilen gehört, in denen der Gerichtshof Vorlagefragen beantwortete, die sich im Zusammenhang einer autonomen Anknüpfung nationalen Rechts an EU-Recht stellten69, andererseits aber auch die Entscheidung Kleinwort Benson, in der der EuGH seine Zuständigkeit ablehnte, als der englische Court of Appeal eine Auslegung des EuGVÜ erbat, die

65 BT-Drs. 15/3640, S. 75. Bei der Auslegung des GWB in der Fassung der 7. Novelle wird die Orientierung am Europarecht nunmehr auch in der Praxis- und Ausbildungsliteratur zur Kenntnis genommen, vgl. Becker/Hossenfelder, Einführung in das neue Kartellrecht (2006), S. 14 („kein Auseinanderklaffen bei der Anwendung der §§ 1, 2 GWB und des Art. 81 EG zu erwarten“); Kapp, Kartellrecht in der Unternehmenspraxis (2005), S. 34 („nur noch wenig Raum für eine anderweitige Behandlung“); zurückhaltender Langen/Bunte-Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht Bd. 1 (10. Aufl. 2006), Einführung zum GWB Rn. 60 („Abwägungsgesichtspunkt“). 66 BGH, WuW/E DE-R 2554 Rn. 17 – Subunternehmervertrag II. 67 Die inhaltlichen Konsequenzen aus dieser methodischen Einsicht sind dagegen nicht selbstverständlich. Bereits für das GWB in der Fassung der 6. Novelle hat Schanze, Die europaorientierte Auslegung des Kartellverbots (2003), eine Durchführung dieses Gedankens unternommen. 68 Dazu bereits Ackermann, in: Weber u.a. (Hrsg.): Europäisierung des Privatrechts – Zwischenbilanz und Perspektiven, JbJZ 1997, S. 203, 223; Drexl, FS Heldrich (2005), S. 67, 78 ff., Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht (2006), S. 173 ff., sowie Habersack/Mayer, in diesem Band, § 15 Rn. 49 ff. 69 EuGH v. 18.10.1990 – verb. Rs. C-297/88 und C-197/89 Dzodzi, Slg. 1990, I-3763 Rn. 33 f.; EuGH v. 8.11.1990 – Rs. C-231/89 Gmurzynska-Bscher, Slg. 1990, I-4003 Rn. 18 f.; EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4291 Rn. 24 f.; EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161 Rn. 25.

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er zur Abgrenzung einer englisch-schottischen Zuständigkeitsregelung nach dem Vorbild des EuGVÜ heranziehen wollte 70. Im Bereich des Kartellrechts hat der EuGH jedenfalls ein Vorabentscheidungsersuchen für zulässig erklärt, das sich auf ein durch ausdrückliche gesetzgeberische Anordnung an die europäischen Vorgaben gebundenes nationales Kartellrecht bezog.71 Nimmt man die §§ 1 und 2 Abs. 1 GWB in den Blick, so ist die Ähnlichkeit zu der Konstellation in Kleinwort Benson unverkennbar: Es handelt sich um Normen, die dem Art. 101 AEUV/81 EG nachgebildet wurden und deren Auslegung nur im Sinne einer „methodischen Selbstverständlichkeit“, aber nicht durch rechtlich zwingende Vorgaben an diesem Vorbild ausgerichtet wird. Der vom EuGH zur Begründung seiner Unzuständigkeit angeführte Gesichtspunkt, dass das vorlegende Gericht frei entscheiden konnte, ob es die Auslegung des EuGVÜ für das nationale Recht übernehmen wollte, so dass sich der Gerichtshof in die Rolle einer beratenden Institution gedrängt sah, könnte auch hier zum Tragen kommen. Aber abgesehen davon, dass die restriktive Haltung in Kleinwort Benson möglicherweise rechtlich nicht überzeugt,72 darf man aus einem anderen Grund hoffen, dass der EuGH Mittel und Wege finden wird, der europaorientierten Auslegung der §§ 1 und 2 Abs. 1 GWB seine Unterstützung im Vorabentscheidungsverfahren zu geben: Das Rechtsproblem, das der Court of Appeal in Kleinwort Benson mit Hilfe des EuGH lösen wollte, war integrationspolitisch irrelevant. Es scheint aber schwer vorstellbar, dass der Gerichtshof nicht einem nationalen Richter die Hand reichen würde, der sich bemüht, das Gebäude der europäischen Wettbewerbsordnung mit den Bausteinen des nationalen Kartellrechts zu vervollständigen. 3.

Dynamische Verweisung auf Sekundärrecht

Ein gesetzgebungstechnisches Novum im GWB stellt schließlich die dynamische Verweisung auf europäisches Sekundärrecht dar. § 2 Abs. 2 S. 1 GWB erklärt die europäischen Gruppenfreistellungsverordnungen in ihrer jeweils geltenden Fassung für entsprechend anwendbar, und zwar, wie S. 2 hinzufügt, „auch, soweit die dort genannten Vereinbarungen, Beschlüsse und Verhaltensweisen nicht geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft zu beeinträchtigen“. Die Formulierung ist irreführend: Weil Gruppenfreistellungsverordnungen oberhalb der Zwischenstaatlichkeitsschwelle ohnehin unmittelbar anwendbar sind, hat nur die Anordnung der entsprechenden Anwendbarkeit unterhalb der Zwischenstaatlichkeitsschwelle einen eigenständigen Gehalt. In methodischer Hinsicht wirft diese Verweisung Fragen auf: 73 Zu welchen Anpassungen an den nationalen Kontext ist der Rechtsanwender befugt, der über § 2 Abs. 2 GWB zur „entsprechenden“ Anwendbarkeit einer Gruppenfreistellung gelangt? Teilt sich die konstitutive

70 71 72 73

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EuGH v. 28.3.1995 – Rs. C-343/93 Kleinwort Benson, Slg. 1995, I-615 Rn. 22 ff. EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-280/06 ETI, Slg. 2007, I-10893 Rn. 23 ff. Kritisch Drexl, in: Europäisierung des Handels- und Wirtschaftsrechts, S. 223, 246. Zur hier nicht erörterten Verfassungsmäßigkeit (bejahend) Ehricke/Blask, JZ 2003, 722 ff.

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3. Teil: Besonderer Teil

(nämlich „abschirmende“) Bedeutung, welche die Gruppenfreistellungen im europäischen Recht haben,74 über die Verweisung auch dem deutschen Recht mit? Werden deutsche Gerichte die Möglichkeit haben, Auslegungsfragen, die sich im Zusammenhang mit einer im streitigen Fall nicht unmittelbar, sondern nur kraft Verweisung entsprechend anwendbaren Gruppenfreistellung ergeben, dem EuGH vorzulegen? Während die letzte Frage gewiss bejahen muss, wer schon die Zulässigkeit von Vorlagen aus dem Bereich der §§ 1 und 2 Abs. 1 GWB befürwortet, bieten die beiden ersten Fragen Schwierigkeiten, die über eine einführende Behandlung methodenrelevanter Fragen des Kartellrechts hinausgehen75. Sie mögen als Beleg für die Fähigkeit des Kartellrechtsgesetzgebers auf deutscher wie auf europäischer Ebene stehen, die Rechtsanwender immer wieder mit neuen technischen Finessen zu erfreuen.

74 Dazu schon oben Fn. 12. 75 Vgl. für eine Stellungnahme Langen/Bunte-Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Bd. 1 (10. Aufl. 2006), § 2 Rn. 68 ff. und Rn. 76 f.

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Abschnitt 2 Methodenfragen in der Rechtsprechung § 22 Die Rechtsprechung des EuGH Rüdiger Stotz *

Übersicht . . . . . . . . .

Rn. 2–9

II. Die Auslegung nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10–12

III. Die Auslegung des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Auslegungskanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Auslegung“ durch den Gerichtshof und „Anwendung“ durch das nationale Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unionsrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13–39b 13–19c 20–29a 30–39b

IV. Die Bedeutung von Präjudizien

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40–42a

V. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

I. Die Herausforderung – Über Heterogenität zur Einheitlichkeit

Der Fokus der nachfolgenden Abhandlung zu Methodenfragen liegt auf der Rechtsprechung des EuGH. Alle Beiträge dieses Handbuchs haben sich aus dem Blickwinkel ihrer jeweiligen Themenstellungen mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs auseinandergesetzt. Im Folgenden sollen aus einer generellen Perspektive die Schwerpunkte dort gesetzt werden, wo die Rechtsprechung zur Auslegungsthematik noch in der Entwicklung begriffen ist bzw. sich aktuelle Fragen stellen. Dazu ist zunächst an bestimmte externe Faktoren zu erinnern, die auf die Methodik des Gerichtshofs Einfluss haben. Sodann wird die Auslegungsthematik im engeren Sinne behandelt und dabei insbesondere die Aufgabenverteilung zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten sowie die Problematik der richtlinienkonformen Auslegung näher untersucht. Abschließend werden einige Hinweise zum Wert von Präjudizien in der Rechtsprechung des EuGH gegeben.

* Herzlicher Dank gebührt Frau Dr. Petra Sˇ kvarˇilová-Pelzl, Verwaltungsrätin im Wissenschaftlichen Dienst des Gerichtshofs der Europäischen Union, für die wertvolle Hilfe bei der Erstellung der zweiten Auflage.

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1

3. Teil: Besonderer Teil

I.

Die Herausforderung – Über Heterogenität zur Einheitlichkeit

2

Vorab ist auf einige Faktoren hinzuweisen, die die Schwierigkeiten verdeutlichen, unter denen der Gerichtshof seine Aufgabe wahrnimmt und die unmittelbaren Einfluss auf die Methode haben.

3

Zunächst zum Akteur: Die personelle Heterogenität der Mitglieder des EuGH – er ist mit Persönlichkeiten besetzt, die vor ihrer Berufung in unterschiedlichen Bereichen als Richter, Hochschullehrer, Politiker, oberste Verwaltungsbeamte, Rechtsanwälte oder in vergleichbar herausgehobenen Positionen tätig waren – ist als solche nicht singulär. Eine solche Besetzung kennzeichnet, im Unterschied zu den regelmäßig homogen, d.h. mit spezialisierten Berufsrichtern besetzten obersten nationalen Fachgerichten, regelmäßig auch nationale Verfassungsgerichte. Die Heterogenität wird im Fall des Gerichtshofs aber dadurch signifikant verstärkt, dass die Richter und Generalanwälte in 27 unterschiedlichen Rechtskulturen beheimatet sind. Ulrich Everling, von 1980 bis 1988 Richter am Gerichtshof und bis heute unermüdlicher Mittler des europäischen Rechts, hebt diesen Umstand stets besonders hervor. Er weist darauf hin, dass die Mitglieder des Gerichtshofs ihre jeweiligen Traditionen, Grundvorstellungen, Wertungen und materiellen wie formellen Eigenheiten in die gemeinsame Willensbildung mit einbringen und sich aus den individuellen Beiträgen dieser unterschiedlichen Persönlichkeiten das vom Gerichtshof gesprochene Recht formt.1

4

Je mehr Europa politisch, rechtlich und kulturell zusammenwächst und sich vor allem die juristische Ausbildung noch stärker europäisch vernetzt, desto weniger markant mögen diese Unterschiede zukünftig sein. Gegenwärtig stellt diese heterogene Zusammensetzung für den Gerichtshof jedoch eine besondere Herausforderung dar. Denn ihm obliegen nicht lediglich verfassungsgerichtliche Aufgaben, d.h. die Kontrolle der Vertragskonformität sekundärrechtlicher und nationaler Maßnahmen, sondern er nimmt gerade bei der Auslegung des sekundären Unionsrechts regelmäßig auch eine fachgerichtliche Funktion ein, die mittlerweile einen denkbar weiten Rechtsbereich umfasst. Nicht nur wächst der Bestand sekundärrechtlicher Normen stetig an und erobert bislang rein national geregelte Bereiche – das Privatrecht und das Strafrecht sind hierfür das beste Beispiel. Auch die Komplexität der geregelten Materien nimmt stark zu – man denke nur an die Regelungen im Bereich des europäischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrechts.2 In den vergangenen Jahren ist dies von den gesetzgebenden Organen als Problem erkannt worden. Unter den Stichworten „Bessere Rechtsetzung“, „Folgenabschätzung“ und „Rechtsvereinfachung“ wurden neue Initiativen im Vorfeld der Rechtsetzung ergriffen, um die Qualität der Gesetzgebung gerade im Hinblick auf deren Auswirkung nachhaltig zu stärken.3 In

1 Everling, JZ 2000, 217, 222. 2 Vgl. z.B. die Maßnahmen zur Sicherung der Finanzmarktstabilität im Zuge der Wirtschaftsund Finanzkrise von Oktober 2008. 3 Grundlegend Ratsdokument 7797/05 v. 5.4.2005, Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament „Bessere Rechtsetzung für Wachstum und Arbeitsplätze in der Europäischen Union“; ferner Ratsdokument 13976/05 v. 3.11.2005, Mitteilung der Kom-

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die Rechtssetzungspraxis haben diese Maßnahmen mittlerweile flächendeckend Eingang gefunden und sich positiv auf Qualität und Umfang der europäischen Gesetzgebung ausgewirkt. Dennoch gestaltet sich die Konsensfindung in einem Rat von 27 Mitgliedstaaten bei voller Mitwirkung des Europäischen Parlaments extrem schwierig und führt mitunter dazu, dass strittige Punkte im Text der Rechtsakte nicht geklärt, sondern im claire obscure gelassen werden, um nach langen und kontroversen Verhandlungen die Verabschiedung zu ermöglichen und der Ratspräsidentschaft den angestrebten Erfolg zu verschaffen. Es ist politische Realität, dass in der letzten Verhandlungsphase rechtsdogmatische und -systematische Erwägungen, denen bis dahin nicht Rechnung getragen wurde – entsprechenden Empfehlungen der Juristischen Dienste von Rat und Kommission wird insoweit durchaus nicht immer gefolgt –, einen erreichten Kompromiss nicht mehr in Frage stellen dürfen („Wir gewinnen hier keinen Schönheitspreis“). Die Folgen einer solchen Verfahrensweise zeigen sich, wenn die Rechtsakte von den nationalen Gesetzgebern umgesetzt, den Verwaltungen angewandt und letztlich den Gerichten ausgelegt werden. Der Gerichtshof muss sich dann mit Fragen auseinandersetzen, die im Gesetzgebungsprozess bewusst oder unbewusst offengeblieben sind und möglicherweise sogar widersprüchlich geregelt wurden. Sicherlich ist mangelhafte Qualität der Rechtsetzung kein typisch europäisches Phänomen, sondern hinlänglich aus dem nationalen Bereich bekannt. Auf europäischer Ebene potenzieren sich aber die Probleme, die damit einhergehen. Der Gerichtshof, dem es in letzter Instanz zufällt, eine in sich schlüssige und verbindliche Auslegung zu geben, muss bei der Wahrnehmung seiner Aufgabe nicht nur der begrenzten Verbandskompetenz der Union, die auch für ihn gilt, Rechnung tragen sowie die Prärogativen des europäischen Gesetzgebers respektieren. Er muss auch und vor allem das ihm unterbreitete Rechtsproblem einer sachgerechten Lösung zuführen und dies mit Richtern, die aufgrund ihrer Herkunft, Ausbildung und beruflichen Erfahrung ganz unterschiedlichen Ansätzen folgen. Dabei kommt ein Wertungselement ins Spiel, das Axel Flessner 4 trefflich als „Gedanken der Mäßigung und der Bescheidung“ identifiziert hat. „[Dieser muss] in der Union herrschen […], sollen alle gegensätzlichen nationalen und rechtskulturellen Interessen unter ihrem Dach ein Auskommen finden. Es darf nicht übertrieben oder auch nur bis ans logische Ende getrieben werden.

mission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen „Umsetzung des Lissabon-Programms der Gemeinschaft: Eine Strategie zur Vereinfachung des ordnungspolitischen Umfelds“; Ratsdokument 14531/05 v. 23.11.2005, Bessere Rechtsetzung – Schlussfolgerungen des Rates; Ratsdokument 14901/05 v. 24.11.2005, Bessere Rechtsetzung: Gemeinsames Interinstitutionelles Konzept für die Folgenabschätzung – Annahme; Ratsdokumente 15510/06 v. 22.11.2006, 9491/08 v. 16.5.2008, 5791/09 v. 30.1.2009 und 5791/09 ADD1 v. 2.2.09, Mitteilungen der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Erste, Zweite und Dritte Strategische Überlegungen zur Verbesserung der Rechtsetzung in der Europäischen Union; sowie Ratsdokument 7048/09 v. 18.3.2009, Schlussfolgerungen des Rates zur Verringerung des Verwaltungsaufwands. 4 Flessner, JZ 2002, 14, 20.

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3. Teil: Besonderer Teil

Dieser Gedanke herrscht offenbar und muss herrschen bei der Schaffung von Normen und er wird (und darf) auch herrschen bei ihrer Anwendung, d.h. faktisch: unter den Mitgliedern des EuGH.“

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Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass der Gerichtshof jedem Versuch energisch widersteht, instrumentalisiert zu werden. Dies bedeutet in erster Linie, dass Mitgliedstaaten, denen es nicht gelungen ist, ihren Standpunkt in den Verhandlungen in Brüssel durchzusetzen, regelmäßig nicht darauf hoffen dürfen, diesen nachträglich in Luxemburg anerkannt zu bekommen. Aber auch subtileren Formen der Instrumentalisierung, selbst wenn sie unbewusst erfolgen, erteilt der Gerichtshof eine Absage. Diese bestehen darin, das Unionsrecht ausschließlich oder vorwiegend aus dem Blickwinkel des vertrauten nationalen Rechts zu betrachten. Es gehört zu den alltäglichen Erfahrungen des Gerichtshofs, dass Prozessparteien immer wieder wie selbstverständlich davon ausgehen, dass europäische Normen denselben Bedeutungsgehalt haben wie entsprechende nationale Bestimmungen oder dass sie sich erkennbar länderspezifisch geprägter Argumentationsmuster bedienen. Bei den Richtern und Generalanwälten verfängt ein solcher Vortrag in der Regel schon allein deshalb nicht, weil diese mit den nationalen Vergleichsparametern nicht hinreichend vertraut sind. Ein solch einseitiger Vortrag kann daher nicht überzeugen. Nicht nur methodisch, sondern bereits rein faktisch besteht daher zu einem autonomen, ggf. rechtsvergleichend unterstützten, Ansatz bei der Interpretation des europäischen Rechts keine Alternative.

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Dies alles ist weitgehend bekannt, wird aber in der Praxis immer noch nicht hinreichend berücksichtigt. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand. Zwar ist die Kenntnis des europäischen Rechts im Vergleich zu früher mittlerweile stark gewachsen, in erster Linie dank einer wesentlich intensiveren universitären Ausbildung, der Blickwinkel bleibt aber dennoch oftmals interessengeleitet national. Fundierte rechtsvergleichende Analysen sind aufwendig und kostspielig. Von Rechtsanwaltskanzleien kleineren oder mittleren Zuschnitts sind sie per se kaum zu erwarten und selbst multinational operierende Kanzleien leisten dies nur in Ausnahmefällen. Allenfalls die Kommission ist hierzu in der Lage. Zwar bedarf es zur Lösung anhängiger Streitfragen in vielen Fällen nicht des Rechtsvergleichs im materiellrechtlichen Sinn, wenn etwa gemeinschaftliche Konzepte keiner unmittelbaren Ableitung aus dem nationalen Recht zugänglich sind.5 Auch dann ist aber der rechtsvergleichend geschulte Blick der Richter auf Wertung und Interessenausgleich im europäischen Kontext gerichtet und orientiert sich nicht an einseitigen nationalen Belangen. Die Bedeutung, die der Gerichtshof der Rechtsvergleichung beimisst, findet ihren Niederschlag in umfangreichen rechtsvergleichenden Analysen, die die Direktion Wissenschaftlicher Dienst und Dokumentation des Gerichtshofs in ausgewählten Verfahren zur gesamten Bandbreite europarechtlicher Fragen erstellt.

5 Edward, in: Carey Miller/Zimmermann (Hrsg.), The Civilian Tradition and Scots Law – Aberdeen Quincentenary Essays (1997), S. 310.

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§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH

Schließlich ist die Bedeutung des Parteivortrags für die Auslegung hervorzuheben. Bekanntlich prüft der Gerichtshof nach Klagegründen (moyens).6 Was nicht gerügt wird, sei es vom Kläger in Direktklagen oder vom nationalen Gericht im Verfahren der Gültigkeitsprüfung nach Art. 267 AEUV/234 EG,7 ist regelmäßig auch nicht Gegenstand der rechtlichen Überprüfung. Qualität und Aussagekraft des Urteils hängen deshalb entscheidend vom Parteivortrag ab und können, falls dieser mangelhaft ist, durch das Urteil nur bedingt aufgefangen werden. Daher empfiehlt es sich, ähnlich wie bei Urteilen amerikanischer Gerichte, nicht nur abstrakt die Urteilsgründe zu analysieren, sondern sie stets im Lichte von Sachverhalt und Parteivortrag zu lesen.

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Generell kann man feststellen, dass die Prozessparteien die Möglichkeiten, die Rechtsprechung des EuGH und des Gerichts erster Instanz durch fundierte Argumentation zu beeinflussen, in der Vergangenheit nicht immer optimal ausschöpft haben. Vor allem wurde versäumt, dem Gerichtshof die ökonomischen und administrativen Auswirkungen seiner Rechtsprechung vor Augen zu führen.8 In jüngerer Zeit haben die Mitgliedstaaten ihre Argumentation in dieser Hinsicht stärker substantiiert, wenn auch nicht immer mit Erfolg, wie insbesondere die Rechtsprechung auf dem Gebiet der Direktbesteuerung9 belegt. Adressat des Petitums, auch die wirtschaftlichen, finanziellen und administrativen Auswirkungen der Rechtsprechung in den Blick zu nehmen, sind aber nicht nur die Prozessparteien und vor allem die Kommission, die in allen Vorabentscheidungsverfahren interveniert. Auch der europäische Gesetzgeber ist hier insoweit angesprochen, als er die Begründungserwägungen seiner Rechtsakte entsprechend ausrichten und damit nicht zuletzt dem Gerichtshof wesentliche Begründungselemente an die Hand geben muss. In dieser Hinsicht ist zu hoffen, dass die der europäischen Gesetzgebung seit Einführung des Konzepts der Besseren Rechtsetzung zugrundeliegende Folgenabschätzung10 auch in der Rechtsprechung ihre Würdigung findet.

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6 Vgl. Art. 21 EuGH-Satzung. 7 Vgl. EuGH v. 11.11.1997 – Rs. C-408/95 Eurotunnel, Slg. 1997, I-6315 Rn. 34, i.E. Stotz, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen Umweltrecht, Bd. 1 (2. Aufl. 2003), § 45 Rn. 201. 8 Vgl. Schwarze, NJW 2005, 3459, 3464 f., der eine gesteigerte Sensibilität des EuGH auch für die finanziellen Folgen seiner Rechtsprechung anmahnt. 9 Vgl. EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C-446/04 Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 221-225; EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 32–41; EuGH v. 13.3.2007 – Rs. C-524/04 Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107 Rn. 129-133. Die betroffenen Mitgliedstaaten haben auf die schwerwiegenden finanziellen Folgen der erwarteten Urteile für den Fiskus hingewiesen und diese als Grund für einen Antrag auf zeitliche Begrenzung der Wirkungen der Urteile geltend gemacht. 10 S.o. Rn. 4.

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3. Teil: Besonderer Teil

II.

Die Auslegung nationalen Rechts

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Wendet man sich der Auslegung im engeren Sinn zu, so ist zunächst daran zu erinnern, dass der Gerichtshof nicht nur Unionsrecht, sondern in bestimmten Fallkonstellationen auch unmittelbar nationales Recht auslegt bzw. anwendet. Der bekannteste Fall ist die Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV/226 EG,11 bei der der Gerichtshof in einem streitigen Verfahren über die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Unionsrecht befindet. Die Aufgabe, den Sinngehalt des nationalen Rechts zu ermitteln, wird ihm dadurch erleichtert, dass der betroffene Mitgliedstaat an dem Verfahren als Partei beteiligt ist und seine streitige Regelung erläutern und rechtfertigen kann und dass es letztlich der Kommission obliegt, den Beweis der Unionsrechtswidrigkeit zu erbringen. Unklarheiten des nationalen Rechts gehen allerdings zu Lasten des Mitgliedstaats. Der Gerichtshof kehrt in diesen Fällen die Beweislast um.

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Wesentlich größere Probleme stellen sich in dem – allerdings seltenen – Fall, dass die Zuständigkeit des Gerichtshofs auf der Schiedsklausel eines privatrechtlichen Vertrags zwischen der Kommission und einem Unternehmen nach Art. 272 AEUV/238 EG beruht, in dem die Geltung nationalen Rechts vereinbart ist und der Gerichtshof die Vertragsklauseln im Lichte des nationalen Rechts auslegen muss. Von der Kommission, die in diesem Verfahren als Partei auftritt, kann der Gerichtshof insoweit keine „neutrale“ Stellungnahme wie üblicherweise in den Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV/234 EG erwarten. Der Mitgliedstaat wiederum, dessen Recht dem Vertrag zugrunde liegt, tritt dem Rechtsstreit in aller Regel nicht bei. Der Gerichtshof ist deshalb in der Situation eines jeden nationalen Richters, der in einem Fall mit Auslandsberührung nach den Regeln des Internationalen Privatrechts ausländisches Recht anwenden muss und dabei naturgemäß größeren Risiken der Fehlinterpretation ausgesetzt ist als bei der Auslegung des ihm vertrauten Rechts.12

11 Entsprechendes gilt für die Staatenklage nach Art. 259 AEUV/227 EG. 12 Über eine solche Schiedsklausel, in der die Anwendung deutschen Rechts vereinbart war, war der Gerichtshof mit der Frage befasst, ob die Kündigung eines Vertrags, mit dem die Kommission ein Pilotvorhaben im Energiebereich finanziell gefördert hatte, rechtmäßig war und diese zur Rückforderung geleisteter Vorschüsse berechtigte, EuGH Urteil v. 17.2.2000 – Rs. C-156/97 Kommission ./. Van Balkom, Slg. 2000, I-1095. Von Anfang an war absehbar, dass eine sachgerechte Lösung des komplexen Falles nur über eine souveräne Auslegung des deutschen Zivilrechts ereicht werden konnte. Aus den Urteilsgründen geht hervor, dass der Gerichtshof letztlich den Grundsatz von Treu und Glauben nach den §§ 157 und 242 BGB bemüht hat, um die Kündigung des Vertrags durch die Kommission zu rechtfertigen. In den seltenen Fällen, in denen der Gerichtshof mit derartigen rein nationalen Rechtsfragen konfrontiert ist, nutzt deshalb der Präsident seine Befugnis, den Berichterstatter zu bestimmen (vgl. Art. 9 § 2 EuGH-VerfO), regelmäßig dazu, entweder unmittelbar den mit dem jeweiligen nationalen Recht vertrauten Richter zum Berichterstatter zu ernennen oder doch mit der Benennung eines anderen Berichterstatters zugleich sicherzustellen, dass der mit dem nationalen Recht vertraute Richter Mitglied der entscheidenden Formation wird und damit bestimmenden Einfluss auf die Rechtsfindung nehmen kann.

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§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH

III. Die Auslegung des Unionsrechts 1.

Der Auslegungskanon

Formal betrachtet folgt der Gerichtshof bei seiner Auslegung des Unionsrechts, wie nationale Gerichte auch, dem hinlänglich bekannten Kanon der Auslegungsmethoden. Dies gilt auch für das Europäische Privat- und Schuldvertragsrecht.13 Es gelten allerdings einige unionstypische Besonderheiten.

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Ausgangspunkt jeder rationalen Interpretation ist zunächst der Wortlaut.14 Bei divergierenden Sprachversionen eines auszulegenden Textes gibt der Gerichtshof zunächst den stereotypen Hinweis, grundsätzlich sei allen Sprachfassungen einer Unionsvorschrift der gleiche Wert beizumessen. Er folgert u.a. daraus, dass keine Unterschiede nach der Größe der Bevölkerung der Mitgliedstaaten gemacht werden können, die die betreffende Sprache gebraucht.15 Um die einheitliche Auslegung des Unionsrechts zu wahren, müsse dann, wenn die Sprachfassungen voneinander abweichen, die betreffende Vorschrift anhand von Sinn und Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört.16 Auch wenn die sprachliche Auslegung nicht divergiert, stützt sie der Gerichtshof bisweilen durch eine teleologische Interpretation ab.17 Eine Regel, wann dies der Fall ist, besteht nicht und hängt von den Umständen des Falles, nicht zuletzt vom individuellen Argumentationsstil des jeweiligen Berichterstatters ab. Die Arbeitssprachen, denen sich die Unionsorgane im Gesetzgebungsprozess ggf. bedienen, spielen dagegen, anders als in der Literatur bisweilen angenommen,18 keine Rolle bei der Lösung sprachlicher Divergenzen, weil dies die postulierte Gleichheit aller Sprachversionen gerade wieder in Frage stellen würde.

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13 Vgl. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529. 14 Vgl. EuGH v. 26.3.2009 – Rs. C-348/07 Semen, Slg. 2009, I-2341 Rn. 27–28; EuGH v. 1.10.2009 – Rs. C-247/08 Gaz de France – Berliner Investissement, (noch nicht in Slg.) Rn. 26. 15 Vgl. zuletzt EuGH v. 20.11.2003 – Rs. C-152/01 Kyocera, Slg. 2003, I-13821 Rn. 32 f. Siehe auch GA Trstenjak, SchlA v. 8.3.2007 – Rs. C-466/03 Albert Reiss Beteiligungsgesellschaft, Slg. 2007, I-5357 Tz. 62 und Fn. 32. 16 Vgl. EuGH v. 22.10.2009 – verb. Rs. C-261/08 und C-348/08 Zurita García, (noch nicht in Slg.) Rn. 54–47. In diesem Fall handelte es sich um die Ausweisung von zwei bolivianischen Staatsangehörigen, die sich illegal in Spanien aufhielten. Die spanische Fassung des Schengener Grenzkodex enthielt eine Verpflichtung, einen Drittstaatsangehörigen auszuweisen, der die im betreffenden Mitgliedstaat geltenden Voraussetzungen hinsichtlich der Aufenthaltsdauer nicht erfüllt. Aus dem Wortlaut aller anderen Sprachfassungen ging dagegen hervor, dass die Ausweisung eine Entscheidung darstellt, die den genannten Behörden freigestellt ist. Der Gerichtshof kam zu dem Ergebnis, dass der wirkliche Wille des Gesetzgebers nicht darauf gerichtet war, den betreffenden Mitgliedstaaten die Verpflichtung aufzuerlegen, einen Drittstaatsangehörigen, dem es nicht gelingt, die Vermutung einer Nichterfüllung der im betreffenden Mitgliedstaat geltenden Voraussetzungen hinsichtlich der Aufenthaltsdauer zu widerlegen, aus ihrem Hoheitsgebiet auszuweisen, sondern vielmehr darauf, ihnen diese Entscheidung zu überlassen. 17 Vgl. EuGH v. 11.6.2009 – Rs. C-542/07 P Imagination Technologies ./. OHMI, (noch nicht in Slg.) Rn. 43–44. 18 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 530 unter Hinweis auf Oppermann, Europarecht (2. Aufl. 1999), Rn. 683. S.a. Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 17.

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3. Teil: Besonderer Teil

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Die historische Auslegung, die sich auf Materialien bei der Genese der auszulegenden Bestimmungen stützt, kommt nur vergleichsweise selten zum Tragen.19 Diese Materialien werden zwar ggf. im Urteil bei der Schilderung der Entstehungsgeschichte des Rechtsstreits bzw. der Darstellung des rechtlichen Rahmens erwähnt, dienen aber sehr selten als eigentliches Begründungselement bei der rechtlichen „Wertung durch den Gerichtshof“.20 Die Zurückhaltung des Gerichtshofs in diesem Punkt ist nachvollziehbar, denn bei den bis zu ihrem Erlass regelmäßig höchst umstrittenen Unionsrechtsakten kann letztlich nur der im Amtsblatt veröffentlichte Text autoritativen Charakter beanspruchen. Nach ständiger Rechtsprechung können deshalb auch Erklärungen, selbst wenn sie von Rat und Kommission gemeinsam aus Anlass der Verabschiedung eines Rechtsakts zu Protokoll gegeben werden, nicht zu dessen Auslegung herangezogen werden, wenn ihr Inhalt in der fraglichen Bestimmung keinen Ausdruck gefunden hat.21

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Die systematische Auslegung, d.h. die Auslegung einer Vorschrift nach ihrer Stellung der Vorschrift im äußeren System des Rechtsakts, ist dagegen recht verbreitet und dient vor allem der Abrundung von textlicher und teleologischer Interpretation.22

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Die teleologische Auslegung, die nach Sinn und Zweck der Regelung fragt, gibt dem Urteil schließlich die notwendige inhaltliche Fundierung. Sie „trägt“ in aller Regel das Judikat. Die Erwägungen, die der Gerichtshof in diesem Zusammenhang anstellt, reichen von grundlegenden Erkenntnissen über Legitimation und Substanz der Unionsrechtsordnung bis hin zur Ermittlung des konkreten Sinngehalts einer einzelnen sekundärrechtlichen Vorschrift. Da der EG-Vertrag keine fertige Rechtsordnung geschaffen hat, liegt auch die Rechtsfortbildung im Spektrum der teleologischen

19 S. aber Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 30 ff. 20 Vgl. etwa den Hinweis im Urteil EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-336/03 easyCar, Slg. 2005, I-1947 Rn. 20, dass weder die Fernabsatzrichtlinie 97/7/EG noch „die für ihre Auslegung maßgebenden Dokumente, wie etwa die vorbereitenden Arbeiten, Aufschluss über die genaue Bedeutung des in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie genannten Begriffs Dienstleistungen [im Bereich] Beförderung“ geben. Siehe auch EuGH v. 23.2.2010 – Rs. C-310/08 Ibrahim, (noch nicht in Slg.) Rn. 47; EuGH v. 23.2.2010 – Rs. C-480/08 Teixeira, (noch nicht in Slg.) Rn. 58. 21 EuGH v. 26.2.1991 – Rs. C-292/89 Antonissen, Slg. 1991, I-745 Rn. 18; EuGH v. 29.5.1997 – Rs. C-329/95 VAG Sverige, Slg. 1997, I-2675 Rn. 23; EuGH v. 24.6.2004 – Rs. C-49/02 Heidelberger Bauchemie, Slg. 2004, I-6129 Rn. 17; EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685 Rn. 32; EuGH v. 22.10.2009 – Rs. C-242/08 Swiss Re Germany Holding, (noch nicht in Slg.) Rn. 62. Die Generalanwälte sind der historischen Auslegung nicht so verschlossen wie der Gerichtshof, wobei sie sich dieser des Öfteren in Bezug auf die 6. Mehrwertsteuerrichtlinie bedienen. Vgl. GA Trstenjak, SchlA v. 9.12.2008 – Rs. C-572/07 RLRE Tellmer Property, (noch nicht in Slg.) Tz. 58; GA Jacobs, SchlA v. 21.3.2002 – Rs. C-292/00 Davidoff, Slg. 2003, I-389 Tz. 34–35 (auf dem Gebiet des Markenrechts). 22 Vgl. EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-73/07 Satakunnan Markkinapörssi et Satamedia, Slg. 2008, I-9831 Rn. 51; EuGH v. 17.9.2009 – Rs. C-347/08 Vorarlberger Gebietskrankenkasse, (noch nicht in Slg.) Rn. 35.

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§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH

Auslegung.23 So zählt gerade die wegweisende Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Grundlagen der gemeinschaftlichen Rechtsordnung zum kommunitären Besitzstand. Dabei sollte nicht verkannt werden, dass der Gerichtshof nur maßvoll und mit Zurückhaltung das primäre Unionsrecht systemkonform fortentwickelt. Der Anteil rechtsfortbildender Judikate ist begrenzt und erstreckt sich von den Inkunabeln europäischer Rechtsprechung van Gend & Loos 24 und Costa/E.N.E.L.25 über die Rechtsprechung zur Geltung der Grundrechte bis hin zur Entwicklung des gemeinschaftlichen Staatshaftungssystems in Francovich26. In bestimmten Bereichen, so bei der Fortentwicklung des gemeinschaftlichen Rechtsschutzsystems, hat der Gerichtshof die Tür zur Rechtsfortbildung zunächst aufgestoßen,27 später aber wieder geschlossen und auf den Verfassungsgesetzgeber verwiesen.28 Ein Indiz dafür, dass der Gerichtshof in den Bereich der Rechtsfortbildung vorstößt, ist regelmäßig die sonst sehr spärliche kombinierte Zitierung der Urteile van Gend & Loos und Costa/E.N.E.L. Ein Beispiel hierfür ist das Urteil Courage,29 in dem der Gerichtshof begründet, dass ein Einzelner, auch wenn er selbst Partei eines wettbewerbsbeschränkenden Vertrags ist, berechtigt ist, sich auf die Nichtigkeit dieses Vertrages nach Art. 101 Abs. 2 AEUV/81 Abs. 2 EG zu berufen und Schadensersatz zu verlangen. Dass sich der Gerichtshof der teleologischen Auslegung bedient, lässt sich regelmäßig daran erkennen, dass er explizit die Frage nach der „praktischen“ oder „vollen Wirksamkeit“, dem „effet utile“, der zu interpretierenden Bestimmung aufwirft.30 Die Berufung auf das „effet utile“ hat dabei allerdings dieselbe Funktion wie die Ermittlung von „Sinn und Zweck“ („ratio“, „finalité“, „objectif“) einer Regelung.

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Auch eine dieser Rechtsordnung entsprechende Auslegungsregel hat die Rechtsprechung entwickelt. Danach verlangen es die einheitliche Anwendung des Unionsrechts

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23 Dies hat das Bundesverfassungsgericht in seinem eindrucksvollen Urteil Kloppenburg v. 8.4.1987 anerkannt, BVerfG 75, 223. Im Urteil v. 30.6.2009 zum Vertrag von Lissabon hat das BVerfG allerdings Grenzen einer Auslegung aufgezeigt, die sich nicht mehr an der im Völkervertragsrecht geltenden effet-utile-Regel orientiert, sondern den im Primärrecht vorgegebenen Rahmen überschreitet, BVerfGE 123, 267 Rn. 237–243. Eingehend zur Rechtsfortbildung Neuner, in diesem Band, § 13. 24 EuGH v. 7.3.1985 – Rs. 32/84 Van Gend & Loos, Slg. 1985, 779. 25 EuGH v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1253. 26 EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich u.a., Slg. 1991, I-5357. 27 EuGH v. 23.4.1986 – Rs. C-294/83 Les Verts ./. Parlament, Slg. 1986, 1339 und EuGH v. 22.5.1990 – Rs. 70/88 Parlament ./. Rat, Slg. 1990, I-2041 – Tschernobyl. 28 EuGH v. 25.7.2002 – Rs. C-50/00 Unión de Pequeños Agricultores ./. Rat, Slg. 2002, I-6677 Rn. 41 und EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-263/02 Kommission ./. Jégo-Quéré, Slg. 2004, I-3425 Rn. 31; EuGH v. 10.9.2009 – verb. Rs. C-445/07 P und C-455/07 P Kommission ./. Ente per le Ville vesuviane, (noch nicht in Slg.) Rn. 29. Siehe aber auch EuGH v. 13.3.2007 – Rs. C-432/05 Unibet, Slg. 2007, I-2271 Rn. 42. 29 EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-453/99 Courage und Crehan, Slg. 2001, I-6297 Rn. 19. 30 Vgl. EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-263/08 Djurgården-Lilla Värtans Miljöskyddsförening, (noch nicht in Slg.) Rn. 45; oder auch das den Grundsatz der Rechtskraft durchbrechende Urteil v. 18.7.2007 – Rs. C-119/05 Lucchini, Slg. 2007, I-6199 Rn. 61; gelegentlich ist auch nur von der Wirksamkeit, der „effectivité“, die Rede, vgl. EuGH v. 11.6.2009, C-429/07 X BV, (noch nicht in Slg.) Rn. 36–39.

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3. Teil: Besonderer Teil

und der Gleichheitsgrundsatz, die Begriffe einer Vorschrift des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union autonom und einheitlich auszulegen.31

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Handelt es sich um eine Norm des sekundären Unionsrechts, so greift der Gerichtshof zur Interpretation regelmäßig auf die Begründungserwägungen des Rechtsakts zurück.32 Vielfach stellt dieser notwendige Vorspann zum verfügenden Teil der Regelung (Art. 296 AEUV/253 EG) die wichtigste Orientierung für deren Zielsetzung und Sinngehalt dar.33 Ein allzu unkritischer Umgang mit den Begründungserwägungen ist jedoch nicht angezeigt. Zu Recht hat der Gerichtshof darauf verwiesen, dass die Begründungserwägungen eines Rechtsakts der Union rechtlich nicht verbindlich sind und weder zur Rechtfertigung einer Abweichung von den Bestimmungen des betreffenden Rechtsaktes angeführt werden können34 noch zur Auslegung dieser Bestimmungen in einem Sinn, der ihrem Wortlaut offensichtlich widerspricht, herangezogen werden können.35 Aber selbst dann, wenn kein offensichtlicher Widerspruch zwischen dem Text des Rechtsakts und den Begründungserwägungen vorliegt, ist zu berücksichtigen, das letztere nach ständiger Rechtsprechung nur die „Überlegungen des Gemeinschaftsorgans, das den Rechtsakt erlassen hat, […] zum Ausdruck bringen“.36 In seiner jüngsten Rechtsprechung stellt der Gerichtshof klar, dass die Begründungserwägungen eines Gemeinschaftsrechtsakts seinen Inhalt präzisieren können.37 Der Gerichtshof sollte hier allerdings nicht zu unkritisch sein. Gelegentlich

31 EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C-287/98 Linster, Slg. 2000, I-6917 Rn. 43. Nach Auffassung des Gerichts erster Instanz kann jedoch auch ohne eine solche ausdrückliche Verweisung die Anwendung des Gemeinschaftsrechts eine Verweisung auf das Recht der Mitgliedstaaten einschließen, wenn der Gemeinschaftsrichter dem Gemeinschaftsrecht oder den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts keine Anhaltspunkte entnehmen kann, die es ihm erlauben, Inhalt und Tragweite einer gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift durch eine autonome Auslegung zu ermitteln, EuG v. 21.4.2004 – Rs. T-172/01 M ./. Gerichtshof, Slg. 2004, II-1075 Rn. 71. Vgl. auch EuGH v. 25.6.2009 – Rs. C-14/08 Roda Golf & Beach Resort, (noch nicht in Slg.) Rn. 46–50. S.a. Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 4 ff. 32 Vgl. EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-524/06 Huber, Slg. 2008, I-9705 Rn. 50; EuGH v. 19.2.2009 – Rs. C-228/06 Soysal u.a., Slg. 2009, I-1031 Rn. 53; EuGH v. 20.1.2009 – Rs. C-240/07 Sony Music Entertainment, Slg. 2009, I-263 Rn. 23, 34; EuGH v. 5.3.2009 – Rs. C-222/07 UTECA, Slg. 2009, I-1407 Rn. 23, 28; EuGH v. 17.9.2009 – Rs. C-347/08 Vorarlberger Gebietskrankenkasse, (noch nicht in Slg.) Rn. 36, 40. 33 S. Köndgen, in diesem Band, § 7 Rn. 39 ff. 34 EuGH v. 19.11.1998 – Rs. C-162/97 Nilsson u. a., Slg. 1998, I-7477 Rn. 54; EuGH v. 12.5.2005 – Rs. C-444/03 Meta Fackler, Slg. 2005, I-3913 Rn. 25. 35 EuGH v. 24.11.2005 – Rs. C-136/04 Deutsches Milch-Kontor, Slg. 2005, I-10095 Rn. 32; EuGH v. 2.4.2009 – Rs. C-134/08 Tyson Parketthandel, Slg. 2009, I-2875 Rn. 16. 36 Dies allerdings so klar und eindeutig, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann, vgl. EuGH v. 29.4.2004 – Rs. C-372/97 Italien ./. Kommission, Slg. 2004, I-3679 Rn. 69. 37 EuGH v. 10.1.2006 – Rs. 344/04 IATA und ELFAA, Slg. 2006, I-403 Rn. 76; EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-549/07 Wallentin-Hermann, Slg.2008, I-11061 Rn. 17.

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§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH

erwecken Urteilspassagen den Eindruck, als stünden Begründungserwägungen und verfügende Bestimmungen eines Rechtsakts auf derselben Stufe. Derartige redaktionelle Ungereimtheiten sind aber bei der Fülle der Verfahren unvermeidbar und auch solange unschädlich, als die Begründungserwägungen nicht qualitativ an die Stelle des Rechtstextes treten. Der Gerichtshof betont ferner in ständiger Rechtsprechung, dass eine Bestimmung des abgeleiteten Unionsrechts möglichst so auszulegen ist, dass sie mit dem Vertrag und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen vereinbar ist.38 Diese primärrechtskonforme Auslegung des Sekundärrechts bildet der Gerichtshof speziell mit Blick auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze und die Grundrechte kontinuierlich fort.39

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Zur Frage, welche Anforderungen an die Anerkennung allgemeiner Rechtsgrundsätze im Unionsrecht zu stellen sind, hat der Gerichtshof im Urteil Audiolux 40 grundlegende Ausführungen gemacht. Allgemeine Rechtsgrundsätze haben danach Verfassungsrang und zeichnen sich durch allgemeinen übergreifenden Charakter aus.41 Dagegen sind Regelungen, die sehr spezifische Fallkonstellationen betreffen und eine detaillierte gesetzgeberische Ausarbeitung erfordern, dem abgeleiteten Unionsrecht zuzurechnen.42 Sie können nicht im Wege der Auslegung als Bestandteil allgemeiner Rechtsgrundsätze anerkannt werden.

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Schließlich betont der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung die Verpflichtung, das Unionsrecht nach Möglichkeit im Lichte des Völkerrechts auszulegen, insbesondere soweit es um die Durchführung der von der Union geschlossenen völkerrechtlichen Verträge geht.43

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2.

„Auslegung“ durch den Gerichtshof und „Anwendung“ durch das nationale Gericht

Besondere Aufmerksamkeit widmet der Gerichtshof der Abgrenzung seiner Zuständigkeit im Verhältnis zu derjenigen der mitgliedstaatlichen Gerichte. Insoweit betont er in ständiger Rechtsprechung,44 dass das in Art. 267 AEUV/234 EG vorgesehene

38 EuGH v. 10.7.2008 – Rs. C-413/06 P Bertelsmann und Sony Corporation of America ./. Impala, Slg. 2008, I-4951 Rn. 174. 39 Vgl. EuGH v. 26.6.2007 – Rs. C-305/05 Ordre des barreaux francophones et germanophone u.a., Slg. 2007, I-5305 Rn. 28; EuGH v. 29.1.2008 – Rs. C-275/06 Promusicae, Slg. 2008, I-271 Rn. 68–70; zuletzt EuGH v. 19.2.2009 – Rs. C-557/07 LSG-Gesellschaft zur Wahrnehmung von Leistungsschutzrechten, Slg. 2009, I-1227 Rn. 28–29. Eingehend Leible/Domröse, in diesem Band, § 9 Rn. 7 ff. 40 EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 Audiolux u.a., C-101/08, (noch nicht in Slg.). 41 EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 Audiolux u.a., C-101/08, (noch nicht in Slg.) Rn. 42, 63. 42 EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 Audiolux u.a., C-101/08, (noch nicht in Slg.) Rn. 62, 63. 43 Vgl. EuGH v. 14.12.2000 – verb. Rs. C-300/98 und C-392/98 Dior u.a., Slg. 2000, I-11307 Rn. 47, 49; EuGH v. 7.12.2006 – Rs. C-306/05 SGAE, Slg. 2006, I-11519 Rn. 35 mwN; EuGH v. 29.1.2008 – Rs. C-275/06 Promusicae, Slg. 2008, I-271 Rn. 60; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-5/08 Infopaq International, (noch nicht in Slg.) Rn. 32. 44 Vgl. EuGH v. 19.2.2004 – Rs. C-329/01 British Sugar, Slg. 2004, I-1899 Rn. 70 f.; EuGH v. 8.9.2009 – Rs. C-42/07 Liga Portuguesa de Futebol Profissional et Baw International, (noch nicht in Slg.) Rn. 37.

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3. Teil: Besonderer Teil

Verfahren auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht. In die Zuständigkeit des nationalen Gerichts fallen danach die Entscheidung über den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens sowie die Anwendung der vom Gerichtshof ausgelegten Unionsvorschriften auf nationale Maßnahmen oder Gegebenheiten; ferner obliegt ihm die Prüfung der Erforderlichkeit der Vorabentscheidung als auch die Erheblichkeit der Fragen, die es dem Gerichtshof vorlegt.45 Dem Gerichtshof fällt die Aufgabe zu, das Unionsrecht auszulegen und ggf. die Gültigkeit von sekundärem Unionsrecht mit dem Vertrag zu überprüfen.

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a) Auch soweit die Aufgaben im Rahmen dieses justitiellen Dialogs den nationalen Gerichten obliegen, sieht sich der Gerichtshof zur Prüfung seiner eigenen Zuständigkeit jedoch befugt, zu untersuchen, ob diese die formalen Mindestvoraussetzungen an eine aus sich heraus verständliche Vorlage erfüllt hat, d.h. den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in den sich die von ihm gestellten Fragen einfügen, festgelegt oder zumindest die tatsächlichen Annahmen erläutert hat,46 auf denen seine Fragen beruhen. Ferner prüft er die Umstände, unter denen er von den nationalen Gerichten angerufen wird, um nicht über offensichtlich konstruierte Rechtsstreite entscheiden oder Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben zu müssen, bei denen die begehrte Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Rechtsstreits steht.47 Berücksichtigt man, dass auch das Urteil des Gerichtshofs in dem bekannten Fall Heininger,48 in dem sich der Gerichtshof erstmalig zu dieser Thematik geäußert hat, letztlich hypothetisch war, da eine Beweisaufnahme in letzter Instanz das Fehlen einer Haustürsituation feststellte,49 so wird verständlich, dass der Gerichtshof die Frage der Erheblichkeit der Vorlagefragen jedenfalls dann kritisch hinterfragt, wenn hierzu Anhaltspunkte vorliegen.50

45 Vgl. zuletzt EuGH v. 19.11.2009 – Rs. C-314/08 Filipiak, (noch nicht in Slg.) Rn. 40. 46 Vgl. zuletzt EuGH v. 1.10.2009 – Rs. C-247/08 Gaz de France – Berliner Investissement, (noch nicht in Slg.) Rn. 20. 47 EuGH v. 7.1.2003 – Rs. C-306/99 BIAO, Slg. 2003, I-1 Rn. 89; EuGH v. 1.10.2009 – Rs. C-567/07 Woningstichting Sint Servatius, (noch nicht in Slg.) Rn. 43. 48 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945. 49 Vgl. OLG München, WM 2003, 69. 50 Im Fall Schulte, in dem es um die Auslegung der Haustürgeschäfterichtlinie (Richtlinie 85/577/EWG des Rates v. 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABL. 1985 L 372/31) im Zusammenhang mit dem Widerruf von Realkreditverträgen zur Finanzierung sog. Schrottimmobilien ging, schlug GA Léger dem Gerichtshof vor, das Vorabentscheidungsersuchen des LG Bochum als hypothetisch und damit unzulässig zu verwerfen, da es das Gericht ausdrücklich offengelassen habe, ob im Ausgangsverfahren tatsächlich eine die Anwendung der Richtlinie rechtfertigende „Haustürsituation“ vorliege; SchlA v. 28.9.2004 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Tz. 43–47. Der Gerichtshof ist dem nicht gefolgt, sondern hat das Ersuchen für zulässig erklärt; EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Rn. 44. Wenn die Eheleute Schulte die Darlehnsvaluta sofort vollständig zurückzahlen müssten, könne dahingestellt bleiben, ob die Bausparkasse den Darlehensvertrag wirksam gekündigt oder die Eheleute Schulte ihre auf Abschluss des Darlehensvertrags gerichtete Willenserklärung wirksam nach dem HWiG widerrufen hätten. In beiden Fällen wären sie nämlich zur sofortigen vollständigen Rückzahlung der Darlehensvaluta verpflichtet.

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§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH

Dies schließt nicht aus, dass der Gerichtshof gelegentlich Vorabentscheidungsersuchen aufgreift, deren Zulässigkeit zwar höchst zweifelhaft ist, die er aber nutzt, um sich aus gegebenem Anlass zu bestimmten Rechtsfragen zu äußern. Prominentes Beispiel für diese Art von Judikatur ist das Urteil Draehmpaehl,51 in dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass die Gleichbehandlungsrichtlinie Arbeitsbedingungen52 einer innerstaatlichen gesetzlichen Regelung entgegensteht, die für den Schadensersatz, den ein Bewerber verlangen kann, der bei einem Auswahlverfahren aufgrund des Geschlechts diskriminiert worden ist, im Gegensatz zu sonstigen zivil- und arbeitsrechtlichen Regelungen eine Höchstgrenze von drei Monatsgehältern vorschreibt, wenn nachgewiesen wird, dass der Bewerber anderenfalls die zu besetzende Position erhalten hätte, oder sechs Monatsgehälter, wenn es mehrere Bewerber gibt. Im Ausgangsfall hatte sich ein Arbeitnehmer auf eine an Frauen gerichtete und in einer Tageszeitung veröffentlichte Stellenanzeige beworben, ohne dass das Unternehmen ihm geantwortet oder ihm die eingereichten Unterlagen zurückgesandt hätte. Er rief das Arbeitsgericht Hamburg an und machte geltend, er sei der am besten Qualifizierte und sei diskriminiert worden. Das beklagte Unternehmen trat in keinem Verfahrensstadium vor dem Gericht auf,53 d.h. es erschien weder zum Gütetermin noch ließ es sich auf die anhängige Klage ein. Bemühungen des vorlegenden Gerichts und des Klägers, das Unternehmen zu erreichen, blieben erfolglos. Auch die Ladung zur mündlichen Verhandlung vor dem EuGH scheiterte. Sie kam als unzustellbar zurück. Im Anschluss an das Urteil des Gerichtshofs verpflichtete das Arbeitsgericht Hamburg das beklagte Unternehmen im Wege des Versäumnisurteils dazu, dem Kläger wie beantragt einen Betrag in Höhe von dreieinhalb Monatsgehältern zuzusprechen. Nach den vom vorlegenden Gericht übermittelten Angaben wurde das Urteil nicht angefochten.54 Obwohl starke Indizien dafür sprachen, dass es sich hier um einen konstruierten Rechtsstreit handelte, beantwortete der Gerichtshof die gestellten Fragen. Offensichtlich hielt er die Zeit für gekommen, seine Rechtsprechung zur Entschädigung im Fall von Diskriminierung beim Zugang zur Beschäftigung zu konkretisieren.

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Aus derartigen Fällen sollte nicht abgeleitet werden, dass der Gerichtshof die Zulässigkeitskriterien bei Vorabentscheidungsersuchen generell dann besonders großzügig auslegt, wenn die (rechts)politische oder ökonomische Bedeutung der vorgelegten Fragen dies gebietet. Noch gar besteht ein Anspruch Einzelner darauf, dass der Gerichtshof so verfährt. Im Gegenteil, bei weiter wachsender Arbeitsbelastung, insbesondere nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon und dem damit verbundenen

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51 EuGH v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 Draehmpaehl, Sgl. 1997, I-2195; auch der Sachverhalt, der dem Urteil im Verfahren Mangold zugrunde lag, führte nicht zur Unzulässigkeit der Vorlage, vgl. EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 32–39. 52 Richtlinie 76/207/EWG des Rates v. 9.2.1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl. 1976 L 39/40. 53 Vgl. GA Léger, SchlA v. 14.1.1997 – Rs. C-180/95 Dreahmpaehl, Slg. 1997, I-2195 Tz. 15. 54 Vgl. die Angaben in GA Colomer, SchlA v. 27.1.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Tz. 33.

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3. Teil: Besonderer Teil

weitgehenden Wegfall der Vorlagebeschränkungen, dürfte der Gerichtshof in Zukunft noch eingehender darauf achten, dass seine Antworten im Ausgangsrechtsstreit auch tatsächlich entscheidungserheblich sind und dass nicht, wie im Fall Heininger, die Aussagen des Gerichtshofs zwar abstrakt zu einer Klärung wichtiger Rechtsfragen führen, für die konkrete Entscheidung des Ausgangsfalls aber kaum von Bedeutung sind.

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Schließlich betont der Gerichtshof regelmäßig, dass er dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts geben kann, die es diesem ermöglichen, die Frage der Vereinbarkeit einer nationalen Regelung bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens zu beurteilen55 Dementsprechend deutet er derartige Fragen nach der Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Unionsrecht in eine abstrakte Auslegungsfrage um. Gerade weil der Gerichtshof dem nationalen Gericht eine „nützliche“ Antwort geben will, hält er sich bei der Beantwortung der Vorlagefragen nicht sklavisch an deren Wortlaut, sondern formuliert sie je nach Bedarf um, ändert ihre Reihenfolge oder fasst sie zusammen.56 Dabei präzisiert er ggf. auch diejenigen unionsrechtlichen Vorschriften, die das vorlegende Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat, die aber unter Berücksichtigung des Streitgegenstands der Auslegung bedürfen.57 Dieses Vorgehen verdeutlicht, dass der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen vor ihrer Beantwortung sehr sorgfältig aufbereitet und sie ggf. im Hinblick auf die vorgelegte Problematik filtert. Ohne eine solche Steuerung könnte der Gerichtshof seiner Aufgabe, dem vorlegenden Gericht eine nützliche Antwort zu geben, nicht nachkommen.

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b) Vor diesem Hintergrund wird bereits deutlich, dass die Funktionsteilung, die nach der Rechtsprechung das Vorabentscheidungsverfahren bestimmt – der Gerichtshof ist für die Auslegung des Unionsrechts, das nationale Gericht für dessen Anwendung im Einzelfall zuständig –, zwar primärrechtlich in Art. 19 Abs. 1 EUV/220 EG und Art. 267 Abs. 1 AEUV/234 Abs. 1 EG angelegt ist, sich in der Praxis aber als problematisch erweist. Der ehemalige Präsident des Gerichtshofs, Rodríguez Iglesias, räumt ein, dass für eine effiziente Kooperation zwischen innerstaatlichen Gerichten und Gerichtshof nicht in jedem Fall eine abstrakte Aufgabentrennung möglich ist.58 So könne es Situationen geben, in denen der Gerichtshof zur Herstellung der Rechtssicherheit konkrete Aussagen zu treffen habe, die normalerweise den nationalen Richtern vorbehalten seien.59 Groh 60 weist nach, dass die Zuordnung zahlreicher Beurtei-

55 So bereits EuGH v. 3.6.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251, 1268; zuletzt EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-254/08 Futura Immobiliare u.a., (noch nicht in Slg.) Rn. 28. 56 Vgl. zuletzt EuGH v. 27.10.2009 – Rs. C-115/08 CˇEZ, (noch nicht in Slg.) Rn. 54, 69–70; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-5/08 Infopaq International, (noch nicht in Slg.) Rn. 26, 30, 53. 57 EuGH v. 16.1.2003 – Rs. C-265/01 Annie Pansard u.a., Slg. 2003, I-683 Rn. 19; EuGH v. 28.2.2008 – Rs. C-2/07 Abraham u.a., Slg. 2008, I-1197 Rn. 24; EuGH v. 27.10.2009 – Rs. C-115/08 CˇEZ, (noch nicht in Slg.) Rn. 84. 58 Rodríguez Iglesias, Der Europäische Gerichtshof und die Gerichte der Mitgliedstaaten (2000), S. 10. 59 Rodríguez Iglesias, Der Europäische Gerichtshof und die Gerichte der Mitgliedstaaten (2000), S. 8. 60 Groh, Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren (2005).

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lungsvorgänge zu Auslegung bzw. Anwendung durch den Gerichtshof alles andere als einheitlich ist. So prüft dieser in einigen Fällen selbst, ob eine mitgliedstaatliche Maßnahme verhältnismäßig ist,61 in anderen überlässt er die Prüfung dagegen dem nationalen Gericht.62 Ebenso verfährt er bei Fragen, ob ein Betriebsübergang im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Betriebsübergangsrichtlinie 1977 63 vorliegt 64, ob ein Verhalten irreführend ist65 oder ob im Rahmen der gemeinschaftlichen Staatshaftung ein Verstoß gegen das Unionsrecht als hinreichend qualifiziert angesehen werden kann.66

61 Vgl. z.B. EuGH v. 18.5.1993 – Rs. C-126/91 Yves Rocher, Slg. 1993, I-2361 Rn. 15 ff.; EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 Angonese, Slg. 2000, I-4139 Rn. 44; EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-58/98 Corsten, Slg. 2000, I-7919 Rn. 39 f.; EuGH v. 29.11.2001 – Rs. C-17/00 De Coster, Slg. 2001, I-9445 Rn. 36 ff.; EuGH v. 21.3.2002 – Rs. C-451/99 Cura Anlagen, Slg. 2002, I-3193 Rn. 47 und 50; EuGH v. 17.9. 2002 – Rs. C-413/99 Baumbast, Slg. 2002, I-7091 Rn. 93. 62 Vgl. z.B. EuGH v. 31.3.1993 – Rs. C-19/92 Kraus, Slg. 1993, I-1663 Rn. 41 und EuGH v. 1.2.2001 – Rs. C-108/96 Mac Quen, Slg. 2001, I-837 Rn. 31 ff. Vgl. ferner EuGH v. 8.3.2001 – Rs. C-405/98 Gourmet International Products, Slg. 2001, I-795 Rn. 33 und 41, wo die Verhältnismäßigkeitsprüfung dem nationalen Gericht überlassen wird, da dieses für die hierzu erforderliche Untersuchung der rechtlichen und tatsächlichen Umstände besser in der Lage sei als der EuGH (vgl. zur Notwendigkeit, bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit die konkreten Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, EuGH v. 8.5.2003 – Rs. C-14/02 ATRAL, Slg. 2003, I-4431 Rn. 67 f.). Mit entgegengesetzter Argumentation – die Verhältnismäßigkeit einer nationalen Maßnahme und damit ihre Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht könne nicht von Sachverhaltsfeststellungen der nationalen Gerichte abhängen – prüfte der EuGH in seinem Urteil v. 16.12.1992 – Rs. C-169/91 B&Q, Slg. 1992, I-6635 Rn. 14 die Verhältnismäßigkeit selbst. 63 Richtlinie 77/187/EWG des Rates v. 14.2.1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung der Ansprüche der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen, ABl. 1977 L 61/26, inzwischen ersetzt durch Richtlinie 2001/23/EG des Rates v. 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen, ABl. 2001 L 82/16. 64 Beispiele für die Prüfung durch den EuGH selbst: EuGH v. 5.5.1988 – verb. Rs. C-144/87 und C-145/87 Berg ./. Besselsen, Slg. 1988, 2559 Rn. 18; EuGH v. 14.4.1994 – Rs. C-392/92 Christel Schmidt, Slg. 1994, I-1311 Rn. 17 und 20; Beispiele für die Überantwortung der Prüfung an das nationale Gericht: EuGH v. 18.3.1986 – Rs. C-24/85 Spijkers ./. Benedik, Slg. 1986, 1119 Rn. 14; EuGH v. 19.5.1992 – Rs. C-29/91 Redmond Stichting, Slg. 1992, I-3189 Rn. 25 und 29; EuGH v. 11.3.1997 – Rs. C-13/95 Süzen, Slg. 1997, I-1259 Rn. 22; EuGH v. 2.12.1999 – Rs. C-234/98 Allen u.a., Slg. 1999, I-8643 Rn. 38; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-175/99 Mayeur, Slg. 2000, I-7755 Rn. 55. 65 Beispiele für die Prüfung durch den EuGH selbst: EuGH v. 6.7.1995 – Rs. C-470/93 Mars, Slg. 1995, I-1923 Rn. 21 ff.; EuGH v. 9.2.1999 – Rs. C-383/97 van der Laan, Slg. 1999, I-731 Rn. 41; EuGH v. 4.4.2000 – Rs. C-465/98 Darbo, Slg. 2000, I-2297 Rn. 33, anders im selben Urteil Rn. 20; Beispiele für die Überantwortung der Prüfung an das vorlegende Gericht: EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-303/97 Sektkellerei Kessler, Slg. 1999, I-513 Rn. 36 mwN aus der früheren Rechtsprechung; EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-117 Rn. 30 f. 66 Beispiele für die Beurteilung durch den EuGH selbst: EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-392/93 British Telecommunications, Slg. 1996, I-1631 Rn. 45; EuGH v. 17.10.1996 – verb. Rs. C-283/94, C-291/94 und C-292/94 Denkavit u.a., Slg. 1996, I-5063 Rn. 53; Beispiel für die Überantwortung der Beurteilung an das vorlegende Gericht: EuGH v. 1.6.1999 – Rs. C-302/97 Konle, Slg. 1999, I-3099 Rn. 59.

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3. Teil: Besonderer Teil

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In diesen Befund scheint sich auch die Rechtsprechung zur Generalklausel der Klauselrichtlinie67 einzureihen.68 Hatte der Gerichtshof im Urteil Océano Grupo69 entschieden, dass eine von einem Gewerbetreibenden vorformulierte Vertragsklausel, die die Zuständigkeit für alle Rechtsstreitigkeiten dem Gericht zuwies, in dessen Bezirk dieser Gewerbetreibende seine Niederlassung hatte, als missbräuchlich im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Klauselrichtlinie anzusehen sei, so entschied er im Urteil Freiburger Kommunalbauten,70 es sei Sache des nationalen Gerichts, festzustellen, ob eine Vertragsklausel wie die des Ausgangsverfahrens71 die Kriterien erfüllt, um als missbräuchlich im Sinne von Art. 3 der Klauselrichtlinie qualifiziert zu werden. Die unterschiedliche Beurteilung rechtfertigte der Gerichtshof damit, dass die Klausel in Océano Grupo ausschließlich und ohne Gegenleistung zugunsten des Gewerbetreibenden vorteilhaft war, weil sie unabhängig vom Vertragstyp die Wirksamkeit des gerichtlichen Schutzes der Rechte in Frage stellte, die die Klauselrichtlinie dem Verbraucher zuerkennt, während die Klausel im Fall Freiburger Kommunalbauten für beide Parteien sowohl vorteilhafte als auch nachteilige Aspekte aufwies. Daher konnte die Missbräuchlichkeit wie die der streitigen Klausel im Fall Océano Grupo ohne weiteres festgestellt werden, ohne dass die Umstände des Vertragsschlusses im einzelnen zu prüfen waren, während im anderen Fall die mit der streitigen Klausel verbundenen Vor- und Nachteile im Rahmen des auf den Vertrag anwendbaren nationalen Rechts gewürdigt werden mussten. Der Gerichtshof betont, er könne zwar die vom Unionsgesetzgeber verwendeten allgemeinen Kriterien zur Definition des Begriffs der missbräuchlichen Klausel auslegen, sich aber nicht zur Anwendung dieser allgemeinen Kriterien auf eine bestimmte Klausel äußern, die anhand der Umstände des konkreten Falles zu prüfen sei.

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Wo die Grenzlinie zwischen der Definition allgemeiner Kriterien und der Anwendung dieser Kriterien auf den Einzelfall verläuft, bleibt abzuwarten. Wulff-Henning Roth 67 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29. 68 Eingehend zur Auslegung von Generalklauseln Röthel, in diesem Band, § 12. 69 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Groupo Editorial u.a., Slg. 2000, I-4941 Rn. 21–24. 70 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22. 71 Die Klausel verpflichtete die Erwerber eines Stellplatzes (Beklagte) in einem von einer kommunalen Baugesellschaft (Klägerin) zu errichtenden Parkhaus, den Preis für den Stellplatz nach Stellung einer Bürgschaft durch die Baugesellschaft zu zahlen, ohne dass die Klägerin bereits mit den Bauarbeiten begonnen haben musste. Die Bürgschaft sollte als Ausgleich für die Vorleistungspflicht der Erwerber sämtliche Geldansprüche der Erwerber sichern, die ihnen wegen mangelhafter oder unterlassener Vertragserfüllung durch die Klägerin zustehen, und auch den Fall erfassen, dass die Klägerin in Insolvenz fällt. Der BGH neigte dazu, die Unwirksamkeit der Klausel nach §§ 24a, 9 AGBG zu verneinen, da sie nicht missbräuchlich erscheine, legte die Klausel aber dennoch dem EuGH zur Prüfung nach Art. 3 der Klauselrichtlinie vor, da „die in der Klausel vorgesehene Bürgschaft […] bei einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der Vielfalt der Rechtsordnungen innerhalb der Europäischen Union nicht als ein angemessener Ausgleich für die vom dispositiven Recht abweichende Vorleistungspflicht der Erwerber anzusehen sein [könnte].“ Die Klausel könne deshalb missbräuchlich sein.

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§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH

hat sich mit beachtlichen Argumenten für eine restriktive Rolle des Gerichtshofs bei der Konkretisierung von Generalklauseln in Richtlinien ausgesprochen.72 Dagegen setzen andere auf eine wichtige Rolle des Gerichtshofs bei der Fortentwicklung des unionsrechtlichen Missbrauchskriteriums.73 Das Signal, das das Urteil im Fall Freiburger Kommunalbauten aussendet, geht eindeutig dahin, die nationalen Gerichte sollten die Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln nach Möglichkeit in eigener Verantwortung prüfen. Es dürfte seine Wirkung schon deshalb nicht verfehlen, weil die Gerichte sich zukünftig wohl nicht sehenden Auges der Gefahr einer Zurückweisung ihrer Vorlage aussetzen werden. Ob die Bemerkung des Generalanwalts Geelhoed, aufgrund des allgemeinen Charakters des Begriffs „missbräuchlich“ könnten Klauseln, die in einer großen Bandbreite an Formen und Inhalten in Verbraucherverträgen vorkommen, immer wieder Anlass geben, Vorabentscheidungsfragen vorzulegen,74 den Gerichtshof zu einer in erster Linie prozessökonomisch vorteilhafteren Lösung veranlasst hat, lässt das Urteil nicht erkennen. Näher liegt, dass der Gerichtshof gerade auf dem Feld der Konkretisierung von Generalklauseln der Gefahr des Dezisionismus vorbeugen wollte. Die jüngere Rechtsprechung bestätigt diese Linie.75 Auf anderen Rechtsgebieten ist dagegen eine eindeutige Tendenz nicht zu erkennen, etwa bei der Rechtsprechung zur zollrechtlichen Tarifierung, zum Betriebsübergang oder auch zur Gleichbehandlung von Mann und Frau, um nur diese Bereiche zu nennen. Daher verwundert es nicht, dass gerade anlässlich einer Vorlage zur zollrechtlichen Tarifierung Generalanwalt Jacobs die Diskussion darüber eröffnete, welche Fragen im Rahmen des Art. 267 AEUV/234 EG sinnvollerweise dem Gerichtshof zur Auslegung vorzulegen seien und welche durch die nationalen Gerichte in eigener Verantwortung entschieden werden sollten.76 Dabei wandte er sich gegen eine immer filigranere Rechtsprechung, mit der nicht die einheitliche Anwendung des Unionsrechts gefördert werde, sondern die tendenziell zu weniger denn zu mehr Rechtssicherheit führe.77 Vorlagen sollten deshalb dem Gerichtshof nur dann unterbreitet werden, wenn es sich um eine Frage von allgemeiner Bedeutung handele und eine einheitliche Auslegung wirklich erforderlich sei.78 Die Kriterien der C.I.L.F.I.T.-Rechtsprechung zur Reichweite der Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte müssten hierzu angepasst werden. In einem markenrechtlichen Fall präzisierte er, dass der Gerichtshof zur einheitlichen Anwendung der Richtlinie und der Rechtssicherheit effektiver dadurch beitragen könne, dass er die allgemeinen Kriterien und insbesondere den Maßstab für die Beurteilung der Verwechslungsgefahr eindeutig festlege, als

72 W.-H. Roth, FS Drobnig (1998), S. 140 ff. 73 Vgl. Remien, RabelsZ 66 (2002), 503, 525. 74 GA Geelhoed, SchlA v. 25.9.2003 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Tz. 29. 75 Vgl. EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 Pannon GSM, (noch nicht in Slg.) Rn. 42 f.; GA Trstenjak, SchlA v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 Caja de Ahorros y Monte de Piedad de Madrid, (noch nicht in Slg.) Tz. 69 f. 76 GA Jacobs, SchlA v. 19.7.1997 – Rs. C-338/95 Wiener, Slg. 1997, I-6495. 77 GA Jacobs, SchlA v. 19.7.1997 – Rs. C-338/95 Wiener, Slg. 1997, I-6495 Tz. 20 f. 78 GA Jacobs, SchlA v. 19.7.1997 – Rs. C-338/95 Wiener, Slg. 1997, I-6495 Tz. 64. Rüdiger Stotz

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3. Teil: Besonderer Teil

durch den Erlass von Entscheidungen, die zu sehr auf die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls eingehen.79

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Trotz dieser Anregungen80 hat der Gerichtshof die Gelegenheit bislang nicht genutzt, der Dichotomie – hier Auslegung durch den Gerichtshof, dort Anwendung durch das nationale Gericht – schärfere Konturen zu verleihen. Noch vermeidet er über die C.I.L.F.I.T-Formel hinausgehende Konkretisierungen und entscheidet die Zuordnungsproblematik fallweise, mit den genannten dezisionistischen Folgen. Die bereits zitierte Studie von Groh plädiert mit beachtlichen Argumenten dafür, das Auslegungsbedürfnis der Vorlagefragen kritischer als bisher an den Zielen des Vorabentscheidungsverfahrens zu messen, d.h. (1) ob sie zur Wahrung der Einheitlichkeit des Unionsrechts erforderlich sind, (2) ob sie den nationalen Gerichten bei der Durchsetzung des Unionsrechts dienen, sofern diese bei der Interpretation des Unionsrechts vor besonderen Schwierigkeiten stehen, und (3) ob sie dem Schutz individueller Rechtspositionen förderlich sind, sofern die Vorlage zu einem erheblichen Zuwachs an Rechtsschutzqualität führt.81

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Eine klare Orientierung ist auch der neueren Rechtsprechung nicht zu entnehmen. Auf dem regelrecht boomenden Gebiet der Rechtsprechung zur Direktbesteuerung liegt der Schwerpunkt der Urteile – nach der regelmäßigen Bejahung des Vorliegens einer Beschränkung der einschlägigen Grundfreiheit82 – inzwischen bei den Ausführungen zur eventuellen Rechtfertigung einer solchen Beschränkung83. In diesem Zusammenhang spielt die Verhältnismäßigkeitsprüfung häufig die entscheidende Rolle, wobei der Gerichtshof eher dazu tendiert, die Verhältnismäßigkeitsprüfung selbst durchzuführen,84 auch wenn er diese in anderen Fällen dem nationalen Richter

79 GA Jacobs, SchlA v. 29.10.1998 – Rs. C-342/97 Lloyd Schuhfabrik, Slg. 1999, I-3821 Tz. 13. 80 Auch andere Generalanwälte haben sich gegen eine zu starke Einzelfallorientierung der Rechtsprechung ausgesprochen, vgl. GA van Gerven, SchlA v. 22.11.1990 – Rs. C-312/89 Conforam u. a., Slg. 1990, I-1007 Tz. 7; GA Gulmann, SchlA v. 29.9.1993 – Rs. C-315/92 Verband Sozialer Wettbewerb, Slg. 1994, I-319 Tz. 9 – Clinique und GA Fennelly, SchlA v. 16.9.1999 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-119 Tz. 31. 81 Groh, Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren (2005), S. 118 f. 82 Z.B. in Bezug auf die Kapitalverkehrsfreiheit, die in den Direktbesteuerungsfällen häufig anwendbar ist, stellt in Anlehnung an die Dassonville-Formel jede innerstaatliche oder unionsrechtliche Regelung, die geeignet ist, den freien Kapitalverkehr illusorisch zu machen, eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit dar, vgl. EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-483/99 Kommission ./. Frankreich, Slg. 2002, I-4781 Rn. 41. Weitere Beispiele zu diesem breit angelegten Beschränkungsbegriff: EuGH v. 8.11.2007 – Rs. C-379/05 Amurta, Slg. 2007, I-9569 Rn. 28; EuGH v. 20.5.2008 – Rs. C-194/06 Orange European Smallcap Fund, Slg. 2008, I-3747 Rn. 74; EuGH v. 22.1.2009 – Rs. C-377/07 STEKO Industriemontage, Slg. 2009, I-299 Rn. 27; EuGH v. 27.1.2009 – Rs. C-318/07 Persche, Slg. 2009, I-359 Rn. 38. 83 Vgl. zuletzt EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-35/08 Busley und Cibrian Fernandez, (noch nicht in Slg.) Rn. 28, 31-32, EuGH v. 19.11.2009 – Rs. C-540/07 Kommission ./. Italien, (noch nicht in Slg.) Rn. 49, 55–61, 68–72, 75. 84 Vgl. zuletzt EuGH v. 11.6.2009 – verb. Rs. C-155/08 und C-157/08 X u.a. ./. Staatssecretaris van Financiën, (noch nicht in Slg.) Rn. 47–75. In dieser Rechtssache hat der Gerichtshof eine längere Nachforderungsfrist in Fällen, in denen den Steuerbehörden verschwiegene steuerpflichtige Guthaben sich in einem anderen Mitgliedstaat befanden, für gemeinschaftsrechts-

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§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH

überlässt.85 Hierbei mag die Komplexität bestimmter steuerlicher Regelungen eine Rolle spielen, die dem Gerichtshof nicht in jedem Fall eine eigene Wertung erlauben. Ein vergleichbarer Befund zeigt sich bei zwei spektakulären Fällen zur Warenverkehrsfreiheit aus jüngerer Zeit,86 in denen die Ausweitung der Keck-Rechtsprechung auf sog. Benutzungsmodalitäten auf dem Spiel stand.87 Im Fall Kommission ./. Italien hielt der Gerichtshof das – kategorische – Verbot für Kleinkrafträder, Krafträder, dreirädrige und vierrädrige Kraftfahrzeuge, einen Anhänger zu ziehen, aus Gründen des Schutzes der Sicherheit des Straßenverkehrs für gerechtfertigt und führte die Verhältnismäßigkeitsprüfung selbst durch.88 Im Fall Mickelsson und Roos, wo ein derart kategorisches Verbot nicht bestand, überließ er es dagegen dem vorlegenden Gericht zu prüfen, ob die aufgestellten Bedingungen erfüllt sind und das schwedische Verbot des Führens von Wassermotorrädern außerhalb von öffentlichen Wasserstraßen aus Gründen des Umweltschutzes gerechtfertigt ist und folglich der Verhältnismäßigkeitsprüfung standhält.89 Weiteres Beispiel: Im Glücksspielfall Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Baw International hielt der Gerichtshof die portugiesische Regelung, nach der private Wirtschaftsteilnehmer, die in anderen Mitgliedstaaten niedergelassen

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konform erklärt, nachdem er die bestehende Beschränkung sowohl des freien Dienstleistungsverkehrs als auch des freien Kapitalverkehrs durch die Gewährleistung der Wirksamkeit der steuerlichen Überwachung und durch die Bekämpfung der Steuerhinterziehung unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips für gerechtfertigt hielt. Siehe auch EuGH v. 23.10.2008 – Rs. C-157/07 Krankenheim Ruhesitz am Wannsee-Seniorenheimstatt, Slg. 2008, I-8061 Rn. 40, 44–45; EuGH v. 27.11.2008 – Rs. C-418/07 Papillon, Slg. 2008, I-8947 Rn. 33, 52–62. Vgl. zuletzt EuGH v. 17.9.2009 – Rs. C-182/08 Glaxo Wellcome, (noch nicht in Slg.) Rn. 93–100, 102. In diesem Fall stellte der Gerichtshof fest, dass Art. 56 EG (jetzt Art. 63 AEUV) einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, wonach die Wertminderung von Anteilen durch Gewinnausschüttungen von einem Einfluss auf die Bemessungsgrundlage der Steuer eines gebietsansässigen Steuerpflichtigen ausgeschlossen wird, wenn dieser Anteile an einer gebietsansässigen Kapitalgesellschaft von einem gebietsfremdem Anteilseigner erworben hat, während im Anschluss an den Erwerb von einem gebietsansässigen Anteilseigner eine solche Wertminderung die Bemessungsgrundlage der Steuer des Erwerbers mindert. Das gilt nur in den Fällen, in denen eine solche Regelung nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die Ausgewogenheit der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten zu wahren und rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen zu verhindern, die allein zu dem Zweck geschaffen wurden, ungerechtfertigt in den Genuss eines Steuervorteils zu kommen. Der Gerichtshof überließ es dem vorlegenden Gericht zu prüfen, ob sich die fragliche Regelung auf das beschränkt, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist. EuGH v. 10.2.2009 – Rs. C-110/05 Kommission ./. Italien, Slg. 2009, I-519 und EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-142/05 Mickelsson und Roos, (noch nicht in Slg.). Vgl. GA Kokott, SchlA v. 14.12.2006 – Rs. C-142/05 Mickelsson und Roos, (noch nicht in Slg.) Tz. 42–56, die dazu geführt haben, dass die Rs. C-110/05 Kommission ./. Italien der großen Kammer zugewiesen wurde und neue SchlA angefordert wurden, siehe GA Bot, SchlA v. 8.7.2008 – Rs. C-110/05 Kommission ./. Italien, Slg. 2009, I-519 Tz. 44–137. EuGH v. 10.2.2009 – Rs. C-110/05 Kommission ./. Italien, Slg. 2009, I-519 Rn. 64–66. EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-142/05 Mickelsson und Roos, (noch nicht in Slg.) Rn. 32–34, 36, 38–40, 42–44.

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3. Teil: Besonderer Teil

sind, in Portugal keine Glücksspiele über das Internet anbieten dürfen, durch das Ziel der Bekämpfung von Betrug und anderen Straftaten für gerechtfertigt und prüfte selbst die Verhältnismäßigkeit.90 In anderen Bereichen wie dem der Informationsgesellschaft, des geistigen Eigentums oder des Datenschutzes neigt er dagegen dazu, dem nationalen Richter mehr Spielraum zu gewähren,91 was in den Fällen Promusicae und LSG-Gesellschaft zur Wahrnehmung von Leistungsschutzrechten92 sogar so weit ging, dass gegensätzliche nationale Regelungen hinsichtlich der Pflicht zur Offenlegung von personenbezogenen Verkehrsdaten der Inhaber bestimmter Teilnehmeranschlüsse durch Telekommunikationsanbieter an private Dritte zum Zweck der zivilrechtlichen Verfolgung von Urheberrechtsverstößen Bestand hatten.93 Im Rahmen der gemeinschaftlichen Staatshaftungsfälle beschränkt sich der Gerichtshof bei der Frage, ob ein Verstoß gegen das Unionsrecht als hinreichend qualifiziert angesehen werden kann, grundsätzlich darauf, dem vorlegenden Gericht allgemeine Anhaltspunkte zu geben, die diesem Spielraum zur eigenen Beurteilung lassen.94 3.

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Unionsrechtskonforme Auslegung

Eine Auslegungsregel besonderer Art stellt die Forderung des Gerichtshofs dar, nationales Recht so weit wie möglich unionsrechtskonform auszulegen. Diese Regel kommt zum Einsatz, um einen Konflikt zwischen der kommunitären und der nationalen Rechtsordnung im Wege der Auslegung zu verhindern. Ihren Ursprung hat sie in dem allgemeinen Auslegungsgrundsatz, eine Vorschrift nach Möglichkeit so auszulegen,

90 EuGH v. 8.9.2009 – Rs. C-42/07 Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Baw International, (noch nicht in Slg.), Rn. 58–72. 91 So bei der Beurteilung, ob eine Handlung, die im Laufe eines Datenerfassungsverfahrens vorgenommen wird, das darin besteht, einen aus elf Wörtern bestehenden Auszug eines geschützten Werkes zu speichern und auszudrucken, die unter den Begriff der teilweisen Vervielfältigung im Sinne von Art. 2 der Informationsgesellschaft-Richtlinie fallen kann, wenn die wiedergegebenen Bestandteile – was vom vorlegenden Gericht zu beurteilen ist – die eigene geistige Schöpfung durch den Urheber zum Ausdruck bringen, EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-5/08 Infopaq International, (noch nicht in Slg.) Rn. 51. Vgl. auch das erste Urteil zur Gemeinschaftsgeschmacksmusterverordnung: EuGH v. 2.7.2009 – Rs. C-32/08 FEIA, (noch nicht in Slg.) Rn. 80; auf dem Gebiet des Datenschutzes: EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-524/06 Huber, Slg. 2008, I-9705 Rn. 66 f. 92 EuGH v. 29.1.2008 – Rs. C-275/06 Promusicae, Slg. 2008, I-271 Rn. 70 und EuGH v. 19.2.2009 – Rs. C-557/07 LSG-Gesellschaft zur Wahrnehmung von Leistungsschutzrechten, Slg. 2009, I-1227 Rn. 29. 93 Der Gerichtshof appellierte in diesen Entscheidungen an die nationalen Gerichte, auf ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen durch die Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten und auf den Einklang mit den anderen allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, wie etwa dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zu achten; siehe auch oben Rn. 19a. 94 EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C-446/04, Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 213–215, 217; vgl. auch EuGH v. 13.3.2007 – Rs. C-524/04 Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107 Rn. 119–121; EuGH v. 23.4.2008 – Rs. C-201/05 Test Claimants in the CFC and Dividend Group Litigation, Slg. 2008, I-2875 Rn. 122–124.

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§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH

dass ihre Gültigkeit nicht infrage steht.95 Diese Regel, als verfassungskonforme Auslegung aus dem innerstaatlichen Bereich bekannt und ebenso im Verhältnis des sekundären zum primären Unionsrecht anwendbar,96 liegt auch der Rechtsprechung zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts zugrunde.97 Den nationalen Gerichten obliegt es dabei, „das innerstaatliche Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihnen ihr nationales Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden.“98 Gelingt dies nicht, wird der Konflikt im Falle unmittelbar wirksamen Unionsrechts durch die Vorrangregel entschieden, d.h. die Gerichte dürfen entgegenstehende innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden.99 Aber auch dort, wo die Vorrangregel nicht greift, verpflichtet der Gerichtshof die mitgliedstaatlichen Gerichte zu unionsrechtskonformer Auslegung. Relevant wird dies bei Richtlinienbestimmungen, bei denen entweder nicht alle Voraussetzungen für eine unmittelbare Wirksamkeit – inhaltlich unbedingt und hinreichend bestimmt – vorliegen oder die zwar diese Voraussetzungen erfüllen, eine unmittelbare Wirkung aber dennoch nicht in Betracht kommt, weil die entsprechende Richtlinienbestimmung in einem Rechtsstreit, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen, unmittelbar zur Anwendung kommen soll, was der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung zu Recht ablehnt.100 Im Fall Pfeiffer hat der Gerichtshof die mitgliedstaatlichen Gerichte noch einmal eindringlich daran erinnert, alle im nationalen Recht vorhandenen Auslegungsmethoden zu nutzen, um das von der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen:

31–33

„Ermöglicht es das nationale Recht durch die Anwendung seiner Auslegungsmethoden, eine innerstaatliche Bestimmung unter bestimmten Umständen so auszulegen, dass eine Kollision mit einer anderen Norm innerstaatlichen Rechts vermieden wird, oder die Reichweite dieser Bestimmung zu diesem Zweck einzuschränken und sie nur insoweit anzuwenden, als sie mit dieser Norm vereinbar ist, so ist das nationale Gericht verpflichtet, die gleichen Methoden anzuwenden, um das von der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen.“101

Der Bundesgerichtshof folgert daraus, der Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung verlange von den nationalen Gerichten über eine Gesetzesauslegung im engeren Sinne hinaus auch, das nationale Recht, wo dies nötig und möglich ist, richt-

95 EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-403/99 Italien ./. Kommission, Slg. 2001, I-6883 Rn. 37. 96 Siehe oben Rn. 19a. 97 Seit EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891; vgl. EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113 ff. 98 Vgl. zuletzt EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-8/02 Leichtle, Slg. 2004, I-2641 Rn. 58. 99 Vgl. EuGH v. 27.10.2009 – Rs. C-115/08 CˇEZ, (noch nicht in Slg.) Rn. 138. 100 Vgl. EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 24 f.; zuletzt EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, (noch nicht in Slg.) Rn. 59. Siehe aber auch EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdevici, (noch nicht in Slg.) Rn. 48 ff. 101 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 116; ebenso zuletzt EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, (noch nicht in Slg.) Rn. 64.

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3. Teil: Besonderer Teil

linienkonform fortzubilden.102 Eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung im Wege einer teleologischen Reduktion setze eine verdeckte Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes voraus; eine solche planwidrige Unvollständigkeit könne sich daraus ergeben, dass der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung ausdrücklich seine Absicht bekundet habe, eine richtlinienkonforme Regelung zu schaffen, die Annahme des Gesetzgebers, die Regelung sei richtlinienkonform, aber fehlerhaft sei. Ob das Gebot einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung als zwingendes Postulat aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs abgeleitet werden kann, erscheint zweifelhaft.

33b

Der Gerichtshof hat jedenfalls klargestellt, dass eine richtlinienkonforme Auslegung contra legem von den nationalen Gerichten nicht gefordert wird: „Die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt einer Richtlinie heranzuziehen, wird … durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere durch den Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot begrenzt; auch darf sie nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen.“103

33c

Abgesehen davon, dass eine contra legem-Auslegung wohl in allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in höchstem Maße problematisch, wenn nicht gar generell unzulässig sein dürfte, hat die deutsche Rechtsprechung, soweit ersichtlich, diesen Schritt im Hinblick auf unionsrechtliche Problematik niemals vollzogen.104 So hat denn auch das Arbeitsgericht Lörrach in einem der Schlussurteile auf die Rechtssachen Pfeiffer u.a. eine richtlinienkonforme contra legem-Auslegung im Anschluss an das Bundesarbeitsgericht105 zu Recht abgelehnt.106

34–39

Sicherlich dürfte die Grenze zwischen der vom BGH geforderten richtlinienkonformen Rechtsfortbildung, die er eindeutig jenseits des Wortlauts der fraglichen nationalen Regelung verortet, und einer als contra legem zu qualifizierenden Auslegung nicht einfach zu ziehen sein. Die Berufung auf den Willen des Gesetzgebers führt dabei nicht notwendigerweise zu größerer Erkenntnis. Realistischerweise wird ein Mitgliedstaat nicht eingestehen, Richtlinienvorgaben bewusst fehlerhaft umzusetzen, da er sich mit diesem Eingeständnis einer sicheren Verurteilung durch den Gerichtshof 102 BGHZ 179, 27 – Quelle, ergangen auf Vorabentscheidung des Gerichtshofs, EuGH v. 17.4.2008 – C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685, dazu Möllers/Möhring, JZ 2008, 942. Der BGH-Entscheidung zust. Pfeiffer, NJW 2009, 412; Möllers, JZ 2009, 405, abl. Höpfner, JZ 2009, 403. Eingehend zur richtlinienkonformen Rechtsfortbildung W.-H. Roth, in diesem Band, § 14 Rn. 46 ff. 103 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 110; vgl. auch EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact, Slg. 2008, I-2483 Rn. 100; EuGH v. 12.6.2008 – Rs. C-364/07 Vassilakis u.a., Slg. 2008, I-90 Rn. 58; EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 Angelidaki u.a., Slg. 2009 I-3071 Rn. 199; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, (noch nicht in Slg.) Rn. 61; zuvor bereits zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285 Rn. 45. 104 Im Unterschied zu Teilen der Literatur, vgl. Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 51 ff.; ebenso W.-H. Roth, in diesem Band, § 14 Rn. 54 ff. 105 BAG, AP Nr. 14 zu § 17 KSchG 1969, unter B.III.4. mwN. 106 ArbG Lörrach, BeckRS 2005, 41791, unter II.3.

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§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH

und dem unmittelbaren Risiko nachfolgender Sanktionen (Art. 260 AEUV/228 EG) sowie von Staatshaftungsansprüchen aussetzt.107 Hält ein Mitgliedstaat eine Richtlinienbestimmung für primärrechtswidrig, muss er von sich aus innerhalb bestimmter Fristen den Gerichtshof im Wege der Nichtigkeitsklage anrufen und die Aufhebung der Bestimmung beantragen. An seiner unbedingten Verpflichtung, die aus seiner Sicht fehlerhafte Bestimmung in nationales Recht umzusetzen, ändert dies nichts. Zumindest in der jüngeren deutschen Umsetzungspraxis dürften Fälle des bewussten und offenen Abweichens von Richtlinienbestimmungen nicht mehr anzutreffen sein.108 Der Wille des deutschen Gesetzgebers, Richtlinien vollständig und korrekt umzusetzen, kann also generell unterstellt werden und wird zudem in jedem Umsetzungsgesetz ausdrücklich hervorgehoben. Faktisch läuft die Rechtsauffassung des BGH darauf hinaus, richtlinienwidrige Bestimmungen eines Umsetzungsgesetzes unter Berufung auf den generellen gesetzgeberischen Willen sowie auf Rechtsfiguren wie die der „planwidrigen Unvollständigkeit“ bzw. der „verdeckten Regelungslücke“109 teleologisch zu reduzieren und damit richtlinienkonform fortzubilden. Ob dies rechtsdogmatisch bereits hinreichend ausgeleuchtet ist und von anderen obersten Gerichtshöfen des Bundes nachvollzogen wird, bleibt abzuwarten. Es handelt sich jedenfalls um eine Frage des deutschen Rechts, bei der die vom Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil zum Ausdruck gebrachten Reserven gegenüber einer extensiven Auslegung europäischen Rechts110 nicht greifen.

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Rechtspolitisch ist diese Rechtsprechung zweifellos insoweit zu begrüßen, als sie den Gesetzgeber nicht dem Risiko von Staatshaftungsansprüchen111 aussetzt, sondern den Gerichten die Aufgabe zuweist, Defizite der Umsetzungsgesetzgebung im Wege der Auslegung zu korrigieren.

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IV.

Die Bedeutung von Präjudizien

Eine bedeutende Rolle nehmen in der Rechtsprechungspraxis des Gerichtshofs die eigenen Präjudizien ein. Bekanntlich setzt sich der Gerichtshof in seinen Urteilen – sehr zum Leidwesen der rechtslehrenden Zunft – nicht mit der wissenschaftlichen

107 Der Staatssekretärausschuss für Europafragen der Bundesregierung hat deshalb strikte Regeln zur rechtzeitigen Umsetzung von EU-Richtlinien sowie zur Abstellung von Vertragsverstößen sowie zur Abwendung drohender Sanktionen erlassen. 108 Auch W.-H. Roth, in diesem Band, § 14 Rn. 60, räumt ein, dass derartige Fälle in der Praxis „eher selten vorkommen“. 109 Immerhin handelte es sich bei dem inkriminierten Nutzungsersatzanspruch des Verkäufers um eine explizite gesetzliche Regelung. Zweifelnd aber Sperber, EWS 2009, 358, 359. 110 S.o. Fn. 23. 111 Der gemeinschaftliche Staatshaftungsanspruch ist bekanntlich aus Anlass einer fehlgeschlagenen horizontalen Richtlinienanwendung kreiert worden, vgl. EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich u.a., Slg. 1990, I-5357; EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 112; EuGH v. 12.6.2008 – Rs. C-364/07 Vassilakis u.a., Slg. 2008, I-90 Rn. 60.

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3. Teil: Besonderer Teil

Literatur auseinander. Die Gründe hierfür hat der erste deutsche Richter am Gerichtshof, Otto Riese, wie folgt beschrieben: „Bei seiner Rechtsprechung berücksichtigt der Gerichtshof selbstverständlich soweit als möglich alle erreichbaren Quellen, setzt sich mit der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur auseinander und nimmt häufig eingehende rechtsvergleichende Studien vor, die freilich zuweilen noch weiter hätten vertieft werden sollen. Dies alles kommt in den Urteilen – im Gegensatz zu den Schlussanträgen der Generalanwälte – nicht zum Ausdruck, da der Gerichtshof sich seit Beginn seiner Tätigkeit dazu entschlossen hat, in den Urteilen auf Zitate zu verzichten, ausgehend von der Ansicht, dass es nicht Aufgabe der Rechtsprechung sei, zu wissenschaftlichen Diskussionen Stellung zu nehmen, aber auch aus der Erkenntnis, dass in einigen Mitgliedstaaten sehr zahlreiche Publikationen zum neuen europäischen Gemeinschaftsrecht erscheinen, in anderen nur weinige, und dass es dem Gemeinschaftsgefühl abträglich sein könnte, wenn ein Urteil sich nur oder ganz überwiegend auf die Literatur eines der Mitgliedstaaten stützte.“112

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Diese Aussage von Anfang der sechziger Jahre hat noch heute Gültigkeit. Mit Ausnahme von gelegentlichen Referenzen auf die Schlussanträge der Generalanwälte, mit denen der Gerichtshof Mitte der neunziger Jahre eine frühe Praxis wieder aufleben ließ, greift der Gerichtshof in der Begründung seiner Urteile ausschließlich auf seine frühere Rechtsprechung zurück. Nach der Wiedergabe des wesentlichen Parteivortrags und der anwendbaren Rechtsvorschrift zitiert er als Einstieg zu seiner Begründung in aller Regel zunächst die zu der streitigen Rechtsfrage bereits bestehende Rechtsprechung und entwickelt davon ausgehend seine Argumentationslinie. Diese Art der Urteilsbegründung hat interpretationsbegrenzende, teilweise sogar interpretationsersetzende Funktion. Sie begünstigt tendenziell das Denken in Fällen gegenüber dem Denken in allgemeinen Regeln. Die Auslegung anhand der üblichen Methoden wird so gewissermaßen zum Sediment, das über die stetigen Verweise in späteren Entscheidungen kontinuierlich mitgetragen wird. Dieses schrittweise Vorgehen jeweils aufbauend auf vorherigen Urteilen dient der Vorhersehbarkeit, Kohärenz113 und letztlich Akzeptanz der Rechtsprechung.114

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Im Unterschied zum U.S. Supreme Court115 hat der Gerichtshof die Existenz einer stare decisis Regel niemals anerkannt. Dennoch sind Fälle, in denen der Gerichtshof offen von seiner früheren Rechtsprechung abweicht, äußerst rar.116

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Zum einen zeigt der Gerichtshof nicht jede Änderung seiner Rechtsprechung an. Weitaus zahlreicher sind die Fälle, in denen er eine frühere Rechtsprechung aufgibt,

112 Riese, Das Sprachproblem in der Praxis des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1963), S. 507, 516. 113 Vgl. Groh, Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren (2005), S. 180 f. 114 Vgl. Everling, JZ 2000, 217, 227. 115 Vgl. Supreme Court v. 29.6.1992 – Planned Parenthood of Southeastern Pa. v. Casey, 505 U.S. 833 (1992). 116 Vgl. EuGH v. 17.10.1989 – Rs. C-10/89 HAG GF, Slg. 1990, I-3711 Rn. 10; EuGH v. 24.11.1993 – verb. Rs. C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097 Rn. 16.

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§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH

ohne dies entsprechend zu kennzeichnen.117 Zum anderen prüft der Gerichtshof stets mit größter Sorgfalt, ob er, statt einer einmal eingeschlagenen, sich mittlerweile aber als problematisch erweisenden Rechtsprechung weiterhin zu folgen, sich nicht besser offen von dieser distanziert, insbesondere wenn mehrere Generalanwälte ihm dies überzeugend nahelegen.118 Hält der Gerichtshof dennoch an seiner Rechtsprechung fest, so dürfte dies für ihn in erster Linie eine Frage der Rechtssicherheit und erst danach eine Frage der eigenen Glaubwürdigkeit sein. Jedenfalls rührt ein Overruling heute nicht mehr an den Grundfesten der europäischen Rechtsordnung. Der Gerichtshof ist fest etabliert und genießt hohes Renommee. Ein sorgfältig begründetes Abweichen von früherer Rechtsprechung zeugt auch vom souveränen und lebendigen Umgang mit dem Recht. So distanzierte sich der Gerichtshof erst kürzlich im Fall Metock 119 wieder einmal offen von seiner bisherigen Rechtsprechung120: „Es trifft zu, dass der Gerichtshof in den Randnummern 50 und 51 des Urteils Akrich entschieden hat, dass sich der mit einem Unionsbürger verheiratete Drittstaatsangehörige, um in den Genuss der Rechte aus Art. 10 der Verordnung Nr. 1612/68 kommen zu können, rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten muss, wenn er sich in einen anderen Mitgliedstaat begibt, in den der Unionsbürger abwandert oder abgewandert ist. Hieran ist jedoch nicht festzuhalten. Denn der Genuss solcher Rechte kann nicht davon abhängen, dass sich der mit einem Unionsbürger verheiratete Drittstaatsangehörige zuvor rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat.“121

V.

Ausblick

Der Vertrag von Lissabon stellt auch den Gerichtshof vor neue Herausforderungen, die nicht ohne Auswirkungen auf seinen methodischen Ansatz bleiben werden. So erwirbt der Gerichtshof eine allgemeine Zuständigkeit im Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.122 Für den Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen bedeutet dies, dass die Vorlageberechtigung der mitgliedstaatlichen Gerichte nicht mehr von einer Unterwerfungserklärung der 117 Vgl. Mehdi, FS Bourrinet (2004), S. 113–136. 118 Vgl. etwa die Rechtssachen, in denen der Gerichtshof gegen die überzeugenden Stellungnahmen mehrerer Generalanwälte daran festgehalten hat, auch auf solche Vorabentscheidungsersuchen zu antworten, in denen die Gemeinschaftsvorschriften, deren Auslegung begehrt wurde, nur aufgrund einer vom nationalen Recht vorgenommenen Verweisung anwendbar waren, vgl. u.a. EuGH v. 18.10.1990 – verb. Rs. C-297/88 und C-197/89 Dzodzi, Slg. 1990, I-3763 Rn. 37; EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4291 Rn. 28; sowie die entsprechenden Schlussanträge; seither st. Rspr., vgl. zuletzt EuGH v. 15.5.2003 – Rs. C-300/01 Salzmann, Slg. 2003, I-4899 Rn. 34; EuGH v. 29.4.2004 – Rs. C-222/01 British American Tobacco Manufacturing, Slg. 2004, I-4683 Rn. 40. 119 EuGH v. 25.7.2008 – Rs. C-127/08 Metock u.a., Slg. 2008, I-6241 Rn. 53–54, 58. 120 EuGH v. 23.9.2003 – Rs. C-109/01 Akrich, Slg. 2003, I-9607. 121 EuGH v. 25.7.2008 – Rs. C-127/08 Metock u.a., Slg. 2008, I-6241 Rn. 58. 122 Skouris, Rechtsschutz im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, Vortrag gehalten am 8.5.2008 in Regensburg im Rahmen der jährlichen Konferenz der Juristischen Studiengesellschaft Regensburg e.V.

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3. Teil: Besonderer Teil

einzelnen Mitgliedstaaten abhängt.123 Im Bereich Visa, Asyl, Einwanderung und anderen Politiken betreffend den freien Personenverkehr (insbesondere die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen, die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen) ist neben dem Wegfall der Vorlagebeschränkung auf nationale Gerichte im letzten Rechtszug vor allem bedeutsam, dass der Gerichtshof sich im Unterschied zur bisherigen Rechtslage nunmehr auch zu Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung bei grenzüberschreitenden Kontrollen äußern kann. Im Lichte der durch den Lissabon-Vertrag präzisierten allgemeinen Zuständigkeitsregeln wird der Gerichtshof seine bislang anerkannt balancierte Rechtsprechung weiterentwickeln müssen. Auch die Charta der Grundrechte wird den Gerichtshof herausfordern, seine Grundrechtsdogmatik zu verfeinern.124 Dabei wird der rechtsvergleichende Aspekt eine wichtige Rolle spielen. Nicht zuletzt wird früher oder später die Auslegung der Protokolle gefragt sein, das dem Vereinigten Königreich, Polen und der Tschechischen Republik Ausnahmen von der Geltung der Grundrechte-Charta zugesteht.125 Und schließlich wird der Gerichtshof Gelegenheit bekommen, den rechtlichen Gehalt des Subsidiaritätsprinzips stärker herauszuarbeiten.126

123 In Übergangsbestimmungen ist jedoch vorgesehen, dass diese uneingeschränkte Zuständigkeit erst fünf Jahre nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon gilt, vgl. Art. 10 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen, ABl. 2007 C 306/159, 163. 124 Vgl. Huber, EuR 2008, 190; Berramdane, RDUE 2009, 441. S.a. Rosas, in: Krause/Scheinin (Hrsg.), International Protection of Human Rights (2009), S. 443, 459; Mengozzi, FS Théochropoulos und Kontogiorga-Théocharopoulou (2010); Pache/Rösch, EWS 2009, 393; Spranger, EuR 2009, 514; Callewart, E.H.R.L.R. 2009, 768, 776 f. 125 Vgl. Protokoll Nr. 30 über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich, Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf die Tschechische Republik, das zum Zeitpunkt des Abschlusses des nächsten Beitrittsvertrages dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beigefügt wird (siehe Tagung des Europäischen Rates vom 29./30.10.2009 – Schlussfolgerungen des Vorsitzes). 126 Vgl. Art. 8 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, ABl. 2007 C 306/148.

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§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB) Jürgen Schmidt-Räntsch Übersicht . . . .

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Rn. 1–9 7–9 1–3 4–6

II. Auslegungskompetenz der OGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auslegungsmonopol des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auslegung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anwendung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gültigkeit des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorlagerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entscheidungserhebliche Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vorlagezeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vorlageberechtigte Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Vorlageermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vorlagepflicht der OGB gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV/234 Abs. 3 EG a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausnahmen von der Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Klärung durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Offenkundigkeit der Auslegung des EU-Rechts . . . . . . . . cc) Klärung anhand der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . c) Verstöße gegen die Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vorlageverfahren vor den OGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Form und Anlass der Vorlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Inhalt des Vorlagebeschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Tenor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Praxis der OGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Technische Abwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Vorlageverfahren vor dem EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schriftliches Vorverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mündliche Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Urteil des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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10–53 10–14a 10–12 13–14 14a 15–23 15–16 17–19 20–22 23 24–38 24–26 27–35 28–29 30–32 33–35 36–38 39–47 39–40 41–46 41 42–45 46 47 48–52 48–49 50 51–52

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53–97 53–55 56–57 58–69 58–59 60–66

I. Mögliche Gegenstände der Auslegung durch die OGB 1. Öffentliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zivil- und Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . 3. Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Auslegungssituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorabentscheidungsersuchen . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abwehr von Vorabentscheidungsersuchen . . . . . . . . 3. Anwendung unmittelbar geltenden Gemeinschaftsrechts a) Primäres Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . b) Verordnungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Schmidt-Räntsch

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3. Teil: Besonderer Teil aa) Öffentliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Richtlinien und (Rahmen-)Beschlüsse . . . . . . . . . 4. Anwendung von Umsetzungsvorschriften . . . . . . . . . a) Umsetzungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auslegung von Umsetzungsvorschriften . . . . . . . . aa) EU-konformeAuslegung . . . . . . . . . . . . . . bb) Überschießende Umsetzung . . . . . . . . . . . . c) Sonderfall: Umsetzung durch Generalklauseln . . . . . 5. Anwendung ausfüllungsbedürftiger nationaler Vorschriften 6. Haftung für verspätete Umsetzung von EU-Recht . . . . . a) EU-rechtliche Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Amtshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Überbrückung von Umsetzungsdefiziten . . . . . . . . . . a) Allgemeine Folgen von Umsetzungsdefiziten . . . . . . b) Überbrückung durch Rechtsprechung . . . . . . . . . IV. Auslegungsmethoden . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . 2. Wortlautauslegung . . . 3. Systematische Auslegung 4. Historische Auslegung . . 5. Teleologische Auslegung

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. 98–106 . 98 . 99 . 100–102 . 103 . 104–106

V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60–63 64–66 67–69 70–85 70–74 75–82 75–77 78–82 83–85 86–87 88–92 88–90 91–92 93–97 93–95 96–97

107

Literatur: Jürgen Basedow, Der Bundesgerichtshof, seine Rechtsanwälte und die Verantwortung für das europäische Privatrecht, in: Gerd Pfeiffer/Joachim Kummer/Silke Scheuch (Hrsg.), Festschrift für Hans Erich Brandner (1996), S. 651–681; Michael Brück, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof als Bestandteil des deutschen Zivilprozesses (2001); Ninon Colneric, Auslegung des Gemeinschaftsrechts und gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, ZEuP 2005, 225–233; Ekkehardt von Heymann/Karen, Annertzok, Zur Bindung der Rechtsprechung an nationale Gesetze und EU-Richtlinien, BKR 2002, 234–235; Nils Grosche/ Jan Höft, Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung ohne Grenzen? – Zugleich Besprechung von BGH, NJW 2009, 427 – Quelle, NJOZ 2009, 2294–2309 mit Zusammenfassung in NJW 2009, 2416–2417; Peter Hommelhoff, Die Rolle der nationalen Gerichte bei der Europäisierung des Privatrechts, in: Claus-Wilhelm Canaris u.a. (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Band 2 (2000), S. 889–925; Juliane Kokott/Thomas Hense/Christoph Sobotta, Die Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof und die Folgen ihrer Verletzung, JZ 2006, 633–641; Andreas Piekenbrock/Götz Schulze, Die Grenzen richtlinienkonformer Auslegung – autonomes Richterrecht oder horizontale Direktwirkung, WM 2002, 521–529; Thomas Pfeiffer, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht, StudZR 2004, 171–194; ders., Richtlinienkonforme Auslegung gegen den Wortlaut des nationalen Gesetzes – Die Quelle-Folgeentscheidung des BGH, NJW 2009, 412–413; Oliver Remien, Die Vorlagepflicht bei Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, RabelsZ 66 (2002), 503–530; René Repasi, Die Reichweite des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes bei der Richtlinienumsetzung, EuZW 2009, 756–757; Karl Riesenhuber/Ronny Domröse, Richtlinienkonforme Rechtsfindung und nationale Methodenlehre – Zugleich eine Besprechung von EuGH, Urt. v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis 403/01 Pfeiffer u.a., RIW 2005, 47–54; Thomas Ritter, Neue Wertordnung für die Gesetzesauslegung durch den Lissabon-Vertrag, NJW 2010, 1110–1114; Wulf-Henning Roth, Die Europäisierung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, in: Barbara Dauner-Lieb/Horst Konzen/Karsten Schmidt (Hrsg.), Das neue Schuldrecht in der Praxis (2003), S. 25–39; Bettina Schöndorf-Haubold, Die Haftung der Mit-

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§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB) gliedstaaten für die Verletzung von EU-Recht durch nationale Gerichte, JuS 2006, 112–115; Reiner Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999); Monika Schlachter, Richtlinienkonforme Rechtsfindung – ein neues Stadium im Kooperationsverhältnis zwischen EuGH und den nationalen Gerichten – Besprechung des Urteils EuGH v. 5.10.2004 – C-397/01 bis C-403/01, RdA 2005, 115–120; Natascha Solar, Vorlagepflichtverletzung mitgliedstaatlicher Gerichte und ihre Sanierung (2004); Matthias Thume/Hervé Edelmann, Keine Pflicht zur systemwidrigen richtlinienkonformen Rechtsfortbildung – zugleich eine Besprechung der Urteile des EuGH vom 25.10.2005 in den Rechtssachen C-229/04 („Crailsheimer Volksbank“) und C-350/03 („Schulte“), BKR 2005, 477–487. Rechtsprechung: EuGH v. 22.10.1987 – Rs. 314/85 Foto-Frost, Slg. 1987, 4199; EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921; EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis 244/98 Océano Grupo Editorial ./. Salvat Editores, Slg. 2000, I-4941; EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945; EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835; EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, Slg. 2005, I-9273; EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215; EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981; EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-344/04 IATA ./. Dept. of Trade (Vereinigtes Königreich), Slg. 2006. I-403; BGHZ 179, 27 – Quelle.

I.

Mögliche Gegenstände der Auslegung durch die OGB

1.

Öffentliches Recht

Der weit überwiegende Bestand der Normen des EU-Rechts ist aus deutscher Sicht dem öffentlichen Recht zuzuordnen. Fragen der Anwendung und Auslegung solcher EU-Rechtsnormen stellen sich deshalb in erster Linie den für das öffentliche Recht zuständigen obersten Gerichtshöfen des Bundes, dem BVerwG, dem BFH und dem BSG. In der Rechtsprechung dieser obersten Gerichtshöfe nimmt das EU-Recht einen je nach Sachgebiet mehr oder weniger breiten, aber tendenziell immer breiter werdenden und auch immer mehr Rechtsgebiete durchdringenden Raum ein. So bildet etwa die Anwendung der einschlägigen umweltrechtlichen Richtlinien1 bei der gerichtlichen Überprüfung der meisten Planfeststellungsbeschlüsse den wesentlichen Schwerpunkt.2 Die Rechtsprechung des BFH etwa zum Umsatzsteuerrecht ist heute durch die Umsatzsteuerrichtlinien der EU geprägt.3

1 Z.B. Richtlinie 79/409/EWG des Rates v. 2.4.1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten, ABl. 1979 L 102/1 (Vogelschutz-Richtlinie); Richtlinie 92/43/EWG des Rates v. 21.5.1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen, ABl. 1992 L 206/7, zuletzt geändert durch Richtlinie 2006/105/EG v. 20.11.2006, ABl. 2006 L 363/368 (FFH-Richtlinie); Richtlinie 85/337/EWG des Rates v. 27.6.1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. 1985 L 175/40, zuletzt geändert durch die Richtlinie 2003/35/EG v. 26.5.2003, ABl. 2003 L 156/17 (UVP-Richtlinie). 2 Z.B. BVerwG, NuR 2009, 334, 408 – Flughafen Weeze; NuR 2009, 776 – BAB A 44; VG Dresden, UPR 2009, 360 – Dresdner Waldschlößchenbrücke (Vollabdruck bei juris). 3 Z.B. BFHE 226, 205; 226, 435.

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1

3. Teil: Besonderer Teil

2

In nicht geringem Umfang ist auch der BGH mit der Anwendung solcher EURechtsnormen befasst. Wichtige Teilbereiche des öffentlichen Rechts sind nämlich dem BGH gesetzlich zugewiesen: Das sind vor allem das Kartellrecht, das Vergaberecht, die Überprüfung der Entscheidungen des DPMA und das Berufsrecht der Rechtsanwälte und Notare. Die ersten drei Bereiche sind sehr stark, der vierte Bereich schon merklich EU-rechtlich durchdrungen.

3

Der BGH muss sich auch außerhalb solcher Rechtswegzuweisungen mit deutschem öffentlichem Recht und damit auch mit Verordnungen oder mit den das deutsche öffentliche Recht vorbestimmenden EU-Rechtsnormen befassen. Das ist beim Amtshaftungs- und Wettbewerbs- und auch im Strafrecht der Fall. Amtshaftungsfälle, Straftaten und Wettbewerbsverstöße können sich auf nahezu allen Feldern des öffentlichen Rechts ereignen. Dementsprechend lassen sich die Gebiete des öffentlichen Rechts, mit denen der BGH auf diesen Wegen befasst wird, nicht thematisch eingrenzen. 2.

Zivil- und Arbeitsrecht

4

Ähnlich stark EU-rechtlich durchdrungen wie das öffentliche Recht ist inzwischen das Arbeitsrecht. Neben den grundrechtlichen Gewährleistungen des EU-Primärrechts 4 sind hier eine ganze Reihe von EU-Richtlinien zum internationalen5, zum Individual-6 und zum kollektiven Arbeitsrecht7 zu nennen. Diese Richtlinien prägen auch die Rechtsprechung des BAG zu den Umsetzungsvorschriften.8 Demgegenüber hat der BGH als oberster Gerichtshof der ordentlichen Gerichtsbarkeit in erster Linie Vorschriften des Zivilprozessrechts, des materiellen Zivil- und Handelsrechts und des Strafrechts anzuwenden. Aber auch dazu gehören in inzwischen nicht unbeträchtlichem, allerdings gebietsweise unterschiedlichem Umfang auch unmittelbar geltende EU-Rechtsnormen. Das sind neben einigen Vorschriften des Primärrechts vor allem Normen des EU-Verordnungsrechts.

5

Gelegenheit zur Anwendung von EU-Recht findet der BGH aber nicht nur hier. Ein nicht unbeträchtlicher Teil des deutschen Zivilprozessrechts und des materiellen deutschen Zivil- und Handelsrechts ist nämlich inzwischen durch EU-Verordnungen und

4 Dazu Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 2 Rn. 3, 10, 11. 5 Z.B. Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.12.1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. 1997 L 18/1; dazu Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 6. 6 Z.B. Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.7.2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung), ABl. 2006 L 204/23; Richtlinie 2000/78/EG des Rates v. 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000 L 30/16; zu diesen: Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, §§ 9 und 11. 7 Z.B. Richtlinie 2009/38/EG des Rates v. 6.5.2009 über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen, ABl. 2009 L 122/28; dazu Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 28. 8 Z.B. BAG, RIW 2010, 76; NZA 2009, 378; BAGE 126, 352.

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Jürgen Schmidt-Räntsch

§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

EU-Richtlinien inhaltlich mehr oder weniger weitgehend vorbestimmt. Die EU-rechtliche Durchdringung dieser Bereiche des deutschen Rechts ist, wie auch im öffentlichen und im Arbeitsrecht, unterschiedlich stark. Die Rechtsetzung der EU folgt dabei, was oft übersehen wird, nicht der Systematik der Zivilrechtskodifikationen und der Verfahrensordnungen der Mitgliedstaaten. Die EU hat nämlich, anders als z.B. der Bund nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG, keine umfassende Rechtsetzungskompetenz für das bürgerliche Recht und das Verfahrensrecht der Gerichte. Die Kompetenzen des EU-Gesetzgebers sind vielmehr nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung an den Zielen des Vertrags und den zu verwirklichenden Freiheiten ausgerichtet. Es sind Querschnittskompetenzen, die sich an der Erreichung des Ziels ausrichten und dazu alle Normbereiche des nationalen Rechts erfassen, die bei der Durchsetzung der Vertragsziele und der Freiheiten berührt werden, aber gleichzeitig alle Teile desselben Normbereichs ausblenden, die keinen Bezug hierzu haben.9 Das nationale Zivilrecht der Mitgliedstaaten wird deshalb von der Natur der Kompetenzen her nur im Bereich der Vertragsziele und -freiheiten EU-rechtlich vorbestimmt, auch wenn es vielleicht aus der Sicht des nationalen Rechts zweckmäßig wäre, auch andere Bereiche abzudecken. Dadurch bedingte systematische Lücken und Brüche im nationalen Recht muss der Gesetzgeber bei der Umsetzung des EU-Rechts durch eine entsprechende Ausgestaltung des nationalen Rechts vermeiden. Das macht nicht selten eine über das EU-rechtlich Gebotene hinausgehende, sog. überschießende Umsetzung von Richtlinien (und EU-Rahmenbeschlüssen), erforderlich. Eine solche überschießende Umsetzung kann durch die Verwendung sog. absoluter Standards in EU-Richtlinien erschwert werden. Darunter versteht man EU-Richtlinien, die im nationalen Recht weder unter- noch überboten werden dürfen. Die EU-rechtlich vorbestimmten Bereiche des deutschen Zivilprozess-, Zivil- und Handelsrechts sind vor allem: das internationale Zivilprozess- und Insolvenzrecht, das Gesellschaftsrecht, das Recht der gewerblichen Schutzrechte und das Urheberrecht, das Handelsvertreterrecht, das Kaufrecht und das Verbraucherschutzrecht. 3.

6

Strafrecht

Das Strafrecht der Mitgliedstaaten der EU ist sehr heterogen und deshalb bislang in seinem Kernbestand noch nicht so tief EU-rechtlich vorbestimmt wie das Zivilrecht. Das bedeutet aber nicht, dass das Strafrecht einer solchen Durchdringung von vornherein entzogen wäre. Die Querschnittskompetenzen der EU erfassen auf ihrem Sektor alle Rechtsgebiete ohne Ausnahme, auch das Strafrecht.

7

Bislang hat die EU aber meist davon abgesehen, den Mitgliedstaaten speziell strafrechtliche Sanktionen vorzugeben, sondern ihnen die Wahl der Sanktion, oft auch das Durchsetzungsmittel überhaupt, freigestellt. Deshalb besteht meist kein EUrechtlicher Zwang zur Umsetzung in Form von Strafrechtsnormen, der aber entgegen verbreiteter Ansicht möglich wäre.10 Allerdings müssen auch Tatbestände von Straf-

8

9 Dazu: Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 132 ff.; Streinz-Leible, Art. 95 EG Rn. 4. 10 EuGH v. 13.9.2005 – Rs. C-176/03 Kommission ./. Rat, Slg. 2005, I-7879 Rn. 48. Jürgen Schmidt-Räntsch

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3. Teil: Besonderer Teil

rechtsnormen bisweilen unter Rückgriff auf Normen anderer Rechtsgebiete ausgefüllt werden. Soweit diese EU-rechtlich geregelt oder vorbestimmt sind, muss ggf. auch bei der Anwendung von Strafrechtsnormen EU-Recht angewendet werden. Bislang ist das meist auf dem Gebiet des Nebenstrafrechts der Fall.

9

Eine solche Notwendigkeit kann aber auch bei den Normen des Kernstrafrechts auftreten. Beispiele sind das Steuer- und Umweltstrafrecht11 oder § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG, den der BGH unter Rückgriff auf Art. 72 ff. Börsenrechtsrichtlinie12 und Kommentare der Kommission13 auslegt.14 Neben der Ausfüllung von Straftatbeständen durch das Unionsrecht ergibt sich bisweilen auch die Notwendigkeit, nationale Strafnormen EU-rechtskonform einzuschränken.15 Es ist zu erwarten, dass das EURecht nicht nur das Strafverfahrensrecht16 weiter durchdringen wird. Das Strafrecht gehört zwar nach dem Urteil des BVerfG zum Lissabon-Vertrag17 zu den wesentlichen Bereichen demokratischer Gestaltung, in welchen den Mitgliedstaaten ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse verbleiben muss.18 Eine Übertragung von Hoheitsrechten über die intergouvernementale Zusammenarbeit hinaus darf nach diesem Urteil in diesem Bereich nur für bestimmte grenzüberschreitende Sachverhalte unter restriktiven Voraussetzungen zu einer Harmonisierung führen; dabei müssen grundsätzlich substantielle mitgliedstaatliche Handlungsfreiräume erhalten bleiben.19 Das setzt dem Erlass weiteren EU-Rechts auf dem Gebiet des Strafrechts Grenzen, steht ihm aber nicht von vornherein entgegen.

11 Vgl. etwa BGHSt 43, 219, 224 ff.; 37, 168, 174 ff. 12 Richtlinie 2001/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.5.2001 über die Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Börsennotierung und über die hinsichtlich dieser Wertpapiere zu veröffentlichenden Informationen, ABl. 2001 L 184/1. 13 Kommentare zu bestimmten Artikeln der Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards und zur Vierten Richtlinie 78/660/EWG des Rates v. 25.7.1978 sowie zur Siebenten Richtlinie 83/349/EWG v. 13.6.1983 über Rechnungslegung v. November 2003, unveröffentlicht, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/internal_market/accounting/docs/ias/ 200311-comments/ias_200311-comments_de.pdf. 14 BGHSt 49, 381, 389. 15 BGH, NJW 2003, 2842, 2843. 16 Daran ändert auch die Erklärung des Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum europäischen Haftbefehl für nichtig durch das BVerfG in BVerfGE 113, 273 nichts. Vorbehalte gegenüber dem Gemeinschaftsrecht hat das BVerfG in seiner Entscheidung nicht gemacht. Ein Beispiel ist der Rahmenbeschluss 2005/214/JI des Rates v. 24.2.2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen, ABl. 2005 L 76/16. 17 BVerfGE 123, 267. 18 BVerfGE 123, 267 Rn. 249. 19 BVerfGE 123, 267 Rn. 253.

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§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

II.

Auslegungskompetenz der OGB

1.

Auslegungsmonopol des EuGH

a)

Auslegung des Gemeinschaftsrechts

Dieses thematisch breit angelegte Spektrum von Fallgestaltungen, die die obersten Gerichtshöfe des Bundes unter unmittelbarer oder mittelbarer Anwendung und Auslegung von EU-Recht zu lösen haben, gibt inhaltlich vielfältige Möglichkeiten zur Entwicklung methodischer Grundsätze zur Anwendung und Auslegung des EURechts. Diese können die Gerichtshöfe des Bundes aber nur in eingeschränktem Umfang nutzen.

10

Die Auslegung des Unionsrechts ist nach Art. 267 Abs. 1 AEUV/234 Abs. 1 EG Sache des EuGH. Ihm allein steht es zu, den Vertrag und das Sekundärrecht auszulegen und die Gültigkeit20 von Handlungen der Organe zu überprüfen. Handlungen der Organe sind im vorliegenden Kontext vor allem die Verordnung, die Richtlinie, die Entscheidung21 (des Rates oder der Kommission) und der nach Art. 81 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 288 Abs. 4 AEUV mögliche Beschluss, der inhaltlich dem nach Maßgabe des bisherigen Art. 35 EU möglichen Rahmenbeschluss22 nach dem bisherigen Art. 34 EU entspricht. Könnten die Mitgliedstaaten und ihre Organe je für sich über den Inhalt der Gemeinschaftsverträge (EUV und AEUV) und des sekundären Unionsrechts und über die Gültigkeit der Unionsrechtsakte entscheiden, würde das die Durchsetzungskraft des Unionsrechts entscheidend schwächen. Es bestünde nämlich die Gefahr, dass das Unionsrecht in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich verstanden und auch die Gültigkeit von sekundärem Unionsrecht dort unterschiedlich bewertet wird. Das lässt sich nur vermeiden, wenn die Kompetenz hierfür ausschließlich einem Unionsorgan, nämlich dem EuGH, übertragen wird.

11

Seine Auslegungskompetenz könnte der EuGH nicht wahrnehmen, wenn die Gerichte der Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit und unter bestimmten Voraussetzungen auch die Verpflichtung hätten, Fragen der Auslegung des Unionsrechts und der Gültigkeit von Sekundärrechtsakten dem EuGH vorzulegen. Das ist der Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV/234 Abs. 2 und 3 EG.

12

b)

Anwendung des Gemeinschaftsrechts

Von der Auslegung des Unionsrechts ist seine Anwendung auf den konkreten Einzelfall zu unterscheiden.23 Diese Unterscheidung hat der EuGH im Fall Freiburger Kommunalbauten24 prägnant herausgearbeitet. In jenem Fall hatte der VII. Zivilsenat des 20 Z.B. BGH, GRUR 2000, 392, 393 ff. – Omeprazol. 21 Z.B. BGHZ 146, 153, 160. 22 Zu dessen Wirkungen: EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285; Adam, EuZW 2005, 558, 560. 23 V. d. Groeben/Schwarze-Gaitanides, Art. 234 EGV Rn. 32. 24 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22. Jürgen Schmidt-Räntsch

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13

3. Teil: Besonderer Teil

BGH dem EuGH die Frage vorgelegt, ob das Klauselwerk einer Bürgschaft nach der MaBV mit der Klauselrichtlinie in Übereinstimmung steht.25 Diese Vorlage hat der EuGH als unzulässig zurückgewiesen. Er hat dabei in Abgrenzung zu seiner OcéanoEntscheidung26 deutlich gemacht, dass es bei der Auslegung des Rechts im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens, wie im nationalen Recht, im Wesentlichen darum geht, die für die Subsumtion eines Einzelfalls unter das Gesetz erforderlichen Obersätze und ihren Inhalt festzustellen. Ob aber im Einzelfall die Erfordernisse des so konkretisierten EU-Rechts erfüllt sind oder nicht, sei, so der EuGH,27 nicht mehr eine Frage der Auslegung des EU-Rechts, sondern seiner Anwendung auf den Einzelfall, die den Gerichten der Mitgliedstaaten obliege. Diese Grundsätze hat er im Fall Kattner Stahlbau GmbH28 bekräftigt.

14

Aus der Rechtprechung des BGH lassen sich als Anwendungsbeispiele weiter nennen die Anwendung des EuGVÜ bzw. der EuGVVO29, des Marken- und Sortenschutzrechts30 oder des Arznei- und Lebensmittelrechts31 im konkreten Einzelfall oder die Prüfung von Mietvertragsklauseln in der Form von AGB.32 Nicht vorlagefähig wäre ferner etwa auch die Frage, ob die konkreten Umstände des Einzelfalls die Annahme außergewöhnlicher Umstände im Sinne der Rechtsprechung des EuGH 33 rechtfertigen, die eine Ausnahme von den artenschutzrechtlichen Verboten nach Art. 16 FFHRichtlinie erlauben.34 Entsprechendes gilt für die Frage, ob der Bundesverkehrswegeplans 2003 mit Vorschriften der FFH-Richtlinie und der Vogelschutz-Richtlinie übereinstimmt.35 c)

14a

Gültigkeit des Gemeinschaftsrechts

Im Verfahren vor dem nationalen Gericht kann nicht nur die Auslegung und Anwendung des EU-Primär- oder EU-Sekundärrechts, sondern auch die Frage entscheidungserheblich sein, ob das EU-Sekundärrecht seinerseits dem Primärrecht entspricht. Zweifel daran könnten die Mitgliedstaaten durch eine, allerdings nach Art. 63

25 BGH, BGH-Report 2002, 835, 836. 26 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial ./. Salvat Editores, Slg. 2000, I-4941 Rn. 21–24. 27 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22. 28 EuGH v. 5.3.2009 – Rs. C-350/07 Kattner Stahlbau-GmbH ./. Maschinenbau- und MetallBerufsgenossenschaft, Slg. 2009, I-1513 Rn. 24. 29 BGH, NJW 2006, 230; GRUR 2006, 513, 514 f. – Arzneimittelwerbung im Internet. 30 BGH, BGH-Report 2005, 446, 447 – Maglite; BGHZ 139, 59, 63 f. – Fläminger; GRUR 2006, 405, 406 – Aufbereiter II; GRUR 2006, 407, 409 – Auskunftsanspruch bei Nachbau III; EuZW 2009, 708. 31 BGHZ 151, 286, 293 – Muskelaufbaupräparate; BGH, ZLR 2002, 660, 665 – Sportlernahrung; GRUR 2006, 513, 514 f. – Arzneimittelwerbung im Internet, mwN zur Rechtsprechung des EuGH. 32 BGH, NZM 2004, 734. 33 EuGH v. 14.6.2007 – Rs. C-342/05 Kommission ./. Finnland, Slg 2007, I-4713. 34 Beispiel nach BVerwG, NuR 2009, 414. 35 BVerwG, Beschl. v. 3.12.2008, 9 B 35/08, juris.

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§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

Abs. 6 AEUV/230 Abs. 5 EG innerhalb von zwei Monaten nach Bekanntgabe des Rechtsakts zu erhebende, eigene Anfechtungsklage nach Art. 263 Abs. 2 AEUV/230 Abs. 2 EG klären.36 Geschieht das nicht, hindert das nach Art. 277 AEUV/241 EG eine Inzidentüberprüfung aus Anlass eines nationalen Gerichtsverfahrens nicht. Der EG-Rechtsakt kann aber nicht durch das nationale Gericht, auch nicht durch einen nationalen obersten Gerichtshof, sondern nur durch den EuGH für ungültig erklärt werden.37 Denn Meinungsverschiedenheiten zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten über die Gültigkeit von Unionsrechtsakten wären nämlich geeignet, die Einheit der Unionsrechtsordnung selbst zu gefährden und das grundlegende Erfordernis der Rechtssicherheit zu beeinträchtigen.38 Das bedeutet aber nicht, dass das nationale Gericht schon dann ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH richten müsste, wenn eine Partei des nationalen Rechtsstreit die Ungültigkeit eines EU-Sekundärrechtakts geltend macht.39 Vielmehr hat es die Einwände zu prüfen. Hält es sie für unbegründet, bedarf es einer Vorlage nicht. Hält das nationale Gericht die Einwände hingegen für begründet, muss es die Frage der Gültigkeit des EU-Rechtsakts dem EuGH nach Art. 267 AEUV/234 EG vorlegen.40 2.

Vorlagerecht

a)

Entscheidungserhebliche Fragen

Fragen der Auslegung des EU-Rechts können die Gerichte der Mitgliedstaaten nach Art. 267 Abs. 2 AEUV/234 Abs. 2 EG dem EuGH vorlegen, wenn sie entscheidungserheblich sind. Aus welchen Gründen das der Fall ist, ist ohne Bedeutung. Die Entscheidungserheblichkeit kann sich schon daraus ergeben, dass es sich um eine unmittelbar anwendbare Verordnung handelt. Sie kann auch daraus folgen, dass eine nationale Vorschrift zur Umsetzung einer Richtlinie oder eine nicht speziell zur Umsetzung von EU-Recht geschaffene, dazu aber auch dienende allgemeine nationale Vorschrift unter Rückgriff auf die Richtlinie EU-konform auszulegen oder durch

36 Beispiele sind die beiden deutschen Klageverfahren gegen die Tabakwerberichtlinie, vgl. EuGH v. 5.10.2000 – Rs. C-376/98 Deutschland ./. Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419 (Nichtigerklärung) und EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C-380/03 Deutschland ./. Parlament und Rat, Slg. 2006, I-11573 (Klageabweisung). 37 EuGH v. 21.2.1991 – verb. Rs. C-143/88 und C-92/89 Zuckerfabrik Süderdithmarschen, Slg. 1991, I-415 Rn. 17; EuGH v. 21.3.2000 – Rs. C-6/99 Greenpeace France u.a., Slg. 2000, I-1651 Rn. 54; EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-344/04 IATA ./. Dept. of Trade (Vereinigtes Königreich), Slg. 2006, I-403 Rn. 27. 38 EuGH v. 22.10.1987 – Rs. 314/85 Foto-Frost, Slg. 1987, 4199 Rn. 15; EuGH v. 15.4.1997 – Rs. C-27/95 Bakers of Nailsea, Slg. 1997, I-1847 Rn. 20; EuGH v. 6.12.2005 – Rs. C-461/03 Gaston Schul Douane-expediteur, Slg. 2005, I-10513 Rn. 21; EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-344/04 IATA ./. Dept. of Trade (Vereinigtes Köngireich), Slg. 2006, I-403 Rn. 27. 39 EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-344/04 IATA ./. Dept. of Trade (Vereinigtes Köngireich), Slg. 2006, I-403 Rn. 28. 40 EuGH v. 16.6.1981 – Rs. 126/80 Salonia, Slg. 1981, 1563 Rn. 7; EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-344/04 IATA ./. Dept. of Trade (Vereinigtes Königreich), Slg. 2006, I-403 Rn. 30. Jürgen Schmidt-Räntsch

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3. Teil: Besonderer Teil

EU-Recht auszufüllen und zu diesem Zweck festzustellen ist, welche inhaltlichen Vorgaben das EU-Recht hierfür macht.41

16

Bei der Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit steht dem nationalen Richter ein Ermessen zu. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist es allein Sache des nationalen Gerichts, sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen.42 Der EuGH prüft deshab grundsätzlich nicht, ob der vorlegende Richter die Erheblichkeit der ihm gestellten Frage nach dem nationalen Recht zutreffend angenommen hat.43 Die Grenzen des Ermessens sind aber erreicht, wenn die Erheblichkeit der dem EuGH vorgelegten Frage für die Entscheidung des Rechtsstreits aus dem Vorlagebeschluss nicht mehr erkennbar wird oder die dem EuGH vorgelegte Frage nur hypothetischen Charakter hat.44 Unerheblich ist etwa die Frage nach den Grenzen des Anwendungsbereichs einer Richtlinie dann, wenn der nationale Gesetzgeber über die Richtlinie hinausgehen kann.45 b)

Vorlagezeitpunkt

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Art. 267 Abs. 2 AEUV/234 Abs. 2 EG schreibt nicht vor, zu welchem Zeitpunkt während des Verfahrens der nationale Richter das Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten hat. Der EuGH verlangt aber, dass der Sachverhalt und die ausschließlich nach nationalem Recht zu beurteilenden Fragen so weit geklärt sind, dass sich der Gerichtshof über alle Tatsachen- und Rechtsfragen unterrichten kann, auf die es bei der von ihm vorzunehmenden Auslegung des Unionsrechts möglicherweise ankommt.46

18

Auch dabei hat der nationale Richter einen Beurteilungsspielraum, den er aber überschreitet, wenn im Zeitpunkt der Vorlage nicht absehbar ist, dass und weshalb es auf die Frage ankommt.47 Fehlt es an der Sachaufklärung, ist sie vor einer Vorlage an den

41 Zu Vorlageberechtigung und ggfs. -pflicht in Fällen einer überschießenden Richtlinienumsetzung s. Habersack/Mayer, in diesem Band, § 15 Rn. 49 ff. 42 EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 59; EuGH v. 15.6.2006 – Rs. C-466/04 Acereda Herrera, Slg. 2006, I-5341 Rn. 47; EuGH v. 10.3.2009 – Rs. C-345/06 Heinrich ./. Österreich, Slg. 2009, I-1659 Rn. 36 f.; EuGH v. 22.10.2009 – Rs. C-116/08 Meerts ./. Proost NV, (noch nicht in Slg.). 43 Streinz-Ehricke, Art. 234 EG Rn. 34; Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht (3. Aufl. 2007), Rn. 791 jeweils mwN. 44 EuGH v. 13.3.2001 – Rs. C-379/98 PreussenElektra, Slg. 2001, I-2099 Rn. 39; EuGH v. 17.5.2001 – Rs. C-340/99 TNT Traco, Slg. 2001, I-4109 Rn. 31; EuGH v. 6.12.2001 – Rs. C-472/99 Clean Car Autoservice, Slg. 2001, I-9687 Rn. 14; EuGH v. 22.10.2009 – Rs. C-116/08 Meerts ./. Proost NV (noch nicht in Slg.); in der Sache Mangold hat der EuGH ein objektives Bedürfnis zur Klärung der angesprochenen Fragen ausreichen lassen: EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 38. 45 BGH, NJW 2005, 53, 55 für Versteigerung nach § 312d Abs. 4 BGB; BGHSt 43, 219, 226 ff. für Umweltstrafrecht. 46 Nr. 19 der Hinweise des EuGH zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte v. 11.6.2005, ABl. 2005 C 143/1. 47 EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke, Slg. 1992, I-4871 Rn. 23, 26, 29.

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§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

EuGH nachzuholen.48 Wenn aber die Ermittlungen eine sachgerechte Beantwortung der Vorlagefrage erlauben, prüft der EuGH nicht nach, ob sich nach nationalem Recht oder nach dem Vortrag der Parteien eine Lösung ohne Beantwortung der Frage finden ließe.49 Der nationale Richter könnte den EuGH mit einer Frage zur Auslegung von Unionsrecht befassen, bevor er eine umfangreiche Beweisaufnahme durchführt, deren Ergebnis sie entbehrlich macht. Er könnte aber auch den einzigen Zeugen zunächst noch vernehmen. Bei den obersten Gerichtshöfen des Bundes stellt sich diese Frage nicht, weil sie an den festgestellten Sachverhalt gebunden sind. Es lässt sich nicht immer ausschließen, dass der EuGH eine Frage zur Auslegung des EU-Rechts beantwortet, obwohl dies ex post betrachtet nicht notwendig gewesen wäre. Ein Beispiel hierfür ist das Vorabentscheidungsersuchen des BGH50 im Fall Heininger zur Reichweite der Haustürgeschäfterichtlinie51 (HtWRL), in dem sich nach der Entscheidung des EuGH52 und der Aufhebung des Berufungsurteils durch den BGH53 ergab, dass es an einer Haustürsituation im Sinne der Richtlinie54 fehlte.55 c)

19

Vorlageberechtigte Gerichte

Vorlageberechtigt ist, außer in den Fällen des bisherigen Art. 68 EG,56 jedes Gericht. Es kommt nicht darauf an, welchem Gerichtszweig es angehört. Unerheblich ist, ob es sich um ein erstinstanzliches, ein Berufungs- oder ein Revisionsgericht handelt. Ohne Bedeutung ist auch, welcher Spruchkörper in dem Gericht zu entscheiden hat, ob es sich um einen allein entscheidenden Amtsrichter, einen Einzelrichter, eine Kammer oder einen Senat handelt. Ein zur Entscheidung berufener Einzelrichter müsste allerdings prüfen, ob das Erfordernis eines Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH die Sache nicht als rechtlich schwierig oder von grundsätzlicher Bedeutung erscheinen lässt. Er müsste die Sache der Kammer übertragen, wenn gegen seine Entscheidung die Rechtsbeschwerde gegeben ist, weil nur die Kammer die Rechtsbeschwerde zulassen kann.57 Für die Zulassung einer Revision wäre er dagegen der gesetzliche Richter.58

48 Z.B. BGH, NJW 1999, 3261, 3263; GRUR 2006, 405, 407 – Aufbereiter II: Zurückverweisung mit der Maßgabe, nach Aufklärung selbst vorzulegen. 49 EuGH v. 22.10.2009 – Rs. C-116/08 Meerts ./. Proost NV, (noch nicht in Slg.). 50 BGH, NJW 2000, 521. 51 Richtlinie 85/577/EWG des Rates v. 20.12.1986 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31. 52 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945. 53 BGHZ 150, 248, 251. 54 Art. 1 Abs. 1 HtWRL ist strenger als § 312 BGB, wonach der Vertrag nicht in der Haustürsituation geschlossen, sondern nur durch diese bestimmt werden muß: BGH, NJW 2004, 362, 363 – SIVA; AnwaltKommBGB-Ring, § 312 BGB Rn. 2. 55 OLG München, WM 2003, 69 f.; siehe auch Stotz, in diesem Band, § 22 Rn. 21–23. 56 Dazu EuGH v. 25.6.2009 – Rs. C-14/08 Roda Golf & Beach Resort SL, (noch nicht in Slg.). 57 Vgl. BGH, NJW 2003, 2900. 58 BGHZ 154, 200. Jürgen Schmidt-Räntsch

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3. Teil: Besonderer Teil

21

Unterbleibt eine gebotene Vorlage an die Kammer, dann bleibt das Ersuchen des Einzelrichters an den EuGH wirksam. Das hat der BGH für die Zulassung der Revision durch den Einzelrichter wegen grundsätzlicher Bedeutung entschieden.59 Bei der Zulassung einer Rechtsbeschwerde dagegen wäre die Entscheidung aber wegen Verstoßes gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter aufzuheben und an das Vordergericht zurückzuverweisen.60 Diese Möglichkeit besteht bei einem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH nicht. Dieser prüft vielmehr nicht, ob der nationale Richter nach den nationalen Vorschriften zuständig war. Entscheidend für ihn ist nur, dass ein wirksames Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH vorliegt. Die Frage der Vorlage an die Kammer oder den Senat wird der Einzelrichter dann erst nach Rückkehr der Sache zu entscheiden haben.

22

Dabei ist nicht auszuschließen, dass die Sache nach Klärung durch den EuGH ihre rechtlichen Schwierigkeiten oder ihre grundsätzliche Bedeutung verloren hat, was in entsprechender Anwendung von den §§ 348a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 und 526 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO sowohl bei einer originären Einzelrichterzuständigkeit nach § 348 ZPO als auch bei der Übertragung nach den §§ 348a, 526 ZPO möglich sein sollte.61 Das gilt nicht nur für Fälle der ordentlichen Gerichtsbarkeit, sondern auch für Fälle der anderen Gerichtsbarkeiten, bei denen eine Zuständigkeit des Einzelrichters in Betracht kommt. d)

23

Vorlageermessen

Das nationale Gericht ist nach Art. 267 Abs. 2 AEUV/234 Abs. 2 EG grundsätzlich nicht verpflichtet, vorzulegen. Es kann die EU-rechtliche Vorfrage auch selbst entscheiden und die Anrufung des EuGH dem Berufungs- oder Revisionsverfahren oder einem anderen statthaften Rechtsmittelverfahren (in der ordentlichen Gerichtsbarkeit z.B. dem Rechtsbeschwerdeverfahren) überlassen. Bei der Ausübung des Ermessens sollte allerdings der Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens berücksichtigt werden. Es soll in erster Linie divergierende Entscheidungen der Gerichte der Mitgliedstaaten über den Inhalt des Unionsrechts vermeiden. Deshalb sollte auch der nicht zur Vorlage verpflichtete Richter von einer Vorlage im Grundsatz nur absehen, wenn ein zur Vorlage verpflichteter Richter dazu nicht verpflichtet wäre,62 also nur, wenn der Inhalt des EU-Rechts offenkundig oder anhand der gefestigten Rechtsprechung zu ermitteln ist.63 Wenn zu erwarten ist, dass die Frage auch bei anderen Gerichten derselben Gerichtsbarkeit auftritt, sollte dagegen von einer Vorlage abgesehen, ein Rechtsmittel zugelassen und die Koordinierungsmöglichkeit des zuständigen obersten Gerichtshofs des Bundes genutzt werden. Abweichend hiervon muss das nationale Gericht ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH richten, wenn es in seiner Entscheidung

59 BGHZ 154, 200, 201. 60 BGHZ 154, 200, 202. 61 Ein Grund, die Revision zuzulassen, entfiele in dieser Lage: BGH, NJW 2004, 3188; NJW 2005, 154; Ausnahme: Die Beschwerde war vor dem Wegfall des Zulassungsgrundes eingegangen und wäre in der Sache erfolgreich. 62 Davon gehen BGH, NJW 1999, 3261, 3263 und wohl auch BGHSt 37, 168, 175 aus. 63 In diesem Sinne wohl BVerwG, NVwZ 2005, 598, 601.

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§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

einen EU-Rechtsakt (inzident) für ungültig erklären will. Es dürfte auch nicht abwarten, ob der zuständige oberste Gerichtshof seine Auffassung teilt.64 3.

Vorlagepflicht der OGB gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV/234 Abs. 3 EG

a)

Grundsatz

Vorlagepflichtig sind nach Art. 267 Abs. 3 AEUV/234 Abs. 3 EG Gerichte, deren Entscheidungen mit Rechtsmitteln nach dem innerstaatlichen Recht nicht mehr angefochten werden können. Das sind in erster Linie die obersten Gerichtshöfe des Bundes. Dazu gehören aber auch andere Gerichte, wenn sie Entscheidungen erlassen, gegen die förmliche Rechtsmittel wie die Berufung oder Revision, die Beschwerde, die Rechtsbeschwerde oder die Nichtzulassungsbeschwerde65 nicht gegeben sind.

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Das ist etwa bei Urteilen der Amtsgerichte ohne Berufungszulassung mit einem Streitwert bis zu 600 € und Berufungsurteilen ohne Revisionszulassung in vermögensrechtlichen Streitigkeiten bis zu 20.000 € der Fall. Denn hier ist nach § 26 Nr. 8 EGZPO eine Nichtzulassungsbeschwerde ausgeschlossen, so dass ein solches Urteil nicht mehr angefochten werden kann. Entsprechendes gilt nach § 574 Abs. 1 ZPO für Beschwerdeentscheidungen, die die Rechtsbeschwerde nicht zulassen. Auch sie können nicht mehr angegriffen werden, es sei denn, dass die Rechtsbeschwerde ausnahmsweise kraft Gesetzes statthaft ist (z.B. § 522 Abb. 1 S. 4 ZPO. Diese Gerichte haben, anders als sonst, nur die Wahl zwischen einer Vorlage an den EuGH und einer Zulassung des möglichen Rechtsmittels. Kommt eine Vorlage ernstlich in Betracht, ist das Rechtsmittel zuzulassen.66 Das ist in der ordentlichen Gerichtsbarkeit auch bei der Zurückweisung einer Berufung durch einstimmigen Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zu beachten, die nach geltender Rechtslage nicht anfechtbar ist. Etwas anders liegt es, wenn das Rechtsmittel zugelassen werden kann. Dann können die Vorinstanzen dem Rechtsmittelgericht überlassen, wenn es Zweifel hat, ob eine Vorlage an den EuGH ernstlich in Betracht kommt.

25

Unter welchen Gesichtspunkten die Zulassung zu erfolgen hat, lässt sich weder für alle Rechtsmittel noch für die Zulassung der Revision zu den obersten Gerichtshöfen des Bundes einheitlich beantworten. Die Gründe für die Zulassung der Berufung entsprechen außerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht den Gründen für die Zulassung der Revision. Auch die in den Verfahrensordnungen vorgesehenen Gründe für die Zulassung der Revision zu dem zuständigen obersten Gerichtshof des Bundes sind unterschiedlich. Die Revision zu den obersten Gerichtshöfen der öffentlichenrechtlichen Gerichtsbarkeit, zu BVerwG, BFH und BSG, ist bei grundsätzliche Bedeutung, Divergenz im engeren Sinne und bei einem Verfahrensmangel zuzulassen.67 Die Revision zum BFH ist nach § 116 FGO darüberhinaus auch bei Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes statthaft. Daran lehnt sich § 72 Abs. 2 ArbGG an, sieht

26

64 65 66 67

Vgl. oben Rn. 14a a.E. Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht (2. Aufl. 2007), Rn. 798. BGH, LRE 46, 279. §§ 132 VwGO, § 115 FGO und § 160 SGG.

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3. Teil: Besonderer Teil

aber die Zulassung nicht wegen eines Verfahrensfehlers, sondern wegen eines absoluten Revisionsgrund und der Verletzung rechtlichen Gehörs vor. Ganz anders ist die Zulassung der Revision zum BGH in Zivilsachen geregelt. Nach § 543 Abs. 2 ZPO ist die Revsision zuzulassen wegen grundsätzlicher Bedeutung, zur Forbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung. Bei BVerwG, BFH, BAG und BSG kann die Notwendigkeit einer Vorlage nach Art. 267 AEUV/234 EG sinnvollerweise nur wegen grundsätzlicher Bedeutung erfolgen.68 Beim BGH kommt alternativ auch eine Zulassung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung in Betracht. Welcher dieser beiden Zulassungsgründe einschlägig ist, hatte der BGH bislang nicht zu entscheiden. Dem Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens entspricht aber wie bei den anderen obersten Gerichtshöfen auch beim BGH eher eine Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung.69 Die Zulassung eines Rechtsmittels aus dem Gesichtspunkt der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung scheidet zwar nicht bei allen Rechtsmitteln,70 wohl aber bei der Zulassung der Revision aus, wenn sich die Entscheidung aus anderen Gründen als richtig darstellt.71 Dann aber bliebe eine u.U. fehlerhafte Auslegung des EU-Rechts gewissermaßen „stehen“, ohne dass der EuGH Gelegenheit hätte, sie zu korrigieren. Das entspricht nicht dem Ziel von Art. 267 AEUV/234 EG. b)

27

Die nach Wortlaut und Zweck des Art. 267 Abs. 3 AEUV/234 Abs. 3 EG an sich unbeschränkte Pflicht der obersten Gerichtshöfe des Bundes zur Vorlage kennt allerdings doch einige Ausnahmen. aa)

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Ausnahmen von der Vorlagepflicht

Klärung durch den EuGH

Eine Vorlage ist nicht erforderlich, wenn die anstehenden Fragen durch den EuGH bereits geklärt sind. Dann hat das Vorabentscheidungsverfahren nämlich seinen Zweck erreicht. Eine spezielle Ausprägung dieser Situation ist der Fall, dass der EuGH eine grundsätzliche Frage geklärt hat und der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes eine Änderung der eigenen Rechtsprechung vornimmt und dabei Einzelheiten zu klären hat. Hierfür lassen sich Beispiele aus der Rechtsprechung des BAG anführen, das jeweils eine erneute Anrufung des EuGH nicht als notwendig angesehen hat. Ein Beispiel ist die Auslegung des Begriffs Entlassung in der Massenentlassungs-Richtlinie (MERL)72 durch den EuGH.73 Das BAG änderte seine Rechtsprechung, legte aber wegen der von ihm für das nationale deutsche Rechte verneinten

68 BVerwG, Beschl. v. 3.12.2008, 9 B 35/08, juris. 69 Zweifelnd Streinz-Ehricke, Art. 234 EG Rn. 48; in dem hier vorgeschlagenen Sinne aber Rn. 49 f.; für § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO: BVerwG, Buchholz 402.26 § 12 AufenthG/EWG Nr. 7. 70 Nicht bei der Rechtsbeschwerde, BGH, NJW 2004, 367, 368. 71 BGH, NJW 2002, 3180, 3181; NJW 2003, 831; NJW 2003, 3205, 3206. 72 Richtlinie 98/59/EG des Rates v. 20.7.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen, ABl. 1998 L 225/16. 73 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk ./. Kühnel, Slg. 2005, I-885.

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§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

Rückwirkung nicht erneut vor.74 Ähnlich hielt es der BGH bei der Umsetzung des Urteils des EuGH75 zur internationalen Zuständigkeit für Insolvenzanfechtungsklagen bei fehlendem sachlichen Gerichtsstand im Inland.76 Zu einer solchen wiederholten Anfrage kann es, außer bei einem Versehen des nationalen Gerichts, vor allem dann kommen, wenn das nationale Gericht nicht weiß, dass der EuGH mit der von ihm gestellten Frage bereits befasst ist. Um das zu vermeiden, werden die Vorabentscheidungsersuche der nationalen Gerichte und die von ihnen vorgelegten Fragen im Teil C des Amtsblatts der EU veröffentlicht. Allerdings geht der Sachverhalt, der dem Ersuchen zugrunde liegt, aus dem Veröffentlichungstext nicht hervor, so dass das nationale Gerichte nicht ohne weiteres beurteilen kann, ob das dem EuGH vorliegende Vorabentscheidungsersuchen alle Aspekte des zu entscheidenden Falls abdeckt. Das kann zu Doppelvorlagen führen. Vergleichbare Schwierigkeiten können sich auch bei der Zulassung der Revision zu den OGB ergeben. Unnötige mehrfache Revisionsverfahren77 lassen sich beim BGH und nach § 72 Abs. 5 ArbGG in Verbindung mit dieser Vorschrift auch beim BAG mit einer vereinfachten Zurückweisung durch Beschluss nach § 552a ZPO vermeiden. Oft ist es aber nicht das nationale Gericht, das ein unzulässiges Vorabentscheidungsersuchen stellt, sondern ein Verfahrensbeteiligter, der ein solches Ersuchen anregt, ohne zu wissen oder zu beachten, dass der EuGH die Frage bereits entschieden hat. Dann weist das Gericht die Anregung, meist im Urteil, unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH zurück. Der EuGH selbst kann solche sachlich unnötigen Vorentscheidungsersuchen gemäß Art. 104 § 3 Abs. 1 EuGH-VerfO nach Anhörung des Generalanwalts im Beschlusswege erledigen.78 bb)

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Offenkundigkeit der Auslegung des EU-Rechts

Wie das nationale Recht ist auch das EU-Recht nicht immer auslegungsbedürftig. Es gibt auch im EU-Recht zahlreiche Vorschriften, deren Inhalt sich ohne weiteres erschließt. Solche Fragen können die nationalen Gerichte selbst entscheiden, ohne dass eine Schwächung des EU-Rechts durch widersprüchliche Auslegungen der nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten zu befürchten ist.

30

Deshalb ist eine Vorlage nach ständiger Rechtsprechung des EuGH entbehrlich, wenn die Auslegung des EU-Rechts offenkundig ist. Offenkundig ist die Auslegung dann, wenn keinerlei Raum für vernünftige Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt und die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und der EuGH auch

31

74 BAG, NZA 2007, 1101. 75 EuGH v. 12.2.2009 – Rs. C-339/07 Christopher Seagon/Deko Marty Belgium NV, Slg. 2009, I-767. 76 BGH, NJW 2009, 2215. 77 BeschlE zum JuMoG, BT-Drs. 15/3482, S. 18 f. (zu § 552a ZPO). 78 Ein Beispiel EuGH v. 19.5.2009 – Rs. C-166/08 Strafverfahren gegen Guido Weber, (Slg. 2009, I-4253).

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keine Zweifel an dem Auslegungsergebnis haben würden.79 Beispiele aus der Rechtsprechung des BGH sind die Anforderungen an eine verdeckte Sacheinlage,80 die Eignung eines Zahlwortes als Marke81, die Verfahrensaussetzung nach EU-Sortenschutzrecht82, der Begriff des Reisenden in der Pauschalreiserichtlinie83, das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsgeschmacksmusterrecht und Wettbewerbsrecht84 oder die Anforderungen an die internationale Zuständigkeit für Unterlassungs-85 oder Klagen aus Verbraucherwerkverträgen86. Beispiele aus der Rechtsprechung des BVerwG sind die Frage, ob ein Einzelner einen Verstoß gegen die FFH-Richtlinie geltend machen kann,87 dass nicht jedem Vorhaben, das das Erfordernis der Planrechtfertigung erfüllt, ein besonderes Gewicht zukommt, das eine Abweichungsentscheidung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-Richtlinie rechtfertigt88 oder die Anwendungbarkeit der SUPRichtlinie89 auf Altfälle.90 Beispiele aus der Rechtsprechung des BAG sind die Vereinbarkeit der hochschulrechtlichen Befristungsregelung mit der Befristungsrichtlinie der EU91 oder die Anwendung von Art. 27 Abs. 1 EuGVVO92.

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Offenkundig ist eine Auslegung nach dem Verständnis der obersten Gerichtshöfe des Bundes nicht nur, wenn sie keiner weiteren Erklärung bedarf. Es genügt vielmehr, was aber regelmäßig nicht ausdrücklich ausgeführt wird, wenn das Auslegungsergebnis ohne Schwierigkeiten aus dem Unionsrecht entwickelt werden kann.93 Das muss anhand des Unionsrechts begründet werden; die Begründung muss auch zeigen, dass sie wirklich eindeutig ist.93a cc)

33

Klärung anhand der Rechtsprechung des EuGH

Zwischen den beiden vorgenannten Fallgruppen liegt ein Fall, der in der Praxis häufig vorkommt: Der Fall vor dem nationalen Gericht wirft eine Frage der Anwendung und Auslegung des EU-Rechts auf, die der EuGH zwar noch nicht exakt in dieser Form entschieden hat, die sich aber anhand der Rechtsprechung des EuGH ohne

79 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 16; v. d. Groeben/SchwarzeGaitanides, Art. 234 EG Rn. 67; Streinz-Ehricke, Art. 234 EG Rn. 44. 80 BGHZ 110, 47, 69 ff. – IBH/Lemmerz. 81 BGH, NJW 1995, 1752, 1754 – Quattro II. 82 BGH, GRUR 2009, 750. 83 BGH, NJW 2002, 2238, 2239 f. 84 BGH, BGH-Report 2006, 671, 672. 85 BGH, NJW 2006, 689. 86 BGH, ZIP 2006, 1013, 1016. 87 BVerwGE 128, 358, 366 – Mühlenberger Loch. 88 BVerwG, NuR 2009, 789, 790 – Flughafen Münster. 89 Richtlinie 2001/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.7.2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme, ABl. 2001 L 197/30. 90 BVerwG, Beschl. v. 23.8.2006, 4 A 1075/04, juris. 91 BAG, NZA 2009, 84. 92 BAG, IPRspr. 2007, Nr. 180c, 498. 93 Z.B. BGHZ 161, 79, 83 f.; BVerwG, NVwZ 1996, 389 – Tiergartentunnel Berlin; BAG, DB 2009, 626 – Altersdiskriminierung bei betriebsbedingter Kündigung. 93a BVerfG, NJW 2010, 1268, 1271.

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§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

weiteres beantworten lässt. In dieser Fallgestaltung ist das EU-Recht durch die bereits vorhandene Rechtsprechung des EuGH so klar geworden, dass es weitergehender Konkretisierung nicht bedarf. Voraussetzung hierfür ist eine gesicherte Rechtsprechung des EuGH, unabhängig davon, in welcher Verfahrensart sie sich gebildet hat; das nationale Gericht ist an einer neuen Vorlage nicht gehindert, wenn es diese für angebracht hält.94 Wann diese Voraussetzung zu bejahen ist, lässt sich naturgemäß nicht allgemein bestimmen. Dies richtet sich vielmehr nach dem Grad der Durchdringung des betreffenden Rechtsgebiets durch den EuGH und dem Inhalt der Frage. Allerdings lassen sich unter diesem Vorbehalt doch graduelle Unterschiede in der Rechtsprechung der Senate der obersten Gerichtshöfe ausmachen. Es lässt sich eine Tendenz beobachten, dass in EU-rechtlich und durch die EuGH-Rechtsprechung stärker durchdrungenen Bereichen von der Ausnahme etwas großzügiger Gebrauch gemacht wird als in Bereichen, die durch das Unionsrecht und die Rechtsprechung des EuGH weniger durchdrungen sind. Auch das ist anhand der Rechtsprechung des EuGH im Einzelnen zu begründen.94a

34

Als Beispiele mögen der Umfang der Pflicht zur Anerkennung ausländischer Eignungsprüfungen für die Zulassung als Wirtschaftprüfer, der sich nach Ansicht des BGH aus der Rechtsprechung des EuGH ohne die Notwendigkeit einer Vorlage an den EuGH ermitteln lässt95, die Dienstleistungsfreiheit von Rechtsanwälten,96 die Strukturkündigung nach der GVO 1400/2002 (Kraftfahrzeuge),97 die Anwendung des Eignungsprüfungsgesetzes auf ausländische Rechtsanwälte98, der Begriff des Aufbereiters nach EU-Sortenschutzrecht99, die Voraussetzungen des sortenschutzrechtlichen Auskunftsanspruchs100, Eintragungshindernisse bei Formmarken101, die Rechtsprechung des EuGH zur Übertragung der Milch-Referenzmengen auf den Verpächter nach der VO (EWG) Nr. 3950/92102, zur Heilmittelwerbung103 oder seine Rechtsprechung zu den Schranken des markenrechtlichen Schutzes bei einer unzulässigen Beschränkung des freien Warenverkehrs104 dienen. Aus der Rechtsprechung des BSG wären die Fragen zu nennen, ob sozialversicherungsrechtliche Voraussetzungen des nationalen Rechts auch durch den Bezug von Arbeitsunfallrenten eines anderen Mitgliedstaats erfüllt105 oder ob Ansprüche auf Familienleistungen für die Zeit vor

35

94 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982 3415 Rn. 14 f. 94a BVerfG, NJW 2010, 1268, 1270. 95 BGH, NJW 2005, 747 f. 96 BGH, NJW 2009, 1822; vgl. auch BGH, Beschl. v. 22.3.2010, NotZ 16/09, juris für Notare. 97 BGH, WM 2009, 1121. 98 BGH, NJW 1997, 867, 868 f. 99 BGH, GRUR 2006, 405, 406 – Aufbereiter II. 100 BGH, GRUR 2006, 407, 409 – Auskunftsanspruch bei Nachbau III. 101 BGH, GRUR 2006, 589, 590 – Rasierer mit drei Scherköpfen. 102 BGH, RdL 2005, 82, 83; NJW-RR 2004, 210, 211. 103 BGH, NJW-RR 2009, 620, 622. 104 BGH, GRUR 2005, 52, 53; ähnlich EuZW 2010, 71 – Kaufgewährleistungsrichtlinie. 105 BSGE 95, 293. Jürgen Schmidt-Räntsch

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3. Teil: Besonderer Teil

Erlass des Sürül-Urteils des EuGH vom 4. Mai 1999106 aus Art. 3 Abs. 1 des Assoziationsratsbeschlusses 3/80 abgeleitet werden können.107 Ähnlich beurteilte das BAG im Anschluss an die Rechtsprechung des EuGH108 die Frage, ob nur die von dem Arbeitgeber finanzierten, nicht die zusätzlich und freiwillig allein vom Arbeitnehmer finanzierten Anteile der von der Pensionskasse geschuldeten Versorgungsleistungen Leistungen der betrieblichen Altersversorgung sind und deshalb dem Diskriminierungsverbot des Art. 157 AEUV/141 EG unterfallen.109 Ein anderes Beispiel ist die Auslegung von Art. 2 Abs. 2 MERL, die nach Ansicht des BAG eindeutig ergibt, dass für die Erfüllung der Konsultationspflicht bei Massenentlassungen nicht die Anrufung eines unparteiischen Dritten gefordert ist, um mit dem Betriebsrat als nationalem Arbeitnehmervertreter zu einer Einigung über die geplante Massenentlassung zu gelangen.110 Beispiele aus der Rechtsprechung des BFH sind die Frage, ob die pauschale Besteuerung von Erträgen aus im Inland nicht registrierten ausländischen Investmentfonds (sog. „schwarzen Fonds“) gemäß § 18 Abs. 3 AuslInvestmG gegen Art. 56 EG (jetzt: Art. 65 AEUV)111 oder ob die Anknüpfung der Kindergeldberechtigung an den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in den Fällen, in denen der Kindergeldberechtigte mit seiner Familie den Wohnsitz in das EU-Ausland verlegt, gegen EG-Primärrecht verstößt.112 Ein Beispiel aus der Rechtsprechung des BVerwG sind die Einzelheiten der Anwendung von Art. 4 der Vogelschutz-Richtlinie.113 c)

Verstöße gegen die Vorlagepflicht

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Verstöße gegen die Vorlagepflicht stellen eine Verletzung des EU-Vertrages dar, die grundsätzlich mit den Mitteln des Vertragsverletzungsverfahrens verfolgt werden kann.114 In der Regel wird es allerdings bei einem feststellenden Urteil des EuGH nach Art. 258 AEUV/226 EG sein Bewenden haben.

37

Zu der Verhängung von Zwangsgeldern nach Art. 260 AEUV/228 EG wird es kaum kommen können, da das einzelstaatliche Verfahren nicht wiederholbar ist.

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Unter besonderen Umständen kann die Verletzung der Vorlagepflicht aber auch einen Staatshaftungsanspruch nach sich ziehen.115 Das setzt allerdings voraus, dass

106 107 108 109 110 111 112 113

EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül ./. Bundesanstalt für Arbeit, Slg. 1999, I-2685. BSG, EuroAS 2004, 162. EuGH v. 8.9.1994 – Rs. C-200/91 Coloroll, Slg. 1994 I-4389 Rn. 90 f. BAGE 112, 1. BAGE 99, 377. BFH, BFH/NV 2009, 731. BFH, FamRZ 2009, 507. BVerwG, Buchholz 451.91 Europ UmweltR Nr. 33 – Anschlussstelle Magdala/Jena/Göschwitz. 114 Eingehend Solar, Vorlagepflichtverletzung mitgliedstaatlicher Gerichte und ihre Sanierung, S. 106 ff. 115 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 Köbler, Slg. 2003, I-10239 Rn. 54 ff., 116 ff.; BGH, NJW 2005, 747.

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§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

der Verstoß offenkundig116 ist. Daran kann es fehlen, wenn das Gericht (wie im Fall Köbler der österreichische VwGH) eine Vorlage in der irrigen Annahme zurückzieht, die Frage sei schon entschieden. Die Verletzung der Vorlagepflicht stellt zudem auch eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG dar. Eine Verfassungsbeschwerde lässt sich allerdings mit diesem Verstoß nur begründen, wenn die Verletzung der Vorlagepflicht bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist.117 Das ist normalerweise der Fall, wenn das Gericht die europarechtlichen Dimensionen des Falles völlig verkannt und deshalb nicht vorgelegt hat, obwohl es von der Rechtsprechung des EuGH abwich, wenn die Rechtsprechung des EuGH Lücken aufweist und es sich einer eindeutig vorzuziehenden Meinung nicht angeschlossen und dem EuGH die Frage nicht vorgelegt hat und wenn es mit einem eigenen Begründungsansatz eine Vorlage vermeidet.117a. Ob auch eine Anhörungsrüge analog § 321a ZPO und den entsprechenden Vorschriften anderer Verfahrensordnungen auf eine Verletzung der Vorlagepflicht gestützt werden kann, hält der BGH für möglich, hat dies aber bislang offen gelassen118. Das sollte aber möglich sein, wenn dieser Gesichtspunkt in der Rechtsmittelbegründung angesprochen worden ist. 4.

Vorlageverfahren vor den OGB

a)

Form und Anlass der Vorlage

Über die Stellung eines Vorabentscheidungsersuchens entscheiden das nationale Gericht und damit auch die obersten Gerichtshöfe des Bundes von Amts wegen. Das gilt nicht nur in Verfahren, in denen der Amtsermittlungsgrundsatz gilt, sondern auch im Zivilrechtsstreit, der vom Beibringungsgrundsatz geprägt ist. Das ergibt sich daraus, dass die Vorlage an den EuGH nach Art. 267 AEUV/234 EG nicht im Ermessen der Parteien steht, sondern in dem Ermessen des nationalen Gerichts, sofern dieses überhaupt ein Ermessen hat. Bei den obersten Gerichtshöfen des Bundes und Gerichten, deren Entscheidungen nicht angegriffen werden können, ist dieses Ermessen nicht gegeben. Art. 267 AEUV/234 EG eröffnet den Parteien mit dem Vorentscheidungsersuchen keinen Rechtsbehelf.119 Deshalb können die Parteien des Rechtsstreits eine Vorlage nur anregen, aber nicht beantragen.

39

Im Verfahren über eine Nichtzulassungsbeschwerde wird die Notwendigkeit einer Vorlage an den EuGH regelmäßig als Grund für die Zulassung der Revision angeführt. In welcher Form die Vorlage des nationalen Gerichts zu erfolgen hat, legt das

40

116 Eingehend Solar, Vorlagepflichtverletzung mitgliedstaatlicher Gerichte und ihre Sanierung, S. 129 ff.; Schöndorf-Haubold, JuS 2006, 112, 113. 117 BVerfG, NVwZ 2001, 1148, 1149; NJW 2010, 1268, 1269; v. d. Groeben/Schwarze-Gaitanides, Art. 234 EG Rn. 71; Streinz-Ehricke, Art. 234 EG Rn. 47. 117a BVerfG, NJW 2010, 1268, 1269. 118 BGH, BGH-Report 2006, 671, 672. 119 EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-344/04 IATA ./. Dept. of Trade (Vereinigtes Königreich), Slg. 2006, I-403 Rn. 28. Jürgen Schmidt-Räntsch

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3. Teil: Besonderer Teil

EU-Recht nicht fest. Das bestimmt sich vielmehr nach dem nationalen Verfahrensrecht. In Deutschland ist das der Beschluss, weil über eine Vorlagefrage an den EuGH regelmäßig nicht mündlich verhandelt werden muss.

41

b)

Inhalt des Vorlagebeschlusses

aa)

Tenor

Der Tenor des Beschlusses besteht aus der Aussetzung des Verfahrens120 und Formulierung der Frage(n), die dem EuGH zur Beantwortung vorgelegt werden solle(n). Da der EuGH nur abstrakte Fragen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts klären darf, darf die Frage nicht konkret auf den Einzelfall bezogen werden. Das Gericht hat vielmehr aus dem ihm vorliegenden Sachverhalt eine abstrakte Rechtsfrage zu entwickeln, die der EuGH losgelöst vom Einzelfall und abstrakt beantworten kann. bb)

Begründung

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Der Vorlagebeschluss ist zu begründen. Eine solche Begründung und ihre Ausgestaltung sind gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt. Allerdings ergeben sich aus der dem EuGH mit Art. 267 AEUV/234 EG gestellten Aufgabe gewisse Mindestanforderungen. Nach der Rechtsprechung des EuGH muss die Vorlageentscheidung die genauen Gründe angeben, aus denen dem nationalen Gericht die Auslegung des Gemeinschaftsrechts fraglich und die Vorlage von Vorabentscheidungsfragen an den Gerichtshof erforderlich erscheint. Dazu sieht der EuGH ein Mindestmaß an Erläuterungen durch das vorlegende nationale Gericht zu den Gründen für die Wahl der Gemeinschaftsbestimmungen, um deren Auslegung es ersucht, und zu dem Zusammenhang als unerlässlich an, den es zwischen diesen Bestimmungen und den auf den Ausgangsrechtsstreit anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften herstellt.121 Der EuGH hat hierzu Hinweise122 zusammengestellt. Diese Hinweise sind rechtlich nicht verbindlich. Ihre Beachtung empfiehlt sich aber, soll die Vorlage nicht als unzulässig zurückgewiesen werden.

43

Die Begründung des Vorlagebeschlusses besteht aus zwei Teilen. In einem ersten Teil ist der tatsächliche und rechtliche Rahmen darzustellen, in dem sich die Vorlagefrage stellt. Der nationale Richter hat dem EuGH also den Sachverhalt zu schildern, den er zu beurteilen hat. Außerdem hat er dem EuGH darzulegen, wie der Fall vorbehaltlich

120 In der Praxis der obersten Gerichtshöfe des Bundes wird stets ausdrücklich ausgesetzt. Die von Brück, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof als Bestandteil des deutschen Zivilprozesses, S. 133 ff. aufgeworfene Streitfrage spielt hier keine Rolle. Rein praktisch kann das Verfahren schon mangels Akten nicht betrieben werden. 121 EuGH v. 7.4.1995 – Rs. C-167/94 Grau Gomis u.a., Slg. 1995, I-1023 Rn. 9; EuGH v. 6.12.2005 – verb. Rs. C-453/03, C-11/04, C-12/04 und C-194/04 ABNA u.a., Slg. 2005, I-10423 Rn. 46; EuGH v. 31.1.2008 – Rs. C-380/05 Centro Europa 7, Slg. 2008, I-349 Rn. 54; EuGH v. 22.10.2009 – Rs. C-116/08 Meert ./. Proost NV, (noch nicht in Slg.). 122 Hinweise zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte v. 5.12.2009, ABl. 2009 C 297/1.

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§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

der zu klärenden Rechtsfrage zu lösen ist und in welcher Hinsicht es auf die Klärung der dem EuGH vorgelegten Frage ankommt. Nach Nr. 22 S. 3 Sps. 2 der Hinweise des EuGH soll dabei auch der Wortlaut der einschlägigen nationalen Vorschriften mitgeteilt werden, was je nach dem Umfang im Text des Beschlusses oder durch Beifügung als Anlage geschehen kann. Umfang und Ausführlichkeit stehen im Ermessen des vorlegenden Richters. Nr. 22 S. 1 der Hinweise des EuGH gibt als Richtschnur einen Umfang von zehn Seiten an, weist aber darauf hin, dass sich der Umfang letztlich nach der Sache richten muss. Die Schilderung muss deshalb zwar nicht immer lang, wohl aber so ausführlich sein, dass der EuGH die Frage ggf. zuspitzen oder umformulieren kann, um sie sachgerecht und zielführend zu beantworten. Nur so können auch die anderen am Verfahren vor dem EuGH beteiligten Stellen eine sachgerechte Stellungnahme abgeben. Das sind neben den Organen der EU auch die Regierungen der Mitgliedstaaten, die an Verfahren vor einem obersten Gerichtshof des Bundes in dieser Eigenschaft nicht beteiligt sind. Im Verfahren vor dem BVerwG und dem BFH gilt das mit der Einschränkung, dass sich die Bundesregierung gemäß §§ 36, 63 Nr. 4 VwGO an einem Verfahren vor dem BVerwG durch den Vertreter des Bundesinteresses und in einem Verfahren vor dem BFH gemäß §§ 57 Nr. 4, 122 Abs. 2 FGO durch das Bundesministerium der Finanzen beteiligen kann, was gerade bei Verfahren mit EU-Rechtsbezug angezeigt sein kann.

44

In einem zweiten Teil der Begründung ist die Fragestellung aufzubereiten. Dem EuGH ist darzustellen, welche Auslegungszweifel geklärt werden sollen, jedenfalls aber welche Auslegungsmöglichkeiten bestehen. Wird die Gültigkeit eines EU-Rechtsaktes in Zweifel gezogen, sind diese Zweifel näher zu erläutern. Auch hier haben die vorlegenden Gerichte ein Gestaltungsermessen. Zweck der Darstellung ist es, dem EuGH die Feststellung zu erlauben, worum es dem nationalen Richter geht. Hierauf sollte aus den unter Rn. 54, 55 angeführten Gründen besondere Sorgfalt verwandt werden.

45

cc)

Praxis der OGB

Die Vorlagebeschlüsse der obersten Gerichtshöfe des Bundes folgen durchweg dem dargestellten Grundmuster. In der Ausgestaltung dieses Grundmusters sind sie allerdings durchaus unterschiedlich. Es gibt eher knapp gehaltene Vorlagebeschlüsse.123 Andere Vorlagebeschlüsse setzen sich mit der Auslegung des EU-Rechts sehr eingehend auseinander124 und entlasten damit im Ergebnis den Generalanwalt des EuGH.

123 Z.B. BGH, WRP 2002, 547, 549 – GERRI/KERRY Spring; BB 2000, 1507, 1508 – Solokünstler; GRUR 1999, 600, 601 – Haarfärbemittel; GRUR 1998, 738 f. – Diät-Käse; NJW 1996, 930, 932 – Bürgschaft als Haustürgeschäft; ZIP 1995, 372, 373 f. – Siemens; BVerwG, Blutalkohol 46, 350 – Fahrerlaubnis; NVwZ 2008, 686 – erschlichene Einbürgerung; Buchholz 240 § 48 BBesG Nr. 11. 124 Z.B. BGH, GRUR 2005, 348 – Bestellnummernübernahme; WRP 2004, 1388, 1390 f. – Polifeprosan; EuZW 2005, 156, 158 f.; NJW 2002, 2464, 2467 f., 2468 ff.; EuZW 2009, 667 – Provisionsanspruch des Handelsvertreters bei möglicher Kündigung; EuZW 2010, 313;

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46

3. Teil: Besonderer Teil

c)

47

48

49

Der Beschluss wird den Verfahrensbeteiligten zugestellt und ist dann in 20facher Ausfertigung dem Kanzler des Gerichtshofs zuzustellen. Nach Nr. 29 der Hinweise des EuGH sollen auch die Verfahrensakten, jedenfalls aber Kopien davon, übersandt werden. Der BGH legt dem EuGH deshalb die gesamte Verfahrensakte, also die bei dem BGH selbst entstehende Akte und die bei den Vorinstanzen entstandenen Akten, vor.125 Zurück bleibt nur ein Senatsheft, in dem Kopien der Schriftsätze der Verfahrensbeteiligten und Vorbereitungsunterlagen des Senats enthalten sind. Die Verfahrensakte wird beim EuGH, jedenfalls beim Generalanwalt, auch durchaus verwertet.126 5.

Vorlageverfahren vor dem EuGH

a)

Schriftliches Vorverfahren

Beim EuGH wird der Vorlagebeschluss in die anderen Amtssprachen übersetzt und den Verfahrensbeteiligten zur Stellungnahme zugeleitet. Verfahrensbeteiligte sind nicht nur die am nationalen Gerichtsverfahren beteiligten Parteien unter Einschluss von Nebenintervenienten oder Beigeladenen. Dazu gehören darüber hinaus auch alle Mitgliedstaaten und die Kommission. Der Rat und die Europäische Zentralbank werden nur beteiligt, wenn die Vorlagefrage dies nahe legt. Im schriftlichen Vorverfahren haben die Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme. In der Regel äußern sich die Parteien des Rechtsstreits und die Kommission. Die Mitgliedstaaten äußern sich dann, wenn die Klärung der einen oder anderen Rechtsfrage für sie übergeordnete Bedeutung hat. Die Stellungnahmen werden den anderen Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis übersandt. Diese haben keinen Anspruch darauf, sich noch einmal schriftsätzlich zu diesen Stellungnahmen zu äußern. Sie können dies aber tun, wenn sie das für angezeigt halten und die Stellungnahmefrist noch nicht abgelaufen ist. b)

50

Technische Abwicklung

Mündliche Verhandlung

Im Anschluss an das schriftliche Vorverfahren findet eine mündliche Verhandlung vor dem EuGH statt. Sie wird eingeleitet durch die Schlussanträge des Generalanwalts, in welchen dieser den Fall EU-rechtlich aufarbeitet und dem EuGH eine Beantwortung der Vorlagefrage aus EU-rechtlicher Sicht vorschlägt. Hierüber wird vor dem EuGH mündlich verhandelt. An der mündlichen Verhandlung können alle Verfahrensbeteiligten teilnehmen.127 Hat der EuGH die Frage bereits beantwortet oder ergibt sich die Antwort aus der Rechtsprechung des EuGH, kann der EuGH nach BVerwG, AuAS 2009, 267 – Assoziationsratsbeschluss; NuR 2009, 481 – Zuteilungsgesetz 2007; NVwZ 2009, 592; BVerwGE 132, 79; 128, 278; DVBl. 2008, 1255; BAG, RIW 2010, 76 – Altersgrenze bei Lufthansapiloten. 125 Vgl. BGH, BGH-Report 2001, 223, insoweit nur bei juris veröffentlicht. 126 Vgl. z.B. GA Léger, SchlA v. 2.6.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, Slg. 2005, I-9273 Rn. 47. 127 Streinz-Ehricke, Art. 234 EG Rn. 57.

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§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

Anhörung des Generalstaatsanwalts von dessen Beteiligung absehen und durch Beschluss entscheiden, Art. 104 § 3 EuGH-VerfO. c)

Urteil des EuGH

Den Abschluss des Verfahrens bildet das Vorabentscheidungsurteil des EuGH. Darin schildert der EuGH gewöhnlich den ihm vorgestellten Sachverhalt. Er beantwortet dann die ihm vorgelegten Fragen der Reihe nach, indem er jeweils zunächst den EUrechtlichen Hintergrund erläutert und anschließend die Frage beantwortet. Das Urteil bindet das vorlegende Gericht.128

51

Das Verfahren vor dem EuGH ist kostenfrei. Über die sonst entstehenden Kosten entscheidet das nationale Gericht in seiner abschließenden Entscheidung.

52

III. Auslegungssituationen 1.

Vorabentscheidungsersuchen

Die Situation, in welcher die obersten Gerichtshöfe des Bundes am intensivsten Gelegenheit zur Auslegung des EU-Rechts haben, ist das Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH. Das klingt auf den ersten Blick paradox. Denn das Vorabentscheidungsersuchen stellen die obersten Gerichtshöfe des Bundes ja gerade dann, wenn sie keine Auslegungskompetenz haben und die Auslegung dem EuGH im Wege eben ihres Ersuchens überlassen müssen. Wie ausgeführt, müssen die obersten Gerichtshöfe des Bundes in ihren Ersuchen indes nicht nur die Vorlagefragen benennen, sondern auch darstellen, warum die EU-Norm Auslegungsfragen aufwirft und welche Auslegungsalternativen bestehen.

53

Dieses Erfordernis zwingt die obersten Gerichtshöfe des Bundes zwar nicht dazu, sich eingehend mit der Auslegung der EU-Norm auseinanderzusetzen. Es gibt ihnen aber Gelegenheit dazu. Von dieser Möglichkeit machen die obersten Gerichtshöfe des Bundes in unterschiedlichem Umfang Gebrauch. Teils nehmen sie zu der Auslegung des EU-Rechts sehr eingehend Stellung und schlagen auch eine konkrete Auslegung vor.129 Teils nehmen sie sich hier eher zurück.130 Dies hängt in erster Linie von den konkreten Fragen ab. Hierbei sollte aber auch nicht außer Acht gelassen werden, dass die deutschen Gerichte an dem Auslegungsprozess nicht nur gewissermaßen passiv teilnehmen müssen. Sie haben vielmehr durchaus die Möglichkeit, sich aktiv in den judiziellen Dialog131 einzuschalten, indem sie aus ihrer Sicht zur Auslegung der Normen Stellung beziehen und ggf. auch einen Auslegungsvorschlag machen.

54

Das erscheint jedenfalls dann angezeigt, wenn der oberste Gerichtshof mit dem Rechtsgebiet intensiver befasst ist. Denn dann verfügt er über eine auf Fallmaterial

55

128 129 130 131

Zur Bindungswirkung im Übrigen: v. d. Groeben/Schwarze-Gaitanides, Art. 234 EG Rn. 90 ff. BGH, GRUR 2005, 348 – Bestellnummernübernahme; BVerwG, AuAS 2009, 267. BVerwG, NuR 2009, 481; BFHE 223, 358; 221, 284. Dazu Schmidt-Räntsch, EWiR 2005, 282.

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3. Teil: Besonderer Teil

gestützte ausgeprägte Expertise, die er dem EuGH nicht vorenthalten sollte. Ein solches Vorgehen dient auch der besseren Durchdringung des EU-Rechts. Anhand der eigenen Fallpraxis lässt sich besser überblicken, welche Folgefragen die Auslegung des EU-Rechts im einen oder anderen Sinne aufwirft und welche Auswirkungen sie in der Praxis hat. 2.

Abwehr von Vorabentscheidungsersuchen

56

Gelegenheit zur Auslegung des EU-Rechts haben die obersten Gerichtshöfe des Bundes auch im umgekehrten Fall der Abwehr von Vorabentscheidungsersuchen. Darüber, ob ein Vorabentscheidungsersuchen zu stellen ist, entscheidet das nationale Gericht von Amts wegen. Das hindert die Parteien gerade auch bei den obersten Gerichtshöfen des Bundes nicht daran, die Stellung eines solchen Ersuchens anzuregen. Mitunter hat ein solcher Vorschlag aber auch taktische Gründe, nämlich den Zweck, beim EuGH eine Änderung der nationalen Rechtsprechung zu erreichen. Das ist legitim. Das nationale Gericht kann und muss aber prüfen, ob die Vorlage an den EuGH wirklich sachgerecht oder rechtlich geboten ist. Fehlt es daran, müssen die obersten Gerichtshöfe des Bundes die Ablehnung eines Vorabentscheidungsersuchens begründen.132 Auch das erfordert eine Auslegung des EU-Rechts, die allerdings von der Natur der Sache her nicht ausgeprägt sein kann. Sie muss aber erkennen lassen, dass ein Vorabentscheidungsersuchen wirklich nicht erforderlich ist.132a

57

Beispiele sind die sog. Schrottimmobilien133 oder der vergebliche Versuch, den BGH dazu zu bewegen, den EuGH im Hinblick auf das Entfallen von Anerkennungshindernissen nach Art. 34 Nr. 2 EuGVVO erneut mit der Frage einer Anerkennung von Versäumnisurteilen134, dem Stromeinspeisungsgesetz135, mit der Auslegung von Mietvertragsklauseln am Maßstab der Klauselrichtlinie136, mit den Voraussetzungen der internationalen Zuständigkeit für Unterlassungsklagen137, mit dem Schutzzweck der Jahresabschlusrichtlinien138 zu befassen oder gar einer Anhörungsrüge analog § 321a ZPO stattzugeben, um eine Vorlage zum Verhältnis des Gemeinschaftsgeschmacksmusterrechts zum Wettbewerbsrecht zu ermöglichen139. In der Praxis des BVerwG sind hier die Versuche zu nennen, Planfeststellungsbeschlüsse unter Hinweis auf das EU-Recht doch noch zu Fall zu bringen140, eine Kampfhundsteuer zu vermeiden141 oder die Berechnung der Arbeitszeiten bei der Feuerwehr zu beeinflussen.142 132 Dazu genügt allerdings der Hinweis auf die erfolgte Umsetzung als solche nicht; anders BGH, NJW-RR 1998, 1661, 1662. 132a BVerfG, NJW 2010, 1268, 1270 f. 133 BGH, NJW 2004, 153, 154; NJW 2004, 154, 155; WM 2003, 2186. 134 BGH, NJW 2004, 3189. 135 BGHZ 155, 141, 157 f. 136 BGH, NZM 2004, 734. 137 BGH, NJW 2006, 689. 138 BGH, NJW 2006, 690, 691. 139 BGH, BGH-Report 2006, 671, 672. 140 BVerwG, NVwZ 2008, 1115. 141 BVerwG, NVwZ 2005, 598. 142 BVerwGE 119, 363.

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§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

3.

Anwendung unmittelbar geltenden Gemeinschaftsrechts

a)

Primäres Gemeinschaftsrecht

Gelegenheit zur eigenständigen Auslegung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht haben die obersten Gerichtshöfe des Bundes, soweit sie dazu nach den Ausführungen unter II. berufen sind, zunächst bei den unmittelbar auch für Bürger und Unternehmen geltenden Vorschriften des Gemeinschaftsrechts. Das primäre Gemeinschaftsrecht regelt zwar in erster Linie die Rechtsbeziehungen der Organe der Gemeinschaften untereinander und zwischen den Mitgliedstaaten. Es begründet auch Handlungspflichten der Mitgliedstaaten, die aber nicht der Einzelne, sondern nur die Organe der Gemeinschaft durchsetzen können. Streitigkeiten über die wechselseitigen Rechte und Pflichten der Organe und der Mitgliedstaaten haben nicht die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten zu entscheiden, sondern die Unionsgerichte, das Europäische Gericht erster Instanz (EuG), der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) und das Gericht für den öffentlichen Dienst (EuGÖD).

58

Es gibt aber auch Vorschriften des primären Unionsrechts, die von den Behörden der Mitgliedstaaten zu beachten sind.143 Andere Vorschriften gelten zwischen den Beteiligten und können in Verfahren vor den ordentlichen Gerichten Bedeutung erlangen. Das sind vor allem die Vorschriften der Art. 101 und 102 AEUV/81 und 82 EG über wettbewerbshindernde Vereinbarungen144 und den Missbrauch einer den Markt beherrschenden Stellung. Die Vorschriften des EU-Beihilfenrechts der Art. 107 ff. AEUV/87 ff. EG gehören dazu.145 Auch andere Vorschriften der Unionsverträge, z.B. Art. 36 AEUV/30 EG,146 können unmittelbare Wirkung haben und z.B. in Verfahren vor dem BGH anzuwenden sein.

59

b)

Verordnungsrecht

aa)

Öffentliches Recht

Häufiger werden die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten mit EU-Verordnungsrecht konfrontiert. Es gilt nach Art. 288 Abs. 2 AEUV/249 Abs. 2 EG unmittelbar in jedem Mitgliedstaat und ist auch für Bürger und Unternehmen und nicht nur für die Mitgliedstaaten verbindlich. Gegenstand des EU-Verordnungsrechts sind aber überwiegend Materien, die nach deutschem Rechtsverständnis dem öffentlichen Recht zuzuordnen und deshalb in erster Linie von den Gerichten der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Finanz- und der Sozialgerichtsbarkeit, unter den OGB also von BVerwG, BFH und BSG, zu beurteilen sind.

143 BVerwG, RdL 2008, 222; BVerwGE 129, 116; NVwZ 2006, 703; BAG NZA 2008, 1417, 1419. 144 Beispiel: BGH, WRP 2004, 1378, 1380 f. – Citroën. 145 Dazu Schmidt-Räntsch, NJW 2005, 106, 107 f.; aus der Rechtsprechung des BGH: BGH, EuZW 2003, 444; EuZW 2004, 252; VIZ 2004, 77; BGHZ 155, 141, 157 f. 146 BGHZ 155, 141, 158. Jürgen Schmidt-Räntsch

703

60

3. Teil: Besonderer Teil

61

Allerdings kann die Anwendung und Umsetzung von EU-Verordnungsrecht auch von den ordentlichen oder den Arbeitsgerichten147 zu beurteilen sein. Das ist vor allem in Fällen aus dem Bereich des Amts- und Staatshaftungsrechts, des Wettbewerbsrechts und des Strafrechts der Fall. Verordnungen mit öffentlich-rechtlichem Inhalt richten sich oft (auch) an die Behörden der Mitgliedstaaten und sind von ihnen bei ihrem Amtswalten zu beachten. Geschieht dies nicht, so löst dies unter den gleichen Voraussetzungen Schadensersatzansprüche aus wie ein Verstoß gegen nationale Vorschriften.

62

Vor allem EU-Verordnungen mit lebensmittelrechtlichem oder gewerberechtlichem Inhalt richten sich oft nicht nur an Behörden, sondern in erster Linie an die Gewerbetreibenden selbst. Sie geben ihnen bestimmte Rezepturen vor, verbieten die Verwendung bestimmter Stoffe und Verfahren und dergleichen mehr. Hält sich ein Gewerbetreibender nicht an diese Vorschriften, verschafft er sich einen unerlaubten Sondervorteil gegenüber seinen Wettbewerbern, die sich an die Vorschriften halten und handelt deshalb wettbewerbswidrig im Sinne von § 3 UWG.148 Verlangt ein Wettbewerber nach § 13 UWG Unterlassung, haben die ordentlichen Gerichte in solchen Fällen im Kern zu prüfen, ob die lebensmittel- oder gewerberechtlichen Vorschriften eingehalten sind. Handelt es sich dabei um EU-Verordnungsrecht, ist dieses heranzuziehen.149

63

Aus EU-Verordnungsrecht können sich auch in anderen Bereichen Vorgaben für die Anwendung des nationalen Rechts ergeben. Das war etwa bei der pachtrechtlichen Zuordnung der Milchreferenzmenge der Fall, die durch das EU-Marktordnungsrecht150 bestimmt wurde.151 bb)

64

Zivilrecht

Auf dem Gebiet des Zivil- und Handelsrechts gab und gibt es vergleichsweise wenig EU-Verordnungsrecht. Der Unionsgesetzgeber zieht hier bisher die Rechtsform der Richtlinie vor, weil sie den Mitgliedstaaten das Einpassen der unionsrechtlichen Vorgaben in die nationale Zivilrechtsordnung erleichtert. Die recht häufigen Verzögerungen bei der Umsetzung und vor allem die sich bei der Umsetzung ergebenden Regelungsunterschiede in den Mitgliedstaaten haben bei der Kommission die Neigung verstärkt, auch auf dem Gebiet des Zivil- und Handelsrechts unmittelbar geltendes Verordnungsrecht vorzuschlagen, das dann in Deutschland von den dazu in erster Linie berufenen ordentlichen Gerichten und dem BGH zu beurteilen ist.

147 148 149 150

BAG, NZA-RR 2009, 354; NJW 2008, 2797. BGH, GRUR 2004, 1037, 1038 f. – Johanniskraut (betraf allerdings eine Richtlinie). BGH, BGH-Report 2004, 1430, 1432 – Honigwein. Verordnung (EWG) Nr. 3950/92 des Rates v. 28.12.1992 über die Erhebung einer Zusatzabgabe im Milchsektor, ABl. 1992 L 405/1, aufgehoben mit Wirkung v. 1.4.2004 durch Art. 25 der Verordnung (EG) Nr. 1788/2003 des Rates v. 29.9.2003 über die Erhebung einer Abgabe im Milchsektor, ABl. 2003 L 270/123. 151 BGH, RdL 2005, 82, 83; NJW-RR 2004, 210, 211. Diese Beihilfe ist inzwischen durch eine unternehmensbezogene Beihilfe ersetzt worden.

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§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

Zu nennen sind hier die EuGVVO (auch: Brüssel I-VO),152 die EuEheVO (auch: Brüssel IIa-VO),153 die Zustellungsverordnung,154 die Insolvenzverordnung155, die Beweisaufnahmeverordnung156 und die Vollstreckungsverordnung157.

65

EU-Verordnungsrecht gibt es nicht nur auf dem Gebiet des internationalen Insolvenz- und Prozessrechts. Es gibt dies, wenn auch in geringerem Umfang, im Bereich des materiellen Zivil- und Handelsrechts. Zu nennen sind hier vor allem gewerbliche Schutzrechte158 und die supranationalen Gesellschaftsformen der EWIV159 und der SE160, etwa auch die Verordnung über grenzüberschreitende Zahlungen in Euro161 und, im Zusammenhang mit der Umstellung auf den Euro, die Vorschriften über die Einführung des Euro, die sich auch mit der Umstellung von vertraglichen Preisregelungen befassen.162 Im Reiserecht hat die Fluggastrechte-Verordnung (EG) Nr. 261/2004162a besondere Bedeutung erlangt.

66

152 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 v. 22.12.2000 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2001 L 12/6. 153 Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates v. 27.11.2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000, ABl. 2003 L 338/1. 154 Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates v. 29.5.2000 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- und Handelssachen in den Mitgliedstaaten, ABl. 2000 L 160/37. 155 Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates v. 29.5.2000 über Insolvenzverfahren, ABl. 2000 L 160/1. 156 Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates v. 28.5.2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen, ABl. 2001 L 174/1. 157 Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 zur Einführung eines Europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen, ABl. 2004 L 143/15. 158 Vgl. z. B. Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates v. 20.12.1993 über die Gemeinschaftsmarke, ABl. 1993 L 11/1 i.d.F. der Verordnung (EG) Nr. 422/2004 des Rates v. 19.2.2004 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 40/94 über die Gemeinschaftsmarke, ABl. 2004 L 70/1; Verordnung (EG) Nr. 2100/94 v. 27.7.1994 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz, ABl. 1994 L 227/1, idF der Verordnung (EG) Nr. 873/2004 des Rates v. 29.4.2004 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2100/94 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz, ABl. 2004 L 162/38; Verordnung (EG) Nr. 1610/96 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.7.1996 über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Pflanzenschutzmittel, ABl. 1996 L 198/30; Verordnung (EWG) Nr. 1768/92 des Rates v. 18.6.1992 über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Arzneimittel, ABl. 1992 L 182/1. 159 Verordnung (EWG) Nr. 2137/85 des Rates v. 25.7.1985 über die Schaffung einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV), ABl. 1985 L 199/1. 160 Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates v. 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. 2001 L 294/1. 161 Verordnung (EG) Nr. 2569/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.12.2001 über grenzüberschreitende Zahlungen in Euro, ABl. 2001 L 344/13. 162 Vgl. etwa BGH, RdL 2005, 147; zu den Einzelheiten der Euro-Einführung SchmidtRäntsch, ZIP 1998, 2041 ff. 162a Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.2.2004 Jürgen Schmidt-Räntsch

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3. Teil: Besonderer Teil

c)

Richtlinien und (Rahmen-)Beschlüsse

67

Unmittelbar gelten können im Einzelfall auch Vorschriften von Richtlinien. Voraussetzung hierfür ist neben dem Ablauf der Umsetzungsfrist vor allem, dass die Richtlinienvorschrift hinreichend bestimmt ist, der Mitgliedstaat also kein Gestaltungsermessen hat.163 Teilweise wird darüber hinaus auch verlangt, dass die Richtlinie subjektive Rechte des Einzelnen formuliert, was sich in der Rechtsprechung des EuGH aber nicht zwingend widerspiegelt.164 Eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie kommt auch nur im Verhältnis des Bürgers zum Staat in Frage.

68

Eine unmittelbare Anwendung von Richtlinien im Verhältnis der Bürger untereinander ist bislang außerhalb des Arbeitsrechts nicht anerkannt.165 Das bedeutet, dass die unmittelbare Wirkung einzelner Richtlinienvorschriften nur im Bereich des öffentlichen Rechts zum Tragen kommt. Die ordentlichen Gerichte werden hiermit nur im Rahmen von Haftungs-, Wettbewerbs- und Strafprozessen konfrontiert.

69

Rahmenbeschlüsse nach Art. 288 Abs. 3 AEUV/34 EU stehen funktionell den Richtlinien gleich. Nach dem Urteil des EuGH in der Rechtssache Pupino166 haben sie auch annähernd gleiche Rechtswirkungen. Entschieden ist das bislang nur für die Frage der EU-konformen Auslegung. Die Begründung des EuGH lässt aber erwarten, dass dies auch im Übrigen so beurteilt werden wird. 4.

Anwendung von Umsetzungsvorschriften

a)

Umsetzungspflicht

70

Der weit überwiegende Teil des Unionsrechts mit prozessrechtlichem, zivil- und handelsrechtlichem, aber auch von öffentlich-rechtlichem Inhalt ist bislang nicht in der Form der Verordnung, sondern in der Form der Richtlinie erlassen worden. Richtlinien gelten aber, wie ausgeführt, im Unterschied zu Verordnungen im Verhältnis Privater untereinander nicht unmittelbar. Sie sind vielmehr an die Mitgliedstaaten gerichtet und verpflichten diese, ihre Rechtsordnung an die Vorgaben der Richtlinie anzupassen.

71

Da die Vorgaben solcher Richtlinien regelmäßig das Verhältnis der Bürger und Unternehmen untereinander betreffen, liegen bei ihnen die Voraussetzungen einer unmittelbaren Anwendung in der Regel nicht vor. Das nationale Gericht hat deshalb grundsätzlich nicht die Richtlinie, sondern allein die Vorschriften zu ihrer Umsetzung

163 164 165

166

706

über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91, ABl. 2004 L 46/1. V. d. Groeben/Schwarze-Schmidt, Art. 249 EG Rn. 42; Streinz-Schroeder, Art. 249 EG Rn. 106 ff. Streinz-Schroeder, Art. 249 EG Rn. 110. EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 108 f.; zum Arbeitsrecht vgl. jetzt aber EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 77. EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285; dazu: Adam, EuZW 2005, 558, 560. Jürgen Schmidt-Räntsch

§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

auszulegen und anzuwenden und muss, auch wenn diese verspätet erlassen werden, grundsätzlich erst deren Erlass abwarten. Es hat also vorbehaltlich noch zu erläuternder Ausnahmen zunächst keine Gelegenheit, solche Richtlinien selbst auszulegen und anzuwenden. Umzusetzen hat der nationale Gesetzgeber die inhaltlichen Vorgaben der Richtlinie. Sie sind in älteren Richtlinien auf dem Gebiet des Zivilrechts zurückhaltender als in neueren Richtlinien, deren Vorgaben zum Teil ausgesprochen engmaschig sind.

72

Wie der nationale Gesetzgeber das erreicht, steht ihm nach der Natur der Richtlinie frei. Er kann ein Sondergesetz erlassen, wie dies etwa mit dem Haustürwiderrufs-167 oder dem Teilzeit-Wohnrechtegesetz168 geschehen ist, die beide in das BGB überführt worden sind. Beispiele aus dem Arbeitsrecht sind das Arbeitnehmer-Entsendegesetz169, das Gesetz zur Umsetzung der EG-Rahmenrichtlinie Arbeitsschutz und weiterer Arbeitsschutzrichtlinien170 oder das Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge171. Im Bereich des öffentlichen Rechts könnten das UVP-Gesetz172 oder das Umweltinformationsgesetz173 genannt werden. Der Gesetzgeber kann sich, wie etwa im Reiserecht174, im Recht der AGB-Kontrolle175 oder im Steuerrecht, zur Umsetzung der Richtlinie aber auch vorhandener Vorschriften bedienen. Der Gesetzgeber hat auch die Möglichkeit, neue allgemeine Vorschriften zu erlassen. Ein Beispiel hierfür ist die Umsetzung der Kaufgewährleistungsrichtlinie.176

73

167 Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften i.d.F. der Bekanntmachung v. 29.6.2000, BGBl. 2000 I, 956, das die Richtlinie 85/577/EWG des Rates v. 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31, umsetzte. 168 Gesetz über die Veräußerung von Teilzeitnutzungsrechten an Wohngebäuden i.d.F. der Bekanntmachung v. 29.6.2000, BGBl. 2000 I, 958, das die Richtlinie 94/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.10.1994 zum Schutz der Erwerber im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Verträgen über den Erwerb von Teilzeitnutzungsrechten an Immobilien, ABl. 1994 L 280/82, umsetzte. 169 Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen v. 20.4.2009, BGBl. 2009 I, 799. 170 V. 7.8.1996, BGBl. 1996 I, 1246. 171 V. 21.12.2000, BGBl. 2000 I, 1966. 172 Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung idF der Bekanntmachung v. 25.6.2005, BGBl. 2005 I, 1757, 2797, zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes v. 11.8.2009, BGBl. 2009 I, 2723. 173 V. 22.12.2004, BGBl. 2004 I, 3704. 174 Gesetz zur Durchführung der Richtlinie des Rates v. 23.6.1990 über Pauschalreisen v. 24.6.1994, BGBl. 1994 I, 1322, mit dem die Richtlinie 90/314/EWG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.6.1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 L 158/59, umgesetzt wurde. 175 Gesetz zur Änderung des AGB-Gesetzes und der Insolvenzordnung v. 19.7.1996, BGBl. 1996 I, 1013, mit dem die Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29, umgesetzt wurde. 176 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. Jürgen Schmidt-Räntsch

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3. Teil: Besonderer Teil

74

Wie auch immer der Mitgliedstaat seine Umsetzungspflicht erfüllt, sie endet wie stets nicht mit dem Erlass der Gesetze. Vielmehr hat er durch die zuständigen Stellen sicherzustellen, dass die erlassenen Vorschriften auch so angewendet werden, dass die Vorgaben und Ziele der umgesetzten Richtlinie erreicht werden. b)

Auslegung von Umsetzungsvorschriften

aa)

EU-konforme Auslegung

75

Bei der Auslegung der zur Umsetzung von Richtlinien und (Rahmen-)Beschlüssen nach Art. 228 Abs. 4 AEUV/34 EU177 erlassenen Vorschriften ist der nationale Richter deshalb nicht frei. Er kann sie nicht autonom so auslegen, wie das aus nationaler deutscher Sicht empfehlenswert oder geboten ist. Die Pflicht zur Umsetzung einer Richtlinie nach Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG erschöpft sich nicht in dem Erlass der erforderlichen nationalen Umsetzungsvorschriften. Diese Umsetzungsvorschriften sind vielmehr von den Verwaltungsorganen und von den Gerichten so anzuwenden, dass Inhalt und Ziele der Richtlinie effektiv verwirklicht werden (sog. effet utile).

76

Zu diesem Zweck haben die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten das Umsetzungsrecht unter Beachtung der Rechtsprechung des EuGH EU-konform auszulegen.178 Dabei ist allerdings auch zu berücksichtigen, inwieweit sich der zu entscheidende Fall von den in der Rechtsprechung des EuGH bereits entschiedenen Fällen unterscheidet.179 Im Wege einer vorgreifend richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts wird gelegentlich auch ein Vorabentscheidung an den EuGH vermieden.180

77

Die Grenze der EU-konformen Auslegung bildet zwar grundsätzlich der Wortlaut des nationalen Umsetzungsrechts.181 Die Gerichte der Mitgliedstaaten haben aber alle ihnen zu Gebote stehenden Mittel der Auslegung zu nutzen, um ein der Richtlinie entsprechendes Rechtsanwendungsergebnis zu erzielen. Sie müssen deshalb die Techniken, mit denen im nationalen Kontext Normenkonflikte vermieden werden, auch in einem Konflikt des nationalen mit dem EU-Recht anwenden.182 Dieses Anforderungsprofil relativiert die Wortlautgrenze stark.183 Wie weit die Verpflichtung der nationalen Gerichte zur richtliniekonformen Anwendung des nationalen Rechts geht,

177 EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285; dazu Adam, EuZW 2005, 558, 560. 178 Eingehend dazu W.-H. Roth, in diesem Band, § 14; Anwendungsbeispiel: AG Berlin-Mitte, NJW-RR 2010, 407, 409. 179 Z.B. in BGH, NJW-RR 2003, 327, 328 – Zulassungsnummer III. 180 Vgl. BGH, GRUR 2009, 1064. 181 BGH, NJW-RR 2005, 354, 355; NJW 2004, 153, 154; WM 2003, 2186, 2187. 182 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113 f.; ähnlich auch BGHZ 150, 248, 253. 183 Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 51 f.; der BGH spricht in BGHZ 160, 134, 140 und NJW 2004, 2971 (fehlerhafte Ad-hoc-Mitteilungen) von „berichtigender Auslegung“, die er aber in casu verneint; sehr weit geht er bei der Auslegung von § 5 Abs. 2 HWiG in BGHZ 150, 248, 253.

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§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

wird am Beispiel des sog. Quelle-Falls deutlich. Es ging um die Frage, ob es mit der Kaufgewährleistungsrichtlinie vereinbar ist, dem Verkäufer bei der Nacherfüllung einer mangelhaften Sache im Wege der Ersatzlieferung gegen den Käufer einen Anspruch auf Ersatz der Nutzung der mangelhaften Sache einzuräumen. Der BGH legte in seinem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH dar, dass das deutsche Recht dies so vorsehe und nicht anders auszulegen sei.184 Nachdem der EuGH die Vorlagefrage verneint hatte,185 stand der BGH vor der Frage, wie er das keine Auslegungsspielräumen gebende deutsche Kaufrecht EU-rechtskonform anwenden konnte. Er entschied sich für eine richtlinienkonforme richterliche Rechtsfortbildung im Wege der teleologischen Reduktion der fraglichen Vorschrift.186 Der von dem EuGH geprägte Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung verlange von den nationalen Gerichten aber mehr als bloße Auslegung im engeren Sinne. Er unterscheide anders als der deutsche Rechtskreis nicht zwischen Auslegung (im engeren Sinne) und Rechtsfortbildung. Dieser Unterschied im Ansatz wird auch in dem in diesem Zusammenhang wegweisenden Urteil des EuGH in der Rechtssache Mangold 187 deutlich. Der BGH leitet deshalb aus dem Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung die Notwendigkeit ab, das nationale Recht, wo dies nötig und möglich ist, richtlinienkonform fortzubilden.188 Das sei hier möglich, weil der deutsche Gesetzgeber bestrebt gewesen sei, eine EG-konforme Regelung zu schaffen. Auf dieser Grundlage kann es im Einzelfall auch geboten sein, EU-widriges nationales Recht nicht anzuwenden.189 bb)

Überschießende Umsetzung

Eine EU-konforme Auslegung bereitet bei Vorschriften keine Schwierigkeiten, die ausschließlich Fälle betreffen, die von den Richtlinien erfasst werden. Das ist regelmäßig bei Sondergesetzen der Fall, die zur Umsetzung einzelner Richtlinien erlassen werden. Anders liegt es aber bei allgemeinen oder besonderen Vorschriften, die auch auf Fälle anwendbar sind, die von den Richtlinien selbst nicht erfasst werden.

78

Eine solche überschießende Umsetzung ergab sich etwa in dem früheren Verbraucherkreditgesetz, dessen Anwendungsbereich sich nicht vollständig mit der Verbraucherkreditrichtlinie deckte und das auch ein dort nicht vorgesehenes Widerrufsrecht einführte.190 Ein anderes Beispiel sind die Vorschriften des mit dem Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts umgestalteten Leistungsstörungs- und Kaufrechts, die nicht nur für Verbrauchsgüterkäufe im Sinne der Kaufgewährleistungsrichtlinie

79

184 NJW 2006, 3200, 3201. 185 EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle AG/Bundesverband der Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände, Slg. 2008, I-2685. 186 BGHZ 179, 27, 34 f. 187 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold ./. Helm, Slg 2005 I-9981 Rn. 77. 188 BGHZ 179, 27, 35. 189 EuGH v. 27.10.2009 – Rs. C-115/08 Österreich ./. CˇEZ as (noch nicht in Slg.); EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-341/08 Dominiqua Petersen ./. Berufungsausschuss für Zahnärzte für den Bezirk Westfalen-Lippe (noch nicht in Slg.); Schmidt-Räntsch, NZM 2007, 6, 8; W.-H. Roth, in diesem Band, § 14 Rn. 37 ff., 46. 190 Dazu Schmidt-Räntsch, MDR 2005, 6, 11 f. Jürgen Schmidt-Räntsch

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3. Teil: Besonderer Teil

gelten, sondern schlechthin für alle Kaufverträge und auch für ganz andere Verträge. In diesen Fällen besteht eine Verpflichtung zur EU-konformen Auslegung nur, soweit es sich um Fälle handelt, die von den Richtlinien erfasst werden. Im Übrigen aber besteht eine EU-rechtliche Pflicht zur EU-konformen Auslegung nicht.191

80

Die überschießende Umsetzung von Richtlinien ist kein Phänomen, das sich auf das allgemeine Zivilrecht oder das Verbraucherrecht beschränkt. Auch in anderen Rechtsbereichen wird eine überschießende Umsetzung vorgenommen, wenn dies aus der Sicht des nationalen Rechts zu sachgerechten Ergebnissen führt. Ein Beispiel aus dem Umweltrecht ist die IVU-Richtlinie,192 deren Anforderungen in Deutschland mehr Anlagen unterworfen worden sind als EU-rechtlich geboten.193 Ein Beispiel aus dem Arbeitsrecht ist das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG),194 das den Gleichbehandlungsgrundsatz nicht auf das Arbeitsrecht beschränkt, sondern auf andere Vertragsverhältnisse auch bei Diskriminierungsmerkmalen erstreckt, bei denen das EU-rechtlich nicht geboten ist.195

81

Eine solche überschießende Umsetzung ist EU-rechtlich unbedenklich. Sicherzustellen ist nach der Rechtsprechung des EuGH lediglich, dass der Rechtsanwender klar erkennen kann, wie die von der Richtlinie erfassten Fälle behandelt werden sollen.196 Das bedeutet, dass überschießende nationale Umsetzungsvorschriften EU-rechtlich gespalten ausgelegt werden können, nämlich EU-konform für die von den Richtlinien erfassten Fälle und autonom im Übrigen.197 Eine solche gespaltene Auslegung ist aber nur möglich, wenn sie den nationalen Vorgaben genügt. Sie darf also nicht im Widerspruch zu dem im Gesetz zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers und zur Systematik des Gesetzes stehen198, außerdem muss für eine unterschiedliche Behandlung der Fallgruppen ein sachlicher Grund gegeben sein.

191 Einzelheiten dazu bei Schmidt-Räntsch, FS Wenzel (2005), S. 413 f. 192 Richtlinie 96/61/EG des Europäischen Parlamants und des Rates v. 24.9.1996 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung, ABl.1996 L 257/26. 193 Nachweise bei Weber/Riedel, NVwZ 2009, 998, 1000. 194 V. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, 1897. 195 Vgl. dazu die Richtlinien 2000/43/EG des Rates v. 29.6.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder ethnischen Herkunft, ABl. 2000 L 180/22, und die Richtlinie 2004/113/EG des Rates v. 13.12.2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl. 2004 L 373/37, einerseits sowie die Richtlinien 2000/78/EG des Rates v. 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000 L 303/16 und die Richtlinie 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.9.2002 zur Änderung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsausbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl. 2002 L 269/15, andererseits. 196 EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 ICI, Slg. 1998, I-4695 Rn. 34. 197 Eingehend dazu Habersack/Mayer, in diesem Band, § 15 Rn. 24 ff. 198 W.-H. Roth, in: Dauner-Lieb/Konzen/Schmidt, Das neue Schuldrecht in der Praxis, S. 34 f.; Prütting, in: Prütting/Wegen/Weinreich, BGB-Kommentar (5. Aufl. 2010), Einl. Rn. 35 a.E.

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§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

Es lässt sich zwar nicht ausschließen, dass diese Vorgaben in dem einen oder anderen Fall erfüllt sind. In der Regel werden sie aber nicht erfüllt sein. Es wäre zum Beispiel nicht möglich, den Begriff des geringfügigen Mangels bei Verbrauchsgüterkäufen anders auszulegen als bei Immobilienkäufen199, oder das Widerrufsrecht nach den Haustürwiderrufsvorschriften nur bei Realkreditverträgen, nicht aber auch bei Personalkreditverträgen zu geben.200 Werden Anlagen den hohen Umweltstandards des EU-Rechts (in casu der IVU-Richtlinie) unterstellt, können diese nicht deshalb anders interpretiert werden, weil die Unterstellung EU-rechtlich nicht geboten war. Die Auslegung der Antidiskriminierungsrichtlinien durch den EuGH schlägt im Anwendungsbereich des AGG zwangsläufig auf die Bereiche durch, in denen die Einführung eines Diskriminierungsverbots EU-rechtlich nicht zwingend war. c)

82

Sonderfall: Umsetzung durch Generalklauseln

Der nationale Gesetzgeber kann sich, wie ausgeführt, zur Umsetzung von Richtlinien auch vorhandener nationaler Vorschriften bedienen. Es war deshalb zulässig, die naturschutzrechtlichen EU-Richtlinien im Bundesnaturschutzgesetz201 umzusetzen. Nationale Generalklauseln sind dafür aber nur geeignet, wenn sie in der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine gefestigte Ausprägung in Fallgruppen erfahren haben, die die Vorgaben der umzusetzenden Richtlinie hinreichend konkret abbildet.202 Das war etwa bei § 1 UWG a.F. (heute § 3 UWG) der Fall, der in der Rechtsprechung des BGH eine Konkretisierung in festen Fallgruppen erfahren hat und die Vorgaben der früheren wettbewerbsrechtlichen Richtlinien deutlich abbildete. Dagegen hat der EuGH eine Vorschrift des niederländischen Nieuw Burgerlijk Wetboek (NBW) nicht ausreichen lassen, die inhaltlich § 307 Abs. 1 BGB entsprach.203 Es fehlten nämlich konkretisierende Vorschriften, wie sie z.B. das BGB in den §§ 308 und 309 aufweist. Aus diesem Grund genügten die Generalklauseln des BGB auch nicht zur Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien der EU.204

83

Ein solches Defizit ist für die meisten Generalklauseln typisch, die zwar eine gewisse Ausprägung in Fallgruppen erfahren haben, regelmäßig aber nicht so konturenscharf sind, dass die Umsetzung einer Richtlinie durch Verweis auf die Generalklausel erspart werden kann. Das führt dazu, dass EU-Vorgaben bei der Auslegung von Generalklauseln in unterschiedlichem Umfang zu berücksichtigen sind.

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Dient die Generalklausel des nationalen Rechts allein der Umsetzung einer Richtlinie, dann ist sie wie jede andere Umsetzungsvorschrift auch EU-konform auszu-

85

199 Schmidt-Räntsch, FS Wenzel (2005), S. 415 f.; vgl. in diesem Zusammenhang auch BGH, ZIP 2006, 904, 905 Rn. 11. 200 BGH, NJW 2002, 1881, 1883; BB 2004, 2711, 2712. 201 Mehrfach neu erlassen, derzeit idF des Gesetzes v. 29.7.2009, BGBl. 2009 I, 2542. 202 Streinz-Schroeder, Art. 249 EG Rn. 93. 203 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 17 f., 21; weniger streng aber EuGH v. 7.5.2002 – Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden, Slg. 2002, I-4147 Rn. 18, 20. 204 Entwurfsbegründung in BT-Drs. 16/1780, S. 39 f.

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3. Teil: Besonderer Teil

legen. Denn anders ließe sich in einem solchen Fall die Vorgabe zur effizienten Umsetzung der Richtlinie nicht erfüllen. Das bedeutet aber auch, dass die Rechtsprechung zur Auslegung der Generalklausel den Inhalt der Richtlinie und ihre Auslegung durch den EuGH genau abbilden muss.205 Geschieht das nicht, muss das nationale Recht um spezielle Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie ergänzt werden. 5.

Anwendung ausfüllungsbedürftiger nationaler Vorschriften

86

Anders liegt es bei Generalklauseln, die nicht speziell zur Umsetzung einer Richtlinie gedacht sind. Solche Generalklauseln müssen regelmäßig konkretisiert werden. Die Konkretisierung ist oft nur unter Rückgriff auf Vorschriften aus anderen Rechtsbereichen möglich. Dazu kann unmittelbar geltendes EU-Recht, dazu können aber auch EU-rechtlich vorbestimmte nationale Vorschriften gehören. Ein Beispiel ist die Beachtung der Verkehrssicherungspflicht, die sowohl im vertragsrechtlichen als auch im deliktsrechtlichen Kontext eine Rolle spielt. Die Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht ergeben sich regelmäßig aus gewerberechtlichen Vorschriften oder DIN- und ähnlichen Normen.206 Diese können auf EU-Recht beruhen oder selbst EU-Recht sein.

87

Ein anderes Beispiel ist das des V. Zivilsenats des BGH vom 10.12.2004.207 Hier verlangte der Nachbar eines Flughafens von der Betreibergesellschaft Ersatz der Kosten für Lärmschutzmaßnahmen nach § 906 Abs. 2 S. 2 BGB. Das setzt voraus, dass die Lärmimmissionen über das ortsübliche Maß hinausgingen. Dafür kam es nach § 906 Abs. 1 S. 2 BGB auf das Vorhandensein technischer Vorschriften und Normen an. Solche Vorgaben konnten sich auch aus EU-Recht ergeben, weshalb der Senat auch geprüft hat, ob sie in der Richtlinie über Umgebungslärm208 vorgegeben waren, was nicht der Fall ist.209 Wäre das der Fall, hätte der Senat sie berücksichtigen müssen, obwohl die Richtlinie seinerzeit noch nicht umgesetzt war. Ein anderes Beispiel ist die Ausfüllung von § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG durch die einschlägigen EURechtsnormen.210

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6.

Haftung für verspätete Umsetzung von EU-Recht

a)

EU-rechtliche Haftung

Bürgern und Unternehmen kann aber aus der verspäteten Umsetzung ein Schaden entstehen. Diesen Schaden haben die Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des

205 BGH, NJW-RR 2005, 342, 343 f. – Stresstest; BGHZ 158, 26, 31 – Genealogie der Düfte; BGHZ 138, 55, 61 ff. – Testpreis-Angebot (vergleichende Werbung im Rahmen von § 1 UWG a.F. [§ 3 UWG n.F.]). 206 BGH, NJW 2004, 1449, 1450. 207 BGH, NJW 2005, 660. 208 Richtlinie 2002/49/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.6.2002 über die Bewertung und Bekämpfung von Umgebungslärm, ABl. 2002 L 189/12. 209 BGH, NJW 2005, 660, 663. 210 BGH, NJW 2005, 445, 448.

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§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

EuGH dem Bürger unter besonderen Umständen zu ersetzen. Die verletzte Gemeinschaftsrechtsnorm muss den Zweck haben, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß muss hinreichend qualifiziert211 sein. Außerdem muss zwischen dem Verstoß gegen die dem Mitgliedstaat obliegende Verpflichtung und dem dem Geschädigten entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang bestehen.212 Diese Voraussetzungen waren etwa bei Art. 7 der Pauschalreiserichtlinie213 gegeben, derzufolge der Mitgliedstaat den Pauschalreisenden gegen das Risiko einer Insolvenz des Reisenveranstalters abzusichern hat.214 Bei der Einlagensicherungsrichtlinie215, nach der die Mitgliedstaaten zur Sicherung der Einlagen einen Fonds einzurichten haben, lag es genauso.216 Für das Versäumnis haftet in Deutschland die Körperschaft, die für die Umsetzung zuständig ist, bei Bundesvorschriften also der Bund, der sich aber im Einzelfall entlasten kann, wenn die ausführenden Landesbehörden ein eigenes Verschulden bei der Umsetzung des nationalen Rechts trifft.217

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Über solche Schadensersatzansprüche entscheiden die ordentlichen Gerichte. Der Schadensersatzanspruch hängt jedenfalls dem Grunde nach entscheidend davon ab, ob die nicht fristgerecht umgesetzte Richtlinie subjektive Rechte des Einzelnen hinreichend konkret bestimmt oder nicht. Selbst wenn eine Richtlinie solche Rechte begründet, wie z.B. die von Deutschland nicht rechtzeitig umgesetzten218 Richtlinien 68/151/EWG und 78/660/EWG über die Offenlegung von Jahresabschlüssen219, kann der konkret geltend gemachte Schaden außerhalb des Schutzbereichs dieses Rechts liegen.220

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b)

Amtshaftung

Die Vorgaben einer nicht rechtzeitig umgesetzten Richtlinie können allerdings von den ordentlichen Gerichten auch im Zusammenhang mit einem Amtshaftungsrechtsstreit zu beachten sein. Einmal kann es sein, dass die Richtlinie den Behörden der Mitgliedstaaten besondere Amtspflichten dafür auferlegt, dass die vorzusehenden

211 Dazu z.B. BGHZ 146, 153, 160 ff.; NJW 2009, 2534 – Verpackungsverordnung; RdL 2009, 265 – Danske Slagetier. 212 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 Köbler, Slg. 2003, I-10239 Rn. 30 f.; BGH, NJW 2005, 742. 213 Richtlinie 90/314/EWG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.6.1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 L 158/59. 214 EuGH v. 8.10.1996 – verb. Rs. C-178, 179, 188, 189 und 190/94 Dillenkofer u.a., Slg. 1996, I-4845 Rn. 22, 36 ff.; EuGH v. 15.6.1999 – Rs. C-140/97 Rechberger, Slg. 1999, I-3499 Rn. 44 ff. 215 Richtlinie 94/19/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 30.5.1994 über Einlagensicherungssysteme, ABl. 1994 L 135/5. 216 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-222/02 Paul, Slg. 2004, I-9425 Rn. 26 f. 217 BGHZ 161, 224, 234; ähnlich BGHZ 146, 153, 164. 218 EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-97/96 Daihaitsu, Slg. 1997, I-6843; EuGH v. 29.9.1998 – Rs. C-191/95 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1998, I-5449. 219 BGH, NJW 2006, 690, 691. 220 BGH, NJW 2006, 690, 691 Rn. 11.

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3. Teil: Besonderer Teil

Einrichtungen auch tatsächlich eingerichtet werden. Das war etwa der eigentliche Gegenstand der soeben schon erwähnten Rechtssache Paul, in der eine solche Amtspflicht kraft Richtlinie aber verneint wurde.221

92

Ferner kann es sein, dass eine nicht rechtzeitig umgesetzte Richtlinie mit öffentlichrechtlichem Inhalt unmittelbar anzuwenden und das Verhalten der Behörde an den Vorgaben der Richtlinie unmittelbar zu messen ist. Dem hätten die ordentlichen Gerichte im Amtshaftungsprozess nachzugehen. 7.

Überbrückung von Umsetzungsdefiziten

a)

Allgemeine Folgen von Umsetzungsdefiziten

93

Das nationale Recht der Mitgliedstaaten kann dem EU-Recht widersprechen. Widerspricht es unmittelbar geltendem Verordnungsrecht, haben die nationalen Gerichte nur das vorrangige und unmittelbar geltende Verordnungsrecht anzuwenden. Das ihm widersprechende nationale Recht bleibt außer Anwendung.222 Etwas anderes könnte nur gelten, wenn ausnahmsweise der Verfassungsvorbehalt greift.223 Das ist aber regelmäßig nicht der Fall, weil die bisher vorgenommenen Übertragungen von Kompetenzen an die Union verfassungsrechtlich unbedenklich waren und das Unionsrecht jedenfalls nach Erlass der Grundrechtscharta und ihrer Anerkennung durch Art. 6 EUV eine ausreichende Grundrechtsgarantie enthält.

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Anders liegt es bei einem Widerspruch des nationalen Rechts zu einer EU-Richtlinie. Die EU-Richtlinie verpflichtet den Mitgliedstaat dazu, sein Recht an die Vorgaben der Richtlinie anzupassen. Sie kann aber das Recht der Mitgliedstaaten nicht ändern oder außer Kraft setzen. Das gilt grundsätzlich auch dann, wenn die Umsetzungsfrist abgelaufen ist.

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Der ergebnislose Ablauf der Umsetzungsfrist führt dazu, dass die Kommission nach Art. 258 AEUV/226 EG gegen den säumigen Mitgliedstaat ein Vertragsverletzungsverfahren einleitet und dass der EuGH die nachgewiesene Vertragsverletzung in einem Urteil feststellt. Kommt der Mitgliedstaat auch nach einer solchen Feststellung einer ihm von der Kommission gesetzten Frist zur Umsetzung der Richtlinie nicht nach, kann die Kommission nach Art. 260 AEUV/228 EG beim EuGH die Festsetzung eines Zwangsgeldes gegen den Mitgliedstaat beantragen. Diese Möglichkeiten stehen aber ausschließlich der Kommission und den anderen Mitgliedstaaten zur Verfügung. Bürger und Unternehmen, aber auch die Behörden der Mitgliedstaaten haben diese Rechtsbehelfe nicht.

221 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-222/02 Paul, Slg. 2004, I-9425 Rn. 30 f.; ihm folgend BGH, NJW 2005, 742, 743. 222 EuGH v. 3.6.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251, 1270; v. d. Groeben/ Schwarze-G. Schmidt, Art. 249 EG Rn. 2, 6; Streinz-Schroeder, Art. 249 EG Rn. 46, 62. 223 Dazu Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EG Rn. 46 ff.; v. d. Groeben/Schwarze-G. Schmidt, Art. 249 EG Rn. 5.

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§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

b)

Überbrückung durch Rechtsprechung

Die Versäumung der Frist zur Umsetzung einer Richtlinie ist regelmäßig in erster Linie ein Versäumnis des nationalen Gesetz- oder Verordnungsgebers. Der Gesetzund der Verordnungsgeber des Mitgliedstaates sind aber nicht die einzigen Adressaten der Umsetzungspflicht. Die Umsetzungspflicht trifft vielmehr alle Organe des Staates, die dazu beitragen können. Das sind auch die Gerichte.224 Sie können eine privatrechtswirksame Richtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist zwar nicht unmittelbar anwenden. Sie haben sich aber bei der Auslegung des nationalen Rechts unabhängig davon, ob es vor oder nach der Richtlinie erlassen wurde, jedenfalls dann, wenn die Richtlinie unbedingt und hinreichend bestimmt ist,225 so weit wie möglich an Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten, sodass das mit dieser verfolgte Ziel, auch im Verhältnis von Privaten untereinander, in größtmöglichem Umfang erreicht wird226. Im Vorgriff auf die spätere Änderung von § 474 Abs. 2 BGB227 hat der BGH deshalb mit einer teleologischen Reduktion der Vorschrift im Wege richterlicher Rechtsfortbildung einen EU-rechtskonformen Zustand hergestellt.228

96

Die Pflicht der Gerichte zur Beteiligung an der Umsetzung von EU-Richtlinien besteht auch schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist.229 Deshalb hätten die ordentlichen Gerichte beispielsweise die Vorgaben der Rassendiskriminierungsrichtlinie230 beachten müssen, wenn sich ein Farbiger gegen die Verweigerung eines Mietvertrags zivilrechtlich hätte wehren wollen oder ein Verbraucherverband im Unterlassungsklageverfahren nach § 1 UKlaG ethnische Gruppen benachteiligende Allgemeine Geschäftsbedingungen zur Überprüfung gestellt hätte. Das gilt nicht nur im Rahmen der §§ 138, 826 BGB231 sondern auch im Rahmen anderer offener Tatbestände wie z.B. der §§ 307, 906 BGB und der §§ 1, 2 UKlaG. Das allerdings enthebt den nationalen Gesetzgeber nicht seiner EU-rechtlichen Verpflichtungen.232

97

224 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 110 f. 225 EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 26; BGHZ 151, 300, 315 – Elektronischer Pressespiegel. 226 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial u.a., Slg. 2000, I-4941 Rn. 30; BGH, NJW 2001, 3698, 3699 f. – U-Bahn-Waggons; NJW 1993, 3139 – Dos; BGHSt 37, 168, 174 f. 227 Durch Gesetz v. 16.12.2008, BGBl. 2008 I, 2399. 228 BGHZ 179, 27 – Quelle. 229 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environment Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 44 ff.; BGHZ 138, 55, 62 – Testpreis-Angebot; eingehend zur Vorwirkung von Richtlinien Hofmann, in diesem Band, § 16. 230 Richtlinie 2000/43/EG des Rates v. 29.6.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl. 2000 L 180/22. 231 So etwa Palandt-Heinrichs, Anh. nach § 319 BGB Rn. 10. 232 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 21. Jürgen Schmidt-Räntsch

715

3. Teil: Besonderer Teil

98

IV.

Auslegungsmethoden

1.

Vorbemerkung

Die obersten Gerichtshöfe des Bundes sind zwar inhaltlich mit den unterschiedlichsten Fragen der Anwendung des Gemeinschaftsrechts befasst. Gelegenheit zu einer vertieften Auslegung dieser Vorschriften haben sie aber selten. Wenn sich nämlich das Bedürfnis nach der eingehenden Auslegung dieser Vorschriften stellt, sind sie zur Vorlage an den EuGH verpflichtet. In den Vorabentscheidungsersuchen nehmen die obersten Gerichtshöfe des Bundes allerdings zum Teil sehr ausführlich zur Auslegung von Richtlinien Stellung. Wenn die obersten Gerichtshöfe des Bundes EU-Vorschriften auslegen, wenden sie je nach den Bedürfnissen des konkreten Einzelfalls die klassischen Auslegungsmethoden an und berücksichtigen bei dem EU-Recht zusätzlich auch die Erwägungsgründe. Gelegentlich greifen sie auch auf die Stellungnahme der EU-Kommission in einschlägigen Verfahren zurück233, deren Verständnis als sog. Hüterin der Verträge trotz des Auslegungsmonopols des EuGH durchaus Gewicht zukommt. Im Einzelnen ergibt sich Folgendes. 2.

99

Die in der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes am häufigsten verwandte Auslegungsmethode ist die Wortauslegung.234 Das ist auch nicht verwunderlich, da die Gerichtshöfe des Bundes von einer Vorlagepflicht vor allem dann befreit und zu einer eigenständigen Auslegung des EU-Rechts vor allem dann befugt sind, wenn sein Inhalt klar und eindeutig ist. Das ist er normalerweise nur, wenn sich der Inhalt des EU-Rechts schon aus dem Wortlaut ergibt. Dabei greifen die obersten Gerichtshöfe des Bundes, wenn es eine einschlägige EuGH-Rechtsprechung zur Auslegung der Vorschrift gibt, auch auf diese Rechtsprechung zurück.235 Gelegentlich spielen auch die verschiedenen Sprachfassungen eine Rolle.236 3.

100

Wortlautauslegung

Systematische Auslegung

Eine systematische Auslegung des EU-Rechts unter Einbeziehung auch der Erwägungsgründe kommt in der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes

233 BGH, GRUR 2006, 405, 406 – Aufbereiter II. 234 Beispiele: BGH, NJW 2005, 747; GRUR 2005, 258, 260 – Roximycin; GRUR 2004, 1037, 1038 f. – Johanniskraut; NJW 2004, 2664, 2665 – Informatec (fehlerhafte Ad-hoc-Mitteilung) ebenso NJW 2004, 2668 und 2971; WRP 2004, 1378, 1380 – Citroën; MDR 2004, 1415, 1416; BGH-Report 2004, 1430, 1432 – Honigwein; GRUR 2004, 793, 796 – Sportlernahrung II; BGHZ 158, 236, 244, 247 f. – Internet-Versteigerung; WM 2003, 2186 – Schrottimmobilien; BGHZ 151, 286, 293 – Muskelaufbaupräparate; ZLR 2002, 660, 665 – Sportlernahrung; NJW 2001, 2963, 2965 – Vollmacht für Verbraucherkreditvertrag. 235 Z.B. BGH, RdL 2005, 82, 83; NJW-RR 2004, 210, 211; MDR 2004, 1415, 1416; NJW-RR 2000, 438, 439. 236 Z.B. BGH, WRP 2004, 1388, 1390 f. – Polifeprosan; EuZW 2004, 537 – Nachbauvergütung.

716

Jürgen Schmidt-Räntsch

§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

häufiger vor. Gelegenheit hierzu besteht bei Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH. Hier können die Gerichtshöfe nur einen Auslegungsvorschlag unterbreiten, die Vorschriften allerdings nicht selbst verbindlich auslegen. Gerade im Bereich des Marken- und Wettbewerbsrechts finden sich oft sehr eingehende Ausführungen auch zu den systematischen Zusammenhängen. Beispiele sind der Fall Bestellnummernübernahme237 zum Zusammenspiel von Art. 3a Abs. 1 lit. d) und g) der EU-Richtlinie zur vergleichenden Werbung238 oder der Fall Omeprazol 239 zur Gültigkeit und Auslegung der Art. 15 und 19 der Arzneimittel-SchutzzertifikatRichtlinie240.

101

Eine systematische Auslegung ist aber auch möglich, wenn die obersten Gerichtshöfe ohne Vorlage an den EuGH selbst entscheiden können. Denn eine Vorschrift ist nicht nur dann klar und eindeutig, wenn sich ihr Inhalt aus dem Wortlaut ergibt. Das kann auch aus systematischen Zusammenhängen folgen. Beispiele sind das ReitunfallUrteil des BGH zu den EU-rechtlichen Vorgaben für die Möglichkeit des Reiseveranstalters, sich von der Haftung für Schäden des Reisenden zu entlasten,241 oder der Fall Kerosinzuschlag I242 zu den EU-Vorgaben für nachträgliche Preiserhöhungen bei Pauschalreisen. Ausführungen zur Systematik von Gemeinschaftsrecht finden sich in geeigneten Fällen auch in Urteilen ohne vorherige Befassung des EuGH.243

102

4.

Historische Auslegung

Die historische Auslegung ist bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts in der Rechtspraxis der obersten Gerichtshöfe des Bundes ebenso wie bei der Auslegung des nationalen Rechts eher selten.244 Sie findet sich tendenziell eher bei Entscheidungen, die EU-rechtlich stärker durchdrungen sind.245 Bei Rechtsgebieten, die EU-rechtlich weniger stark durchdrungen sind, findet sich eine historische Auslegung nicht. 5.

103

Teleologische Auslegung

In der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes zur Auslegung des Unionsrechts findet sich auch die teleologische Auslegung. Zu berücksichtigen ist aber, dass der Rückgriff auf einen Zweck der Vorschrift in der Regel dann erforder-

237 BGH, GRUR 2005, 348 f. 238 Richtlinie 84/450/EWG des Rates v. 10.9.1984 über irreführende und vergleichende Werbung, ABl. 1984 L 250/17, idF der Richtlinie 97/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 6.10.1997, ABl. 1997 L 290/18. 239 BGH, GRUR 2000, 392, 393 ff. – Opremazol. 240 Verordnung (EWG) Nr. 1768/92 des Rates v. 18.6.1992 über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Arzneimittel, ABl. 1992 L 182/1. 241 BGH, NJW 2005, 418, 420. 242 BGH, NJW 2003, 507, 508 f. 243 Z.B. BGH, NJW 2000, 3212, 3214 – Programmfehlerbeseitigung. 244 Z.B. BGH, NJW-RR 2002, 1615, 1616 – Bodensee-Tafelwasser. 245 Z.B. BGH, GRUR 2000, 1020, 1021 – La Bohème; BGH, NJW 2000, 521, 523 (Vorlage Heininger); ansatzweise auch GRUR 2000, 392, 393 ff. – Opremazol. Jürgen Schmidt-Räntsch

717

104

3. Teil: Besonderer Teil

lich ist, wenn sie nicht mehr klar und eindeutig und deshalb verbindlich vom EuGH auszulegen ist. Einige Ansätze für eine teleologische Auslegung finden sich deshalb vor allem in Vorabentscheidungsersuchen, in denen die obersten Gerichtshöfe des Bundes nur einen Entscheidungsvorschlag machen, aber nicht selbst entscheiden können.246

105

Allerdings gibt es auch Fälle, in denen eine am Zweck des EG-Rechts ausgerichtete Auslegung durch das nationale Gericht möglich ist. Ein Beispiel ist das unberechtigte Festhalten eines ausländischen Schiffs unter Verstoß gegen die Anforderung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Hier hatten sich die Landesbehörden mit einem Hinweis auf die Richtlinie 95/21/EG247 zu verteidigen versucht. Dies hielt einer an ihrem Zweck ausgerichteten Auslegung der Richtlinie offensichtlich nicht stand.248

106

Weitere Beispiele sind das Schriftformerfordernis nach Art. 17 Abs. 1 EuGVÜ/ LugÜ 249, die Auslegung des § 312b Abs. 2 BGB250 nach dem Schutzzweck der Fernabsatzrichtlinie251, die Auslegung des § 137h UrhG252 unter Rückgriff auf den Zweck des Art. 7 Abs. 3 der Sateliten- und Kabelrichtlinie253, die Bewertung von Vergabeentscheidungen am Zweck der maßgeblichen Koordinierungsrichtlinie254, die Anforderungen an Packungsbeilagen für Humanarzneimittel255 oder die Vorlagebeschlüsse zur Bemessung der Nachbauentschädigung im Sortenschutz256. Dabei werden auch die bei deutschen Normen nicht vorhandenen Begründungserwägungen257 berücksichtigt.258

246 Z.B. BGH, GRUR Int. 2001, 462, 463 f. – Stabtaschenlampen I; GRUR Int. 2000, 1017, 1020 – Davidoff I. 247 Richtlinie 95/21/EG des Rates v. 19.6.1995 zur Durchsetzung internationaler Normen für die Schiffssicherheit, die Verhütung von Verschmutzung und die Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord von Schiffen, die Gemeinschaftshäfen anlaufen und in Hoheitsgewässern der Mitgliedstaaten fahren (Hafenstaatkontrolle), ABl. 1995 L 157/1. 248 BGHZ 161, 224, 230 f. 249 BGH, MDR 2004, 1371. 250 BGH, NJW 2004, 3699, 3670. 251 Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.5.1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz, ABl. 1997 L 144/19. 252 BGH, GRUR 2005, 48, 50 – Man spricht deutsch. 253 Richtlinie 93/83/EWG des Rates v. 27.9.1993 zur Koordinierung bestimmter urheber- und leistungsschutzrechtlicher Vorschriften betreffend Satellitenrundfunk- und Kabelweiterverbreitung, ABl. 1993 L 248/15. 254 BGH, NZBau 2004, 517, 518; BGHZ 148, 55, 62 f. 255 BGH, NJW 1998, 3412, 3413 – Neutrotat forte. 256 BGH, EuZW 2005, 156, 158 f. 257 Dazu Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 33 ff.; zu ihrer Bedeutung bei überschießender Umsetzung: BGH, NJW 2004, 362, 363 – SIVA. 258 BGH, NJW-RR 2000, 631, 632 f. – Generika-Werbung; NJW 2005, 747.

718

Jürgen Schmidt-Räntsch

§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

V.

Fazit

– Die obersten Gerichtshöfe des Bundes können EU-Recht nur auslegen, wenn es klar oder in der Rechtsprechung des EuGH geklärt ist. – Sie befassen sich mit der Auslegung des EU-Rechts häufiger, als es dieser enge Rahmen erwarten lässt. – Gegenstand der Auslegung sind nicht nur EU-Vorschriften mit typisch zivilrechtlichem Inhalt, sondern auch Normen mit öffentlich-rechtlichem Inhalt. – Die obersten Gerichtshöfe des Bundes folgen den klassischen Auslegungsmethoden, meist in einer knappen Wortauslegung. Gerade bei Vorabentscheidungsersuchen, aber auch in anderen Fällen, wenden sie auch die anderen möglichen Auslegungsmethoden an.

Jürgen Schmidt-Räntsch

719

107

Abschnitt 3 Perspektiven anderer Mitgliedstaaten § 24 Frankreich Ulrike Babusiaux

Übersicht . . . . . . . . . . . .

Rn. 1–5

II. Zum Verhältnis von nationalem französischen Recht und Gemeinschaftsrecht . . 1. Primäres Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundäres Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6–13 6–10 11–13

III. Die Veränderung der richterlichen Funktion als Methodenproblem . . . . . . . . 1. Das traditionelle Verständnis der jurisdiktionellen Funktion . . . . . . . . . . 2. Der nationale Richter als Anwender des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . a) Unmittelbarkeitsgrundsatz (immédiateté) und Auslegungshoheit des EuGH b) Anwendungsvorrang (primauté) des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . aa) Gewaltenteilung im Gerichtswesen und Gemeinschaftsrecht . . . . . . . bb) Die Parteiautonomie und die Berücksichtigung des Gemeinschaftsrechts von Amts wegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die (notwendige) Koordination von Rechtsquellen nationalen und gemeinschaftsrechtlichen Ursprungs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die primärrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die sekundärrechts-, insbesondere richtlinienkonforme Auslegung . . . . . c) Das Gemeinschaftsrecht als Inspirationsquelle der Rechtsfortbildung . . . .

14–31 15 16–22 17–18 19–22 20

23–31 24 25–29 30–31

IV. Zusammenfassung und vergleichende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . .

32–33

I. Die europäische Rechtsangleichung als Rechtsquellenfrage

21–22

Literatur: Ulrike Babusiaux, Die richtlinienkonforme Auslegung im deutschen und französischen Zivilrecht (2007); Amin Barav, La fonction communautaire du juge national, unveröff. Diss. Strasbourg (1983); ders., La plénitude du juge national en sa qualité de juge communautaire, in: L’Europe et le droit – Mélanges en hommage à Jean Boulouis (1991), S. 1–20; JeanSylvestre Bergé/Marie-Laure Niboyet (Hrsg.), La réception du droit communautaire en droit privé des États membres (2003); Guy Canivet, Le droit communautaire et le juge national, in: Denys Simon (Hrsg.), Le droit communautaire et les métamorphoses du droit (2003), S. 81–95; Chloé Charpy, Le statut constitutionnel du droit communautaire dans la jurisprudence (récente) du Conseil constitutionnel et du Conseil d’État, RFDC 79 (2009), 621–647; Ioannis S. Delicostopoulos, Le procès civil à l’épreuve du droit processuel européen (2003); Olivier Dubos, Les juridictions nationales juge communautaire (2001); Aline Humbert, La mutation de l’office du juge français: réflexions sur l’influence du droit d’origine externe sur la fonction juridictionnelle, unveröff. Diss. Strasbourg (2005); Béligh Nabli, L’exercice des fonctions d’État membre de la Communauté européenne (2007); Hans Jürgen Sonnenberger, Auf dem Weg zu einer europä-

720

Ulrike Babusiaux

§ 24 Frankreich ischen Rechtsquellenordnung – Das französische Verständnis rechtsvergleichend skizziert, in: Peter Badura/Rupert Scholz (Hrsg.), Festschrift für Peter Lerche (1993), S. 545–599. Rechtsprechung: Cass. mixte v. 24.5.1975, Cafés Jacques Vabre, Bull. civ. Nr. 4; C.E. Ass. v. 20.10.1989, Nicolo, Rec. S. 190; C.E. Ass. v. 8.2.2007, Sté Arcelor Atlantique, Rec. S. 55; Cons. const., déc. Nr. 2004-505 DC v. 19.11.2004, Traité établissant une Constitution pour l’Europe, Rec. S. 173; Cons. const., déc. Nr. 2004-496 DC v. 10.6.2004, Loi pour la confiance dans l’économie numérique, Rec. S. 101; Cons. const., déc. Nr. 2006-535 DC v. 30.3.2006, Loi pour l’égalité des chances, Rec. S. 50.

I.

Die europäische Rechtsangleichung als Rechtsquellenfrage

Die französische Doktrin sieht das Neben- und Miteinander von nationalem Privatrecht und Gemeinschaftsrecht nicht als Methodenproblem der Gesetzesanwendung und -auslegung, sondern vorrangig als Rechtsquellenfrage, d.h. als Problem der Koordination der nationalen und gemeinschaftsrechtlichen Rechtsquellen.1

1

Diese Perspektive ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die französische Privatrechtswissenschaft in Folge des grundlegenden Werkes von François Gény2 zwei Ebenen der Rechtsanwendung unterscheidet. Ausgangspunkt ist die eigentliche und eng verstandene Gesetzesauslegung.3 Sie umfasst die Anwendung eines im Wortlaut klaren Gesetzes ebenso wie die Erforschung des gesetzgeberischen Willens eines prima facie unklaren Gesetzestextes.4 Alle hierüber hinausgehende richterliche Tätigkeit ist keine Gesetzesanwendung, sondern die „freie“ Rechtsfindung des Richters, deren Regeln Gény beschrieben hat.5 „Frei“ ist der Richter nur insoweit, als er seine Entscheidung ohne Gesetzestext zu fällen hat, sich also nicht auf eine formelle Rechtsquelle zurückziehen kann. Im Gegensatz zur (deutschen) Freirechtsschule verlangt die libre recherche scientifique dagegen eine wissenschaftliche, d.h. objektivierte Entscheidungsfindung. Sie soll dadurch erreicht werden, dass der Richter die rechtlichen wie tatsächlichen Argumente für die jeweilige Lösung ermittelt und gegeneinander abwägt. Da der Richter eine zeitgemäße und den aktuellen sozialen Gegebenheiten

2

1 Ausführlich dazu Babusiaux, Die richtlinienkonforme Auslegung (2007), S. 48–57. Allgemein zur juristischen Methodenlehre in Frankreich Bergel, Méthodologie juridique (2001), S. 35–41 und S. 217 zur „Koordination von Regeln mit Herkunft aus unterschiedlichen Rechtssystemen“ (coordination de règles de droit issues de systèmes juridiques différents). 2 Gény, Méthode d’interprétation et sources en droit privé positif, 2 Bde. (2. Aufl. 1919). 3 Vgl. Gény, Méthode d’interprétation et sources en droit privé positif (2. Aufl. 1919), Bd. 2, S. 74 f., dazu Frydman, Le sens des lois (2005), S. 488–490. Zum Mythos der école d’exégèse, der hier zu Unrecht gepflegt wird, vgl. Bürge, Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert (2. Aufl. 1995), S. 225–245. 4 In Folge der Kritik Génys an der (angeblichen) école de l’exégèse wird hier oft übertrieben. Zu Recht betont die Übereinstimmungen dagegen Cornu, Droit civil. Introduction, les personnes, les biens (12. Aufl. 2005), Rn. 403. 5 Gény, Méthode d’interprétation et sources en privé positif (2. Aufl. 1919), Bd. 2, S. 74–234; zum Fortwirken Génys vgl. nur Jamin, Francois Gény d’un siècle à l’autre, in: Jestaz/Thomasset/Vanderlinden (Hrsg.), François Gény, Mythe et réalité (2000), S. 25–28.

Ulrike Babusiaux

721

3. Teil: Besonderer Teil

angemessene Entscheidung zu treffen hat, darf er nach Génys Konstruktion auch dem Willen des historischen Gesetzgebers widersprechen, wenn dieser von anderen Voraussetzungen als zum Entscheidungszeitpunkt vorliegen, ausging.6

3

Die beiden Rechtsanwendungsstufen nach Gény lassen sich nach den Vorgaben des Rechtsverweigerungsverbotes in Art. 4 Code civil (C.civ.) abgrenzen. Nach dieser Vorschrift kann der Richter, der die Urteilsfindung unter dem Vorwand des Schweigens, der Undeutlichkeit oder der Unvollständigkeit des Gesetzes verweigert, wegen Verstoßes gegen das Rechtsverweigerungsverbot strafrechtlich verfolgt werden.7 Wenn der Rechtsanwender mithin auch dann zu entscheiden hat, wenn dem Gesetz bei subjektiver Auslegung keine klare Maxime zu entnehmen ist, so handelt es sich nicht mehr um Gesetzesauslegung (interprétation)8, sondern um textlich nicht gebundene, freie Rechtsfindung (libre recherche).

4

Folgt man Gény, kann der Richter dabei alle sonstigen Erkenntnisquellen zur Begründung seiner rechtlichen Lösung heranziehen9, ist also gerade nicht auf das „Recht“ im Sinne einer echten Rechtsquelle beschränkt. Inwieweit Art. 12 Abs. 1 Nouveau Code de procédure civile (NCPC), der den Richter an das Recht bindet10, hier Grenzen setzt, ist in der Doktrin umstritten, was auch mit den Schwierigkeiten des Rechtsquellenbegriffs zusammenhängen dürfte, dessen Grenzen zum soziologischen Rechtsquellenbegriff durchaus unschärfer sind als in der deutschen Rechtstheorie.11 Seit den 70er Jahren gibt es eine intensive Diskussion darüber, ob nicht die Jurisprudenz oder sogar die Doktrin selbst Rechtsquelle sei. Dabei wird immer wieder darauf verwiesen, dass es für den Einzelfall im Ergebnis keinen Unterschied bedeutet, ob der Richter, der zur Entscheidung gezwungen ist, letztere aus einer echten Rechtsquelle ableitet oder aus einer soziologischen. Grundlage der Rechtsgeltung im Einzelfall (vgl. Art. 5 C.civ., dazu unter Rn. 15) ist der Richterspruch, nicht die Rechtsquelle selbst.12

6 Gény, Méthode d’interprétation et sources en droit privé positif (2. Aufl. 1919), Bd. 1, S. 222–226. 7 Art. 4 C.civ.: Le juge qui refusera de juger, sous prétexte du silence, de l’obscurité ou de l’insuffisance de la loi, pourra être poursuivi comme coupable de déni de justice, dazu die Nachweise bei Frison-Roche, in: Juris-classeur de droit civil (1996), Art. 4 C.civ. Rn. 31–43; zuletzt Terré, Introduction générale au droit (7. Aufl. 2006), Rn. 352 f. 8 Gemeint ist ein enges Verständnis im Sinne der Ermittlung des gesetzgeberischen Willens (détermination du sens d’un texte), vgl. auch Rieg, in: L’interprétation par le juge des règles écrites, Travaux Association Henri Capitant XXIV (1978/79), S. 70. 9 Gény, Méthode d’interprétation et sources en droit privé positif (2. Aufl. 1919), Bd. 2, bes. S. 77–79, S. 93–113. 10 Art. 12 Abs. 1 NCPC: Le juge tranche le litige conformément aux règles de droit qui lui sont applicables (Der Richter entscheidet den Rechtsstreit in Übereinstimmung mit den Rechtsregeln, die auf ihn anwendbar sind). 11 Sehr klar Carbonnier, Droit civil I (2004) S. 192–309; Sonnenberger, FS Lerche (1993), S. 545–599 mwN. 12 Auch die interprétation télélogique, die Terré, Introduction générale au droit (7. Aufl. 2006), Rn. 554 als aktuell vorherrschende ansieht, lässt sich hier unterbringen.

722

Ulrike Babusiaux

§ 24 Frankreich

Aus diesen Vorbemerkungen ergibt sich die Notwendigkeit, im Rahmen einer Untersuchung der Europäischen Methodenlehre in Frankreich zunächst das Verhältnis von nationalem französischen Recht und europäischem Gemeinschaftsrecht darzustellen (II), bevor die Frage untersucht wird, die die meisten französischen Kommentatoren als Hauptproblem der europäischen Rechtsangleichung ansehen: Die Veränderung der jurisdiktionellen Funktion des Richters durch das Gemeinschaftsrecht und die gemeinschaftsrechtliche Ausweitung seiner Handlungskompetenzen, v.a. gegenüber dem Gesetzgeber (III). Im Anschluss daran sind die zurzeit noch offenen Probleme des französischen Diskurses anzusprechen, die mit einem kurzen Vergleich zur deutschen Diskussion abschließen (IV).

II.

Zum Verhältnis zwischen nationalem französischen Recht und Gemeinschaftsrecht

Für das Verhältnis zwischen nationalem französischen Recht und Gemeinschaftsrecht ist zu unterscheiden zwischen dem europäischen Primärrecht (droit communautaire originaire), das sich nach den für alle völkerrechtlichen Verträge geltenden Prinzipien richtet, und dem Sekundärrecht (droit communautaire dérivé), für das die französische Verfassung Sonderregeln kennt, die der Verfassungsrat (Conseil constitutionnel) konkretisiert hat. 1.

5

6

Primäres Gemeinschaftsrecht

Für die Integration des internationalen Rechts in die französische Rechtsordnung folgt die französische Verfassung der Fünften Republik (Constitution 1958 [Const.]) dem traditionellen Ansatz des Monismus.13 Art. 53 Const. bestimmt, dass „Friedensverträge, Handelsabkommen, Abkommen und Verträge mit Blick auf die internationale Organisation, solche, die die Finanzen des Staates binden, solche, die Bestimmungen gesetzlicher Natur verändern, solche, die den Status von Personen betreffen, solche, die eine Abtrennung, Austausch oder Hinzufügung des Territoriums betreffen, nur durch ein Gesetz ratifiziert werden können.“14 Das hiermit für die wichtigsten völkerrechtlichen Verträge vorgeschriebene Gesetz dient lediglich der Ratifizierung. Ist diese ordnungsgemäß vollzogen, hat der Vertrag ohne weiteren Umsetzungsakt unmittelbare Geltung15 und ist selbstvollziehend (autoexécutoire). Normenhierarchisch steht der völkerrechtliche Vertrag wie Art. 55 Const. bestimmt auf der zweitobersten

13 Vgl. Dupuy, Droit international public (8. Aufl. 2006), Rn. 423 und Rn. 434 zu dualistischen Tendenzen in der Rechtsprechung, v.a. des Conseil d’État. 14 Art. 53 Const.: Les traités de paix, les traités de commerce, les traités ou accords relatifs à l’organisation internationale, ceux qui engagent les finances de l’État, ceux qui modifient des dispositions de nature législative, ceux qui sont relatifs à l’état des personnes, ceux qui comportent cession, échange ou adjonction de territoire, ne peuvent être ratifiés ou approuvés qu’en vertu d’une loi. Ils ne prennent effet qu’après avoir été ratifiés ou approuvés. 15 Vgl. Terré, Introduction générale au droit (7. Aufl. 2006), Rn. 206. Ulrike Babusiaux

723

7

3. Teil: Besonderer Teil

Stufe der französischen Rechtsordnung, unterhalb der Verfassung (constitution) und oberhalb des Gesetzes (loi)16, sofern er auch von der anderen Seite angewandt wird (réserve de réciprocité).17

8

Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines völkerrechtlichen Vertrages ist gemäß Art. 54 Const. auf eine a priori-Kontrolle beschränkt. So untersucht der Conseil constitutionnel vor der Ratifikation auf Antrag des Präsidenten der Republik, des Premierministers oder eines Präsidenten der beiden Parlamentskammern, ob der zu ratifizierende Vertrag verfassungskonform ist.18 Stellt der Conseil constitutionnel die Inkompatibilität des Vertrages mit der Verfassung fest, ist letztere anzupassen. Auf diese Weise ist die Verfassung der V. Republik für die Annahme des Vertrages von Maastricht und Lissabon geändert worden. Ist der Vertrag mit oder ohne Anrufung des Conseil constitutionnel ratifiziert worden, kann er nachträglich nicht mehr auf seine Verfassungskonformität überprüft werden. Dies gilt für den Conseil constitutionnel und a fortiori für die Fachgerichte, d.h. auch für die Cour de cassation als höchstem französischen Zivilgericht und den Conseil d’État als oberstem Verwaltungsgericht.19

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Die Fachgerichte überwachen dagegen die Vereinbarkeit von Gesetzen mit völkerrechtlichen Verträgen, d.h. die „Vertragskonformität“ des nationalen Gesetzes (conventionnalité de la loi). Dabei fühlten sich beide Gerichtszweige traditionell derart eng an den gesetzgeberischen Willen gebunden20, dass sie vermieden, ein Gesetz, das nach der Ratifizierung des völkerrechtlichen Vertrages erlassen worden war und gegen diesen verstieß, unangewendet zu lassen. Insoweit sollte trotz des normenhierarchischen Vorrangs des völkerrechtlichen Vertrages die lex-posterior-Regel gelten, da es den Fachgerichten verwehrt sei, die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, d.h. die in Art. 55 Const. angesprochene Normenhierarchie, zu überprüfen.21 Mit Blick auf das europäische Recht hat die Cour de cassation diese Rechtsprechung schon 1975 in der

16 Art. 55 Const.: Bei ordnungsgemässer Ratifizierung oder Zustimmung gehen Verträge oder Abkommen mit ihrer Veröffentlichung den Gesetzen vor, vorbehaltlich der jeweiligen Anwendung des Abkommens oder des Vertrages durch die andere Partei (Les traités ou accords ratifiés ou approuvés ont, dès leur publication, une autorité supérieure à celle des lois, sous réserve, pour chaque accord ou traité, de son application par l’autre partie.) 17 Terré, Introduction générale au droit (7. Aufl. 2006), Rn. 263 f. Kritisch zu diesem Vorbehalt Dupuy, Droit international public (2006), Rn. 423. 18 Art. 54 Const.: Wenn der (…) angerufene Verfassungsrat erklärt hat, dass eine internationale Verpflichtung eine der Verfassung entgegenstehende Klausel enthält, darf die Ermächtigung zu deren Ratifizierung oder Zustimmung erst nach Verfassungsänderung ergehen. (Si le Conseil constitutionnel, (…) a déclaré qu’un engagement international comporte une clause contraire à la Constitution, l’autorisation de ratifier ou d’approuver l’engagement international en cause ne peu intervenir qu’après la révision de la Constitution.) 19 Zum Gerichtsaufbau vgl. nur Sonnenberger/Autexier, Einführung in das französische Recht (3. Aufl. 2000), S. 51–55 mwN. 20 Vgl. auch Dupuy, Droit international public (8. Aufl. 2006), Rn. 433. 21 Vgl. Dupuy, Droit international public (8. Aufl. 2006), Rn. 435.

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immer noch grundlegenden Entscheidung Cafés Jacques Vabre aufgegeben.22 Sie betraf die Frage, ob die Gesellschaft Cafés Jacques Vabre, die Instantkaffee aus den Niederlanden importiert hatte, sich auf das Zollverbot des Art. 95 der Römischen Verträge von 1957 berufen konnte (Art. 30 AEUV/25 EG), obwohl das 1966 erlassene Zollgesetz einen entsprechenden Zoll vorsah. Nach der bis dato gültigen Rechtsprechung hätte sich das spätere Gesetz gegenüber dem völkerrechtlichen Vertrag durchgesetzt. Die Cour de cassation wies diese Möglichkeit zurück: „Aber unter Berücksichtigung, dass der Vertrag vom 25. März 1957, der aufgrund des Art. 55 der Verfassung einen höheren Rang hat als Gesetze, eine eigene Rechtsordnung geschaffen hat, die in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten integriert ist, (…) hat die Cour d’appel zu Recht entschieden, Art. 95 des Vertrages in diesem Fall anzuwenden unter Ausschluss des Art. 265 des Zollgesetzes, auch wenn dieser letzte Text später ergangen sei.“23 Damit hat die Cour de cassation gleichzeitig den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht anerkannt (vgl. dazu unten Rn. 19). Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, d.h. der Conseil d’État, hat länger an der traditionellen Position festgehalten und erst 1989 (Nicolo) anerkannt, dass das primäre Gemeinschaftsrecht Vorrang vor dem französischen Gesetz hat. Entsprechend hat der Conseil d’État das Wahlgesetz unangewendet gelassen, das gegen die Römischen Verträge verstieß24, obwohl es nach deren Ratifikation erlassen worden war. Den damit anerkannten Vorrang des Gemeinschaftsrechts hat der Conseil d’État dann aber rasch auch auf das sekundäre Gemeinschaftsrecht25 übertragen. 2.

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Sekundäres Gemeinschaftsrecht

Bis 2004 wurde in der Rechtsprechung auch das Sekundärrecht nach den Vorgaben des Art. 55 Const. behandelt. So charakterisierte der Conseil constitutionnel das Sekundärrecht als „Folgen der von Frankreich übernommenen völkerrechtlichen Verpflichtungen, die in den Anwendungsbereich des Art. 55 Const. übergegangen sind“.26 Die in der Logik des Gemeinschaftsrechts zutreffende Charakterisierung bringt freilich mit sich, dass die in der Verfassung vorgesehene rein präventive Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des supranationalen Rechtes beim Sekundärrecht

22 Cass. mixte v. 24.5.1975, Cafés Jacques Vabre, Bull. civ. Nr. 4. Weitere Rechtsprechung der Cour de cassation bei Tallec, Mélanges Boulouis (1991), S. 368–370 und Chaltiel, La souveraineté de l’état et l’union européenne (2000), S. 312 f. mwN. 23 “Mais attendu que le Traité du 25 mars 1957, qui, en vertu de l’article [55] de la Constitution, a une autorité supérieure à celle des lois, institue un ordre juridique propre intégré à celui des Etats membres; (…) que, dès lors, c’est à bon droit, (…) que la cour d’appel a décidé que l’article 95 du traité devait être appliquée en l’espèce, à l’exclusion de l’article 265 du Code des douanes, bien que ce dernier texte fût posterieur.” 24 C.E. Ass. v. 20.10.1989, Nicolo, Rec. S. 190. 25 Vgl. C.E. v. 24.9.1990, Boisdet, Rec. S. 251; C.E. Ass. 28.2.1992, S.A. Rothmans int. France, S.A. Philips Morris France, Rec. S. 78/81. 26 Cons. const., déc. Nr. 77–90 v. 30.12.1977, Isoglucose, Rec. S. 44: „conséquences d’engagements internationaux souscrits par la France qui sont entrés dans le champ de l’article 55 de la constitution“. Ulrike Babusiaux

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3. Teil: Besonderer Teil

vollständig ins Leere geht. So erkannte sich der Conseil constitutionnel zwar eine Kontrollbefugnis nach Art. 54 Const. bei Änderungen des völkerrechtlichen Vertrages zu, konnte also über neue Vertragsgrundlagen befinden. Das französische Verfassungsgericht weigerte sich aber, die Verfassungskonformität des sekundären Gemeinschaftsrechts zu beurteilen, da dieses nach der eigentlichen Ratifikation entsteht.

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Gestützt auf Art. 88-1 Const., den erst die Verfassungsänderung zum Vertrag von Maastricht eingeführt hatte, fand der Conseil constitutionnel im Jahre 2004 eine Möglichkeit, Umsetzungsgesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu kontrollieren.27 Art. 88-1 Const. regelt erstmalig die Übertragung von Rechtssetzungskompetenzen auf die Europäischen Gemeinschaften und die Europäische Union.28 Hieraus leitete der Conseil constitutionnel ab, auch die Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Richtlinien, die aus der Rechtssetzung der überstaatlichen Organisation stammen, in das innerstaatliche Recht sei ein Verfassungsgebot (exigence constitutionnelle), dem lediglich eine ausdrückliche gegenteilige Bestimmung der Verfassung entgegengesetzt werden könne. In der Konsequenz dieser Entscheidung liegt es, dass sich der Conseil constitutionnel nunmehr nicht nur die Befugnis zuerkennt zu prüfen, ob der Gesetzgeber seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung nachgekommen ist, sondern auch, ob die Umsetzung nicht offensichtlich mit anderen verfassungsrechtlichen Vorgaben kollidiert.29 Der Conseil d’État hat diese verfassungsgerichtlichen Vorgaben 2007 in der Entscheidung Sté Arcelor auf die fachgerichtliche Ebene übertragen.30 So stellt das oberste Verwaltungsgericht bei einem Konflikt zwischen Richtlinie und verfassungsrechtlichen Prinzipien die ihm nach eigenem Bekunden zustehende verfassungsrechtliche Kontrolle der Richtlinie solange zurück, wie es auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene ein vergleichbares Schutzniveau feststellt. Entsprechend hat der Conseil d’État in der Sache Sté Arcelor das Verfahren mit Blick auf den auch im Gemeinschaftsrecht anerkannten Gleichheitsgrundsatz (principe d’égalité) ausgesetzt und dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die gerügte Ungleichbehandlung verschiedener Emittenten von Treibhausgasen einen Verstoß gegen den (gemeinschaftsrechtlichen) Gleichheitsgrundsatz bedeute.31 Nachdem der EuGH die Vorlagefrage verneint hat, hat der Conseil d’État auch diese Konsequenz hingenommen und die Klage unter Be-

27 Cons. const., déc. Nr. 2004-496 DC v. 10.6.2004, Loi pour la confiance dans l’économie numérique, Rec. S. 101. 28 Art. 88-1 Const.: Die Republik wirkt an den Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union mit, die aus Staaten gebildet sind, die sich gemäß den Gründungsverträgen frei entschlossen haben, einige ihrer Kompetenzen gemeinsam auszuüben (La république participe aux Communautés européennes et à l’Union européenne, constituées d’États qui on choisi librement, en vertu des traités qui les ont instituées, d’exercer en commun certaines de leurs compétences.) 29 Vgl. v.a. Cons. const., déc. Nr. 2006-540 DC v. 27.7.2006, Loi relative au droit d’auteur et aux droits voisins dans la société de l’information, Rec. S. 88; Cons. const., déc. Nr. 2006-543 DC v. 30.11.2006, Loi relative au secteur de l’énergie, Rec. S. 50. Zum Ganzen v.a. Charpy, RFDC 79 (2009), 621, 625 f. 30 C.E. Ass. v. 8.2.2008, Sté Arcelor Atlantique et Lorraine, Rec. S. 55. 31 EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-127/07 Société Arcelor Atlantique et Lorraine, (noch nicht in Slg.).

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rufung auf die Vorentscheidung abgewiesen.32 Der Vorrang der Verfassung gegenüber dem Gemeinschaftsrecht, den zwischenzeitlich auch die Cour de cassation behauptet hatte33, schien mithin auf Extremfälle begrenzt, in denen das Gemeinschaftsrecht keinen gleichwertigen Schutz bietet oder evident gegen die französische Verfassungsordnung verstößt. Mit der Verfassungsreform vom 23. Juni 2008 hat sich diese Lage erneut verändert. Die Reform führt in Frankreich mit Art. 61-1 Const. erstmalig eine konkrete Normenkontrolle für Gesetze ein. Auf diese Weise erweitert die Reform nicht nur die Befugnisse des Conseil constitutionnel, sondern beseitigt auch die lange geltende Immunität des Gesetzgebers im Verhältnis zu den Fachgerichten. Sie gründete auf der Theorie vom Gesetzesschirm (théorie de la loi-écran), die besagte, dass die Gerichte nicht über das Gesetz hinaus die Verfassung heranziehen dürfen, um den Gesetzgeber zu kontrollieren. Demgegenüber bestimmt Art. 61-1 Const.: „Wenn anlässlich eines Gerichtsverfahrens vor einem Gericht vorgetragen wird, dass eine gesetzliche Bestimmung Rechte oder Freiheitsrechte verletzt, die von der Verfassung garantiert werden, kann der Conseil constitutionnel durch Vorlage des Conseil d’État oder der Cour de cassation mit dieser Frage befasst werden“.34 Für das hier interessierende Verhältnis von Verfassungs- und Gemeinschaftsrecht ist von Bedeutung, dass das die Verfassung konkretisierende Verfassungsgesetz (Loi organique Nr. 2009-1523 v. 10. Dezember 2009) versucht, einen prozeduralen Vorrang zugunsten der Verfassungsmäßigkeitskontrolle vor der Kontrolle der Gemeinschaftsrechtskonformität zu etablieren. So sollen die Fachgerichte nach Art. 23-1 des geänderten Verfassungsgesetzes über den Conseil constitutionnel die Verfassungsmäßigkeit einer Norm vorrangig vor ihrer Gemeinschaftsrechtswidrigkeit untersuchen.35 Weiter sind sie verpflichtet, vor einer Vor-

32 Vgl. Guyomar, RFDA 2009, 800–802 und C.E. v. 3.6.2009, Sté Arcelor Atlantique et Lorraine. 33 Cass. Ass. v. 2.6.2000, Fraisse, Rec. 2000, 865; C.E. Ass. v. 30.10.1998 Sarran, Levacher et autres, Rec. S. 368. Ein Überblick hierzu bei Charpy, RFDC 79 (2009), 621, 628–630. 34 Lorsque, à l’occasion d’une instance en cours devant une juridiction, il est soutenu qu’une disposition législative porte atteinte aux droits et libertés que la Constitution garantit, le Conseil constitutionnel peut être saisi de cette question sur renvoi du Conseil d’État ou de la Cour de cassation (…). 35 Art. 23-2 Abs. 2 des Verfassungsgesetzes über den Conseil constitution (in der Fassung des Verfassungsgesetzes Nr. 2009-1523 v. 10.11. 2009): Wenn das Gericht über einen Antrag zu entscheiden hat, in dem sowohl die Vereinbarkeit der gesetzlichen Bestimmung mit verfassungsrechtlich garantierten Rechten und Freiheiten als auch die Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen Frankreichs gerügt wird, muss es sich in jedem Fall vorrangig über die Vorlage der Frage der Verfassungsmäßigkeit beim Conseil d’État oder der Cour de cassation aussprechen. (En tout état de cause, la juridiction doit, lorsqu’elle est saisie de moyens contestant la conformité d’une disposition législative d’une part aux droits et libertés garantis par la Constitution et d’autre part aux engagements internationaux de la France, se prononcer en premier sur la transmission de la question de la constitutionnalité au Conseil d’État ou à la Cour de cassation.) Dies gilt auch für die Weiterleitung durch die beiden Höchstgerichte, vgl. Art. 23-5 Abs. 2 des Verfassungsgesetzes über den Conseil const. (in der Fassung des Verfassungsgesetzes Nr. 2009-1523 v. 10.11.2009): Wenn der Conseil d’État oder die Cour de cassation über einen Antrag zu entscheiden haben, in dem sowohl die Vereinbarkeit der gesetzlichen Bestimmung mit verfassungsrechtlich garantierten Rechten und Freiheiten als auch

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lage an den EuGH wegen Zweifeln an der Gemeinschaftsrechtskonformität zunächst den Conseil constitutionnel bezüglich der Verfassungsmäßigkeit der Norm anzurufen (question prioritaire).36 Zur Begründung dieses Vorrangs verweist der Bericht der Gesetzeskommission darauf, dass die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes zur Nichtigkeit des Gesetzes und damit zu einer für alle gültigen Verwerfung (Wirkung erga omnes) führe, während sich die Prüfung der Gemeinschaftsrechtskonformität durch den Fachrichter auf die Wirkung inter partes beschränke.37 Übersehen hat man allerdings, dass die auch in Frankreich üblichen Auslegungsvorbehalte des Conseil constitutionnel (réserves d’interprétation), nach denen eine Norm bei einer bestimmten Auslegung „noch verfassungskonform“ ist, für den Rechtsanwender zu neuen Konflikten führen können. Hinzu kommt, dass die Gerichte die Verfassungsmäßigkeit einer Norm nicht von Amts wegen prüfen sollen können, so dass der Vorrang der Verfassung zukünftig in den Händen der Parteien liegen wird.38 Größere Rechtssicherheit und eine endgültige Klärung des umstrittenen Verhältnisses von Gemeinschafts- und nationalem französischen Verfassungsrecht verheißt die Gesetzesinitiative mithin nicht.39 Fest steht lediglich, dass die nun endlich erfolgte Öffnung der französischen Rechtsordnung für eine gerichtliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit auf die Impulse des Gemeinschaftsrechts zurückzuführen ist, das die Rolle des Richters wesentlich verändert hat.

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die Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen Frankreichs gerügt wird, müssen sie sich in jedem Fall vorrangig über die Weiterleitung der Frage der Verfassungsmäßigkeit an den Conseil constitutionnel aussprechen. (En tout état de cause, le Conseil d’État ou la Cour de cassation doit, lorsqu’il est saisi de moyens contestant la conformité d’une disposition législative d’une part aux droits et libertés garantis par la Constitution et d’autre part aux engagements internationaux de la France, se prononcer en premier sur le renvoi de la question de constitutionnalité au Conseil constitutionnel). Vgl. Warsmann, Rapport au nom de la commission des lois constitutionnelles sur le projet de loi organique (n° 1975) relatif à l’application de l’articole 61-1 de la Constitution, XII législature, 4 nov. 2009, S. 24 und 26. Zu den Gründen vgl. Warsmann, Rapport au nom de la commission des lois constitutionnelles sur le projet de loi organique (n° 1975) relatif à l’application de l’articole 61-1 de la Constitution, XII législature, 4 nov. 2009, S. 6 f. Vgl. bereits Fillon/Dati, Projet de loi organique relatif à l’application de l’article 61-1 de la Constitution, XIII législature, 8 avril 2009, S. 5: „Cette priorité d’examen est liée à l’effet erga omnes de la déclearation d’inconstitutionnalité qui conduira à l’abrogation de la disposition législative contestée.“ Ausführlich dazu sowie weitere Bedenken bei Burgorgue-Larsen, RFDA 2009, 787–798, bes. 796–798. Vgl. auch Cons. const., déc. Nr. 2009-595 DC v. 3.12.2009, der mit Blick auf das Gemeinschaftsrecht einen Auslegungsvorbehalt formuliert, der den bezweckten Vorrang der Verfassungsmäßigkeitsprüfung beschränkt: „Unter der Erwägung, (…) dass der Vorrang [sc. der Frage der Verfassungsmäßigkeit] nicht die Befugnis des angerufenen Gerichts beschränkt, (…) die Beachtung und die Höherrrangigkeit der ratifizierten oder angenommenen völkerrechtlichen Verträge und Vereinbarungen und der Normen der Europäischen Union gegenüber den Gesetzen zu überwachen“ („Considérant (…), que cette priorité [sc. de la question de constitutionnalité] ne restreint pas la compétence de cette dernière [sc. la jurisdiction saisie] (…) de veiller au respect et à la superiorité sur les lois des traités ou accords légalement ratifiés ou approuvés et des normes de l’Union européenne.“)

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III. Die Veränderung der richterlichen Funktion als Methodenproblem Diese Veränderungen der richterlichen Funktion und des richterlichen Selbstverständnisses, vor allem im Verhältnis zum Gesetzgeber, stehen im Mittelpunkt der französischen Diskussion der europäischen Methodenlehre. Schon die 1983 erschienene Dissertation Amin Baravs40 vertritt den Standpunkt, die Anwendung des Gemeinschaftsrechts mit seinen vielfältigen Kontrollbefugnissen gegenüber dem Gesetzgeber habe den Richter, obwohl er staatliches Organ bleibt, gleichsam aus seinen nationalen Bindungen enthoben und seine Kompetenzen gestärkt. Olivier Dubos hat diese Sichtweise vor allem für das öffentliche Recht präzisiert41 und zuletzt hat Aline Humbert allgemein dargestellt, wie sich die richterliche Funktion unter dem Eindruck des supranationalen Rechts verändert.42 Die genannten Monographien gehen davon aus, dass der Richter mit der Anwendung des Gemeinschaftsrechts eine über die staatliche Rechtsprechung hinausgehende Kompetenz ausübt und dadurch neue Befugnisse im Verhältnis zu anderen Gewalten aber auch im Prozessgeschehen erhält. 1.

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Das traditionelle Verständnis der jurisdiktionellen Funktion

Hintergrund dieser Bewertung ist die Tatsache, dass die Gerichte in der französischen Tradition der Gewaltenteilung (séparation des pouvoirs) keine gleichberechtigte dritte Gewalt darstellen, sondern nur als Vollstrecker des gesetzlichen Willens angesehen werden, als Mund des Gesetzes (bouche de la loi).43 Diese Beschränkung richterlicher Gewalt ist nicht nur Ausdruck der vorrevolutionären Angst vor einem gouvernement des juges 44, die etwa Eingang in die Gestaltung des Art. 5 C.civ. gefunden hat.45 Vielmehr findet die enge Definition der richterlichen Gewalt ihren Niederschlag noch in der Verfassung der Fünften Republik von 1958. Bis zur Einführung der konkreten Normenkontrolle (Art. 61-1 Const.) durch die Reform vom 23. Juni 2008 kannten die Fachgerichte keine Kontrolle des Gesetzes auf Verfassungskonformität, d.h. einen Rückgriff auf die Verfassungsnorm im Angesicht des Gesetzgebers (Theorie vom Gesetzesschirm, vgl. Rn. 13).46 Auch das Verfassungsgericht (Conseil constitutionnel) 40 41 42 43

Barav, La fonction communautaire du juge national (1983). Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire (2001). Humbert, La mutation de l’office du juge français (2005). Bach, in: Rép. droit civil, s.v. lois et décrets (2004) n° 324. Aus der Lehrbuchliteratur vgl. z.B. Cornu, Droit civil. Introduction, Les personnes, les biens (12. Aufl. 2005), Rn. 172 und Hamon/Troper, Droit constitutionnel (30. Aufl. 2007), S. 154–156. 44 Zum Begriff vgl. Troper, La théorie du droit, le droit, l’état (2001), S. 234–247, ferner De Béchillon, Le gouvernement du juges: une question à dissoudre (2002), S. 973–978. 45 Art. 5 C.civ.: Es ist den Gerichten verboten, durch allgemeine Bestimmung oder Verordnung über die Sachen zu entscheiden, die ihnen vorgelegt sind. (Il est défendu aux juges de prononcer par voie de disposition générale et réglementaire sur les causes qui leur sont soumises.) 46 Das Verfassungsgesetz Nr. 74-904 v. 29.10.1974 fügte in Art. 61 Abs. 2 ein: Zu demselben Zweck [sc. zur Prüfung der Vereinbarkeit mit der Verfassung] können Gesetze vor der Verkündung vom Präsidenten der Republik, vom Premierminister, vom Präsidenten der Nationalversammlung, vom Präsidenten des Senats oder von sechzig Abgeordneten oder sechzig Senatoren dem Conseil constitutionnel zugeleitet werden. Aus diesem Grund hemmt die

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konnte einmal erlassene und verkündete Gesetze nicht aufheben und war auf die Vorabkontrolle vor Verkündung eines Gesetzes beschränkt. Trotz mehrerer Initiativen zur Verfassungsänderung47 hielt der französische Verfassungsgeber bis in die jüngste Zeit an der überkommenen Auffassung fest, nach der der Richter den Einzelfall entscheidet, nicht aber Recht über den Gesetzgeber sprechen kann und daher auch nicht die „Richtigkeit“ von Gesetzen kontrolliert (vgl. oben Rn. 13). 2.

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Der nationale Richter als Anwender des Gemeinschaftsrechts

Diese für das nationale Recht erst allmählich weichenden Begrenzungen der richterlichen Gewalt sind allerdings bei Anwendung des Gemeinschaftsrechts seit langem ausgehebelt. Hier saßen die Fachgerichte längst – die Cour de cassation seit 1975, der Conseil d’État jedenfalls seit 1989 – über den Gesetzgeber zu Gericht, indem sie die Vertragskonformität bzw. allgemein die Gemeinschaftsrechtskonformität des französischen Gesetzes kontrollierten und sich in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH auch befugt sahen, ein gemeinschaftsrechtswidriges Gesetz nicht anzuwenden (vgl. oben Rn. 9). Obwohl die französische Rechtsprechung die unmittelbare Geltung des Gemeinschaftsrechts verfassungsrechtlich begründet (vgl. Rn. 7)48, führt die Anwendung des supranationalen Rechts den Richter somit aus seinen nationalen Bindungen heraus. Unmittelbarkeitsgrundsatz (immédiateté) und Auslegungshoheit des EuGH

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Voraussetzung des gemeinschaftsrechtlichen Zugriffs auf die nationalen Gerichte ist die unmittelbare Geltung (immédiateté) des Gemeinschaftsrechts, die auch die französische Doktrin von der unmittelbaren Anwendung (applicabilité, effet direct) des Gemeinschaftsrechts unterscheidet. Letztere gilt als Ausdruck einer maximalen gemeinschaftsrechtlichen Kompetenz des nationalen Richters (compétence communautaire maximum)49, die sich vor allem im Verhältnis zu Privaten manifestiert. Aber auch die unmittelbare Geltung wird als Kompetenzzuwachs aufgefasst, weil der Richter nicht mehr allein dem nationalen Gesetzgeber gehorcht.50 Die hieraus folgende gestufte Wirkungskraft der gemeinschaftsrechtlichen Normen beschreibt die französische Doktrin, indem sie die Auslegungswirkung (effet d’interprétation), die Verdrängungswirkung (effet d’éviction) und die Entschädigungswirkung (effet de réparation) unterscheidet.51 Unter der Auslegungswirkung, die den geringsten Eingriff in die nationale

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Anrufung des Conseil constitutionnel die Verkündigungsfrist, vgl. Art. 61 Abs. 4 Const. und Art. 62 Abs. 1 Const. bestimmt: Eine für verfassungswidrig erklärte Bestimmung darf weder verkündet noch in Kraft gesetzt werden. Vgl. nur Hamon/Troper, Droit constitutionnel (30. Aufl. 2007), S. 861 f. Zu unterschiedlichen Akzenten bei der Auslegung von Art. 88-1 Const. vgl. noch Charpy, RFDC 79 (2009), 621, 626 mwN. Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire (2001), Rn. 172. Als Beteiligung des Richters an der Normsetzung deutet dies z.B. Nabli, L’exercice des fonctions d’État membre de la Communauté européenne (2007), Rn. 455–463. Ausführlich Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire (2001), Rn. 127–171.

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Rechtsordnung darstellt und auch Vorschriften ohne unmittelbare Geltung zukommt, versteht die französische Doktrin die vom EuGH formulierte Verpflichtung der nationalen Gerichte52, das gesamte nationale Recht im Lichte des Gemeinschaftsrechts auszulegen (vgl. unten Rn. 23). Sie gilt auch für gemeinschaftsrechtliche Vorschriften ohne unmittelbare Geltung. Voraussetzung der Verdrängungswirkung, d.h. der Verpflichtung des Richters, das dem Gemeinschaftsrecht entgegenstehende nationale Recht unangewendet zu lassen, ist dagegen die unmittelbare Geltung der gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift. Aus diesem Grund kann auch Richtlinien Verdrängungswirkung zukommen, sofern sich hieraus nicht ein rechtsfreier Raum (vide juridique) ergibt.53 Entschädigungswirkung haben letztlich alle unmittelbar anwendbaren Vorschriften, kann aber nach der Rechtsprechung des EuGH gegenüber staatlichen Stellen ausnahmsweise auch von (nicht umgesetzten) Richtlinien ausgelöst werden.54 Aufgrund ihrer weitreichenden Folgen gelten vor allem die Verdrängungs- und Reparationswirkung in Frankreich als Beleg für ein gewandeltes richterliches Selbstverständnis gegenüber dem Gesetz. Nimmt man die Staatshaftung für die fehlende Umsetzung von Richtlinien hinzu55, erscheint die traditionelle Unterordnung der Judikative unter die Legislative durch das Gemeinschaftsrecht in ihr Gegenteil verkehrt. Anstelle der Abhängigkeit der Gerichte vom nationalen Gesetzgeber ist in dieser Perspektive die Unterordnung unter den EuGH getreten, indem letzterer die Auslegungshoheit und das Verwerfungsmonopol für das Gemeinschaftsrecht innehat.56 Auch diese Unterordnung unter ein nicht-staatliches Gericht wird aber auf nationaler Ebene als Kompetenzzuwachs der Gerichte gedeutet, da die gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen gerade neue Rechte im Innern begründen (vgl. Rn. 14). Schon das Primärrecht (Art. 267 AEUV/234 EG) hat die Position der dritten Gewalt im Verhältnis zur Exekutive gestärkt. Noch bis 1990 bzw. 1995 sahen sich nämlich die französischen Fachgerichte außerstande, völkerrechtliche Verträge selbst auszulegen.57 Vielmehr waren die Gerichte gezwungen, durch Vorlage an das zuständige Ministerium die Auslegung der für den Vertragsschluss verantwortlichen Exekutive abzuwarten.

52 EuGH v. 20.5.1976 – Rs. 111/75 Mazzalai, Slg. 1976, 657. 53 Zu den Einzelheiten der Position des Conseil d’état, vgl. Humbert, La mutation de l’office du juge français (2005), Rn. 961–973. 54 Auch hierzu Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire (2001), Rn. 172–217. 55 Vgl. zuletzt allgemein Nabli, L’exercice des fonctions d’État membre de la Communauté europénne (2007), Rn 464–475. Die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts auch beim Verstoß gegen privatrechtliche Richtlinien betont diesbezüglich Cass. com. v. 8.7.2008, Bull. civ. Nr. 151. 56 Vgl. noch einmal Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire (2001), Rn. 216 f. 57 C.E. v. 29.6.1990, G.I.S.T.I., Rec. S. 171. Eine Übersicht zur früheren Rechtsprechung bei Humbert, La mutation de l’office du juge français (2005), Rn. 258 mit Fn. 13. Die Cour de cassation hatte bereits zuvor eine grosse Anzahl von Ausnahmen zugelassen, so dass der Abschied von der authentische Auslegung, der erst mit Cass. civ. v. 19.12.1995, Banque africaine de développement c/ Bank of Credit international et autres, Bull. civ. Nr. 327, eindeutig vollzogen wurde, leicht fiel und erwartet worden war. Auch dazu Humbert, a.a.O., Rn. 273 mit Fn. 29. Ulrike Babusiaux

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3. Teil: Besonderer Teil

Die Einsetzung des EuGH löst die nationalen Gerichte von dieser Verpflichtung gegenüber der nationalen Verwaltung, indem sie sie stattdessen einer supranationalen Jurisdiktion unterstellt. Gleichzeitig erklärt das lange Überleben der authentischen Interpretation (interprétation authentique58) die Leichtigkeit, mit der man in Frankreich das Rechtsprechungsmonopol des EuGH akzeptiert: Der EuGH ist die von den Vertragsstaaten eingesetzte Instanz, die anstelle der Vertragsparteien die Auslegung des Vertrages vornimmt. Seine Befugnis entspricht damit dem Satz eius est legem interpretari cuius est condere.59 Die Übernahme der vom EuGH vorgegebenen zweckgeleiteten Auslegung des Gemeinschaftsrechts (interprétation téléologique) durch die französischen Gerichte wird damit als Konsequenz der Kompetenzverteilung aufgefasst 60, nicht aber als ein methodologisches Problem der Gesetzesanwendung. b)

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Wenig Schwierigkeiten bereitet den französischen Gerichten auch der Vorrang des Gemeinschaftsrechts (primauté du droit communautaire). Er entspricht normenhierarchisch dem verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Vorrang des Völkerrechts vor dem Gesetz (vgl. Art. 55 Const., dazu Rn. 7), methodologisch der von Cour de cassation und Conseil d’État auch in anderen Zusammenhängen häufig betriebenen prinzipiengeleiteten Rechtsfindung.61 Von daher kann es nicht überraschen, dass sich Entscheidungen der Fachgerichte finden, die ausdrücklich auf das Prinzip des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts (principe de la primauté du droit communautaire) zurückgreifen und damit gerade auch den Vorrang des Sekundärrechts vor dem französischen Gesetz rechtfertigen.62 aa)

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Anwendungsvorrang (primauté) des Gemeinschaftsrechts

Gewaltenteilung im Gerichtswesen und Gemeinschaftsrecht

Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts bringt auch eine Kompetenzsteigerung der Gerichte gegenüber der Verwaltung mit sich. Unter Anpassungsdruck geraten ist insbesondere das strenge Verständnis der Gewaltenteilung zwischen den ordentlichen Gerichten und den Verwaltungsgerichten. Es besagt, dass die Zivilgerichte sich nicht in die Angelegenheiten der Verwaltung einzumischen haben.63 Dieses Privileg der Ver-

58 Vgl. nur Bach, in: Rép. droit civil, s.v. lois et décrets (2004) Nr. 267 f. und Nr. 324 mwN. 59 So die Grundlage der früheren Rechtsprechung, vgl. C.E. v. 23.7.1823, Veuve Murat, Comtesse de Lipoma, Rec. S. 545 und C.E. v. 3.9.1823, Rougement, Rec. S. 575. 60 Nur knappe Bemerkungen zur teleologischen Auslegung finden sich daher bei Frison-Roche, in: Juris-classeur de droit civil droit civil (1996), Art. 4 C.civ. Rn. 76 und bei Terré, Introduction générale au droit (7. Aufl. 2006), Rn. 554. Ein aktuelles Beispiel ist Cass. 2e civ. v. 10.7.2008, Bull. civ. Nr. 129. 61 Zur Rolle der principes généraux du droit vgl. Ghestin/Goubeaux/Fabre-Magnan, Droit civil. Introduction générale (4. Aufl. 1994), Rn. 492 mit umfangreichen Nachweisen. 62 Vgl. z.B. Simon, Rép. droit communautaire, s.v. directive (1998), Nr. 58; Zur Grundlage der primauté, ebenso (für das Privatrecht) Malaurie/Morvan, Introduction générale (2003), S. 210 f. 63 Vgl. Gesetz v. 16.–24.8.1790: Die richterlichen Aufgaben unterscheiden sich klar von denen der Verwaltung und werden auch immer unabhängig von ihnen fortbestehen. Die Richter mißbrauchen ihre Amtsgewalt, wenn sie die Tätigkeit der Verwaltungsbehörden in irgend-

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waltung wird streng durchgeführt und die Einhaltung der Kompetenzen wird vom Tribunal des Conflits überwacht.64 Hinsichtlich der Gemeinschaftsrechtskonformität des Verwaltungshandelns gilt dieser Vorbehalt dagegen nicht. Vielmehr erkennt sich der Zivilrichter, der ja auch über die Gemeinschaftsrechtskonformität des Gesetzes wacht, die Kompetenz zu, die Vereinbarkeit von Verwaltungsakten und Rechtsverordnungen mit dem Gesetz zu überprüfen. Einen aktuellen Beispielsfall bildet das Urteil der Chambre sociale im Fall RATP contre Somazzi.65 Nach dem Statut der Pariser Metrogesellschaft (RATP) kann Frauen bei der Festanstellung (agent permanent) die Altersgrenze von fünfunddreißig Jahren nicht entgegengehalten werden, wenn sie Kinder erziehen. Der Kläger, ein Familienvater, verlangte die Anwendung des Privilegs auch auf Männer und seine Einstellung trotz Überschreitens der Altersgrenze. Der Appellationshof gab dem Kläger unter Berufung auf den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 141 EGV (jetzt Art. 157 AEUV) recht. Hiergegen wandte sich die Kassationsbeschwerde der RATP unter anderem mit dem Argument, das Gericht habe das Verfahren aussetzen und die Frage der Rechtsmäßigkeit des Statuts den Verwaltungsgerichten vorlegen müssen.66 Die Cour de cassation wies die Beschwerde unter Hinweis auf den Vorrang des Gemeinschaftsrechts zurück, erkannte dem Zivilrichter mithin die Kompetenz zu, über die Europarechtskonformität von Verwaltungshandeln zu befinden.67 Die Nichtanwendung der Norm aufgrund ihrer Gemein-

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einer Weise beeinträchtigen oder einen Verwaltungsbeamten wegen der Führung seiner Dienstgeschäfte vorladen. (Loi du 16–24 août 1790, Übersetzung nach Sonnenberger/ Autexier, Einführung in das französische Recht (3. Aufl. 2000), S. 61) und Dekret v. 11. Fructidor des Jahres III (1794): Nachdrücklich und wiederholt wird den Gerichten – unter Androhung der gesetzlichen Strafe – untersagt, in irgendeiner Weise über Maßnahmen der Verwaltung zu befinden (Décret du 11 fructidor de l’an III, Übersetzung nach Sonnenberger/ Autexier, a.a.O.). Dieses Prinzip ist seit 1872 von den Gesetzen der Republik anerkannt, vgl. Hamon/Troper, Droit constitutionnel (30. Aufl. 2007), S. 863 f. Vgl. nur Sonnenberger/Autexier, Einführung in das französische Recht (3. Aufl. 2000), S. 52 f. mit Fn. 26. Cass. soc. v. 18.12.2007, Bull. civ. Nr. 215, dazu nur M. Schmitt, RDT 2008, 393 f. Zu früheren Modifikationen des Prinzips vgl. Nachweise bei Jacoto, JCP 2007, II 10023, 40. Zur Anwendung der Betriebsübergangsrichtlinie 98/50/EG vom 29.6.1998 auf öffentliche Arbeitgeber vgl. Cass. soc. v. 12.6.2007, Chambre de commerce et d’industrie du Var, Bull. civ. Nr. 96. Der Vorwurf lautete: „(…) der Appellationshof hat das Prinzip der Gewaltenteilung und Art. 13 des Titels 2 des Gesetzes vom 16–24. August 1790 und das Dekret vom 12. Fructidor des Jahres III verletzt. (… la cour d’appel a violé le principe de la séparation des pouvoirs et l’article 13 du titre 2 de la loi des 16–24 août 1790, et le décret du 12 fructidor an III.)“. „In Erwägung, dass der Appellationshof unter Berufung auf den Vorrang des Gemeinschaftsrechts und ohne die Rechtmässigkeit des Statuts zu überprüfen, zu recht entschieden hat, dass der Text nicht der Anwendung des Prinzips der Gleichbehandlung von männlichen und weiblichen Arbeitnehmern entgegenstehen könne (…), wie es sich aus Art. 141 Abs. 4 EGV und Art. 3 Abs. 1, 2 und 4 der Richtlinie 76/207/EG ergibt“. („Attendu (…) qu’en se référant à la primauté du droit communautaire, sans apprécier la légalité (…) du statut, la cour d’appel a justement décidé que ce texte ne pouvait faire obstacle à l’application du principe d’égalité de traitement entre les travailleurs masculins et féminins (…) résultant des articles 141, paragraphe 4, du Traité CE et 3, paragraphe 1, et 2, paragraphe 4, de la Directive n° 76/207/CEE.“)

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schaftsrechtswidrigkeit belasse die Rechtmäßigkeitskontrolle des Verwaltungshandelns beim Conseil d’Etat, der Zivilrichter sei aber gegenüber der Verwaltung wie gegenüber dem Gesetzgeber zur Kontrolle der Gemeinschaftsrechtskonformität berufen. bb)

Die Parteiautonomie und die Berücksichtigung des Gemeinschaftsrechts von Amts wegen

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Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gestaltet auch das Prozessgeschehen im Sinne einer gesteigerten richterlichen Macht. Hinsichtlich der Arbeitsteilung zwischen Parteien und Gericht kodifiziert Art. 12 NCPC das Rechtssprichwort da mihi factum, dabo tibi ius kodifiziert, d.h. es obliegt den Parteien, die Tatsachen vorzutragen, dem Richter dagegen deren rechtliche Qualifizierung.68 Die Nichtanwendung des nationalen Gesetzes als wichtigste Folge des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts lässt sich mit diesen Vorgaben durchaus vereinbaren. Da der Richter berufen ist, den Rechtsstreit nach den rechtlichen Vorschriften zu entscheiden, die auf ihn anwendbar sind (qui lui sont applicables)69, muss er nicht nur die Subsumtionsfähigkeit des zu prüfenden Sachverhaltes prüfen, sondern auch die Frage, ob die nationale Norm überhaupt Anwendung finden kann.70

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Im Detail ergeben sich aber Friktionen zwischen Gemeinschaftsrecht und französischem Prozessrecht. So führt die Cour de cassation die Arbeitsteilung zwischen Richter und Parteien streng durch, indem sie die Gerichte von der Verpflichtung frei spricht, eine untaugliche Anspruchsgrundlage des Klägers durch eine taugliche rechtliche Begründung zu ersetzen.71 Der Richter kann sich vielmehr auf die Parteiherrschaft berufen und die Klage abweisen. Im Gegensatz dazu hält der EuGH die Gerichte für verpflichtet, das Gemeinschaftsrecht von Amts wegen anzuwenden, so dass auch die französische Gerichte zur Einbringung des Gemeinschaftsrechts gezwungen sind 72, selbst dann, wenn die Parteien nicht an dessen Anwendung gedacht haben. Noch deutlicher wird der Widerspruch, wenn man Art. 12 Abs. 3 NCPC hinzunimmt.73 Durch die Vorschrift haben die Parteien die Möglichkeit, den Richter an der

68 Vgl. nur Guinchard/Ferrand, Procédure civile (28. Aufl. 2006), Rn. 680 f. mwN. 69 Art. 12 NCPC: Der Richter hat den Rechtsstreit entsprechend der rechtlichen Vorschriften zu entscheiden, die auf ihn anwendbar sind. (Le juge tranche le litige conformément aux règles de droit qui lui sont applicables.) 70 Ausführlich dazu Bull. d’information v. 15.4.2008, S. 18–32. 71 Cass. Ass. v. 21.12.2007, Bull. d’information v. 15.4.2008, S. 18–32. 72 Vgl. EuGH v. 14.12.1995 – verb. Rs. C-430/93 und C-431/93 van Schijndel und van Veen, Slg. 1995, I-4705; zuletzt EuGH v. 6.10.2009 – Rs. C-40/08 Asturcom Telecomunicaciones SL (noch nicht in Slg.). Einzelheiten bei Delicostopoulos, Le procès civil à l’épreuve du droit processuel européen (2003), Rn. 305–306. 73 Art. 12 Abs. 3: „In jedem Fall kann der Richter nicht die rechtliche Bezeichnung oder Grundlage verändern, wenn die Parteien durch ausdrückliche Vereinbarung und hinsichtlich der Rechte, über die sie frei disponieren können, ihn gebunden haben durch ihre Bewertung und die rechtlichen Gesichtspunkte, auf die sie die Verhandlung beschränken wollen. (Toutefois, il ne peut changer la dénomination ou le fondement juridique lorsque les parties, en vertu

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Einführung neuer rechtlicher Gesichtspunkte zu hindern, indem sie den Rechtsstreit durch ausdrückliche vorherige Vereinbarung (accord préalable) auf die von ihnen gewünschte Rechtsfrage beschränken.74 Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts steht dagegen nicht zur Disposition der Parteien, was in Frankreich erneut als Kompetenzsteigerung des den Rechtsstreit entscheidenden Richters gedeutet wird.75 3.

Die (notwendige) Koordination von Rechtsquellen nationalen und gemeinschaftsrechtlichen Ursprungs

Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung erscheint in der französischen Dogmatik als Kernstück der den nationalen Gerichten obliegenden Koordination gemeinschaftsrechtlicher und nationaler Normen. Sie wird entsprechend dem Koordinationsgedanken als notwendige Folge des Systemzusammenhangs verstanden.76 Problematisiert wird in diesem Zusammenhang allenfalls die „Zerrissenheit des Richters zwischen einer doppelten Loyalitätsverpflichtung“ (déchirure par un double devoir de loyauté)77, die sich daraus ergeben soll, dass einerseits der Wille des nationalen Gesetzgebers, andererseits die Vorgaben des supranationalen Rechts zu beachten sind und in Einklang gebracht werden müssen. Zentrales Augenmerk liegt in Frankreich mithin auf dem (möglichen) Normenkonflikt zwischen französischem Gesetzesrecht und Gemeinschaftsrecht78, der durch die Auslegung überwunden wird. Dabei wird die Originalität des Konfliktes durchaus erkannt: Zum einen führt der Vorrang des Gemeinschaftsrechts nicht zur Aufhebung der nationalen Norm, sondern nur zum Anwendungsverbot; zum andern sind auch die Normen bei der Auslegung heranzuziehen, die nur programmatische oder indirekte Wirkung haben und gerade keine eigenständige Grundlage für die Begründung von Rechten und Pflichten Privater bilden.79 Diese Auslegungswirkung (effet d’interprétation, vgl. oben Rn. 17) des Gemeinschaftsrechts beschränkt sich mithin auf eine objektive Normwirkung, d.h. auf eine Anwendung der nationalen Norm im Lichte des Gemeinschaftsrechts (à la lumière du droit communautaire).

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d’un accord exprès et pour les droits dont elles ont la libre disposition, l’ont lié par les qualifications et points de droit auxquels elles entendent limiter le débat.) Zu dieser Vorschrift vgl. jetzt Cass. Ass. v. 21.12.2007, Bull. d’information v. 15.4.2008, S. 18–32. Zu diesem accord préalable vgl. Hartenstein, Die Privatautonomie im internationalen Privatrecht als Störung des europäischen Entscheidungseinklangs (2000), S. 30–33. Delicostopoulos, Le procès civil à l’épreuve du droit processuel européen (2003), Rn. 356. Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire (2001), Rn. 107 mwN. Einzelheiten zur Koordinierung von Rechtsnormen bei Bergel, RRJ 1991, 999–1008. Vgl. Nabli, L’exercice des fonctions d’État membre de la Communauté européenne (2007), Rn. 438. Ausführlich Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire (2001), Rn. 112–118. Einzelheiten mit Beispielen aus der Rechtsprechung des EuGH bei Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire (2001), Rn. 108–110.

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Die primärrechtskonforme Auslegung

Die Zulässigkeit der primärrechtskonformen Auslegung, über deren methodische Implikationen man wenig diskutiert80, folgt bereits aus Art. 55 Const.81: Da die Verträge durch Ratifikation Teil der nationalen Rechtsordnung geworden sind, gehören sie zu den Normen, die der Richter bei seiner Rechtsanwendung zu berücksichtigen hat (vgl. oben Rn. 9). Die Anpassung des Gesetzes an das Primärrecht im Wege der Auslegung vermeidet die Nichtanwendung und ist damit als geringerer Eingriff in den gesetzgeberischen Willen regelmäßig vorzuziehen (actus interpretandus est potius ut valeat quam ut pereat).82 Dass die Grenzen zwischen Nichtanwendung des nationalen Rechts und der primärrechtskonformen Auslegung dabei durchaus fließend sein können, zeigte 2007 die Pferdewetten-Entscheidung der Cour de cassation 83: Aufgrund eines Gesetzes von 1891 ist der Pari Mutuel Urbain (PMU) Monopolist für Pferdewetten84, die ansonsten unter Strafandrohung verboten sind. Entgegen diesem Monopol bot eine auf Malta zugelassene Gesellschaft namens Zeturf im Internet Wetten für französische Pferderennen an. Die PMU verlangte die Einstellung des onlineWettbüros und erhielt diesbezüglich im Eilverfahren vor dem Tribunal de grande instance Recht.85 Die Cour de cassation hob diese Eilentscheidung unter Berufung auf Art. 809 Abs. 1 NCPC und Art. 49 EG (jetzt Art. 56 AEUV) auf.86 Wie der EuGH festgestellt habe 87, seien Einschränkungen der Dienstleistungsfreiheit, unter die auch das Monopol für die PMU falle, nur dann gerechtfertigt, wenn sie wirklich dem Ziel dienten, die Gelegenheit zum Spiel zu verhindern, und wenn die Erzielung von Einkünften nur eine Nebenfolge, nicht aber der eigentliche Grund der restriktiven Politik sei. Insofern habe auch das Appellationsgericht88 näher prüfen müssen, ob die genannten Rechtsvorschriften wirklich zielführend angewandt würden, so dass sie die angestrebten Zwecke auch erreichten oder ob nicht die nationalen Behörden tatsäch-

80 Auch die Unterscheidung von primärrechtskonformer und sekundärrechtskonformer Auslegung ist keine übliche Kategorie, wenngleich die Unterschiede reflektiert werden, vgl. Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire (2001), Rn. 117. 81 Sehr klar in diesem Sinne Cass. civ. v. 20.12.2007, Sniter c./ RATP, Bull. civ. Nr. 273: „Vu l’article 55 de la Constitution (…)“. 82 Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire (2001), Rn. 115; zuletzt Nabli, L’exercice des fonctions d’État membre de la Communauté européenne (2007), Rn. 433. 83 Cass. com. v. 10.7.2007, Bull. civ. Nr. 186, dazu aus der Lit. nur Clergerie, Rec. Dalloz 2007, 2360–2362. 84 Einzelheiten zum PMU bei Clergerie, Rec. Dalloz 2007, 2360 mit Fn. 2 und 2361. 85 TGI Paris v. 8.7.2005, PMU c/Eturf, Zeturf, CCE 2005, comm. Nr. 172; http://droit-tic. com. 86 Dem Entscheidungsstil der Cour de cassation entsprechend ist die primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts durch Art. 49 EG im sog. Visa ausdrücklich hervorgehoben: „In Anbetracht des Art. 49 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und Art. 809 Abs. 1 des NCPC (Vu l’article 49 du Traité instituant la Communauté européenne et l’article 809, alinéa 1er, du nouveau code de procédure civile)“. 87 Vgl. zuletzt EuGH v. 8.9.2009 – Rs. C-42/07 Liga Portuguesa, (noch nicht in Slg.). 88 Entscheidung des Appellationshofes C.A. Paris Nr. 05/157773 v. 14.1.2006 Sté Zeturf Ltd, Sa Eturf c/Gie Pari mutuel urbain (PMU), AJDA 2006, 482 f.

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lich eine Politik der Ausbreitung des Wettspiels betrieben, um Einnahmen zu erzielen.89 Wie die zitierten Vorschriften und die Begründung der Cour de cassation zeigen, rechtfertigt das höchste Zivilgericht die Aufhebung der einstweiligen Anordnung über eine primärrechtskonforme Auslegung der Vorschrift zum einstweiligen Rechtsschutz (Art. 809 Abs. 1 NCPC).90 Der im EG-Vertrag garantierte Schutz der Dienstleistungsfreiheit verlangt, das Zuwiderhandeln gegen ein Monopol im Rahmen des Art. 809 Abs. 1 NCPC nur dann als offensichtlich widerrechtliche Störung (trouble manifestement illicite) anzusehen, wenn keine Zweifel an der Primärrechtskonformität des Monopolgesetzes bestehen.91 Anstelle der im einstweiligen Rechtsschutz zu zeitraubenden Aussetzung des Verfahrens zur Vorlage an den EuGH sichert die primärrechtskonforme Auslegung des Prozessrechts die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Monopol.92 Dies gilt sogar dann, wenn, wie in der PMU-Entscheidung, gar nicht feststeht, ob das Gemeinschaftsrecht das streitige Monopol verbietet: Mit Beschluss vom 9. Mai 2008 hat der Conseil d’État, der über die Zulassung der Zeturf zum französischen Wettmarkt zu entscheiden hat, das Hauptsacheverfahren ausgesetzt und dem EuGH die Frage vorgelegt, ob das französische Monopol tatsächlich gegen Art. 49 EG (jetzt Art. 56 AEUV) verstößt.93 Unabhängig davon wie der EuGH diese Frage entscheiden wird, belegt das Beispiel, dass die primärrechtskonforme Auslegung nicht nur zur Vermeidung von Normwidersprüchen dient, sondern auch dazu genutzt werden kann, den Status quo in Erwartung der verbindlichen Auslegungsentscheidung durch den EuGH zu sichern. b)

Die sekundärrechts-, insbesondere richtlinienkonforme Auslegung

Auch die sekundärrechtskonforme Auslegung interpretieren die meisten französischen Kommentatoren als Vermeidung eines Normenkonfliktes zwischen dem in die nationale Rechtsordnung transferierten Sekundärrecht und dem Gesetzesrecht.94 Seit der 89 Cass. com. v. 10.7.2007, Bull. civ. Nr. 186. 90 Der Gerichtspräsident kann jederzeit, sogar bei Vorliegen wesentlichen Bestreitens, im vorläufigen Rechtsschutz sichernde Massnahmen oder die Wiederherstellung des Zustands verlangen, die notwendig sind, entweder um einen unmittelbar bevorstehenden Schadenseintritt zu verhindern, oder um eine offensichtlich widerrechtlichen Störung zu unterbinden. (Le président peut toujours, même en présence d’une contestation sérieuse, prescrire en référé les mesures conservatoires ou de remise en état qui s’imposent, soit pour prévenir un dommage imminent, soit pour faire cesser un trouble manifestement illicite.). 91 Einzelheiten zum einstweiligen Rechtsschutz bei Guinchard/Ferrand, Procédure civile (28. Aufl. 2006), Rn. 261. Zur Verhältnismäßigkeitsprüfung (contrôle de proportionnalité) in diesem Zusammenhang vgl. Picod, JCP 2007, II 10182, 43. 92 Zur provisorischen Auslegung (interprétation à titre provisoire) des Gemeinschaftsrechts durch die nationalen Gerichte im Eilverfahren vgl. T.A. Lyon v. 23.5.2003, Jacques Murzeau, AJDA 2003, 1786–1789 m. Anm. Markus; C.E. v. 18.10.2006, Mme Djabrailova, épouse Mutsulkhanova, AJDA 2006, 2352–2356 m. Anm. Gautier. 93 C.E. v. 9.5.2008, Nr. 287503 Sté Zeturf Ltd., im Volltext unter http://www.conseil-état.fr. 94 Vgl. Mehdi, Le statut contentieux des mesures nationales d’exécution du droit communautaire, Diss. Rennes (1994), S. 116 f.; nuancierend Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire (2001), Rn. 115; so zuletzt Humbert, La mutation de l’office du juge français (2005), Rn. 707 f. Ulrike Babusiaux

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Anerkennung des Vorrangs des sekundären Gemeinschaftsrechts (vgl. oben Rn. 11), gehört auch diese interpretative Angleichung des nationalen Rechts zum Argumentationsarsenal der Cour de cassation wie des Conseil d’État, obwohl davon – von der richtlinienkonformen Auslegung abgesehen – in der Rechtsprechungspraxis auffällig wenig Gebrauch gemacht wird.95 Dieser Befund ist wohl damit zu erklären, dass die Verordnung (règlement, Art. 288 Abs. 2 AEUV/249 Abs. 2 EG) als Hauptquelle des Sekundärrechts neben der Richtlinie (directive, Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG) unmittelbar angewendet werden kann. Im Sinne der Stufenwirkung der gemeinschaftsrechtlichen Norm (vgl. oben Rn. 17) besteht daher keine Notwendigkeit, ihr über nur über den Auslegungseffekt zur Wirksamkeit zu verhelfen.96 Im Zentrum des Interesses steht vielmehr die richtlinienkonforme Auslegung, da sie als Weg verstanden wird, der noch nicht umgesetzten Richtlinie zu gewissen Wirkungen im Innern der nationalen Rechtsordnung zu verhelfen.97

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Entsprechend der Rechtsprechung des EuGH sind nach Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 Abs. 3 EG auch die französischen Gerichte verpflichtet, ihr gesamtes nationales Recht richtlinienkonform auszulegen und anzuwenden.98 Auch in Frankreich wurde angesichts dieser umfassend formulierten Verpflichtung die besondere Rechtsnatur der Richtlinie als Umsetzungsbefehl thematisiert.99 Gerade der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung wird aber nicht widersprochen, da der Richtlinie jedenfalls mit Verstreichen der Umsetzungsfrist Auslegungswirkung (effet d’interprétation) zukommen soll (vgl. oben Rn. 17). Dies bedeutet, dass sie zwar nicht selbst Grundlage der Verpflichtung eines Privaten ist, aber die Auslegung einer nationalen Norm derart steuern kann, dass diese das richtlinienkonforme Ergebnis erreicht. In der Rechtsprechung der Cour de cassation kommt diese Verbindung von Richtlinie und nationalem Recht regelmäßig darin zum Ausdruck, dass die nationale Norm mit dem Zusatz zitiert wird, sie werde im Lichte der Richtlinie ausgelegt (interprété à la lumière de la

95 Nur einmal findet sich in der Begründung der Kassationsbeschwerde die Formulierung „im Lichte der Verordnung“ (à la lumière du règlement), vgl. Cass. crim. v. 9.9.2003, Bull. crim. Nr. 154. Die Cour de cassation selbst scheint diese Argumentation zu vermeiden. 96 Vgl. z.B. Cass. 2e civ. v. 14.6.2007, Bull. civ. Nr. 30 (zu Art. 13 der VO 1408/71/EG); Cass. soc. v. 19.6.2007, Bull. civ. Nr. 109 (zu Art. 19 der VO 44/2001/EG); Cass. com. v. 16.12.2008, Bull. civ. Nr. 215 (zu Art. 23 der VO 44/2001/EG). 97 So ausdrücklich Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire (2001), Rn. 118: „Die richtlinienkonforme Auslegung erlaubt es, den nicht umgesetzten Richtlinien eine gewisse Wirkung zu garantieren und zwar insbesondere für diejenigen, die weder Entschädigungswirkung noch unmittelbare Wirkung entfalten können“. („L’interprétation conforme permet d’assurer une certaine efficacité aux directives non-transposées et tout particulièrement à celles qui ne peuvent produire ni un effet de réparation, ni un effet direct.“) 98 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83, von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891; EuGH v. 13.11. 1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. 397/01 bis C-403/01 Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835. 99 Mainguy, Mélanges Mouly (1998), S. 89–102. Weitere Lit. bei Humbert, La mutation de l’office du juge français (2005), Rn. 88–95.

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directive).100 Bisweilen findet sich auch die bloße Nebeneinanderstellung von Gesetzestext und Richtlinie101, die offenbar die Notwendigkeit, beide Texte zusammen anzuwenden, vor Augen führen soll. Bei dieser letzten Zitierweise tritt der systematische Zusammenhang, den die französische Doktrin als Grundlage der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung ansieht (vgl. oben Rn. 23), besonders klar hervor: Die Richtlinie ist eine für die Entscheidungsfindung wichtige Rechtsquelle, ohne dass es dafür der unmittelbaren Anwendbarkeit bedarf. Keine Angaben finden sich in der Rechtsprechung der Cour de cassation zu den Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung. Nachweisbar ist allein die Zurückweisung einer auf die fehlende Berücksichtigung der Richtlinie rekurrierenden Kassationsbeschwerde (pourvoi en cassation) mit dem Hinweis, die Richtlinie belasse dem nationalen Recht einen Gestaltungsspielraum, der in casu ausgeschöpft werde.102 Die damit umrissene Grenze folgt allerdings schon aus der Richtlinie selbst, bildet mithin kein eigenständiges methodologisches Kriterium der richtlinienkonformen Auslegung. In der Literatur hat vor allem Dubos zwei Ansätze entwickelt, die die Grenze der Auslegung des nationalen Rechts beschreiben sollen. Mangels einschlägiger Vorbilder bei der Gesetzesauslegung greift Dubos dafür auf das Vertragsrecht zurück: Unzulässig sei die Novation (novation) wie die Denaturierung (dénaturation) des nationalen Gesetzes durch die Richtlinie.103 Mit dem Verbot der Novation ist in Analogie zum Vertrag gemeint, dass die Auslegung im Lichte der Richtlinie keine neue, dem nationalen Gesetz nicht entsprechende Verpflichtung schaffen darf. Ebenfalls aus der Auslegung von Verträgen stammt das Verbot der Denaturierung eines bestehenden Normtextes. Auf die richtlinienkonforme Auslegung übertragen, untersagt es, die nationale Norm

100 Beispiele bei Babusiaux, Die richtlinienkonforme Auslegung (2007), S. 78–87. Aus der neueren Rechtsprechung vgl. Cass. 1re civ. v. 15.5.2007, Bull. civ. Nr. 185; Cass. soc. v. 18.4.2008, Bull. civ. Nr. 98; Cass. 1re civ. v. 19.6.2008, Bull. civ. Nr. 178; Cass. soc. v. 16.12.2008, Bull. civ. Nr. 249. 101 Vgl. z.B. Cass. soc. v. 28.3.2006, Bull. civ. Nr. 124: „Vu les articles 1er, 2 et 3 de la directive n° 77/187/CEE du 14 février 1977, modifiée par la directive n° 98/50/CEE du 29 juin 1998, applicable au litige, ensemble l’article L. 122-12, alinéa 2, du Code du travail.“ 102 Vgl. Cass. civ. v. 22.1.2009, Sté 1633, Bull. civ. Nr. 8: „Dass durch diese Entscheidung, obwohl die Bestimmungen der europäischen Richtlinie, in deren Licht er [sc. der Appellationshof] Art. L.122-5 3° des Code de la propriété intellectuelle ausgelegt hat, nur fakultativ waren und den nationalen Gerichten nicht als Auslegungsregel dienen konnten, um die Reichweite einer nationalen Gesetzesbestimmung auf einen Fall auszuweiten, der von dieser nicht vorgesehen war, der Appellationshof, durch Falschanwendung die oben genannte Texte verletzt hat.“ („Qu’en statuant ainsi, quand les dispositions de la Directive européenne à la lumière de laquelle elle [sc. la cour d’appel] interprétait l’article L. 122-5 3° du code de la propriété intellectuelle, (…) n’étaient que facultatives et ne pouvaient servir au juge national de règle d’interprétation pour étendre la portée d’une disposition de la loi nationale à un cas non-prévu par celle-ci, la cour d’appel a, par fausse application, violé les textes susvisés.“) Ähnlich zur Produkthaftungsrichtlinie Cass. 1re civ. v. 9.7.1996, Bull. civ. Nr. 304 und Cass. 1re civ. v. 15.5.2007, Bull. civ. Nr. 185. 103 Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire (2001), Rn. 115, 120. Zu den allgemeinen Grenzen der Auslegung vgl. Babusiaux, Die richtlinienkonforme Auslegung (2007), S. 57 f. mwN. Ulrike Babusiaux

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entgegen der erkennbaren, ursprünglichen Intention des Gesetzgebers zu verwenden, wie sie vor allem im Wortlaut zum Ausdruck kommt. Ob Dubos’ Kriterien in der Rechtsprechung ein Echo gefunden haben, ist nicht zu entscheiden, aber überaus zweifelhaft. Überhaupt findet sich keine Entscheidung, in der die beiden Höchstgerichte die richtlinienkonforme Auslegung aus Gründen des nationalen Rechts verweigert hätten. In einer neueren Entscheidung bekennt sich die Cour de cassation vielmehr explizit und ungewöhnlich ausführlich zu den Grundsätzen der richtlinienkonformen Auslegung104: „Unter der Erwägung, dass es dem Gericht, das mit einem Rechtsstreit befasst worden ist, der in den Anwendungsbereich einer Richtlinie fällt und der seinen Ursprung in einem Sachverhalt nach dem Verstreichen der Umsetzungsfrist dieser Richtlinie findet, aufgegeben ist, wenn es die Bestimmungen des nationalen Rechts oder einer innerstaatlichen anerkannten Rechtsprechung anwendet, sie so auszulegen, dass sie Anwendung finden können in Übereinstimmung mit den Zielen der Richtlinie“.105

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Ein Überblick über die Wirkungen der richtlinienkonformen Auslegung im französischen Recht lässt sich gewinnen, wenn man die in der deutschen Dogmatik übliche Unterscheidung der Vorwirkung, Sperrwirkung und Korrekturwirkung auch auf die französische Rechtsprechung überträgt. Als häufigster Anwendungsfall der richtlinienkonformen Auslegung erscheint dann die Sperrwirkung, d.h. die Verhinderung einer der Richtlinie entgegenstehenden nationalen Auslegungsvariante. Ein auch in jüngerer Zeit aktuell gebliebenes Beispiel ist die Auslegung des Art. L. 122-12 Abs. 2 Code du travail (C.trav.) im Lichte der Betriebsübergangsrichtlinie106.107 Die nationale Regelung, die als Umsetzungsgesetz der Richtlinie gilt, tatsächlich aber vor der Richtlinie erlassen wurde, bestimmt in Art. L. 122-12 Abs. 2 C.trav.: „Tritt eine Veränderung der rechtlichen Situation des Arbeitgebers ein, vor allem durch Erbschaft, Kauf, Fusion, Übertragung des Geschäftes oder Einbringung in eine Gesellschaft, bestehen alle im Moment der Veränderung laufenden Arbeitsverträge zwischen dem neuen Ar-

104 Cass. com. v. 24.6.2008, Bull. civ. Nr. 128. 105 „Attendu qu’il incombe au juge saisi d’un litige entrant dans le domaine d’application d’une Directive et trouvant son origine dans des faits postérieurs à l’expiration du délai de transposition de cette dernière, lorsqu’il applique les dispositions du droit national ou une jurisprudence interne établie, de les interpréter d’une manière telle qu’elles puissent recevoir une application conforme aux objectifs de la Directive (arrêt de la Cour de justice des Communautés européennes C-456/98 Centrosteel, point 17)“. 106 Richtlinie 77/187/EWG des Rates v. 14.2.1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen, ABl. 1977 L 61/26, geändert durch Richtlinie 98/50/EG des Rates v. 29.6.1998 zur Änderung der Richtlinie 77/187/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen, ABl. 1998 L 201/88. S.a. die Neukodifikation in Richtlinie 2001/23/EG des Rates v. 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmensoder Betriebsteilen, ABl. 2001 L 82/16. 107 Vgl. dazu bereits Babusiaux, Die richtlinienkonforme Auslegung (2007), S. 78–82.

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beitgeber und dem Personal des Betriebes fort.“108 Aufgrund des noch über die Betriebsübergangsrichtlinie hinausgehenden Wortlautes der Vorschrift war die Rechtsprechung immer wieder versucht, den Anwendungsbereich einzuschränken. Diesen Versuchen hat die Cour de cassation, die 1990 erstmals das Verhältnis zur Richtlinie untersucht hat, regelmäßig unter Hinweis auf die Richtlinie eine Abfuhr erteilt. So hat sie unter Berufung auf die Richtlinie 77/197/EG das zusätzliche und zunächst von ihr selbst eingeführte Kriterium, nach dem zwischen früherem Arbeitgeber und Betriebsübernehmer eine „rechtliche Verbindung“ (un lien de droit) zu verlangen ist109, aufgegeben. Weiter hat die Cour de cassation, gestützt auf die Betriebsübergangsrichtlinie in der Fassung von 1998 den Betriebsübergang und damit die Anwendung von Art. L. 122-12 Abs. 2 C.trav., auch im Rahmen eines Insolvenzverfahrens für möglich gehalten, sofern dieses zu einem Verkauf der Betriebseinheit und zu einer Übernahme der Beschäftigten durch einen neuen Betriebsleiter geführt habe.110 Letztlich hat das oberste Zivilgericht die Richtlinie und damit Art. L. 122-12 Abs. 2 C.trav. auch dann zur Anwendung gebracht, wenn der neue Arbeitgeber die öffentliche Hand ist, solange die ursprünglich privatrechtlichen Arbeitsverträge noch nicht in ein öffentlichrechtliches Anstellungsverhältnis überführt wurden.111 Gerade die Zulassung des arbeitsrechtlichen Privilegs auch gegenüber öffentlichen Arbeitgebern ist dabei weniger ein Problem der Auslegung des ohnehin weit geratenen Art. L. 122-12 Abs. 2

108 Art. L. 122-12 Abs. 2 C.trav.: S’il survient une modification dans la situation juridique de l’employeur, notamment par succession, vente, fusion, transformation du fonds, mise en société, tous les contrats de travail en cours au jour de la modification subsistent entre le nouvel employeur et le personnel de l’entreprise. 109 Cass. Ass. v. 16.3.1990, Rec. Dalloz 1990 S. 305 f.: „Unter der Erwägung, dass die Art. 1 und 3 der Richtlinie vom 14.2.1977 des Rates der Europäischen Gemeinschaften und Art. L. 122-12, Abs. 2 C. trav. selbst bei Fehlen einer rechtlichen Verbindung zwischen den nachfolgenden Arbeitgebern auf jeden Übergang einer wirtschaftlichen Einheit Anwendung finden, die ihre Identität behält und deren Tätigkeit fortgeführt oder übernommen wird.“ („Attendu que les art. 1er et 3 de la directive du 14 févr. 1977 du Conseil des communautés européennes et L. 122-12, al. 2 C.trav. s’appliquent même en l’absence d’un lien de droit entre les employeurs successifs, à tout transfert d’une entité économique conservant son identité et dont l’activité est poursuivie ou reprise“). 110 Cass. soc. v. 28.3.2006, Bull. civ. Nr. 124: „Unter Beachtung der Art. 1, 2, und 3 der Richtlinie 77/187/EG vom 14.2.1977, modifiziert durch die Richtlinie 98/50/EG vom 29.6.1998, die auf den Rechtsstreit anwendbar ist, in Zusammenschau mit Art. L. 122-12 Abs. 2 C.trav. Unter Berücksichtigung, dass die Richtlinie nach ihrem Art. 1 Anwendung findet auf jeden Betriebs- oder Einrichtungsübergang oder eines Teils des Betriebes oder der Einrichtung auf einen anderen Arbeitgeber, die auf einer vertraglichen Übertragung oder einer Fusion beruhen.“ („Vu les articles 1er, 2 et 3 de la directive n° 77/187/CEE du 14 février 1977, modifiée par la directive n° 98/50/CEE du 29 juin 1998, applicable au litige, ensemble l’article L. 122-12, alinéa 2, du Code du travail. (…) Attendu (…) que, selon son article 1er, la directive (…) est applicable à tout transfert d’entreprise, d’établissement ou de partie d’entreprise ou d’établissement à un autre employeur résultant d’une cession conventionnelle ou d’une fusion (…)“.) 111 Cass. soc. v. 23.11.2005, Comité départemental de la Haute-Garonne de développement économique, Bull. civ. Nr. 339 und Cass. soc. v. 12.6.2007, Chambre de Commerce et d’Industrie du Var, Bull. civ. Nr. 96. Ulrike Babusiaux

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C.trav., als eine Lösung der Kollision zwischen Richtlinie und dem zum Prinzip erhobenen Grundsatz der Trennung von Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. dazu oben Rn. 20). Da derartige supralegale Prinzipien die Gesetzesauslegung lenken, kann es nicht überraschen, dass die Gegner der weiten Anwendung des Art. L. 122-12 Abs. 2 C.trav. sich gerade auf dieses Prinzip beriefen, indem sie ausführten, die Angestellten einer öffentlichen Einrichtung unterstünden der Verwaltungsgerichtsbarkeit und nicht den ordentlichen Gerichten. Die Cour de cassation gab dem Appellationshof indes recht: „Aber unter der Erwägung, dass, auch wenn die Bestimmungen des Art. L. 122-12 Abs. 2 C.trav., wie sie im Lichte der [Betriebsübergangs-]Richtlinie 98/50/EG auszulegen sind, die Aufrechterhaltung der laufenden Arbeitsverträge auch für den Fall auferlegen, dass die übertragene wirtschaftliche Einheit einen verwaltungsrechtlichen Gemeindienst darstellt, dessen Bewirtschaftung bis hierher in privater Form erfolgt ist, und von einer juristischen Person des öffentlichen Rechts übernommen wird, die normalerweise mit ihrem Personal öffentlichrechtliche Bindungen eingeht, sie [diese Bestimmungen] dennoch nicht dazu führen, die Rechtsnatur der fraglichen Arbeitsverträge zu verändern, die vielmehr Verträge des Privatrechts bleiben, solange, wie der neue öffentlichrechtliche Arbeitgeber die Angestellten nicht dem öffentlichen Recht unterstellt hat. Und [unter der Erwägung] dass hieraus folgt, dass die ordentlichen Gerichte allein zuständig sind, um über die Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, die aus der Beendigung der Arbeitsverträge entstehen (…).“112 Mit dieser Begründung sperrt die Richtlinie eine ansonsten im Sinne der Gewaltenteilung sogar gebotene nationale Auslegungsalternative. Dadurch dass Art. L. 122-12 Abs. 2 C.trav. nach der Auslegung der Cour de cassation mit der Richtlinie und damit mit dem Gemeinschaftsrecht übereinstimmt, hat nämlich die arbeitsrechtliche Vorschrift Teil am Vorrang des Gemeinschaftsrechts und setzt sich daher gegenüber dem von den Gesetzen der Republik anerkannten Prinzip der Gewaltenteilung durch.

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Keine Beispiele finden sich in Frankreich für die (echte) Vorwirkung und die Korrekturwirkung der Richtlinie. Beides lässt sich aus der Tradition der theoretisch strengen Unterordnung der Gerichte unter das Gesetz erklären. Berücksichtigt das Gericht eine Richtlinie vor Ablauf der Umsetzungsfrist (echte Vorwirkung), greift es in die Entscheidungsprärogative des nationalen Gesetzgebers ein und zwar unabhängig davon, ob letzterer schon mit Umsetzungsakten begonnen hat oder z.B. überhaupt keine Umsetzung anstrebt.113 Eine analoge Überlegung dürfte das – aus deutscher 112 „Mais attendu que si les dispositions de l’article L. 122-12, alinéa 2, du code du travail, interprétées à la lumière de la directive n° 98/50/CEE, imposent le maintien des contrats de travail en cours y compris dans le cas où l’entité économique transférée constitue un service public administratif dont la gestion, jusqu’ici assurée par une personne privée, est reprise par une personne morale de droit public normalement liée à son personnel par des rapports de droit public, elles n’ont pas pour effet de transformer la nature juridique des contrats de travail en cause, qui demeurent des contrats de droit privé tant que le nouvel employeur public n’a pas placé les salariés dans un régime de droit public; qu’il s’ensuit que le juge judiciaire est seul compétent pour statuer sur les litiges nés de la rupture des contrats de travail (…)“. 113 Eine Sperrwirkung von Gesetzgebungsverfahren kennt die französische Dogmatik nicht, vgl. Babusiaux, Die richtlinienkonforme Auslegung (2007), S. 97 mwN.

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Sicht überraschende – Fehlen der Korrekturwirkung erklären, die die Kontrolle der Umsetzungsgesetze durch die Gerichte beschreibt.114 Nach Gény ist die Freiheit des Richters gegenüber dem Gesetz umso größer, je veralteter es ist und nicht mehr den sozialen Anforderungen im Anwendungszeitpunkt entspricht.115 Dagegen haben die Gerichte gegenüber dem zeitgenössischen Gesetzgeber Zurückhaltung zu üben und sind regelmäßig auf die interprétation intrinsèque beschränkt.116 In diesem Rahmen kann die Richtlinie zwar als Motiv des Gesetzgebers berücksichtigt werden, etwa in dem Sinne, der Gesetzgeber habe richtlinienkonform umsetzen wollen. Damit verbunden ist aber oftmals die Vorstellung, die Richtlinie sei durch das Umsetzungsgesetz „absorbiert“ (absorption), so dass dem Rückgriff der Gerichte auf die umgesetzte Richtlinie auch normtechnische Gründe entgegenstehen.117 Nimmt man die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel hinzu, nach der die Umsetzung einer Richtlinie in nationales Gesetzesrecht eine verfassungsrechtliche Pflicht darstellt (vgl. oben Rn. 12), die allein das Verfassungsrecht kontrolliert, scheint hier zudem ein letzter Rest der Lehre vom Gesetzesschirm (théorie de la loi-écran, vgl. oben Rn. 13) fortzuleben. Danach bleibt es den Fachgerichten versagt, über das Gesetz hinaus die Verfassung bzw. die Richtlinie heranzuziehen, um die Tätigkeit des Gesetzgebers zu untersuchen. Dies wird auch die Einführung der konkreten Normenkontrolle durch Art. 61-1 Const. nicht ändern, denn offenbar ist die Verpflichtung aus Art. 88-1 Const. zur Umsetzung der Richtlinie kein Recht des Bürgers, das die Gerichte zur Vorlage an das Verfassungsgericht berechtigt.118 Umgekehrt eröffnet sich für die Gerichte ein weiter Bereich der Rechtsfortbildung aufgrund einer Richtlinie, wenn der Gesetzgeber noch nicht oder noch nicht erfolgreich tätig geworden ist. c)

Das Gemeinschaftsrecht als Inspirationsquelle der Rechtsfortbildung

Die richterliche Rechtsschöpfung aufgrund einer (nicht-umgesetzten) Richtlinie bereitet den Gerichten keine besonderen methodologischen Schwierigkeiten, ist die Richtlinie doch eine der nicht-gesetzlichen Rechtsquellen, die der Richter im Rahmen der zweistufigen Rechtsanwendung nach Art. 4 C.civ. bei Schweigen, Unvollständigkeit oder Mehrdeutigkeit des Gesetzes heranziehen kann und muss, um einen Rechtsstreit zu entscheiden (vgl. oben Rn. 3). Da die Richtlinie selbst zwischen Privaten keine unmittelbare Anwendung findet, muss der Richter zusätzlich eine taugliche Norm des nationalen Rechts auswählen, die – wie bei der richtlinienkonformen Aus-

114 Vgl. Babusiaux, Die richtlinienkonforme Auslegung (2007), S. 74 f. 115 Gény, Méthode d’interprétation et sources en droit privé positif (2. Aufl. 1919), Bd. 1, S. 117–123. 116 Zur Hochachtung der Gerichte gegenüber dem aktuellen Gesetzgeber vgl. nur Carbonnier, Droit civil I (2004), S. 307 f. 117 Dies ist im Einzelnen umstritten. Für Absorption: Larroumet, Petites Affiches v. 28.12.1998, 3–7; zweifelnd Calais-Auloy, Rec. Dalloz 2002 Chron., S. 2459. Von Fortbestand ausgehend Sauron, L’application du droit de l’Union européenne en France (1995), S. 56. 118 So etwa Mathieu, Petites Affiches v. 25.6.2009, 18–24. Ulrike Babusiaux

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legung im engen Sinne – die von der Richtlinie verlangte Rechtsfolge trägt.119 Auch dies ist aber keine Besonderheit der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsanwendung, sondern findet seine Entsprechung in Vorschriften des nationalen Rechts, die sich entweder wie Auslegungsgesetzte (lois interprétatives)120 auf die Ausdeutung einer bestehenden Vorschrift beschränken oder die wie innerdienstliche Anweisungen (circulaires) an sich keinen Regelungsgehalt haben, aber die Auslegung eines Gesetzes bestimmen können.121 Von daher überrascht es nicht, dass die richtliniengestützte Rechtsfortbildung als methodisches Problem kaum Beachtung findet.

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Große Aufmerksamkeit hat dagegen in Frankreich die Rechtsschöpfung der Cour de cassation auf Grundlage der Produkthaftungsrichtlinie122 erhalten. Dies beruht nicht nur auf der rechtspolitischen Bedeutung dieser Rechtsprechung, sondern auch auf der weitgehenden Freiheit, die sich die Cour de cassation in methodischer Hinsicht zuerkannt hat. Hintergrund der von der Richtlinie inspirierten Rechtsprechung (jurisprudence inspirée par la directive) ist die um fast zehn Jahre verspätete Umsetzung der Produkthaftungsrichtlinie durch den französischen Gesetzgeber. Seit dem Ablauf der Umsetzungsfrist (30. Juli 1988) und bis zum Inkrafttreten der neu geschaffenen Art. 1386-1 bis 1386-18 C.civ. (Gesetz vom 19. Mai 1998) hat die Cour de cassation die dadurch entstandene Lücke zwischen Richtlinie und Gesetz durch Rechtsfortbildung geschlossen. Grundlegend ist eine Entscheidung der ersten Zivilkammer vom 9. Juli 1996, die eine bis dato fehlende Haftung für fehlerhafte Produkte123 gestützt auf die Richtlinie statuiert124: „In Anbetracht der Art. 1147 und 1384 Abs. 1 C.civ., ausgelegt im Lichte der [Produkthaftungs-]Richtline 85/374/EG vom 24. Juli 1985: Unter Berücksichtigung, dass jeder Hersteller für den Schaden haftet, den die Fehlerhaftigkeit seines Produktes verursacht hat, sowohl mit Blick auf die unmittelbar Ge-

119 Diese Bedingung folgt auch aus dem Verbot des Art. 5 C.civ., allgemeine Regelungen zu schaffen. Vgl. bereits Gény, Méthode d’interprétation et sources en droit privé positif (2. Aufl. 1919), S. 147 f.; allgemein Ghestin/Goubeaux/Fabre-Magnan, Droit civil. Introduction générale (4. Aufl. 1994), Rn. 473 und Rn. 534. 120 Zur in Frankreich weit verbreiteten Praxis der Auslegungsgesetze vgl. nur Bach, in: Rép. droit civil, s.v. lois et décrets (2004) Nr. 267 f. und Nr. 324 mwN. 121 Zur Wirksamkeit derartiger Verwaltungsvorschriften vgl. nur Sonnenberger/Autexier, Einführung in das französische Recht (3. Aufl. 2000), Rn. 54. 122 Richtlinie 85/374/EWG des Rates v. 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. 1985 L 210/29. 123 Vorläufer sind Cass. civ. v. 11.6.1991, Bull. civ. Nr. 201. Weitere Nachweise bei CalaisAuloy, Rec. Dalloz 2002 Chron., S. 2458, Fn. 1 sowie Rechtsprechungsübersicht bei Sargos, JCP 1998, II 10049, 599 f.; Viney, La réception du droit communautaire en droit français et la responsabilité délictuelle et contractuelle, in: Bergé/Niboyet (Hrsg.), La réception du droit communautaire en droit privé des États membres (2003), S. 100: „Cette notion de défaut de sécurité est donc une innovation incontestable apportée au droit français par la directive du 25 juillet 1985.“ 124 Cass. 1re civ. v. 9.7.1996, Bull. civ. I Nr. 304, dazu Leveneur, RTD civ. 1997, 146. Im zitierten Urteil lehnt die Cour de cassation eine richtlinienkonforme Auslegung noch ab, weil die Richtlinie dem nationalen Gesetzgeber hinsichtlich der in Frage stehenden Entwicklungsfehler einen Entscheidungsspielraum belassen habe.

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schädigten als auch die mittelbar Geschädigten, ohne dass danach zu unterscheiden ist, ob sie Vertragspartei oder Dritte sind“. Dadurch dass die Cour de cassation die Produkthaftung als Haftungsregime etabliert, das sowohl auf die Vertragshaftung (Art. 1147 C.civ.) als auch auf die Deliktshaftung (Art. 1384 Abs. 1 C.civ.) zurückgreift, bricht das Gericht in eklatanter Weise mit dem bis dato geltenden Recht, das streng zwischen Vertrags- und Deliktshaftung unterschied.125 Sowohl aus rechtspolitischer als auch rechtsdogmatischer Sicht war freilich eine Überwindung dieses Gegensatzes im Anwendungsbereich der Richtlinie notwendig: Rechtspolitisch war die strenge Scheidung beider Haftungssysteme hinderlich, um Ansprüche der Angehörigen der durch den Blutprodukteskandal Geschädigten zu begründen. Rechtsdogmatisch, d.h. aus Sicht der Richtlinie, war die Unterscheidung auch hinfällig, denn die Produkthaftung bildet gerade einen Haftungsgrund, der die strenge Scheidung von Vertrag und Delikt überwindet und allein an die Sicherheit des Produktes anknüpft. Das Zitat einer nach nationalem Recht an sich unvereinbaren Kombination zweier Vorschriften belegt damit umso deutlicher, dass das nationale Recht hier nur die Hülle ist, um den Zweck der Richtlinie, die Produkthaftung, durchzusetzen: Nur die Rechtsfolgen stammen aus dem Vertrags- bzw. Deliktsrecht; die Voraussetzungen der Haftung bestimmt dagegen die Richtlinie.126 Angesichts der völligen Entleerung der von der nationalen Norm verlangten Voraussetzungen ist hier wohl trotz der formalen Anknüpfung an eine gesetzliche Vorschrift auch nach französischer Vorstellung die Grenze zur création du droit überschritten.127 Dass diese nicht auf die rechtspolitisch dringende Haftung für verseuchte Blutprodukte und Wachstumshormone128 125 Cass. 1re civ. v. 28.4.1998, JCP 1998, II 10088: „Vu les articles 1147 et 1384, alinéa premier, du Code civil, interprétés à la lumière de la Directive CEE n° 85/374 du 24 juillet 1985; Attendu que tout producteur est responsable des dommages causés par un défaut de son produit, tant à l’égard des victimes immédiates que des victimes par ricochet, sans qu’il y ait lieu de distinguer selon qu’elles ont la qualité de partie contractante ou de tiers.“. 126 Die Richtigkeit dieser Analyse zeigt die Entscheidung Cass. 1re civ. v. 24.1.2006, Bull. civ. Nr. 33. Dort führt die Cour de cassation mit Blick auf das Verhältnis von Art. 1147 C. civ. und der Produkthaftungsrichtlinie aus: „Angesichts des Art. 1147 C. civ. wie er im Lichte des Art. 6 der RL 85/374 ausgelegt wird: Unter Berücksichtigung, dass nach dem Wortlaut des ersten der beiden oben genannten Texte, der Schuldner der Verpflichtung für die Nichterfüllung der Pflicht haftet, wenn er nicht beweist, dass die Nichterfüllung derselben auf einer fremden Ursache beruht; dass, nach der Interpretation dieses Textes, wie sie vom zweiten [sc. der Richtlinie] befohlen wird …“ („Vu l’article 1147 du Code civil, interprété à la lumière de l’article 6 de la directive n° 85-374 (…). Attendu qu’aux termes du premier des textes susvisés, dès lors qu’il ne justifie pas que l’inexécution provient d’une cause étrangère (…) le débiteur de l’obligation est responsable de l’inexécution de celle-ci, (…) que, selon l’interprétation de ce texte, commandée par le second …“). 127 Hierauf hat auch der Berichterstatter (conseiller) der Cour de cassation im fraglichen Verfahren, Sargos, in seinem rapport (JCP 1998, II 10088, 983) hingewiesen. Er spricht davon, die erste Zivilkammer habe die Möglichkeit, Art. 1147 C. civ. und Art. 1384 Abs. 1 C. civ. im Lichte der Richtlinie auszulegen, wobei er einräumt, man könne geneigt sein, den Ausdruck „mit neuem Inhalt füllen“ anstelle von „auslegen“ zu verwenden: „interpréter (on serait tenter d’employer l’expression ‚relire‘) nos (…) articles 1147 et 1384, alinéa premier, du Code civil, à la lumière de la directive?“ 128 Cass. 1re civ. v. 24.1.2006, Bull. civ. Nr. 34. Ulrike Babusiaux

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beschränkt war, zeigen die neuesten Anwendungen der Rechtsprechung auf Impfschäden129 und Nebenwirkungen von Medikamenten130, aber auch für die Fehlerhaftigkeit eines an ein Krankenhaus gelieferten Stromaggregates131. Gemeinsam ist den hier entschiedenen Fällen, dass das schadenstiftende Inverkehrbringen des Produktes in der Zeit zwischen dem Ablaufen der Umsetzungsfrist (30. Juli 1988) und dem Umsetzungsgesetz vom 19. Mai 1998 liegt. Alle nach diesem Zeitpunkt entstandenen Produktschäden unterliegen, wie die Cour de cassation kürzlich klarstellte132, dem neuen Gesetz. Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung war demnach nur eine Übergangslösung, um den in Art. 4 C.civ. wie vom Gemeinschaftsrecht geforderten Rechtsschutz durchzusetzen. Nachdem der Gesetzgeber selbst tätig geworden ist, beschränkt sich die richterliche Tätigkeit wieder auf die Gesetzesanwendung.

IV. 32

Zusammenfassung und vergleichende Bemerkungen

Fasst man die Ergebnisse der französischen Methodendiskussion noch einmal zusammen, so bestätigt sich die Behauptung eines grundlegenden Wandels der richterlichen Funktion durch das Gemeinschaftsrecht. Während das traditionelle Verständnis die Gerichte auf die Gesetzesanwendung reduziert, versetzt das Gemeinschaftsrecht die Gerichte in die Lage, die Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht zu prüfen und bei einem Verstoß unangewendet zu lassen. Auch gegenüber der Verwaltung hat das Gemeinschaftsrecht die Befugnisse der dritten Gewalt gestärkt. Vor allem aber eröffnet die Pflicht, das Gemeinschaftsrecht vorrangig anzuwenden und das nationale Recht am Gemeinschaftsrecht auszulegen, dem Richter neue Entscheidungswege und Argumentationsmöglichkeiten, die auch das Verhältnis zu den Parteien grundlegend verändert haben. Der ehemalige Präsident der Cour de cassation, Guy Canivet, hat die Entwicklung daher zu Recht so bewertet: „Es scheint mir in der Tat der wichtigste Beitrag des Gemeinschaftsrechts zu sein, dass es den französischen Zivilrichter von einer vollständigen Unterwerfung unter sein nationales Gesetz befreit hat, und dass es dazu beigetragen hat, die Isolierung des Richters in der nationalen Rechtsordnung aufzubrechen, indem es ihm neue Instrumente, Aussichten und Ziele geliefert hat. Für den französischen Richter war das Gemeinschaftsrecht ein Befreier.“133 129 Cass. 1re civ. v. 24.1.2006, Bull. civ. Nr. 33; Cass. 1re civ. v. 22.5.2008, Bull. civ. Nr. 149; Cass. 1re civ. v. 19.3.2009, pourvoi Nr. 08-10.143 (unveröff.). 130 Cass. 1re civ. v. 15.5.2007, Bull. civ. Nr. 185. 131 Die Fehlerhaftigkeit eines Stromaggregates führt zu Brand im Krankenhaus: Cass. com. v. 24.6.2008, Bull. civ. Nr. 128. Vorlagebeschluss an den EuGH mit der Frage, ob die Richtlinie einer Auslegung entgegensteht, bei der nicht nur private Schäden, sondern auch Schäden, die durch ein fehlerhaftes Produkt im Rahmen einer wirtschaftlichen oder beruflichen Nutzung entstehen, ersetzt werden. 132 Vgl. nur Cass. 1re civ. v. 15.5.2007, Bull. civ. Nr. 186. 133 Vgl. v.a. Canivet, in: D. Simon, Le droit communautaire et les métamorphoses du droit (2003), S. 82: „Il me semble, en effet, que l’apport majeur du droit communautaire a été de libérer le juge judiciaire français d’une totale subordination à sa propre loi, qu’il a contribué à rompre son isolement dans son ordre interne, en lui fournissant les outils, les horizons et des ambitions nouveaux : pour le juge français, le droit communautaire a été émancipateur.“

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§ 24 Frankreich

Aus deutscher Sicht ist die Anpassungsfähigkeit der französischen Rechtsanwendung hervorzuheben, die auf viele theoretische Korsette verzichtet. Dadurch dass sich die französische Dogmatik auf die Rechtsquellenfrage beschränkt und den Vorgang der Gesetzesauslegung und der Subsumtion als selbstverständliche richterliche Handhabe voraussetzt, bleiben viele Abstimmungsfragen, die das Zusammentreffen von nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht aufwirft, in der souveränen Hand der Gerichte. Die Doktrin dagegen öffnet den Blick auf die größeren Entwicklungslinien und Entwicklungschancen, die das Gemeinschaftsrecht und die europäische Rechtsangleichung für die eigene Rechtsordnung bieten. Trotz der abweichenden historischen Entwicklung des richterlichen Selbstverständnisses in Deutschland könnte diese Perspektive auch die deutsche Methodendiskussion zu neuen Erkenntnissen führen. Umgekehrt ist für Frankreich zu erwarten, dass durch die wachsende Konstitutionalisierung des Privat- und Prozessrechts die traditionell großen Spielräume der Höchstgerichte in Zukunft schrumpfen. Insoweit könnte Frankreich mit Gewinn auf die weiter fortgeschrittene deutsche Diskussion der Europäischen Methoden zurückgreifen. François Génys Werk gibt einen Eindruck davon, wie fruchtbar und nachhaltig ein derartiger Blick über die Grenze für die eigene Wissenschaft sein kann.

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§ 25 Vereinigtes Königreich Michael Schillig

Übersicht I. Vorbemerkung

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II. Fallrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vertikale und horizontale Dimension der Präjudizienbindung . . . 2. Methodik des Fallrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsschöpfung durch die Gerichte? . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rn. 1–2

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3–11 4–5 6–9 10–11

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12–21 13–16 17–19 20–21

IV. Innerstaatlicher Anwendungsbefehl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22–23

V. Europäisches Privatrecht und nationale Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Auslegung Europäischen Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorlagepraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24–31 25–27 28–31

III. Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die klassische Auslegung nach dem Wortlaut 2. Die moderne Auslegung nach Sinn und Zweck 3. Auslegung und Präjudizienbindung . . . . . .

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VI. Richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts . . . . 1. Spezifisches Umsetzungsrecht . . . . . . . . . . . . . . 2. Sonstiges Recht im Anwendungsbereich einer Richtlinie 3. Common law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Überschießende Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . 5. Vorwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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32–50 35–38 39–43 44–46 47–48 49–50

VII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51–52

Literatur: Stefan Arnold/Hannes Unberath, Die Umsetzung der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf in England, ZEuP 2004, 366–385; John Hamilton Baker, An Introduction to English Legal History (4. Aufl. 2002); Zenon Bankowski/D. Neil MacCormick, Statutory Interpretation in the United Kingdom, in: D. Neil MacCormick/Robert S. Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes: a comparative study (1991), S. 359–406; Hugh Collins, Social Rights, General Clauses and the Acquis Communautaire, in: Stefan Grundmann/Denis Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards in European Contract Law (2006), S. 111–140; Paul P. Craig, Britain in the European Union, in: Jeffrey Jowell/Dawn Oliver (Hrsg.), The Changing Constitution (6. Aufl. 2007), S. 84–107; Paul P. Craig, Indirect Effect of Directives in the Application of National Legislation, in: Mads Andenas/Francis Jacobs (Hrsg.), European Community Law in the English Courts (1998), S. 37–55; Paul Craig/Gráinne de Búrca, EU Law: Text, Cases and Materials (4. Aufl. 2008); Rupert Cross/John Bell/George Engle, Statutory Interpretation (3. Aufl. 1995); Rupert Cross/James W. Harris, Precedent in English Law (4. Aufl. 1991); Paul L. Davies, Gower

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§ 25 Vereinigtes Königreich and Davies’ Principles of Modern Company Law (8. Aufl. 2008); Gráinne de Bùrca, Giving Effect to European Community Directives, MLR 55 (1992), 215–240; John Fairhurst, Law of the European Union (5. Aufl. 2010); Roy Goode, Commercial Law (3. Aufl. 2004); Trevor Hartley, The Foundations of European Community Law (6. Aufl. 2007); Ian McLeod, Legal Method (7. Aufl. 2009); Michael Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht (2009); Hans Schulte-Nölke/Christian Twigg-Flesner/Martin Ebers (Hrsg.), Consumer Law Compendium (2008); Robin White/Ian D. Willock, The Scottish Legal System (3. Aufl. 2003); Michael Zander, The Law-Making Process (6. Aufl. 2004). Rechtsprechung: Home Office v Dorset Yacht Co. [1970] A.C. 1004; H.P.Bulmer Ltd v J.Bollinger S.A. [1974] Ch. 401; R. v Henn and Darby (1978) 2 CMLR 688; R. v Henn and Darby [1981] A.C. 850; Phonogram Ltd. v Lane [1982] 1 Q.B. 938; Garland v British Rail Engineering Ltd. [1983] 2 A.C. 751; Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618; Pickstone v Freemans Plc. [1989] 1 A.C. 66; Litster v. Forth Dry Dock & Engineering Co Ltd. [1990] 1 A.C. 546; Cotronic (UK) Ltd. v Dezonie [1991] B.C.C. 200; R v Secretary of State for Transport, Ex parte Factortame Ltd. [1990] 2 A.C. 85; R v Secretary of State for Transport, Ex parte Factortame Ltd. (No. 2) [1991] 1 A.C. 603; Pepper Hart [1993] 1 All E.R. 42; Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd. [1993] 1 W.L.R. 49; Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd. (No 2) [1995] 1 W.L.R. 1454; Kleinwort Benson Ltd. Lincoln City Council [1999] 2 A.C. 349; Director General of Fair Trading v First National Bank plc [2002] 1 A.C. 481; Thoburn v Sunderland City Council [2003] Q.B. 151; R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37; OFT v Abbey National plc and others [2009] EWCA Civ 116; [2009] UKSC 6.

I.

Vorbemerkung

Das „Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland“ als Völkerrechtssubjekt beherbergt bekanntermaßen unter einem Dach drei Rechtsysteme mit je eigenständiger Gerichtsorganisation und teilweise eigenständigem materiellen Recht.1 Insoweit ist zwischen englischem, schottischem und nordirischem Recht zu unterscheiden. Soweit sich Gesetzgebung auf Großbritannien (England und Wales, Schottland) oder das gesamte Vereinigte Königreich erstreckt, kann man daneben von britischem Recht bzw. dem Recht des Vereinigten Königreichs sprechen.2 Im Bereich des privaten Handels- und Wirtschaftsrechts kommt dem englischen Recht eine dominierende Rolle zu. So orientieren sich bereits seit dem 19. Jahrhundert auch schottische und nordirische Juristen und Richter in großem Umfang an englischen Entscheidungen und literarischen Expositionen, die allein schon wegen ihrer größeren Anzahl oftmals leichter und schneller zugänglich waren, als schottische oder irische Texte.3 Die einheitliche privat- und wirtschaftsrechtliche Gesetzgebung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts4 hat diese Tendenz noch verstärkt.5

1 Nicht zum Vereinigten Königreich gehören die Kanalinseln, einschließlich Jersey und Guernsey, und die Isle of Man. 2 White/Willock, The Scottish Legal System, S. 38. 3 White/Willock, The Scottish Legal System, S. 32. 4 Vgl. etwa Companies Act 1865; Partnership Act 1890, Bills of Exchange Act 1882; Bankruptcy Act 1883; Sale of Goods Act 1893. 5 White/Willock, The Scottish Legal System, S. 32. Michael Schillig

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1

3. Teil: Besonderer Teil

2

Im Folgenden ist zunächst die Methodenlehre nach englischem Recht zu skizzieren. Die Beschränkung – insoweit – auf das englische Recht ist wegen des dominierenden Einflusses englischen Rechtsdenkens auf die übrigen Rechtsordnungen des Vereinigten Königreichs gerechtfertigt und aus Gründen der Präzision geboten.6 Zu unterscheiden ist dabei zwischen Fallrecht (II.) und Gesetzesrecht (III.). Die kontinentalen Methodenlehren, ebenso wie diejenige des Gerichtshofs, verzichten bislang weitgehend auf eine entwickelte Fallrechtsmethode. Hier könnte das englische Recht wichtige Anhaltspunkte für die Entwicklung einer pan-europäischen Methodenlehre liefern. Im Hinblick auf das Gesetzesrecht waren die hergebrachten Methoden im Lichte des Europarechts zu modifizieren. Die Grundlage hierfür bildet, vermittelt durch den Verfassungsgrundsatz der Parlamentssouveränität, der innerstaatliche Anwendungsbefehl (IV.), mit dem die europäische Rechtsordnung in das nationale Recht überführt wird. Daraus ergeben sich die Anwendung der Methoden des Gerichtshofs durch nationale Gerichte bei der Auslegung Europäischen Privatrechts (V.) ebenso wie Umfang und Grenzen einer richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts (VI.).

II. 3

Fallrecht

Während die Entwicklung des common law7 von Anbeginn auf real entschiedenen Fällen basierte, ist die Präjudizienbindung im engeren Sinne (doctrine of binding precedent, stare decisis bzw. stare rationibus decidendis) 8 dahingehend, dass selbst fehler-

6 Freilich dürfte dabei meist Gleiches oder Ähnliches auch für die übrigen Rechtsordnungen gelten. 7 Der Begriff common law ist mehrdeutig und gewinnt seine Bedeutung im Zusammenhang mit dem jeweiligen Gegenbegriff, von dem er abzugrenzen ist. In seiner weitesten Bedeutung meint common law all diejenigen Rechtssysteme, die aus dem englischen Recht hervorgegangen sind und traditionell überwiegend auf Fallrecht beruhen. Der Begriff dient hier der Abgrenzung zu auf dem römischen Recht basierenden kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen, die dem Kodifikationsgedanken verpflichtet sind (civil law). Innerhalb des englischen Rechtssystems lässt sich common law weiterhin vom statutory law unterscheiden. In diesem Zusammenhang meint common law das in Gerichtsentscheidungen enthaltene Fallrecht, im Gegensatz zu dem durch Gesetz und Verordnung gesetzten Recht. Und schließlich ist common law noch von equity abzugrenzen. Die Unterscheidung hat historische Gründe: das strenge, auf dem writ-System basierende common law entwickelte sich in den königlichen Gerichten, während die der Billigkeit verpflichtete equity durch den Lord Chancellor ausgeübt wurde. Hieraus entwickelten sich zwei unterschiedliche Rechtssysteme mit je eigenem Prozessrecht, eigener Gerichtsorganisation und eigenem materiellem Recht. Erst seit den Judicature Acts von 1873 und 1875 sind beide Gerichtszweige vereinigt. In materieller Hinsicht bleibt die Unterscheidung aber bedeutsam. Vgl. zum ganzen McLeod, Legal Method, S. 26. In diesem Abschnitt ist common law im zweiten Sinne, als Fallrecht, zu verstehen. 8 Zander, The Law-Making Process, S. 215. Die Präjudizienbindung ist zu unterscheiden von der res judicata-Doktrin, die das funktionale Äquivalent zur formellen und materiellen Rechtskraft bildet und nur für die Parteien des Ausgangsrechtstreits von Bedeutung ist. Stare decisis dagegen wirkt nicht nur inter partes, sondern erga omnes.

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§ 25 Vereinigtes Königreich

hafte Entscheidungen durch nachfolgende Gerichte wiederholt werden müssen, ein Kind der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.9 Eine wesentliche Ursache war wohl die Einführung eines hierarchisch gegliederten Gerichtssystems,10 bestehend aus High Court of Justice, Court of Appeal und House of Lords in seiner judiziellen (nichtparlamentarischen) Funktion als höchstes Rechtsmittelgericht. Mit Inkrafttreten des Constitutional Reform Act 2005 zum 1. Oktober 2009 wurde ein neuer Supreme Court of the United Kingdom geschaffen, der an die Stelle des House of Lords tritt.11 1.

Vertikale und horizontale Dimension der Präjudizienbindung

Aus dieser hierarchischen Gliederung folgt die vertikale Dimension der Präjudizienbindung. Danach sind die Gerichte niederer Stufe grundsätzlich an Entscheidungen der Gerichte höherer Stufe gebunden.12 Das Verhältnis zwischen House of Lords und Court of Appeal war dabei nicht immer unproblematisch.13 Nach Ansicht des House of Lords verlangt das hierarchisch strukturierte Gerichtssystem jedoch, dass die Gerichte der niederen Stufen, einschließlich des Court of Appeal, die Entscheidungen der höheren Stufen loyal akzeptieren.14

4

Logisch nicht zwingend aus der Gerichtshierarchie ableitbar ist die horizontale Dimension der Präjudizienbindung, wonach Gerichte an eigene frühere Entscheidungen bzw. frühere Entscheidungen der Gerichte gleicher Stufe gebunden sind.15 Für das House of Lords wurde die Frage geklärt 16 durch London Tramways v London County Council 17 aus dem Jahre 1898. Lord Halsbury begründete die Bindungswirkung von Prajudizien mit der desaströsen Rechts- und Planungsunsicherheit die resultieren würde, wenn bereits entschiedene Fragen immer wieder neu aufgerollt werden müssten, ohne dass es je eine endgültige Entscheidung gäbe.18 Allerdings befreite sich das House of Lords von diesen selbstauferlegten Fesseln im Jahre 1966. Nach dem Practice Statement (Judicial Precedent)19 behandelt das House of Lords seine früheren Entscheidungen als grundsätzlich verbindlich, sieht sich jedoch befugt, von einer früheren Entscheidung abzuweichen, soweit es dies für gerechtfertigt hält. Bisher

5

9 Vgl. Bole v Horton (1673) Vaugh. 360, 383; Mirehouse v Rennell (1833) 1 Cl. & Fin. 520, 546. In beiden Entscheidungen wird betont, dass ein nachfolgendes Gericht nur insoweit durch eine frühere Entscheidung gebunden ist, als diese richtig und vernünftig ist. 10 Supreme Court of Judicature Acts 1873 and 1875. Vgl. Baker, An Introduction to English Legal History, S. 200. 11 Vgl. zum Ganzen Slapper/Kelly, The English Legal System (10. Aufl. 2009/10), S. 155. 12 Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich auf das Privatrecht; im Bereich des Strafrechts gelten zum Teil abweichende Grundsätze, vgl. Zander, The Law-Making Process, S. 245 ff. 13 Vgl. Broom v Cassell [1971] 2 Q.B. 354; Schorsch Meir GmbH v Hennin [1975] Q.B. 416. 14 Broome v Cassel (No. 1) [1972] A.C. 1027, 1054 per Lord Hailsham; Milingos v George Frank (Textiles) Ltd [1976] A.C. 443, 472 per Lord Simon of Glaisdale; 495 per Lord Cross. 15 Baker, An Introduction to English Legal History, S. 200. 16 Vgl. jedoch bereits Beamish v Beamish (1861) H.L.C. 274. 17 [1898] A.C. 375. 18 London Tramways v London County Council [1898] A.C. 375, 380 per Lord Halsbury. 19 [1966] 1 W.L.R. 1234 per Lord Gardiner LC. Michael Schillig

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3. Teil: Besonderer Teil

wurde von dieser Befugnis nur sehr sparsam Gebrauch gemacht. Dass eine frühere Entscheidung als falsch bewertet wird, reicht in aller Regel nicht aus, um davon abzugehen.20 Der Court of Appeal entschied in Young v Bristol Aeroplane Co. Ltd.21 im Jahre 1944, dass seine früheren Entscheidungen Bindungswirkung entfalten. Hiervon wurden jedoch drei Ausnahmen anerkannt: (1) zwischen zwei einander widersprechenden früheren Entscheidungen hat der Court of Appeal das Recht und die Pflicht zur Wahl; (2) der Court of Appeal muss von seiner früheren Entscheidung abgehen, soweit diese nach seiner Überzeugung zu einer Entscheidung des House of Lords im Widerspruch steht; (3) die frühere Entscheidung erging per incuriam, d.h. unter Außerachtlassung des relevanten Fall- oder Gesetzesrechts. Ähnliches wie für den Court of Appeal gilt auch für den High Court of Justice, soweit dieser als Rechtsmittelgericht tätig wird (sogenannte Divisional Courts).22 Entscheidungen erstinstanzlicher Gerichte, einschließlich des High Court, sind für diese selbst und gleichstufige Gerichte jedoch nicht normativ verbindlich.23 2.

Methodik des Fallrechts

6

In einem ersten Schritt sind aus dem einschlägigen Fallmaterial diejenigen Fälle herauszufiltern, die entsprechend der obigen Grundsätze für das entscheidende Gericht verbindlich sind und daraus wiederum diejenigen, deren zugrundeliegende Sachverhalte mit dem hic et nunc zu entscheidenden Sachverhalt hinreichende Ähnlichkeit aufweisen.24

7

Auf der Grundlage der einschlägigen Präjudizien ist sodann deren ratio decidendi zu bestimmen.25 Ratio decidendi ist der einzige Teil eines Präjudizes, der normative Bindungswirkung entfalten kann.26 Alles was nicht der ratio decidendi angehört ist per Definition dictum oder obiter dictum, nimmt nicht an der normativen Bindungswirkung teil und kann allenfalls eine mehr oder weniger starke Überzeugungskraft entfalten.27 Die Feststellung der ratio decidendi wird im englischen Schrifttum als äußerst problematisch angesehen. Herrschend dürfte wohl die auf Goodhart zurückgehende Ansicht sein, wonach ratio decidendi bestimmt ist durch diejenigen Tatsachen, die der

20 Vgl. Jones v Secretary of State for Social Services [1972] A.C. 944, 995 per Lord Wilberforce; 996 per Lord Pearce. 21 Young v Bristol Aeroplane Co. Ltd [1944] K.B. 718, 729 per Lord Greene MR. 22 Police Authority for Huddersfield v Watson [1947] K.B. 842. Die Situation ist etwas unklar, vgl. R. v Greater Manchaster Coroner, ex parte Tal [1984] 3 All E.R. 240, wonach ein Divisional Court von einer früheren Entscheidung abweichen kann, soweit er von deren Unrichtigkeit überzeugt ist. 23 Zander, The Law-Making Process, S. 251. 24 Vgl. etwa Hedley Byrne & Co. Ltd. v Heller & Partners Ltd. [1964] A.C. 465, 525 per Lord Devlin. 25 Cross/Harris, Precedent in English Law, S. 192. 26 Zander, The Law-Making Process, S. 268. 27 Zander, The Law-Making Process, S. 268. Dictum meint dabei eine Äußerung, die obwohl nicht Teil der ratio decidendi, gleichwohl mit der zu entscheidenden Sachfrage in (engem) Zusammenhang steht, wohingegen obiter dicta sich in der weiteren Peripherie bewegen.

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§ 25 Vereinigtes Königreich

frühere Richter als maßgeblich angesehen hat und die daran anknüpfende rechtliche Schlussfolgerung.28 Ratio decidendi ist somit diejenige Rechtsregel, die aus der früheren Entscheidung bei Zugrundelegung der maßgeblichen Tatsachen folgt. Jedes nachfolgende Gericht, das der Bindung durch das Präjudiz unterliegt, muss zur gleichen Entscheidung gelangen, es sei denn, im hic et nunc zu entscheidenden Fall liegt eine zusätzliche Tatsache vor, die der jetzige Richter als maßgeblich bewertet, bzw. es fehlt am Vorliegen einer derjenigen Tatsachen, die der frühere Richter als maßgeblich angesehen hat.29 Entscheidend sind somit die Feststellung der maßgeblichen Tatsachen und das Abstraktionsniveau, auf dem diese formuliert werden. Je höher das Abstraktionsniveau, umso größer die Anzahl an möglichen Sachverhaltsgestaltungen, für die die jeweilige ratio decidendi Bindungswirkung entfalten kann. Bei der Herausarbeitung der ratio decidendi ist das einschlägige Präjudiz nicht isoliert, sondern im Kontext sämtlicher relevanter Entscheidungen zu sehen. In ihrer Gesamtheit setzen diese Entscheidungen dem gegenwärtigen Richter bei der Bestimmung des Abstraktionsniveaus und der Formulierung der ratio decidendi gewisse Grenzen, da sich das neue Präjudiz möglichst widerspruchsfrei in eine Kette von Entscheidungen einfügen muss.30 Im Anschluss daran muss das Gericht entscheiden, inwieweit der zu entscheidende Sachverhalt mit den der ratio decidendi zugrunde liegenden maßgeblichen Tatsachen übereinstimmt.31 Mit der Herausarbeitung der ratio decidendi und der Bestimmung des Abstraktionsniveaus der maßgeblichen Tatsachen ist oftmals die eigentliche Wertungsarbeit schon getan. Das Abstraktionsniveau wird in der Weise festgelegt, dass der jetzige Sachverhalt erfasst oder eben nicht erfasst wird. Soweit der Bestimmung der Abstraktionshöhe und der ratio decidendi durch eine etablierte Kette von Entscheidungen Grenzen gesetzt sind, kann gleichwohl im Lichte des vorliegenden Sachverhaltes die Ausdehnung der festgestellten ratio, unter Verzicht auf das Vorliegen bestimmter maßgeblicher Tatsachen, oder deren Einschränkung unter Hinzufügung als notwendig anzusehender weiterer Tatsachen geboten und gerechtfertigt erscheinen.32 Im Gegensatz dazu lässt das Verfahren des „distinguishing“ die ursprüngliche ratio unberührt. Das Gericht kommt lediglich zu dem Schluss, dass die maßgeblichen Tatsachen des Präjudizes und des hic et nunc zu entscheidenden Falles nicht vergleichbar sind.33

8

Sowohl im Rahmen der Formulierung der ratio decidendi selbst als auch bei deren Ausdehnung oder Einschränkung und insbesondere bei der Möglichkeit des distinguishing hat das hic et nunc entscheidende Gericht einen mehr oder weniger großen

9

28 29 30 31

Goodhart, Yale L.J. 40 (1930/31), 161, 169. Vgl. Cross/Harris, Precedent in English Law, S. 63; Zander, The Law-Making Process, S. 269. Vgl. Home Office v Dorset Yacht Co. [1970] A.C. 1004, 1058 f. per Lord Diplock. Cross/Harris, Precedent in English Law, S. 192. Vgl. auch Home Office v Dorset Yacht Co. [1970] A.C. 1004, 1058 f. per Lord Diplock. 32 Vgl. Home Office v Dorset Yacht Co. [1970] A.C. 1004, 1059 per Lord Diplock. 33 McLeod, Legal Method, S. 156 f. Michael Schillig

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3. Teil: Besonderer Teil

Bewertungsspielraum. Bei dessen Ausfüllung in Anwendung des genannten Instrumentariums geht es letzten Endes um rechtspolitische Wertungsentscheidungen.34 3.

Rechtsschöpfung durch die Gerichte?

10

Ein rechtstheoretischer Streit rankt sich um die Frage, ob die Gerichte bei der beschriebenen Vorgehensweise (neues) Recht schaffen oder lediglich vorhandenes Recht offenbarend zu Tage fördern.35 Die Offenbarungstheorie war lange Zeit ganz herrschend. Das common law ist danach ein Korpus ewiger, unveränderlicher Ideen, weitgehend basierend auf gesundem Menschenverstand, der durch die Gerichte fortlaufend offenbart und verfeinert wird.36 Die Gerichte nehmen danach keine Rechtsschöpfungskompetenz in Anspruch,37 sondern wenden das existierende Recht auf immer neue Sachverhaltsgestaltungen an.38

11

Heute ist dagegen die rechtsschöpfende Funktion der Gerichte weithin anerkannt.39 Rechtsschöpfung durch die Gerichte darf dabei freilich nicht in dem Sinne verstanden werden, dass jede neue Entscheidung bei Rechtskraft unmittelbar objektives Recht schafft. Dies liegt daran, dass erst nach einiger Zeit mit einigermaßen hinreichender Gewissheit gesagt werden kann, ob, und in welcher Form, die einer Entscheidung zu entnehmende ratio decidendi als Rechtsregel Anerkennung findet.40 Die Einzelentscheidung ist lediglich ein Glied in einem fortlaufenden Prozess steter Rechtsentwicklung.41 Es ist der prozesshafte Charakter des common law, bei dem die Gerichte im Zusammenwirken ständig das vorhandene Fallmaterial im Hinblick auf neu zu entscheidende Sachlagen durcharbeiten, analysieren und fortentwickeln, der letztendlich das objektive Recht hervorbringt.42

III. Gesetzesrecht 12

Die Rolle der Gesetzgebung in England ist traditionell eine andere als auf dem Kontinent. Zwar ergingen auch hier von Anbeginn an Gesetze, jedoch nicht mit dem Ziel, einen bestimmten Sachbereich einer umfassenden Regelung im Sinne einer Kodifikation zuzuführen, sondern lediglich um bestimmten, im Wege des Fallrechts entstande-

34 35 36 37 38 39

Vgl. Home Office v Dorset Yacht Co. [1970] A.C. 1004, 1058 per Lord Diplock. Zander, The Law-Making Process, S. 298. Baker, An Introduction to English Legal History, S. 195. Munster v Lamb [1883] 11 Q.B.D. 588, 600 per Brett MR. Willis v Baddeley [1892] 2 Q.B. 324, 326 per Lord Esher. Home Office v Dorset Yacht Co. [1970] A.C. 1004, 1058 per Lord Diplock; Kleinwort Benson Ltd. v Lincoln City Council [1999] 2 A.C. 349, 377 per Lord Goff. 40 Zander, The Law-Making Process, S. 299. 41 Dworkin, Law’s Empire (1998), S. 228 ff., hat hierfür das anschauliche Bild des „Kettenromans“ (chain novel) eingeführt, wobei jeder neue Autor nach Interpretation der bisherigen Kapitel ein weiteres Kapitel hinzufügt. 42 Kleinwort Benson Ltd. v Lincoln City Council [1999] 2 A.C. 349, 377 per Lord Goff.

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§ 25 Vereinigtes Königreich

nen, jedoch als unpraktikabel oder schädlich empfundenen Regelungen abzuhelfen.43 Erst Ende des 19. Jahrhunderts ging man insbesondere im Bereich des privaten Wirtschaftsrechts dazu über, bestimmte Bereiche einer umfassenderen Regelung zu unterwerfen. Heute sind große Teile des Privatrechts gesetzlich geregelt.44 Kennzeichnend ist jedoch bis heute, dass diese Gesetze an das hergebrachte Fallrecht anknüpfen, die dort entwickelten Begrifflichkeiten und Konzepte voraussetzen, weiterführen und zur Füllung etwaiger Regelungslücken heranziehen.45 Die traditionelle Beschränkung der Gesetzgebung auf einen begrenzten Sachbereich ermöglichte es, sehr detaillierte Gesetze zu konstruieren und möglichst alle denkbaren Situation ausdrücklich zu erfassen; eine Tendenz, die bis heute anhält und selbst von Richtern mitunter kritisiert wird.46 1.

Die klassische Auslegung nach dem Wortlaut

Eine, wenn nicht die tragende Säule der ungeschriebenen Verfassung des Vereinigten Königreichs ist das Prinzip der Parlamentssouveränität (doctrine of parliamentary souvereignty). Traditionell hatte danach das Parlament (in Westminster) die Kompetenz zum Erlass und zur Aufhebung jeden erdenklichen Gesetzes; daneben existierte im Vereinigten Königreich keine Institution, die ein Parlamentsgesetz abändern, aufheben oder außer Anwendung setzen konnte. Für die Auslegung von Gesetzen folgte aus diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben, dass die Gesetze durch die Gerichte so zur Anwendung zu bringen sind, wie sie vom Parlament erlassen wurden, ohne Abänderung, Hinzufügung oder Weglassung der im Gesetz ausdrücklich postulierten Regelungsgehalte. Mittel hierzu war eine äußerst restriktive Auslegung der Gesetze anhand des Wortlauts.47

13

Ausgangspunkt der klassischen Auslegungslehre ist folglich die sogenannte literal rule. Diese besagt, dass, soweit die im Gesetz verwendeten Begriffe in sich selbst präzise und eindeutig sind, allein deren natürliche und gewöhnliche Bedeutung für die Auslegung maßgeblich ist.48 Der Wortlaut in seiner natürlichen und gewöhnlichen Bedeutung bestimmt abschließend den Regelungsgehalt einer Vorschrift. Dem liegt die

14

43 Vgl. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 197, 259. Als Beispiel kann das Statute of Uses 1535 dienen, das sicherstellte, dass feudale Lasten nicht mit Hilfe eines trust umgangen werden konnten, vgl. Hayton, The Law of Trusts (4. Aufl. 2003), S. 12. 44 Vgl. etwa Companies Act 2006; Insolvency Act 1986; Law of Property Act 1925; Sale of Goods Act 1979; Unfair Contract Terms Act 1977. 45 Vgl. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 197 f. 46 Vgl. Collins, in: Grundmann/Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards, S. 117; Lando, ERPL 14 (2006), 475, 476; Kerr, L.Q.R. 96 (1980), 515, 527 ff. 47 Vgl. Cross/Bell/Engle, Statutory Interpretation, S. 10 ff.; Bankowski/MacCormick in: MacCormick/Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes, S. 396. 48 Vgl. Sussex Peerage Case (1884) 8 E.R. 1034, 1058 per Lord Tindal CJ: „If the words of the statute are in themselves precise and unambiguous, then no more can be necessary than to expound those words in their natural and ordinary sense. The words themselves alone do, in such a case, best declare the intention of the lawgiver.“ Michael Schillig

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3. Teil: Besonderer Teil

Vorstellung zugrunde, dass sich zumindest für einige Gesetzesbegriffe eine eindeutige natürliche und gewöhnliche Bedeutung ermitteln lässt. Eine mehr oder minder weitgehende sprachliche Unbestimmtheit der in den Rechtssätzen verwendeten Begrifflichkeiten ist jedoch stets unvermeidbar.49 Auch kann eine einseitige Orientierung am gewöhnlichen Sprachgebrauch unter Außerachtlassung des Verwendungskontextes leicht zu absurden Ergebnissen führen.

15

Im Hinblick darauf versuchte man bereits im 19. Jahrhundert die Strenge der literal rule abzumildern. Hierzu diente die sogenannte golden rule. Den verwendeten Begriffen ist grundsätzliche ihre Bedeutung nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch beizulegen, es sei denn, dies führe zu einer Inkonsistenz, Absurdität oder Unannehmlichkeit von einem solchen Ausmaß, dass die gewöhnliche Bedeutung nicht gemeint sein kann und die Zugrundelegung einer abweichenden Bedeutung gerechtfertigt ist. Auch diese muss aber noch durch den Wortlaut gedeckt sein. Die Reichweite dieser golden rule war allerdings unklar. Zum einen waren die maßgeblichen Anwendungskriterien (Inkonsistenz, Absurdität, Unannehmlichkeit) selbst in hohem Maße unbestimmt und wertungsoffen. Zum anderen wurde die Existenz der golden rule von einigen Richtern schlicht geleugnet.

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Vorreiter der modernen, an Sinn und Zweck orientierten Auslegungslehre ist die auf das 16. Jahrhundert zurückgehende rule in Heydon’s Case 50 oder mischief rule. Danach sind für die Interpretation eines Gesetzes stets die folgenden Überlegungen anzustellen: (i) Wie stellte sich die Rechtslage nach common law vor Erlass des Gesetzes dar?; (ii) Was war der Defekt oder die Unzulänglichkeit im Recht, für die das common law keine Lösung bot?; (iii) Welchen Rechtsbehelf hat das Parlament bereitgestellt, um diesem Defekt abzuhelfen?; (iv) Was ist der wahre Grund des Rechtsbehelfs? Aufgabe der Gerichte im Wege der Interpretation ist dann stets die Beseitigung des erkannten Defekts und die Förderung des Rechtsbehelfs im Einklang mit der wahren Intention des Gesetzgebers. Seit etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die mischief rule in die moderne, sich an Sinn und Zweck einer Regelung orientierende Auslegungslehre fortentwickelt. 2.

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Die moderne Auslegung nach Sinn und Zweck

Die moderne Auslegungslehre stellt maßgeblich auf Sinn und Zweck einer Regelung ab (sogenannter purposive approach).51 Die Auswirkungen des traditionellen Denkens sind aber noch immer prominent.52 So ist Voraussetzung für eine Auslegung nach Sinn und Zweck stets, dass der Wortlaut einen bestimmten Bedeutungsspielraum lässt und das gefundene Auslegungsergebnis noch durch den allgemeinen Sprachgebrauch und den natürlichen Wortsinn gedeckt ist.

49 H.L.A. Hart, The Concept of Law (2. Aufl. 1994), S. 123 ff. 50 (1584) 76 E.R. 637. 51 Vgl. Pepper v Hart [1993] 1 All E.R. 42, 50 per Lord Griffiths; vgl. auch Cross/Bell/Engle, Statutory Interpretation, S. 192–197. 52 Vgl. Lando, ERPL 14 (2006), 475, 476.

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§ 25 Vereinigtes Königreich

Sinn und Zweck des Gesetzes ergeben sich aus der „Intention des Parlaments“. Dabei ist heute jedoch allgemein anerkannt, dass es sich bei der „Intention des Parlaments“ um eine bloße Fiktion, eine bequeme sprachliche Vereinfachung eines argumentativen Abwägungsprozesses handelt.53 Bei der Auslegung geht es nicht darum, festzustellen, was das Parlament tatsächlich bezweckte, sondern um die Ermittlung der wahren Bedeutung dessen, was das Parlament niedergelegt hat.54 Nach dem Rechtsstaatsprinzip haben die Bürger das Recht, ihr Verhalten an dem auszurichten, was im Gesetz niedergelegt ist; nicht daran, was niedergelegt werden sollte oder was niedergelegt worden wäre, wenn der damalige Gesetzgeber die jetzige Situation in Betracht gezogen hätte.55 „Intention des Parlaments“ ist folglich diejenige Intention, die das Parlament nach Ansicht des Gerichts im Hinblick auf die verwendeten Begrifflichkeiten vernünftigerweise haben konnte. Nicht geht es um die subjektiven Vorstellungen der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten, deren Zwecke oftmals voneinander abweichen mögen.56

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Neben dem Beitritt des Vereinigten Königreichs zu den Europäischen Gemeinschaften im Jahre 1973 (dazu sogleich) hat auch das Inkrafttreten des Human Rights Acts 1998 (HRA) im Jahre 2000 die Verfassungslage wesentlich verändert. Nach sec. 3(1) HRA sind Gesetze und Verordnungen soweit wie möglich („so far as it is possible“) so zu interpretieren, dass sie mit den Rechten nach der Europäischen Menschenrechtskonvention im Sinne der Rechtsprechung des EGMR im Einklang stehen. Soweit eine solche Interpretation nicht in Betracht kommt, können High Court, Court of Appeal und Supreme Court untergesetzliche Vorschriften für ungültig erklären. Bezüglich formeller Gesetze kommt lediglich eine Inkompatibilitätserklärung (declaration of incompatability) in Betracht. Der Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention kann in diesem Fall nur durch das Parlament selbst beseitigt werden. Der HRA stellt hierzu ein vereinfachtes Gesetzgebungsverfahren bereit. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Abgrenzung einer noch möglichen konventionskonformen Interpretation einerseits und einer unzulässigen, weil dem Parlament vorbehaltenen, Rechtssetzung durch die Gerichte andererseits.57 Von offensichtlichen Fällen abgesehen, dürften sich zuverlässig handhabbare Kriterien insoweit kaum benennen lassen.58

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53 McLeod, Legal Method, S. 281. 54 Black-Clawson International Ltd. v Papierwerke Waldhof-Aschaffenburg AG [1975] A.C. 591, 613 per Lord Reid: „We are seeking not what Parliament meant but the true meaning of what they said.“ 55 Stock v Frank Jones (Tipton) Ltd [1978] 1 W.L.R. 231, 237 per Lord Simon. 56 R v Secretary of State for the Environment, Transport and the Regions ex pate Spath Holme Ltd [2001] 2 A.C. 349, 397 per Lord Nicholls. 57 McLeod, Legal Method, S. 326. 58 Vgl. etwa Ghaidan v Mendoza [2004] 3 All E.R. 411, zur Frage ob „spouse“ im Sinne des Rent Act 1977 dahingehend konventionskonform interpretiert werden kann, dass auch der überlebende homosexuelle Lebenspartner eines verstorbenen Mieters erfasst wird: bejahend insoweit die Mehrheit des House of Lords; entgegengesetzt aber Lord Millet. Michael Schillig

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3. Teil: Besonderer Teil

3.

Auslegung und Präjudizienbindung

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Bei der Frage, inwieweit eine Auslegungsentscheidung normative Bindungswirkung entfaltet, ist zwischen Sachfragen (matters of fact) und Rechtsfragen (matters of law) zu unterscheiden.59 So ist die Feststellung, ob ein Rechtsbegriff nach seiner gewöhnlichen Bedeutung auf einen bestimmten Sachverhalt zutrifft, eine Sachfrage.60 Die Präjudizienbindung findet insoweit keine Anwendung. Beispielsweise führte Slade LJ in der Entscheidung Phillips Products v Hyland 61 aus, dass die vom Gericht getroffene Entscheidung, ob eine bestimmte Vertragsklausel dem reasonableness-Test nach dem Unfair Contract Terms Act 1977 (UCTA) genügt, nicht als Präjudiz für Fälle herangezogen werden sollte, in denen zwar die selben Klauseln zu überprüfen, die zugrundeliegenden Sachverhalte jedoch andere sind.62

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Dagegen ist die Auslegung eines Gesetzes, das heißt die Bestimmung der rechtlichen Folgen, die sich aus der Bedeutung eines Rechtsbegriffes ergeben,63 eine Rechtsfrage,64 bezüglich derer die Präjudizienbindung grundsätzlich Anwendung finden kann. Da es bei der Auslegung allerdings darum geht, die rechtliche Bedeutung eines Rechtsbegriffs gerade für die Zwecke desjenigen Gesetzes zu ermitteln, in dem der Begriff Verwendung findet, kann die Präjudizienbindung grundsätzlich auch nur für Begriffe innerhalb desselben Gesetzes Anwendung finden. Bezüglich identischer Begriffe in einem anderen Gesetz kann einer Auslegungsentscheidung allenfalls eine mehr oder weniger große Überzeugungskraft (pursuasive authority) zukommen.65 Eine normative Bindungswirkung besteht grundsätzlich nicht. Eine Ausnahme hiervon, also normative Bindungswirkung einer Entscheidung zu Gesetz A für eine nachfolgende Entscheidung zu identischen Begriffen in Gesetz B, gilt dann, wenn beide Gesetze den gleichen Sachbereich betreffen, also in pari materia sind.66 Bezüglich des Verhältnisses von Entscheidungen zu identischen Formulierungen im Gesetzesrecht und im Fallrecht (common law) gelten die gleichen Grundsätze.67

59 Dazu McLeod, Legal Method, S. 37 ff. 60 Brutus v Cozens [1973] A.C. 854, 860 per Lord Reid: “The meaning of an ordinary word of the English language is not a question of law.” 61 Phillips Products v Hyland [1987] 1 W.L.R. 659. 62 Phillips Products Ltd v Hyland [1987] 1 W.L.R. 659, 669 per Slade LJ. Allgemein zum Problem der Behandlung des reasonableness-Tests als question of fact Whittaker, in: Grundmann/Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards (2006), S. 70 ff. 63 McLeod, Legal Method, S. 245. 64 Brutus v Cozens [1973] A.C. 854, 860 per Lord Reid: „The proper construction of a statute is a question of law.“ 65 Quiltotex Co Ltd v Minister of Housing and Local Government [1966] 1 Q.B. 704, 711 per Salmon LJ; Carter v Bradbeer [1975] 1 W.L.R. 1204, 1206 per Lord Diplock. 66 R v Palmer (1785) 168 E.R. 279: „If there are several Acts upon the same subject, they are to be taken together as forming one system and as interpreting and enforcing each other.“ 67 McLeod, Legal Method, S. 249.

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IV.

Innerstaatlicher Anwendungsbefehl

Das Vereinigte Königreich ist im Hinblick auf völkerrechtliche Verträge streng dualistisch.68 Die innerstaatliche Wirksamkeit der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften, der nachfolgenden Verträge und des Sekundärrechts bedurften damit eines nationalen Anwendungsbefehls,69 der in Gestalt des European Communities Act 1972 (ECA), nunmehr in der Fassung des European Union Act 2009, vorliegt. Dabei überführt sec. 2(1) ECA das Prinzip der unmittelbaren Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts/EU-Rechts70 in nationales Recht. Nach sec. 2(2) ECA erfolgt die Umsetzung europarechtlicher Vorgaben und Verpflichtungen regelmäßig im Verordnungswege (Statutory Instrument) unter Zustimmung von Ober- und Unterhaus.71 Sec. 3 ECA verleiht den Entscheidungen des Gerichtshofs zu Auslegung und Wirksamkeit von EU-Rechtsakten Präjudizienwirkung im innerstaatlichen Recht.72

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Probleme bereitet der Grundsatz vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts. Nach sec. 2(4) ECA soll jedes Gesetz einschließlich künftiger Gesetze entsprechend der vorstehenden Bestimmungen der sec. 2 ECA ausgelegt und angewendet werden. Der Verweis auf sec. 2(1) ECA scheint zu bewirken, dass jedenfalls unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht gegenüber nationalem Recht Vorrang genießt. Hinzu kommt die Präjudizienwirkung von EuGH-Entscheidungen nach sec. 3(1) ECA. Auch der in Costa ./. E.N.E.L. niedergelegte Vorrang des Gemeinschaftsrechts73 wäre danach innerstaatlich normativ verbindlich festgeschrieben.74 Hier ist nun allerdings wiederum der Grundsatz der Parlamentssouveränität zu berücksichtigen. Danach sind der Gesetzgebungsmacht des Parlaments keine rechtlichen Grenzen gesetzt, allerdings mit der Ausnahme, dass das Parlament seine Gesetzgebungsbefugnisse nicht für die Zukunft beschränken kann.75 Soweit danach ein zeitlich späteres Gesetz von einem zeitlich früheren abweicht, setzt sich ersteres durch und gilt letzteres, soweit der Konflikt reicht, als implizit aufgehoben (doctrine of implied repeal). Der Vorrang des unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts nach sec.s 2(4) und 3(1) ECA ist damit unproblematisch für Gesetze, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des ECA bereits erlassen waren. Nachfolgende Gesetze würden sich dagegen auch gegenüber abweichendem Gemeinschaftsrecht durchsetzen, da die Vorrangregelungen des ECA insoweit stets als implizit aufgehoben anzusehen wären.76 Eine Lösung dieses Konun-

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68 Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 257. 69 McWhirter v Attorney-General [1972] CMLR 882, 886 per Lord Denning. 70 Ausgenommen sind Rechtsakte im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik im Sinne des Art. 275 Abs. 1 AEUV, vgl. sec. 3 European Union Act 2009 der sec. 2(1) ECA insoweit abändert. 71 Vgl. ECA Schedule 2 para. 2(2). 72 Craig/de Búrca, EU Law: Text, Cases and Materials, S. 366. 73 EuGH v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1253. 74 Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 261. 75 Craig, in: Jowell/Oliver (Hrsg.), The Changing Constitution, S. 92. 76 Thoburn v Sunderland City Council [2003] Q.B. 151 para. 59 per Laws LJ. Michael Schillig

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3. Teil: Besonderer Teil

drums fand das House of Lords in einer „strengen Auslegungsregel“.77 Nach der Leitentscheidung Factortame hat sec. 2(4) ECA die Wirkung, dass jedes nachfolgende Gesetz so zu lesen ist, als enthielte es eine ausdrückliche Bestimmung, wonach das unmittelbar anwendbare Gemeinschaftsrecht unberührt bleibt.78 Damit war der Vorrang des Gemeinschaftsrecht im innerstaatlichen Recht angekommen;79 freilich nur mit der Einschränkung, dass es dem Parlament nach wie vor unbenommen ist, in einem Gesetz klar und ausdrücklich von anwendbarem Gemeinschaftsrecht abzuweichen. In diesem Fall wären die nationalen Gerichte zur Anwendung des vom Gemeinschaftsrecht abweichenden nationalen Rechts berufen.80 Zum gleichen Ergebnis führt die von Laws LJ in Thoburn eingeführte Unterscheidung von konstitutionellen Gesetzen, welche, wie der ECA, die verfassungsrechtlichen Grundprinzipien des Staates übergreifend regeln, und sonstigen Gesetzen.81 Konstitutionelle Gesetze können danach nur dadurch ganz oder teilweise aufgehoben werden, dass das nachfolgende Gesetz entweder eine ausdrückliche Aufhebungsregelung enthält oder so klar und eindeutig von dem früheren Gesetz abweicht, dass der Schluss auf einen entsprechenden Aufhebungswillen zwingend ist. Für sonstige Gesetze gilt dagegen die doctrine of implied repeal uneingeschränkt. Nach beiden Ansätzen bestimmt sich das Verhältnis von nationalem Recht und EU-Recht sowie dessen Wirk- und Durchsetzungskraft nach nationalem Recht.82 Dies hat Auswirkungen auf die Auslegung des Europäischen Privatrechts durch nationale Gerichte (sogleich Rn. 24–27) und die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts (Rn. 32–50).

V. 24

Europäisches Privatrecht und nationale Gerichte

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Begriffe des Europäischen Privatrechts entsprechend ihrem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs und der mit der Regelung verfolgten Ziele auszulegen.83 Eine Besonderheit besteht darin, dass Sekundärrechtsakte jeweils

77 Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 261. 78 R v Secretary of State for Transport, Ex parte Factortame Ltd. [1990] 2 A.C. 85, 140 per Lord Bridge. 79 Vgl. R v Secretary of State for Transport, Ex parte Factortame Ltd. (No. 2) [1991] 1 A.C. 603, 658 per Lord Bridge; R v Secretary of State for Employment, ex parte Equal Opportunities Commission [1995] 1 A.C. 1, 58 per Lord Keith. 80 Macarthys Ltd. v Smith [1979] I.C.R. 785, 789 per Lord Denning. 81 Thoburn v Sunderland City Council [2003] Q.B. 151 para. 62 f. 82 Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 262; Craig, in: Jowell/Oliver (Hrsg.), The Changing Constitution, S. 97 f. 83 So zusammenfassend EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-336/03 easyCar Ltd., Slg. 2005, I-1947 Rn. 21. Vgl. auch EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 18–20; EuGH v. 5.3.1963 – Rs. 26/62 Van Gend en Loos, Slg. 1963, 1 Rn. 8: „Geist“, „Systematik“, „Wortlaut“. Vorbildlich GA Trstenjak, SchlA v. 15.11.2007 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2695 Rn. 43–66. Zur Auslegung des Primärrechts eingehend Pechstein/Drechsler, in diesem Band, § 8; zur Auslegung des Sekundärrechts eingehend Riesenhuber, in diesem Band, § 11.

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in allen Amtssprachen vorliegen und jeder Text gleichermaßen verbindlich ist.84 Die eigentlich maßgebliche Normfassung ergibt sich so erst durch einen Vergleich der verschiedenen sprachlichen Fassungen.85 Im Sinne einer möglichst einheitlichen Auslegung und Anwendung des EU-Rechts treffen entsprechende methodische Vorgaben nicht nur den Gerichtshof, sondern sämtliche mitgliedstaatlichen Gerichte, soweit diese EU-Recht auslegen. Eine Hilfestellung bietet das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV/234 EG, wonach mitgliedstaatliche Gerichte eine Frage zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts/EU-Rechts dem Gerichthof vorab zur Beantwortung vorlegen können bzw. vorlegen müssen. 1.

Die Auslegung Europäischen Privatrechts

Nach sec. 3(1) ECA sind die englischen Gerichte per nationalem Gesetz dazu verpflichtet, zur Auslegung von Texten des EU-Rechts die vom Gerichtshof hierfür entwickelten Methoden heranzuziehen.86 Dies wurde von Lord Denning in H.P.Bulmer Ltd v J.Bollinger S.A.87 frühzeitig erkannt. Gleichwohl taten sich die englischen Gerichte noch einige Zeit schwer, sich von einer allzu engen wörtlichen Auslegung zu verabschieden. So hatte der Court of Appeal in R. v Henn and Darby, trotz Dassonville,88 erhebliche Zweifel daran, dass ein totales Einfuhrverbot eine „mengenmäßige Einfuhrbeschränkung“ im Sinne des Art. 34 AEUV/28 EG sein könne.89 In der Revision stellte das House of Lords hierzu fest, dass die Äußerung dieser Zweifel die Gefahren verdeutliche, die daraus resultierten, dass ein englisches Gericht englische Auslegungskriterien zur Auslegung von Texten des Europarechts heranzieht.90

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Mittlerweile scheint aber die Anwendung der Auslegungsmethoden des Gerichthofs durch englische Gerichte gut etabliert. Nahezu mustergültig ist die Entscheidung des Court of Appeal in R(Khatun) v Newham LBC 91. Es ging um die Frage, ob die Klauselrichtlinie92 (umgesetzt durch die Unfair Terms in Consumer Contracts Regulations 1994 bzw. nunmehr 1999 (UTCCR)) auch auf Verträge über Grundstücksrechte Anwendung findet. Dies war, vor der Entscheidung des Gerichtshofs in Freiburger Kom-

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84 Vgl. Art. 1 VO Nr. 1 v. 15.4.1958 zur Regelung der Sprachenfrage für die EWG, ABl. 1958, 17/385; in der Fassung der VO (EG) Nr. 1791/2006 v. 20.12.2006, ABl. 2006 L 363/1. 85 Vgl. EuGH v. 5.12.1967 – Rs. 19/67 van der Vecht, Slg. 1967, 462, 473; EuGH v. 12.7.1979 – Rs. 9/79 Koschniske, Slg. 1979, 2717 Rn. 6; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 18; EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-336/03 easyCar Ltd., Slg. 2005, I-1947 Rn. 25; EuGH v. 3.4.2008 – Rs. C-306/06 01051 Telecom, Slg. 2008, I-1923 Rn. 24. 86 Slynn, Stat.L.R. 14 (1993), 12, 23. 87 H.P.Bulmer Ltd v J.Bollinger S.A. [1974] Ch. 401, 425. 88 EuGH v. 11.7.1974 – Rs. 8/74 Dassonville, Slg. 1974, 873. 89 R. v Henn and Darby (1978) 2 CMLR 688, 691. 90 R. v Henn and Darby [1981] A.C. 850, 904 per Lord Diplock. 91 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37. Vgl. auch OFT v Abbey National plc and others [2009] EWCA Civ 116 para. 84 (reversed on appeal [2009] UKSC 6). 92 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29.

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munalbauten,93 deswegen zweifelhaft, weil sich die Richtlinie in ihrer englischen Fassung in zahlreichen Begründungserwägungen und in Art. 4 Abs. 2 auf „goods and/or services“ bezieht. Nach englischem Verständnis können „goods“ aber nur bewegliche Sachen sein.94 Laws LJ, der das einstimmige Urteil des Court of Appeal formulierte, hob zunächst hervor, dass die UTCCR lediglich die Klauselrichtlinie in nationales Recht umsetzen, so dass es entscheidend auf die Auslegung der Richtlinie selbst ankomme. Ausgangspunkt sei die hinter der Richtlinie stehende dominierende Zielsetzung.95 Diese sei der Verbraucherschutz, was sich, neben Begründungserwägungen 8–10, insbesondere aus dem in Absatz 3 des als Rechtsgrundlage dienenden Art. 95 EG/114 AEUV geforderten hohen Verbraucherschutzniveaus ergäbe. Vor dem Hintergrund, dass zahlreiche Mieter (beim lease handelt es sich um ein Grundstücksrecht) besonders gefährdet seien und ein Grundstückskauf für viele Menschen ein seltenes und besonders bedeutsames Geschäft darstelle, gäbe es für einen Ausschluss der Grundstücksgeschäfte vom Anwendungsbereich der Richtlinie keinen vernünftigen Grund. Auf den scheinbar gegenteiligen Wortlaut der Richtlinie könne es nicht ankommen, denn die französische („biens“), italienische („beni), spanische („bienes“) und portugiesische („bens“) Sprachfassung bezögen Grundstücksrechte jeweils mit ein.96 Zudem sei die europäische Rechtsordnung als ein einheitlicher Rechtskorpus anzusehen, der in allen Mitgliedstaaten verbindlich ist.97 Die strikte dogmatische Unterscheidung von Rechten an beweglichen Sachen und Grundstücksrechten im englischen Recht sei historisch begründet und habe auch noch einen gegenwärtigen Nutzen. Im Zusammenhang eines europaweiten Verbraucherschutzregimes sei sie aber allenfalls eine peinliche Marotte.98 Auch die travaux préparatoires sprächen für die Einbeziehung von Grundstücksrechten.99 Wäre ein Ausschluss von Grundstücksverträgen bezweckt gewesen, so wäre dies ausdrücklich angeordnet worden, wie etwa in der Haustürgeschäfterichtlinie100 und der Fernabsatz-Richtlinie101 geschehen.102 Laws LJ kam so zum Ergebnis, dass die Richtlinie (und folglich UTCCR) auf Grundstücksverträge Anwendung findet.103

93 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403. Zum Zeitpunkt der Entscheidung lagen lediglich die Schlussanträge des Generalanwalts vor, vgl. R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 66. 94 Vgl. Goode, Commercial Law, S. 29. 95 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 67 f. 96 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 68. 97 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 68. 98 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 68. 99 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 68 f. 100 Art. 3 Abs. 2 lit. a) der Richtlinie 85/577/EWG des Rates v. 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31. 101 Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates v. 20.5.1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz, ABl. 1997 L 144/19. 102 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 69. 103 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 69.

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Diese Entscheidung führt sämtliche europarechtlichen Auslegungskriterien zusammen und gewichtet sie entsprechend der Vorgaben des Gerichtshofs: Zur Bestimmung des Wortlauts erfolgt die Heranziehung mehrerer Sprachfassungen, die travaux préparatoires werden einbezogen, im Rahmen einer systematischen Auslegung werden Nachbarrechtsakte gewürdigt, und den Schwerpunkt bildet die teleologische Auslegung unter Hinweis auf Erwägungsgründe und Rechtsgrundlage. Nicht alle Entscheidungen spiegeln in diesem Umfang und in dieser Qualität die Anforderungen des Gerichtshofs wider. Manchmal findet sich nur ein ganz pauschaler Hinweis auf Sinn und Zweck der Richtlinie.104 Aber dass es maßgeblich auf deren Teleologie ankommt und der Wortlaut nur eine ganz durchlässige Eingrenzung darstellt, ist allgemein anerkannt.105 Allerdings wird bisweilen vorschnell ein bestimmtes Auslegungsergebnis als eindeutig angesehen, insbesondere dann, wenn andernfalls eine Vorlage nach Art. 267 AEUV/234 EG angezeigt gewesen wäre. 2.

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Vorlagepraxis

Stellt sich einem mitgliedstaatlichen Gericht eine Frage zur Auslegung einer Vorschrift des Europäischen Privatrechts und hält das Gericht eine Beantwortung dieser Auslegungsfrage zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es dem Gerichtshof die entsprechende Auslegungsfrage zur Vorabentscheidung vorlegen, Art. 267 Abs. 2 AEUV/234 Abs. 2 EG. Letztinstanzliche Gerichte sind unter den gleichen Voraussetzungen zur Vorlage verpflichtet, Art. 267 Abs. 3 AEUV/234 Abs. 3 EG. Der Gerichtshof scheint insoweit einer konkreten Betrachtungsweise zu zuneigen.106 Problematisch ist dabei die Stellung des Court of Appeal. Dessen Entscheidungen können nur dann angefochten werden, wenn entweder der Court of Appeal selbst oder der übergeordnete Supreme Court (früher House of Lords) im konkreten Fall ein Rechtsmittel zulassen. Soweit der Court of Appeal ein Rechtsmittel zulässt, ist er nicht letztinstanzliches Gericht. Lässt der Court of Appeal dagegen ein Rechtsmittel nicht zu, so muss er eine entscheidungserhebliche Auslegungsfrage vorlegen. Sieht der Court of Appeal von einer Vorlage dennoch ab, ist nunmehr der Supreme Court zur Zulassung eines Rechtsmittels verpflichtet.107

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Hinsichtlich des „Für-erforderlich-haltens“ der Beantwortung der Auslegungsfrage und der Ausübung des daran anknüpfenden Ermessens der unterinstanzlichen Gerichte hatte Lord Denning in H.P.Bulmer Ltd v J.Bollinger S.A.108 anfänglich sehr

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104 Phonogram Ltd. v Lane [1982] Q.B. 938, 943 per Lord Denning. 105 Vgl. nur Director General of Fair Trading v First National Bank plc [2002] 1 A.C. 481, 494 per Lord Bingham; Litster v Forth Dry Dock & Enineering Co Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 562 per Lord Oliver; International Sales & Agencies Ltd. v Sidney Marcus [1982] 2 CMLR 46 Rn. 21; TCB Ltd. v Gray [1986] Ch. 621, 635; Smith v Henniker-Major & Co. [2003] Ch. 182, 195 per Robert Walker LJ; 215 per Schiemann LJ; OFT v Abbey National plc and others [2009] EWCA Civ 116 para. 84 (reversed on appeal [2009] UKSC 6). 106 Vgl. EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-99/00 Lyckeskog, Slg. 2002, I-4839 Rn. 15. Vgl. auch EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-210/06 Cartesio, Slg. 2008, I-9641 Rn. 75–79. 107 Vgl. zum Ganzen Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 279 f. 108 H.P.Bulmer Ltd v J.Bollinger S.A [1974] Ch. 401, 422. Michael Schillig

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strenge Kriterien aufgestellt. Mittlerweile hat sich die Einstellung der Gerichte etwas gewandelt und sie sind eher zu einer Vorlage bereit.109 Eine kursorische Betrachtung der Rechtsprechungsstatistik des Gerichtshofs ergibt,110 dass es vom Beitritt des Vereinigten Königreichs an fast 20 Jahre dauerte, bis die Anzahl der Vorlagen etwa derjenigen von Frankreich entsprach. Verglichen mit Italien, aber auch Belgien und der Niederlande ist die Zahl der von Gerichten des Vereinigten Königreichs jährlich neu eingereichten Verfahren deutlich geringer. Ein Grund hierfür mag darin liegen, dass die Gerichte relativ leicht zu dem Schluss gelangen, dass die Antwort auf eine Vorlagefrage eigentlich klar ist und keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt. In der sog. C.I.L.F.I.T.-Entscheidung111 hat der Gerichtshof bekanntlich eine entsprechende Einschränkung der Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte anerkannt, wenn auch nur unter strengen Voraussetzungen. Das House of Lords hat hiervon in der Vergangenheit großzügig Gebrauch gemacht.

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Bezeichnend ist etwa die Entscheidung Director General of Fair Trading v First National Bank plc. Es ging um die Frage der Missbräuchlichkeit einer Klausel in einem Standardkreditvertrag. Das House of Lords interpretierte „unfair term“ im Sinne von reg. 4(1) UTCCR richtlinienkonform unter Heranziehung von Art. 3 der Klauselrichtlinie sowie der Begründungserwägungen.112 Eine Vorlage an den Gerichtshof wurde nicht für erforderlich gehalten, da der von der Richtlinie vorgegebene Missbräuchlichkeitstest klar sei und vernünftigerweise keinen Anlass zu unterschiedlicher Auslegung biete.113 Die Entscheidung erging zu einer Zeit, als sich der Gerichtshof noch nicht ausdrücklich dazu geäußert hatte, ob er im konkreten Fall zur Missbräuchlichkeit einer Klausel Stellung nehmen würde.114 Die Vorlage der Frage nach der Konkretisierungskompetenz des Gerichtshofs, verbunden mit der inhaltlichen Frage zur Missbräuchlichkeit der entsprechenden Klausel hätte daher durchaus nahegelegen. Die Feststellung, dass der Missbräuchlichkeitstest der Richtlinie klar sei, überrascht; zum einen, weil innerhalb der Mitgliedstaaten kein einheitliches Konzept der Missbräuchlichkeit und des Guten Glaubens existiert, worauf Lord Bingham ausdrücklich hinwies; zum anderen, weil der erstinstanzliche Richter und der Court of Appeal hinsichtlich der Missbräuchlichkeit der fraglichen Klausel jeweils zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen.

109 R. v The Pharmaceutical Society of Great Britain [1987] 3 CMLR 951, 970 ff. per Kerr LJ; Regina v International Stock Exchange of the United Kingdom and the Republic of Ireland Ltd., Ex parte Else (1982) Ltd. [1993] Q.B. 534, 545 per Sir Thomas Bingham MR. 110 Rechtssprechungsstatistiken des Gerichtshofs (abrufbar unter http://curia.europa.eu/ jcms/upload/docs/application/pdf/2009-03/ra08_de_cj_stat.pdf), S. 108 f. 111 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415; bereits zuvor EuGH v. 27.3.1963 – verb. Rs. 28-30/62 Da Costa, Slg. 1963, 63. 112 Director General of Fair Trading v First National Bank [2002] 1 A.C. 481, 489 per Lord Bingham; 498 per Lord Steyn. 113 Director General of Fair Trading v First National Bank [2002] 1 A.C. 481, 494 per Lord Bingham. 114 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403.

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Letzteres Argument greift Lord Walker in der jüngsten Entscheidung des Supreme Court im Anwendungsbereich der Klauselrichtlinie auf.115 Es ging um die Frage, ob die von den Banken erhobenen Überziehungsgebühren nach Art. 4 Abs. 2 der Klauselrichtlinie (reg. 6(2) UTCCR) als Entgeltklauseln von der Kontrolle anhand des Missbräuchlichkeitsmaßstabs ausgenommen sind. High Court und Court of Appeal hatten dies jeweils verneint.116 Ein einstimmiger Supreme Court dagegen bejahte die Frage. Auch sorgfältig begründete Entscheidungen von erfahrenen Richtern der Untergerichte könnten aus Sicht des letztinstanzlichen Gerichts offensichtlich falsch und die richtige Entscheidung klar und eindeutig sein.117 Erstaunlich ist auch die weitere von Lord Walker und Lord Mance gegebene Rechtfertigung der unterbliebenen Vorlage: Selbst wenn man den Ansatz des Court of Appeal, wonach es auf den Charakter der fraglichen Klausel als Nebenabrede ankommt, als richtig unterstellte, so würde die Anwendung dieses Tests118 auf die fraglichen Klauseln doch ergeben, dass es sich nicht um Nebenabreden, sondern richtigerweise um Entgeltklauseln handelt. Eine Vorlage sei damit nicht entscheidungserheblich und unnötig.119 Dem liegt offenbar die Vorstellung zugrunde, dass der Gerichtshof nur entweder den Ansatz des Court of Appeal oder des Supreme Court bestätigen konnte, dessen jeweilige Anwendung dann in der Sache keinen Unterschied gemacht hätte. Völlig ausgeblendet wird die Möglichkeit der Entwicklung einer alternativen und eigenständigen Lösung durch den Gerichtshof, deren Umsetzung durch die nationalen Gerichte dann möglicherweise doch zu einem abweichenden Ergebnis hätte führen können. Durch solche Scheinbegründungen wird lediglich verdeckt, worum es dem Supreme Court tatsächlich ging: die Verhinderung der mit einer Vorlage verbundenen Verfahrensverzögerung.120

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VI. Richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs121 sind die mitgliedstaatlichen Gerichte „im Rahmen ihrer Zuständigkeit“ verpflichtet, das gesamte innerstaatliche Recht „soweit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks“ der Richtlinie 115 OFT v Abbey National plc and others [2009] UKSC 6. 116 OFT v Abbey National plc and others [2008] EWHC 875 (Comm); [2009] EWCA Civ 116. 117 OFT v Abbey National plc and others [2009] UKSC 6 para. 49 per Lord Walker. Das Argument verliert schon dadurch erheblich an Gewicht, dass Lord Phillips und Lord Neuberger die zu entscheidende Frage nicht für acte clair hielten. 118 Die Anwendung sei eine Frage des nationalen Rechts und der Kompetenz des Gerichtshofs entzogen, OFT v Abbey National plc and others [2009] UKSC 6 para. 50 per Lord Walker; para. 116 per Lord Mance. 119 OFT v Abbey National plc and others [2009] UKSC 6 para. 50 per Lord Walker; para. 116 f. per Lord Mance; zustimmend auch die übrigen Lordschaften. 120 Deutlich insoweit Lord Walker (para. 50). 121 Beispielhaft EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891 Rn. 26; EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 79/83 Harz ./. Deutsche Tradax, Slg. 1984, 1921 Rn. 26 und aus neuerer Zeit EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 Rn. 110. Michael Schillig

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auszulegen122 und im Rechtsstreit zwischen Privaten „alles [zu] tun“ um die volle Wirksamkeit der Richtlinie zu gewährleisten.123 In Adeneler hat der EuGH dies etwas relativiert.124 Die Richtlinie dürfe „nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen.“125 Umfang und Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung (und Rechtsfortbildung) sind damit aus Sicht des Gerichtshofs durch die nationalen Methodenlehren determiniert.126

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Noch vor Von Colson 127 begannen englische Gerichte damit, einen Konflikt zwischen nationalem Recht und (unmittelbar anwendbarem) Europarecht durch eine europarechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts auszuräumen. Nach Garland v British Rail 128 sind Gesetze des Vereinigten Königreichs, die nach Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages zum gleichen Sachgebiet erlassen wurden, so auszulegen, dass sie der völkerrechtlichen Verpflichtung zum Durchbruch verhelfen; allerdings nur, soweit die verwendeten Begriffe vernünftigerweise eine solche Bedeutung haben können. Dieses Auslegungsprinzip gelte a fortiori für europarechtliche Verpflichtungen nach sec. 2 ECA.129 Es hat seine Grundlage im Prinzip der Parlamentssouveränität. Die Gerichte verhelfen lediglich dem Willen des Parlaments zur Umsetzung der internationalen Verpflichtung zum Durchbruch. Die Vermutung eines solchen Umsetzungswillen ist aber nur schlüssig, soweit das auszulegende Gesetz nicht eindeutig und unmissverständlich der völkerrechtlichen Verpflichtung zuwiderläuft.130

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Hinsichtlich der europarechtlichen Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs gelten gleichwohl Besonderheiten. Zu unterscheiden ist insoweit zwischen der Auslegung von speziell zur Umsetzung einer Richtlinie ergangenem nationalen Recht und sonstigem nationalen Recht im Anwendungsbereich einer Richtlinie.131 Für letzteres gilt die hergebrachte völkerrechtliche Auslegungsregel; für ersteres wurde diese im Sinne größerer Flexibilität erheblich modifiziert.

122 Vgl. EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891 Rn. 26; EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 8; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 26; EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, Slg. 2000, I-4947 Rn. 30. 123 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 Rn. 115–118; vgl. auch EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Rn. 71. 124 EuGH v. 4.7.2006 – C-212/04 Adeneler, Slg. 2006, I-6057 Rn. 110 f. Vgl. auch EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285 Rn. 47. 125 EuGH v. 4.7.2006 – C-212/04 Adeneler, Slg. 2006, I-6057 Rn. 110. 126 Dazu im Einzelnen W.H. Roth, in diesem Band § 14 Rn. 30–36. 127 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891. 128 Garland v British Rail Engineering Ltd. [1983] 2 A.C. 751. 129 Garland v British Rail Engineering Ltd. [1983] 2 A.C. 751, 771 per Lord Diplock. 130 Vgl. de Bùrca, MLR 55 (1992), 215, 219 f. 131 Craig, in: Andenas/Jacobs (Hrsg.), European Community Law in the English Courts, S. 46; Fairhurst, Law of the European Union, S. 308 ff.

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1.

Spezifisches Umsetzungsrecht

In Pickstone v Freemans 132 ging es um die Auslegung von sec. 1(2)(c) des Equal Pay Act 1970 (EPA). Danach hatten Frauen ursprünglich nur dann einen Anspruch auf gleichen Lohn, wenn ein (besser bezahlter) Mann entweder die gleiche Arbeit wie die Frau ausführte (sec. 1(2)(a) EPA), oder seine Arbeit aufgrund einer Jobevaluation als äquivalent eingestuft worden war (sec. 1(2)(b) EPA). Dies wurde vom Gerichtshof im Hinblick auf die Umsetzung der Gleichbehandlungsrichtlinie (Entgelt)133 beanstandet.134 Daraufhin wurde sec. 1(2)(c) eingefügt, wonach auch die Arbeit eines Mannes vergleichbar ist, die, „soweit section 1(2)(a) und (b) nicht anwendbar sind“, gegenüber der Arbeit der Frau von gleichem Wert ist. Hierauf gestützt machte die Klägerin geltend, dass ihre Arbeit von gleichem Wert sei, wie die eines besser bezahlten männlichen Kollegen. Ein anderer männlicher Kollege, der die gleiche Arbeit ausführte wie die Klägerin, erhielt hierfür jedoch den gleichen Lohn. Deshalb vertrat der Arbeitgeber, dass sec. 1(2)(a) EPA einschlägig sei (gleiche Arbeit) und mithin sec. 1(2)(c) EPA (gleicher Wert), wegen der dort enthaltenen Ausschlussklausel („soweit …“), nicht in Betracht komme. Dies wurde von einem einstimmigen House of Lords zurückgewiesen. Obwohl nach dem Wortlaut an sich eindeutig und so zu verstehen wie vom Arbeitgeber gedacht,135 war die Ausschlussklausel doch so auszulegen, dass sec. 1(2)(c) nur insoweit keine Anwendung findet, als sec. 1(2)(a) oder (b) für denjenigen männlichen Arbeitnehmer vorliegen, den sich die Frau selbst als Vergleichsmaßstab ausgewählt hat. Dies sei in sec. 1(2)(c) EPA hineinzulesen.136 Die Neuregelung verfolge das Ziel, das Recht des Vereinigten Königreichs vollständig an das Gemeinschaftsrecht und die Entscheidung des Gerichtshofs anzupassen. Dies sei durch die richtige Auslegung von sec. 1(2)(c) EPA erreichbar und entspreche dem Willen von Regierung und Parlament.137

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Bei Pickstone v Freemans handelt es sich eigentlich um einen Fall der primärrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts138. Wegen der unmittelbaren Anwendbarkeit von Art. 157 AEUV/141 EG wäre es auf eine richtlinienkonforme Auslegung an sich gar nicht angekommen.139 Gleichwohl legte der Fall nach allgemeiner Ansicht den Grundstein für die richtlinienkonforme Auslegung, deren Grundsätze mit der nachfolgenden Entscheidung in Litster v Forth Dry Dock140 endgültig etabliert wurden. Es ging um die Auslegung der Transfer of Undertakings (Protection of Employ-

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132 Pickstone v Freemans Plc. [1989] 1 A.C. 66. 133 Richtlinie 75/117/EWG des Rates v. 10.2.1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen, ABl. 1975 L 45/19. 134 EuGH v. 6.7.1982 – Rs. 61/81 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, Slg. 1982, 2601. 135 Pickstone v Freemans Plc. [1989] 1 A.C. 66, 125 per Lord Oliver. 136 Pickstone v Freemans Plc. [1989] 1 A.C. 66, 120 f. per Lord Templeman. 137 Pickstone v Freemans Plc. [1989] 1 A.C. 66, 121 per Lord Templeman. 138 Dazu eingehend Leible/Domröse, in diesem Band, § 9. 139 Pickstone v Freemans Plc. [1989] 1 A.C. 66, 128 per Lord Keith, der umgekehrt argumentiert: Da sich das richtige Ergebnis über die Auslegung nationalen Rechts bewerkstelligen ließe, komme es auf die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 157 AEUV/141 EG nicht an. 140 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546. Michael Schillig

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3. Teil: Besonderer Teil

ment) Regulations 1981 (TUPE), durch die die Betriebsübergangsrichtlinie aus dem Jahr 1977 141 in nationales Recht umgesetzt wurde. Nach reg. 5(3) bestanden die Arbeitsverträge solcher Personen mit dem Erwerber fort, die unmittelbar vor dem Übergang („immediately before the transfer“) beim Veräußerer beschäftigt waren. Die Richtlinie selbst stellt in Art. 3 Abs. 1 auf den „Zeitpunkt des Übergangs“ ab. Im Ausgangsfall kündigte der Veräußerer sämtlichen Arbeitnehmern fristlos um 15.30 Uhr. Der Betriebsübergang erfolgte am gleichen Tag um 16.30 Uhr. Ein Arbeitsvertrag endet bei fristloser Kündigung mit der Kündigung, unabhängig davon, ob diese Kündigung rechtmäßig ist oder nicht.142 Der Ausdruck „unmittelbar davor“ (immediately before) bedeutet nach allgemeinem Sprachgebrauch, dass zwischen zwei Ereignissen keine Zeitspanne liegt, beide Ereignisse also im gleichen Moment zusammen treffen.143 Bei wörtlicher Auslegung von reg. 5(3) TUPE wären die Kläger daher nicht geschützt gewesen. Allerdings hatte der Gerichtshof bereits in der Entscheidung Bork 144 ausgesprochen, dass Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnisse entgegen Art. 4 der Richtlinie (und reg. 8(1) TUPE) vor dem Betriebsübergang beendet wurden, so anzusehen sind, als wären sie im Zeitpunkt des Übergangs noch Beschäftigte des Veräußerers. Nach Lord Oliver sei ein Gesetz so auszulegen, dass es den europarechtlichen Verpflichtungen entspricht, soweit es vernünftigerweise so verstanden werden kann, selbst wenn dies dazu führt, dass von einer wörtlichen Anwendung der vom Gesetzgeber gewählten Begriffe abgegangen werden muss.145 Der Zweck der Richtlinie könne leicht vereitelt werden, wenn sich die Parteien der Arbeitnehmerschaft durch rechtswidrige Kündigungen kurz vor Übergang einfach entledigen könnten.146 Aus einer Zusammenschau der Entscheidungen Wendelboe,147 Danmols,148 Daddy’s Dance Hall149 und insbesondere Bork150 ergebe sich, dass eine Entlassung entgegen Art. 4 der Richtlinie für die Zwecke des Art. 3 der Richtlinie unwirksam sei. Damit war fraglich, ob die Regulations in diesem Sinne ausgelegt werden konnten.151 Bei einer wörtlichen Auslegung komme dies nicht in Betracht. Zu berücksichtigen sei jedoch der Schutzzweck der Richtlinie und die Verpflichtung, effektive Rechtsbehelfe 141 Richtlinie 77/187/EWG des Rates v. 14.2.1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen, ABl. 1977 L 61/26; nunmehr Richtlinie 2001/23/EG des Rates v. 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen, ABl. 2001 L 82/16. 142 Im Falle einer rechtswidrigen Kündigung kann das Gericht die Fortsetzung des ursprünglichen Arbeitsvertrages, Wiedereinstellung oder Entschädigung anordnen. Dies ergibt sich nunmehr aus dem Employment Rights Act 1996, sec. 112–124. 143 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 567 per Lord Oliver. 144 EuGH v. 15.6.1988 – Rs. 101/88 Bork, Slg. 1988, 3057. 145 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 559 per Lord Oliver. 146 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 562 per Lord Oliver. 147 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 19/83 Wendelboe, Slg. 1985, 457. 148 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 Danmols, Slg. 1985, 2639. 149 EuGH v. 10.2.1988 – Rs. 324/86 Daddy’s Dance Hall, Slg. 1988, 739. 150 EuGH v. 15.6.1988 – Rs. 101/88 Bork, Slg. 1988, 3057. 151 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 576 per Lord Oliver.

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zu dessen Durchsetzung bereitzustellen.152 Nach Pickstone v Freemans erlaube die größere Flexibilität, die ein Gericht bei der Auslegung von Umsetzungsrechtsakten habe, in ein Gesetz bestimmte Worte hineinzulesen, die dem Richtlinienzweck zum Durchbruch verhelfen.153 Im vorliegenden Fall sei reg. 5(3) TUPE so zu ergänzen, dass auch Arbeitnehmer erfasst werden, die unmittelbar vor dem Übergang beschäftigt gewesen wären, hätte man sie nicht entgegen reg. 8 TUPE vorher entlassen.154 Seit Litster v Forth Dry Dock ist klar, dass mittels einer richtlinienkonformen Auslegung dem Ziel der Richtlinie selbst dann zum Durchbruch verholfen werden kann, wenn das nationale Umsetzungsrecht eindeutig und klar ist, also nach traditionellem Verständnis kein Auslegungsspielraum besteht. Hierzu werden in den Umsetzungsrechtsakt diejenigen Worte hineingelesen, die zur Zielerreichung erforderlich sind. Entscheidend hierfür ist der vermutete Umsetzungswille des Gesetzgebers. Über diesen lässt sich der Ansatz zur richtlinienkonformen Auslegung des Umsetzungsrechts mit der traditionellen, dem Grundsatz der Parlamentssouveränität verpflichteten Auslegungslehre in Einklang bringen. Hätte der Gesetzgeber bei der Umsetzung die Erfordernisse der Richtlinie richtig erkannt, so wäre eine Umsetzung unter Einschluss der nunmehr hinzuzufügenden Worte erfolgt.155

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Über diese Argumentation wäre wohl auch eine teleologische Reduktion des Umsetzungsrechts möglich. Ob diese allerdings soweit gehen würde, wie die vom BGH in der Rechtssache Quelle vorgenommene erscheint zweifelhaft. In Quelle hat der BGH, einer Entscheidung des Gerichtshofs folgend,156 §§ 439 Abs. 4 BGB in Verbindung mit § 346 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BGB (Wertersatzanspruch des Verkäufers für die Nutzung der mangelhaften Sache bei Rückgabe und Nachlieferung einer mangelfreien Sache) dahingehend teleologisch reduziert, dass diese Vorschrift im Falle des Verbrauchsgüterkaufs keine Anwendung findet.157 Ein vergleichbares Problem stellt sich etwa im Hinblick auf sec. 48E Sale of Goods Act 1979 (SGA), die im Zuge der Umsetzung der Kaufgewährleistungsrichtlinie158 eingefügt wurde. Die Vorschrift räumt in ihren Absätzen (2), (3) und (4) dem Gericht die Befugnis ein, nach seinem Ermessen zu entscheiden, ob der vom Verkäufer gewählte Rechtsbehelf passend ist und so zu verfahren, als hätte der Verbraucher den vom Gericht als passend angesehenen Rechtsbehelf gewählt.159 Dem Wortlaut nach ist die Ermessensausübung unbeschränkt und nicht an die materiellen Voraussetzungen der Unverhältnismäßig-

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152 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 576 per Lord Oliver. Dies entspricht nunmehr der Regelung in reg. 4(3) Transfer of Undertakings (Protection of Employment) Regulations 2006. 153 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 576 f. per Lord Oliver. 154 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 577 per Lord Oliver. 155 De Bùrca, MLR 55 (1992), 215, 222. 156 EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685. 157 BGHZ 179, 27. 158 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. 159 Vgl. Arnold/Unberath, ZEuP 2004, 366, 382. Michael Schillig

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keit nach sec. 48B(3) und (4) SGA geknüpft. Die hierin liegende Verkürzung der Verbraucherrechte dürfte durch eine richtlinienkonforme Auslegung zu beheben sein, indem ein entsprechender Verweis auf die Voraussetzungen der sec. 48(3) und (4) SGA in sec. 48E SGA hinein gelesen wird. Problematischer erscheint sec. 48E(6) SGA, wonach das Gericht eine Anordnung nach dieser Vorschrift mit Bedingungen bezüglich Schadensersatz, Kaufpreiszahlung und anderweitig versehen kann, so wie es ihm gerecht erscheint. Dieser weite Spielraum des Gerichts bedeutet erhebliche Rechtsunsicherheit für den Verbraucher, kann dieser doch, selbst bei feststehender Vertragswidrigkeit, nur schwer abschätzen, was das Gericht zusprechen wird. Die Vermutung der Richtlinienwidrigkeit liegt deshalb nahe.160 Insbesondere erscheint es unwahrscheinlich, dass die englischen Gerichte zu einer teleologischen Reduktion auf Null bereit sein werden, würde doch die Vorschrift hierdurch, entgegen dem offenbaren Willen des Gesetzgebers, jede Bedeutung verlieren. 2.

Sonstiges Recht im Anwendungsbereich einer Richtlinie

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Die Auslegung sonstigen Rechts im Anwendungsbereich einer Richtlinie orientiert sich viel enger an der traditionellen Auslegungslehre.161 Dies lag ursprünglich daran, dass in diesen Fällen ein Umsetzungswille entweder fehlte oder jedenfalls schwieriger zu konstruieren war, selbst wenn der Gesetzgeber davon ausging, dass das hergebrachte Recht bereits den Anforderungen der Richtlinie genügte.

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In Duke v GEC Reliance162 ging es um die Auslegung von sec. 6(4) des Sex Discrimination Act 1975 (SDA), die „Bestimmungen bezüglich des Todes oder der Pensionierung“ („provisions in relation to death or retirement“) vom Diskriminierungsverbot nach sec. 6(1) und (2) SDA ausnahm. Im Unternehmen des Beklagten bestand die Praxis, Arbeitnehmerinnen mit Erreichen des 60., Arbeitnehmer dagegen erst mit Erreichen des 65. Lebensjahres zwangsweise zu pensionieren. Lord Templeman kam nach einer Untersuchung der Gesetzgebungsgeschichte zu dem Ergebnis, dass der Gesetzgeber einerseits die Möglichkeit der Diskriminierung im Hinblick auf das Pensionierungsalter beibehalten wollte und anderseits davon ausging, dass dies mit dem Gemeinschaftsrecht, insbesondere Art. 167 AEUV/141 EG und der Gleichbehandlungsrichtlinie (Entgelt), vereinbar sei.163 Als der SDA verabschiedet wurde, lag die Gleichbehandlungsrichtlinie (Arbeitsbedingungen)164 lediglich als Entwurf vor. Hät-

160 Arnold/Unberath, ZEuP 2004, 366, 383. 161 Vgl. Craig, in: Andenas/Jacobs (Hrsg.), European Community Law in the English Courts, S. 37, 47 ff.; Fairhurst, Law of the European Union, S. 315. 162 Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618. 163 Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618, 629–634 per Lord Templeman. 164 Richtlinie 76/207/EWG des Rates v. 9.2.1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl. 1976 L 39/40; inzwischen neugefasst als Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.7.2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung), ABl. 2006 L 204/23.

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ten Regierung und Gesetzgeber die Abschaffung der weithin praktizierten Differenzierung hinsichtlich des Pensionierungsalters bezweckt, so wäre sec. 6(4) SDA anders formuliert worden, um deutlich zu machen, dass mit einer hergebrachten Praxis gebrochen werden soll.165 Die Regierung sei davon ausgegangen, dass auch die Gleichbehandlungsrichtlinie (Arbeitsbedingungen) eine Diskriminierung bezüglich des Pensionierungsalters nicht verbiete.166 In Marshall entschied der Gerichtshof allerdings entgegengesetzt.167 Zwar sei ein britisches Gericht stets gewillt und bemüht, zu einem Auslegungsergebnis zu gelangen, das mit dem Gemeinschaftsrecht in Einklang steht. Die Auslegung eines britischen Gesetzes unterliege jedoch der Beurteilung durch die britischen Gerichte und knüpfe an den Wortlaut an, wie er im Lichte der Umstände zur Zeit der Verabschiedung des Gesetzes zu verstehen sei. Der SDA erging nicht zur Umsetzung der Gleichbehandlungsrichtlinie und bezweckte die Beibehaltung von diskriminierenden Pensionierungsaltersgrenzen.168 Die in sec. 6(4) SGA verwendeten Begriffe könnten vernünftigerweise nicht anders verstanden werden. Sec. 2(4) ECA erlaube einem britischen Gericht nicht, die Gesetzesbegriffe zu verfälschen, um einer nicht unmittelbar anwendbaren Richtlinie im Privatrechtsverhältnis zum Durchbruch zu verhelfen, sondern gelte nur für unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht.169 Die Entscheidung des Gerichtshofs in von Colson biete keine Grundlage dafür, dass ein mitgliedstaatliches Gericht den Wortlaut eines nationalen Gesetzes verfälschen müsse, um dieses mit Gemeinschaftsrecht in Einklang zu bringen, das nicht unmittelbar anwendbar ist.170 Auch wäre es unfair gegenüber dem Beklagten, wollte man den SDA im Lichte der Gleichbehandlungsrichtlinie (Arbeitsbedingungen) und der Marshall-Entscheidung des Gerichtshofs auslegen. Die übrigen Law Lords stimmten dem zu.171 Mit der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Marleasing,172 wonach die Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung das gesamte nationale Recht, auch das vor der Richtlinie ergangene, erfasst,173 erschien jedoch eine Modifikation dieser Grundsätze erforderlich. Webb v EMO Air Cargo174 betraf die Auslegung von sec. 1(1) und 5(3) SDA. Für den zum Nachweis einer rechtswidrigen Diskriminierung erforderlichen Vergleich der Situation der Frau mit derjenigen eines Mannes verlangt sec. 5(3)

165 166 167 168 169 170 171

Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618, 633 per Lord Templeman. Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618, 637 per Lord Templeman. EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, Slg. 1986, 723. Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618, 638 f. per Lord Templeman. Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618, 639 f. per Lord Templeman. Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618, 641 per Lord Templeman. Die Entscheidung Finnegan v Clowney Youth Training Programme Ltd. [1990] 2 A.C. 407, betraf einen identischen Sachverhalt. Allerdings war die zu interpretierende nationale Vorschrift für Nordirland nach Erlass der Gleichbehandlungsrichtlinie (Arbeitsbedingungen) ergangen. Gleichwohl kam das House of Lords zu dem Ergebnis, dass eine Auslegung der mit sec. 6(4) SDA identischen Vorschrift im Sinne der Gleichbehandlungsrichtlinie (Arbeitsbedingungen) nicht dem Willen des nationalen Gesetzgebers entsprach. 172 EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135. 173 Dazu ausführlich W.H. Roth, in diesem Band, § 14 Rn. 15 f. 174 Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd. [1993] 1 W.L.R. 49. Michael Schillig

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SGA, dass die maßgeblichen Umstände (relevant circumstances) in beiden Fällen im Wesentlichen identisch sind. Die Klägerin war als Mutterschaftsvertretung für eine schwangere Arbeitnehmerin eingestellt worden. Der Arbeitsvertrag der Klägerin war unbefristet. Ca. drei Wochen nach Arbeitsbeginn stellte die Klägerin fest, dass sie selbst schwanger war und etwa zur gleichen Zeit, wie die Arbeitnehmerin, zu deren Vertretung sie eingestellt worden war, schwangerschaftsbedingt ausfallen würde. Nach Lord Keith war die Situation der Klägerin nicht mit irgendeinem Mann, sondern mit einem Mann, der für den maßgeblichen Zeitraum aus irgendwelchen Gründen ebenfalls nicht zur Verfügung steht, zu vergleichen; dies seien die „relevanten Umstände“ im Sinne der sec. 5(3) SDA. Der genaue Grund für die Abwesenheit sei unerheblich. Bei richtiger Auslegung liege daher keine Diskriminierung vor, da auch ein Mann bei Abwesenheit zum maßgeblichen Zeitraum entlassen worden wäre.175 Lord Keith hatte jedoch Zweifel daran, ob diese Auslegung mit der Gleichbehandlungs-Richtlinie vereinbar sei. Ein nationales Gericht müsse das nationale Recht im Anwendungsbereich der Richtlinie so auslegen, dass das Ergebnis mit der Auslegung der Richtlinie durch den Gerichtshof übereinstimmt, jedoch nur, soweit dies möglich sei, ohne die Bedeutung der nationalen Vorschriften zu verzerren. Dies gelte, nach Marleasing, unabhängig davon, ob die nationale Norm nach, oder wie im zu entscheidenden Fall, vor der Richtlinie erging.176 In jedem Fall müsse aber die nationale Vorschrift für eine Auslegung im Sinne der Bedeutung der Richtlinie offen sein.177 Das House of Lords legte sodann dem Gerichthof im Wege der Vorabentscheidung die Frage vor, ob ein Sachverhalt, wie derjenige im Ausgangsverfahren, eine Diskriminierung im Sinne der Gleichbehandlungsrichtlinie (Arbeitsbedingungen) darstellt, was der Gerichtshof bejahte.178 Nach Lord Keith könne diese Entscheidung in den nationalen Regelungsrahmen dadurch eingefügt werden, dass man annimmt, für eine Frau mit unbefristetem Arbeitsvertrag, sei die Tatsache, dass sie wegen Schwangerschaft vorübergehend zu einer Zeit arbeitsunfähig ist, zu der der Arbeitgeber auf ihre Arbeitskraft ganz besonders angewiesen ist, ein „relevanter Umstand“ im Sinne der sec. 5(3) SDA; ein Umstand also, der auf einen hypothetischen Mann als Vergleichsmaßstab nicht zutreffen würde.179

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Dies lässt sich wie folgt zusammenfassen: Für Vorschriften im Anwendungsbereich einer Richtlinie wird der Umsetzungswille des nationalen Gesetzgebers vermutet. Diese Vermutung gilt als widerlegt, soweit die gesetzliche Regelung eindeutig ist und nach ihrem Wortlaut nicht im Sinne der Richtlinienvorgaben verstanden werden kann. Eine richtlinienkonforme Auslegung kommt damit stets nur dann in Betracht, wenn die verwendeten Begriffe mehrdeutig sind und einen entsprechenden Auslegungsspielraum belassen. Selbst in diesem Fall kann die Vermutung des Umsetzungswillens aber widerlegt werden, nämlich dann, wenn nach der Gesetzgebungsge-

175 176 177 178 179

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Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd. [1993] 1 W.L.R. 49, 55 per Lord Keith. Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd. [1993] 1 W.L.R. 49, 59 per Lord Keith. Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd. [1993] 1 W.L.R. 49, 59 per Lord Keith. EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-32/93 Webb ./. EMO Air Cargo (UK) Ltd., Slg. 1994, I-3567. Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd. (No 2) [1995] 1 W.L.R. 1454, 1459 per Lord Keith.

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schichte, wie im Falle Duke, oder aufgrund sonstiger Anhaltspunkte eine entgegengesetzte Intention des Gesetzgebers nahe liegt. Diese Rechtslage ist mit den Vorgaben des Gerichtshofs zur richtlinienkonformen Auslegung vereinbar. Denn danach sind die Grenzen der europarechtlichen Verpflichtung durch das nach der nationalen Methodenlehre Machbare definiert.180 Zudem ist der Grundsatz der Rechtssicherheit zu berücksichtigen.181 Damit erscheint es gerechtfertigt, Vorkehrungen dagegen zu treffen, dass der Bürger durch eine Auslegung überrascht wird, die dem Wortlaut des Gesetzes und/oder der erkennbaren Intention des nationalen Gesetzgebers zuwiderläuft. Diese von der des spezifischen Umsetzungsrechts abweichende Behandlung erklärt sich durch die relative Stärke des vermuteten Umsetzungswillens. Im Bereich des spezifischen Umsetzungsrechts ist dieser so stark, dass er sich gegebenenfalls auch über den eindeutig entgegenstehenden Wortlaut hinwegsetzen kann. Aber auch hier ist die Vermutung widerleglich. Dies ergibt sich aus dem immer wieder betonten Erfordernis, dass das Umsetzungsgesetz vernünftigerweise so ausgelegt werden kann, dass es mit den Anforderungen der Richtlinie übereinstimmt.182 Wo insoweit die Grenzen zu ziehen sind, lässt sich ex ante kaum bestimmen. 3.

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Common law

Mitunter hat eine Richtlinie auch Auswirkungen auf das Verständnis des common law, hier verstanden als das traditionelle, nicht kodifizierte Fallrecht. Ein wichtiges Beispiel ist die Umsetzung von Art. 7 der Publizitätsrichtlinie183 in sec. 51 Companies Act 2006 (CA). Die Vorschrift bestimmt, dass diejenigen, die im Namen einer in Gründung befindlichen Gesellschaft gehandelt haben, für die sich aus ihrem Handeln ergebenden Verpflichtungen unbeschränkt persönlich und gesamtschuldnerisch haften, soweit nichts anders vereinbart wurde und die Gesellschaft die Verpflichtungen nicht übernimmt.

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Im Anwendungsbereich von Art. 7 der Publizitätsrichtlinie bedeutete dies einen gewaltigen Einschnitt in die hergebrachten Grundsätze des common law. Diese finden

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180 Vgl. Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden, S. 80 ff. 181 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler, Slg. 2006, I-6057 Rn. 110. 182 Vgl. etwa Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 559 per Lord Oliver. 183 Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates v. 9.3.1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Art. 58 Abs. 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1968 L 65/8; geändert durch Richtlinie 2003/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.7.2003 zur Änderung der Richtlinie 68/151/EWG des Rates in Bezug auf die Offenlegungspflichten von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, ABl. 2003 L 221/13. Entspricht nunmehr Art. 8 der Richtlinie 2009/101/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 48 Absatz 2 des Vertrags im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 2009 L 258/11.

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3. Teil: Besonderer Teil

sich zusammengefasst bei Lord Denning in Phonogram Ltd v Lane.184 Grundsätzlich gilt: Handelt jemand als Vertreter für eine nichtexistente Gesellschaft, so kommt der Vertrag mit dem Vertreter zustande und trifft ihn die vertragliche Haftung persönlich. Insoweit war jedoch danach zu differenzieren, wie die entsprechenden Vertragsdokumente unterzeichnet worden waren. Handelte jemand als „Vertreter für X Ltd.“ oder „im Namen von X Ltd.“ während die Gesellschaft (noch) nicht existierte, so haftete er als Vertreter persönlich aus dem Vertrag. Unterzeichnete er dagegen als „X Ltd. handelnd durch ihren Geschäftsführer“ so kam ein Vertrag nicht zustande, soweit die Gesellschaft als Vertragspartner nicht existent war. Der Handelnde haftete jedenfalls nicht aus Vertrag. Anders nunmehr im Anwendungsbereich von sec. 51 CA: Der Handelnde haftet stets persönlich und unabhängig davon, in welcher Form er auftritt. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die persönliche Haftung ausdrücklich ausgeschlossen ist, wobei ein Auftreten als Vertreter allein nicht ausreicht.185

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Außerhalb des Anwendungsbereichs von sec. 51 CA gelten die Grundsätze des common law aber fort. Nach Davies hatte freilich die Umsetzungsvorschrift auch Auswirkungen auf die Wahrnehmung der hergebrachten Grundsätze durch die Gerichte.186 In Phonogram Ltd. v Lane war Lord Oliver der Ansicht, dass die obige formale Differenzierung nach Art und Weise der Vertragsunterzeichnung das common law nicht richtig wiedergebe. Es käme vielmehr auf die wahre Intention des Handelnden an, so, wie sie sich aus dem Vertrag als Ganzes ergibt. Solle danach der Vertrag direkt zwischen dem Vertretenen (principal) und der anderen Partei zustandekommen, so wäre bei Nichtexistenz des Vertretenen der Vertrag nichtig. Soll dagegen der Vertrag, im Interesse und für den Vertretenen, mit dem Vertreter selbst zustande kommen, so ist letzterer durch den Vertrag gebunden und haftet persönlich.187 Diese Auslegung des common law hat der Court of Appeal später in Cotronic (UK) Ltd. v Dezonie 188 über-

184 Phonogram Ltd. v Lane [1982] 1 Q.B. 938, 943 f. per Lord Denning, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 185 Phonogram Ltd. v Lane [1982] 1 Q.B. 938, 944 per Lord Denning. 186 Davies, Gower and Davies’ Principles of Modern Company Law, S. 116. 187 Phonogram Ltd. v Lane [1982] 1 Q.B. 938, 945 per Lord Oliver. Dem englischen Recht ist die Unterscheidung von direkter und indirekter Stellvertretung fremd. Erfasst werden sowohl diejenigen Fälle, in denen der Vertreter ausdrücklich im Namen des Vertretenen handelt (disclosed agency) als auch Fälle, in denen die Vertretung nicht offengelegt wird, der Vertreter also im eigenen Namen handelt (undisclosed agency). Im ersteren Fall wird der Vertretene unmittelbar durch das vom Vertreter getätigte Geschäft berechtigt und verpflichtet; im letzteren Fall kommt das Geschäft zwar zunächst zwischen Vertreter und dem dritten Vertragspartner zustande, der Vertretene kann jedoch das Geschäft an sich ziehen, während der Vertragspartner sich wahlweise neben dem Vertreter auch an den Vertretenen halten kann; vgl. Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden, S. 432 f. 188 Cotronic (UK) Ltd. v Dezonie [1991] B.C.C. 200, 205 ff. per Dillon LJ. In diesem Fall wurde die Anwendbarkeit von sec. 51 Companies Act 2006 verneint. Im Zeitpunkt der maßgeblichen Handlung gingen die Parteien davon aus, dass die Gesellschaft existierte. Tatsächlich war sie im Register gelöscht worden. Nach Ansicht des Gerichts war der Vertrag nicht für die gleichnamige Gesellschaft geschlossen worden, die die Parteien gründeten, nachdem sie von der Löschung der ursprünglichen Gesellschaft erfuhren. Vgl. weiterhin Badgerhill Properties Ltd v Cottrell [1991] B.C.C. 463, 466 f. per Wolf LJ.

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§ 25 Vereinigtes Königreich

nommen. Damit sind sec. 51 CA und common law einander näher gerückt, wenn auch Unterschiede verbleiben.189 In jedem Falle wurde aber die Position des Vertragspartners auch nach common law gestärkt. Dies steht im Einklang mit dem Schutzzweck der Richtlinie und ist wohl auf deren Einfluss zurückzuführen. 4.

Überschießende Umsetzung

Eine überschießende Umsetzung190 ist selten. In den meisten Fällen orientiert sich die Umsetzungsregelung streng am Anwendungsbereich der Richtlinie. Ansonsten beschränkt sich eine überschießende Umsetzung meist auf eine marginale Erweiterung des Anwendungsbereichs.191 So können beispielsweise, über einen erweiterten Verbraucherbegriff, die im Zuge der Umsetzung der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie eingeführten Rechtsbehelfe des Käufers auch juristischen Personen zustehen.192

47

Soweit ersichtlich, sind Auslegungsfragen des Rechts im überschießenden Bereich noch nicht vor die Gerichte gelangt. Entscheidend dürfte wohl wiederum der Umsetzungswille des Gesetzgebers sein. Soweit keine gegenteiligen Anhaltspunkte vorliegen, spricht wohl eine Vermutung dafür, dass auch das Recht im überschießenden Bereich außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie richtlinienkonform auszulegen ist, soweit dies nach den allgemeinen Grundsätzen in Betracht kommt. Will der Gesetzgeber dies nicht, so muss er es deutlich machen.

48

5.

Vorwirkung

Nach Adeneler beginnt die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist. Bereits ab dem Inkrafttreten der Richtlinie sind jedoch die mitgliedstaatlichen Gerichte verpflichtet, alles zu unterlassen, was die Erreichung des mit der Richtlinie verfolgten Ziels nach Ablauf der Umsetzungsfrist ernsthaft gefährden würde.193 Inwieweit die englischen Gerichte diesem Frustrationsverbot nachkommen können, dürfte vom Einzelfall abhängen. Soweit ersichtlich hat auch dieses Problem die Gerichte bisher noch nicht beschäftigt.

49

Ist das betroffene Rechtsgebiet bisher noch nicht gesetzlich geregelt und unterliegt es damit den Grundsätzen des common law, so dürfte eine Entscheidung, die dem Frustrationsverbot entspricht selbst dann möglich sein, wenn die Präjudizien in die ent-

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189 Davies, Gower and Davies’ Principles of Modern Company Law, S. 117: Nach sec. 51 Companies Act 2006 ist der Vertragspartner grundsätzlich geschützt, es sei denn, dass er hierauf verzichtet. Nach common law kommt es dagegen entscheidend auf die Intention der Parteien an. 190 Ausführlich Habersack/Mayer, in diesem Band, § 15. 191 Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Hrsg.), Consumer Law Compendium, S. 165. 192 Die für den SGA grundsätzlich maßgebliche Verbraucherdefinition ergibt sich dabei aus sec. 12 UCTA, vgl. Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Hrsg.), Consumer Law Compendium, S. 659; Arnold/Unberath, ZEuP 2004, 366, 375 f. 193 Vgl. EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler, Slg. 2006, I-6057 Rn. 115, 117, 123. Es geht lediglich um ein Frustrationsverbot, vgl. Röthel, ZEuP 2009, 34, 47 ff. Ausführlich dazu Hofmann, in diesem Band, § 16. Michael Schillig

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3. Teil: Besonderer Teil

gegengesetzte Richtung weisen. Über sec. 2 ECA sind die Gerichte auch an das Frustrationsverbot gebunden. Mit Verabschiedung der Richtlinie hat sich damit die Rechtslage geändert, so dass die ratio decidendi der Präjudizien nicht mehr verbindlich ist. Bleibt der Gesetzgeber untätig, so dürfte ein entgegenstehender Wille kaum auszumachen sein. Andererseits dürfte im Falle einer eindeutigen, der Richtlinie zuwiderlaufenden nationalen Regelung und in Abwesenheit etwaiger Umsetzungsbemühungen eine Auslegung im Einklang mit dem Frustrationsverbot nicht in Betracht kommen.194 Besteht dagegen ein Auslegungsspielraum, so dürfte in dessen Rahmen das zum common law Gesagte entsprechend gelten.

VII. Fazit 51

Über den ECA bestimmt der innerstaatliche Verfassungsgrundsatz der Parlamentssouveränität den Umgang der Gerichte mit dem Europäischen Privatrecht und dem europarechtlich determinierten nationalen Recht. Gleichwohl haben sich die Gerichte des Vereinigten Königreichs als hinreichend flexibel erwiesen, den Anforderungen des Gerichthofs zu genügen. Mit der Anbindung der richtlinienkonformen Auslegung an die nationalen Methodenlehren unter Beachtung des Grundsatzes der Rechtssicherheit hat der Gerichtshof hierfür selbst die Voraussetzungen geschaffen. Insgesamt erscheint aber doch die Vorgehensweise der Gerichte etwas zurückhaltend. Dies entspricht freilich dem Umgang mit dem Gesetzesrecht ganz allgemein. Ebenso wie dort dürfte die Ursache in einem ausgeprägten Konservatismus sowie in der Überzeugung wurzeln, dass jede Intervention des Gesetzgebers, des nationalen wie des europäischen, in die hergebrachten und organisch gewachsenen Strukturen des common law grundsätzlich mit Misstrauen zu betrachten ist. Zudem dient die Begrenzung des Anwendungsbereichs national wie europarechtlich determinierten Gesetzesrechts der Sicherung des eigenen Machtbereichs der Gerichte bei der Fortbildung des common law.

52

Was bedeutet dies nun für die Rolle der Gerichte im Rahmen der Europäisierung des Privatrechts? Die Anwendung des vom Gerichtshof entwickelten formalen Methodenkanons bei der Auslegung Europäischen Privatrechts, insbesondere des Richtlinienrechts, scheint den Gerichten des Vereinigten Königreichs keine allzu großen Schwierigkeiten zu bereiten. Insoweit ist eine durch methodische Besonderheiten bedingte Aufsplitterung des Europäischen Privatrechts kaum zu befürchten. Freilich darf eine Europäische Methodenlehre bei einer beschreibenden Darstellung der verwendeten Auslegungskriterien nicht stehen bleiben. Erforderlich ist vielmehr die Entwicklung einer normativen Auslegungs- und Konkretisierungslehre anhand der Wertentscheidungen und Prinzipien, die der europäischen Wirtschaftsverfassung und dem Sekundärrecht zugrundeliegen.195 Dagegen sind der Europäisierung des Privatrechts über eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts deutliche Grenzen

194 Vgl. insoweit Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618, 634 per Lord Templeman. 195 Dazu Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden, S. 277 ff.

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§ 25 Vereinigtes Königreich

gesetzt. Trotz einer gewissen Annäherung an die kontinentalen Rechtsordnungen weist die nationale Methodenlehre noch immer gewichtige Unterschiede auf, die auf das materielle Recht durchschlagen können. Diese Gefahr ist freilich dem Konzept der Rechtsangleichung sowie dem Institut der richtlinienkonformen Auslegung immanent und europarechtlich hinzunehmen. Letztlich kann dem nur durch Rechtsvereinheitlichung im Verordnungswege abgeholfen werden. Ob und in welchem Umfang dies künftig politisch gewollt und kompetenziell machbar sein wird, bleibt abzuwarten.

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§ 26 Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Italien Remo Caponi/Andreas Piekenbrock

Übersicht I. Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

II. Die Akzeptanz der EU in Italien . . . . . . . . . . . . 1. Die Teilnahme Italiens am Aufbau Europas . . . . . 2. Bedeutung der gubernativen Rechtsetzung in Italien 3. Jedes Europa rettet Italien! . . . . . . . . . . . . . . 4. Gemeinschaftsrecht in Theorie und Praxis . . . . . . 5. Informationslücken . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rn. 1

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2–10 3–4 5–6 7 8–9 10

III. Gemeinschaftsrecht und italienisches Recht . . . . . . . . 1. Der Standpunkt des Verfassungsgerichtshofs . . . . . . 2. Die Doktrin der „controlimiti“: Stand der Dinge . . . . 3. Die Doktrin der „controlimiti“: Kritische Aspekte . . .

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11–26 12–18 19–22 23–26

IV. Die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts durch nationale Rechtsakte . . . . . . 1. Das „Gemeinschaftsrechtsgesetz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rolle der Regionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27–33 29–30 31–33

V. Auslegung von Rechtsnormen: Grundlagen und aktuelle Tendenzen . . . . . 1. Gesetzliche Auslegungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Rechtsprechung des italienischen Kassationshofs . . . . . . . . . . aa) Erster Fall: Schmerzensgeld bei Persönlichkeitsrechtsverletzung . . bb) Zweiter Fall: Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen bei Wachkomapatienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gemeinsamkeiten und Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Kassationshof als ‚faktischer Verfassungsgerichtshof‘ . . . . . . . d) Notwendigkeit einer Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . . .

34–62 35–38 39–41 42–62 43 44–47

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48–52 53–54 55–60 61–62

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63–73

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Auslegung des Gemeinschaftsrechts VII. Schluss

Literatur: Ruggiero Cafari Panico, Per un’interpretazione conforme, Dir. pubbl. comp. europeo 1999, 383–396; Remo Caponi, Democrazia, integrazione europea, circuito delle corti costituzionali (dopo il Lissabon-Urteil), Riv. Ital. Dir. Pubbl. Comunitario 2010 (im Erscheinen); Marta Cartabia, Principi inviolabili e integrazione europea (1995); dies., Nuovi sviluppi delle «competenze comunitarie» della Corte costituzionale, Giur. cost. I 1989, 1012–1023; Roberto Conti, L’effettività del diritto privato e il ruolo del giudice, EDP 2007, 479–520; Chiara Di Seri, Un

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Remo Caponi/Andreas Piekenbrock

§ 26 Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Italien ‘tentativo’ di applicazione dei «controlimiti», Giur. cost. 2005, 3408–3419; Giorgio Gaja, Introduzione al diritto comunitario (2005); Thomas Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode (2009), S. 168–175; Hasso Hofmann, «Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet», in: Ulrike Müßig (Hrsg.), Konstitutionalismus und Verfassungskonflikt – Symposion für Dietmar Willoweit (2006), S. 269–285; Josef Isensee, Vorrang des Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte – offener Dissens, in: Joachim Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit – Festschrift für Klaus Stern (1997), S. 1239–1268; Franz C. Mayer, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Armin v. Bogdandy/Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2. Aufl. 2009), S. 559–607; Luigi Mengoni, Ermeneutica e dogmatica giuridica (1997); Giuseppe Morbidelli, Controlimiti o contro la pregiudiziale comunitaria, Giur. cost. 2005, 3404–3407; Riccardo Omodei-Salè, Italienische Rechtsprechung zum Gemeinschaftsprivatrecht, GPR 2003/04, 73, 175– 176, 251–252; 2005, 115–117; 2006, 69–70; 2007, 112–113; 2008, 11–13; Fritz Ossenbühl, Gesetz und Recht – Die Rechtsquellen im demokratischen Rechtsstaat, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band V: Rechtsquellen, Organisation, Finanzen (3. Aufl. 2007), S. 135–182; Alessandro Pizzorusso, Comparazione giuridica e sistema delle fonti del diritto (2005); Michele Ruvolo, Interpretazione conforme e situazioni giuridiche soggettive, EDP 2006, 1407–1464; Antonio Tizzano, La tutela dei privati nei confronti degli Stati membri dell’Unione europea, Foro it. 1995 IV, 13–32; Carl Schmitt, Politische Theologie, Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (2. Ausg. 1934/9. Aufl. 2009); Francesco Viola/Giuseppe Zaccaria, Diritto e interpretazione (1999); Armin v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung – Eine Neubestimmung der Rechtsetzung und des Regierungssystems unter dem Grundgesetz in der Perspektive gemeineuropäischer Dogmatik (2000).

I.

Vorwort

Dieser Länderbericht soll dem deutschen Leser einen ersten Eindruck von den Problemen bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts im Rahmen der italienischen Rechtsordnung geben.

II.

Die Akzeptanz der EU in Italien

Die Anwendung und Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts ist im Wesentlichen den Mitgliedstaaten anvertraut und damit dem Intellekt, der Kultur und dem Willen der EU-Bürger. Daher soll hier kurz auf die politische und soziale Akzeptanz der EU in Italien eingegangen werden. 1.

1

2

Die Teilnahme Italiens am Aufbau Europas

Italien hat von Anfang an am Aufbau Europas teilgenommen und die europäische Idee zumindest in der politischen Öffentlichkeit immer unterstützt. Dies zeigen die Leistungen von Politikern wie Altiero Spinelli, dem Gründer des Movimento federalista europeo (1943), und Alcide De Gasperi, der als Chef der italienischen Regierung zu Beginn der fünfziger Jahre zusammen mit Robert Schumann und Konrad Adenauer die ersten Schritte zur europäischen Integration unternommen hat.

3

Auch die Teilnahme Italiens an den weiteren Schritten bis hin zum Vertrag von Lissabon, der am 1. Dezember 2009 endlich in Kraft getreten ist, ist nie ernsthaft in Frage gestellt worden.

4

Remo Caponi/Andreas Piekenbrock

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3. Teil: Besonderer Teil

2.

Bedeutung der gubernativen Rechtsetzung in Italien

5

Gemäßigter als in anderen Ländern ist auch die Diskussion über die ungenügende Teilnahme der nationalen Parlamente an der politischen Entscheidungsfindung und über den begrenzten Gestaltungsspielraum, den das Gemeinschaftsrecht dem nationalen Gesetzgeber belässt. Dabei spielt sicherlich eine gewisse Rolle, dass die gubernative Rechtssetzung nach Art. 76, 77 der italienischen Verfassung1 sowohl durch Eilmaßnahmen als auch durch Gesetzgebungsdelegation weit verbreitet ist2 und viel weiter reicht als etwa nach Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG.

6

Dass das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit der Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse im Lissabon-Urteil als Inbegriff souveräner Staatlichkeit angesehen hat, ist aber auch in Italien aufmerksam registriert worden.3 3.

7

Jedes Europa rettet Italien!

Darüber hinaus werden die Bindungen und Verpflichtungen durch die Teilnahme am europäischen Integrationsprozess als Chance wahrgenommen, die eigenen gesellschaftlichen Probleme wie das Nord-Süd-Gefälle und die Ineffektivität der öffentlichen Verwaltung zu lösen. Die nationalen Anstrengungen zur Teilnahme an der Währungsunion sind dafür ein sichtbarer Beleg. 4.

Gemeinschaftsrecht in Theorie und Praxis

8

Italien ist jedoch ein Land, in dem der Unterschied zwischen Worten und Taten besonders groß ist – und damit auch der Unterschied zwischen Absichtserklärungen auf der einen Seite und der tatsächlichen Bereitschaft und der Fähigkeit, sie zu verwirklichen, auf der anderen. Darunter leiden auch die Anwendung und Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts – ebenso wie des Rechts im Allgemeinen. Als Paraphrase eines bekannten Gegensatzes kann man für die italienische Wirklichkeit daher sagen, dass das Gemeinschaftsrecht in the books und in action zwei sehr unterschiedliche Paar Schuhe sind.

9

Daher lässt sich vermuten, dass die unbedingte Teilnahme an der Europäischen Union auch auf den Grenzen und besonderen Umständen beruht, auf die die Anwendung und Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts in der italienischen Wirklichkeit trifft. Oder plastischer ausgedrückt: Die Teilnahme am Integrationsprozess fällt leichter, wenn die sich daraus ergebenden Folgen nicht zu ernst genommen werden.

1 Der Verfassungstext ist mit der deutschen Übersetzung für Trentino-Südtirol abrufbar unter www.regione.taa.it/normativa/costituzione.pdf. 2 Vgl. v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S. 295 ff. 3 Vgl. statt aller Caponi, Riv. Ital. Dir. Pubbl. Comunitario 2010 (im Erscheinen) mwN.

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Remo Caponi/Andreas Piekenbrock

§ 26 Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Italien

5.

Informationslücken

Schließlich ist die Teilnahme am europäischen Projekt außerhalb der intellektuellen Elite als schicksalhaft angesehen worden und niemals Gegenstand einer tiefgreifenden Debatte einer informierten Öffentlichkeit gewesen. Dies belegen selbst fehlende Grundkenntnise, die beim Lesen italienischer Tageszeitungen zu Tage treten. So verwechseln nicht nur einfache Bürger, sondern auch namhafte Journalisten beispielsweise den EuGH und den Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte.

10

III. Gemeinschaftsrecht und italienisches Recht Die italienische Rechtsordnung kennt wie die deutsche eine zentralisierte Prüfung der Verfassungskonformität der Gesetze durch den Verfassungsgerichtshof (Corte costituzionale), auch wenn dieser nicht von den Bürgern mit einer (Rechtssatz- oder Urteils-)Verfassungsbeschwerde angerufen werden kann, sondern nur – vergleichbar mit Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG – in via principale auf Antrag der Regierung bzw. einer Region oder – vergleichbar mit Art. 100 Abs. 1 GG – in via incidentale durch Vorlage eines Gerichts. Da sich das Bundesverfassungsgericht intensiv mit dem Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen (Verfassungs-)Recht befasst hat,4 dürfte es den deutschen Leser besonders interessieren, wie sich der italienische Verfassungsgerichtshof zur unmittelbaren Geltung und zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts geäußert hat. 1.

11

Der Standpunkt des Verfassungsgerichtshofs

Der Verfassungsgerichtshof hat die Grundlage des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht zunächst in Art. 11 der Verfassung gesehen. Dort steht seit der Gründung der Republik geschrieben: „Italien stimmt unter der Bedingung der Gleichstellung mit den übrigen Staaten den Beschränkungen der staatlichen Souveränität zu, sofern sie für eine Rechtsordnung nötig sind, die den Frieden und die Gerechtigkeit unter den Völkern gewährleistet; es fördert und begünstigt die auf diesen Zweck gerichteten überstaatlichen Zusammenschlüsse.“ 5

12

In seiner Grundsatzentscheidung vom 8. Juni 1984, Nr. 170 6, hat der Gerichtshof dazu entschieden: „Konfligierende Bestimmungen des nationalen Rechts können der Anerkennung der Geltungskraft, die der Vertrag der Gemeinschaftsrechtsordnung verleiht, indem er es als produktiven Akt unmittelbar anwendbarer Regeln ausgestaltet, nicht entgegenstehen. Gegenüber der Sphäre dieses Aktes bleibt das staatliche Recht zwar in Kraft; es ist jedoch Teil einer Rechtsordnung, die sich in die Normset-

13

4 BVerfGE 37, 271, 277 ff. – Solange I; 73, 339, 374 ff. – Solange II; 89, 155, 188 – MaastrichtVertrag; 102, 147, 161 ff. – Bananenmarktordnung; 113, 273, 296 – Europäischer Haftbefehl; 123, 267 Rn. 240 – Lissabon-Vertrag. 5 Zur Textfassung vgl. oben, Fn. 1. 6 Die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs sind abrufbar unter www.giurcost.org/ decisioni/index.html (in zeitlicher Ordnung unter „Cronologica“). Remo Caponi/Andreas Piekenbrock

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3. Teil: Besonderer Teil

zung der getrennten und autonomen Gemeinschaftsrechtsordnung nicht einmischen will, obgleich sie deren Beachtung auf dem Staatsgebiet garantiert.“

14

Ganz offensichtlich sollte dieses Urteil der Rechtsprechung des EuGH Rechnung tragen, die insbesondere in der Entscheidung der Rechtssache Simmenthal 7 zum Ausdruck gekommen ist. Dabei erscheint bemerkenswert, dass diese Grundsatzentscheidung auf einer Vorlage eines italienischen Gerichts in einer abgabenrechtlichen Streitigkeit beruht und aus einer Zeit stammt, als der Bundesfinanzhof noch eisern am Vorrang des nationalen Steuerrechts gegenüber dem Sekundärrecht festhalten wollte.8

15

In den folgenden Jahren hat der Verfassungsgerichtshof die These vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts und der Nichtanwendung entgegenstehender nationaler Normen auf alle direkt anwendbaren Gemeinschaftsrechtsnormen ausgedehnt. Dies gilt namentlich für die Bestimmungen, die sich aus der Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH ergeben,9 und die Normen der direkt anwendbaren Richtlinien.10

16

Ist eine Gemeinschaftsrechtsnorm dagegen nicht unmittelbar anwendbar, bleibt die möglicherweise entgegenstehende Norm des nationalen Rechts anwendbar. Der Konflikt kann aber durch die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung in den Grenzen des hermeneutisch Möglichen (siehe unten) oder über die Prüfung der Verfassungskonformität der nationalen Norm gelöst werden. Dazu kann neben Art. 11 auch auf die jüngere Regelung in Art. 117 Abs. 1 der Verfassung 11 zurückgegriffen werden.12

17

Diese Kompetenznorm ist verletzt, wenn eine nationale Norm im Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht steht.13 Trifft dies für ein Regionalgesetz zu, fehlt der Region damit die Gesetzgebungskompetenz, was von der Regierung in einer Art „Staat-Regio-

7 EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 106/77 Staatliche Finanzverwaltung ./. Simmenthal, Slg. 1978, 629 Rn. 21–24. Danach folgt aus der unmittelbaren Anwendbarkeit und dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts, „dass jeder im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene staatliche Richter verpflichtet ist, das Gemeinschaftsrecht uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die es den einzelnen verleiht, zu schützen, indem er jede möglicherweise entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts, gleichgültig, ob sie früher oder später als die Gemeinschaftsnorm ergangen ist, unangewendet lässt […], ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste.“ 8 Vgl. BFHE 143, 383, 388 f., wo der Vorabentscheidung EuGH v. 22.2.1984 – Rs. 70/83 Kloppenburg ./. Finanzamt Leer, Slg. 1984, 1075 Rn. 9 die Gefolgschaft verweigert worden war. Vgl. aber nachfolgend BVerfGE 75, 223, 233 ff. 9 Vgl. Corte cost. v. 23.4.1985, Nr. 113. 10 Vgl. Corte cost. v. 2.2.1990, Nr. 64. Vgl. zuletzt Corte cost. v. 30.4.2009, Nr. 125. 11 Diese durch das Verfassungsgesetz v. 18.10.2001, Nr. 3 eingeführte Bestimmung lautet: „Staat und Regionen üben unter Wahrung der Verfassung sowie der aus der gemeinschaftlichen Rechtsordnung und aus den internationalen Verpflichtungen erwachsenden Einschränkungen die Gesetzgebungsbefugnis aus.“ 12 Vgl. Gaja, Introduzione al diritto comunitario, S. 128 f. 13 Vgl. Corte cost. v. 1.10.2003, Nr. 303.

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Remo Caponi/Andreas Piekenbrock

§ 26 Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Italien

nen-Streit“ nach Art. 127 Abs. 1 der Verfassung14 geltend gemacht werden kann. Dagegen können die Regionen die Nichtigkeit eines staatlichen Gesetzes wegen fehlender Gesetzgebungskompetenz nach Art 127 Abs. 2 der Verfassung15 nur geltend machen, wenn der Staat damit ihre eigene Gesetzgebungskompetenz verletzt hat. Die genauen Auswirkungen dieser Verfassungsreform auf das Gemeinschaftsprivatrecht sind dagegen bis heute noch nicht endgültig geklärt. Äußerst bemerkenswert ist jedoch, dass der Verfassungsgerichtshof auf Vorlage eines Strafgerichts (Tribunale von Venedig) eine umweltrechtliche Norm, wonach Pyritasche von 2006 bis 2008 nicht als Abfall anzusehen war,16 wegen Verletzung der maßgeblichen Abfallrechts-Richtlinie17 und damit wegen Verletzung der Art. 11, 117 Abs. 1 der Verfassung für verfassungswidrig erklärt hat.18 Damit muss die vorübergehende Gesetzesänderung bei zuvor begangenen Straftaten nicht als späteres milderes Gesetz angewandt werden (Art. 49 GRCh). Überträgt man diesen Gedankengang auf das Gemeinschaftsprivatrecht und insbesondere auf den Quelle-Fall, wäre nach italienischem Verfassungsrecht leicht zu begründen, dass § 439 Abs. 4 BGB verfassungswidrig ist, soweit der Verkäufer, der ein vertragswidriges Verbrauchsgut geliefert hat, vom Verbraucher Wertersatz für die Nutzung des vertragswidrigen Verbrauchsguts bis zu dessen Austausch durch ein neues Verbrauchsgut verlangen kann.19 Des „Umwegs“ einer „richtlinienkonformen Rechtsfortbildung durch teleologische Reduktion“20 bedarf es dann nicht mehr. 2.

18

Die Doktrin der „controlimiti“: Stand der Dinge

Parallel zur Vertiefung der Auswirkungen des Integrationsprozesses auf die italienische Verfassungsordnung entzieht der Verfassungsgerichtshof ähnlich dem Bundesverfassungsgericht einige verfassungsrechtliche Garantien der Verfügung durch die 14 Die Vorschrift lautet: „Überschreitet ein Regionalgesetz nach Ansicht der Regierung die Zuständigkeit der Region, so kann die Regierung innerhalb sechzig Tagen nach seiner Veröffentlichung die Frage der Verfassungsmäßigkeit vor dem Verfassungsgerichtshof aufwerfen.“ 15 Die Vorschrift lautet: „Verletzt ein Staatsgesetz oder Akt mit Gesetzeskraft des Staates oder einer anderen Region nach Ansicht einer Region deren Zuständigkeiten, so kann sie innerhalb sechzig Tagen nach Veröffentlichung des Gesetzes oder des Aktes mit Gesetzeskraft die Frage der Verfassungsmäßigkeit vor dem Verfassungsgerichtshof aufwerfen.“ 16 Art. 183 Abs. 1 lit. n) S. 4 des decreto legislativo v. 3.4.2006, Nr. 152 (Norme in materia di ambiente), geändert durch Art. 2 Abs. 20 des decreto legislativo v. 16.1.2008, Nr. 4. 17 Richtlinie 75/442/EWG des Rates v. 15.7.1975 über Abfälle, ABl. 1975 L 194/47 bzw. Richtlinie 2006/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.4.2006 über Abfälle, ABl. 2006 L 114/9, heute ersetzt durch die Richtlinie 2008/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.4.2006 über Abfälle und zur Aufhebung bestimmter Richtlinien, ABl. 2008 L 312/3. 18 Vgl. Corte cost. v. 28.1.2010, Nr. 28. Dort wird ausdrücklich betont, dass die Richtlinie nicht unmittelbar anwendbar war, so dass das Fachgericht die nationale Norm nicht unangewendet lassen konnte, sondern die Frage der Verfassungswidrigkeit im Wege der Vorlage an den Verfassungsgerichtshof zu klären war. 19 EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle AG ./. Bundesverband der Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände, Slg. 2008, I-2685 Rn. 43. 20 BGHZ 179, 27, Rn. 21. Remo Caponi/Andreas Piekenbrock

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19

3. Teil: Besonderer Teil

Gemeinschaftsorgane. Im Rahmen der so genannten Doktrin der „controlimiti“ genießen diese Garantien eine Sonderbehandlung und werden vom Verfassungsgerichtshof auch gegenüber dem Gemeinschaftsrecht, das grundsätzlich auch das nationale Verfassungsrecht derogieren kann, geschützt.21

20

Diese Doktrin ist in den Urteilen vom 27. Dezember 1973, Nr. 183 und vom 8. Juni 1984, Nr. 170 entwickelt worden. Mit ihr schien sich die durch die Beachtung der Grundprinzipien der Verfassungsordnung und der unveräußerlichen Persönlichkeitsrechte gebotene Grenze des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts nur in dem unwahrscheinlichen Fall verwirklichen zu können, dass das Ausführungsgesetz zu den Verträgen für verfassungswidrig erklärt wird. Damit schien dieser Vorbehalt nur den Schulfall eines schweren Widerspruchs des Gemeinschaftsrechts zu den Grundprinzipien und Grundrechten der italienischen Verfassungsordnung zu erfassen.22 Ein solcher Fall ist in der Wirklichkeit spätestens seit Inkrafttreten der Grundrechtscharta am 1. Dezember 2009 aber kaum noch denkbar.

21

Mit Urteil vom 21. April 1989, Nr. 232 hat der Verfassungsgerichtshof seine Kontrollmöglichkeiten jedoch erweitert. Danach kann sich die Überprüfung der Verfassungskonformität zum Schutz der unverletzbaren Prinzipien auf jede Norm des Gemeinschaftsrechts in Gestalt der Auslegung und Anwendung durch die Gemeinschaftsorgane beziehen.23

22

Diese Linie der Rechtsprechung ist durch jüngere Entscheidungen bestätigt worden. Besonders bemerkenswert ist dabei die Wendung, dass der Verfassungsgerichtshof zur Ausübung dieser Kontrollfunktion befugt ist, wenn die Nichtanwendung des nationalen Rechts in einem nur von ihm selbst überprüfbaren Widerspruch zu den Grundprinzipien der Verfassungsordnung und den unveräußerlichen Persönlichkeitsrechten steht.24 Damit liegt die italienische Rechtsprechung auf derselben Linie wie das Bundesverfassungsgericht.25 3.

23

Die Doktrin der „controlimiti “: Kritische Aspekte

Trotz einer gewissen Offenheit gegenüber der Überprüfung der Nichtanwendung nationaler Normen, die in Widerspruch zu den Grundprinzipien der Verfassungsordnung stehen könnten, ist die Doktrin der „controlimiti“ noch als abstrakter Machtanspruch gedacht, bei der europäischen Integration das letzte Wort zu haben – also im Sinne Carl Schmitts als Souveränitätsbestätigung für den Ausnahmezustand, nur theoretisch gefordert, aber gegenwärtig nicht gedacht, sich jemals konkret zu realisieren.26

21 Vgl. Cartabia, Principi inviolabili e integrazione europea, S. 6 f.; v. Bogdandy/Bast-Mayer, S. 580. 22 Vgl. Corte cost. v. 8.6.1984, Nr. 170. 23 Vgl. Corte cost. v. 21.4.1989, Nr. 232, Giur. cost. 1989 I, 1001 m. Anm. Cartabia (S. 1012 ff.). 24 Vgl. Corte cost. v. 28.12.2006, Nr. 454. 25 Vgl. insbes. BVerfGE 123, 267 Rn. 240 – Lissabon-Vertrag. 26 Vgl. Schmitt, Politische Theologie, S. 11: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“.

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§ 26 Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Italien

Damit handelt es sich mit anderen Worten um die Forderung, in einem hypothetischen, aber letztlich unlösbaren Konflikt mit dem EuGH das letzte Wort zu haben. Denn nach der Konzeption des EuGH sehen wir uns nicht einem integrierten Rechtssystem gegenüber, aber nach der Konzeption des italienischen Verfassungsgerichtshofs auch nicht zwei getrennten, miteinander kommunizierenden Rechtsordnungen. Vielmehr würde es sich um zwei Rechtsordnungen handeln, die sich schlicht widersprechen, wobei jede einen eigenen, autonom begründeten Geltungsanspruch hätte, so dass die Lösung des Konflikts letztlich eine Machtfrage wäre.27 Und diese Machtfrage müsste schon deshalb zugunsten der Mitgliedstaaten entschieden werden, weil die Gemeinschaftsorgane, wie eingangs erwähnt, zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts zwingend auf die Mitwirkung der nationalen Staatsgewalten angewiesen sind.

24

Hält man sich dies vor Augen, verbleibt die Doktrin der „controlimiti “ beim Bau des europäischen Hauses ganz am Rande. Gleichwohl kann sie ungewollte Kollateralschäden verursachen wie die jüngste Entscheidung des italienischen Staatsrates (Consiglio di Stato), wonach dieser eine Auslegungsfrage des Primärrechts nicht dem EuGH vorgelegt hat, weil ohnehin der vorherigen Auslegung des Verfassungsgerichtshofs zu folgen sei, die dieser hinsichtlich des Schutzes des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit vorgenommen hatte.28 Dieser Fall hat damit eine ganz andere Qualität als die Verweigerung der Vorlage im Bereich des Gemeinschaftsprivatrechts mangels Umsetzungsspielraums.29

25

Auf der anderen Seite muss man den dialogischen Wert der Doktrin der „controlimiti “ bedenken, wenn man deren Anwendungsbereich von der rein theoretischen Ebene der frontalen Machtkonfrontation auf die pragmatische Ebene einer echten fruchtbaren Zusammenarbeit der nationalen Verfassungsgerichte, des EuGH und des Straßburger Gerichtshofs hebt.30 In diese Richtung tendiert die glückliche Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs, der – im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht etwa bei der Vorratsdatenspeicherung – nun zum ersten Mal ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG (nunmehr Art. 267 AEUV) über die Vereinbarkeit regionaler Steuervorschriften mit der Dienstleistungsfreiheit gestellt hat.31

26

27 Vgl. Isensee, FS Stern (1997), S. 1265. 28 Vgl. Cons. Stato v. 8.8.2005, Nr. 4207, Admenta Italia c. Federfarma, Giur. cost. 2005, S. 3391, mit Anm. Morbidelli (S. 3404 ff.) und Di Seri (S. 3408 ff.). 29 Vgl. dazu etwa BGH, WM 2003, 2184, 2186; WM 2003, 2186, 2187; NJW 2004, 839, 841; BAGE 105, 32, 48 ff.; 107, 318, 336. 30 In diese Richtung kann man die Ausführungen von H. Hofmann, in: Müßig (Hrsg.), Konstitutionalismus und Verfassungskonflikt, S. 283 f. verstehen. 31 Dabei ist jedoch bemerkenswert, dass der Verfassungsgerichtshof die Vorlage auch in diesem Fall erwogen hat. Dagegen hatte er ein eigenes Vorabentscheidungsersuchen in der Entscheidung von 103/2008 obiter ausgeschlossen, wenn die Verfassungskonformität in via incidentale geprüft wird, und statt dessen das Fachgericht für vorlagepflichtig gehalten.

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3. Teil: Besonderer Teil

IV.

Die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts durch nationale Rechtsakte

27

Die Umsetzung der europäischer Richtlinien war in Italien lange Zeit verspätet und mangelhaft. Ein beredtes Beispiel dafür ist die mangelhafte Umsetzung der Insolvenzschutzrichtlinie,32 die uns allen die „Francovich-Haftung“ beschert hat.33 Insoweit ist für das Verhältnis zum Gemeinschaftsrecht jedoch bemerkenswert, dass es italienische Amtsrichter (pretori) waren, die auf die Idee gekommen sind und den Mut hatten, Fragen nach einer möglichen Staatshaftung in ungeheurem Umfang zu formulieren und dem EuGH vorzulegen.

28

Damit ist aber auch in Italien eine Zeitenwende eingeläutet worden. Maßgeblichen Anteil daran hatten die nach dem seinerzeitigen Justizminister benannte legge La Pergola (Gesetz vom 9.3.1989, Nr. 86) und die legge Buttiglione (Gesetz vom 4.2.2005, Nr. 11), die allgemeine Regelungen über die Teilnahme Italiens am europäischen Normsetzungsprozess und über das Verfahren zur Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen Pflichten aufstellen. 1.

Das „Gemeinschaftsrechtsgesetz“

29

In diesem Rahmen ist vorgesehen, dass das Gemeinschaftsrecht hauptsächlich durch ein eigens dafür bestimmtes Gesetz, das „Gemeinschaftsrechtsgesetz“ (legge comunitaria), umgesetzt wird, das einmal jährlich zu erlassen ist. Dieses Gesetz enthält üblicherweise einen Gesetzgebungsauftrag an die Regierung im Sinne von Art. 76 der Verfassung. In der Praxis werden die Leitprinzipien und -kriterien des Delegationsgesetzes im Gesetzesentwurf von der Regierung selbst bestimmt, so dass das Parlament nur sehr schwer eine aktive Rolle in diesem Kontext ausüben kann.34

30

Art. 10 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 11 sieht darüber hinaus vor, dass die Regierung die zur Umsetzung der gemeinschaftsrechtlichen Normen oder Urteile erforderlichen (Eil-)Maßnahmen selbst ergreifen kann, wenn die dafür maßgeblichen Fristen vor dem Inkrafttreten des nächsten Gemeinschaftsrechtsgesetzes ablaufen. 2.

31

Die Rolle der Regionen

Bezüglich der Regionalgesetzgebung sieht Art. 117 Abs. 5 der Verfassung vor, dass „die Regionen und die autonomen Provinzen Trient und Bozen für die in ihre Zuständigkeit fallenden Sachgebiete an den Entscheidungen im Rahmen des Rechtssetzungsprozesses der Europäischen Union teilnehmen und für die Anwendung und

32 Richtlinie 80/987/EWG des Rates v. 20.10.1980 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. 1980 L 283/23, inzwischen aufgehoben durch Art. 16 der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 22.10.2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. 2008 L 283/36. Zur Vertragsverletzung vgl. EuGH v. 2.2.1989 – Rs. 22/87 Kommission ./. Italien, Slg. 1989, 143 Rn. 10. 33 EuGH v. 19.11.1991 – Rs. C-6/90 Francovich ./. Italien, Slg. 1991, I-5357 Rn. 33 ff. 34 Vgl. Gaja, Introduzione al diritto comunitario, S. 137 f.

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§ 26 Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Italien

Durchführung von völkerrechtlichen Abkommen und Rechtsakten der Europäischen Union sorgen und dass dabei die Verfahrensbestimmungen zu beachten sind, die mit Staatsgesetz festgesetzt werden, durch das die Einzelheiten der Ausübung der Ersetzungsbefugnis in Fällen der Untätigkeit geregelt sind.“ Hinsichtlich dieser Bestimmung sieht Art. 11 des besagten Gesetzes Nr. 11 vor, dass staatliche Normen, die der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht dienen, auch auf Gebieten erlassen werden dürfen, die der Gesetzgebungskompetenz der Regionen und der autonomen Provinzen unterstellt sind, um der möglichen Untätigkeit dieser Gebietskörperschaften bei der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts entgegen zu wirken. In diesem Fall werden die staatlichen Normen ab dem Ablauf der Umsetzungsfrist in den Regionen und autonomen Provinzen angewandt, in denen noch kein Umsetzungsgesetz in Kraft ist. Soweit derartige Regeln nachträglich in Kraft treten, verlieren sie nach und nach ihre Wirkung. Sie enthalten daher den ausdrücklichen Hinweis auf die stellvertretende Ausübung der Gesetzgebungsgewalt und die Nachgiebigkeit der darin enthaltenden Normen gegenüber der Regional- bzw. Provinzgesetzgebung. Darüber hinaus unterliegen diese Gesetzgebungsakte der vorherigen Prüfung der ständigen Konferenz für die Beziehungen zwischen dem Staat, den Regionen und den autonomen Provinzen Trient und Bozen.

32

Schließlich sieht der heutige Art. 120 Abs. 2 der Verfassung vor, „dass die Regierung – ohne Rücksicht auf die Gebietsgrenzen der lokalen Regierungen – befugt ist, bei Nichtbeachtung internationaler Bestimmungen und Abkommen oder der EU Bestimmungen oder bei großer Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit für Organe der Regionen, der Großstädte mit besonderem Status, der Provinzen und der Gemeinden zu handeln, sowie wenn es für den Schutz der Rechts- oder Wirtschaftseinheit und insbesondere für den Schutz der wesentlichen Dienstleistungen betreffend die Bürger- und Sozialrechte erforderlich ist.“ Des Weiteren ist dort bestimmt, dass „das Gesetz die Verfahren zur Gewährleistung dafür festlegt, dass die Ersetzungsbefugnis unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der loyalen Zusammenarbeit ausgeübt wird.“

33

V.

Auslegung von Rechtsnormen: Grundlagen und aktuelle Tendenzen

Der Versuch, die Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu analysieren, muss bei der Beschreibung des kulturellen Rahmens der Gesetzesauslegung ansetzen, der sich aus der Haltung der Legislative, der Judikative und der Wissenschaft ergibt. Dieser Rahmen ist überaus fragmentarisch und uneinheitlich. 1.

34

Gesetzliche Auslegungsregeln

So findet sich in den „Allgemeinen Bestimmungen über das Recht“, die dem Codice civile vom 16. März 1942 vorangestellt worden sind, in Art. 12 folgende gesetzliche Auslegungsregel: „(1) Bei der Anwendung von Gesetzen kann diesen nur der Sinn zukommen, der sich aus dem eigentlichen Wortsinn, aus dem wörtlichen Zusammenhang und aus der Absicht des Gesetzgebers ergibt. (2) Lässt sich ein Streitfall nicht Remo Caponi/Andreas Piekenbrock

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35

3. Teil: Besonderer Teil

auf Grund einer konkreten gesetzlichen Bestimmung entschieden werden, werden die Vorschriften, die ähnliche Fälle oder entsprechende verwandte Sachgebiete regeln, herangezogen; verbleiben noch Zweifel, ist nach den allgemeinen Grundsätzen der staatlichen Rechtsordnung zu entscheiden.“ 35

36

Diese Norm ist in vielerlei Hinsicht überholt und kann heute nicht mehr als Kern der Gesetzesauslegungslehre angesehen werden. Erstens spiegelt seine systematische Stellung die Vorstellung wider, die Rechtsquellentheorie sei im wesentlichen der Privatrechtspflege anvertraut. Dagegen ist man sich heute auch in Italien darüber einig, dass sie wegen der engen Verbindung zwischen der Rechtsquellenlehre und der Staatsform Teil des öffentlichen Rechts ist.36 Zweitens stammt die Norm aus der Zeit vor dem Inkrafttreten der Verfassung von 1948 und der Errichtung des Verfassungsgerichtshofs und damit vor den größten Erschütterungen der italienischen Rechtsordnung in der Neuzeit. Und ganz selbstverständlich sind die Verfassung und die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs Quellen, die sich vom einfachen Gesetz radikal unterscheiden. Denn die Verfassung verwirft die positivistische Reduktion von Legitimität (oder Gerechtigkeit) auf die Frage der Legalität. Vielmehr wandelt sich das Problem der ethischen Begründung der Legitimität in ein juristisches Problem und macht es damit zum Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens, indem moralische Werte als präjuristische Bezugspunkte durch das Aufstellen von Prinzipien, Strukturen und Generalklauseln (z.B. die ergänzenden Prinzipien der Gerechtigkeit oder der Solidarität) oder als subjektive Rechte (Grundrechte) in positiv-rechtlichen Normen institutionalisiert werden.“37

37

Drittens wird die Beschränkung auf die Grundprinzipien der „staatlichen“ Rechtsordnung heute durch die wachsende Internationalisierung der wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen mehr und mehr in Frage gestellt. Denn die nationalen Rechtsordnungen können die transnationalen Beziehungen natürlicherweise nicht mehr effizient regeln und müssen die Rechtssetzung daher von der innerstaatlichen Gesetzgebung auf internationale und supranationale Instanzen verlagern, was zu einer fortschreitenden Einwirkung internationaler und supranationaler Normen auf reine Binnensachverhalte führt.

38

Dementsprechend ist der Rückgriff auf Art. 12 Codice civile der „Allgemeinen Bestimmungen über das Recht“ bei der Lösung von Auslegungsproblemen äußerst selten. Eine Recherche in der Datenbank „foro italiano on line“ hat für die Jahre 1981 bis 2009 nur 18 Treffer zu Tage gefördert. 2.

39

Die Wissenschaft

Die größeren Probleme stellen sich aber mit Blick auf die Wissenschaft, die eigentlich eine zentrale Rolle spielen sollte, um der Praxis der Gesetzesauslegung durch Richter

35 Übersetzung nach der zweisprachigen Ausgabe von Patti (Hrsg.), Codice civile italiano (2007). 36 Vgl. Pizzorusso, Comparazione giuridica e sistema delle fonti del diritto, S. 3. 37 So Mengoni, Ermeneutica e dogmatica giuridica, S. 117.

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§ 26 Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Italien

und Anwälte die notwendige theoretische Grundlage zu geben. Doch leider ist die Untersuchung der Auslegungsprobleme im italienischen Wissenschaftsbetrieb Rechtstheoretikern und -philosophen anvertraut, die nicht einmal einen Zweig des positiven Rechts in Forschung und Lehre vertreten. Dagegen kümmern sich die Gelehrten des positiven Rechts in der Regel gar nicht um methodologische Fragen oder tun dies nur in naiver Weise. Als Folge davon fühlt man sich einem Dialog unter Tauben ausgesetzt. Zum einen äußerst scharfsinnige Analysen, aber häufig ohne Anbindung an die praktische Wirklichkeit auf Seiten der Rechtsphilosophen, zum anderen Auslegungspraktiken, die ebenso häufig nach der Methode vorgehen „Ich weiß nicht wie.“

40

Freilich bestehen auch bemerkenswerte Ausnahme insbesondere unter den Zivil- und Handelsrechtslehrern, die mit großem Scharfsinn auch methodologische Fragen behandelt haben (statt aller drei Namen: Emilio Betti, Tullio Ascarelli, Luigi Mengoni) sowie gelungene Synthesen von Philosophie und Jurisprudenz, die den Übergang vom Rechtspositivismus zur analythischen Methode (in Italien eingeführt von Norberto Bobbio) illustrieren und zur modernen hermeneutischen Methode der Rechtswissenschaft gelangen.38

41

3.

Die Rechtsprechung

Umgekehrt ergibt die Analyse der Auslegungsmethoden der Rechtsprechung ein sehr dynamisches Bild. Dies gilt namentlich für die verfassungskonforme Auslegung durch den Kassationshof (Corte di cassazione) in den letzten Jahren. a)

Die Rechtsprechung des italienischen Kassationshofs

Die Rechtsprechung des italienischen Kassationshofs übt einen besonders starken Einfluss auf die italienische Verfassungsordnung aus. Die verfassungsrechtliche Dimension dieser Rechtsprechung wird an der mutigen Rechtsfortbildung deutlich. Dies zeigen exemplarisch zwei Beispiele, die in ähnlicher Weise auch in Deutschland für Aufsehen gesorgt haben. aa)

42

43

Erster Fall: Schmerzensgeld bei Persönlichkeitsrechtsverletzung

Art. 2059 Codice civile bestimmt entsprechend § 847 BGB a.F. für das Deliktsrecht, dass Nichtvermögensschäden nur in den gesetzlich bestimmten Fällen ersatzfähig sind. Nach den Urteilen des Kassationshofs Nr. 8827 und 8828 vom 31. Mai 200339 sind Nichtvermögensschäden aber nicht nur in den gesetzlich ausdrücklich bestimmten Fällen ersatzfähig, sondern auch, wenn durch die unerlaubte Handlung ein verfassungsrechtlich geschütztes Interesse verletzt worden ist, das einer wirtschaftlichen Bewertung nicht unmittelbar zugänglich ist. Dieser Auffassung, die deutschen Lesern

38 Vgl. Viola/Zaccaria, Diritto e interpretazione, passim. 39 Cass. v. 31.5.2009, Nr. 8827 und 8828, Foro it. 2003 I, 2273.

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44

3. Teil: Besonderer Teil

durchaus vertraut vorkommt,40 folgt auch das Urteil des Verfassungsgerichtshofs vom 11. Juli 2003, Nr. 233.

45

Der Kassationshof versucht dabei häufig, die Akzeptanz seiner mutigsten Entscheidungen dadurch zu fördern, dass die eigentliche Brisanz verschleiert wird. Um Schadenersatz für einen Nichtvermögensschaden aus der Verletzung eines unabdingbaren Persönlichkeitsrechts zu gewähren, wird dazu wiederholt behauptet, dass sich in diesem Zusammenhang nur die vom Gesetz über die Wiedergutmachung des Nichtvermögensschadens spezifisch und auf höchster verfassungsrechtlicher Ebene bestimmten Fälle konkretisieren.

46

So heißt es im Urteil Nr. 26972 des Kassationshofs vom 11. November 2008: „Die Liste der auf diese Weise bestimmten Fälle ist kein numerus clausus.“ 41 Damit verstrickt sich der Kassationshof letztlich in einen Widerspruch. Denn wenn die Liste der gesetzlich bestimmten Fälle (casi determinati dalla legge) keinen numerus clausus darstellt, dann ist es eben keine Liste der gesetzlich bestimmten Fälle. Der Kassationshof verwendet mit Absicht das in Art. 2059 Codice civile eingesetzte Wort „bestimmte“, um den Eindruck einer verfassungskonformen Auslegung zu vermitteln.

47

In Wirklichkeit verweist Art. 2059 Codice civile auf eine abgeschlossene Aufzählung von Regeln (der einfachen Gesetzgebung bzw. verfassungsrechtlicher Abstammung), die den Anspruch auf Ersatz des Nichtvermögensschadens an bestimmte Sachverhalte knüpfen. Der Kassationshof dagegen knüpft den Schadenersatzanspruch (auch) an die progressive Konkretisierung des Prinzips der Menschenwürde (Art. 2 der Verfassung). bb)

48

Zweiter Fall: Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen bei Wachkomapatientenl

In seinem berühmten Urteil Nr. 21748 vom 16. Oktober 2007 über die Wachkomapatientin Eluana Englaro, die keine Patientenverfügung errichtet hatte,42 hat der Kassationshof entschieden: „Der Richter kann den Vormund eines Wachkomapatienten zur Einstellung der diese Person künstlich am Leben erhaltenden ärztlichen Behandlung ermächtigen: a) wenn das Wachkoma nach strenger klinischer Würdigung irreversibel ist und nach den international anerkannten wissenschaftlichen Standards keine ärztliche Grundlage vorliegt, die davon ausgehen lässt, dass die Person auch nur die geringste Möglichkeit hat, das Bewusstsein in irgendeiner – wenn auch schwachen – Form sowie die Wahrnehmung der Außenwelt wieder zu erlangen; und b) vorausgesetzt, dass dieser Antrag aufgrund eindeutiger, übereinstimmender und überzeugender Beweise wirklich Ausdruck des Willens des Mündels ist, der aus seiner Persönlichkeit, seinem Lebensstil und seinen Überzeugungen hergeleitet wurde und

40 Vgl. BGHZ 128, 1, 15. 41 Cass. v. 11.11.2008, Nr. 26972, Resp.civ.e prev. 2009, 38. 42 Insoweit unterscheidet sich dieser Fall von BGHZ 154, 205. In BGHZ 163, 195 konnte der Vater als Betreuer aus dem Suizidversuch auf den Willen des Patienten schließen.

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§ 26 Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Italien

der Vorstellung entspricht, die er vor dem Verlust des Bewusstseins von der menschlichen Würde hatte.“ 43 Das Problem betraf den Beweis der beiden Voraussetzungen nach dem Beweismaß des Zivilprozesses. Der Aufgabe wurde durch den Beschluss der Corte d’appello von Mailand vom 9. Juli 2008 im Detail und mit menschlicher Anteilnahme Rechnung getragen, indem die Einstellung der künstlichen Ernährung genehmigt wurde.

49

Gegen diese Verfügung hat der Staatsanwalt Beschwerde zum Kassationshof eingelegt. Die Vereinigten Zivilsenate haben die Beschwerde jedoch mit Beschluss Nr. 27145 vom 13. November 2008 mangels Legitimation des Staatsanwalts als unzulässig verworfen.44 Der Beschluss wurde also rechtskräftig. Die Beschwerden, die einige Privatpersonen und Vereinigungen vor dem EuGMR eingereicht hatten, wurden ebenfalls für unzulässig erklärt.45

50

In der Zwischenzeit hatte der Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom 8. Oktober 2008, Nr. 33446 einen Organstreit gegenüber dem Kassationshof und der Corte d’appello von Mailand für unzulässig erklärt, der von der Abgeordnetenkammer mit der Behauptung angestrengt worden war, diese Gerichtshöfe hätten „Befugnisse der gesetzgebenden Gewalt ausgeübt“.

51

In der Endphase hat die Regierung schließlich vergeblich versucht, die Unterbrechung der künstlichen Ernährung gesetzlich zu verhindern. Die junge Frau ist jedoch drei Tage nach der Einstellung der künstlichen Ernährung verstorben.47

52

b)

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Haben die beiden Entscheidungen des Gerichtshofs Gemeinsamkeiten? Die Frage ist zu bejahen, denn in beiden Fällen hat der Kassationshof neue Rechtsnormen geschaffen. Diese neuen Rechtsnormen sind materiell als solche anzusehen, auch wenn sie formell nur für die Prozessparteien verbindlich sind.

53

Die Bedingungen, unter denen der Kassationshof neue Rechtsnormen formuliert hat, sind unterschiedlich:

54

– Im ersten Fall beruft sich der Gerichtshof auf das verfassungsrechtliche Prinzip der Menschenwürde, um die verbindliche Regel auszuschließen, wonach der Nichtvermögensschaden nur in den gesetzlich bestimmten Fällen ersatzfähig ist. – Im zweiten Fall ergänzt der Gerichtshof eine Wertungslücke betreffend die Regelung über die Einstellung der künstlichen Ernährung von Wachkomapatienten.

43 Cass. v. 16.10.2007, Nr. 21748, Foro it. 2008 I, 125, insoweit auch in deutscher Übersetzung wiedergegeben von Luther, EuGRZ 2009, 198, 199. 44 Cass. v. 13.11.2008, Nr. 27145, Foro it. 2009 I, 35. 45 EGMR v. 16.12.2008 – Appl. 55185/08 u.a. Ada Rossi u.a. ./. Italien, in französischer Sprache abrufbar unter www.menschenrechte.ac.at/orig/09_1/Rossi.pdf. 46 In deutscher Übersetzung in EuGRZ 2009, 234. 47 Den Fall schildert detailliert auch Luther, EuGRZ 2009, 198–202.

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3. Teil: Besonderer Teil

c)

Der Kassationshof als ‚faktischer Verfassungsgerichtshof‘

55

Im Vergleich zur deutschen Rechtsordnung fällt auf, dass es sich in Italien beim ‚wahren‘ Verfassungsgerichtshof – verstanden als Gerichtshof, der die Grundrechte in den konkreten Fällen des Lebens schützt – derzeit um den Kassationshof handelt. Auf welche Ursachen ist diese Situation zurückzuführen?

56

Die bereits in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts akut aufgetretenen Probleme in den Beziehungen zwischen dem Verfassungsgerichtshof und dem Kassationshof wurden zunächst nach folgenden Richtlinien gelöst: Ausschließlich der ordentliche Richter hatte die Aufgabe, die Auslegung des Gesetzes zu ermitteln. Der Verfassungsgerichtshof prüfte die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes in der Auslegung durch den ordentlichen Richter. Gegenstand seiner Prüfung war das durch die ständigen Auslegungen des Kassationshofs gefestigte ‚lebende Recht‘ (diritto vivente).

57

In den Jahren 1988 bis 1989 gelang es dem Verfassungsgerichtshof jedoch vor allem dank der Bemühungen des Präsidenten Saja, die 5.000 bis 6.000 anhängigen Sachen aufzuarbeiten, indem nur die für wichtig gehaltenen Angelegenheiten behandelt und die anderen durch die Erklärung der eindeutigen Unbegründetheit oder der Unzulässigkeit gelöst wurden. Demzufolge ist es dem Verfassungsgerichtshof nun möglich, bereits einige Monate nach der Vorlage der jeweiligen Sache zu entscheiden. Was die soeben in Kraft getretenen Gesetze betrifft, musste er manchmal noch vor einer diesbezüglichen Auslegung durch den Kassationshof Stellung nehmen.

58

Deshalb hat der Verfassungsgerichtshof eine neue Aufgabenverteilung zwischen sich und den Fachgerichten für erforderlich gehalten, nicht zuletzt um zu vermeiden, dass sich die unteren Instanzen mit Verfassungsfragen an ihn wenden, für die es noch keine Anwendungspraxis beim Kassationshof gibt. Dazu muss man sich vor Augen halten, dass die Fachgerichte in Italien für eine konkrete Normenkontrolle nicht wie nach Art. 100 Abs. 1 GG von der Verfassungswidrigkeit des einfachen Gesetzes überzeugt sein müssen, sondern vielmehr schon dann vorlegen müssen, wenn die Zweifel nicht offensichtlich unbegründet sind.

59

Angesichts dieses Ziels musste auch in der italienischen Rechtsordnung die Theorie der verfassungskonformen Auslegung übernommen werden, die namhafte Präzedenzfälle in der Rechtsprechung des US Supreme Courts und des Bundesverfassungsgericht hat. Denn dadurch müssen die Fachgerichte wie in Deutschland zunächst im Wege der Auslegung versuchen, ein verfassungskonformes Ergebnis zu erzielen, bevor sie die Frage dem Verfassungsgerichtshof vorlegen.

60

In Italien wurde für diese Theorie eine besonders elegante und aussagekräftige Formulierung ausgearbeitet: „Grundsätzlich werden die Gesetze nicht für verfassungswidrig erklärt, weil sie verfassungswidrig ausgelegt werden können, sondern weil ihre verfassungskonforme Auslegung unmöglich ist.“48

48 Vgl. Corte cost. v. 22.10.1996, Nr. 356.

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§ 26 Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Italien

d)

Notwendigkeit einer Verfassungsbeschwerde

Mit einer zu nachhaltigen Theorie der verfassungskonformen Auslegung wirft sich der Verfassungsgerichtshof aber tendenziell selbst aus der Bahn und mutet den Fachgerichten geradezu akrobatische Auslegungen zu, ohne die Möglichkeit einer Kontrolle ex post durch die Anfechtung der Endentscheidung zu haben.

61

Eine an dem Vorrang der Verfassung orientierte Rechtsordnung, die die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit einem Verfassungsgericht anvertraut hat, kann jedoch nicht auf die Einführung eines Instruments verzichten, das die Besorgnis um eine definitive Entscheidung und um eine Entscheidung nach Recht und Gesetz innerhalb angemessener Zeit mit der dem Verfassungsgericht zuzuerkennenden Befugnis in Einklang bringt, auf verfassungsrechtlicher Ebene das letzte Wort zu sprechen. Bei diesem Instrument muss es sich um die Verfassungsbeschwerde gegen (auch rechtskräftige) Entscheidungen der Fachgerichte handeln.

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VI. Auslegung des Gemeinschaftsrechts Diese Überlegungen zur Praxis der verfassungskonformen Auslegung erschließen die beste Perspektive, um sich der Auslegung des Gemeinschaftsrechts zuzuwenden.

63

Während für die kritische Analyse der EuGH-Rechtsprechung auf die allgemeinen Beiträge in diesem Band verwiesen werden kann, soll hier das Echo der Wissenschaft und der Rechtsprechung in Italien analysiert werden. Diese Analyse befasst sich mit dem bekannten Problem, dass eine nicht unmittelbar anwendbare Norm des Gemeinschaftsrechts in einem konkreten Fall einer Norm des nationalen Rechts widerspricht. Welches sind nun die Lösungen, die hier nacheinander in progressiver Reihenfolge dargestellt werden sollen?

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Die erste Lösung ist zweifellos, den Widerspruch durch eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung der nationalen Norm zu beseitigen.49 Damit stellt sich die Frage nach den Grenzen einer solchen „angleichenden Auslegung“ (interpretazione adeguatrice). Muss sie immer an der Wortlautgrenze enden?

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Die Antwort lautet: nein. Denn Wissenschaft und Rechtsprechung kennen traditionell innerhalb bestimmter Grenzen die berichtigende Auslegung des Gesetzeswortlauts. Außer den unbestrittenen Fällen von Schreibfehlern des Gesetzgebers kommt die Überalterung des Gesetzestextes in Betracht, wenn sich seit vielen Jahren geltende gesetzliche Bestimmungen kraft des wissenschaftlichen, technischen und sozialen Wandels als überholt erweisen, aber vom Gesetzgeber nicht angepasst worden sind. In diesen Fällen nimmt gelegentlich der Richter auf der Grundlage allgemein geteilter Maßstäbe die unaufschiebbaren Korrekturen vor.50 Innerhalb dieser Grenzen kann die Korrektur des Gesetzestextes auch durch eine „angleichende Auslegung“ erfolgen.

66

49 Vgl. Corte cost. v. 8.6.1984, Nr. 170. 50 Vgl. Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland V, S. 162.

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3. Teil: Besonderer Teil

67

Eine Korrektur des Gesetzestextes kommt auch durch die Beseitigung einer Wertungslücke vor. Bekannt sind dafür die Maximen lex minus dixit quam voluit und lex plus dixit quam voluit, die die Korrektur des Gesetzestextes mit Blick auf die ratio legis erfordern. Daher führt die Beseitigung einer Wertungslücke nach diesen Maßstäben nur dazu, die ratio legis vollständig zu verwirklichen. Innerhalb dieser Grenzen muss sich auch die verfassungs- oder gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung halten: Sie darf den Wortlaut des Gesetzes übersteigen, aber nicht der ratio legis widersprechen.

68

Der EuGH hat von den nationalen Gerichten jedoch eine Auslegung jenseits dieser Grenzen gefordert: So hat er in einem Rechtsstreit zwischen Privatrechtssubjekten die Auslegung des nationalen (spanischen) Rechts (Art. 1261, 1275 Código civil) verboten, wenn dadurch „die Nichtigkeit einer Aktiengesellschaft aus anderen als den in Art. 11 [Publizitätsrichtlinie 51] abschließend aufgezählten Gründen ausgesprochen werden kann.“ 52 Damit hat sich der EuGH der unmittelbaren horizontalen Direktwirkung ziemlich weit angenähert. Zur auch in Italien aufmerksam registrierten Mangold-Entscheidung, die faktisch den Anwendungsvorrang der Gleichbehandlungs-Rahmenrichchtlinie53 gefordert hat,54 ist es dann nur noch ein kurzer Weg.

69

Auf diesem Weg ist der italienische Kassationshof dem EuGH eifrig gefolgt. So bestätigt der EuGH in seinem Urteil Centrosteel, dass die Handelsvertreterrichtlinie55 „einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Gültigkeit eines Handelsvertretervertrags von der Eintragung des Handelsvertreters in das dazu vorgesehene Register abhängig macht.“ Weiter heißt es, das nationale Gericht habe „bei der Anwendung der vor oder nach der Richtlinie erlassenen nationalen Rechtsvorschriften diese soweit wie möglich unter Berücksichtigung des Wortlauts und Zweckes der Richtlinie auszulegen, so daß sie im Einklang mit den Zielen der Richtlinie angewandt werden können.“ 56

70

Auf dieser Grundlage hat der Kassationshof Art. 9 des Gesetzes vom 3. Mai 1985, Nr. 204, wonach die Tätigkeit als Handelsvertreter oder -repräsentant nur bei Eintra-

51 Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates v. 9.3.1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Abs. 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1968 L 65/8. 52 Vgl. EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing ./. La Comercial Internacional de Alimentacion, Slg. 1990, I-4135 Rn. 9. 53 Richtlinie des Rates 2000/78/EG v. 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000 L 303/16. 54 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold ./. Helm, Slg. 2005, I-9981 Rn. 75 ff. Methodisch war dazu das Verbot der Altersdiskriminierung bekanntlich auf einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts mit Anwendungsvorrang zurückgeführt worden. 55 Richtlinie 86/653/EWG des Rates v. 18.11.1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17. 56 Vgl. EuGH v. 13.7.2000 – Rs. C-456/98 Centrosteel ./. Adipol, Slg. 2000, I-6007 Rn. 19. Zur Richtlinienwidrigkeit des Registereintrags als Wirksamkeitserfordernis vgl. schon EuGH v. 30.4.1998 – Rs. C-215/97 Bellone ./. Yokohama, Slg. 1998, I-2191 Rn. 18.

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§ 26 Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Italien

gung in das entsprechende Register zulässig ist und der Handelsvertretervertrag ansonsten wegen Verletzung zwingender Normen nach 1418 Codice civile nichtig ist, nicht angewendet.57 Diese Nichtanwendung des nationalen Rechts hat der Kassationshof letztlich mit der unmittelbaren Wirkung der besagten Richtlinie begründet und dazu ausgeführt: „Obwohl es sich um einen Privatrechtsstreit handelt, muss unterschieden werden: Wenn die zwingende Norm, die der Richtlinie entgegensteht, ausschließlich die Privatautonomie zum Schutz von Privatinteressen beschränkt, kann diese Norm bis zur Umsetzung der Richtlinie nicht unangewendet bleiben, bis die Richtlinie umgesetzt worden ist. Wenn die Norm die Privatautonomie dagegen auch im Interesse der öffentlichen Verwaltung beschränkt, betrifft der Rechtsstreit notwendigerweise auch öffentliche Interessen. In einem solchen Fall erlaubt das öffentliche Interesse, dem die richtlinienwidrige Vorschrift dient, die Nichtanwendung dieser Vorschrift, wenn die Richtlinie klar und hinreichend präzise ist.“ Das Prinzip der vertikalen Wirkung der Richtlinie soll dadurch nicht verletzt werden. Obwohl es sich im konkreten Ausgangsfall unzweifelhaft um ein „horizontales“ Verhältnis zwischen dem Handelsvertreter und dem Prinzipal gehandelt hat, müsse anerkannt werden, dass die für die Nichtigkeit des Vertrags ins Feld geführte zwingende Norm (Art. 9 des besagten Gesetzes Nr. 204) nicht im privaten-, sondern auch im öffentlichen Interesse aufgestellt worden ist, also im Verhältnis des Staates auf der einen und den Handelsvertretern und Prinzipalen auf der anderen Seite. Daher habe die Richtlinie unmittelbare Wirkung, so dass die widersprechende nationale Norm unangewendet bleiben müsse.58

71

Die Analyse dieses beispielhaften Falles zeigt, dass die Richtung, die die EuGHRechtsprechung eingeschlagen hat, in Italien insbesondere vom Kassationshof sehr positiv aufgenommen worden ist. Dabei spielt sicherlich eine wesentliche Rolle, dass sich der EuGH im Einklang mit den gewagten Auslegungstechniken findet, die der Kassationshof im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung vornimmt.

72

Es ist sicherlich anerkennenswert, dass die Grenzen der angleichenden Auslegung nur überwunden werden, um den nicht oder nicht korrekt umgesetzten Richtlinien jedenfalls teilweise horizontale Wirkung beizumessen.59 Auf diese Weise wird versucht, die Anwendungsfälle gemeinschaftsrechtswidriger Normen zu reduzieren und damit auch die mögliche Francovich-Haftung.60

73

57 Vgl. Cass. v. 18.5.1999, Nr. 4817, Foro it. 1999 I, 2542, bereits erwähnt in den Schlussanträgen von GA Jacobs v. 16.3.2000 – Rs. C-456/98 Centrosteel ./. Adipol, Slg. 2000, I-6007 Tz. 5, 36; Cass. v. 17.4.2002, Nr. 5505, Foro it. 2002 I, 2709. 58 Cass. v. 18.3.2002, Nr. 3914, Corr. giur. 2002, 1299. 59 Vgl. Tizzano, Foro it. 1995 IV, 13, 21. 60 Vgl. Cafari Panico, Dir. pubbl. comp. europeo 1999, 383; Ruvolo, EDP 2006, 1407, 1416.

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3. Teil: Besonderer Teil

VII. Schluss 74

Dieser kurze Überblick über die Stellung des Gemeinschaftsrechts im Rahmen der italienischen Rechtsordnung und die weitreichende Bereitschaft zur Durchsetzung von Richtlinienrecht im Wege der Auslegung und des Anwendungsvorrangs hat gezeigt, dass die Rechtsprechung südlich der Alpen durchaus auf der Höhe der Zeit ist. Dass damit im Interesse der Durchsetzung des Richtlinienrechts die Grenzen der klassischen Methodenlehre überschritten werden, wird nur noch als Kollateralschaden wahrgenommen. Insoweit ist die Situation in Italien nach Centrosteel durchaus vergleichbar mit der in Deutschland nach Quelle. Wenn der Verfassungsgerichtshof auf seinem Weg weiter voranschreitet und auch richtlinienwidrige Privatrechtsnormen in anhängigen Privatrechtsstreitigkeiten für verfassungswidrig erklärt, wäre uns Italien dagegen mehr als nur eine Nasenlänge voraus.

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§ 27 Spanien Klaus Jochen Albiez Dohrmann/Sixto Sánchez Lorenzo*

Übersicht I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Europäische Methodenlehre in Spanien . . . . . . . . . . . . 1. Vorrang des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . 2. Der besondere Rechtspluralismus . . . . . . . . . . . . . . 3. Auslegung und Rechtsfortbildung des Gemeinschaftsrechts 4. Die Rolle der Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Soft Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nicht-legislatorische und präventive Harmonisierung b) Die primärrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . 2. Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Umsetzungstechniken . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wirkungen nach der Umsetzungsfrist . . . . . . . . . c) Die Vorwirkung von Richtlinien . . . . . . . . . . . d) Die richtlinienkonforme Auslegung . . . . . . . . . .

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Rn. 1–3

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4–15 4–5 6–8 9–12 13 14–15

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16–32 16–18 16, 17 18 19–33 19–29 30 31 32–33

Literatur: Ricardo Alonso García, El juez español y el Derecho comunitario (2003); Paz Andrés Sáenz de Santa María/Javier González Vega/Bernardo Fernández Pérez, Introducción al Derecho de la Unión Europea (2. Aufl. 1999); Paz Andrés Sáenz de Santa María, En pos de la relevancia constitucional del Derecho comunitario (una visión desde la labor de un magistrado), Pacis Artes, Obra homenaje al Profesor Julio D. González Campos (2005), S. 863–895; Esteve Capdevila (Hrsg.), Derecho contractual europeo (problemática, propuestas y perspectivas) (2009); Sergio Cámara Lapuente (Hrsg.), Derecho privado europeo (2003); María del Rosario Díaz Romero u.a. (Hrsg.), Derecho privado europeo: estado actual y perspectivas de futuro (2008); Araceli Mangas Martín/Diego Javier Liñán Nogueras, Instituciones y Derecho de la Unión Europea (4. Aufl. 2007); Encarna Roca, El codi civil coma instrument de politica juridica, in: Area de Dret civil Universitat de Girona (Hrsg.), El Dret civil català en el context europeu (2003); Encarna Roca, Incidenza del diritto communitario sull diritto interno in Spagna, in: V. Rizzo (Hrsg.), Diritto privato communitario (1997), S. 99–120; Sixto Sánchez Lorenzo, Derecho privado europeo (2002); Sixto Sánchez Lorenzo (Hrsg.), Derecho contractual comparado. Una perspectiva europea y transnacional (2009).

* Die Autoren danken Herrn Rechtsreferendar Alexander Roos für die Mithilfe bei der deutschen Übersetzung des Textes. Klaus Jochen Albiez Dohrmann/Sixto Sánchez Lorenzo

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3. Teil: Besonderer Teil

I.

Einleitung

1

Das spanische Rechtssystem wird meist der romanisch-germanischen Rechtsfamilie zugeordnet, genauer den Rechtssystemen französischer Provenienz. Diese typisierende und etwas klischeehafte Einordnung in der Rechtsvergleichung beruht freilich auf einer zivilrechtlichen Perspektive, die auf die Verwurzelung des spanischen Código civil (Cc) von 1889 im napoleonischen Code civil zurückzuführen ist. Das ist zwar richtig, doch ist die Einordnung in die romanische Rechtsfamilie zugleich eine Quelle von Missverständnissen. Tatsächlich ist das spanische Rechtssystem eindeutig kontinental-europäisch geprägt (civil law). Seine Merkmale sind aber komplexer und oft spezifisch. Sicherlich ist das spanische Zivilrecht in erheblichem Maße vom französischen Zivilrecht inspiriert. Indes darf man den Código civil von 1889 nicht mit dem spanischen Zivilrecht gleichsetzen. Anders als der napoleonische Code, war der spanische Código civil im 19. Jahrhundert nicht in der Lage, den aus dem Mittelalter ererbten Rechtspluralismus von Foral- und Sonderrechten, aufzuheben. So bleiben in einigen Bereichen die unterschiedlichen Zivilrechte von anhaltender Bedeutung. Die spanische Verfassung von 1978 (Constitución Española, CE) hat diese Vielfältigkeit noch verschärft. Wir werden darauf später noch zurückkommen (nachfolgend, Rn. 6–8).

2

Seiner normativen Basis nach ist das spanische Rechtssystem deutlich kontinentaleuropäisch geprägt. Es handelt sich um ein kodifiziertes Recht, das auf den folgenden Grundsätzen beruht: Legalität, Normenhierarchie, Publizität der Normen und Rechtssicherheit. Gerichtsentscheidungen haben im spanischen Recht keinen Rechtsquellencharakter, obwohl natürlich die Rechtssprechung insb. des Tribunal Supremo (Art. 1.6 Cc) wesentlich zur Auslegung und Fortbildung der Rechtsordnung beiträgt. Ein Grundsatz des stare decisis ist im spanischen Rechts nicht anerkannt, und die Rechtsprechung entwickelt sich ausdrücklich von Fall zu Fall und nicht selten auch widersprüchlich. Die Möglichkeit einer richterlichen Rechtsfortbildung und die wichtige Funktion, die einer „kreativen Rechtssprechung“ gerade auch im Bereich des Privatrechts zukommt, sind damit freilich nicht geleugnet. Im Hinblick auf das geschriebene Recht hat der spanische Richter, anders als Richter in manchen anderen kontinental-europäischen Rechtsordnungen oder im common law, umfangreiche Auslegungs- und Rechtsfortbildungsbefugnisse. In diesem Punkt unterscheidet sich das spanische Rechtssystem nicht wesentlich vom deutschen. Hinzu kommt ein nicht zu unterschätzender Einfluss der Methodenlehre durch Karl Larenz auf die spanische Zivilrechtslehre.1 Sie hat der richterlichen Rechtsfortbildung sowie der ergänzenden Auslegung von Gesetzen und von Verträgen den Weg bereitet.

3

Der Einfluss der deutschen Rechtswissenschaft macht sich auch in der spanischen Verfassung sowie dem daraus abgeleiteten System der Rechtsquellen bemerkbar. Hier hat sich das deutsche Grundgesetz von 1949 als eine wichtige Inspirationsquelle für das spanische Verfassungssystem erwiesen. So begründet die spanische Verfassung 1 Spanische Übersetzung: Larenz, Metodología de la Ciencia del Derecho (1. Aufl. 1966; 2. Aufl. 1980 – aktuelle); und das Werk von Díez-Picazo y Ponce de León, Experiencias jurídicas y teoría del Derecho (3. Aufl. 1990).

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§ 27 Spanien

die Zuständigkeit des Tribunal Constitucional, sowohl Gesetzgebungsakte (Normenkontrollverfahren) als auch Verwaltungshandeln auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Auch im Übrigen ist die spanische Verfassungsdoktrin innerlich der deutschen Lehre verbunden. Sie fußt wesentlich auf der Lehre des Rechtspositivismus von Hans Kelsen. Außer den genannten Einflüssen zeigen sich in vergleichender Analyse der spanischen Rechtsordnung auch Spuren anderer Rechtssysteme. Im Verwaltungsrecht, aber auch im Völkerrecht und im Privatrecht ist der Einfluss der französischen Lehre spürbar. Im Handelsrecht zeigen sich Spuren des italienischen Rechts. Deutsche Einflüsse gibt es wieder in den Gebieten des Scheck- und Wechsel- sowie des Verbraucherrechts. Punktuell gibt es im Vertragsrecht sogar eigenartige Ähnlichkeiten mit dem common law (privity of contract).

II.

Europäische Methodenlehre in Spanien

1.

Vorrang des Gemeinschaftsrechts

Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht, den der EuGH 2 in seiner Rechtsprechung postuliert hat, wird in ständiger Rechtsprechung auch vom Tribunal Constitucional respektiert.3 Allerdings ist der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts nicht verfassungsrechtlich verankert. Es ist die Aufgabe der ordentlichen Gerichte, den Anwendungsvorrang zu beachten und im Einzelfall zu entscheiden, ob eine nationale Rechtsnorm, gleich welchen Ranges, wegen Widerspruchs zum Gemeinschaftsrecht unanwendbar bleibt. Mit Rücksicht darauf, dass nach spanischem Verfassungsrecht internationale Verträge Vorrang auch vor nachfolgenden internen Gesetzen haben (Art. 96 Abs. 1 CE), halten manche Autoren allerdings für zulässig, im Falle einer Diskrepanz zwischen nationalem Recht und Primärrecht die Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu lassen.4 Dabei haben die ordentlichen Gerichte allerdings keine Normverwerfungskompetenz, es geht lediglich darum, dem Gemeinschaftsrecht durch seinen Anwendungsvorrang zur Geltung zu verhelfen. Die spanische Rechtsprechung5 folgt insoweit den Vorgaben des EuGH in der Entscheidung Ministero delle Finanze/IN.CO.GE.’906. Lediglich untergesetzliche materielle Rechtsnormen (man spricht auch von „internen Verordnungen“ im Unterschied zu Europäischen Verordnungen) können die ordentlichen Gerichte in eigener Zuständigkeit für unanwendbar erklären.7

2 EuGH v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 Flaminio Costa, Slg. 1964, 1251 ff.; EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 106/77 Simmenthal, Slg. 1978, 629 ff. 3 RTC 1991/28; RTC 1991/64. Vgl. dazu Andrés Sáenz de Santa María, FS González Campos, S. 863 ff. 4 Alonso García, El juez español y el Derecho comunitario, S. 41 ff. 5 TS v. 10.12.2002, RJ 2003/3005. 6 EuGH v. 22.10.1998 – Rs. C-10/97 bis C-22/97 Ministero delle Finanze ./. IN.CO.GE.’90, u.a. Slg. 1998, I-6307. 7 Z.B. TS v. 31.3.2003, RJ 2003/2877; TS v. 30.4.2004, RJ 2004/1678. Vgl. dazu Fajardo del Castillo, RDCE 2006, 135, 142 ff. Klaus Jochen Albiez Dohrmann/Sixto Sánchez Lorenzo

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4

3. Teil: Besonderer Teil

5

Im Gegensatz dazu steht die Rechtsprechung des Tribunal Constitucional in einem gewissen Spannungsverhältnis zu der des EuGH. Das spanische Verfassungsgericht lehnt einen „Überverfassungscharakter“ des europäischen Rechts ab, ähnlich wie auch Verfassungsgerichte Italiens und Deutschlands oder der dänische Bundesgerichtshof.8 Zur Begründung hat es sich in seiner Erklärung 1/2004 auf den Unterschied zwischen dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts und der Vorherrschaft der staatlichen Verfassung berufen: „Diese Auslegung muss anerkennen, dass der Prozess der Übertragung nationaler Kompetenzen auf die Europäische Union und die darauf folgende Umsetzung von gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften in nationales Recht die eigenen souveränen Institutionen vor unumgängliche Schwierigkeiten stellt. Eine Umsetzung erfolgt nur dann, wenn anzunehmen ist, dass das europäische Recht mit den Grundprinzipien des demokratischen Rechts- und Sozialstaats, wie sie in der nationalen Verfassung festgelegt sind, vereinbar ist. Deshalb setzt Art. 93 der spanischen Verfassung, der die Übertragung von Zuständigkeiten und Kompetenzen grundsätzlich ermöglicht, einer solchen Übertragung von Zuständigkeiten doch zugleich inhaltliche Grenzen. Stehen diese inhaltlichen Grenzen auch nicht ausdrücklich in der Verfassung, so sind sie dem Zweck der Verfassung nach doch abzuleiten. Solche Grenzen ergeben sich insbesondere aus dem Respekt vor der Souveränität des Staates, aus grundlegenden Verfassungsstrukturen und aus dem System der Grundwerte und Grundprinzipien, wie sie in unserer Verfassung verankert sind und aus der die Grundrechte ihre eigene Individualität entnehmen (Art. 10.1 CE).“9

2.

6

Der besondere Rechtspluralismus

Eine Besonderheit des spanischen Rechtssystems, die auch für die Methode des europäischen Privatrechts von Bedeutung ist, ist der Rechtspluralismus, der in weiten Teilen des Verwaltungs- und des Wirtschaftsrechts besteht und der insbesondere auch im gesamten Bereich des Privatrechts herrscht.10 Er findet seine Grundlage in Titel VIII der Verfassung. Wie in allen Rechtssystemen mit föderaler Struktur, entstehen auch hier öfter Kompetenzkonflikte zwischen dem Staat einerseits und den Autonomen Regionen (Comunidades Autónomas) andererseits. Sie können sich auch auf die Entwicklung des Gemeinschaftsrechts auswirken.11 Der Rechtspluralismus hat insbesondere zur Folge, dass es auch im Hinblick auf die Gerichtszuständigkeiten Konkurrenzen gibt. Die Obersten Gerichtshöfe (Tribunales Superiores de Justicia) der Autonomen Regionen mit eigenem Zivilrecht verrichten in der Sache die gleiche Arbeit wie der Tribunal Supremo, wenn sie das autonome Zivilrecht anwenden.

8 Erklärung TC 132/1992, RTC 1992/132 ff. 9 Erklärung TC 1/2004, RTC 2004/256, Rn. 2. Die Erklärung bezieht sich auf die Übereinstimmung der spanischen Verfassung mit dem Vertrag über eine Verfassung für Europa, ABl. 2004 C 310/1. 10 Zu den Problemen vgl. K. Schurig, FS Großfeld (1999), S. 1097–1098. Sonnenberger, JZ 1998, 982, 983; De Groot, ZEuP 2001, 617, 623. Zur Autonomie des katalanischen Privatrechts, Padoa-Chioppa, ZEuP 1997, 706, 707. 11 TC v. 12.12.1991, RTC 1991/236; TC v. 28.5.1992, RTC 1992/79; TC. v. 22.4.1993, RTC 1993/14; TC v. 26.5.1994, RTC 1994/165; TS v. 24.6.2004, RJ, 2005/5530. Vgl. dazu DíazAmbrona, in Derecho civil comunitario, (2. Aufl. 2004), S. 61–63.

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§ 27 Spanien

Im Bereich des Privatrechts hat die spanische Rechtsordnung (Art. 149 Nr. 6–8 CE) die Kulturvielfalt unterschiedlicher Zivil-, Foral- oder Sonderrechte beibehalten. Die Entwicklung des Zivilrechts ist in jeder Autonomen Region mit eigenem Zivilrecht sehr verschieden. Katalonien, zum Beispiel, ist eine der Autonomen Regionen mit eigenem entwickeltem Zivilrecht; Katalonien hat einige Richtlinien, wie z.B. die Pauschalreiserichtlinie12, eigenständig umgesetzt und bereitet die Inkorporierung der Vorgaben der Klauselrichtlinie13 und der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie14 in ihr autonomes Zivilrecht vor. Die europäische Einigung verlangt zweifellos auch Veränderungen solcher Partikularrechte. Besonders das Sekundärrecht, namentlich das Richtlinienrecht mit seinen Umsetzungspflichten, birgt die Gefahr, dass es in den Teilrechtsordnungen zeitlich und inhaltlich unterschiedliche Umsetzungen gibt.15 Wegen der dargestellten Kompetenzverteilung ist die Umsetzung und Anwendung des Sekundärrechts in vielen Bereichen Sache der Autonomen Regionen. Eine Grenze bildet im Vertragsrecht allerdings der Vorbehalt für die „Grundlagen“ des Vertragsrechts, die nur einheitlich der Gesamtstaat regeln kann; dazu rechnet man etwa die grundlegenden Elemente des Vertrags, der vertraglichen Haftung, der Vertragstypen und der AGB-Vorschriften.16 Ungeachtet dessen trägt aber der Staat gemeinschaftsrechtlich die Verantwortung bei Nichterfüllung. Deswegen hat der „Bericht des Staatrats vom 14. Februar 2008 (Consejo de Estado) über die Einführung des europäischen Rechts in die spanische Rechtsordnung“ einen Mechanismus, wie ihn das italienische Recht mit der cedevolezza kennt, empfohlen. Demnach würden die staatlichen Umsetzungsvorschriften nach Ablauf der Umsetzungsfrist auch in den Autonomen Regionen zur Geltung kommen, soweit und solange diese keine eigenen Umsetzungsvorschriften verabschiedet hätten.17 Auch darüber hinaus werfen die Umsetzungspflichten zahlreiche Fragen auf. Sie stellen sich vor allem in den Bereichen, in denen die Autonomen Regionen die ausschließliche Regelungszuständigkeit haben.18

7

Ungeachtet dieser Besonderheiten steht doch die Vielschichtigkeit des spanischen Rechtssystems der Entwicklung eines einheitlichen Vermögens- und Handelsrechts nicht entgegen. Allerdings könnte eine Entwicklung hin zu einem kühnen Kodifikationsvorhaben wie einem einheitlichen Zivilgesetzbuch mit globalem Anspruch besondere Verfassungsprobleme hervorrufen.19 Zudem nimmt die Rechtsvielfältigkeit

8

12 Richtlinie 90/314/EWG des Rates v. 13.6.1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 L 158/59. 13 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29. 14 Marco Molina, La Notaría (11/12) 2001, 15–50; dies., in: Badossa Coll y Arroyo i Amayuelas (Hrsg.), La armonización del Derecho de obligaciones en Europa (2006), S. 183–186. 15 Roca, in: V. Rizzo (Hrsg.), Diritto privato communitario (1997), S. 99–120. 16 TC v. 30.11.1982, RTC 1982/71; TC. v. 1.7.1988, RTC 1986/88; TC. V. 22.3.1991, RTC 1991/62; TC v. 29.9.1992, RTC 1992/124. 17 Alonso García, RDCE 2008, 7, 11–12. 18 Sánchez Barrilao, RDCE 2004, 241, 245. 19 Vgl. Goldstein, in: Vareilles-Sommières (Hrsg.), Le droit privé européen (1998), S. 175–178. S. auch Espiau Espiau, Derecho privado y Constitución (2000), S. 63, 75. Vgl. auch Roca, in: Area de Dret civil Universitat de Girona (Hrsg.), El Dret civil català en el context europeu Klaus Jochen Albiez Dohrmann/Sixto Sánchez Lorenzo

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3. Teil: Besonderer Teil

im Privatrecht derzeit noch zu. Die Verfassungsrechtsprechung hat die Entwicklung verschiedener Zivilrechte eher vorangetrieben. Eine Zuständigkeit der Europäischen Union zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Zivilgesetzbuchs wird in der spanischen Rechtslehre jedenfalls überwiegend nicht anerkannt.20 3.

9

Auslegung und Rechtsfortbildung des Gemeinschaftsrechts

Einige der wichtigsten Entscheidungen des EuGH zum Sekundärrecht gehen auf Vorlagen spanischer Gerichte zurück (Marleasing,21 Océano,22 El Corte Inglés,23 …). Man könnte geneigt sein, darin Ausdruck für eine besondere Vorlagefreudigkeit spanischer Gerichte zu sehen. Statistisch erscheint diese Annahme indes nicht begründet.24 Vielmehr deutet sich an, dass die spanischen Gerichte in der Mehrzahl der Fälle selbst bemüht sind, das Unionsrecht auszulegen und anzuwenden. Seit dem Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft im Jahr 1986 gab es etwa 200 Vorlagen spanischer Gerichte. Diese Zahl bleibt deutlich hinter den Vorlagen anderer Mitgliedstaaten zurück. 2005 legten spanische Gerichte dem EuGH nur in zehn Fällen Fragen zur Vorabentscheidung vor, 2006 waren es siebzehn. Darin zeichnet sich ein gewisser Anstieg im Vergleich zu den Vorjahren ab. Fast die Hälfte aller Vorlagefragen in diesem Zeitraum von 20 Jahren betrifft die Auslegung des Primärrechts, insb. Fragen der Grundfreiheiten und des Beihilferechts. Bei Vorlagen zum Sekundärrecht geht es meist um die Auslegung von Richtlinien in den Gebieten des Arbeitsrechts, des gewerblichen Rechtsschutzes und des Urheberrechts. Nur zwei der Vorlagefragen sind dem Europäischen Privatrecht in einem engeren Sinne zuzuordnen. Eine bezog sich auf die Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr,25 die andere, im Fall Mostaza Claro,26 auf die Klauselrichtlinie. Man kann daraus schließen, dass die spanischen Gerichte Fragen der Auslegung und Fortbildung von Richtlinienrecht ohne Vorlage an den EuGH selbst beantworten. Sie wenden sich nur selten an den EuGH27

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21 22 23 24 25

26 27

(2003), S. 36–42; Bosch Capdevila, in: Bosch Capdevila (Hrsg.), Derecho contractual europeo (2009), S. 25–26. Vgl. Sánchez Lorenzo, Derecho privado europeo, S. 193–224; ders., in: Area de Dret civil Universitat de Girona (Hrsg.), El Dret civil català en el context europeu, S. 47 ff.; Martín y Pérez de Nanclares, in: Cámara Lapuente (Hrsg.), Derecho privado europeo, S. 129 ff.; Arroyo i Amayuelas/Vaquer Aloy, La Ley 2002 No. 5482, 1. EuGH v. 13.12.1990 – Rs. C-106/89 Maerleasing, Slg. 1990, I-4144. EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, Slg, 2000, I-4941. EuGH v. 7.3.1996 – Rs. C-192/94 El Corte Inglés, Slg. 1996, I-1281. Faramiñán Gilbert/Muñoz Rodríguez, RDCE 2009, 181–238. Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 8.6.2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, ABl. 2000 L 178/1. EuGH v. 26.10.2006 – Rs. C-168/05 Mostaza Claro, Slg. 2006, I-10421. Das gilt selbst dann, wenn sie ausdrücklich auf eine wichtige Frage zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts stoßen; TS v. 13.11.1998, RJ 1998/8742 (im Hinblick auf die Beurteilung einer Unterwerfungsklausel nach der Klauselrichtlinie). Vgl. die allgemeine Kritik von Hinojosa Martínez/Segura Serrano, RDCE 2000, 565, 578–581.

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und beachten die CILFIT Rechtsprechung28 nicht. Obwohl in der spanischen Lehre eine weitgehende Kompetenz des EuGH zur Konkretisierung von Generalklauseln anerkannt ist,29 gibt es auch in diesem Bereich nur wenige Vorlagen. Die große Zahl von Gerichtsentscheidungen zu AGB-Fällen steht in eklatantem Widerspruch zu einer nur geringen Zahl von Vorlagen zur Klauselrichtlinie. Die nur schwach ausgeprägte Vorlegungsneigung verhindert indes eine einheitliche Auslegung der Richtlinie und wird dem Ziel eines Dialogs zwischen EuGH und nationalen Gerichten nicht gerecht.30 Dagegen hat der spanische Tribunal Supremo die Notwendigkeit einer gemeinschaftsrechtskonformen und auch rechtsvergleichenden Auslegung hervorgehoben, insb. die Fälle, in denen das nationale Gericht nach dem internationalen Privatecht verpflichtet ist, das Recht eines anderen Staates anzuwenden. Die rechtsvergleichende Auslegung hat naturgemäß besondere Bedeutung, wenn das nationale Gericht nach dem internationalen Privatrecht verpflichtet ist, das Recht eines anderen Mitgliedstaats anzuwenden. Konkret hat der Tribunal Supremo in seinem Urteil vom 4. Juli 2006 über die Anwendung der deutschen Umsetzungsvorschriften zur Handelsvertreterrichtlinie darauf hingewiesen, dass dabei auch die entsprechenden spanischen Umsetzungsvorschriften vergleichend zu berücksichtigen seien, da beide Umsetzungsregelungen einheitlich und in Übereinstimmung mit den Vorgaben der Richtlinie auszulegen sind.31 Auf diese Weise ist es in Bereichen des angeglichenen Rechts leichter, eine Revision vor dem Tribunal Supremo zu begründen, als im Bereich des autonomen spanischen Rechts:32

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„In diesem Fall erfolgte der Beweis des ausländischen Rechts – durch beide Parteien – unter Bezug auf die sachverständigen Aussagen verschiedener Rechtsgelehrter sowie Verweise auf das anwendbare Recht, wodurch das deutsche Recht ausreichend nachgewiesen wurde. Allerdings nimmt das Urteil, das mit der Berufung angegriffen wurde, in einer Begründung auch auf das spanische Gesetz Bezug, das den Handelsvertretervertrag regelt. Das hindert indes nicht zu bestätigen, dass das deutsche Recht auf die in Streit stehende Rechtsbeziehung angewandt wird, da beide Rechtssysteme den Handelsvertretervertrag gemäß den Vorgaben der Richtlinie 86/653/EG regeln. Die einheitliche Behandlung der Rechtsbeziehung kommt nicht von ungefähr, da die europäischen Richtlinien eine Rechtsangleichung bezwecken.“33

Besondere Schwierigkeiten hat wiederholt die Verwendung von Generalklauseln im Primärrecht und im Sekundärrecht aufgeworfen.34 Im Primärrecht sind Generalklau-

28 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. C-283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415. 29 Vgl. Klauer, ERPL 8 (2000), 187–210; Niglia, ERPL 7 (2001), 575–599; Sánchez Lorenzo, Derecho privado europeo, S. 90–96, gegen die begrenzenden Thesen von W.-H. Roth, FS Drobnig (1998), S. 140. 30 Basedow, in: Schulte-Nölke (Hrsg.), Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte (1999), S. 277–290. 31 Richtlinie 86/653/EWG des Rates v. 18.12.1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17. 32 Fernández Rozas/Sánchez Lorenzo, Derecho internacional privado (5. Aufl. 2009), S. 164–165. 33 TS v. 4.7.2006, RJ 2006/6080, Rn. 3. 34 Sánchez Lorenzo, Derecho privado europeo, S. 90–98, 174–176. Klaus Jochen Albiez Dohrmann/Sixto Sánchez Lorenzo

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seln allerdings bereits durch eine umfangreiche Rechtsprechung des EuGH näher konkretisiert. So liegen die Dinge etwa im Hinblick auf den Begriff der „öffentlichen Ordnung“ in Art. 52 AEUV/46 EG.35 Im Sekundärrecht ist es oft schwieriger. Auch hier trägt die Rechtsprechung des EuGH freilich in vielen Fällen bereits zur Konturierung der Generalklauseln bei.36 In der spanischen Rechtslehre war der Begriff der Generalklauseln bis vor kurzem nicht gebräuchlich;37 man hat die entsprechenden Fälle den „unbestimmten Rechtsbegriffen“ zugeordnet. Im Gemeinschaftsrecht werfen Generalklauseln die gleichen Probleme einheitlicher Anwendung auf, wie wir sie bereits im Hinblick auf die Auslegung erörtert haben. Ein Beispiel für eine gelungene Rechtsentwicklung ist das Urteil vom 28. März 2005,38 in dem es um einen markenrechtlichen unbestimmten Rechtsbegriff geht, die „aktuelle und effektive Verwendung eines Warenzeichen“. Zur Auslegung gab es in der spanischen Lehre zwei widerstreitende Ansätze. Das spanische Gericht betont, dass der Begriff des spanischen Umsetzungsgesetzes nicht exakt dem weniger konturierten gemeinschaftsrechtlichen Begriff der „effektiven Verwendung“ 39 entspricht. Zum Verständnis des Begriffs trägt eine vergleichende Analyse der verwendeten Wortzeichen sowie auch anderer Umsetzungsregeln bei. Der Vorzug gebührt der Auslegung, die am besten mit dem europarechtlichen Gebot einer einheitlichen Auslegung vereinbar ist. Letztlich klärt freilich erst die Rechtsprechung des EuGH den Begriff verbindlich.40

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Die spanische Rechtsprechung ist aber darüber hinausgegangen. Sie zieht die Auslegung gemeinschaftsrechtlicher unbestimmter Rechtsbegriffe durch den EuGH auch heran, um entsprechende Begriffe des autonomen nationalen Rechts zu konkretisieren. Auf diese Weise hat der Tribunal Supremo etwa den Begriff der fuerza mayor (force majeure, höhere Gewalt) des Art. 1.105 Cc mit Rücksicht auf die Rechtsprechung des EuGH ausgelegt.41 4.

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Die Rolle der Lehre

Die Methode des europäischen Rechts war in Spanien zunächst vor allem aus der Perspektive des Völkerrechts und des öffentlichen Rechts erörtert worden. Mit einer zunehmenden Harmonisierung auch von privatrechtlichen Gegenständen kam sie vermehrt auch in den Blick von Privatrechtlern.42 Ein Kennzeichen der spanischen Lehre ist dabei ihre Öffnung für die Rechtsvergleichung. Wissenschaftliche Arbeiten,

35 TSJ Andalucía v. 29.9.2003, RJCA 2003/992, Rn. 4. Derselben Linie folgt TSJ Andalucía v. 24.10.2003, RJCA 2003/996, Rn. 1 und v. 24.10.2003, JUR 2004/66220, Rn. 4. 36 TS v. 26.10.2005, RJ 2005/8294, Rn. 2. 37 Vgl. Miquel González, Anuario de la Facultad de Derecho de la Universidad Autónoma de Madrid (1997), S. 297 ff. 38 RJ 2005/1697, Rn. 6. 39 Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates v. 20.12.1993 über die Gemeinschaftsmarke, ABl. 1994 L 11/1. 40 Konkret der EuGH v. 11.3.2003 – Rs. C-40/01 Ansul ./. Ajax, Slg. 2003, I-2439. 41 TS v. 25.3.2003, RJ 2003/3793, Rn. 2. 42 Vgl. auch zur Eurohypothek, Muñiz Espada/Nasarre Aznar/Sánchez Jordán, Un modelo para una Eurohipoteca. Desde el Informe Segré hasta hoy (2008).

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besonders auch Doktorarbeiten, erörtern Fragen des europäischen Rechts regelmäßig im Vergleich zu anderen mitgliedstaatlichen Rechtssystemen, vor allem im Vergleich zum deutschen, französischen oder italienischen Recht, zudem auch, wenngleich seltener, im Vergleich zum common law. Diese rechtsvergleichende Perspektive des Europarechts ist typisch für die spanische Lehre und hat die Öffnung für eine genuin europäische Methode erleichtert. Für das Verständnis des europäischen Rechts ist ein vergleichender Ausgangspunkt oft unentbehrlich. Über die Lehre hat diese europäische und rechtsvergleichende Perspektive auch Eingang in die Rechtsprechung gefunden. Allerdings ist die Lehre in Spanien keine Rechtsquelle. Das spanische System der Richterlaufbahn ermöglicht indes akademischen Lehrern den Wechsel in die Justiz und hat auf diese Weise den Einzug vergleichender und europarechtlicher Elemente der Methodenlehre in die Rechtsprechung erleichtert. So ist mit Dr. Encarna Roca Trías eine hochqualifizierte Spezialistin des europäischen Privatrechts an den Tribunal Supremo berufen worden; ihre Tätigkeit hat sicherlich dazu beigetragen, dass der Tribunal Supremo in vielen Bereichen Aspekte des europäischen Vertragsrechts berücksichtigt hat. 5.

Soft Law

Die Auswirkung von soft law-Texten zur Vereinheitlichung des europäischen Privatrechts auf das spanische Recht ist nicht nur eine Frage akademischen Interesses. Besonders im Bereich des Vertragsrechts haben solche Texte in den vergangenen Jahren Bedeutung erlangt, zu nennen sind insbesondere die Grundregeln des Europäischen Vertragsrecht (Principles of European Contract Law, PECL), der Entwurf eines Europäischen Vertragsgesetzbuchs der Pavia-Gruppe, der Gemeinsamer Referenzrahmen für ein Europäisches Vertragsrecht und der Text der European Group on Tort Law. Ein Einfluss dieser Texte zeigt sich sowohl in der Gesetzgebung als auch in der Auslegung des nationalen Rechts durch die Rechtsprechung. Namentlich die PECL haben, wie schon öfter hervorgehoben wurde,43 als „narrative Normen“ einen Einfluss auf die Auslegung des spanischen Vertragsrechts entfaltet. So hat die Rechtsprechung einige traditionelle Rechtsinstitute des Vertragsrechts nach dem Modell der PECL und des CISG fortgebildet. Das Modell der Vertragsauflösung wegen Nichterfüllung, das sich von einem richterlichen Gestaltungsakt (Artikel 1.124 Cc) zu einem Modell der Vertragsauflösung durch Parteierklärung gewandelt hat.44 Artikel 8:103 und 9:301 PECL haben dazu beigetragen, die Auslegung des Begriffs der „wesentlichen Nichterfüllung“ zu ändern,45 Art. 7:301 Abs. 1 PECL hat die Auslegung der Wirkungen einer vorzeitigen Erfüllung beeinflusst.46 Auch in anderen Breichen sind die Lösungen der PECL für eine Auslegung des spanischen Rechts berücksich43 Perales Viscasillas, La Ley 2007, D-128 1750 ff.; dies., in: Díaz Romero u.a. (Hrsg.), Derecho privado europeo: estado actual y perspectivas de futuro, S. 453 ff.; Vendrell Cervantes, ZEuP 2008, 534 ff.; Roca Trías/Fernández Gregoraci, ERCL 5 (2009), 45–59. 44 TS v. 28.3.1996, RJ 1996/2198; TS v. 10.7.2003, RJ 2003/4339. 45 TS v. 10.10.2005, RJ 2005/8567; TS v. 5.4.2006, RJ 2006/1921; TS v. 20.7.2006, RJ 2006/ 7305; TS v. 31.10.2006, RJ 2006/8405. 46 TS v. 27.9.2006, RJ 2006/8631.

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tigt worden, so hinsichtlich der Nachfrist (Art. 8:106 Abs. 3 PECL),47 der Verjährung des Anspruchs auf Naturalerfüllung (Art. 9:102 Abs. 3 PECL) sowie der Aufrechnung,48 des Systems der Wahlschulden (Art. 10:102)49 oder des Schadenersatzes (Art. 13:102)50.

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Auch als Mustergesetz spielt das europäische soft law, spielen aber auch ausländische Privatrechtsordnungen, in Spanien eine Rolle. Die PECL und der Gemeinsame Referenzrahmen ebenso wie die Reformen anderer Rechtssysteme, namentlich die deutsche Schuldrechtsmodernisierung, beeinflussen auch Reformüberlegungen im spanischen Zivilrecht und werden bei der Reform der Gesetzbücher berücksichtigt. So ist etwa, wie seine Einleitung ausweist, der Vorentwurf für die Modernisierung des Schuld- und Vertragsrechts, den die Allgemeinen Kommission für Kodifikation51 vorgelegt hat, deutlich von den PECL und dem „künftigen europäischen Vertragsrecht“ inspiriert. Auch die voranschreitende Fortentwicklung des katalonischen Gesetzbuches ist eng an die Entwicklung des europäischen Privatrechts angelehnt. So hat man die europäische Entwicklung schon beim Verjährungssystem berücksichtigt; gegenwärtig kann man ihren Einfluss auf die Abfassung des VI. Buches über das Schuldrecht beobachten.52

III. Einzelfragen

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1.

Primärrecht

a)

Nicht-legislatorische und präventive Harmonisierung

Anders als in anderen Mitgliedstaaten – insbesondere in Frankreich und in Deutschland – wird das Problem der „umgekehrten Diskriminierung“ in Spanien nur wenig erörtert, Vorlagen dazu von spanischen Gerichten gibt es nicht. Allgemein kann man sagen, dass Entscheidungen des EuGH in diesem Bereich tiefer in das mitgliedstaatliche Recht eingreifen als sekundärrechtliche Vorgaben, da sie interne und gemeinschaftsrechtlich geregelte Sachverhalte gleichermaßen abdecken. Dieser Befund erklärt sich teilweise daraus, dass das spanische Rechtssystem zu einer einseitigen oder indirekten Harmonisierung neigt, die auch legislativ und vorbeugend verfolgt wird. Der Gesetzgeber setzt die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben regelmäßig erweiternd um und erstreckt ihre Anwendung auch auf nationale oder gemeinschaftsrechtlich offengelassene Fälle. Zum Beispiel hat das spanische Ausländerrecht gemeinschaftsrechtlich begründete Vorteile auch drittstaatenangehörigen Ehegatten und Verwandten von Spaniern zukommen lassen. Ein Fall wie der in der Rechtssache Mary Carpen47 48 49 50 51 52

TS v. 23.7.2007, RJ 2007/4702. TSJ Navarra v. 6.10.2003, RJ 2003/8687. TS v. 31.10.2005, RJ 2005/7351; TS v. 11.7.2006, RJ 2006/4977. TS v. 5.1.2007, RJ 2007/321. B.I.M.J., LXIII, enero 2009. Arnau Raventós, in: Bosch Capdevilla (Hrsg.), Derecho contractual europeo, S. 549 ff.; Martín Casals, La Notaría (11/12) 2001, 51–61.

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ter 53 könnte daher im spanischen Recht von vorneherein nicht auftreten. In ähnlicher Weise hat der spanische Gesetzgeber auch auf Entscheidungen wie Hubbard 54 oder Mund & Fester 55 reagiert und benachteiligende Rechtsinstitute des spanischen Zivilverfahrensrechts wie das cautio iuidicatum solvi oder die besonderen Regeln über die vorläufige Beschlagnahme für Ausländer (Art. 534 und 1400 Ley de Enjuiciamiento civil, LEC [spanische Zivilprozessordnung]) in der neuen Zivilprozessordnung von 2000 mit Wirkung nicht nur für Unionsbürger, sondern für alle Ausländer aufgehoben. Solche „vorbeugende Harmonisierung“ ist manchmal auf die Betrachtung des europäischen Rechts als ratio scripta zurückzuführen. Vom Blickwinkel einer judiziellen oder nicht-legislativen Harmonisierung kann man darin eine Anwendung des Gemeinschaftsrechts ultra vires sehen, bei der das Europarecht als ein Element der Auslegung und Fortbildung des autonom-nationalen Rechts auch für solche Fragen herangezogen wird, die vom Gemeinschaftsrecht nicht erfasst sind; die Dinge liegen hier ähnlich wie bei dem oben (Rn. 14 f.) erörterten soft law. Zum Beispiel hat die Audiencia Territorial (Oberlandesgericht) von Palma de Mallorca in ihrem Urteil vom 13. Oktober 198856 das Brüsseler Übereinkommen von 27. September 1968 57 herangezogen, um das autonom-spanische Gerichtsverfassungsgesetz (Ley Orgánica del Poder Judicial, LOPJ) auszulegen, ungeachtet der Tatsache, dass Spanien dem Übereinkommen zu diesem Zeitpunkt noch nicht beigetreten war. Dieser Einfluss ist im legislativen Bereich ebenso nachweisbar. So hat man auch schon vor Beitritt Spaniens zur EG versucht, die dem Brüsseler Übereinkommen zugrunde liegenden Kriterien zu verallgemeinern und bei der Anwendung der Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in der LOPJ zu berücksichtigen. Das ist einer der Gründe, warum Spanien in der – nicht eben kurzen – Liste der (vorbehaltenen) besonderen innerstaatlichen Zuständigkeitsvorschriften in Anhang I zur aktuellen Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung (EuGVVO)58 keinen Eintrag hat. b)

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Die primärrechtskonforme Auslegung

Das Gebot einer primärrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts, insbesondere einer Auslegung in Übereinstimmung mit den Grundfreiheiten, gilt selbstverständlich auch im spanischen Recht und wird nicht nur bei der gerichtlichen Rechtsanwendung berücksichtigt, sondern gleichsam präventiv bei der Gesetzesbegründung verwendet. Ein anschauliches Beispiel für die primärrechtskonforme Auslegung des

53 54 55 56 57

EuGH v. 11.7.2002 – Rs. C-60/00 Mary Carpenter, Slg. 2002, I-6279. EuGH v. 1.7.1993 – Rs. C-20/92 Hubbard ./. Hamburger, Slg. 1993, I-3777. EuGH v. 10.2.1994 – Rs. C-398/92 Mund & Fester ./. Hartrex, Slg. 1994, I-467. RGD 1989, 745. Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (1978), ABl. 1978 Nr. L 304/1. 58 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates v. 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2001 L 12/1. Klaus Jochen Albiez Dohrmann/Sixto Sánchez Lorenzo

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nationalen Rechts bietet der Fall García Avello,59 der zunächst dem EuGH zur Entscheidung vorlag. Dort ging es um das spanische Namensrecht für Doppelstaatsangehörige, die die spanische Staatsangehörigkeit und die eines anderen Mitgliedstaats haben. Hier kann das spanische Recht – wie es sich aus nationalen Gesetzen ebenso wie aus internationalen Abkommen ergibt – in zahlreichen Fällen zu einer Vielfältigkeit oder Umkehrung der Nachnamen führen, so auch in dem zu entscheidenden Fall, in dem es um spanisch-portugiesische Nachnamen ging. Die Dirección General de los Registros y del Notariado60 (DGRN) schloss im konkreten Fall die Anwendung des nationalen Gesetzes aus und eröffnete den Betroffenen, die die Staatsangehörigkeit mehrerer Mitgliedstaaten besaßen die Möglichkeit, das anwendbare Recht zu wählen.61 Um die einheitliche Anwendung dieser Entscheidungsgrundsätze durch die zuständigen Richter (Jueces Encargados del Registro Civil) 62 zu gewährleisten, veröffentlichte die DGRN die „Verwaltungsanweisung vom 23. Mai 2007 über Nachnamen von Ausländern mit spanischer Staatsangehörigkeit und deren Hinterlegung im spanischen Standesamt“ (Instrucción de 23 de mayo de 2007 sobre apellidos de los extranjeros nacionalizados españoles y su consignación en el Registro Civil español), mit der das Recht von Unionsbürgern mit Mehrstaatsangehörigkeit bestätigt wird, unter den konkurrierenden nationalen Rechten das anwendbare Recht frei zu bestimmen.

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2.

Sekundärrecht

a)

Umsetzungstechniken

Wegen der außerordentlichen Vielzahl gemeinschaftsrechtlicher Richtlinien und Verordnungen ist es schwierig, die Umsetzung des Sekundärrechts in das spanische Recht zusammenzufassen. Es scheint beinahe unmöglich, auch nur einen Überblick über die Entwicklung des Umsetzungsrechts in Spanien seit dem Beitritt zur EG im Jahre 1986 zu geben. Zum Beispiel hat die Europäische Gemeinschaft nach den im Amtsblatt veröffentlichten Angaben in der Zeit von Januar 1997 bis Januar 2008 allein im Nahrungsmittelsektor mehr als 1.400 Regelungen verabschiedet. Das Beispiel verdeutlicht, dass eine wissenschaftliche Untersuchung zur Umsetzung von Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten nur zum Ergebnis haben kann, dass bestenfalls eine weitgehende Annäherung erreicht wurde. Im Folgenden können daher nicht alle Einzelheiten des Sekundärrechts erörtert werden. Stattdessen werden Aspekte der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht ins spanische Recht speziell mit Blick auf Rechtsakte des Privatrechts erörtert.

59 EuGH v. 2.10.2003 – Rs. C-148/02 García Avello, Slg. 2003, I-11613. 60 Die Dirección General de los Registros y del Notariado ist eine Abteilung des Justizministeriums; sie erlässt Erläuterungen für die mit standesamtlichen Fragen betrauten Richter sowie für die Notare und entscheidet zudem über Beschwerden gegen Entscheidungen jener Gerichte und Notare. 61 DGRN v. 30.5.2006, RJ 2007/3394. 62 Bei den Jueces Encargados del Registro Civil (etwa: „Standesamt-Richter“) handelt es sich um Richter mit administrativen Aufgaben und ohne Rechtsprechungsgewalt.

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So wie auch in anderen Rechtsordnungen üblich, werden Richtlinien und Verordnungen durch Spezialgesetze ins nationale Recht implementiert. Der Consejo de Estado (Staatsrat) hat in diesem Zusammenhang besonders hervorgehoben, dass die Umsetzungsregelungen einer Richtlinie denselben Normenrang haben muss, wie die bereits geregelte Materie in nationalem Recht hatte; das bisherige nationale Recht ist an die Richtlinienvorgaben anzupassen.63 Wenn allerdings die Umsetzung dringlich ist, und auch aus Gründen des Gesetzesvorbehalts erfolgt eine Richtlinienumsetzung nicht selten auch durch Rechtsverordnung; so wird insbesondere verfahren, wenn die Umsetzungsfrist bereits abgelaufen ist.

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Besonders im Verbraucherrecht wurden viele gemeinschaftsrechtliche Vorgaben durch Spezialgesetze umgesetzt. Dabei blieb der Código Civil nahezu unverändert. Eine Ausnahme stellt lediglich Art. 1262 Cc über den Abschluss von Verträgen dar, der im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr durch das Gesetz 34/2002 vom 11. Juli 2002 geändert wurde. Durch dasselbe Gesetz wurde auch Art. 54 Código de Comercio (CCom) über den Vertragsschluss im Handelsverkehr an die Vorgaben der Richtlinie angepasst.

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Die Umsetzung von Richtlinienvorgaben macht nicht selten eine Abstimmung mit bereits vorbestehenden autonomen nationalen Regelungen erforderlich. Im Bereich des Verbraucherschutzes bestanden solche insbesondere schon mit dem Gesetz 26/1984 vom 19. Juli 1984 über den Verbraucher- und Verwenderschutz (Ley para Defensa de los Consumidores y Usarios, LGDCU). Dieses enthielt bereits ein Haftungssystem sowie Regelungen über missbräuchliche Vertragsklauseln. Für den spanischen Gesetzgeber stellte sich daher die Frage, ob die Produkthaftungsrichtlinie64 und die Klauselrichtlinie weiteren Umsetzungsbedarf hervorriefen. Die Produkthaftungsrichtlinie setze der spanische Gesetzgeber durch ein weiteres Spezialgesetz um, das Gesetz 22/1994 vom 6. Juli über Haftung für fehlerhafte Produkte.65 Im Hinblick auf die Umsetzung der Klauselrichtlinie wählte er hingegen ein doppelgleisiges Verfahren und inkorporierte ihre Vorgaben zum einen in das LGDCU, verabschiedete aber gleichzeitig das Gesetz 7/1998 vom 13. April 1998 über die Regelung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen.66 In der Rechtspraxis führte dieses Nebeneinander von Gesetzen zu einer Vielzahl von Problemen und Widersprüchen.

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Ähnliche Probleme traten bei der Umsetzung der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie auf.67 Zu diesem Zeitpunkt galt bereits das Gesetz 7/1996 vom 15. Januar 1996 über die

23

63 Vgl. Gutachten 997/1988 v. 12.3.1998, 3527/2000 v. 14.12.200 und 1957/2002 v. 25.6.2002. 64 Richtlinie 85/374/EWG des Rates v. 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. 1985 L 210/29. 65 Ley 22/1994 v. 6.7.1994 de Responsabilidad civil por los daños causados por productos defectuosos. 66 Ley 7/1998 v. 13.4.1998 de las Condiciones Generales de la Contratación. 67 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. Klaus Jochen Albiez Dohrmann/Sixto Sánchez Lorenzo

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Rechtsordnung des Kleinhandels,68 das verschiedene Arten von Kaufverträgen regelt. So war es einerseits erforderlich dieses Gesetz entsprechend den Vorgaben der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie zu ändern (durch das Gesetz 47/2002 vom 19. Dezember 2002). Darüber hinaus erließ der Gesetzgeber aber noch das Gesetz 23/2003 vom 10. Juli 2003 über die Gewährleistung beim Verbrauchsgüterkauf.69 Auch hier hat die Literatur Reibungspunkte und Widersprüche der beiden Gesetze kritisiert.

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Bei der Umsetzung einer Richtlinie sind häufig mehrere Gesetze betroffen – vorhandene Gesetze werden geändert, neue Gesetze erlassen. Über die oben genannten Beispiele hinaus (Rn. 21, 23), kann man an das Gesetz 3/2004 vom 29. Dezember 2004 über Maßnahmen für die Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr70 denken, das der Umsetzung der Zahlungsverzugsrichtlinie71 dient. Die Zahlungsverzugsrichtlinie machte darüber aber hinaus noch Änderungen der Vorschriften über Verträge der öffentlichen Verwaltung (2/2000 vom 16. Juni) sowie eine Überarbeitung des Gesetzes über die Ordnung des Einzelhandels erforderlich. Der Umsetzung der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr dient das Gesetz 32/2000 vom 11. Juli über Dienste der Informationsgesellschaft und elektronischen Geschäftsverkehr.72 Dieses Gesetz wiederum änderte die Artikel 1262 Cc und 54 Ccom und das Allgemeine Gesetz 11/1998 vom 24. April über Fernmeldetechnik.

Alle diese Beispiele zeigen die inhaltliche Verflechtung mehrerer Gesetze bei der Umsetzung einer Richtlinie. Die Folge ist eine umfangreiche horizontale Ausweitung der Gemeinschaftsnormen in einem bestimmten Bereich des Marktes. Das kann sowohl positive als auch negative Effekte haben. Denn nicht immer kann der Rechtsanwender deutlich unterscheiden, wann eine Norm gemeinschaftsrechtskonform auszulegen ist und wann nicht.

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Die zunehmende Bereitschaft des spanischen Gesetzgebers zu legislativem Handeln kann sich sowohl positiv als auch negativ auf die Angleichung des spanischen Rechts an das Gemeinschaftsrecht auswirken. Zum Beispiel wurde kürzlich der königliche Erlass 1/2007 vom 16. Dezember 2007 verabschiedet, durch den das LGDCU neu verkündet wird. Das LGDCU führt mehrere Sondergesetze zusammen, die wiederum der Umsetzung verschiedener Richtlinien dienen. Der königliche Erlass beschränkt sich allerdings nicht auf die Konsolidierung des vorbestehenden Rechts, sondern enthält darüber hinaus inhaltliche Änderungen. Das wiederum stellt die Wirksamkeit der vom Gemeinschaftsrecht intendierten Rechtsangleichung in Frage. Ein anderes Beispiel ist das Gesetz 56/2007 vom 28. Dezember 2007 über Maßnahmen für die Förderung der Informationsgesellschaft.73 Dieses Gesetz modifiziert nicht nur das

68 Ley 7/1996 v. 15.1.1996 de Ordenación del Comercio Minorista. 69 Ley 23/2003 v. 10.7.2003 de Garantías en la Venta de Bienes de Consumo. 70 Ley 3/2004 v. 29.12.2004 por la que se establecen medidas de lucha contra la morosidad en las operaciones comerciales. 71 Richtlinie 2000/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 29.6.2000 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr, ABl. 2000 L 200/35. 72 Ley 32/2000 v. 11.7.2000 de servicios de la sociedad de información y de consumo electrónico. 73 Ley 56/2007 v. 28.12.2007 de Medidas de Impulso de la Sociedad de la Información.

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ältere Gesetz 34/2002 vom 11. Juli 2002 über Dienste der Informationsgesellschaft und elektronischen Geschäftsverkehr,74 das seinerseits die Vorgaben der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr umsetzt, sondern auch das Gesetz 59/2003 vom 19. Dezember 2003 über elektronische Signaturen und den königlichen Erlass 14/1999 vom 17. September über elektronische Signaturen.75 Schon dieser Erlass berücksichtigte den Entwurf einer Richtlinie über elektronische Signaturen, der schließlich am 13. Dezember 1999 verabschiedet wurde.76 – Durch die wiederholte Umänderung nationaler Umsetzungsvorschriften wird der Rechtsrahmen von Mal zu Mal undurchsichtiger und weniger nachvollziehbar. Erschwert wird auch festzustellen, ob das mitgliedstaatliche Umsetzungsrecht den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben noch genügt oder sich von diesen entfernt hat. Diese zunehmende Intransparenz macht es nicht zuletzt den Gemeinschaftsorganen schwer, etwaige Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht zu kontrollieren; sie sind dabei stets auf nationale Berichte und Klagen Einzelner angewiesen, die solche Umsetzungsdefizite hervorheben. Spanien – wie einige andere Mitgliedstaaten auch – hat die Umsetzung von Richtlinien in nationales Recht nicht stets mir vollem Eifer und Erfolg betrieben, sei es, dass die Umsetzungsfrist überschritten wurde, sei es, dass inhaltliche Vorgaben nicht vollständig oder richtig umgesetzt wurden.77 Die von den Gemeinschaftsorganen vorgegebenen Umsetzungsfristen fügen sich oft nicht bruchlos in den politischen und legislativen Kalender der Mitgliedstaaten. Mitunter erschweren besondere Umstände die fristgerechte Umsetzung. Beispiele dafür liefert auch die spanische Umsetzungspraxis. So konnte das Gesetzgebungsverfahren zur Umsetzung der Produkthaftungsrichtlinie erst nach sechsjähriger Dauer und damit mit dreijähriger Verspätung mit Verabschiedung des Gesetzes 22/1994 vom 6. Juli 1994 über die Haftung für fehlerhafte Produkte abgeschlossen werden. In der Zwischenzeit machte man das allgemeine Haftungssystem der Art. 25–28 LGDCU für die Zwecke der Umsetzung fruchtbar. Schon im Jahr 1995 lag bereits ein erster Entwurf zur Umsetzung der Richtlinie und – damit verbunden – Änderung des LGDCU vor, doch fand dieser kein Echo. Erst 1997 wurde ein im Auftrag des Ministerrats verfasster neuer Entwurf vorgelegt. Dieser basierte auf früheren Regelungsvorschlägen, die, inhaltlich an das Modell des deutschen AGBG angelehnt, teils schon vor Verabschiedung der Klauselrichtlinie 93/13/EWG ausgearbeitet worden waren. Von da an ging es ganz schnell, die Regierung übertrug die Federführung für das Gesetzesvorhaben der Kommission für Justiz und Inneres und das Gesetz wurde schließlich am 13. April 1998 verabschiedet. Zügig erfolgte hingegen die Umsetzung der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie, die nach weniger als zwei Jahren durch das Gesetz 23/2003 vom 10. Juli 2003 über Gewährleistungsrechte beim Verbrauchsgüterkauf erfolgte. Bis dahin war in der Lehre umstritten, ob die Umsetzung der Richtlinie durch ein Sondergesetz oder durch Änderung des LGDCU vorzugswürdig sei. Schließlich erwog man auch, ob

74 Ley 34/2002 v. 11.7.2002 de servicios de la sociedad de la información y de comercio electrónico. 75 Real Decreto Ley 14/1999 v. 17.9.1999 sobre firma electrónica. 76 Richtlinie 1999/93/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.12.1999 über gemeinschaftliche Rahmenbedingungen für elektronische Signaturen, ABl. 2000 L 13/12. 77 Der Statistik ist freilich zu entnehmen, dass Spanien insoweit nicht säumiger ist als andere Mitgliedstaaten; Bellido Barrionuevo, La directiva comunitaria (2003), S. 145.

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3. Teil: Besonderer Teil die Richtlinienvorgaben nicht überschießend durch eine breitere Regelung umgesetzt werden sollten, die auch eine Änderung des Código civil und des Handelsgesetzbuchs umfasst. Seit 2007 sind die Sachfragen jetzt übrigens im LGDCU geregelt.78

27

Spanien hatte sich wiederholt in Vertragsverletzungsverfahren wegen fehlerhafter Umsetzung von Richtlinien zu verteidigen, und wiederholt mussten nationale Umsetzungsvorschriften nachgebessert werden.79 Ein Beispiel aus dem hier erörterten Bereich des Europäischen Privatrechts ist das Urteil des EuGH vom 9. September 2004, in dem es um die Umsetzung der Klauselrichtlinie in Spanien ging.80 Nach Auffassung des Gerichtshofs war die Vorschrift von Art. 5 S. 3 Klauselrichtlinie nicht richtig umgesetzt, nach der die contra proferentem Regel im Verbandsklageverfahren nicht anzuwenden ist.81 Das war zwar in der Tat im Wortlaut der spanischen Umsetzungsvorschriften nicht eigens hervorgehoben, doch begründete die Lehre das richtlinienkonforme Ergebnis im Wege der Auslegung. Das Urteil des EuGH führte schließlich dazu, dass die Umsetzungsvorschrift durch das Gesetz 44/2006 vom 29. Dezember 2006 klarstellend angepasst wurde. In derselben Entscheidung stellt der Gerichtshof einen Verstoß gegen die Vorgaben von Art. 6 Abs. 2 Klauselrichtlinie fest.82 Dabei hätte der EuGH durchaus zu einem anderen Ergebnis kommen können, wenn er die verschiedenen maßgeblichen Vorschriften des LCGC und des LGDCU zusammen gesehen und ausgelegt hätte. Richtig verstanden verstießen sie nicht gegen Art. 6 Abs. 2 Klauselrichtlinie.

28

Der spanische Gesetzgeber hat Richtlinienvorgaben auf unterschiedliche Weise umgesetzt und sich dabei teils eng an den Richtlinienwortlaut gehalten, diesen teils freier umgesetzt; nicht selten ist er auch über die Vorgaben hinausgegangen. So beschränkt sich das Gesetz 23/2006 vom 10. Juli weitestgehend auf eine wörtliche Übernahme der Vorgaben der Richtlinien über das Urheberrecht in der Informationsgesellschaft83. Gleichwohl hat man auch hier den Einruck, dass der Gesetzgeber damit das spanische Urheberrecht modernisieren wollte. Häufig stößt man in Gesetzen auf einzelne Vorschriften, die Richtlinienvorgaben verbatim wiedergeben. So war z.B. Artikel 10 bis des Gesetzes 7/1998 vom 13. April 1998 in seiner ersten Fassung eine wortgetreue Wiedergabe der Generalklausel von Treu und Glauben des Artikels 3.1 der Klauselrichtlinie. Ebenso hat der Gesetzgeber aus dem Gesetzes 23/2003 vom 10. Juli 2003 zahlreiche Vorschriften der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie wörtlich übernommen.

29

Nicht selten ist der Gesetzgeber auch über die Vorgaben einer Richtlinie hinausgegangen. Im Rahmen der Kaufgewährleistungsrechte des Verbrauchers regelt Art. 124

78 Statt aller Carrasco Perera/Cordero Lobato/Martínez Espín, Estudios sobre Consumo (2000), S. 125. 79 Bellido Barrionuevo, La directiva comunitaria (2003), S. 145. 80 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-70/03 Kommission ./. Spanien, Slg. 2004, I-7999. 81 S. nur Infante Ruiz, Revista de Derecho Privado 2005, 159 ff.; ders., Revista de la Facultad de Derecho de la Universidad de Granada (2006), S. 469. 82 Vgl. nur Esteban de la Rosa, La Ley 2005, D-101 1932. 83 Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 22.5.2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft, ABl. 2001 L 167/10.

812

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§ 27 Spanien

LGCDU (in der Fassung von 2007) die Klage des Verbrauchers gegen den Hersteller, wenn auch nur subsidiär, für den Fall, dass er seine Rechte nicht gegen den Verkäufer durchsetzen kann. Das ist ein Fall von überschießender Umsetzung. Auch die Vorgaben der Klauselrichtlinie hat der spanische Gesetzgeber in einigen Punkten übererfüllt. Das betrifft zum Beispiel die Kontrolltechniken des Richters über missbräuchliche Klauseln. Die Gerichte sind befugt, eine wegen treuwidriger Benachteiligung nichtige Klauseln aufrecht zu erhalten und zu modifizieren, Art. 83.2 LGDCU (in der Fassung von 2007). In anderen Fällen werden aber auch Umsetzungsdefizite gerügt. So hat der spanische Gesetzgeber beispielsweise Artikel 4 Abs. 2 der Klauselrichtlinie über die Kontrollfreiheit von Hauptgegenstand und Preis nicht ausdrücklich umgesetzt. Im Privatrecht hat man manchmal den Eindruck, dass der spanische Gesetzgeber in einigen Bereichen das Vertragsrecht modernisieren will, vor allem wenn es um den Verbraucherschutz geht. Die Umsetzung ins Privatrecht geht dabei nicht selten weiter als es das Gemeinschaftsrecht verlangt und oft werden gleichzeitig mehrere Gesetze geändert. Diese Umsetzungstechnik macht es in einigen Fällen schwer zu erkennen, ob die Regelung die Richtlinienvorgaben überschießend umsetzen. Das ist zum Beispiel bei dem LGDCU in der Fassung vom 16. November 2007 der Fall. Hier hat der Gesetzgeber nicht nur die bestehende Vorschriften neugeordnet und Sondergesetze integriert, sondern gleichzeitig auch inhaltliche Veränderungen vorgenommen, die teilweise über das hinausgehen, was mit dem Mittel einer gesetzesvertretenden Verordnung (Real Decreto Legislativo) 84 geregelt werden kann. Dem Gesetzgeber ist dabei zu Gute zu halten, dass er das Anliegen verfolgte, das Gemeinschaftsrecht effektiv umzusetzen. Mit der revidierten Fassung des Textes wollte er die richtliniendeterminierten Vorschriften verdeutlichen und näher erläutern.85 Zum Beispiel hat die Reform von 2007 die vorher im Gesetz 7/1998 vom 13. April geregelte AGB-Kontrolle präzisiert.86 Auch die Umsetzungsvorschriften über die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie wurden klarer gefasst, teils auch gegenüber dem Richtlinientext verbessert.87 Auch die Vorschriften über die Produkthaftung hat der Gesetzgeber teilweise sprachlich überarbeitet, teils aber auch inhaltlich erweitert, so wenn die Haftung auch auf fehlerhafte Dienstleistungen erstreckt wird. Auf diese Weise wird zwar einerseits das Umsetzungsgesetz verbessert, wird aber andererseits die Kontrolle durch die Europäische Kommission erschwert.

b)

Wirkungen nach der Umsetzungsfrist

Die unmittelbare Anwendbarkeit des Sekundärrechts (Verordnungen und Richtlinien) ist ein anerkanntes Prinzip der spanischen Rechtsprechung.88 Allerdings hat die

84 Die spanische Verfassung kennt verschiedene Formen der Legislativakte, nämlich das (parlamentarische) Gesetz (Ley), die Verordnung (Reglamento), gesetzesvertretende Verordnung (Decreto Legislativo, Art. 85 CE) sowie die in Eilfällen zugängliche die Gesetzesverordnung (Decreto Ley, Art. 86 CE). 85 Vgl. Grunderklärung 1/2007 über gesetzesvertretende Verordnungen v. 16.11.2007, die die revidierter Fassung der LGDCU bestätigt. 86 Vgl. Art. 125 mit dem Art. 11 des Gesetzes 23/2003 v. 10.7.2003. 87 Vgl. Art. 119.2-2 oder der Art. 123.4, S. 2, 126 S. 2. 88 Z.B. TS v. 17.4.1989, RJ 1989/4524; TS v. 10.2.1997, RJ 1997/2141; TS v. 16.2.2000, RJ 2000/1889. Klaus Jochen Albiez Dohrmann/Sixto Sánchez Lorenzo

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3. Teil: Besonderer Teil

Rechtsprechung die unmittelbare Anwendbarkeit bei fehlerhafter oder verspäteter Umsetzung der Richtlinie zu streng auf das Vertikalverhältnis Staat–Bürger beschränkt. So lehnte der Tribunal Supremo89 in einer Entscheidung aus dem Jahre 1991 die Anwendung der Insolvenzschutzrichtlinie90 im Rechtsstreit zwischen einer Privatperson und dem Lohngarantiefonds – einer Einrichtung des Ministeriums für Arbeit und Soziales – zu Unrecht ab.91 Insgesamt ist die Rechtsprechung in Bezug auf die Richtlinienwirkungen uneinheitlich. Während einige Entscheidungen des Tribunal Supremo weder die Faccini Dori 92 Vorgaben beachten, noch eine gemeinschaftsrechtkonforme Auslegung, noch eine gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung in Betracht ziehen,93 beachten andere Entscheidungen die Vorgaben des EuGH zutreffend und legen das nationale Recht gemeinschaftsrechtskonform aus.94 In einigen Entscheidungen wird sogar über die europarechtlichen Vorgaben hinausgehend eine unmittelbare horizontale Wirkung anerkannt, so etwa in Bezug auf die Vorschriften der Klauselrichtlinie. In einem Fall hat der Tribunal Supremo die Vorgaben sogar angewandt, obwohl die Richtlinie nicht umgesetzt worden war oder der Vertragsschluss weit vor Ablauf der Umsetzungsfrist lag95. Im Schrifttum werden diese Entscheidungen überwiegend kritisiert,96 doch gibt es auch Stimmen, die sich für eine „weitreichende unmittelbare horizontale Anwendbarkeit“ von Richtlinien aussprechen.97 c)

31

Die Vorwirkung von Richtlinien

Eine unmittelbare Anwendung von Richtlinien kommt nur in Betracht, wenn die Vorgaben der Richtlinie nicht oder fehlerhaft umgesetzt wurden. Vor Ablauf der Umsetzungsfrist ist eine solche horizontale Wirkung nicht anerkannt. Nach der Rechtsprechung des Tribunal Supremo98 kommt der Richtlinie vor Ablauf der Umsetzungsfrist eine „latent verpflichtende Wirkung“ zu. Die Rechtsprechung ist diesbezüglich ein

89 TS v. 13.7.1991, RJ 1991/5985. 90 Richtlinie 80/987/EWG des Rates v. 20.10.1980 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. 1980 L 283/23. 91 González-Orús, RDCE 1999, 465 ff. 92 EuGH 14.7.1994 – Rs. C- 91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325. 93 TS v. 31.1.1998, RJ 1998/121. 94 TS v. 20.11.1996, RJ 1996/8371; TS v. 15.3.1995, RJ 1995/1964. Kürzlich auch TS v. 24.7.2000, RJ 2000/6473; TS v. 15.3.2001, RJ 2001/5980; TS v. 30.4.2004, RJ 2004/2678; TS v. 28.3.2005, RJ 2005/1697; TS v. 23.6.2005, RJ 2005/4930; TS v. 19.12.2008, RJ 1009/24; TS v. 17.3.2009, JUR 2009/169539, Rn. 1. 95 TS v. 5-7-1997, RJ 1997/6151; TS v. 28.11.1997, RJ 1997/8435; TS v. 20.2.1998, RJ 1998/604; TS v. 31.1.1999, RJ, 1999/121. 96 TS v. 12.7.1996, RJ 1996/5580; TS v. 23.9.1996, RJ 1996/6721; TS v. 8.11.1996, RJ 1996/ 7954; TS v. 30.11.1996, RJ 1996/8457. Vgl. Alonso García, El juez español y el Derecho comunitario (2003), S. 145; Del Valle Gálvez/T. Fajardo del Castillo, RDCE 1999, 122; López Escudero/F. Cuesta Rico, RDCE 1999, 412–414; Blanco Pérez Rubio, Estudios sobre Consumo (1997), S. 37 ff. 97 Brú Purón, in: García Collantes (Hrsg.), La unificación jurídica europea (1999), S. 61. 98 TS v. 18.3.1995, RJ 1995/1964.

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§ 27 Spanien

wenig undeutlich. Der Tribunal Supremo99 hat die Anwendung der Vorschriften der Klauselrichtlinie schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist gebilligt, sogar vor Inkrafttreten der Richtlinie. Hierbei handelt es sich nicht um eine richtlinienkonforme Auslegung des damals geltenden spanischen Rechts, sondern um eine Vermischung von Auslegung nationalen und des Gemeinschaftsrechts. d)

Die richtlinienkonforme Auslegung

Nach der Rechtsprechung des EuGH ist eine richtlinienkonforme Auslegung erst ab Ablauf der Umsetzungsfrist geboten. Bis dahin gilt lediglich, dass die Mitgliedstaaten keine Regelungen erlassen oder beibehalten dürfen, die einer erfolgreichen Umsetzung der Richtlinien entgegenstehen (Vereitelungsverbot).100 Auch der Tribunal Supremo hat zunächst vor Ablauf der Umsetzungsfrist keine Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung angenommen.101 In der Lehre wird hingegen teilweise eine Pflicht zur richtlinienkonformen Aluslegung auch schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist befürwortet.102 Dem scheint der Tribunal Supremo in jüngeren Entscheidungen zu folgen: 103

32

„Die Normen der nationalen Rechtsordnung müssen von allen Gerichten gemeinschaftsrechtskonform ausgelegt werden, unabhängig von der Tatsache, dass die Norm vor oder nach der Richtlinie verabschiedet wurde oder die Richtlinie bereits in nationales Recht umgesetzt wurde oder nicht“104.

Über Reichweite und Grenzen der Pflicht zur richtliniekonformen Auslegung gibt es unterschiedliche Ansichten. Im Hinblick auf die Klauselrichtlinie haben einige Gerichte eine richtlinienkonforme Auslegung für unmöglich gehalten, da das spanische Umsetzungsgesetz höherer Anforderungen an den Verbraucher stellt105. Andere Entscheidungen haben indes eine Auslegung in Übereinstimmung mit Art. 3 Klauselrichtlinie für möglich gehalten.106 In einigen Fällen ist die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung als eine Ergebnispflicht verstanden worden, die auch dann besteht, wenn die gebotene Auslegung nur contra legem erreicht werden könnte,107 nicht nur als eine Verhaltenspflicht. Beispielhaft zeigt sich dieses weite Verständnis zur Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung in Entscheidungen über die Nichtigkeit von Gesellschaften infolge der Marleasing Entscheidung des EuGH.108

99 100 101 102 103 104 105 106 107 108

TS v. 5.7.1997, RJ 1997/6151. TS v. 28.3.2005, RJ 2005/1697. Sánchez Lorenzo, Derecho privado europeo (2002), S. 82. Andrés Sáenz de Santa María/González Vega/Fernández Pérez, Introducción al Derecho de la Unión Europea (2. Aufl. 1999), S. 436. EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969. TS v. 16.4.2007, RJ 2007/3780, Rn. 3; reiterado en TS v. 10.7.2008, RJ 2008/4371, Rn. 3; TS v. 10.7.2008, RJ 2008/4372, Rn. 3. TS v. 21.1.1988, RJ 1988/121; TS v. 20.11.1996 RJ 1996/8371. TS v. 23.7.1993, RJ 1993/6467; TS v. 20.7.1994, RJ 1994/6518. TS v. 30.4.2004, RJ 2004/1678, in Bezug auf die Handelsvertreterrichtlinie. TS v. 26.3.2009, RJ 2009/2388, Rn. 2.

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33

§ 28 Polen Ulrich Ernst Übersicht I. Polen – Junger Mitgliedstaat und Transformationsland

. . . . . . . . . . . . . .

II. Rechts- und Gerichtssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rn. 1 2–3

III. Beschäftigung mit Methodenfragen in Wissenschaft und Praxis 1. Organisation von Forschung und Lehre . . . . . . . . . . . 2. Abstrakter Ansatz der überkommenen Rechtstheorie . . . . 3. Verhältnis von Rechtsprechung und Lehre . . . . . . . . . .

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4–12 4–5 6–10 11–12

IV. Allgemeine Fragen europäischer Methodenlehre . . . 1. Europarecht als Untersystem des polnischen Rechts 2. Vorlage nach Art. 267 AEUV/234 EG . . . . . . . 3. Zeitliche Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sprachprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Europakonforme Rechtsanwendung . . . . . . . .

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13–32 13–16 17–22 23–25 26–28 29–32

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V. Europäische Methodenfragen in ausgewählten Rechtsgebieten VI. Fazit

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33–36

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37–38

Literatur: Antonów Dobrosława, Wykładnia prawa podatkowego po wstąpieniu Polski do Unii Europejskiej (2009); Stanisław Biernat / Piotr Wróbel, Stosowanie prawa wspólnoty europejskiej w polskim sądownictwie administracyjnym, Studia Prawno-Europejskie, Tom 9 (2007), 7–48; Monika Doman´ ska (Hrsg.), Pytanie prejudycjalne do Trybunału Wspólnot Europejskich (2007); Mirosław Granat (Hrsg.), Stosowanie prawa międzynarodowego i wspólnotowego w wewnętrznym porządku prawnym Francji i Polski (2007); Anna Kalisz, Wykładnia i stosowanie prawa wspólnotowego (2007); Ewa Łętowska, KPP 1/2001, 27–64; Cezary Mik, Wykładnia prawa Unii Europejskiej (2008); Zbigniew Radwan´ ski (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, Tom 1 – Prawo cywilne – cze˛s´ c´ ogólna (2007); Piotr Winczorek, Teoria i praktyka wykładni praw (2005); Slawomira Wronkowska, Polska kultura prawna (2005); Maciej Zielin´ski, Wykładnia prawa (4. Aufl. 2009).

I. 1

Polen – Junger Mitgliedstaat und Transformationsland

Polen verdient Beachtung als Beispiel für den Beitritt zur Union, die Transformation von zentralwirtschaftlicher kommunistischer Diktatur hin zum freiheitlichen Rechtsstaat wie auch aus sich heraus.1 Beigetreten ist das Land im Jahre 2004 im Rahmen 1 Der Bevölkerungszahl nach ist es das sechstgrößte Mitgliedsland der Union, seine Wirt-

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Ulrich Ernst

§ 28 Polen

der wohl auch für die Zukunft größten Erweiterungsrunde. Die Transformationsrichtung glich der von zehn der 2004 und 2007 aufgenommenen Staaten. Überlegungen zu beitrittsverbundenen Geltungsfragen und Sprachproblemen scheinen ohne Weiteres verallgemeinerbar. Im Übrigen gilt: Jedes ostmitteleuropäische Land hatte vor dem Zweiten Weltkrieg sein eigenes Rechtssystem, in jedem wurde anschließend die kommunistische Ideologie auf unterschiedliche Weise umgesetzt und jedes wählte nach Überwindung der sowjetischen Vorherrschaft seinen eigenen Weg für den Umbau von Gesellschaft, Recht und staatlichen Institutionen.

II.

Rechts- und Gerichtssystem

Das Recht, welches sich der 1918 wieder entstandene Staat schuf, ist der kontinentalen romanisch-germanischen Rechtsfamilie zuzuordnen.2 Der Abschluss der Rechtsvereinheitlichung gleich nach dem Zweiten Weltkrieg und der anschließende Umbau nach den Vorgaben der marxistisch-leninistischen Ideologie änderten Stil und Struktur der Gesetze nicht grundlegend. Abgelehnt wurde nun die „in bürgerlichen Rechtssystemen“ vorgenommene Unterscheidung zwischen Öffentlichem und Privatrecht unter Verweis auf die Überwindung der Interessenunterschiede von Einzelnem und staatlicher Gemeinschaft.3 Nach der Wende von 1989 wurde zwar in der Lehre die Bedeutung der hergebrachten Unterscheidung betont;4 normativen Niederschlag hat dies aber nicht gefunden.5

2

Neben dem Verfassungsgerichtshof bestehen ordentliche (sądy powszechne) und Verwaltungsgerichte (sądy administracyjne).6 Zivil- und Strafprozessrecht sehen als Rechtsmittel die Appellation (apelacja) vor, gegen zweitinstanzliche Entscheidungen

3

2 3

4

5

6

schaftskraft steht an siebter Stelle (Erwartung für 2010): http://epp.eurostat.ec.europa.eu/ tgm/table.do?tab=table&init=1&plugin=1&language=de&pcode=tec00001. Ernst, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), Stichwort „Polnisches Zivilgesetzbuch“ mwN. Radwan´ski, Prawo cywilne – cze˛s´c´ ogólna (7. Aufl. 2004), Rn. 1 ff. Eine Ausnahme bildete nur die Bezeichnung des Gesetzes „Internationales Privatrecht“ von 1965. Gebräuchlich blieben Begriffe wie Zivilrecht, Wirtschaftsrecht, Verfassungs- und Verwaltungsrecht. Ausführlich Safjan, in: Radwan´ski (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 2. Insbesondere wird hier der Unterschied der öffentlichen gegenüber der privatrechtlichen Regelungsmethode hervorgehoben. Kennzeichen letzterer seien die Gleichberechtigung der Beteiligten und die Freiheit in der Gestaltung der Rechtsverhältnisse. S. auch Radwan´ski/Zielin´ski, in: Radwan´ ski (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 36 Rn. 51 ff. So spricht das Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht, wie in Deutschland, von einer Zuständigkeit für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten, sondern für die „öffentliche Verwaltung“. Innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit gibt es Abteilungen für Familien- und Vormundschaftssachen sowie für Arbeits- und Sozialversicherungssachen. Den Verwaltungsgerichten obliegen auch Steuerangelegenheiten sowie Fragen des Sozialversicherungsrechts. Weiterhin bestehen ein Staatsgerichtshof für die Sanktionierung von Rechtsverstößen von Inhabern oberster Staatsämter sowie die Militärgerichte.

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3. Teil: Besonderer Teil

die Kassationsbeschwerde (skarga kasacyjna) bzw. Kassation zum Obersten Gericht (Sąd Najwyższy, OG). Die zweistufige Verwaltungsgerichtsbarkeit kennt die Kassationsbeschwerde vor dem Hauptverwaltungsgericht (Naczelny Sąd Administracyjny). Ordentliche Gerichte, welche als Rechtsmittelinstanz entscheiden, können bei Anwendungszweifeln in einem konkreten Fall dem OG sog. Rechtsfragen vorlegen.7 Dessen Entscheidung ist verbindlich für alle in dieser Sache zur Entscheidung berufenen Instanzen. Abgeschafft wurde seine in kommunistischen Zeiten bestehende Kompetenz zur Formulierung abstrakter „Richtlinien der Justiz und Gerichtspraxis“, die, ähnlich gesetzlichen Vorschriften, für die Gerichte verbindlich waren.8 Der Verfassungsgerichtshof (Trybunał Konstytucyjny, VerfGH) befindet u.a. über Rechtskollisionen innerhalb der verfassungsmäßigen Rechtsquellenhierarchie 9 – und dies entweder abstrakt, auf Antrag dazu berufener Institutionen oder in Beantwortung einer Rechtsfrage, welche ihm jedes zur konkreten Fallentscheidung berufene Gericht vorlegen darf – und auch über Verfassungsbeschwerden.10

III. Beschäftigung mit Methodenfragen in Wissenschaft und Praxis 1.

Organisation von Forschung und Lehre

4

Die Hochschulen sind bei der Gestaltung ihres Unterrichts inhaltlich und organisatorisch verhältnismäßig autonom, zumal das Studium nicht mit einem Staats-, sondern einem Universitätsexamen endet. Die in Deutschland praktizierte strikte Zuordnung eines jeden Lehrstuhls zum Privat-, Straf- oder (sonstigen) Öffentlichen Recht ist nicht anzutreffen. Da es keine gesetzlich bestimmten Hauptfächer gibt, konzentriert man sich auf die Lehre des jeweiligen Einzelgebiets. Die Spezialisierung strahlt auch in die Forschung aus, was nach 1989 ein zügiges Aufarbeiten westlicher Rechtsentwicklungen ermöglicht hat. Andererseits fehlt damit ein Anstoß, Probleme in einen übergreifenderen Zusammenhang zu stellen. Auch die Rechtstheorie ist Unterrichtsund Forschungsgegenstand gesonderter Lehrstühle. Diese können sich – frei von der Rücksichtnahme auf einzelne Zweige – der Gesamtrechtsordnung widmen.11

5

Die Prüfungen in den praktischen Fächern stellen nach wie vor stark auf die Kenntnis der Vorschriften ab, in geringerem Maße wird den Kandidaten der Nachweis ihrer Fähigkeit zur Rechtsanwendung abverlangt. Dementsprechend geht der Unterricht nicht allzu stark auf die Demonstration von Auslegungstechniken und Wertungsfra-

7 8 9 10 11

Art. 390 § 1 Zivilverfahrensgesetzbuch; Art. 441 § 1 Strafverfahrensgesetzbuch. Safjan, in: Radwan´ ski (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 16 Rn. 77. Verfassung – internationale Verträge – Gesetze – Verordnungen/Akte des Ortsrechts. Vgl. Art. 79, 188, 191 und 193 polnische Verfassung (plnVerf) von 1997. Vgl. den indirekten Appell von Radwan´ski/Zielin´ski, in: Radwan´ ski (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 33 Rn. 1 f., wonach „zum Glück heute“ die Distanz zwischen Vertretern der Rechtstheorie und der Praxis überwunden sei, wo sich „für die Rechtspraxis und seine Lehre verantwortliche Personen“ träfen.

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§ 28 Polen

gen in Bezug auf die einzelnen Rechtsinstitute ein.12 In den Examina des Vorbereitungsdienstes für Richter und Staatsanwälte wurde zwar stets auch die Anfertigung von Entscheidungen auf Aktengrundlage verlangt, ein Schwergewicht lag bisher jedoch in der Einübung von Leitsätzen der Rechtsprechung des Obersten Gerichts, ohne Hintergründe und Alternativen bei der Entscheidungsfindung näher zu erörtern.13 2.

Abstrakter Ansatz der überkommenen Rechtstheorie

In der Trennung von Lehre und praktischer Rechtsanwendung kann ein Grund für den hohen Abstraktionsgrad rechtstheoretischer Äußerungen gesehen werden. Der zweite dürfte mit dem Versuch zusammenhängen, in den Zeiten der kommunistischen Diktatur, welche dem Recht völlig neue Inhalte zuschrieb und generell seine Bedeutung in Frage stellte, eine ideologisch neutrale Theorie zu pflegen. Nur solche Ansätze konnten die Systemwechsel der vierziger sowie der achtziger und neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts überstehen. Bezeichnend ist es, wenn eine verbreitete Schrift zur Auslegung ein fein differenziertes Begriffsinstrumentarium zur Analyse auffächert, dieses aber nur auf logische und semantische Überlegungen stützt, dagegen politische, soziale und interessengeleitete Wertungsfragen auslässt.14

6

Kurzgefasst stellt sich das terminologische Gebäude wie folgt dar:15 Gegenstand der Auslegung (wykładnia16) im Sinne interpretatorischer Tätigkeit sind Vorschriften (also sog. redaktionelle Einheiten von Rechtstexten) und Aufgabe der Auslegung ist es, die begrifflich von den Vorschriften zu unterscheidenden, sich aus ihnen ergebenden Normen zu rekonstruieren.17 Bei diesem Prozess können zwei Abschnitte unterschieden werden: Der erste umfasst das Auffinden der maßgeblichen Vorschriften, der zweite die Herleitung der sich aus ihnen ergebenden Norm. Für diese „eigentliche Auslegung“ bestehen verschiedene Arten von Regeln, die man z.B. in solche sprachlicher,

7

12 Kritisch zur Juristenausbildung Łętowska, in: Winczorek (Hrsg.), Teoria, S. 250 ff. Zu den Wechselbezügen von „positivistischer Juristenausbildung“ und relativ geringer Bedeutung rechtlicher Instrumente für individuelle Handlungsweisen Zirk-Sadowski, in: Wronkowska (Hrsg.), Polska kultura, S. 108 ff. 13 Łętowska, KPP 1/2001, 27, 31 ff.; Veränderungen könnte die Zentralisierung des Vorbereitungsdienstes in Verbindung mit einer Landesschule des Gerichtswesens und der Staatsanwaltschaft bewirken, die beschlossen wurden durch Gesetz v. 23.1.2009, Dziennik Ustaw [Gesetzblatt] Nr. 26, Pos. 157. 14 Zielin´ski, Wykładnia. Weiteres Beispiel ist der deutlich weniger abstrakte, neue internationale Überlegungen referierende, aber sich selbst des Eintauchens in Wertungsfragen enthaltende Aufsatz von Morawski, in: Wronkowska (Hrsg.), Polska kultura, S. 31 ff. Statt von philosophischen Problemen bzw. der internationalen Diskussion von der Beobachtung der polnischen Praxis deduzierend dagegen Łętowska, KPP 1/2001, 27–64. 15 Ausführlich Radwan´ski/Zielin´ski, in: Radwan´ ski (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 36 Rn. 52 ff., §§ 37–44. Zusammenfassung bei Antonów, Wykładnia, S. 13 ff. 16 Von „wy-“ = „aus“ und „kładac´ “ = „legen“. 17 Diese Unterscheidung wird zurückgeführt auf die Arbeit von Ziembin´ski, RPEiS 1/1960, 105.

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3. Teil: Besonderer Teil

systematischer und funktionaler Natur einteilen kann. Zudem lassen sich Auslegungsdirektiven zweiten Grades formulieren, deren Inhalt das Verhältnis der genannten Arten von Regeln zueinander ist. Die Auslegungsregeln zweiten Grades sollen die jeweils herrschende „Auslegungsideologie“ vorgeben, die nach Gesellschaftssystem, aber auch nach Rechtsgebiet voneinander abweichen können. Zu unterscheiden seien insofern statische von dynamischen Ansätzen. Erstere legen das größere Gewicht auf sprachliche Überlegungen, letztere eher auf funktionale.18

8

Dieser Ansatz scheint nicht nur zur Beschreibung der Arbeit mit polnischem Recht geeignet zu sein, sondern wird auch für die Analyse europarechtlicher Methoden herangezogen.19

9

Analogiebildung wird nicht mehr als Rekonstruktion von Normen aus Vorschriften begriffen, sondern als Schluss von solchen Normen auf andere Normen. Es soll sich damit nicht mehr um Auslegung im engeren Sinne handeln, angemessen soll vielmehr der in der Logik verwandte Begriff der Inferenz sein.20 Die Gesetzesanalogie, verstanden als die Anwendung von Vorschriften auf einen ihrem Anwendungsbereich ähnlich gelagerten Sachverhalt, wird – jedenfalls im Zivilrecht – in der Gerichtspraxis betrieben und von der Rechtstheorie für zulässig gehalten, dabei aber eine besondere Umsicht empfohlen.21 Noch größere Zurückhaltung soll hinsichtlich der ebenfalls verwendeten Figur der Rechtsanalogie geübt werden, die wie folgt beschrieben wird: „Auf Grundlage vieler ausdrücklich hinsichtlich eines Bereiches von Handlungen aufgestellter Normen bestimmt man ihre vermutete axiologische Begründung in Gestalt irgendwelcher grundlegender Wertungen und erkennt auf dieser Grundlage eine weitere, nicht ausdrücklich gesetzte Norm – eine Norm, welche ihre axiologische Begründung in eben diesen grundlegenden Wertungen findet.“22 Die Überlegung, dass eine Gesetzesanwendung nicht im Widerspruch zum vom Wortlaut Umfassten stehen darf, findet sich zwar, ihre unumstrittene Geltung kann aber nicht festgestellt werden.23

18 Funktionale Auslegungsmethoden werden als „dynamischer Ansatz“ bezeichnet und den scheinbar den Willen des historischen Gesetzgebers stärker berücksichtigenden sprachlichen gegenübergestellt – so Radwan´ski/Zielin´ski, in: Radwan´ ski (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 36 Rn. 67 ff. Dies setzt voraus, dass der ursprüngliche Gesetzgeber einer funktionalen Auslegung ablehnend gegenüberstand und sich andererseits der Wortsinn nicht zu ändern vermag. Zur Klassifizierung auch Antonów, Wykładnia, S. 155. 19 Beispiele: die Werke von Antonów, Wykładnia und Kalisz, Wykładnia, wie auch Aufsätze z.B. von Żuławska, FS Rudnicki (2005), S. 357 und 367; Zenc, in: Mik (Hrsg.), Wykładnia, S. 274. Den Nachweis, dass sich „der EuGH im Grunde aller der polnischen Jurisprudenz bekannten Auslegungsmethoden bedient“, führen Niesiołowski/Mikołajczyk, in: Wronkowska (Hrsg.), Polska kultura, S. 205–221. 20 Zielin´ski, Wykładnia, S. 50. 21 Radwan´ski/Zielin´ski, in: Radwan´ ski (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 37 Rn. 84 ff. In seiner Fassung ab 1990 enthält zum Beispiel das Zivilgesetzbuch keine Direktiven für die Rechtsanwendung mehr. 22 Radwan´ski/Zielin´ski, in: Radwan´ ski (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 37 Rn. 86. 23 Nach Antonów, Wykładnia, S. 152, Fn. 476, handelt es sich bei der Betonung der Wortlautgrenze um eine „besonders in der deutschsprachigen Literatur populäre Lehre“.

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§ 28 Polen

Dass Vorschriften keiner Auslegung bedürfen, deren Sinn sich zweifelsfrei aus ihrem Wortlaut ergibt, wurde im rechtstheoretischen Schrifttum Mitte der 1950er Jahre mit dem in Polen nach Stalins Tod einsetzenden politisch-gesellschaftlichen Tauwetter häufiger vertreten,24 zunächst kategorisch im Sinne von clara non sunt interpretanda, anschließend so verstanden, dass es bei einer Vorschrift, die sich im Ergebnis ihrer Wortlautinterpretation als eindeutig erweist, keiner weiteren Auslegung bedarf (interpretio cessat in claris). Heute wird dies mit Abwehrtendenzen gegenüber Aufrufen von Politik und Lehre erklärt, die größtenteils noch aus bürgerlichen Zeiten stammenden Vorschriften im Geiste der kommunistischen Ideologie auszulegen.25 In der Rechtslehre überwog bald die Kritik gegenüber einem Beharren auf dem Wortlaut – mit der einsetzenden Mäßigung des Regimes einerseits und der fortschreitenden Schaffung neuer Gesetze in der Zeit der Volksrepublik entfielen auch die Gründe dafür. Heute gehört das Aufzeigen der inneren Widersprüchlichkeit des clara non sunt interpretanda zum im ersten Studienjahr vermittelten theoretischen Grundwissen.26 3.

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Verhältnis von Rechtsprechung und Lehre

Kritischen Äußerungen des Schrifttums zufolge,27 hat die Praxis der Untergerichte den „unpolitischen“28 wortlautorientierten, systematische und funktionale Erwägungen zurückstellenden Ansatz bis heute verinnerlicht,29 was auch an der geschilderten Struktur des Rechtsunterrichts liegen dürfte.30 Weder bildeten sich zu zivilrechtlichen Generalklauseln in größerem Umfang differenzierte Fallgruppen heraus,31 noch entstand eine verallgemeinerbare Linie hinsichtlich der Methode und Grenzen der Analogiebildung.32 Der Positivismus, welcher die Rechtsprechung von allzu starker politi-

24 Prägend dazu Wróblewski, Zagadnienie teorii wykładni prawa ludowego (1959), über die „Theorie der Auslegung des Volksrechts“. 25 Dazu und zum Folgenden mit weiteren Nachweisen: Radwan´ski/Zielin´ski, in: Radwan´ ski (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 36 Rn. 104 ff. 26 Stawecki/Winczorek, Wste˛p do prawoznawstwa (4. Aufl. 2003), S. 160. Zum Weiterleben der Figur in der Urteilspraxis Łętowska, KPP 1/2001, 27–54 f. 27 Antonów, Wykładnia, S. 54: „[Die Vorschriften des polnischen Steuerrechts wurden vor dem EU-Beitritt] eher auf unbewusste Weise und unter Rückgriff auf intuitive Handlungen, denn auf erworbenes theoretisches Wissen interpretiert“. S. auch Kalisz, Wykładnia, S. 218. 28 Vgl. die Zitierung eines „erfahrenen Richters“ bei Łętowska, in: Winczorek (Hrsg.), Teoria, S. 252 Fn. 19. 29 Zu Schwierigkeiten mit europarechtlichen Methoden Zirk-Sadowski, in: Wronkowska (Hrsg.), Polska kultura, S. 97 ff., 113 ff. 30 So Łętowska, in: Winczorek (Hrsg.), Teoria, S. 245 ff. 31 Vgl. im Kontext der Anwendungsprobleme des harmonisierten Verbraucherschutzrechts: Jagielska/Lis/Łętowska/Mikłaszewicz/Wiewiórska-Domagalska, EPS 12/2006, 12, 22. 32 Eine funktionale Gesichtspunkte berücksichtigende Urteilspraxis gilt als „kreativ“, Safjan, in: Radwan´ ski (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 16 Rn. 75. Als Orientierungsbeispiel hin zu einer freieren Rechtsfindung wird mitunter die Praxis der Gerichte im Common-LawSystem angeführt: Żuławska, FS Rudnicki (2005), S. 357, 371. Aus anderer Sicht ist positivistische Gesetzesanwendung gerade Kennzeichen englischer Gerichtspraxis, für welche die allgemein gehaltenen europäischen Rechtsakte einen Methodenwechsel erforderten, ZirkSadowski, in: Wronkowska (Hrsg.), Polska kultura, S. 97 f. Ulrich Ernst

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3. Teil: Besonderer Teil

scher Einflussnahme in kommunistischen Zeiten freihielt, dürfte die Rückkehr zu bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit erleichtert haben – in Hinsicht auf eine Öffnung für die Vorgaben des Europarechts gilt er dagegen als hinderlich.33

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Ein anderes Bild 34 ergibt die Betrachtung der 1986 einsetzenden und nach 1989 immer stärkere Bedeutung gewinnenden Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs.35 Er war zunächst genötigt, aus der Verfassung von 1952, die 1989 von kommunistischen Elementen weitgehend befreit aber nur um wenige allgemeine Feststellungen zur neuen Staatsform ergänzt worden war, rechtsstaatliche Grundregeln herzuleiten – und darauf gestützt Vorschriften zu kassieren oder jedenfalls an die Justiz zu appellieren, diese verfassungskonform auszulegen.36 Wichtige Impulse geben publizistische Äußerungen seiner Mitglieder, die häufig Universitätsprofessoren sind oder vor ihrem Amtsantritt rechtspolitisch tätig waren.37 Eine ähnlich schöpferische Leistung bewältigten nach 1989 die Verwaltungsgerichte – insbesondere in völlig neuen Rechtsgebieten wie dem Steuerrecht. Ebenso tragen Schulungen des Justizministeriums und generell die Literatur im Zusammenhang mit dem Inkraftsetzen des Europarechts mit dem EU-Beitritt zur Sensibilisierung der Richterschaft bei.38

IV.

Allgemeine Fragen europäischer Methodenlehre

1.

Europarecht als Untersystem des polnischen Rechts

Die Einordnung des Europarechts in das in Polen geltende Rechtssystem folgt Vorgaben der Verfassung von 1997. Im Kapitel über die „Rechtsquellen“ regelt Art. 90 plnVerf das Verfahren des Abschlusses eines „internationalen Vertrages“, auf Grundlage dessen Polen „einer internationalen Organisation oder einem internationalen Organ Kompetenzen der Organe der Staatsgewalt in einigen Angelegenheiten über33 Zirk-Sadowski, in: Wronkowska (Hrsg.), Polska kultura, S. 108 f.: „Unter Juristen dominiert die auf den juristischen Positivismus rekurrierende Konzeption, in welcher das Recht als ein völlig gegenüber dem Juristen äußerliches Objekt angesehen wird, für dessen Inhalt er keine Verantwortung trägt. In Polen spielte der juristische Positivismus aus dieser Perspektive die Rolle einer Doktrin, welche nach dem Krieg die polnische Juristenausbildung vor übermäßiger Ideologisierung geschützt hat ... vor der Überzeugung, dass das Recht allein ein Ausfluss ökonomisch-politischer Phänomene ist. Der Positivismus bildete damit, zumindest in der methodologischen Dimension, das Muster eines Juristen heraus, welches sich ohne Schwierigkeit auch in der Konzeption des Rechtstaats verwenden lässt.“ Ähnlich, generell für die neuen postkommunistischen Mitgliedstaaten Bobek, CYELP 2 (2006), 265, 297. 34 Eine sich abzeichnende Kluft zwischen den Obergerichten und den „zum Diskurs unfähigen“ unteren Instanzen sieht Zirk-Sadowski, in: Wronkowska (Hrsg.), Polska kultura, S. 93, 110. 35 Zu dessen Auslegungsmethode Bator/Kozak, in: Wronkowska (Hrsg.), Polska kultura, S. 42–43. 36 Zirk-Sadowski, in: Wronkowska (Hrsg.), Polska kultura, S. 93, 104 f. Aus zivilrechtlicher Perspektive Safjan, in: Radwan´ ski (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 14 Rn. 31 (mit Beispielen für die relevante Rechtsprechung des VerfGH in § 16). 37 Z.B. insbes. Łętowska, PiP 4/2005, 3–10 und anschließende Diskussion, S. 108 ff. 38 Vgl. die im Internet zugänglichen Analysen der Europarechtsabteilung des Hauptverwaltungsgerichts: http://www.nsa.gov.pl/index.php/pol/NSA/Prawo-Europejskie.

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tragen“ kann. „Wenn dies aus einem von der Republik Polen ratifizierten Vertrag, der eine internationale Organisation konstituiert, folgt, so wird das von ihr gesetzte Recht unmittelbar angewandt und hat dabei im Falle einer Kollision mit Gesetzen Vorrang“ (Art. 91 Abs. 3 plnVerf). Schon im ersten Kapitel ordnet Art. 9 plnVerf die Einhaltung des für die Republik verbindlichen internationalen Rechts an – zugleich bezeichnet freilich Art. 8 Abs. 1 plnVerf die Verfassung als „oberstes Recht der Republik Polen“. Im Urteil des Verfassungsgerichtshofs über die Rechtmäßigkeit des Beitrittsvertrags heißt es: 39 „Die rechtliche Konsequenz von Art. 9 plnVerf ist die Verfassungsprämisse, dass auf dem Gebiet der Republik Polen neben den vom nationalen Gesetzgeber erlassenen Normen (Vorschriften) Regelungen (Vorschriften) gelten, die außerhalb des Systems der nationalen (polnischen) Rechtsetzungsorgane geschaffen werden. Der Verfassungsgeber ermöglichte also bewusst, dass das auf dem Gebiet der Republik geltende Rechtssystem einen mehrteiligen Charakter haben werde (...) Das Gemeinschaftsrecht ist dabei kein vollständig externes Recht im Verhältnis zum polnischen Staat (...) In Polen gelten mithin Untersysteme von Rechtsregelungen gemeinsam, welche aus verschiedenen Rechtssetzungszentren herrühren. Sie sollten gemäß dem Grundsatz der beiderseitig freundlichen Auslegung und einer kooperativen gemeinsamen Anwendbarkeit koexistieren. Dieser Umstand lässt in anderer Perspektive eine potenzielle Normenkollision und den Vorrang eines der beschriebenen Untersysteme erkennen.“ Dies bedeutet auch einen möglichen Konflikt zwischen VerfGH und EuGH.40 Sowohl in Verfahren der Normenkontrolle wie bei Verfassungsbeschwerden kann der VerfGH nur „Normativakte“ an der Verfassung messen. Als solche will er offenbar allein die in der Verfassung aufgeführten Akte polnischer Organe betrachten, nicht dagegen das von einem internationalen Organ im Sinne von Art. 91 Abs. 3 plnVerf gesetzte Recht. Damit dürfte eine Prüfung von Gemeinschaftssekundärrechtsakten durch den VerfGH ausscheiden41. Insofern fragt sich, wie andere Gerichte zu verfahren haben, wenn sie einen Widerspruch zwischen Gemeinschaftsrecht und polnischer Verfassung feststellen.42

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Dem Widerspruch zwischen Umsetzungsgesetz und Verfassung hat sich der VerfGH in einem Urteil von 2005 gestellt.43 Die dort untersuchten Vorschriften des Strafver-

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39 VerfGH v. 11.5.2005, K 18/04, OTK-A 5/2005, 49 sub III. 2.22 – auszugsweise deutsche Übersetzung in: EuR 2006, 236 ff. Dazu Bainczyk/Ernst, EuR 2006, 247–265. Ebenfalls zum Verhältnis der polnischen Verfassung zum Europarecht auf Deutsch: Biernat, in: v. Bogdandy/Cruz Villalón/Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europeaum (2008), § 21. 40 Kritisch Piontek, PiP 5/2009, 19, 31. 41 S. Ausführungen zur Verfassungsbeschwerde im Beitrittsvertragsurteil, VerfGH v. 11.5.2005, K 18/04, o. Fn. 39, sub 18.6. So auch Masternak-Kubiak, in: Granat (Hrsg.), Stosowanie, S. 82 f. 42 Als Frage formuliert im Diskussionsbeitrag von Garlicki, in: Granat (Hrsg.), Stosowanie, S. 103 (Mitschrift der weiteren Diskussion durch polnische und französische Verfassungsrechtler, S. 151 ff.). Vom „Anwendungsvorrang“ der Verfassung spricht in ihrer Urteilsanmerkung Dubicka, PiP 6/2007, 35, 44 ff. 43 VerfGH v. 27.4.2005, P 1/05, auszugsweise deutsche Übersetzung in EuR 2005, 494 ff. Dazu Bainczyk/Ernst, EuR 2006, 247–265. Ulrich Ernst

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3. Teil: Besonderer Teil

fahrensgesetzbuches dienten zwar nicht der Umsetzung einer Richtlinie, sondern des EU-Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl44; die Vorgehensweise lässt sich aber verallgemeinern.45 Die Neuregelung im Strafverfahrensgesetzbuch wurde als Kollision mit dem damals geltenden Verfassungsverbot der Auslieferung polnischer Bürger angesehen und für nichtig erklärt. Zugleich wurde im Hinblick auf die europäischen Verpflichtungen die Urteilswirkung für 18 Monate ausgesetzt, um der Politik Zeit zur Beseitigung der Kollision zu gewähren.46

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Charakteristisch für den Duktus des VerfGH wie des Schrifttums ist es, wenn dazu aufgerufen wird, im „polyzentrischen System“47 Grundsatzpositionen zu Hierarchiefragen hintanzustellen48 und Konflikten auf konstruktive Weise durch Konzilianz und Offenheit für das Gegenüber vorzubeugen.49 Adressaten dieses Appells – zur gegenseitig freundlichen Auslegung – sind sowohl die polnischen Gerichte wie auch der EuGH, der um Sensibilität gegenüber den neuen, postkommunistischen Mitgliedsstaaten gebeten wird.50 Weiterhin wird die Übereinstimmung der Grundwerte von unionalem und polnischem Recht unterstrichen, was die Zahl und Schärfe von Konflikten gering halten sollte.51 2.

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Vorlage nach Art. 267 AEUV/234 EG

In den ersten vier Jahren der Zugehörigkeit Polens zur Union war die Vorlagefreudigkeit seiner Gerichte recht gering – auch im Vergleich zu anderen neuen Mitgliedstaaten52. Als größter unter den „Neuen“ lag Polen mit nur elf Vorlagen hinter dem

44 Rahmenbeschluss des Rates v. 13.6.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (2002/584/JI), ABl. 2002 L 190/1. 45 Wobei allerdings hinsichtlich Richtlinien zuvor eine gerichtliche Vorlage an den EuGH angezeigt sein dürfte. 46 Der Verfassungsgeber nutzte diesen Zeitraum zur Streichung des Auslieferungsverbotes. Nach späterer Äußerung des Berichterstatters könne das Urteil nicht als „Messerstich in den Rücken“ der Integration angesehen werden, sondern eher als gegen das – im internationalen Kontext überholte – ursprüngliche Auslieferungsverbot in der Verfassung gerichtet, vgl. Wyrzykowski, in: Granat (Hrsg.), Stosowanie, S. 183 f. 47 Łętowska, EPS 12/2008, 4, 7. 48 Die Verfassungsrichterin Łętowska, in: Granat (Hrsg.), Stosowanie, S. 5, unterstreicht in einem Diskussionsbeitrag: „Kelsen ist schon ziemlich lange tot.“ und zieht als Sprachbild für die Aufteilung des polnischen Rechtsraums zwischen nationalem und europäischem Recht die Absprachen unter Miteigentümern „quoad usum“ heran; letzteres auch schon dies, PiP 4/2005, 3–10. Antonów, Wykładnia, S. 65, spricht gar von „fehlender Hierarchie im polyzentrischen System“. Dagegen die Bedeutung von Hierarchieklarheit betonend: Lang, PiP 7/2005, 95–99. 49 S. insbes. die Aufsätze von Łętowska, PiP 4/2005, 3–10; dies, EPS 12/2008, 4–9; sowie Safjan, in: Granat (Hrsg.), Stosowanie, S. 53; Kalisz, Wykładnia, S. 108 f., die zugleich das Urteil des VerfGH zum Beitrittsvertrag als „Rückschritt“ im Vergleich zum Urteil zum Europäischen Haftbefehl ansieht. 50 So Łętowska, EPS 12/2008, 4, 6; Popławska, in: Granat (Hrsg.), Stosowanie, S. 159. 51 VerfGH v. 11.5.2005, OTK-A 5/2005, 49 = Datenbank Lex Nr. 155502, sub III. 6.2; Żuławska, FS Rudnicki (2005), S. 357. 52 Vgl. auch die Regionaldarstellung von Bobek, CMLR 45 (2008), 1611–1643.

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viermal kleineren Ungarn mit 17. An den EuGH hatten sich im Wesentlichen die Verwaltungsgerichte gewandt53; bei zehn Rechtssachen ging es – aus polnischer Perspektive – um Steuern und Abgaben54, einmal um das Telekommunikationsrecht55. Ordentliche Gerichte – und zwar stets Amtsgerichte – legten vor in einer Sozialversicherungsangelegenheit, einem grenzüberschreitenden Insolvenzverfahren sowie in einer Strafsache (Tierschutzgesetzgebung der Gemeinschaft).56 Die erste vom EuGH entschiedene Rechtssache 57 stand im Kontext innerstaatlicher Verfahren, welche dem VerfGH Gelegenheit zur Standortbestimmung boten.58 Nach dem EU-Beitritt wandten sich Käufer von Gebrauchtwagen in anderen Mitgliedstaaten gegen eine bei der Einfuhr nach Polen erhobene Gebühr (Akzise). Einige Verwaltungsgerichte kassierten solche Akzisebescheide, andere ließen sie in Kraft.59 Das Woiwodschaftsverwaltungsgericht (WVG) Warschau legte dem EuGH im August 2005 die Frage nach der Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht vor.60 In einer entsprechenden Angelegenheit beantragte das WVG Allenstein im November 2006 beim VerfGH eine ähnliche Prüfung.61 Der VerfGH wies diese Vorlage noch im gleichen Jahr als unzulässig zurück (s. sogleich Rn. 19 f.).62 Im Januar 2007 erklärte der EuGH die Akzise in der praktizierten Form für gemeinschaftsrechtswidrig.63 Daraufhin hob das WVG Warschau den angefochtenen Bescheid auf.64

18

Nach Auffassung des VerfGH war die Vorlage durch das WVG Allenstein für die Entscheidung des Rechtsstreits unerheblich, da das WVG gemäß Art. 91 Abs. 2 i.V.m.

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53 Dabei stammten drei Fragen vom Hauptverwaltungsgericht. 54 EuGH v. 18.1.2007 – Rs. C-313/05 Brzezin´ski, Slg. 2007, I-513; EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-168/06 Ceramika Paradyż, Slg. 2007, I-29; EuGH v. 10.7.2008 – Rs. C-25/07 Sosnowska, Slg. 2008, I-5129; EuGH v. 10.12.2007 – Rs. C-134/07 Kawala, Slg. 2007, I-10703; EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-414/07 Magoora, Slg. 2008, I-10921; EuGH v. 17.7.2008 – Rs. C-426/07 Krawczyn´ski, Slg. 2008, I-6021; EuGH v. 15.1.2009 – Rs. C-502/07 K-1, Slg. 2009, I-161; EuGH v. 23.4.2009 – Rs. C-544/07 Rüffler, Slg. 2009, I-3389; EuGH v. 19.11.2009 – Rs. C-314/08 Filipiak, (noch nicht in Slg.); EuGH v. 12.11.2009 – Rs. C-441/08 Elektrownia Pątnów II, (noch nicht in Slg.). 55 EuGH v. 11.3.2010 – Rs. C-522/08 Telekomunikacja Polska, (noch nicht in Slg.). 56 EuGH v. 22.5.2008 – Rs. C-499/06 Nerkowska, Slg. 2008, I-3993; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-344/08 Rubach, (noch nicht in Slg.); EuGH v. 21.1.2010 – Rs. C-444/07 MG Probud, (noch nicht in Slg.). 57 EuGH v. 18.1.2007 – Rs. C-313/05 Brzezin´ski, Slg. 2007, I-513. 58 Überblick bei Biernat/Wróbel, Studia Prawno-Europejskie, Tom 9 (2007), 7, 22 ff. 59 Darstellung bei VerfGH v. 19.12.2006, P 37/05, OTK-A 11/2006, 177 = Datenbank Lex Nr. 220769, sub II.; sowie Zenc, in: Mik (Hrsg.), Wykładnia, S. 273–302. 60 WVG Warszawa v. 22.8.2005, III SA/Wa 679/05, Datenbank Lex Nr. 171352. 61 WVG Olsztyn v. 16.11.2005, I SA/Ol 374/05, PiP 7/2006, 45 = Datenbank Lex Nr. 182982. Krit. Bespr. von Taborowski, EPS 5/2006, 35–46. Abl. ebenfalls Wyrozumska, EPS 3/2007, 39-43 . 62 VerfGH v. 19.12.2006, P 37/05, OTK-A 11/2006, 117. 63 EuGH v. 18.1.2007 – Rs. C-313/05 Brzezin´ski, Slg. 2007, I-513. Bereits im November 2006 war durch Ministerialverordnung die bisherige Unterscheidung für Neufälle aufgehoben worden (Dziennik Ustaw [Gesetzblatt] Nr. 210, Pos. 1551). 64 WVG Warszawa v. 6.3.2007, III SA/Wa 254/07, Datenbank LEX Nr. 220445.

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3. Teil: Besonderer Teil

Abs. 3 plnVerf bei einer Kollision zwischen innerstaatlichen Gesetzen und Gemeinschaftsrecht letzteres anzuwenden habe – bei Zweifeln über dessen Auslegung nach Einholung einer Vorabentscheidung durch den EuGH. Für die Nichtanwendung des innerstaatlichen Gesetzes bedürfe es nicht seiner Aufhebung durch den VerfGH. Vielmehr müsse dessen Tätigwerden im Sinne der europaweit einheitlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts vermieden werden.

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Der VerfGH sei „zu einem solchen Verständnis seiner Position verpflichtet, dass er in grundlegenden Angelegenheiten konstitutionellen Ausmaßes die Stellung eines ‚Gerichts des letzten Wortes‘ behalte. EuGH und VerfGH können einander nicht als konkurrierende Gerichte gegenübergestellt werden. Es geht nicht nur um die Eliminierung des Phänomens der Dopplung beider Gerichtshöfe und von zweigleisiger Entscheidung über die gleichen rechtlichen Probleme, sondern auch von Dysfunktionalität in den Beziehungen zwischen gemeinschaftlicher und innerstaatlicher Rechtsordnung.“ Unberührt bleibe die Möglichkeit der Aufhebung gemeinschaftsrechtswidriger nationaler Vorschriften, wenn der VerfGH deren Verfassungsverstoß auf Vorlage eines Gerichts feststelle. Das Vorabentscheidungsverfahren sei ein „Mechanismus, welcher auf einer subtilen Teilung zwischen Rechtsauslegung und -anwendung beruht, [es] erkennt dem Gemeinschaftsgericht die Möglichkeit zur Auslegung des Rechts zu, dem nationalen die seiner Anwendung (...) Der [Verfassungs]Gerichtshof hat vielfach unterstrichen, dass es um ‚rechtliche Zusammenarbeit‘ geht, durch welche das nationale Gericht und der EuGH gemäß ihren jeweiligen Befugnissen, unmittelbar und gegenseitig an der Erarbeitung einer bestimmten Entscheidung mitwirken.“ In der Literatur wurde der Entscheidungstenor begrüßt, aber das vorrangige Abstellen der Begründung auf Erwägungen zum polnischen Verfassungsrecht und nicht auf die gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen beanstandet.65

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In einer abstrakten Normenkontrolle hatte der VerfGH über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zu richten, welches den Staatspräsidenten ermächtigte, für Polen die Anerkennung der Zuständigkeit des EuGH für Vorabentscheidungen nach Art. 35 Abs. 2 EU zu erklären.66 Der Präsident hatte gerügt, dass ein starker Anstieg der Verfahrensdauer in Strafsachen drohe. Dies sei angesichts einer Praxis im Rahmen der Ersten Säule zu befürchten, wonach im Falle einer Vorlage auch andere mit der Anwendung der fraglichen Vorschrift befasste polnische Gerichte die Verfahren bis zum Erlass der EuGH-Entscheidung aussetzten. In seinen Gründen verwies der VerfGH auf die im nationalen Recht geregelte Vorlage von Auslegungsfragen durch Untergerichte an das OG und den VerfGH – auch in diesem Rahmen seien Prozessverlängerungen 65 Wyrozumska, EPS 3/2007, 39, 40 ff. In dieser Richtung auch Koziel, EPS 5/2009, 42, 44 f. 66 VerfGH v. 18.2.2009, Kp 3/08, OTK-A 2009/2/9 = M.P. 2009/13/170 = Datenbank Lex Nr. 479671. S. auch die Ausführungen im erwähnten Urteil zum Beitrittsvertrag, VerfGH v. 11.5.2005, OTK-A 2005/5/49 = Datenbank Lex Nr. 155502, sub III. 10. u. 11. In einer Entscheidung über eine Vorlage zum Europäischen Haftbefehl an den VerfGH bedauerte das OG, dass polnische Gerichte wegen der damals fehlenden Erklärung und gemäß Art. 35 Abs. 2 EU erforderlichen Erklärung in Angelegenheiten der Dritten Säule keine Möglichkeit zur Vorlage hätten, und deshalb „eigenständig“ einen Standpunkt einnehmen müssten, vgl. OG v. 20.7.2006, I KZP 21/06, OSP 6/2007 = Datenbank Lex Nr. 188843.

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§ 28 Polen

unvermeidlich aber aus Gründen des Individualschutzes in Kauf zu nehmen.67 Das Fehlen mitgliedstaatlicher Vorschriften für die Vorlage zum EuGH würde nicht zu einer Verzögerung führen, da Bestimmungen zu den erwähnten nationalen Verfahren analog herangezogen werden könnten. Eine verbreitete Praxis polnischer Gerichte zur Aussetzung von Parallelverfahren sei nicht erkennbar. Zudem sei jedes Gericht nach allgemeinem Strafverfahrensrecht dazu verpflichtet, eigenständig die in der Sache maßgeblichen Vorschriften auszulegen und bei Zweifeln selbst den EuGH zu befragen. Trotz der geringen Zahlen spielt die Vorlage nach Luxemburg auch in Zivilverfahren eine Rolle.68 Rechtsprechung wie Lehre äußerten sich schon genauer zum Verfahrensgang.69 Im Schrifttum wird eine Ähnlichkeit der Vorlage an den EuGH mit der aus kommunistischen Zeiten bekannten Institution der verbindlichen Legalauslegung durch das OG ausgemacht – in Hinsicht auf Aufgabenteilung zwischen Gesetzesauslegung und Subsumtion.70 Diese war anlässlich des Systemwandels Anfang der neunziger Jahre abgeschafft worden, um auf nationaler Ebene strenger zwischen Rechtsanwendung und -setzung zu trennen.71 3.

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Zeitliche Wirkungen

Art. 2 der Beitrittsakte72 ordnete an: „Ab dem Tag des Beitritts sind die ursprünglichen Verträge und die vor dem Beitritt erlassenen Rechtsakte der Organe und der

67 Dazu und zum Folgenden VerfGH v. 18.2.2009, Kp 3/08, OTK-A 2009/2/9 = M.P. 2009/13/ 170 = Datenbank Lex Nr. 479671, sub III. 4.1 ff. In der Begründung schließen sich Ausführungen zum Eilvorlageverfahren in Sachen aus dem Bereich der polizeilichen und gerichtlichen Zusammenarbeit an. 68 Als Ausnahme kann eine Entscheidung des OG v. 27.11.2008, IV CSK 73/08, Datenbank Lex Nr. 491388, gelten, das in einem Verfahren über die Urteilsanerkennung die Frage, wer Beweis über eine Zustellung zu erbringen habe (Art. 34 Abs. 2 Brüssel-I VO), als in der Lehre hochgradig umstritten bezeichnete, dann aber die Möglichkeit einer Vorlage nicht einmal erwog. 69 So dazu, welche Gerichte die Verpflichtung nach Art. 267 Abs. 3 AEUV/234 Abs. 3 EG trifft (s. Beschlüsse v. 20.2.2008, III SK 23/07, Datenbank Lex Nr. 452461 und v. 10.4.2008, III SK 29/07, Lex Nr. 469181. Skeptisch dazu Kastelik-Smaza, EPS 2/2007, 24, 27; Zielony, in: Doman´ska (Hrsg.), Pytanie, S. 128 ff.), ob das OG im Kassationsverfahren Anwendungsfehler hinsichtlich des Gemeinschaftsrechts zu prüfen habe, wenn dessen Verletzung vom Beschwerdeführer nicht gerügt wurde (s. OG v. 18.12.2007, II PK 17/06, OSNP 1-2/2008, 8 = Datenbank Lex Nr. 350385; anders OG v. 12.10.2006, I CNP 41/06, OSNC 7-8/2007, 115 = Datenbank Lex Nr. 282026) und ob bei Vorlage eines polnischen Gerichts die mit ähnlichen Fällen beschäftigten übrigen ihre Verfahren aussetzen sollten (Antonów, Wykładnia, S. 118; Koziel, EPS 5/2009, 42, 47 f.; Zenc, in: Mik (Hrsg.), Wykładnia, S. 294). Entsprechend zum Verwaltungsprozess Biernat/Wróbel, Studia Prawno-Europejskie, Tom 9 (2007), 7, 36 ff. 70 Kalisz, Wykładnia, S. 182 ff.; dazu schon oben Rn. 3. 71 Dazu Safjan, in: Radwan´ ski (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 16 Rn. 77 f. 72 Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge, ABl. 2003 L 236/33.

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3. Teil: Besonderer Teil

Europäischen Zentralbank für die neuen Mitgliedstaaten verbindlich und gelten in diesen Staaten (...)“ Richtlinien gelten gemäß Art. 53 der Beitrittsakte vom Beitrittstag an „als an die neuen Mitgliedstaaten gerichtet“; damit hatten diese gemäß Art. 54 in der Regel die erforderlichen Maßnahmen in Kraft zu setzen, um den Richtlinien vom 1.5.2004 an nachzukommen. Vor diesem Datum wurde eine entsprechende Verpflichtung aus dem 1991 zwischen Polen, der EG und ihren Mitgliedstaaten abgeschlossenen Assoziierungsabkommen hergeleitet.73 Dieses hatte den Beitritt zwar nicht zum Gegenstand, sondern benannte ihn nur als Ziel in der Präambel; unabhängig davon ging das Land darin die Verpflichtung ein, „sich nach Kräften darum [zu] bemühen, dass die künftigen Rechtsvorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind.“74. Frühzeitig hatte sich deshalb der VerfGH für beauftragt gehalten, die Gesetzgebung so auszulegen, dass dies der Sicherstellung der weitestgehenden Übereinstimmung dient.75 Das sollte allerdings nur dann gelten, wenn das polnische Recht keine „deutlich andere Problemfassung (Lösungsstrategie)“ aufzeige.76 Von einer Anwendung des Gemeinschaftsrechts als solches konnte insofern keine Rede sein.77

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In der von einem ungarischen Gericht im Juni 2004 dem EuGH vorgelegten Rechtssache Ynos Kft hatten Mitgliedstaaten als Ausfluss der Angleichungsverpflichtung, welche das EG-Assoziationsabkommen mit Ungarn analog zu dem mit Polen enthielt, auch die Pflicht zur Richtlinienumsetzung gesehen und die Zulässigkeit der Vorlage hinsichtlich des vor dem Beitritt geschehenen Sachverhaltes befürwortet.78 Nach anderer Ansicht war Ungarn zwar vorher zur Herstellung des sich aus der fraglichen Richtlinie ergebenden Rechtszustandes nicht verpflichtet. Eine Vorlage sei aber dennoch zulässig, da der Gerichtshof bereits seine Zuständigkeit angenommen habe, wenn ein Sachverhalt nicht vom Gemeinschaftsrecht, sondern von innerstaatlichen Vorschriften geregelt werde, die auf das Gemeinschaftsrecht verwiesen oder sich die-

73 Europa-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Polen andererseits v. 16.12.1991, ABl. 1993 L 348/1 (auf Polnisch veröffentlicht im Dziennik Ustaw [Gesetzblatt] 1994, Nr. 11 Pos. 38). 74 Art. 68 u. 69 der Beitrittsakte. 75 VerfGH v. 29.9.1997, K 15/97, OTK 3–4/1997, 330, sub IV. 4.; VerfGH v. 28.1.2003, K 2/02, OTK-A 1/2003, 4 = Datenbank Lex Nr. 74917, sub III. 4.2 ff. In diesem Zusammenhang verwies er darauf, dass es sich bei der Auslegung „im Geiste des Gemeinschaftsrechts (...) um das billigste und schnellste Instrument zur Realisierung der Harmonisierungsverpflichtung handele“, ebd. sub III. 4.4. 76 VerfGH v. 28.1.2003, K 2/02, OTK-A 1/2003, 4 = Datenbank Lex Nr. 74917, sub III. 4.7. Diese Vorgehensweise benannte der VerfGH erneut in seinem Urteil v. 21.4.2004, K 33/03, OTK-A 4/2004, 31, sub III. 9 ff. 77 Biernat/Wróbel, Studia Prawno-Europejskie, Tom 9 (2007), 7, 10. 78 In der Wiedergabe des Generalanwalts Tizzano gemäß der Folgerung: „Ungarn habe gerade, um dieser Verpflichtung nachzukommen, die innerstaatlichen Rechtsvorschriften über die missbräuchlichen Klauseln erlassen, zu deren Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht das nationale Gericht nun eine Frage stelle.“; vgl. GA Tizzano, SchlA v. 22.9.2005 – Rs. C-302/04 Ynos Kft, Slg. 2006, I-371, Tz. 35 ff. Eine Anmerkung aus polnischer Sicht mit differenzierter Darstellung der intertemporalen Beitrittsprobleme in der EuGH-Rechtsprechung gibt Kaleda, EPS 7/2006, 47–53.

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sem durch seine inhaltliche Übernahme anpassten.79 Die erste Auffassung ging Generalanwalt Tizzano zu weit. Der zweiten sprach er Folgerichtigkeit nicht ab, äußerte sich aber zugleich kritisch gegenüber der ohnehin schon weit ausgedehnten Zuständigkeit des EuGH bei überschießenden Umsetzungen, die möglichst nicht um weitere Fallgruppen erweitert werden sollte. Der Gerichtshof erklärte seine Unzuständigkeit für die Beantwortung von Fragen zu vor dem Beitritt liegenden Sachverhalten80 und verwies zur Begründung nur auf seine frühere Entscheidung81 zu einer schwedischen Vorlage. Mit der Analogie zur überschießenden Richtlinienumsetzung hatte sich damals vertieft Generalanwalt Cosmas auseinandergesetzt.82 Er nahm zwar eine situative Vergleichbarkeit an, sah aber die Grundthesen der Dzodzi-Rechtsprechung83 skeptisch. Auf eine spätere polnische Vorlage erklärte sich der EuGH mit entsprechender Begründung durch Beschluss für unzuständig.84 Die Zurückweisung von Vorbeitrittsfällen durch den EuGH führt zunächst einmal dazu, dass von ihm die Reichweite der Umsetzungsverpflichtungen für Beitrittskandidaten nicht geklärt wird. Wenig nachvollziehbar erscheint es, wenn er Fragen zur Auslegung von Umsetzungsakten beantwortet, sofern es sich um von den Richtlinien umfasste Sachverhalte handelt, aber für Vorbeitrittsfälle das Argument des fehlenden Gemeinschaftsbezuges benutzt, auch wenn sie gegenständlich von der Richtlinie umfasst sind. 4.

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Sprachprobleme

Art. 58 der Beitrittsakte ordnete an: „Die vor dem Beitritt erlassenen und vom Rat, der Kommission oder der Europäischen Zentralbank in tschechischer, estnischer, ungarischer, lettischer, litauischer, maltesischer, polnischer, slowakischer und slowenischer Sprache abgefassten Rechtsakte der Organe (...) sind vom Tag des Beitritts an unter den gleichen Bedingungen wie die Wortlaute in den elf derzeitigen Sprachen verbindlich. Sie werden im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht (...)“ Damit verdoppelte sich die Zahl der Amtssprachen nahezu.85 Zu diesem Zeitpunkt 79 Unter Hinweis auf EuGH v. 18.10.1990 – verb. Rs. C-297/88 und C-197/89 Dzodzi, Slg. 1990, I-3763. S. dazu Habersack/Mayer, in diesem Band, § 15 Rn. 50 ff. 80 EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-302/04 Ynos Kft, Slg. 2006, I-371. 81 EuGH v. 15.6.1999 – Rs. C-321/97 Andersson, Slg. 1999, I-3551 Rn. 30 ff. 82 Vgl. GA Cosmas, SchlA v. 19.1.1999 – Rs. C-321/99 Andersson, S1g. 1999, I-3551 Tz. 12 ff. 83 Nach EuGH v. 18.10.1990 – verb. Rs. 297/88 und C-197/89 Dzodzi, Slg. 1990, I-3763. Dazu aus polnischer Sicht Knade-Plaskacz, EPS 1/2006, 29–36. 84 EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-168/06 Ceramika Paradyż, Slg. 2007, I-29. Eine differenzierte Sicht auf die intertemporalen Erstreckungsfragen des Europarechts in Polen nach dem Beitritt zeigt Łętowska, OSP 5/2005, 297–300. 85 Das Polnische ist wie vier weitere neue Amtssprachen von 2004 und 2007 eine slawische Sprache. Bei diesen handelt es sich, wie beim Litauischen, Lettischen und Ungarischen um Idiome ohne unmittelbare Verwandte in der bisherigen Union. Herkömmlich, also jedenfalls bis 1939, können Deutsch und Französisch als die Rechtssprachen mit der größten Bedeutung in Polen gelten, zudem hatte Russisch spätestens seit 1945 für den politischen und fachlichen Austausch Bedeutung erlangt. Die Verwendung des Englischen als Verhandlungssprache der EU mit den Beitrittskandidaten hatte großen Einfluss auf den Wandel der

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3. Teil: Besonderer Teil

waren längst noch nicht alle Rechtsakte auch nur inoffiziell übersetzt, zu schweigen von der Sonderausgabe des Amtsblatts in den neuen Sprachen.86 Für den vorhandenen Besitzstand war folgendes Verfahren vorgesehen worden: Die Gründungsverträge wurden im unmittelbaren Vorfeld des Beitritts durch Gemeinschaftsdienste übersetzt. Sie entstanden zwar unter großem Zeitdruck und oft ohne Berücksichtigung vorheriger in den einzelnen Ländern verbreiteter Übersetzungen, aber grundsätzlich gemäß den einheitlichen Standards des gemeinschaftlichen Sprachendienstes.87 In eigener Regie hatten die beitretenden Staaten dagegen zunächst Übersetzungen des geltenden Gemeinschaftssekundärrechts anzufertigen und sie der Gemeinschaft zu übermitteln. Diese sollten als Grundlage für die in der Sonderausgabe des Amtsblatts abzudruckenden Fassungen dienen. Ab dem Tage der Mitgliedschaft erschienen die laufenden Ausgaben des Amtsblatts in den neuen Sprachen zeitgleich mit denen in den bisherigen.88

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Die Qualität dieser Übersetzungen hing damit in großem Maße von den Regierungen der beitretenden Länder ab. In Polen wird das Ergebnis als deutlich unter den Möglichkeiten und Erfordernissen eingeschätzt.89 Soweit die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften in Richtlinien enthalten waren, hatten Übersetzungsdefizite keine unmittelbaren negativen Konsequenzen. Die Umsetzungsvorschriften im polnischen Recht waren regelmäßig schon entworfen worden, als die gemäß den Beitrittsverpflichtungen angefertigte Übersetzung noch nicht vorlag. Hinsichtlich der Rechtsanwendung durch die Gerichte kommt es insofern zunächst einmal auf die Formulierung der polnischen Umsetzungsbestimmungen an. Hier wird aber im Nachhinein von polnischer Seite kritisch auf das Vorgehen der Kommission im Rahmen der Beitrittsverhandlungen verwiesen, welche zur Feststellung der Erreichung des Harmonisierungsziels

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Sprachpräferenzen der Funktionseliten, auch aber wohl in geringerem Maße auf die Rechtswissenschaft, die sich den Zugang zu den Gemeinschaftsrechtsakten nach eigenen linguistischen Vorlieben suchen konnte. Zu sprachlichen Auslegungsfragen Antonów, Wykładnia, S. 160 ff. Deren 217 Bände wurden nach und nach herausgegeben, ohne dass jeweils ein einfach feststellbares Publikationsdatum verzeichnet worden wäre. Dazu Biernat/Wróbel, Studia Prawno-Europejskie, Tom 9 (2007), 7, 12 ff. Einen auffälligen Fehler enthält die slowakische Fassung des EG, ABl. 2006 C 321E. In dieser findet sich unter c) ein zweiter Satz, der offenbar eine Probeübersetzung des 2. Absatzes darstellt. Offenbar wollte die Gemeinschaft unmittelbar vor dem Beitritt noch möglichst viele Rechtsakte veröffentlichen, ohne auf das Anlaufen der neu geschaffenen Abteilungen des Sprachendienstes zu warten. Am 30.4.2004 wurden allein 35 Amtsblätter L herausgegeben. Deren Akte waren besonders lange nicht in den neuen Sprachen zugänglich. Die Regierung hatte private Übersetzungsfirmen beauftragt, ohne die Einhaltung von Standards ausreichend überprüfen zu können. Vorgeworfen wurde, dass infolgedessen die Rechtstexte von Nichtjuristen und zudem regelmäßig aus dem Englischen übersetzt wurden – unter Nichtbeachtung der Sprachen des kontinentalen Rechts – wenn nicht gar durch Übersetzungsprogramme. Einige der zunächst auf Internetseiten der Regierung veröffentlichten Fassungen wurden mitunter noch überarbeitet, wo es besonders heftige Kritik an ihnen gab; vgl. Popławska, in: Granat (Hrsg.), Stosowanie, S. 163 f.; Porzycki, Rzeczpospolita v. 26.3.2004, S. C3; Żuławska, FS Rudnicki (2005), S. 357, 368.

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regelmäßig die englischen Übersetzungen der polnischen Umsetzungsvorschriften mit den englischsprachigen Fassungen der Richtlinien verglich, Abweichungen rügte und damit eine terminologisch nicht ins polnische System passende Umsetzung provozierte.90 Für die Zeit nach dem Beitritt, als EG-Verordnungen noch nicht in den Fassungen der neuen Amtssprachen veröffentlicht waren, stellte sich die Frage, ob dennoch schon Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen auf deren Grundlage ergehen konnten.91 Das WVG Bromberg fällte 2005 dazu eine Entscheidung92, ohne sich vorher an den EuGH gewandt zu haben.93 Zur Stellungnahme in ähnlicher Sache wurde er durch eine tschechische Vorlage aus dem Jahre 2006 berufen.94 Unabhängig voneinander urteilten die Richter in Bromberg wie in Luxemburg, dass die bloße Veröffentlichung einer Übersetzung im Internet in der Amtssprache eines neuen Mitgliedstaates nicht dazu ausreiche, dass dessen Behörden den Einzelnen belastende Entscheidungen treffen könnten – selbst wenn diese grenzüberschreitend tätige Unternehmer seien. Erforderlich sei die Veröffentlichung im Amtsblatt in der Sprache des neuen Mitgliedstaates. Die Nichtanwendung der Verordnungen wurde beide Male festgestellt, ohne deren Gültigkeit zu negieren. Das WVG wäre dazu nicht befugt gewesen;95 der Gerichtshof sah die Entscheidung über die Unanwendbarkeit der Bestimmungen der Verordnung nicht als Frage ihrer Gültigkeit, sondern der Auslegung an.96 Das WVG berief sich zur Begründung auf die Rechtssicherheit als allgemeinen Gemeinschaftsrechtsgrundsatz. Ähnlich argumentierten der Gerichtshof und zuvor Generalanwältin Kokott, die zugleich auf eine sonst drohende Benachteiligung gegenüber Bürgern von Mitgliedstaaten verwiesen, in denen eine amtliche Fassung vorlag.97 5.

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Europakonforme Rechtsanwendung

Die Auslegung des nationalen Rechts gemäß den europäischen Vorgaben wird häufig als „progemeinschaftliche“ (prowspólnotowa)98 bzw. als Auslegung „in Übereinstimmung mit“ dem Gemeinschaftsrecht, konkreter mit dem Primärrecht oder Richt-

90 Jagielska/Lis/Łętowska/Mikłaszewicz/Wiewiórska-Domagalska, EPS 12/2006, 12, 20. 91 Bobek, European University Institute Working Papers Law 2007/06. 92 WVG Bydgoszcz v. 20.7.2005, SA/Bd 275/05, Datenbank Lex Nr. 173889 mit teilweise kritischer Besprechung von Wróbel, EPS 1/2006, 48–53. 93 Kritisch Biernat/Wróbel, Studia Prawno-Europejskie, Tom 9 (2007), 7, 15 f. 94 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-161/06 Skoma-Lux, Slg. 2007, I-10841. Dazu aus polnischer Sicht Wierczyn´ski, EPS 3/2008, 45–56. In einer früheren Rechtssache ging es nicht um die fehlende Veröffentlichung, sondern um die Zugänglichkeit des Amtsblatts unmittelbar nach dem Beitritt: EuGH v. 15.5.1986 – Rs. 161/84 Oryzomyli Kavallas, Slg. 1986, 1633 Rn. 17 ff. 95 GA Kokott, SchlA v. 18.9.2007 – Rs. C-161/06 Skoma- Lux, Slg. 2007, I-10841 Tz. 32. 96 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-161/06 Skoma-Lux, Slg. 2007, I-10841 Rn. 52 ff. 97 GA Kokott, SchlA v. 18.9.2007 – Rs. C-161/06 Skoma- Lux, Slg. 2007, I-10841 Tz. 36 ff. 98 Fortan – gemäß der Lissaboner Vertragsterminologie – wohl „prounionale“ (prounijna). Ulrich Ernst

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3. Teil: Besonderer Teil

linien, bezeichnet.99 Der Verfassungsgerichtshof spricht dagegen100 eher von der Verpflichtung zu „freundlicher Auslegung“ des nationalen Rechts im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht, aber auch umgekehrt. Für die Entscheidungspraxis der Gerichte101 verbindet sich damit, dass sie europäische Vorschriften in den Begründungen aufführen und durch eigene Auslegungsbemühungen, insbesondere aber durch die Auseinandersetzung mit der EuGH-Rechtsprechung feststellen, welche normativen Vorgaben sich daraus ergeben – ohne selbst die Entscheidungen des EuGH zu hinterfragen.102 Wurden bis zum Beitritt die auf diese Weise ermittelten europarechtlichen Vorgaben nicht durchgesetzt, falls nationale Vorschriften deutlich davon abweichende Lösungsstrategien enthielten,103 ist seitdem die polnische Rechtsanwendung zur vollständigen Konformität mit dem Europarecht verpflichtet.104

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Schon vor dem Beitritt hat der VerfGH aufgezeigt, dass die freundliche Auslegung des nationalen Rechts auch die Begriffe der Verfassung betreffe105, welche gleichlautend mit denen des europäischen Rechts sind. Bei der Rekonstruktion106 der jeweils maßgeblichen Verfassungsnorm soll nicht allein der Verfassungstext heranzuziehen sein, sondern, „sofern dieser Text Termine, Begriffe und Grundsätze verwendet, die dem Europarecht bekannt sind, – eben diese Bedeutungen.“107 So wurde als unzulässige Einschränkung der verfassungsmäßigen „Freiheit wirtschaftlicher Betätigung“ ein Gesetz verworfen, welches die Beimischung von Pflanzenöl – sog. Biokomponenten – zu Fahrzeugtreibstoffen anordnete.108 Dies wurde damit begründet, dass dies das primäre Gemeinschaftsrecht hinsichtlich eingeführter Treibstoffe nicht zulasse, andererseits eine Inländerdiskriminierung durch Erstreckung nur auf polnische Anbieter ebenfalls verfassungswidrig sei.

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Von der Lehre wird die europäische Perspektive zwar umfänglich aufgearbeitet. Sofern bestimmte Fragen aber noch nicht in Verfahren vor polnischen Gerichten Zwei99 So Radwan´ski/Zielin´ski, in: Radwan´ ski (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 43 Rn. 185. Zur Unterscheidung Gawrysiak-Zabłocka, in: Mik (Hrsg.), Wykładnia, S. 319 f. Auflistung auch bei Kalisz, Wykładnia, S. 201 f. S. eingehend zur primärrechtskonformen Auslegung Leible/Domröse, in diesem Band, § 9 und zur richtlinienkonformen Auslegung W.-H. Roth, ebd., § 14. 100 S. o. Rn. 14–16. 101 Übersichten über die Praxis in der Zeit des Beitritts für die Verwaltungsgerichte bei Biernat/Wróbel, Studia Prawno-Europejskie, Tom 9 (2007), 7 f. 102 So finden sich im OG v. 20.2.2008, III SK 23/07, Datenbank Lex Nr. 452461, wo untersucht wird, welches Gericht zur Vorlage nach Art. 267 AEUV/234 EG verpflichtet sei, differenzierte Überlegungen zur Übertragbarkeit von Einstufungen des EuGH zu Gerichtssystemen anderer Staaten auf das polnische, hingegen wird nicht teleologisch argumentiert. 103 So im Falle richtlinienwidrigen Steuerrechts WVG Warszawa v. 20.10.2005, III SA/Wa 988/05, Datenbank Lex Nr. 183763. 104 Beispiel für Nichtanwendung richtlinienwidrigen polnischen Steuerrechts: WVG Wrocław v. 20.3.2007, I SA/Wr 1625/06, Monitor Podatkowy 7/2007, 31 = Datenbank Lex Nr. 276086. 105 Dazu Działocha, PiP 11/2004, 28–33. 106 Gemäß dem oben Rn. 6 f. geschilderten Verständnis. 107 VerfGH v. 28.1.2003, K 2/02 III. 4.5., OTK-A 1/2003, 4 = Datenbank Lex Nr. 74917. 108 VerfGH v. 21.4.2004, K 33/03, OTK 3–4/1997, 330, III. 7. ff. insbes. 10.

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§ 28 Polen

fel aufwarfen, fehlt es an einer spezifischen polnischen Sichtweise.109 Diskutiert wird, ob die proeuropäische Auslegung des nationalen Rechts eher als systematische oder als teleologische (und damit funktionale) in den Methodenkanon einzuordnen ist. Für erstere Auffassung wird angeführt, dass es bei ihr um eine Auslegung gehe, welche nicht anderen Vorschriften widerspreche,110 für die zweite, dass es vor allem um die Verwirklichung der Ziele der europäischen Rechtsakte gehe.111 Vertreten wird aber auch, dass funktionale und systematische Elemente miteinander verknüpft seien.112 Gemäß der rechtstheoretischen Betrachtungsweise ist die Pflicht zur Beachtung des Anwendungsvorrangs des Europarechts als Auslegungsregel zweiten Grades aufzufassen. Als unzulässig wird eine richtliniengemäße Rechtsanwendung contra legem bezeichnet, also eine solche, die nicht vom möglichen Wortsinn einer Vorschrift umfasst ist und auch keine zulässige Analogie darstellt.113 Den Haftungsanspruch gegenüber Trägern polnischer öffentlicher Gewalt im Falle legislativen oder judikativen Unrechts (durch Tun oder Unterlassen) regeln die im Jahre 2004114 neu gefassten Bestimmungen des Art. 417 § 1 ZGB. Dieser ist auch Grundlage für Schadensersatzansprüche wegen Verletzung europarechtlicher Pflichten.115

V.

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Europäische Methodenfragen in ausgewählten Rechtsgebieten

Auf einzelne Gebiete europarechtlicher Regelungswirkungen kann hier nur beispielhaft eingegangen werden.116 Rechtsanwendung stellt zunächst einmal die Richtlinienumsetzung durch den Gesetzgeber dar. Wichtiger Akt dazu im Verbraucherrecht war ein Gesetz aus dem Jahre 2000117, welches Haustürwiderrufs- und Fernabsatzrecht eigenständig regelte, hingegen Vorschriften zur Klauselkontrolle und zur Produkthaf-

109 Umfangreichste polnische Gesamtdarstellung zum Europarecht ist das Werk von Barcz (Hrsg.), Prawo Unii Europejskiej, Bd. 1 (2006). S.a. die Darstellungen zur Richtlinienwirkung von Szpunar, PiP 9/2004, 56–69 und ders., EPS 2/2005, 4–17. 110 Vgl. auch Zenc, in: Mik (Hrsg.), Wykładnia, S. 319–347. 111 Antonów, Wykładnia, S. 189 f.; Gawrysiak-Zabłocka, in: Mik (Hrsg.), Wykładnia, S. 339 f. 112 Hierzu und zum Folgenden Antonów, Wykładnia, S. 90, 102, 192, 237. 113 Beispiel bei Gawrysiak-Zabłocka, in: Mik (Hrsg.), Wykładnia, S. 342 f. Eine solche soll im Steuerrecht zu Lasten des Einzelnen grundsätzlich ausgeschlossen sein. 114 Durch Gesetz v. 17.6.2004, Dziennik Ustaw [Gesetzblatt] Nr. 162, Pos. 1692. 115 Dazu Wójtowicz, in: Granat (Hrsg.), Stosowanie, S. 63 ff. Zur europarechtlichen Staatshaftung aus polnischer Perspektive s. die Nachweise bei Pajor, in: Radwan´ ski (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 20 Rn. 33. 116 Vgl. Übersichten wie die allgemeine zur Rechtsprechung des OG unmittelbar nach dem Beitritt von Maniewska, EPS 10/2005, 49–57 sowie zum Gesellschaftsrecht von GawrysiakZabłocka, in: Mik (Hrsg.), Wykładnia, S. 319 ff. Zum Verwaltungsrecht s. Biernat/Wróbel, Studia Prawno-Europejskie, Tom 9 (2007), 7 ff.; Wilk/Wróbel, EPS 11/2005, 49–57. 117 Gesetz über den Schutz einiger Verbraucherrechte und über die Haftung für von einem gefährlichen Produkt zugefügten Schaden v. 27.7.2002, Dziennik Ustaw [Gesetzblatt] Nr. 22, Pos. 271. Ulrich Ernst

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3. Teil: Besonderer Teil

tung in das Zivilgesetzbuch einfügte. Letzteres geschah auch hinsichtlich der Bestimmungen der Handelsvertreterrichtlinie118. Einfügungen von Umsetzungsvorschriften in das bestehende Rechtssystem wies die Kommission in den Beitrittsverhandlungen häufig zurück verlangte solche, welche die einzelnen Vorschriften der Richtlinien quasi wörtlich abbildeten.119 Entsprechend ergingen Einzelgesetze, so zum Verbraucherkredit und zum Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr wie zum Verbrauchsgüterkauf. Bei letzterem wird kritisch angemerkt, dass es den Käufer schlechter stelle als die allgemeinen Bestimmungen des ZGB.120 Zu den Widerrufsrechten fehlt es auch acht Jahre nach deren Einführung fast völlig an veröffentlichter Rechtsprechung, kaum anders verhält es sich im Verbrauchsgüterkaufrecht. Gründe dafür mögen außergerichtliche Formen der Konfliktlösung sein wie auch, dass Angelegenheiten geringen Streitwerts nicht vor die Obergerichte kommen. Die Literatur verzeichnet zudem fehlendes „Verbraucherrechtsbewusstsein“, angefangen bei den Richtern.121 Mitursächlich dafür dürfte sein, dass professioneller Rechtsrat noch lange über das Jahr 2000 hinaus wegen der relativ geringen Zahl ausgebildeter Juristen und der berufsständischen Zulassungsbeschränkungen verhältnismäßig teuer war.

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Die Vorschriften zur Klauselkontrolle werden kaum je zur inzidenten Vertragskontrolle herangezogen.122 Dagegen findet sich eine umfangreiche Judikatur der in der Hauptstadt konzentrierten Verbrauchergerichtsbarkeit zu Unterlassungsklagen gegen von einzelnen Unternehmern verwendete Klauseln – hauptsächlich auf Antrag öffentlicher Verbraucherschutzbehörden. Umstritten war, inwieweit die Veröffentlichung einer gerichtlich für unerlaubt erklärten Vertragsklausel das zentrale Verbraucherschutzamt berechtigt, die Verwendung abweichend formulierter Klauseln ähnlichen Inhalts als verbraucherschädigende Handlung einzustufen. Das OG erklärte dies für zulässig und berief sich auf den gemeinschaftsrechtlichen Auftrag zur Herstellung möglichst größter Richtlinienwirksamkeit, selbst wo die Richtlinie keine Sanktion enthalte.123 Auch ein VerfGH-Verfahren zum Ziele des Verbraucherschutzes wurde von einer staatlichen Behörde, dem Bürgerrechtsbeauftragten, eingeleitet, nämlich zur Überprüfung des Transportrechts, welches eine Haftung der Eisenbahn für Zugverspätungen auf Fälle von Vorsatz und grober Fahrlässigkeit reduzierte. Der VerfGH hob die Vorschrift im Dezember 2008 wegen eines Verstoßes gegen die Vermögens- und Verbraucherschutzgebote in der Verfassung auf.124 Um die Höhe des angemessenen Schutzniveaus zu ermitteln, berief es sich auf die seinerzeit noch nicht in

118 Richtlinie 86/653/EWG des Rates v. 18.12.1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17. 119 So Jagielska/Lis/Łętowska/Mikłaszewicz/Wiewiórska-Domagalska, EPS 12/2006, 12, 20. Zur Fixierung auf das Englische s. bereits oben Rn. 27. 120 Jagielska/Lis/Łętowska/Mikłaszewicz/Wiewiórska-Domagalska, EPS 12/2006, 12, 21. 121 Jagielska/Lis/Łętowska/Mikłaszewicz/Wiewiórska-Domagalska, EPS 12/2006, 12, 22 f. 122 Anders der Fall eines ungarischen Gerichts, vgl. EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 Pannon GSM, (noch nicht in Slg.). 123 OG v. 13.7.2009, III SZP 3/06, OSNP 1-2/2007, 35; Datenbank Lex Nr. 197804, Rn. 3. 124 VerfGH v. 2.12.2008, K 37/07, OTK-A 10/2008, 172 = Datenbank Lex Nr. 465366, sub III. 4.4 ff.

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§ 28 Polen

Kraft getretene EG-Passagierrechte-Verordnung125 und verwies zudem darauf, dass nach den Vorschriften des ZGB eine AGB-Vereinbarung der Haftungsbeschränkung als missbräuchlich anzusehen wäre, so dass es inkonsequent wäre, wenn der Gesetzgeber Gleiches für Adhäsionsverträge wie die mit einem Eisenbahnunternehmen anordnen würde. Ehemalige Vertreter einer Versicherungsgesellschaft beriefen sich auf das schon vor dem Beitritt harmonisierte Recht über den Ausgleichsanspruch bei Vertragsauflösung.126 Das OG umriss 2005 die Berechnung und orientierte sich dabei am deutschen Recht und der deutschen Entscheidungspraxis, welche nach seiner Darlegung Vorbilder für die den polnischen ZGB-Vorschriften zugrundeliegende Handelsvertreterrichtlinie127 gewesen seien.128 Der VerfGH sah in den zwingenden Bestimmungen zum Vertragsrecht keine unzulässige Einschränkung von verfassungsmäßig geschützter wirtschaftlicher und Vertragsfreiheit. Ihm zufolge sollten diese Begriffe möglichst nahe der Praxis des acquis communautaire ausgelegt werden, die polnischen Vorschriften würden durch die Ziele der Richtlinie sowie den Harmonisierungsauftrag gerechtfertigt.129

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Eine umfängliche Rechtsprechung erging bereits zum Europäischen Arbeitsrecht.130 Nach einem OG-Urteil von 2006 zum Insolvenzausfallgeld gilt in richtlinienkonformer Auslegung als Zeitpunkt der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers131 entgegen bisheriger Praxis nicht mehr die Rechtskräftigkeit der Ablehnung der Insolvenzeröffnung wegen Massearmut, sondern im Nachhinein bereits die Insolvenzantragstellung.132 Weitere Entscheidungen betrafen Informationspflichten des Arbeitgebers,133 die Gleichbehandlungsgebote134, den Betriebsübergang135 und die Arbeitszeiten von

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125 Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.10.2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr, ABl. 2007 L 315/14. 126 Vertiefend zum Folgenden Ernst, GPR 2007, 239–243. 127 Nach Art. 1 Abs. 2 bezieht sie sich die Richtlinie, anders als die überschießende polnische Umsetzung, nicht auf Versicherungsvertreter. 128 OG v. 8.11.2005, I CK 207/05, OSNC 9/2006, 150. 129 VerfGH v. 17.7.2007, P 16/06, OTK-A 7/2007, 79 = Datenbank Lex Nr. 299997. 130 Übersicht bei Maniewska, EPS 9/2007, 35–43. Zu Anwendungsproblemen (insbesondere des kollektiven) Arbeitsrechts aus polnischer Perspektive Hajn, EPS 8/2006, 4–12. 131 Im Sinne der Richtlinie 80/987/EWG des Rates v. 20.10.1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. 1980 L 283/23. 132 OG v. 18.12.2006, II PK 17/06, OSNP 1-2/2008, 8 = Datenbank Lex Nr. 350385; dazu Kowalik-Ban´czyk, EPS 4/2009, 43–48. 133 OG v. 17.2.2004, I PK 386/03, OSNP 1/2005, 6 = Datenbank Lex Nr. 137275. 134 OG v. 12.8.2004, III PK 40/04, OSNP 6/2005, 76 = Datenbank Lex Nr. 141293; OG v. 9.6.2006, III PK 30/06, OSNP 11–12/2007, 160 = Datenbank Lex Nr. 271245; OG v. 22.2.2007, I PK 242/06, OSNP 7–8/2008, 98 = Datenbank Lex Nr. 272249; OG v. 4.1.2008, I UK 182/07, OSNP 3–4/2009, 49 = Datenbank Lex Nr. 478535; OG v. 21.1.2009, II PZP 13/08, Datenbank Lex Nr. 475297. 135 OG v. 19.8.2004, I PK 489/03, OSNP 6/2005,78 = Datenbank Lex Nr. 144438; OG v. 10.9.2004, I PK 449/03, OSNP 9/2005, 127 = Datenbank Lex Nr. 148106; OG v. 7.2.2007, I PK 269/06, OSNP 5–6/2008, 68 = Datenbank Lex Nr. 366124. Ulrich Ernst

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3. Teil: Besonderer Teil

Ärzten136, aber auch die Wirkung von Garantiepakten für die Arbeitnehmer privatisierter Unternehmen.137 Im Sozialversicherungsrecht wurde relevant, ob die Zahlung einer Invaliditätsrente wegen früherer Deportation in die Sowjetunion an einen heutigen Wohnsitz in Polen gebunden werden darf. Der EuGH beantwortete die Vorlage des Bezirksgerichts Köslin138 im 2008 negativ139, wobei deren Notwendigkeit im Schrifttum mit Hinweis auf die bereits vorhandene einschlägige Luxemburger Rechtsprechung als überflüssig kritisiert worden war.140

VI. Fazit 37

Der Beitritt Polens war hinsichtlich der Rechtsangleichung ein enormes bürokratischtechnisches Unterfangen. Insgesamt kann es als gelungen angesehen werden. Bei der Richtlinienimplementierung und der Übersetzung der Gemeinschaftsrechtsakte gab es aber Defizite, die zum Teil den polnischen Behörden anzulasten sind, wohl noch stärker jedoch der Kommission. Ob diese sich auf den politischen Zeitdruck für die große Aufgabe der fast gleichzeitigen Aufnahme von 10+2 neuen Staaten berufen kann, ist zweifelhaft, da sich der Beitritt bereits lange abzeichnete und auch hinsichtlich der europäischen Institutionen Erfahrungen aus früheren Erweiterungsrunden zur Verfügung standen. Es fragt sich, wie die Kommission die „ruhigen“ Jahre nach 2007 nutzt, um begangene Fehler zu erkennen und bei zukünftigen Erweiterungen zu vermeiden.

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Der vor 1989 eingeübte positivistische Ansatz in Ausbildung und Gerichtspraxis hat für die Einführung des Europarechts kein unüberwindbares Hindernis dargestellt, muss aber zu dessen effektiver Geltung weiter zurückgedrängt werden. Als charakteristisch für den polnischen Prozess der Integration lässt sich die wichtige Rolle des Verfassungsgerichtshofs ansehen, der schon recht häufig die Gelegenheit erhielt, Anwendungsfragen des Europäischen Rechts zu klären.

136 OG v. 6.6.2006, I PK 263/05, Datenbank Lex Nr. 192074; OG v. 13.5.2008, III PZP 3/07, OSNP 23–24/2008, 341 = Datenbank Lex Nr. 375571; OG v. 3.6.2008, I PZP 10/07, OSNP 23–24/2008, 342 = Datenbank Lex Nr. 379845; dazu auch Majkowska-Szulc/Tomaszewska, EPS 12/2007, 46–60. 137 OG v. 12.8.2004, III OK 38/04, OSNP 4/2005, 55 = Datenbank Lex Nr. 143185. 138 Sąd Okre˛gowy w Koszalinie v. 13.11.2006, IV U 1660/06; Ersuchen veröffentlicht in ABl. 2007 C 20/14. 139 EuGH v. 22.5.2008 – Rs. C-499/06 Nerkowska, Slg. 2008, I-3993. 140 Majkowska-Szulc/Tomaszewska, EPS 6/2007, 53–58.

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Ulrich Ernst

Stichwortregister Fette Zahlen bezeichnen Paragraphen, magere Zahlen Randnummern.

Academia dei Giusprivatisti Europei 4, 36 acquis communautaire 3, 2, 185; 13, 8 Acquis Group 4, 36 acte clair 11, 16, 48; 19, 47, 58; 23, 30 ff.; s.a. Auslegung Adeneler-Urteil 14, 29, 36; 16, 23, 26, 30 ff., 54, 57, 62; 25, 32, 49 Aktionsplan zum Europäischen Vertragsrecht 4, 12, 38 Aktionspläne 4, 12, 38; 7, 52, 54; s.a. Kommission allgemeine Rechtsgrundsätze 4, 8; 8, 28, 35, 52, 59; 13, 33a Analogie 13, 32, 37; 17, 33, 43 f.; 18, 42 – Analogieverbote 13, 17, 38 f. – im 19. Jahrhundert 3, 2 – im römischen Recht 3, 22, 32 f. – in der Topik des 16. und 17. Jahrhunderts 3, 96 – im polnischen Recht 28, 9 – reductio ad absurdum 2, 4 – und Begründungserwägungen 7, 42 f. – und Grundrechte 13, 38 – und Rechtssetzungsmonopol 3, 19 – Wortsinngrenze 13, 38; s.a. Rechtsfortbildung analogische Auslegung; s. Analogie im 19. Jahrhundert Angonese-Urteil 7, 25; 17, 8 Anhörungsrüge analog § 321a ZPO 23, 38 Arbeitnehmer; s. Europäisches Arbeitsrecht Arbeitssprache; s. Europäischer Gerichtshof Arbeitszeit; s. Europäisches Arbeitsrecht

argumentum e contrario 3, 152; 11, 32; 17, 32, 51 ATRAL-Urteil 15, 10, 57 Audiolux-Urteil 13, 33a Auslandsgesellschaft 19, 71, 85 Auslegung 18, 2 – ausdehnende 3, 105 – autonome; s. autonome Auslegung – contra legem 7, 30; 9, 36 f.; 13, 26; 14, 29, 36; 18, 52; 22, 33b ff.; 25, 32; 27, 32; 28, 31 – deklarative 3, 97 – dynamische 8, 12; 19, 21, 60 – einheitliche; s. einheitliche Auslegung im Überschussbereich – europarechtsfreundliche 19, 22/23; s.a. – Sekundärrecht, intergrationsfreundliche – extensive 3, 96 – gespaltene; s. gespaltene Auslegung – grammatikalische 3, 94; 4, 24; 8, 18 ff., 46 ff.; 18, 16 ff.; 22, 14; 23, 99 – – mehrere Sprachfassungen 3, 188; 4, 24; 8, 19 ff., 46; 11, 15; 13, 4, 17; 18, 17, 19; 25, 24 – historische 3, 89; 8, 32 f., 51; 18, 43; 22, 15; 23, 103 – – Vorbildrecht 11, 38 – intergouvernementales Unionsrecht; s.a. primäres Gemeinschaftsrechts/ supranationales Unionsrecht; Auslegung völkerrechtlicher Verträge – – grammatikalische 8, 46 – – historische 8, 51 – – rechtsvergleichende 8, 52 f. – – systematische 8, 47

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Stichwortregister

– – – – – – –

– – – – –

– – –



– – –

– – teleologische 8, 48 f. italienischen Recht 26, 34 ff. Kanon 3, 44; 22, 13 ff. nationales Recht 22, 10 ff. offenkundige; s. acte clair Parteierklärungen 17, 13 polnischen Rechts 28, 7 primären Gemeinschaftsrecht/ supranationalen Unionsrechts; s.a. intergourvernementales Unionsrecht – – grammatikalische 8, 18 ff. – – historische 8, 14, 32 f., 39 – – systematische 8, 22 ff. – – teleologische 8, 28 ff. primärrechtskonforme; s. primärrechtskonforme Auslegung rechtsvergleichende 4, 23 ff.; 8, 39, 52 f.; 18, 44; 22, 6 f. restriktive 3, 96 f. richtlinienkonforme; s. richtlinienkonforme Auslegung Sekundärrecht – – authentische 11, 29, 31 – – autonome 11, 4 – – historische 4, 26; 11, 30 ff.; 18, 43 – – grammatikalische 11, 14 ff. – – integrationsfreundliche 11, 42 – – primärrechtskonforme 9, 7 ff. – – prinzipiell-systematische 11, 25 – – systematische 11, 22 ff. – – teleologische 7, 42 f.; 11, 40 ff. objektiv-teleologische 2, 12, 14; 3, 89; 5, 24; 11, 11 subjektiv-historische 2, 12; 3, 89; systematische 4, 27; 8, 22 ff., 46; 11, 22 ff.; 18, 20 ff.; 22, 16; 23, 100 ff. – – Berücksichtigung von Regelungsentwürfen 11, 28 f. – – Rechtstextzusammenhang 18, 20 teleologische 4, 28; 5, 5, 20 f.; 8, 28 ff., 48 f.; 22, 17 f.; 18, 29 ff.; 23, 104 ff. – – effet utile 11, 42a – – kompetenzkonforme 11, 40 und Konkretisierung von Generalklauseln 12, 26 ff.; s.a. dort unionsrechtskonforme; s. unionsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts Vereinigtes Königreich; s. dort

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– Verhältnis der Auslegungskriterien 8, 39, 54; – verschiedene Rechtstraditionen 18, 2 – Vertrag 17, 17 – völkerrechtlicher Verträge 8, 42 ff. – völkerrechtskonforme 22, 19c – Wortlaut; s. Auslegung – grammatikalische – Ziel 11, 9; 13, 18 – – objektive Theorie 11, 11 – – subjektive Theorie 11, 10; 13, 26, 42 – – Vereinigungstheorie 11, 12 Auslegungsregeln – in dubio pro consumente / in dubio pro comsumatore 11, 54 ff.; 12, 38; 17, 21 – in favor laboris 18, 39 ff. Auslegungsmethoden; s.a. Auslegung Ausnahmen; s. singularia non sunt extendenda Ausschlussregeln 3, 88 Ausschuss der EU-Wertpapierregulierungsbehörden (Commitee of European Securities Regulators, CESR) 7, 55; 20, 7 ff. – Rolle bei Normsetzung und -auslegung 20, 7 ff., 23 – – Beispiele 20, 20 f. – – Consultation Papers 20, 18a – – Feedback Statements 20, 19 – – Technical Advices 20, 18 – Rolle bei Normvollziehung 20, 24 ff. – – Recommendations 20, 26 autonome Auslegung 12, 12; 13, 4; 18, 13; 19, 85a; 22, 18 – Primärrecht 8, 21, 34 – Sekundärrecht 11, 4 – Vermutungsregel 11, 7 Basel II 7, 34; 19, 31 f., 37 Begründungserwägungen 7, 39 ff.; 18, 30; 22, 19; 23, 106 – Bedeutung für die Auslegung 7, 39 ff. – Rechtsnatur 11, 36 f. beschränkte Rationalität 5, 50 bessere Rechtsetzung 22, 4 Betriebsübergangsrichtlinie 6, 18; 9, 8; 11, 24; 18, 13, 17, 22, 32, 41, 47 f., 65, 76

Stichwortregister

Binnenmarkt 6, 20, 31; 11, 42 – Binnenmarktintegration 6, 20, 51 – Binnenmarktkompetenz 6, 20, 24, 53 – Binnenmarktziel 6, 1 Bosman-Urteil 7, 25; 18, 48 bounded rationality; s. eingeschränkte Rationalität C.I.L.F.I.T.-Urteil 22, 28 f.; 25, 29 Coase-Theorem 5, 48 Code Civil 3, 10, 82, 150 Codes of Best Practice 7, 57 ff. Commitee of European Securities Regulators (CESR); s. Ausschuss der EUWertpapierregulierungsbehörden Commission on European Contract Law 4, 36 Common Core of European Private Law 4, 36 Common Frame of Reference; s. Gemeinsamer Referenzrahmen contra legem 13, 3, 26, 40, 43; 14, 29; 22, 33b ff.; s.a. Auslegung; Rechtsfortbildung Corporate Governance 19, 16, 19, 27 Corporate Governance-Kodex 4, 12; 7, 57 ff. Dassonville-Entscheidung 7, 21a; 8, 58; 9, 66; 19, 73; 22, 29a; 25, 25 Delegationsnormen 12, 4 Delimitis-Urteil 21, 25 Demokratieprinzip 13, 4, 18 déni de justice 17, 44 Dienstleistungsfreiheit 18, 60 Diskriminierungsverbot 13, 32 – im Europäischen Arbeitsrecht 18, 46, 56 ff. – vergleichbare Lage 18, 57 dispositives Recht 17, 14 – Analogie 17, 33 – Anwendung klassischer Auslegungsregeln 17, 23 ff. – argumentum e contrario 17, 32 – Aufgabe 17, 14 – Inhaltskontrolle 17, 42 – Leitbildfunktion bei Inhaltskontrolle 17, 42

– Nachrangigkeit 17, 14 – Rechtsanwendungs- und -durchsetzungspflicht 17, 36 – Rechtsquelle 17, 34 – Selbstbeschränkung des Gemeinschaftsgesetzgebers 17, 28 – ständige Rechtsprechung 17, 35 – systematische Paradoxon 17, 30 Draft Common Frame of Reference; s. Gemeinsamer Referenzrahmen Drittwirkung 7, 11, 15 Durchführungsrichtlinie 20, 13, 23 dynamische Auslegung; s. Auslegung dynamische Verweisung auf Unionsrecht 21, 39 Eckpunktemodell 10, 13 école de la libre recherche scientifique 3, 25 economic analysis of law; s. Ökonomische Analyse des Rechts ECTIL; s. European Centre of Tort and Insurance Law effet utile 7, 15, 31, 36 f., 59; 8, 27, 30, 36, 49, 55; 11, 42a; 19, 51, 77 Effizienz; s.a. more economic approach – als Interpretationsleitlinie 20, 26h eigennutzorientiertes Rationalverhalten 5, 38, 45 eingeschränkte Rationalität (bounded rationality) 5, 52 einheitliche Auslegung im Überschussbereich 15, 4; s.a. gespaltene Auslegung – Pflicht aus europäischen Recht 15, 24 ff. – Pflicht aus nationalem Recht 15, 36 f. – überschießende Umsetzung von Richtlinien; s. überschießende Umsetzung – Vermutung für 15, 39 Einheitsrecht; s. internationales Einheitsrecht Einzelfallanwendung 23, 13 Einzelrichter 23, 20 EMRK 8, 37, 59 Entscheidungserheblichkeit; s. Vorabentscheidungsverfahren ergänzende Vertragsauslegung 17, 14

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Erwägungsgründe; s. Begründungserwägungen estoppel-Prinzip 7, 15 EU-Wertpapierausschuss (European Securities Comitee, ESC) 20, 7 EuGH; s. Europäischer Gerichtshof EuGVÜ; s. Europäisches Gerichtsstandund Vollstreckungsübereinkommen Euro-Marketing 6, 51 Europäische Methodenlehre – Begriff 1, 1,10; 13, 1 – Hauptfunktion 18, 4, 77 Europäische Privatgesellschaft 19, 10, 16, 60, 69b Europäische Vertragsgrundregeln 4, 38 Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWIV) 10, 17 Europäischer Gerichtshof (EuGH) – Arbeitssprache 18, 17 – Aufgaben 22, 4, 20 ff. – Auslegungszuständigkeit 8, 15 f.; 23, 10 ff. – Begründungsaufwand 18, 3 – Berichterstatter 18, 73 f. – Ermessenskontrolle 21, 28 – Rechtsquelle 13, 10; 18, 10 – Funktionsteilung mit nationalen Gerichten 22, 20 ff. – Geschäftsverteilung 18, 72 f. – Gleichbehandlung der Fälle 13, 10 – Gleichberechtigung aller Amtssprachen 3, 20 – konkret-individuelle Entscheidungsfindung 13, 9 – Konkretisierung von Generalklauseln 12, 7 ff., 17 ff. – Kritik 18, 4 f., 9 ff., 72 ff. – Begründungsaufwand 18, 3 – obiter dicta 13, 10 – Präjudizien; s. dort – Qualität der Rechtsprechung 22, 4 f. – Richterrecht 13, 8 – stare decisis-Doktrin 13, 10 – Urteilsstile 18, 74 – Vorabentscheidungsverfahren; s. dort – Zusammensetzung 22, 3 f. Europäisches Arbeitsrecht – Arbeitnehmer, Begriff 18, 54 f.

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– Arbeitszeit, Begriff 18, 64 – Diskriminierungsverbote 18, 46, 56 ff. – – Sanktionen 18, 59 – Entgelt, Begriff 18, 28, 56 – Entstehungsgeschichte 18, 43 – grammatikalische Auslegung 18, 16 ff. – Individualarbeitsrecht 18, 64 ff. – inneres System 18, 34 ff. – kompetenzkonforme Interpretation 18, 29 – Kollektives Arbeitsrecht 18, 49, 62 f., 67 ff.; s.a. Unionsgrundrechte – Rechtsfortbildung 18, 53 – Rechtsvergleichung 18, 44 – Schwangerschaft 18, 58 – Sozialpartner 18, 68 – Stand der Harmonisierung 18, 22 – systematische Auslegung 18, 20 ff. – Umsetzung in Polen 28, 36 – und Grundfreiheiten 18, 60 ff.; s.a. dort – Unionsrundrechte 18, 45 ff.; s.a. dort – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 18, 50 – Vertrauensschutz 18, 51 f. Europäisches Gerichtsstand- und Vollstreckungsübereinkommen (EuGVÜ) 4, 10, 13 Europäisches Gesellschaftsrecht – Aktionärsschutzmodell 10, 53 – aktuelle Entwicklungen 19, 15 ff. – Aufsichtsrat 19, 81 f. – Auslandsgesellschaft 19, 71 – Außenverhältnis 10, 43, 58 – dynamische Auslegung 19, 21, 60 – Europäische Privatgesellschaft; s. dort – Generalisierbarkeit 10, 59 – Gesellschaftsstatut 19, 61, 65, 70 f. – Gründungstheorie 19, 69 f. – Hauptversammlungskompetenz 19, 78 – Informationsmodell 10, 63; 19, 13 – Kapitalverkehrsfreiheit 19, 3, 9, 13 – Kollisionsrecht 19, 1, 3, 67 f., 70 ff. – Kompatibilität der Formen 10, 56 – Niederlassungsfreiheit 19, 6 – Quotenveränderung 10, 52 – Rechnungslegung 10, 44 – Scheinauslandsgesellschaft 19, 67 – Sitztheorie 19, 68 ff.

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Societas Europea (SE); s. dort Umstrukturierung 10, 57 Vier-Kriterien-Test 19, 73 Wettbewerb der Rechtsordnungen 10, 54; 19, 7, 20, 56, 66, 83, 88 Europäisches Kapitalmarktrecht – als Schutzgesetz 20, 33 – Ausschuss der EU-Wertpapierregulierungsbehörden; s. dort – Charakteristika 20, 1 – Durchführungsrichtlinie 20, 13, 23 – Effizienz als Interpretationsleitlinie 20, 26h – Entwicklung 20, 2 ff. – EU-Wertpapierausschuss; s. dort – Finanzaufsicht 20, 4a – Normsetzungsverfahren 20, 5 ff. – Querschnittsmaterie 20, 1, 27 – Rahmenrichtlinie 20, 13 – Wohlverhaltensregeln 20, 28 ff., 31 Europäisches Kartellrecht – autonome Anpassung der nationalen Wettbewerbsregeln 21, 33 – Bekanntmachungen 21, 10 – Beurteilungsspielraum der Kommission 21, 28 – dezentralisierte Anwendung 21, 7 – Leitlinien 21, 10 – ökonomische Analyse 21, 13, 18 – Quellen 21, 3 – Selbstbindung der Kommission 21, 10 – und AGB-Kontrolle 21, 17 – unmittelbare Geltung unter Privaten 7, 27a f. Europäisches Privatrecht – Dynamik 11, 43 – Grundfreiheiten 4, 7 – Kompetenzen 4, 7 – System 3, 188 – Ziel der Rechtsangleichung 15, 2 Europäisches Schuldvertragsübereinkommen (EVÜ) 4, 10, 13 Europäisches Sozialmodell 18, 38 Europäisches Vertragsgesetzbuch 7, 47, 53 Europäisches Vertragsrecht 10, 26 ff.; 17, 1 ff.; s.a. Vertrag – Aktionsplan der Kommission 4, 12, 38

– (Draft) Common Frame of Referenz ([D]CFR), s. Gemeinsamer Referenzrahmen – Gemeinsamer Referenzrahmen, s. dort – Informationsmodell 10, 39 – Umsetzung in Polen 28, 33 ff. – Wettbewerb der Rechtsordnungen 10, 35 Europarechtsfreundlichkeit 19, 88 European Centre of Tort an Insurance Law (ECTIL) 4, 36 European Civil Code 7, 17, 48; s.a. Gemeinsamer Referenzrahmen European Principles of the Law of Torts 17, 7 EVÜ; s. Europäisches Schuldvertragsübereinkommen Expertenrecht 7, 55 ff.; s.a. LamfalussyProzess; Codes of Best Practice favor laboris 18, 39 ff. Fernabsatzmarkt 6, 56 FKVO; s. Fusionskontrollverordnung Francovich-Urteil 7, 48; 8, 60; 17, 10; 18, 53; 22, 17; 26, 27 Frankreich; s.a. Französische Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert – europäisches Rechts als Inspirationsquelle der Rechtsfortbildung 24, 31 – Funktion des Richters als Methodenproblem 24, 14 ff. – primärrechtskonforme Auslegung französischen Rechts 24, 24 – Rechtsangleichung als Rechtsquellenfrage 24, 1 ff. – richtlinienkonforme Auslegung französischen Rechts 24, 25 ff. – Verhältnis von nationalem und europäischen Recht 24, 6 ff. – Vorwirkung von Richtlinien 24, 28 f. Französische Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert – analogie proprement dite 3, 156 – argumentum a contrario 3, 152 – Aubry 3, 150, 153 – ausdehnende Auslegung 3, 153 – beschränkende Auslegung 3, 153 – école de l’exégèse 3, 150

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Stichwortregister

– école de la libre recherche scientifique 3, 156 – erläuternde Auslegung 3, 153 – François Gény 3, 156; 24, 2 ff, 29, 33 – grammatische Auslegung 3, 153 – interprétation extensive de la loi 3, 156 – interprétation par analogie 3, 158 – logische Auslegung 3, 153 – Rau 3, 150, 153 – Raymond Saleilles 3, 156 – sens clair 3, 154 – Topos 3, 152 – Wortlautgrenze 3, 151 – Zachariä von Lingenthal 3, 42, 51, 150 Freiburger Kommunalbauten-Urteil 12, 19, 22c, 41; 23, 13 Freiburger Schule 21, 22 Freirechtsschule 3, 52 Frustrationsverbot; s. Vorwirkung von Richtlinien funktionaler Unternehmensbegriff 21, 16 Funktionentrennung 3, 188 Fusionskontrollverordnung (FKVO) 21, 9 Galatea-Urteil 12, 22d GASP; s. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Gemeines Recht – Auslegung aus dem „ähnlichen“ Grund 3, 40 – extensive Auslegung 3, 40 – grammatische Auslegung 3, 40 – logische Auslegung 3, 40 Gemeineuropäische Rechtsprinzipien 7, 48 Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) 8, 9, 41, 64 Gemeinsamer Referenzrahmen 4, 18 ff., 27, 37 ff.; 10, 34a; 17, 7, 45, 47 – Auslegungsgesichtspunkte 4, 27; 17, 48 ff. – Inhalt – – culpa in contrahendo 17, 7 – – einseitig verpflichtende Rechtsgeschäfte 17, 7 – – System der Rechtsbehelfe 17, 7 – lex academica 12, 39a

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– optionales Instrument 4, 19; 6, 32; s.a. Optionaler Europäischer Vertragsrechtskodex – Systembildung 17, 47 – Toolbox 17, 46 Gemeinschaftscharta über die sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer 18, 30, 45 Gemeinschaftsgrundrechte, s. Unionsgrundrechte gemeinschaftskonforme Auslegung nationalen Rechts, s. unionsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts Gemeinschaftsrecht/supranationales Unionsrecht – Adressaten 7, 11 ff.; 17, 36 – – Mehrdirektionalität 7, 9d – Anwendbarkeit unter Privaten 7, 25 ff., 27a f.; 17, 8 – Anwendungsvorrang 8, 5, 9, 16; 21, 32; 24, 19; 25, 23; 26, 11 ff.; 27, 4 ff. – Auslegung, s. Auslegung – begrenzte Regelungskompetenz 13, 6; s.a. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung – dynamische Entwicklung 8, 12, 44; 18, 23 – Mehrstufigkeit 7, 9b f. – Rechtsnatur 8, 4 ff. – Rechtsordnung 8, 10 – Vorrang vor nationalem Recht 7, 9c; 8, 5, 9, 19 gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch; s. unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung; s. unionsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts Generalklauseln 12, 1 ff.; 17, 31 – Konkretisierung; s. Konkretisierung von Generalklauseln – Richtlinienumsetzung durch Generalklausel 23, 83 ff. Gesamtanalogie 3, 106; s.a. Analogie Gesamtkanon der Auslegungsmethoden Savignys 3, 88 Gesellschaft für Europäisches Vertragsrecht 4, 36

Stichwortregister

Gesellschaftsrecht; s. Europäisches Gesellschaftsrecht – überschießende Umsetzung im 15, 8 Gesellschaftsstatut 19, 61, 65, 70 f.; s.a. Europäisches Gesellschaftsrecht Gesetzgebungskommission; s. refere legislatif 3, 1, 21 gespaltene Auslegung 15, 4; 23, 81; s.a. einheitliche Auslegung im Überschussbereich – überschießende Umsetzung von Richtlinien; s. überschießende Umsetzung – Gründe 15, 40 ff. – im Kapitalmarktrecht 20, 34 Gewaltenteilungsprinzip 3, 188; 13, 14, 42, 44 Gewaltentrennung 3, 188 Gleichberechtigung der Rechtsordnungen 11, 6 Gleichheit der Staaten 8, 11, 53 Gleichheitssatz, allgemeiner 13, 32 f. Größenschluss; s. pragmatische Schlüsse Grundfreiheiten – Anwendung unter Privaten 7, 25 ff.; 17, 8 – Arbeitsrecht 18, 60 ff. – – Arbeitskampf 18, 62 – – Entsendung von Arbeitnehmern 18, 61 – – zwingende Gründe des Allgemeininteresse 18, 61 f. – Beschränkungsverbot 7, 21a f.; 8, 58 – Größenvorteile 6, 51 – Ökonomische Analyse 6, 48 – Rechtsfortbildung 8, 57 f. – Rechtsquellen 7, 21 – ungeschriebene Rechtfertigungsgründe 18, 61 f. grundfreiheitenkonforme Auslegung; s.a. primärrechtskonforme Auslegung – von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht 9, 7 ff. – – Begriff 9, 9 ff. – – bei Totalharmonisierung 9, 12 ff. – – und grundrechtskonforme Auslegung 9, 14 – – und Mindestharmonisierung 9, 11 – von nationalem Recht 9, 38 ff.

Grundrechte, s. Unionsgrundrechte grundrechtskonforme Auslegung 13, 35; s.a. primärrechtskonforme Auslegung – von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht 9, 7 ff. – – Begriff 9, 9 ff. – – und grundfreiheitenkonforme Auslegung 9, 14 – von nationalem Recht 9, 38 ff. Grundsatz des Sozialrechts der Gemeinschaft 18, 39 Gründungstheorie 19, 69 f.; s.a. Europäisches Gesellschaftsrecht Gruppenfreistellungsverordnungen 21, 8 Hanse Law School 4, 40 Harmonisierungskonzept 11, 23 Harmonisierungsziel 4, 3, 25 Hauptversammlungskompetenz 19, 78; s.a. Europäisches Gesellschaftsrecht Hayek 6, 7 ff. Heininger-Urteil 11, 26, 61, 66; 14, 44, 53, 60; 15, 23b, 36a, 38a, 46; 22, 21, 23; 23, 19 Hermeneutik der Aufklärung 3, 42 historische Auslegung; s. Auslegung Höchstnorm 19, 48, 50, 64, 65, 66 hypothetischer Konsens 5, 9 internationales Einheitsrecht 4, 4, 14, 16, 31 IAS/IFRS-Verordnung 4, 15; 9, 30; 20, 26a ff.; s.a. International Accounting Standards ICC; s. International Chamber of Commerce implication in fact 17, 14 implied powers 8, 27 in dubio pro consumente / in dubio pro comsumatore 11, 54 ff.; 12, 38; 17, 21 Informationsasymmetrie 6, 40, 55 Informationsmodell 6, 43; 10, 39, 63 ff.; 19, 13, 26, 66, 83, 89 inhaltliche Übererfüllung 15, 14 f., 20; s.a. überschießende Umsetzung von Richtlinien Inhaltskontrolle; s. Vertrag Inspire Art-Urteil 19, 26, 67, 73, 85

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Stichwortregister

institutionelle Ordnung 12, 8 ff.; s.a. institutionelles Gleichgewicht institutionelles Gleichgewicht 13, 14, 18, 36; s.a. institutionelle Ordnung Institutionenökonomik 5, 5, 65 Inter-Environnement Wallonie-Urteil 13, 20; 16, 8 ff., 11 f., 30, 32, 38, 54, 62 f. intergouvernementales Unionsrecht – Auslegung 8, 41 ff., s.a. Auslegung – GASP, s. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) – PJZS, s. Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) – Rechtsnatur 8, 7 ff. International Accounting Standards (IAS) 4, 15; 9, 30; 20, 26a ff. International Chamber of Commerce (ICC) 4, 12 interprétation par analogie 3, 52 Italien; s.a. Italienische Rechtswissenschaft – Akzeptanz der EU 26, 2 ff. – Anwendungsvorrang europäischen Rechts und die Doktrin der „controlimiti“ 26, 11 ff. – Auslegung italienischen Rechts 26, 34 ff. – Umsetzung von Richtlinien 26, 27 ff. Italienische Rechtswissenschaft – interpretazione autentica 3, 178 – interpretazione dichiarativa 3, 178 – interpretazione dottrinale 3, 178 – interpretazione estensiva 3, 178 – interpretazione giudiziale 3, 178 – interpretazione letterale 3, 178 – interpretazione logica 3, 178 – interpretazione restrittiva 3, 178 – voluntas legis 3, 178 ius commune 3, 202 Jahresabschluss-Richtlinien 4, 15; 10, 44 Joint Network on European Private Law (CoPECL) 4, 18a, 37 judikative Rechtsfortbildung; s. Rechtsfortbildung Junk-Urteil 11, 6; 18, 32, 52; 23, 28 Kaldor-Hicks-Kriterium 5, 54; 6, 4 f., 44 Kanon 3, 88; s.a. Auslegung

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Kant 3, 43 Kapitalaufbringung 19, 62 – und Umgehungsschutz 19, 59 Kapitalerhaltung 19, 62 Kapitalverkehrsfreiheit 19, 3, 9, 13 Kartellrecht 6, 2; 21, 1 ff.; s.a. Europäisches Kartellrecht Kasuistik 3, 205 Keck-Urteil 6, 48, 51, 60; 7, 21a f.; 19, 73; 22, 29a Klauselrichtlinie 4, 16; 12, 16, 26 ff., 36; 22, 26 f.; 25, 26, 30 f. Kleinwort Benson-Urteil 21, 37 Kodifikationsbewegung um 1800 3, 11 Kodifikationsvoraussetzungen 3, 98 Kohärenzgebot 8, 7; 21, 23 Kollektives Arbeitsrecht 18, 62 f.; s.a. Europäisches Arbeitsrecht Kollisionsrecht 15, 48a; s.a. Europäisches Gesellschaftsrecht Komitologieverfahren 7, 55, 59; 20, 5 Kommission – Aktionspläne 4, 12, 38; 7, 52, 54; s.a. soft law – Beurteilungsspielraum 21, 28 – Mitteilungen 7, 52; s.a. soft law – Selbstbindung 21, 10 Kompetenz-Kompetenz 13, 15 kompetenzkonforme Auslegung, s. Auslegung – teleologische, primärrechtskonforme Auslegung konkret-individuelle Entscheidungsfindung 13, 9 f., 15 Konkretisierung von Generalklauseln 12, 1 ff. – als Prozess 12, 40 f. – Beispiel: Klauselrichtlinie 12, 26 ff. – durch den EuGH 12, 17 ff. – Konkretisierungsmethode 12, 23 ff. – Leitbilder 12, 38 – Prinzipien 12, 39 – „Recht im Werden“ 12, 40 – Referenzmaßstäbe – – principles, gemeineuropäische 12, 34 – – gemeinschaftsautonome 12, 32 ff. – – Gemeinsamer Referenzrahmen 12, 39a f.

Stichwortregister

– – sekundärrechtliche Referenzordnung 12, 36 f. – Spanien 27, 9, 11 f. – und Vollharmonisierung 12, 22a ff. Konsensprinzip 8, 4, 7, 43 Konstitutionenökonomik 5, 5, 65; s.a. ökonomische Analyse des Rechts Konzept des „informierten“ Verbrauchers 10, 22; s.a. Verbraucherleitbild, in dubio pro consumatore Lamfalussy-Prozess 7, 55; 20, 4, 5 ff., 11 Law and Economics 6, 1 legal transplant 19, 57 Legalausnahme 21, 7 Leitbilder 11, 44 ff.; 12, 37, 39 Leur-Bloem-Urteil 15, 24, 26 ff. lex contractus 17, 34 lex posterior 8, 5; 14, 57; 24, 9 lex superior 7, 22; 13, 34 Lissabon-Urteil des BVerfG 7, 8/9, 9c; 22, 39a; 23, 9; 26, 6,22 local hill phenomenon 19, 27, 57, 84 f., 89 Lücke 3, 99; 13, 3, 27 ff., 37, 39, 42; 19, 80; s.a. Auslegung bzw. Rechtsfortbildung Maastricht-Urteil des BVerfG 8, 56 Mahnverfahren 4, 13 Mangold-Urteil 16, 11 f., 20 ff., 54, 62; 18, 46, 73; 23, 77; 26, 68 Marktmissbrauchsrichtlinie 6, 54; 19, 19; 20, 11 ff., 20 ff., 26h, 33 Marktwirtschaft 6, 6, 17 ff., 19 Marktzutritt 6, 49 f. Masterfoods-Urteil 21, 25 materielle Freiheit 10, 19 Mehrheitsprinzip 8, 4, 7 Mehrsprachigkeit des Gemeinschaftsrechts 13, 6, 17; s.a. Auslegung, Sprachfassungen Methodenwahl 7, 42, 51 methodologischer Individualismus 5, 39, 45, 70 Mindestharmonisierung 7, 29, 33 ff. Mindestvorschriften 19, 48, 64 ff. Mitbestimmungsvereinbarungen 19, 76 mitgliedstaatliche Grundsätze

– Demokratie 13, 4 – Rechtsstaatlichkeit 13, 4 Mitteilungen der Kommission 7, 52; s.a. soft law Mono Car-Urteil 14, 33, 54 more economic approach 21, 8, 22 Nachweisrichtlinie 18, 66 Neue Institutionenökonomik 5, 48, 49; 6, 9 ff.; s.a. Ökonomische Analyse des Rechts Nichtigkeitsklage 13, 36 – Feststellung der Nichtigkeit 13, 41 f. Niederlassungsfreiheit 10, 55; 18, 60; 19, 6 obiter dicta 13, 10 Obligationenrecht 17, 2 Océano-Urteil 12, 18, 22c; 23, 13 öffentliches Recht 23, 1 ff., 60 ff. Ökonomik 5, 5, 8; 6, 1 ökonomische Analyse des Rechts 5, 35, 46, 49 ökonomische Analysen im Europäischen Kartellrecht 21, 13 ökonomische Theorie 5, 2 f. – normative 5, 3 – positive 5, 3 Optionaler Europäischer Vertragsrechtskodex 10, 9 Pandektenwissenschaft 3, 10 – (Gesetzes)-Analogie 3, 135 – ändernde Auslegung 3, 121 – Arndts 3, 121 – ausdehnende Auslegung 3, 140 – Baron 3, 121 – Brinz 3, 121 – deklarative Auslegung 3, 111 – deklaratorische Auslegung 3, 140 – Dernburg 3, 121 – Erxleben 3, 120 – extensive Auslegung 3, 111, 140 – Freirechtsschule 3, 141, 142 – Gesamtbetrachtung 3, 140 – Gesetzeslücke 3, 135 – Göschen 3, 120 – grammatische Auslegung 3, 140

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Stichwortregister

– – – – – – – – – – – – –

Hufeland 3, 112 Kohler 3, 129 Kontrolle des Richters 3, 114 korrigierende Auslegung 3, 121 logische Auslegung 3, 140 Mühlenbruch 3, 121 Puchta 3, 126 Reichsgericht 3, 143 restriktive Auslegung 3, 111, 140 Richterbindung 3, 118 Vangerow 3, 121 verba legis 3, 117 Verbot der Rechtsverweigerung 3, 118 – voluntas legis 3, 117 – Windscheid 3, 132 ff. – Wortlautgrenze 3, 111, 115, 140 Pareto-Kriterium 6, 5 parol evidence rule 17, 20 Parteierklärungen 17, 13; s.a. Auslegung persuasive authority 4, 33 Pfeiffer-Urteil 14, 9 f., 12, 15, 27, 31 ff., 54; 18, 31, 53, 70; 22, 31–33, 33c PJZS, siehe Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Polen – Analogie 28, 9 – Auslegung nationalen Rechts 28, 7 – Beitritt zur EU 28, 1 – europakonforme Rechtsanwendung 28, 29 ff. – Gerichtssystem 28, 3 – Rechtssystem 28, 2 – Schadensersatz wegen Verletzung europarechtlicher Pflichten 28, 32 – überkommene Rechtstheorie 28, 6 ff. – Verhältnis von Rechtsprechung und Lehre 28, 11 f. – Vorlagepraxis 28, 17 ff. – Zuständigkeit des EuGH bei Fragen zu vor dem Beitritt eines Mitgliedstaates liegenden Sachverhalten 28, 23 ff. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) 8, 3 Positivismus 3, 54 pragmatische Schlüsse 18, 42 Präjudizien

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– EuGH 13, 10, 22 f., 24; 18, 2, 9 f., 74; 22, 40 ff.; 25, 22 – Vereinigtes Königreich 25, 4 f., 22 Primärrecht 7, 8, 9b, 21; s.a. Auslegung – allgemeine Rechtsgrundsätze 22, 19b; s.a. Unionsgrundrechte – als Gegenstand der Konformauslegung 9, 60 ff. – Bedeutung der Rechtsvergleichung 4,7ff. – im Rahmen verfassungskonformer Auslegung 9, 41 – national-verfassungskonforme Auslegung des 9, 67 f. – Rechtsfortbildung 8, 55 ff. – sekundärrechtskonforme Auslegung 9, 66 primärrechtskonforme Auslegung 8, 14; 9, 3, 7, 38, 42; 13, 34; 22, 19a – als interpretatorische Vorrangregel 9, 27 – Begriff 9, 4 – des abgeleiteten Unionsrechts/ Sekundärrechts 9, 7 ff.; 11, 49 – französischen Rechts 24, 24 – Funktion 9, 3, 25 – Geltungsgrund 9, 20 ff., 42 ff. – grundfreiheitenkonforme Auslegung 9, 9 ff., 40; s.a. dort – grundrechtskonforme Auslegung 9, 9 ff.; 40; s.a. dort – kompetenzkonforme Auslegung 11, 40; 18, 24 ff. – methodologische Grenze 9, 31 ff. – mögliche Bezugspunkte der 9, 8, 39 – nationalen Recht 7, 50 f.; 9, 38 ff. – Reichweite 9, 29 ff. – Stellung im System der juristischen Methodenlehre 9, 28 – Verhältnis zu den übrigen Auslegungskriterien 9, 27 primärrechtskonforme Rechtsfortbildung 9, 32 ff., 35, 55 ff.; 13, 34 – Analogieschluss 9, 35 – Grundrechte 13, 35 – methodologische Grenzen 9, 55 ff. – Mittel der 9, 35 – teleologische Reduktion 9, 35 – Verbot des contra-legem-Judizieres 9, 36; 13, 3

Stichwortregister

primärrechtsorientierte Auslegung 9, 41 principles, gemeineuropäische 12, 34 Principles of European Contract Law (PECL) 4, 27, 31; 12, 39; 17, 47a, 50; 27, 14 f. Principles of European Insurance Contract Law (PEICL) 6, 32 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 12, 7; 13, 6, 13, 15, 29; 15, 2; 23, 5 Prinzip der Verfassungsorgantreue 13, 20 Prinzipal-Agent-Verhältnis 5, 39, 65 Privatrecht, s.a. Vertragsrecht – dispositives 7, 24 – klassisches 7,16 – regulatorisches 7, 16, 18, 20, 38 – regulierendes 7, 24 – zwingendes 7, 24 Pupino-Urteil 14, 32; 23, 69 Qualität der Rechtsprechung 22, 4 f. Quelle-Urteil 14, 51, 53, 53b; 15, 23a, 36a, 38a; 17, 9; 23, 77; 25, 38; 26, 18, 74 Querschnittskompetenzen 23, 5 Rahmenbeschluss 14, 32; 23, 69 ratio legis 3, 60 Rechnungslegung 10, 44 Rechtsangleichung 4, 13 ff.; 7, 44; 11, 23; 15, 2 Rechtsfortbildung 3, 110; 5, 2, 18; 8, 36, 55, 63, 66; 9, 32, 55; 14, 1 ff., 46 ff.; 22, 17, 33a; s.a. Analogie, teleologische Reduktion – Analogieschluss 9, 56 – beschränkte Regelungszuständigkeit 13, 13 – contra legem 7, 51; 9, 57; 22, 33b ff.; s.a. dort – Grenze 13, 2 – Grundfreiheiten 8, 58 – Grundrechte 8, 59 – im Europäischen Arbeitsrecht 18, 53 – im Primärrecht 8, 55 ff. – Lücke 13, 3, 27 ff., 37, 39, 42; 19, 80 – Mittel der 9, 56 – primärrechtskonforme 9, 32 ff., 55 ff.; s.a. dort

– richtlinienkonforme; s. richtlinienkonforme Rechtsfortbildung (nationalen) Rechts – teleologische Reduktion 9, 56 – überlieferte Grundsätze des Art. 6 Abs. 1 EU 13, 8 – und teleologische Auslegung 8, 55 – Wortlautgrenze 3, 111, 115, 140; 13, 1, 26, 36; 23, 77 – Wortsinngrenze 11, 20; 13, 2, 16 f., 38 – Zulässigkeit 9, 33 f. Rechtsgrundsätze – allgemeine 8, 27, 52; 13, 33a – effet utile, s. dort – implied powers, s. implied powers – völkerrechtliche 8, 52 Rechtsnatur – des Gemeinschaftsrechts/supranationalen Unionsrechts 8, 4 ff. – des intergouvernementalen Unionsrechts 8, 7 f. – von Begründungserwägungen; s. dort Rechtsökonomik 5, 45 Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union 8, 3 Rechtsquellen – Entscheidungen des EuGH 13, 10; 18, 10 – gemeineuropäische Rechtsprinzipien 7, 48 – Primärrecht 7, 25 ff. – Rechtsangleichung als Rechtsquellenfrage in Frankreich 24, 1 ff. – Richtlinien 7, 28 ff. – soft law 7, 52 ff.; s.a. soft law – Verordnungen 7, 44 ff. Rechtsquellenlehre 7, 1 ff. – angelsächsische 7, 7 – europäische 7, 1, 7 – französische 7, 7 Rechtssicherheit 8, 33; 13, 10, 20 f. rechtsstaatliche Grundsätze 13, 4, 41 Rechtsunterricht 4, 39 Rechtsvereinheitlichung 4, 4; 7, 44, 47; 11, 42 Rechtsvergleichung 4, 1 ff. – Bedeutung bei der Rechtssetzung 4, 6 ff.

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– Bedeutung bei der Rechtsanwendung 4, 21 ff.; 8, 33 ff., 51 f.; 18, 44 – Einsatz in Forschung und Lehre 4, 35 ff. – im Europäischen Arbeitsrecht 18, 44 – principles, gemeineuropäische und Konkretisierung von Generalklauseln 12, 34; s.a. dort référé législatif 3, 21, 37, 109 Regelsetzung – dezentrale 10, 6 – zentrale 10, 6, 15 Relativität der Rechtsbegriffe 11, 21 Ressourcenknappheit 5, 45 Richterrecht 13, 8 Richtlinie 7, 28 ff., 37 ff., 43 f.; 14, 1 ff. – Belastungsverbot 7, 37 – Direktwirkung 7, 13, 37 f. – inhatliche Übererfüllung; s. dort – mediatisierte Rechtssetzung 7, 29 – Optimierungsgebot 17, 9 – opt-out 15, 16 – richtlinienkonforme Auslegung; s. dort – Sanktionen 7, 33, 36; 18, 59 – überschießende Umsetzung; s. dort – Umsetzung durch Rechtsprechung 16, 44 ff.; 23, 96 f. – Umsetzungstechniken in Spanien 27, 19 ff. – Umsetzungsverpflichtung 16, 3; 17, 9; 23, 70 ff. – Umsetzungsfrist 16, 3 f. – unmittelbare Anwendbarkeit 7, 37 ff.; 14, 12 ff.; 16, 5, 20 ff.; 18, 70 f.; 23, 67, 71; 27, 30 – unmittelbare Wirkungen 7, 37 ff.; 17, 10 f. – Vorwirkung; s. Vorwirkung von Richtlinien – Wirkungen bei privatrechtlich ausgestalteten Verträgen 17, 10 – mißbräuchliche Klauseln; s. Klauselrichtlinie Richtlinien und Lücken 13, 30 richtlinienkonforme Auslegung 7, 37, 42, 49 f.; 14, 1 ff.; 17, 9; 23, 75 ff. – Adressat; s. Verpflichtete – Begriff 14, 9, 24

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– französischen Rechts 24, 25 ff. – Gegenstand – – nationales Recht 14, 3 ff., 15 – – Recht anderer Mitgliedstaaten 14, 6 ff. – Grundlagen – – im Unionsrecht 14, 3 ff., 10, 11 – – im nationalen Recht 14, 37 f. – im Vereinigten Königreich 25, 32 ff.; s.a. Vereinigtes Königreich – (methodische) Vorgaben aus dem Unionsrecht 14, 25 ff. – – contra legem 7, 30; 9, 36 f.; 13, 26; 14, 29, 36; 18, 52; 22, 33b ff.; 25, 32; 27, 32; 28, 31 – – Gleichbehandlung 14, 30 f. – – Normenkollision 14, 31 – – Vermutung richtlinienkonformer Umsetzung 14, 27 ff. – – interpretatorische Vorrangregel 14, 26; 15, 37 – Schranken 14, 34 ff., 44 f.; – – Frankreich 24, 27 – – Italien 26, 65 ff. – Subsidiarität 14, 14 – Umsetzung im nationalen Recht – – Auslegungsmethoden 14, 39 – – interpretatorische Vorrangregel 14, 26, 40 ff., 45; 15, 37 – – Normenkollision 14, 54 ff. – – Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung 14, 37 ff.; s.a. überschießende Umsetzung von Richtlinien – – Rechtsfortbildung; s. richtinienkonforme Rechtsfortbildung nationalen Recht – – Wille des Gesetzgebers 14, 38 f., 45 – – Zeitpunkt 14, 11, 37; 16, 27 f., 39 ff. – Umsetzungsfrist 14, 11, 37; 16, 3 f. – – bei Umsetzung vor Ablauf der Umsetzungsfrist 16, 27 f. – – im Rahmen der Vorwirkung von Richtlinien 16, 39 ff. – und Rechtsfindung 7, 30 f.; 14, 17 ff. – Verhältnis 14 – – bei unmittelbarer Anwendbarkeit

Stichwortregister

einer Richtlinienbestimmung 14, 12 ff., 56 – – zur unionskonformen Auslegung 14, 9 f. – Verpflichtete 14, 4 f. – Verpflichtungsumfang 14, 5, 26 – Zeitpunkt 14, 11, 37 richtlinienkonforme Rechtsfindung; s. richtlinienkonforme Auslegung, richtlinienkonforme Rechtsfortbildung nationalen Rechts, Rechtsfindung richtlinienkonforme Rechtsfortbildung nationalen Rechts 14, 46 ff. – Grenzen 14, 53 ff.; 26, 65 ff. – Grundlage 14, 47 f. – Instrumente 14, 52 – Lücke als Voraussetzung 14, 49 ff. – Umgang mit Normenkollisionen 14, 54 ff. Richtlinie über Rechte der Verbraucher (Vorschlag) 7, 34; 12, 1, 22a, 22e, 36 Römisches Recht – actio 3, 22 – actiones 3, 22 – – actio directa 2, 31 – – actio de dolo 2, 33 – – actio empti 2, 10 – – actio in factum 2, 33 – – actio utilis 2, 31, 33 – – actio venditi 2, 10 – argumentum a simili 3, 33 – bona fides 2, 10, 20, 26 – Celsus 2, 3, 5, 7 f., 10 f. – condictio 2, 11 – – datio sine causa 2, 11 – – iniusta causa 2, 11 – constitutiones 3, 22 – Corpus Iuris Civilis 3, 31 – Deduktion 2, 8 ff., 34 – Edikt 3, 22 – Hadrian 3, 27 – interpretatio 3, 22 – Julian 2, 26, 3, 31 – Justinian 2, 33; 3, 31 – Kauf 2, 7, 10 – – periculum emptoris 2, 7, 10 – leges 3, 22 – lex Aquilia 2, 14 ff.

– – – – – – – – – – –

mens legis 3, 25 orationes 3, 22 plebiscita 3, 22 Prinzipat 3, 26 Prokulianer 2, 8 responsa 3, 22 Sabinianer 2, 8 Salvius Iulianus 3, 27 senatus consulta 3, 22 sententia legis 3, 25 stipulatio 2, 20 ff. – – stipulatio habere licere 2, 22 – Tausch 2, 10 – verba 3, 25 – voluntas 3, 25 – Zwölftafelgesetz 2, 13 f., 20 Rückwirkung von Rechtsprechung 13, 21, 25

Satzungsautonomie 19, 79, 81 f. Satzungsstrenge 19, 79 Savigny 3, 43 Scheinauslandsgesellschaft 19, 67 Schwangerschaft 18, 58; s.a. Europäisches Arbeitsrecht SE; s. Societas Europea SECOLA; s. Gesellschaft für Europäisches Vertragsrecht Sekundärrecht 4, 10; 7, 9b, 28 ff.; 8, 14 – allgemeine Rechtsgrundsätze 13, 33a – Gültigkeitskontrolle 8, 9 – Materialien 11, 33 ff. – Regelungsentwürfe 11, 28 f. – Relativität der Rechtsbegriffe 11, 21 – Rückwirkung 13, 21 – Sperrwirkung 13, 20 Selbstbestimmung 10, 41 sens clair 3, 48, 51 sententia legis 3, 215 SIEC-Test 21, 9 Signigicant impediment of effective competition, s. SIEC-Test singularia non sunt extendenda 11, 61 ff.; 13, 32; 18, 20 Sitztheorie; s. Europäisches Gesellschaftsrecht Societas Europea (SE) 7, 46; 10, 17; 19, 60, 76, 79, 81, 88

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– Satzungsautonomie 19, 79, 81 f. – Satzungsstrenge 19, 79 – Wettbewerb der Rechtsordnungen 19, 88 soft law 7, 52 ff., 59 – Aktionspläne 4, 12, 38; 7, 52, 54 – Empfehlungen 7, 53 – Mitteilungen 7, 52 Sozialpartner; s. Europäisches Arbeitsrecht Spaak-Bericht 6, 20 Spanien – Anwendungsvorrang des europäischen Rechts 27, 4 f. – Konkretisierung von Generalklauseln 27, 9, 11 f. – Rechtspluralismus 27, 6 ff. – spanisches Privatrechtssystem 27, 1 ff. – Umsetzungstechniken 27, 19 ff. – Vorwirkung von Richtlinie 27, 31 f. Sperrwirkung 13, 20; 16, 15 f.; 24, 28; s.a. Frustrationsverbot Sprachfassungen; s. Auslegung Sprachrisiken 17, 22 Staatensouveränität 8, 11, 44, 49 Staatshaftungsanspruch; s. Gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch stare decisis-Doktrin 13, 10; 25, 3 ff. Stichting-Urteil 16, 14 Strafrecht 23, 7 ff. Study Group on a European Civil Code 4, 36 Sturgeon-Urteil 13, 32 subjektive Theorie; s. Auslegung – Ziel Subsidiarität; s. Subsidiaritätsprinzip Subsidiaritätsprinzip 10, 20; 13, 15, 29, 33; 15, 2; 19, 26 supranationales Unionsrecht/Gemeinschaftsrecht – Adressaten 7, 11 ff.; 17, 36 – – Mehrdirektionalität 7, 9d – Anwendbarkeit unter Privaten 7, 25 ff., 27a f.; 17, 8 – Anwendungsvorrang 8, 5, 9, 16; 21, 32; 24, 19; 25, 23; 26, 11 ff.; 27, 4 ff. – Auslegung , s. Auslegung – begrenzte Regelungskompetenz 13, 6;

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s.a. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung – dynamische Entwicklung 8, 12, 44; 18, 23 – Mehrstufigkeit 7, 9b f. – Rechtsnatur 8, 4 ff. – Rechtsordnung 8, 10 – Vorrang vor nationalem Recht 7, 9c; 8, 5, 9, 19 Synergieeffekte 6, 51 systematische Auslegung; s. Auslegung Systembildung 3, 8, 98; 11, 26; 18, 34 ff. Tabakwerberichtlinie 6, 25 Tarifautonomie; s. Unionsgrundrechte teleologische Auslegung; s. Auslegung teleologische Extension 7, 42; 14, 30 teleologische Reduktion 7, 42; 9, 35, 56; 13, 33; 14, 30; 22, 33a; 23, 77; 25, 38; 26, 18 Textgleichheit von Normen bei Richtlinienumsetzung 15, 17 Thibaut 3, 42 Transaktionskosten 5, 50 Transparenzmechanismus 3, 19 Treu und Glauben 12, 34 Trade-Relates Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS); s. Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum (TRIPS) 15, 33 ff. überschießende Umsetzung von Richtlinien 15, 1 ff.; 23, 79 ff. – Abgrenzung – – falkutive Umsetzung 15, 16 – – inhaltliche Übererfüllung 15, 14 f.; s.a. dort – – opt out 15, 16 – – textgleiche Normen 15, 17 – Auslegung als interpretatorische Gesamtabwägung 15, 37 – Beispiel: Fristsetzungserfordernis nach § 323 Abs. 1 BGB 15, 23, 38 – einheitliche Auslegung im Überschuss-

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bereich; s. dort, s.a. gespaltene Auslegung – europarechtliche Zulässigkeit 15, 18 ff. – Fallgruppen 15, 5 ff. – gespaltene Auslegung; s. dort, s.a. einheitliche Auslegung im Überschussbereich – und IPR 15, 48a – und Vollharmonisierung 15, 21 – Vereinigtes Königreich 25, 47 f. – Zuständigkeit des EuGH 15, 49 ff. – – taktische Vorlagefrage 15, 55 – – Vorlagemöglichkeit 15, 52 ff. UGP-Richtlinie 12, 1, 22d, 36 Umkehrschluss; s. pragmatische Schlüsse Umwelthaftungsrichtlinie 4, 13 UN-Kaufrecht 4, 18, 32 UNIDROIT 4, 12, 36 Unionsgrundrechte – Analogieverbot 13, 38 – Gleichbehandlung 18, 46 – Grundrechtecharta 8, 59; 13, 4 – im Europäischen Arbeitsrecht 18, 45 ff. – – Durchführung kollektiver Maßnahmen 18, 49, 63 – – negative Koalitionsfreiheit (des Arbeitgebers) 18, 48 – – Tarifautonomie 18, 48 – – Vereinigungsfreiheit 18, 48 – Rechtsfortbildung 8, 59 Unionsrecht, s. Gemeinschaftsrecht/ supranationales Unionsrecht, s. intergouvernementales Unionsrecht unionsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts 7, 50; 9, 42 ff.; 22, 30 ff.; 23, 76 – Grundlagen im Unionsrecht 14, 10 – interpretatorische Vorrangregel 9, 50; s.a. richtlinienkonforme Auslegung – nationales Recht anderer EG-Mitgliedstaaten 9, 52 f. – nationales Recht des forum 9, 52 – Reichweite 9, 52 ff. – Stellung im System der juristischen Methodenlehre 9, 50 – Verhältnis zur richtlinienkonformen Auslegung 14, 9 f.

– Verhältnis zu den übrigen Auslegungskriterien 9, 50 unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch 8, 37, 60; 23, 88; 26, 27 unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien; s. Richtlinie, unmittelbare Anwendbarkeit unmittelbare Wirkung von Richtlinien; s. Richtlinie, unmittelbare Wirkung Unternehmensaußenrecht 10, 41 Unternehmensbegriff 21, 16 Utilitarismus 6, 4 ff. Verbandsautonomie 19, 82 Verbot des contra-legem-Judizierens 9, 36; 13, 3; s.a. primärrechtskonforme Rechtsfortbildung Verbraucherleitbild 6, 46; 11, 44, 45 Verbraucherrecht 7, 34; 10, 31 – überschießende Umsetzung im Verbraucherrecht 15, 7 Verbraucherschutz 11, 57 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie 4, 13; 7, 35; 10, 26; 11, 4; 12, 15; 15, 1, 7, 10, 23 f.; 17, 14 Vereinigtes Königreich – Auslegung europäischen Rechts 25, 25 ff. – Auslegung des Rechts des Vereinigtes Königreichs – – Wortlaut 25, 13 ff. – – literal rule 25, 14 f. – – Sinn und Zweck 25, 17 ff. – doctrine of binding precedent 25, 3 ff. – doctrine of implied repeal 25, 23 – doctrine of parliamentary souvereignty 25, 13 – Gerichtssystem 25, 3 – Methodik des Fallrechts 25, 6 ff. – Präjudizienbindung 25, 4 f. – – und Auslegung 25, 20 f. – ratio decendi 25, 7 ff., 11 – richtlinienkonforme Auslegung 25, 32 ff. – – Auswirkungen auf das Verständnis des common law 25, 44 ff. – – des zur Umsetzung erlassenen Rechts 25, 35 ff.

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– – sonstigen Rechts im Anwendungsbereich der Richtlinie 25, 39 ff. – Rechtsschöpfung durch Gerichte 25, 10 f. – Rechtssysteme 25, 1 – überschießende Umsetzung von Richtlinien 25, 47 f. – Vorlagepraxis 25, 28 ff. – Vorrang des europäischen Rechts 25, 23 – Vorwirkung von Richtlinien 25, 49 f. Vereinigungsfreiheit; s. Unionsgrundrechte Vereinigungstheorie; s. Auslegung – Ziel Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten 8, 53, 59 vergleichende Wirkungsanalysen 5, 7, 29, 30 Verhaltenskodex über vorvertragliche Informationen für wohnungswirtschaftliche Kredite 7, 57 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 13, 20, 35; 18, 50 Vertrag von Lissabon 1, 11 ff.; 8, 3, 7/8, 15 Vertrag 17, 5 ff. – Anwendungsbereich 17, 6 – Auslegung 17, 17 – Begriff 17, 5 – Francovich-Haftung 17, 10 – Inhaltskontrolle 17, 42 – Konsens 17, 13 – Parteierklärung 17, 13 – Rechtsbehelfsseite 17, 6 – Selbstbindung 17, 6 – Sprachrisiken 17, 22 – Vertragsfreiheit 17, 13 Vertragsauslegung 17, 17 – Auslegung contra proferentem 17, 21 – Auslegungsmaterial 17, 20 – falsa demonstratio non nocet 17, 18 – Parteiwille 17, 18 – Risiken 17, 21 Vertragsfreiheit 17, 39 Vertragsrecht 17, 2 ff. – dispositives 17, 14, 23 ff.; s.a. dipositives Recht – zwingendes 17, 15 f., 38 ff.

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– Aufgabe 17, 12 – Instrumentarium 17, 13 – Topos 17, 2 Vertrauensschutz 12, 38; 13, 17, 21, 24, 44; 18, 51 f. Verweisung auf das nationale Recht 11, 6 VO 1/2003 21, 7 Vollharmonisierung 7, 34 ff.; 18, 22 – und Konkretisierung von Generalklauseln 12, 22a ff.; s.a. dort – und überschießende Umsetzung von Richltinien 15, 20; s.a. dort Vorabentscheidungsverfahren 8, 16 – Abwehr von Vorabentscheidungsersuchen 23, 56 – bei überschießender Umsetzung von Richtlinien 15, 49 ff. – bei Fragen zu vor dem Beitritt eines Mitgliedstaates liegenden Sachverhalten 28, 23 ff. – Entscheidungserheblichkeit 23, 15 – grundsätzliche Bedeutung 23, 21, 26 – Funktionsteilung EuGH/nationale Gericht 22, 20 ff.; 23, 54 – Kammervorlage 23, 21 – Kosten 23, 52 – mündliche Verhandlung beim EuGH 23, 50 – Rückwirkung 13, 25 – schriftliche Vorverfahren bei EuGH 23, 48 – und Konkretisierung von Generalklauseln 12, 10 – taktische Vorlagefrage 15, 55 – Verfahrensakten 23, 47 – Vorlageberechtigung 23, 15 ff., 20 ff. – Vorlagebeschluss 23, 41 ff. – Vorlagepflicht 13,10; 23, 24 ff. – – Ausnahmen 23, 27 ff. – – Court of Appeal als letztinstanzliches Gericht 25, 28 – – Folgen einer Verletzung 23, 36 ff. – Vorlagepraxis in Polen 28, 17 ff. – Vorlagepraxis im Vereinigten Königreich 25, 28 ff. Vorrang vor nationalem Recht; s. Gemeinschaftsrecht/supranationales Unionsrecht

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Vorrangregeln 3, 88 Vorwirkung von Richtlinien 15, 5; 16, 1 ff. – auf Verwaltungshandeln 16, 59 ff. – Bindungswirkung von Richtlinienvorschlägen 16, 6 – Frankreich 24, 28 f. – Frustrationsverbot 16, 7 ff., 17 ff. – Rechtsfortbildung 13, 20 – richtlinienkonforme Auslegung 16, 27 f., 39 ff. – Spanien 27, 31 f. – Vereinigtes Königreich 25, 49 f. – Wirkungen unter Privaten 16, 20 ff., 69 Walt Wilhelm-Urteil 21, 32 Wettbewerb der Rechtsordnungen 10, 5 – Europäisches Gesellschaftsrecht 10, 54; 19, 7, 20, 56, 66, 83, 88 – Europäisches Vertragsrecht 10, 35 Wettbewerb der Regelungsgeber; s. Wettbewerb der Rechtsordnungen Widerrufsrecht(e) 6, 44, 55 ff.; 10, 40 f.; 11, 41 ff. Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) 8, 42, 50, 54, 62; 13, 6, 20; 16, 9; 18, 17 Wirkungsanalyse 5, 11, 29 Wirtschaftsordnung 6, 17 Wirtschaftsverfassung 6, 18 Wohlverhaltensregeln; s. Europäisches Kapitalmarktrecht Wortlaut als Topos 3, 215

Wortlautauslegung; s. Auslegung, grammatikalische Wortlautgrenze; s. Rechtsfortbildung Wortsinngrenze; s. Rechtsfortbildung WVK; s. Wiener Vertragsrechtskonvention Zahlungsdiensterichtlinie 6, 23; 7, 32, 34, 36 Zivilrechtskodifikationen 4, 42 Zusammensetzung des EuGH; s. Europäischer Gerichtshof Zweck-Mittel-Paradigma 5, 10 f., 14, 24, 25, 26, 27, 28, 31, 42, 44, 59 Zweckverband funktioneller Integration 3, 188 Zweiebenensystem 10, 2 Zweifelssatz 11, 54; s.a. in dubio pro consumente/in dubio pro consumatore zwingende Gründe des Allgemeininteresses; s. Grundfreiheiten zwingendes Vertragsrecht 17, 15 ff. – Abhängigkeit von dispositivem Recht 17, 16 – Analogie 17, 43 – Anwendung des etablierten Kanons 17, 40 – Kontrahierungszwang 17, 15 – Methodik 17, 38 – Schadensersatzhaftung 17, 15 – System 17, 41 – Vertragsfreiheit 17, 39

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