Europas vergessene Diktaturen?: Diktatur und Diktaturüberwindung in Spanien, Portugal und Griechenland [1 ed.]
 9783412512033, 9783412513849

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Europäische Diktaturen und ihre Überwindung Schriften der Stiftung Ettersberg Herausgegeben von Jörg Ganzenmüller Volkhard Knigge Christiane Kuller in Verbindung mit Karl Schmitt Peter Maser Rainer Eckert Robert Traba

Europas vergessene Diktaturen? Diktatur und Diktaturüberwindung in Spanien, Portugal und Griechenland

Herausgegeben von Jörg Ganzenmüller Redaktion Katharina Schwinde

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gefördert durch die Thüringer Staatskanzlei

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln www.boehlau-verlag.com Umschlagabbildung: Die enthauptete Statue von António de Oliveira Salazar in seiner Geburtsstadt Santa Comba Dão im Februar 1975 © Keystone / ZUMA Press Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Anja Borkam, Jena Satz: büro mn, Bielefeld Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51203-3

Für Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Hans-­Peter Schwarz (1934 – 2017)

Inhalt

Einführung Jörg Ganzenmüller Diktaturerfahrung und Populismus in Spanien, Portugal und Griechenland. Ein Vergleich und eine ostmitteleuropäische Perspektive  ...........................  11 Adam Krzemiński Das Ende der Hoffnung Europa? Populismus und Nationalismus in postdiktatorischen Gesellschaften  . . ................................................................  25

Südeuropäische Diktaturen nach 1945: Ideologie, Herrschaft, Gewalt Carlos Collado Seidel Ideologie, Herrschaft und Gewalt in Spanien unter Franco  .........................  45 Christiane Abele Einfach nur Dr. Salazar, Ministerpräsident. Das Salazar-Regime in Portugal  ............................................................................  69 Janis Nalbadidacis Geburtshelfer der Demokratie. Die Militärdiktatur in Griechenland, 1967 – 1974  .............................................  91

Europa als Perspektive: Das Ende der Diktaturen und die Systemtransformation Ulrike Capdepón Spaniens Übergang zur Demokratie und Westintegration. Von der ausbleibenden Auseinandersetzung mit der Franco-Diktatur zur Abkehr vom Transitionskonsens  . . ..................................................................  113 Antonio Muñoz Sánchez Die Nelkenrevolution in Portugal 1974 – 1975  ..................................................  131

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Inhalt

Adamantios Theodor Skordos Das späte Ende des Bürgerkrieges. Die Diktatur der Obristen und deren Überwindung als politische Zäsur in der griechischen Geschichte des 20. Jahrhunderts  ................................................................................................  155

Nationales Erinnern und europäisches Vergessen? Xosé M. Núñez Seixas Schweigen oder erinnern? Die unterbliebene Auseinandersetzung mit der Franco-Diktatur in Spanien  .. ....................................................................  181 Teresa Pinheiro Die Erinnerung an den Estado Novo im demokratischen Portugal  ............  203 Janis Nalbadidacis Im Schatten der ›Generation Polytechnio‹. Erinnerungen der ›Generation Z‹ an die Militärdiktatur  ...............................  227

Dokumentation der Abschlussdiskussion des 15. Internationalen Symposiums Europa – eine verlorene Hoffnung? Süd- und ostmitteleuropäische Perspektiven im Vergleich  . . .....................................................................................  253 Autorinnen und Autoren  .........................................................................................  279 Abbildungsverzeichnis  .. ...........................................................................................  285 Personenregister  ........................................................................................................  286

Einführung

Jörg Ganzenmüller

Diktaturerfahrung und Populismus in Spanien, Portugal und Griechenland Ein Vergleich und eine ostmitteleuropäische Perspektive

Europa war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein gemeinsamer Fluchtpunkt postdiktatorischer Gesellschaften. Die deutsch-­französische Aussöhnung und in deren Folge die Europäische Gemeinschaft galten als Garant für Frieden und Demokratie im west­lichen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Erfolg der europäischen Integration entwickelte eine besondere Strahlkraft auf postdiktatorische Gesellschaften. In den 1970er Jahren strebten Spanien, Portugal und Griechenland einen raschen Beitritt in die EG an, um den Demokratisierungsprozess durch wirtschaft­liche Prosperität sowie eine politische, recht­liche und ökonomische Verflechtung mit den europäischen Demokratien zu fördern und abzusichern. Europa galt nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums auch in den postsozialistischen Gesellschaften als ein Zukunftsversprechen auf Demokratie und Rechtsstaat­lichkeit. Die Staaten Ostmittel- und bald auch Südosteuropas strebten einen Beitritt in die Europäische Union an. Die EU sah wiederum in der Erweiterungspolitik eine Mög­lichkeit, demokratische und rechtsstaat­liche Entwicklungen in postdiktatorischen Gesellschaften zu festigen. Die Erfahrungen in Spanien, Portugal und Griechenland schienen dieser Sichtweise Recht zu geben. Die Osterweiterung stand in den 1990er Jahren deshalb außer Frage, umstritten war vor dem Hintergrund des ökonomischen Erbes des Staatssozialismus allenfalls das Beitrittstempo.1

1 Siehe Marianne Kneuer: Demokratisierung durch die EU. Süd- und Ostmitteleuropa im Vergleich. Wiesbaden 2007.

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1. Diktaturvergangenheit und Populismus Vor der Eurokrise des Jahres 2010 erschien die Osterweiterung der EU als eine Erfolgsgeschichte. Keine zehn Jahre später hat sich die Situation grundlegend geändert: Überall sind europakritische Parteien auf dem Vormarsch, mit Großbritannien verlässt zum ersten Mal ein Land die Europäische Union. Auffällig ist, dass in den postsozialistischen Gesellschaften Ostmitteleuropas vor allem rechtspopulistische Europakritik Gehör findet, im von der Finanzkrise wirtschaft­lich stark getroffenen Südeuropa haben hingegen eher linkspopulistische Parteien Zulauf. In Spanien ist ›Podemos‹ mit rund 20 Prozent der Wählerstimmen die drittstärkste Kraft im Parlament, in Griechenland stellt ›Syriza‹ sogar die Regierung. In Ungarn wiederum ist die Partei ›Fidesz‹ (Fiatal Demokraták Szöretséga, dt.: Bund junger Demokraten) seit 2010 alleinige Regierungspartei und hat den Rechtsstaat ausgehöhlt sowie die Öffent­lichkeit einer staat­ lichen Reglementierung unterzogen. In Polen ist der Umbau von Demokratie und Rechtsstaat in ein staatsautoritäres System durch die ›PiS‹ (Prawo i Sprawiedliwość, dt.: Recht und Gerechtigkeit) so weit vorangeschritten, dass die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat. Rechts- wie Linkspopulisten stellen die europäische Integration in Frage, wenn auch mit unterschied­lichen Argumenten. Rechtspopulisten delegitimieren die supranationale EU von einem natio­nalistischen Standpunkt aus, Linkspopulisten diskreditieren die Europä­ische Union als einen Sachwalter von Wirtschaftsinteressen und Erfüllungs­g ehilfen einer von Deutschland oktroyierten Sparpolitik. Vor ­diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit diese zweifache populistische Herausforderung der europäischen Einigung auch in den unterschied­lichen Diktaturerfahrungen und Formen der Auseinandersetzung mit diktatorischer Vergangenheit begründet ist. Bislang hat die Forschung Systemtransformationen vor allem im Hinblick auf eine gelungene Demokratisierung vergleichend betrachtet. Claus Offe betont etwa die Demokratisierungshemmnisse in Ostmitteleuropa, die er in einem »Dilemma der Gleichzeitigkeit« sieht: dem parallel zu vollziehenden Übergang von der Parteidiktatur zur Demokratie, von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft, von der sozialistischen Gesetz­lichkeit zum Rechtsstaat und mitunter auch von der Teilrepublik zur Eigenstaat­lichkeit.2 Wolfgang Merkel erkennt hingegen einen Startvorteil für das Ostmitteleuropa der 1990er Jahre gegenüber dem Südeuropa

2 Claus Offe: Das Dilemma der Gleichzeitigkeit. Demokratisierung und Marktwirtschaft in Osteuropa. In: Merkur 45 (1991), S. 279 – 291.

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der 1970er und 1980er Jahre, da dort das Modernisierungsniveau höher und die Staatsbürokratie entwickelter gewesen sei.3 Juan Linz und Alfred Stepan versuchten die Bedingungen für eine gelungene Demokratisierung zu systematisieren und machten fünf Faktoren aus: eine lebendige Zivilgesellschaft, ein politisches Institutionengefüge, die Herrschaft des Rechts, ein funktionierendes Staatswesen und eine Marktwirtschaft. Der Umgang mit der Vergangenheit spielt in ­diesem Modell zwar keine Rolle, aber Linz und Stepan sprechen dem historischen Erbe der vorangegangenen Diktatur sowie der Systemtransformation eine dynamische Rolle bei der Demokratisierung zu, die von Fall zu Fall zu bestimmen sei.4 Die historischen Pfadabhängigkeiten der Transformationsprozesse sind wiede­ rum Gegenstand geschichtswissenschaft­licher Forschung. Europa wird hier als eine Zusammensetzung unterschied­licher Geschichtsregionen verstanden, deren historische Prägungen weit in die Vergangenheit zurückreichen.5 Die konkrete Bedeutung von Diktaturerfahrungen und Vergangenheitsbewältigung für die Demokratisierung postdiktatorischer Gesellschaften ist immer wieder Gegenstand von Einzelfallstudien, wird aber nur selten vergleichend in den Blick genommen.6 Die populistische Herausforderung in Europa stellt die Frage nach dem Zusammenhang von gesellschaft­licher Auseinandersetzung mit Diktaturerfahrungen

3 Wolfgang Merkel: Gegen alle T ­ heorie? Die Konsolidierung der Demokratie in Ostmittel­ europa. In: Politische Vierteljahresschrift 48 (2007), S. 413 – 433, hier 428 – 430. 4 Juan J. Linz/Alfred Stepan: Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South America, and Post-­Communist Europe. Baltimore/London 1996, S.  38 – 54. 5 Siehe Carsten Goehrke: Transformationschancen und historisches Erbe. Versuch einer vergleichenden Erklärung auf dem Hintergrund europäischer Geschichtslandschaften. In: ders./Seraina Gilly (Hrsg.): Transforamation und historisches Erbe in den Staaten des europäischen Ostens. Frankfurt a. M. 2000, S. 653 – 741. 6 Siehe z. B. Alfons Kenkmann/Hasko Zimmer (Hrsg.): Nach Kriegen und Diktaturen. Umgang mit Vergangenheit als internationales Problem – Bilanzen und Perspektiven für das 21. Jahrhundert. Essen 2005; Bernd Faulenbach/Franz-­Josef Je­lich (Hrsg.): »Transformationen« der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989. Essen 2006; Helmut ­Altrichter (Hrsg.): GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozeß Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas. München 2006; Thomas ­Grossbölting/Dirk Hofmann (Hrsg.): Vergangenheit in der Gegenwart. Vom Umgang mit Diktaturerfahrungen in Ost- und Westeuropa. Göttingen 2008; Regina Fritz/Carola Sachse/Edgar ­Wolfrum (Hrsg.): Nationen und ihre Selbstbilder. Postdiktatorische Gesellschaften in Europa. Göttingen 2008; Katrin Hammerstein u. a. (Hrsg.): Aufarbeitung der Diktatur – Diktatur der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit. Göttingen 2009; Stefan Troebst (Hrsg.): Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven. Göttingen 2010.

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und autoritären Gesellschaftsvorstellungen neu. Der Thüringen-­Monitor, eine sozialwissenschaft­liche Langzeitstudie zu politischen Einstellungen der Thüringer, diagnostizierte 2015 eine wachsende »Diktaturverharmlosung«. Nahezu zwei Drittel der in Thüringen lebenden Menschen haben demnach eine »positive Einstellung« zur DDR. Das sind zehn Prozentpunkte mehr als bei einer Befragung im Jahr 2005. Zwar wird das politische System der SED-Diktatur mehrheit­lich als »Unrechtsstaat« abgelehnt, der vermeint­liche »gesellschaft­liche Zusammenhalt« wird jedoch positiv erinnert. Gleichzeitig gibt es einen Zusammenhang z­ wischen einer Apologie der SED-Diktatur und antidemokratischen Einstellungen: Diejenigen, die ein positives Bild von der DDR haben, vertreten überproportional autoritäre und auch rechtsextreme Einstellungen. Die Autoren des Thüringen-­ Monitors erklären diesen empirischen Befund mit einer über das Ende der DDR hinaus perpetuierten Gemeinschaftsvorstellung, die den Zusammenhalt im Inneren betont und nach außen stark exkludierend ist.7 Der Zusammenhang von Diktaturverharmlosung und antipluralistischem Denken ist evident. In welcher Weise besteht jedoch ein Zusammenhang mit populistischen Vorstellungen? Populismus wird hier als antipluralistisches Verständnis vom Kollektivsubjekt Volk verstanden, das mit einem moralischen Alleinvertretungsanspruch einhergeht.8 Populisten sehen sich als einzig legitime Repräsentanten des Volkes, dem ein einheit­licher politischer Willen unterstellt wird. Diese Auffassung eines unteilbaren Volkswillens ist das Gegenkonzept zur demokra­ tischen Vorstellung von Gesellschaft, die sich durch divergierende Einstellungen und Interessen konstituiert, die es auf fried­liche Weise auszugleichen gilt. In der Vorstellung eines einheit­lichen Volkswillens treffen sich hingegen Populisten und die Diktaturen des 20. Jahrhunderts, von den völkischen Bewegungen bis hin zu den stalinistischen Volksdemokratien. Bei allen fundamentalen Unterschieden in den Vorstellungen vom Volk und von dessen Willen sind den politischen Entwürfen von Rechts- und Linkspopulisten zwei Wesenszüge gemein: eine antipluralistische Einstellung und die Legitimation ihres politischen Handelns durch einen angeb­lichen ›Volkswillen‹. Der Aufstieg des Populismus erklärt sich nicht nur aus der Persistenz und Neuformatierung antipluralistischer Einstellungen, er steht auch in einem Zusammenhang mit Diktaturerfahrungen und deren Aufarbeitung. Diktaturen haben 7 Heinrich Best u. a.: Politische Kultur im Freistaat Thüringen: Thüringen im 25. Jahr der deutschen Einheit. Jena 2015 (Thüringen Monitor 2015). Abgerufen unter URL: https://www. thueringen.de/mam/th1/tsk/thueringen-­monitor_2015/thuringen-­monitor_2015.pdf., letzter Zugriff: 22. 03. 2018. 8 Jan-­Werner Müller: Was ist Populismus? Ein Essay. Frankfurt a. M. 2016, S. 25 – 27.

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stets eine ­soziale Basis. Der Großteil der Bevölkerung teilt politische Vorstellungen und Ziele der Herrschenden oder passt sich an die Gegebenheiten an, um unbeschadet durchs Leben zu kommen. Nach dem Ende von Diktaturen treten aber vornehm­lich die Opfer und Gegner der Diktatur für eine Aufarbeitung der Vergangenheit ein und bestimmen zunächst den gesellschaft­lichen Diskurs. Für die Mehrheit der Bevölkerung ist die Konfrontation mit dem eigenen Handeln schmerzhaft und beschämend. Es gibt in postdiktatorischen Gesellschaften deshalb die Tendenz zum Schweigen über die Vergangenheit. Populisten bieten einen Ausweg aus der schambehafteten Amnesie. Sie formulieren Diktaturkritik nicht als selbstkritische Selbstvergewisserung, sondern vereinnahmen ›das Volk‹ und erklären es pauschal zum Opfer. Diese Viktimisierung ist gleichbedeutend mit einer Exkulpation der gesamten Gesellschaft, und genau darin besteht die Attraktivität derartiger Geschichtsbilder.

2. Diktaturerfahrung, Diktaturüberwindung und Diktaturerinnerung im Vergleich Der vorliegende Band wirft eine doppelt vergleichende Perspektive auf die südeuropäischen Diktaturen. Zum einen werden Spanien, Portugal und Griechenland hinsicht­lich ihrer Diktaturerfahrung, der Diktaturüberwindung und der Auseinandersetzung mit der diktatorischen Vergangenheit miteinander ­verg­lichen. Zum anderen betrachten der Eingangsbeitrag von Adam Krzemiński und die abschließende Podiumsdiskussion die südeuropäischen Diktaturen aus einer ostmitteleuropäischen Perspektive und streben damit einen gesamteuropäischen Vergleich an. Ein Vergleich z­ wischen Spanien, Portugal und Griechenland fördert vor allem Unterschiede zu Tage. Es kann also weder von einer gemeinsamen südeuropäischen Diktaturerfahrung noch von einer südeuropäischen historischen Pfadabhängigkeit des Transformationsprozesses gesprochen werden. Die Franco-­Diktatur ist aus dem Spanischen Bürgerkrieg hervorgegangen, und dieser blieb der zentrale Bezugspunkt des Regimes, dessen ­soziale Basis aus heterogenen Gruppen bestand: Nationalkatholiken, Faschisten, Monarchisten, Militärs und Staatsdienern. Franco wurde als ein politischer Führer inszeniert, der den Volkswillen vertrat.9 Ein ganz anderes Herrschaftsverständnis hatte Salazar. Er sah sich nicht als Repräsentant des Volkes, sondern als Technokrat, der die Probleme des Landes löste. Seine

9 Siehe den Beitrag von Carlos Collado-­Seidel in ­diesem Band. Siehe außerdem ders.: Franco. General – Diktator – Mythos. Stuttgart 2015.

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Diktatur ruhte auf der Unterstützung der Großgrundbesitzer, der länd­lichen Mittelschicht sowie der Unternehmer und wurde von der ­Kirche und dem Militär nur partiell getragen. Während die Franco-­Diktatur als nationalkatholisch charakterisiert wird, lässt sich das Salazar-­Regime als nationalkolonial beschreiben.10 Eine sehr viel schmalere Machtbasis hatte das Obristenregime in Griechenland. Dies hängt nicht zuletzt mit der unterschied­lichen Dauer der drei Diktaturen zusammen. Franco herrschte knapp 40 Jahre, von 1936 bis zu seinem Tod 1975, der Estado Novo existierte in Portugal sogar noch ein wenig länger, von 1933 bis 1974. Im Vergleich dazu war das Obristenregime ausgesprochen kurzlebig, die Militär-­ Junta war nur von 1967 bis 1974 an der Macht. Seine Wurzeln reichen allerdings tiefer. Im Staatsstreich vom 21. April 1967 kulminierte der Antagonismus zweier politischer Lager, die im Bürgerkrieg von 1944 bis 1949 gegeneinander gekämpft hatten. Nationalisten, Monarchisten und Antikommunisten setzten darauf, dass die Junta den gesellschaft­lichen Liberalisierungstendenzen der 1960er Jahre Einhalt gebieten würde.11 Gemeinsam ist allen drei Regimen somit, dass sie von einem Bündnis alter Eliten getragen wurden. Während in Spanien und Griechenland der Bürgerkrieg tiefe Gräben in der Gesellschaft hinterlassen hatte, die in der Diktatur fortbestanden, gilt die Herrschaft Salazars als Stabilisierung, die sich sowohl von der ersten Republik als auch der anschließenden Militärdiktatur abhob. Salazar begriff sich demzufolge als Herrscher, der über den Parteien stand, Franco und die Obristen inszenierten ihre Herrschaft als Ausdruck eines Volkswillens, um eine nationale Einheit zu suggerieren, die nicht bestand. Auch das Ende der Diktaturen verlief in Spanien, Portugal und Griechenland auf ganz unterschied­liche Art und Weise. In Spanien war die Überwindung der Diktatur eng mit dem Tod Francos und der Demokratisierung durch den jungen König Juan Carlos verbunden. Die Systemtransformation zeichnete sich durch hohe Elitenkontinuität aus. Ein politischer Schweigekonsens ermög­lichte die transición und war zugleich eine große Bürde für die Demokratisierung Spaniens, denn dessen Kern war der Verzicht auf eine strafrecht­liche Aufarbeitung der Diktaturverbrechen durch eine Amnestie. So war die Demokratisierung ein Projekt, das nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft blickte. Europa wurde gerade deshalb ein wichtiger Fluchtpunkt der Systemtransformation: Schon 1979 wurde der Beitritt zur EG eingeleitet, der dann 1986 auch erfolgte.12 10 Siehe den Beitrag von Christiane Abele in ­diesem Band. 11 Siehe die Beiträge von Janis Nalbadidacis und Adamantios Theodor Skordos in ­diesem Band. 12 Siehe den Beitrag von Ulrike Capdepón in ­diesem Band; siehe außerdem Birgit Aschmann: Spanien in der transición. Von der Franco-­Diktatur zur Demokratie. In: Mittelweg 36 (2016) 3, S.  29 – 58.

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In Portugal läutete die Nelkenrevolution den politischen Umbruch ein. Am Anfang stand ein Staatsstreich von Teilen des Militärs, der sich in einen Aufstand verwandelte. Die Revolution wurde kurz nach ihrem Beginn wieder eingehegt und eine Demokratisierung des Landes begonnen. Anders als in Spanien wurde mit der Diktatur gebrochen. Einer zweijährigen Lustration folgte ein weitgehender Elitenaustausch im zentralen Regierungs- und Verwaltungsapparat, auf lokaler Ebene fand eine ›wilde Säuberung‹ der Wirtschaft und Verwaltung statt. Die Nelkenrevolution wurde Bestandteil der nationalen Identität Portugals. Die portugiesische Demokratie legitimierte sich fortan durch die Beendigung der Diktatur sowie das gleichzeitige Verhindern eines neuen, kommunistischen Regimes. Die Nelkenrevolution war aber nicht nur das Ende einer fast 50-jährigen Diktatur, sondern im Zuge einer forcierten Dekolonisierung durch die neue Regierung auch das Ende eines 500 Jahre alten Kolonialreiches. Die Öffnung nach Europa und der Beitritt in die EG waren für die junge Demokratie wichtige Perspektiven, die als Kompensation für den Verlust der Kolonien wirkten.13 In Griechenland läutete eine Krise das Ende der Diktatur ein. Das Obristenregime hatte sich innerhalb von knapp sieben Jahren innen- und außenpolitisch in eine solch ausweglose Situation manövriert, dass sie kapitulierte und die Macht an zivile Politiker zurückgab. Der konservative Regierungschef Konstantinos Karamanlis trieb eine konsequente Demokratisierung Griechenlands voran, die den Einfluss des Militärs auf die Politik zurückdrängte, die Angehörigen der Junta juristisch zur Verantwortung zog und auch den Weg für demokratische Machtwechsel bereitete, der 1981 mit dem Wahlsieg der Sozialdemokraten zum ersten Mal erfolgte.14 Hinsicht­lich der Beendigung der drei Diktaturen könnten die Unterschiede also kaum größer sein: eine ausgehandelte Machtübergabe in Spanien, eine Revolution in Portugal und eine Kapitulation der Herrschenden in Griechenland. Die Art der Transformation hatte unmittelbare Auswirkungen auf die Auseinandersetzung mit der diktatorischen Vergangenheit in den postdiktatorischen Gesellschaften. In Spanien war eine umfassende Amnestie Bestandteil der Systemtransformation. Die alten Eliten billigten eine Demokratisierung um den Preis, keine strafrecht­lichen Folgen fürchten zu müssen. Die neuen Eliten hielten sich an diese informelle Übereinkunft, um die Demokratisierung Spaniens vorantreiben zu können. Infolgedessen beschäftigten sich lange Zeit nur Historiker und Künstler mit der franquistischen Vergangenheit. Eine politische Debatte über die Vergangenheit fand zunächst nicht statt, und

13 Siehe den Beitrag von Antonio Muñoz Sanchez in ­diesem Band. 14 Siehe den Beitrag von Adamantios Theodor Skordos in ­diesem Band.

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es wurden keine staat­lichen Institutionen zur Auseinandersetzung mit der Diktatur oder zur Erinnerung an ihre Opfer gegründet. Zu Beginn des neuen Jahrtausends brach dieser politische Schweigekonsens auf, als die Enkelgeneration der Bürgerkriegsopfer anfing, nach dem Schicksal ihrer Vorfahren zu fragen. Zivilgesellschaft­ liche und transnationale Akteure, die bei der Aufarbeitung von Diktaturverbrechen in Südamerika einschlägige Erfahrungen gesammelt hatten, stießen dreißig Jahre nach dem Ende der Franco-­Diktatur eine breite gesellschaft­liche Debatte an, die bis heute anhält, wenn sie auch durch die aktuelle Wirtschaftskrise in den Hintergrund gerückt ist.15 Die unterbliebene Auseinandersetzung mit dem Bürgerkrieg und der Franco-­Diktatur wird heute verstärkt als Ausdruck eines Demokratiedefizits gedeutet, dessen Ausläufer auch in der aktuellen Katalonienkrise zu Tage treten.16 In Portugal folgte nach dem Elitentausch auch eine erinnerungskulturelle Abrechnung mit der Salazar-­Diktatur: Denkmäler wurden gestürzt, Straßen und Plätze umbenannt. Die Erinnerung an die Erste Republik (1910 – 1926) und an die Nelkenrevolution (1974) trat an die Stelle der symbolischen Repräsentationen des Salazar-­Regimes und überlagerte das Gedächtnis an die Diktatur. Orte zum Gedenken an die Opfer und zur Erinnerung an die Verbrechen des Regimes wurden allerdings keine eingerichtet. Die Beseitigung der symbolischen Überreste der Diktatur war eine Abrechnung mit dem Regime, aber keine selbstkritische Auseinandersetzung mit 50 Jahren Diktaturerfahrung. Die Erinnerung an die Überwindung der Diktatur bewirkte eine Amnesie besonderer Art: Anders als in Spanien, wo das Schweigen einem informellen Übereinkommen von Trägern und Gegnern der Diktatur entsprang, waren es hier die Revolutionäre, deren Deckerinnerung an die Überwindung der Diktatur die Diktatur selbst in Vergessenheit geraten ließ. 15 Siehe insbesondere den Fall von Baltasar Garzón im Beitrag von Xosé M. Núñez Seixas in ­diesem Band und bei Ulrike Capdepón: Von Nürnberg nach Madrid? Transnationale Vergangenheitspolitik und universelle Gerichtsbarkeit – Zur juristischen Auseinandersetzung mit der Franco-­ Diktatur. In: Jörg Ganzenmüller (Hrsg.): Recht und Gerechtigkeit. Die strafrecht­liche Aufarbeitung von Diktaturen in Europa (Europäische Diktaturen und ihre Überwindung, 23). Köln/Weimar/Wien 2017, S. 231 – 251, hier S. 239 – 243. 16 Siehe den Beitrag von Xosé M. Núñez Seixas in d­ iesem Band; siehe dazu außerdem Ders.: Die Diktatur vergessen, um die Nation zu retten. Das historische Gedächtnis und der »neopatrio­ tische« Diskurs in Spanien. In: Comparativ 14 (2004), S.  5 – 6, S.  56 – 75; Ders./Andreas Stucki: Neueste Entwicklungen und Tendenzen der postdiktatorischen Geschichtskultur in Spanien. In: Stefan Troebst (Hrsg.): Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven. Göttingen 2010, S. 205 – 223; Ulrike ­Capdepón: Vom Fall Pinochet zu den Verschwundenen des Spanischen B ­ ürgerkrieges. Die Auseinandersetzung mit Diktatur und Menschenrechtsverletzungen in Spanien und Chile. Bielefeld 2015.

Diktaturerfahrung und Populismus in Spanien, Portugal und Griechenland  |

In den 1990er Jahren durchbrachen gesellschaft­liche Akteure das Schweigen. Die Nachgeborenen begannen im Zuge der Öffnung der Akten des Geheimdienstes (PIDE ) damit, sich mit der Repressionsgeschichte der Diktatur auseinanderzusetzen. Die Salazar-­Diktatur wurde Gegenstand einer gesellschaft­lichen Debatte, die mitunter auch bunte Blüten trieb und Formen der nostalgischen Verharmlosung hervorbrachte. So zeigt der portugiesische Versuch, jeg­liche Erinnerung an eine überwunden geglaubte Diktatur zu tilgen, dass exkulpierende Geschichtsbilder dennoch an die nachfolgenden Generationen weitervermittelt werden.17 In Griechenland wurde die Führungsspitze der griechischen Junta schnell vor Gericht gestellt und verurteilt, eine tiefergehende Auseinandersetzung über die Bedingungen und den gesellschaft­lichen Rückhalt der Militärdiktatur blieb jedoch aus.18 Interviews mit ehemaligen Inhaftierten zeigen, dass diese sich gesellschaft­lich ausgegrenzt fühlten und im Grunde bis heute mit ihren Erinnerungen allein gelassen werden. Ähn­lich wie in Portugal stellt die Erinnerungsfigur eines geeinten, unterdrückten Volkes eine Deckerinnerung dar, ­welche eine selbstkritische Sicht auf individuelle und kollektive Verhaltensweisen in der Diktatur vielfach unterbindet.19

3. Südeuropa in ostmitteleuropäischer Perspektive Ostmittel- und Südosteuropa sind Regionen, die eine gewisse Skepsis gegenüber einem europäischen Zentralismus teilen. Gleichzeitig verbindet sie, dass die Aufarbeitung der eigenen Diktaturgeschichte als Voraussetzung für die Demokratisierung und die Zugehörigkeit zu Europa gesehen wird.20 Vor d­ iesem Hintergrund

17 Siehe den Beitrag von Teresa Pinheiro in ­diesem Band; siehe außerdem Dies.: Facetten der Erinnerungskultur. Portugals Umgang mit dem Estado Novo. In: Neue Politische Literatur 55 (2010), S.  7 – 22; Manuel Loff: Coming to Terms with the Dictatorial Past in Portugal after 1974. Silence, Rememberance and Ambiguity. In: Stefan Troebst (Hrsg.): Postdiktatorische Geschichtskulturen (wie Anm. 6), S.  55 – 121. 18 Siehe Adamantios Theodor Skordos: Die Juntadiktatur der Jahre 1967 – 1974 in der Vergangenheitspolitik Griechenlands. In: Ganzenmüller (Hrsg.): Recht und Gerechtigkeit (wie Anm. 15), S.  253 – 272. 19 Siehe den Beitrag von Janis Nalbadidacis in ­diesem Band. 20 Stefan Troebst: Für einen europäischen Süd-­Ost-­Diktatur(erinnerungs)vergleich. In: ­Volkhard Knigge u. a. (Hrsg.): Arbeit am europäischen Gedächtnis. Diktaturerfahrung und Demokratieentwicklung. Köln/Weimar/Wien 2011, S. 169 – 172. – Für Polen und Spanien siehe Claudia Kraft: »Europäische Peripherie« – »Europäische Identität«. Über

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und angesichts des Erstarkens populistischer und europakritischer Parteien in beiden Regionen lohnt sich eine vergleichende Zusammenschau struktureller und aktueller Entwicklungen in den jeweiligen nationalen Geschichtskulturen. Ein Blick auf die gesellschaft­liche Auseinandersetzung mit dem Staatssozialismus in Polen und Ungarn zeigt, dass die dortigen nationalistischen und populistischen Geschichtskulturen drei Wesensmerkmale verbinden. Erstens haben die postsozialistischen Gesellschaften kein negatives Gedächtnis ausgebildet. ›Negatives Gedächtnis‹ kann zunächst zweierlei bedeuten: Nach Reinhart Koselleck bezeichnet der Begriff entweder das Negative im Gedächtnis, also seinen abstoßenden und verachtenswerten Inhalt, oder den Umstand, dass das Gedächtnis sich der Erinnerung sperrt und sich weigert, das zu Erinnernde überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.21 Volkhard Knigge hat die Koselleck’sche Begriff­lichkeit weiterent­wickelt. Knigge bezeichnet die selbstkritische Auseinandersetzung einer Gesellschaft mit einer Vergangenheit, in der diese Gesellschaft Verbrechen an anderen oder an Teilen der eigenen Bevölkerung verübt hat, als ›negative Erinnerung‹. Anders als in Opfergemeinschaften wird nicht nur erlittenes Unrecht, sondern begangenes, nicht allein erfahrenes, sondern auch anderen zugefügtes Leid anerkannt und erinnert. Schuld und Verantwortung werden nicht verleugnet, abgeschoben oder überdeckt, sondern zu Anlässen kritischer gesellschaft­licher Selbstreflexion und Selbstvergewisserung. Die ›negative Erinnerung‹ zielt somit stets auf den Aufbau und die Stabilisierung einer demokratischen Gesellschaftsordnung durch eine Auseinandersetzung mit Verbrechen der Vergangenheit.22 Auch die postdiktatorischen Gesellschaften Spaniens, Portugals und Griechenlands haben aus dem Systembruch heraus kein negatives Gedächtnis ausgebildet, wenn auch aus ganz unterschied­lichen Gründen. In Spanien war das Vergessen ein Bestandteil des informellen Gesellschaftsvertrags der Systemtransformation, in Portugal überdeckte die Erinnerung an das Gemeinschaftserlebnis der Nelkenrevolution eine selbstkritische Sicht auf die Diktaturerfahrung und in Griechenland stand die sinnstiftende Erinnerung einer Opfergemeinschaft der Ausbildung eines negativen Gedächtnisses im Wege. Allerdings sind in allen den Umgang mit der Vergangenheit im zusammenwachsenden Europa am Beispiel Polens und Spaniens. In: Jahrbuch für Europäische Geschichte 4 (2003), S. 11 – 37. 21 Reinhart Koselleck: Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses. In: V ­ olkhard Knigge/Norbert Frei (Hrsg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. Bonn 2005, S. 21 – 32, hier S. 21. 22 Volkhard Knigge: Gesellschaftsverbrechen erinnern. Zur Entstehung und Entwicklung des Konzepts seit 1945. In: Ders./Ulrich Mählert (Hrsg.): Der Kommunismus im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa (Europäische Diktaturen und ihre Überwindung, 6). Köln/Weimar/Wien 2005, S. 19 – 30, hier S. 23.

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drei Ländern in jüngster Zeit diese Formen des Vergessens brüchig geworden, da eine junge Generation nicht mehr bereit ist, diese mitzutragen. Spanien, Portugal und Griechenland sind somit auf dem Weg zu einem negativen Gedächtnis, auch wenn dieser Weg nicht frei von Hindernissen sein wird. Die Bereitschaft der jungen Generation, die von der Wirtschaftskrise besonders stark betroffen ist, zu einem selbstkritischen Blick auf die diktatorische Vergangenheit des Landes mag dazu beitragen, dass rechtspopulistische Geschichtsnarrative in Spanien, Portugal und – mit Abstrichen – auch in Griechenland weniger verfangen als in Polen, Ungarn und anderen postsozialistischen Gesellschaften des öst­lichen Europas. Das zweite Kennzeichen einer geschichtskulturellen Wende in Polen und Ungarn ist die Umwertung des Systembruchs 1989/90. Die ausgehandelte System­ transformation wird von den Rechtspopulisten in beiden Ländern als unvollendeter Bruch mit dem Staatssozialismus bewertet. Insbesondere die ›PiS‹ stigmatisiert die Arbeit des Runden Tisches als ein Arrangement mit den Machthabern, im Zuge dessen die alten Eliten weitestgehend ihren Einfluss behielten. Eine bewusste Uminterpretation von Tadeusz Mazowieckis damaliger Formulierung vom »dicken Strich« suggeriert zudem, dass die neue Regierung einen Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen und die Verbrechen des Regimes nicht aufgearbeitet habe.23 Diese Delegitimierung der Transformation gipfelte in der Forderung Jarosław Kaczyńskis, dass die Gründung einer »vierten Republik« notwendig sei, um den Einfluss der alten Kader zu brechen. Hier finden sich Gemeinsamkeiten mit populistischen Forderungen in Spanien. Auch ›Podemos‹ tritt für die Neugründung der spanischen Demokratie ein, um die Reste des Franquismus zu beseitigen. Eine ausgehandelte Systemtransformation z­ wischen alten und neuen Eliten leistet offenbar der populistischen Behauptung Vorschub, es habe gar kein Systembruch stattgefunden, sondern die Macht sei unter den Eliten nur neu aufgeteilt worden. Das Gegenbeispiel ist in Portugal zu beobachten. Die Nelkenrevolution als Ereignis und geschichtskultureller Bezugspunkt gibt Narrativen von einer Elitentransformation ohne Beteiligung des Volkes erst gar keinen Raum. Zwar deuten konservative Interpretationen die Nelkenrevolution weniger als Ende der Diktatur Salazars, sondern vor allem als eine Revolution, die in Portugal ein kommunistisches Regime habe etablieren wollen. Das portugiesische Volk habe dies jedoch verhindert und damit die 23 Siehe Claudia Kraft: Pacto de silencio und gruba kreska. Vom Umgang mit Vergangenheit in Transformationsprozessen. In: Hammerstein u. a. (Hrsg.): Aufarbeitung der Diktatur (wie Anm. 6), S.  97 – 107; Joachim von Puttkamer: Der Mythos vom ›dicken Strich‹. Der 24. August 1989 und der Anfang vom Ende der Staatssicherheit. In: Historie. Jahrbuch des Zentrums für Historische Forschung Berlin 7 (2013/14), S. 34 – 66.

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Revolutionen von 1989/90 in Ostmitteleuropa vorweggenommen.24 Die Stabilisierung einer revolutionären Situation durch das Aushandeln eines geordneten Regimewechsels trägt somit offenbar den geschichtskulturellen Keim einer populistischen Delegitimierung bereits in sich. Das dritte Merkmal rechtspopulistischer Vergangenheitsdeutung ist die Einbettung der Diktatur in ein identitätsstiftendes nationales Geschichtsnarrativ. Nationalstaat­lich organisierte Gesellschaften bilden nach wie vor den entscheidenden Rahmen, in dem geschichtskulturelle Debatten geführt und geschichtspolitische Initiativen ergriffen werden.25 Nationen werden als historische Akteure betrachtet, die Opfer von Gewalt und Krieg wurden und daraus die Abwehr jeg­ licher ›Fremdherrschaft‹ als nationale Aufgabe ableiten. Im Zuge einer Viktimi­ sierung, ­welche die Heroisierung als Modus des Erzählens abgelöst hat, wird Identifikation mit den eigenen nationalen Opfern eingefordert.26 Eine selbstkritische Auseinandersetzung mit den Gesellschaftsverbrechen in Diktaturen und die Ausbildung eines negativen Gedächtnisses ist in einem solchen Geschichtsverständnis nicht mög­lich. Nationalistische Narrative stoßen im öst­lichen Europa gerade deshalb auf große Zustimmung, da sie gegen Fragen nach der eigenen Verantwortung immunisieren. In Spanien und Griechenland verfangen sie weniger leicht, da dort die Diktaturen aus Bürgerkriegen hervorgegangen sind. Die schmerzhafte Erfahrung der Spaltung einer Gesellschaft lässt sich durch einen nationalen Opfermythos nicht verdecken. Anders in Katalonien: Dort ist es seit jeher Bestandteil einer nationalen Meistererzählung, ein Opfer spanischer Vorherrschaft zu sein. In Portugal wiederum ist der Fluchtpunkt der nationalen Meisterzählung die Nelkenrevolution, die ebenso wenig zum Opfermythos taugt. Damit fehlt in allen drei südeuropäischen Ländern die Voraussetzung für die Plausibilität nationalistischer Deutungen der Diktatur als Opfererfahrung oder Fremdherrschaft. Insgesamt ist die Situation eher unübersicht­lich und die Entwicklung der europäischen Geschichtskulturen offen. Ostmittel- und Südeuropa eint jedoch, dass die Auseinandersetzung um die jeweiligen Diktaturen und die Systemtransformation 24 Siehe Manuel Loff: 1989 im Kontext portugiesischer Kontroversen über die jüngste Vergangenheit. Die rechte Rhetorik der zwei Diktaturen. In: Etienne François u. a. (Hrsg.): Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich. Göttingen 2013, S. 396 – 426, hier S. 397 – 4 00. 25 Etienne François: Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Europa heute. In: Ders. u. a. (Hrsg.): Geschichtspolitik in Europa seit 1989 (wie Anm. 24), hier S. 542. 26 Martin Sabrow: Die posthistorische Gedächtnisgesellschaft. Bauformen des historischen Erzählens in der Gegenwart. In: François u. a. (Hrsg.): Geschichtspolitik in Europa seit 1989 (wie Anm. 24), S. 311 – 322, hier S. 314 ff.

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zu erheb­lichen Teilen in einer geschichtspolitischen Arena erfolgt. Hier geht es weniger um die Entwicklung eines kritischen Geschichtsbewusstseins als um das Erlangen von Deutungshegemonien, um den politischen Gegner zu diskreditieren und öffent­liche Zustimmung zu generieren. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Systemtransformationen in Ostmittel- und Südeuropa ist wichtig und notwendig. Dort allerdings, wo die Systemtransformation diskreditiert und delegitimiert wird, findet keine Aufarbeitung der Vergangenheit statt, sondern eine Auseinandersetzung um die Demokratie, deren Ausgang offen ist.

4. Europas vergessene Diktaturen? Die Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland stehen quer zu der optimistischen Meistererzählung einer fortschreitenden Demokratisierung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Geschichte einer fortschreitenden europäischen Integration rückt deshalb die Transformation von der Diktatur zur Demokratie in den Fokus. Die Diktaturen selbst, ihre Verankerung im west­lichen Militärbündnis während des Kalten Krieges und – im Fall von Spanien und Portugal – ihre Langlebigkeit stoßen auf weit weniger Interesse. In ­diesem Sinne ist auch die Formulierung ›vergessene Diktaturen‹ zu verstehen. Während in Ostmitteleuropa eine intensive Auseinandersetzung um die kommunistische Vergangenheit stattfindet, die starke Viktimisierungstendenzen aufweist, scheint in Südeuropa die jeweilige diktatorische Vergangenheit kaum Gegenstand gesellschaft­licher Diskussionen zu sein. Welche Auswirkungen hat dies auf die jeweiligen Gesellschaften? Gleichzeitig hat die erfolgreiche Integration von Spanien, Portugal und Griechenland dazu geführt, dass deren diktatorische Vergangenheit auch in Europa weithin in Vergessenheit geraten ist. Anders als in Deutschland, wo die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ein zentraler Bestandteil der demokratischen Geschichtskultur und des nationalen Selbstverständnisses geworden ist, wird das heutige Spanien kaum mit der Franco-­Diktatur, das heutige Portugal kaum mit dem Estado Novo und das heutige Griechenland kaum mit dem Obristenregime in Verbindung gebracht. Gerade die ostmitteleuropäische Perspektive auf Südeuropa führt zu der Frage, in welcher Weise nationale Selbstvergewisse­ rungen auf diktatorische Vergangenheiten rekurrieren und inwieweit dies europa­skeptische Vorstellungen bedingt. Der vorliegende Band will einen Vergleich der Diktaturen in Spanien, Portu­gal und Griechenland in europäischer Perspektive anstoßen. Seine Beiträge zeigen, dass trotz gesellschaft­licher Amnesien und Deckerinnerungen die Diktaturen in

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den drei Ländern selbst weit weniger vergessen sind als im übrigen Europa. Allerdings sind es vorwiegend gesellschaft­liche Akteure, die heute Debatten anstoßen und eine kritische Auseinandersetzung mit der diktatorischen Vergangenheit ihrer Länder einfordern. Diese Initiativen weisen den Weg zu einem europäischen Gedächtnis: nicht im Sinne einer großen europäischen Meistererzählung, sondern im Streben um die Entwicklung eines demokratischen Geschichtsbewusstseins. Am 14. Juni 2017 verstarb Prof. Dr. Dr. h. c. Hans-­Peter Schwarz. Er war von 2002 bis 2013 Vorsitzender des Beirats bzw. des Stiftungsrats der Stiftung Ettersberg. Hans-­Peter Schwarz hat sich in dieser frühen Phase sehr um die Stiftung verdient gemacht. Er setzte sich für ihre Eigenständigkeit und politische Unabhängigkeit ein und erinnerte stets daran, dass sich die Stiftung an der wissenschaft­lichen Qualität ihrer Arbeit messen lassen müsse. Dieser Band ist ihm für seine vielfältige Unterstützung und sein nachhaltiges Engagement in Dankbarkeit gewidmet.

Adam Krzemiński

Das Ende der Hoffnung Europa? Populismus und Nationalismus in postdiktatorischen Gesellschaften

Heute erscheint uns die europäische Idee, die uns alle noch vor einem Vierteljahrhundert beflügelte, angesichts eines ganzen Bündels an Krisen schwach und amorph: Zu den Gründen gehören der Brexit, die Schuldenkrise in der Eurozone, für die exemplarisch die Griechenlandkrise steht, und die hybride Aggressivität Russlands: Russland, das völkerrechtswidrig die Krim annektierte und den Regionalkrieg in der Ostukraine schürte sowie mit seinem dreisten Auftreten in Syrien und der Aufstellung der neuen Mittelstreckenraketen quasi eine Neuauflage des alten Streits um den NATO-Doppelbeschluss – Reden mit Moskau und gleichzeitig Nachrüsten – im Westen provoziert. Hinzu kommt der Dissens innerhalb der EU um die Flüchtlingspolitik wie auch um die Errichtung ›illiberaler Demokratien‹ in den ostmitteleuropäischen EU-Mitgliedstaaten Ungarn und Polen. Das sind Indizien einer viel tiefergreifenden Zeitenwende nicht allein im Westen, sondern in der gesamten nörd­lichen Hemisphäre – von Sachalin bis Seattle, um nicht Vancouver und Wladiwostok zu bemühen, denn Kanada scheint glück­ licherweise stabiler als die USA in sich zu ruhen. Wenn man sich Donald Trump in den USA anschaut, desgleichen Putin in Russland, die Damen Le Pen in Frankreich und Frauke Petry hier in Deutschland sowie Jarosław Kaczyński in Polen und Viktor Orbán in Ungarn und sie mit Bush senior, Gorbatschow, Mitterrand, Joachim Gauck, Lech Wałęsa, Tadeusz ­Mazowiecki, Bronisław Geremek und dem Viktor Orbán des Jahres 1989 vergleicht, dann sieht man, dass wir uns heute von Seattle bis Sachalin eben mitten in einer nationalkonservativen Konterrevolution befinden; und dass die nationalautoritären ›Ideen des Jahres 2016‹ in krassem Gegensatz zu den liberaldemokratischen ›Ideen des Jahres 1989‹ stehen. Nur um Missverständnisse zu vermeiden: Im vorliegenden Beitrag soll keine Neuauflage der Marx’schen Gesetzmäßigkeiten der Geschichte präsentiert werden. Seine Geschichtsphilosophie mit dem unausweich­lichen Absterben des Staates und dem Aufgehen des siegreichen Proletariats im Nirwana der kommunistischen Erlösung war ein Hirngespinst. Dennoch zeigt sogar ein flüchtiger Blick auf die europäische Geschichte der letzten 250 Jahre, dass es etwa im

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Vierteljahrhunderttakt – vielleicht auch generationsbedingt – starke ideologische und mentale Pendelausschläge gibt. Rund ein Vierteljahrhundert nach der Erstürmung der Bastille und dem Ausbruch der Französischen Revolution 1789 gab es nach den Napoleonischen Kriegen den Wiener Kongress und die konservative Restauration unter den Fittichen der reaktionären Heiligen Allianz. 25 Jahre nach dem Völkerfrühling 1848 wiederum wurde Europa nicht zuletzt durch die deutschen Vereinigungskriege erneut heftig durchgeschüttelt und geriet mit der Errichtung des Deutschen Kaiserreiches durch Bismarck in eine neue Schieflage, was dann zur ›Explosion‹ führen sollte. Diese Sprünge im Vierteljahrhunderttakt fielen mir gerade in diesen Tagen beim Blick auf die deutsch-­polnische Geschichte der letzten einhundert Jahre besonders stark auf. Am 5. November 1916 kündigten die beiden ­Kaiser Wilhelm II. und Franz Josef die Gründung eines amorphen, polnischen Vasallenstaates, eines ominösen ›Königreiches Polen‹ an. 25 Jahre später, 1941, war der polnische Staat durch deutsche und sowjetische Armeen erneut zerschlagen worden und die Deutschen standen kurz davor, Moskau zu erobern. Wiederum 25 Jahre später – 1966 – war Deutschland durch eine Mauer in Berlin gespalten, Polen begann 70 Kilometer weiter öst­lich, und Kirchenleute, Intellektuelle und Politiker probten Vergebung, Dialog und Anerkennung der Nachkriegsrealitäten. 1991 dann – nur 25 Jahre ­später – gab es die Sowjetunion nicht mehr, während das vereinigte Deutschland und das freie Polen eine Interessengemeinschaft verband. Und 2016 nun – 25 Jahre nach dem deutsch-­polnischen Freundschaftsvertrag – befinden wir Nachbarn uns wieder in einem anderen Ambiente. 1989 war es unsere ostmitteleuropäische Revolution, weder eine deutsche – obwohl Wolfgang Schuller sein Buch über den Zusammenbruch der DDR so betitelte 1 – noch eine polnische, obwohl der Beitrag der Solidarność und des Runden Tisches, jenes ursprüng­lich für den Gipfel des Warschauer Paktes gezimmerten ›polnischen Möbelstücks‹, unübersehbar war. Diese Revolution hatte auch viele Väter und Bürgerbewegungen genauso wie die von Hans ­Magnus Enzensberger aufgezählten »Helden des Rückzugs« 2 – von ­Gorbatschow über Jaruzelski bis hin sogar zu Honecker, obwohl ausgerechnet Honecker am wenigsten zur Machtabgabe der Kommunisten beigetragen hatte. Er klammerte sich an sie wie die klassischen Stalinisten. Ansonsten spielten sowohl der polnische Papst als auch der amerikanische Präsident, der 1989 entschiedener als Helmut Kohl die mög­liche Bewegung in der ›deutschen 1 Wolfgang Schuller: Die deutsche Revolution 1989. Berlin 2009. 2 Hans Magnus Enzensberger: Die Helden des Rückzugs. In: Frankfurter Allgemeine ­Zeitung, 9. Dezember 1989.

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Frage‹ wahrnahm und zugleich während seines Warschaubesuches im Juli 1989 General Jaruzelski drängte, sich doch für den Posten des Staatspräsidenten zu bewerben, damit die polnische Machtrochade in Moskau abgesichert werden konnte, dabei eine wichtige Rolle. 1989 kam es zu ›unserer ostmitteleuropäischen Revolution‹, die aber keineswegs nur eine regionale Bedeutung hatte. Sie war ja auch ausdrück­lich ein Korrektiv sowohl der französischen Revolution von 1789 mit ihrer Guillotine als auch der russischen mit ihren Massenmördern von der GPU und dem späteren Gulag-­System. Es stimmt nicht, dass sie ledig­lich eine »nachholende Revolution« gewesen sei, die die Ostmitteleuropäer vom Holzweg des poststalinistischen Staatssozialismus auf die historisch zuverlässige Rollbahn der liberalen Demokratie zurückgeführt habe.3 Aber es stimmt, dass es sich um eine liberaldemokratische und von der Europaidee beflügelte Revolution handelte, die – selten in der europäischen Geschichte – einen fried­lichen Systemwechsel, wenn man einmal von der abscheu­lichen Hinrichtung des Ehepaars Ceaușescu absieht, zustande gebracht hat. Das sich im Westen vereinende Europa war in dieser, ›unserer‹ Revolution des Jahres 1989 der entscheidende Fluchtpunkt – mit Ausnahme vielleicht der DDR, wo die Europäische Idee weder in der sich spät formieren Bürgerbewegung noch bei der SED-Führung eine Rolle spielte, weil sie durch die blockierte nationale Frage gar nicht entwickelt wurde. Für die Bürgerbewegung spielte auch weniger die Solidarność mit ihrer sozialliberalen Wucht eine Rolle als – zeitverschoben – der Prager Frühling mit seiner Illusion eines ›Sozialismus mit mensch­lichem Antlitz‹. Für die SED-Oberen dagegen war nicht das vereinte Europa der Fluchtpunkt, sondern der Bogen ­zwischen Moskau und Bonn. Die DDR hatte nie ein Gegenstück zum ›Rapacki-­Plan‹, also einer gemeinsamen militärisch verdünnten Zone in Mitteleuropa entlang des Eisernen Vorhangs, entwickelt. Man betonte dort eine ›deutsch-­deutsche Verantwortung‹, die nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan und dem Ausfall der VR Polen als europäischer Partner infolge der Verhängung des Kriegsrechts gegen die Solidarność de facto nur die deutsch-­deutsche Entspannung vor einem erneuten Einbruch des Kalten Krieges und einer Blockade der deutsch-­deutschen Kontakte angesichts des NATODoppel­beschlusses retten sollte. Die Westdeutschen profitierten durch die Europäische Idee in den 1950er und 1960er Jahren nicht nur von der touristischen Öffnung der attraktiven Mittel­ meerländer, sondern auch von der Rückkehr nach Europa nach der absoluten

3 Siehe Jürgen Habermas: Die nachholende Revolution. Frankfurt a. M. 1990.

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militärischen und moralischen Niederlage des Zweiten Weltkrieges. Die deutsch-­ französische Versöhnung der 1960er Jahre war eben etwas grundsätz­lich anderes als die verordnete ›Freundschaft z­ wischen den sozialistischen Bruderländern‹. Die Europäische Idee half den Westdeutschen, den diskreditierten Chauvinismus des ›Dritten Reiches‹ abzustreifen und immer selbstbewusster europaweit aufzutreten. Die Deutschen in der DDR brauchten diese ›Selbsteuropäisierung‹ nicht. Sie hatten die Sehnsucht und sahen ihren Fluchtpunkt im westdeutschen Pass und in der D-Mark. In Polen rief man 1989: »Wir kehren zurück nach Europa«, in der DDR zuerst: »Wir sind das Volk«, und dann: »Wir sind ein Volk«. Dass die Europäische Idee in den neuen Bundesländern unerheb­lich war, erwies sich am 1. April 1991, als nach der Vereinigung die Visumpf­l icht für Polen aufgehoben wurde und die Busse mit polnischen Touristen, oder meinetwegen auch Arbeitstouristen, mit Baseballschlägern und Steinen begrüßt wurden. Das blieb aber zum Glück nur eine Episode. Denn alles in allem verlief die Öffnung der Grenze zu Polen, wie übrigens auch die EU-Osterweiterung 2004, ohne große Perturbationen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Und auch sonst konnten deutsch-­ polnische Spannungen, wie sie etwa in den Nullerjahren um die Musealisierung der Vertreibungen und Ansprüche der Vertriebenen oder um die Ostseegaspipeline entstanden, den durch kontinuier­liche Meinungsforschung nachweisbaren Zuwachs an gegenseitiger Sympathie und Vertrauen infolge der immer stärkeren deutsch-­polnischen Vernetzung von unten, jenseits der institutionellen Verbindungen, nicht bremsen. Trotzdem ist unser Thema ›Populismus und Nationalismus in postdiktatorischen Gesellschaften‹ keineswegs aus der Luft gegriffen. Nur betrifft es, das muss vorausgeschickt werden, keineswegs allein die ostmitteleuropäischen ›Neuzugänge‹ in der EU , die als Mitgift in das vereinte Europa eben nicht nur die liberaldemokratische Revolution des Jahres 1989, sondern auch eine 40-jährige Prägung durch den Stalinismus und den poststalinistischen ›Realsozialismus‹ einbrachten.

1. Die doppelte Hoffnung auf Europa 1945 und 1989 Bei allen Überlegungen über den europäischen Populismus und Nationalismus heute darf man nicht vergessen, dass bis 1945 in den meisten europäischen Staaten die parlamentarische Demokratie nicht nur infolge der deutschen Eroberungen weitgehend gescheitert war. Eine Ausnahme bildeten eigent­lich nur Großbritannien, Irland, Schweden, Dänemark und die Schweiz. Selbst Frankreich hatte mit der faschistoiden ›Action française‹ und Pétains révolution nationale einen starken

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autoritären Bodensatz, der sich heute – wie Emmanuel Todd nachgewiesen hat – mit den autoritären Sehnsüchten der FPK in Marine Le Pens ›Front National‹ vermengt und seltsame Blüten treibt.4 Die heutige Demokratie in der EU ist keineswegs ein Kind gestandener europä­ ischer Liberalität. Sie ist das Ergebnis eines schänd­lichen europäischen Sündenfalls: des genozidalen Weltkrieges, der im September 1939 in Europa von zwei totalitären und revisionistischen Mächten einvernehm­lich (siehe den Hitler-­Stalin-­Pakt) begonnen wurde und nach dem Überfall Hitler-­Deutschlands auf die UdSSR 1941 durch den Sieg einer widersprüch­lichen Koalition – der liberalen angelsächsischen Staaten mit der Sowjetunion – über das ›Dritte Reich‹ und mit dem Vormarsch der stalinistischen Diktatur in Ostmitteleuropa endete. Nur in Westeuropa, das die Angelsachsen befreiten, war eine freiheit­liche parlamentarische Demokratie mög­lich. »Ohne die Angelsachsen hätten wir eine Demokratie nicht zustande gebracht. Sie haben uns bei der Hand genommen und gesagt, so müsst ihr das machen«, sagte mir Gräfin Dönhoff 1986 in einem Gespräch für die Polityka.5 Man sollte nicht vergessen, dass sich Westdeutsche, Franzosen – trotz mehr oder weniger starken Widerstandes im Krieg – und Italiener ihre Demokratie und Belgier oder Niederländer ihre Freiheit nicht selbst erkämpft hatten. Im Westen wurde sie mög­lich gemacht, weil Engländer und Amerikaner auf dem Festland gelandet waren und gegen Deutschland vorrückten. Weil in Ost- und Ostmittel­ europa die Rote Armee siegreich war – darunter auch Offiziere wie Marschall Timoschenko, der im September 1939 gemeinsam mit der deutschen Wehrmacht mit einer Armeeparade den Sieg über Polen gefeiert hatte –, wurde den ostmitteleuropäischen Ländern inklusive der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands eine ›Volksdemokratie‹ verpasst, die sich für eine Diktatur des Proletariats hielt und die unkontrollierte Herrschaft der Einheitspartei bedeutete. Die EU, die wir haben – ob doch oder noch, wird sich demnächst zeigen –, hat eigent­lich drei Gründungsakte: zuerst den Sieg über Hitler-­Deutschland, für den das Bewusstsein des Völkermordes vor allem an den europäischen Juden, aber nicht allein an ihnen, steht. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft war eine Antwort auf den Weltkrieg, aber auch auf den Kalten Krieg, der seine Folge war. Und sie war auch eine Antwort auf die Ablehnung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft durch das französische Parlament. 4 Emmanuel Todd: Wer ist Charlie? Die Anschläge von Paris und die Verlogenheit des W ­ estens. München 2016. 5 Adam Krzemiński: Lekcje dialogu. Mowy, eseje, i wywiady (Grass, Weizsäcker, Dönhoff, Habermas, Winkler, von Thadden i inni) [Unterrichtsstunden. Reden, Essays, und Interviews (Grass, Weizsäcker, Dönhoff, Habermas, Winkler, von Thadden und andere)]. Wrocław 2010.

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Als zweiter Gründungsakt ist die Versöhnung von Deutschen und Franzosen, also der ehemaligen Erbfeinde, anzusehen. Allerdings wird dabei oft außer Acht gelassen, dass es sich um einen Zusammenschluss von zwei Verlierern des Zweiten Weltkrieges handelte: Der eine – Deutschland (in dem Falle Westdeutschland) – war der absolute, Frankreich dagegen der faktische Verlierer. Denn durch das Desaster im Juni 1940 hatte Frankreich unwiderruf­l ich seine Rolle als Ordnungsmacht in Europa verloren, und es war weder in Jalta noch in Potsdam vertreten. Es bekam zwar eine aus der amerikanischen herausgeschnittene Besatzungszone in Deutschland, doch weder der Mythos de Gaulles noch der Résistance konnte Frankreich das alte Eigengewicht wiedergeben. Eine Bündelung der Kräfte war für die lädierten Westeuropäer die einzige Chance, sich unter dem amerikanischen Atomschild wirtschaft­lichen Aufschwung und regionale Geltung in der großen Ost-­West-­Konfrontation zu sichern. Das Bekenntnis zur freiheit­lichen parlamentarischen Demokratie war die Voraussetzung. Doch auch sie war nicht immer lupenrein, wenn man an die Rückkehr de Gaulles an die Macht 1958 und den OAS-Putsch 6 denkt. Tatsache aber ist, dass eine funktionierende parlamentarische Demokratie die Voraussetzung für eine Aufnahme in die EWG und später die EU wurde. Mit ihrer nach und nach florie­ renden Wirtschaft wurde sie zum begehrten Ziel für jene Staaten und Völker, die seit Jahrzehnten – wie Spanien oder Portugal, aber auch Griechenland nach dem Putsch der ›Schwarzen Obristen‹ – faschistoide oder autoritäre Regierungs­ formen gehabt hatten. Und der dritte Gründungsakt der EU schließ­lich war der späte Sieg der Ostmitteleuropäer 1989 über das Sowjetsystem. Selbst wenn man Gorbatschows Rolle bei der fried­lichen Demontage des poststalinistischen Systems würdigen muss, die Freiheit verdanken die Ostmitteleuropäer nicht dem ›guten Zaren‹ in Moskau, sondern ihrem beharr­lichen Druck von unten und der Anziehungskraft des Westens, der das Gesicht der Sicherheit unter dem Schirm der NATO sowie der freiheit­lichen Verfassung und Wohlstandes der EWG -Mitglieder hatte. Es gab nach dem Zerfall des Kommunismus keinen einzigen Staat – außer Weißrussland – den es nicht nach Westen, in die euroatlantischen Strukturen, gedrängt hätte.

6 OAS = Organisation de l’armée secrète (deutsch: Organisation der geheimen Armee) war eine französische Untergrundbewegung, die während der Endphase des Algerienkrieges (1954 – 1962) mit Gewalt verhindern wollte, dass der französische Staatspräsident Charles de Gaulle die französische Kolonie in die Unabhängigkeit entließ. Am 22. April 1961 rief die Organisation in Algerien einen Staatsstreich aus, der allerdings nach fünf Tagen zusammenbrach.

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2. Ziele unterschied­licher Reichweite? Die Wurzeln der Euroskepsis in der Erweiterung nach 1989 Doch allmäh­lich kommt in der EU eine Generation zu Wort, für die diese drei Gründungsakte ›Schnee von gestern‹ sind. Für die jungen Leute, die um 1989 geboren wurden, stellt der 9. November oft die erste politische Generationserfahrung dar, die zweite ist die hohe Jugendarbeitslosigkeit und die dritte die so genannte Flüchtlingswelle. Und das dreht für sie die Landkarte Europas um. Nicht mehr die klassische Ost-­West-­Achse scheint für viele im Vordergrund zu stehen, sondern die Nord-­Süd-­Achse; und zwar nicht erst durch die ›Balkanroute‹ der Flüchtlingsströme aus Syrien, Afghanistan und Nordafrika, sondern schon früher – aus Neugier nach unbekannter Nähe und Ermüdung über die bekannte Fremde im Westen. Das jedenfalls stellt Przemysław Czapliński in seiner Analyse der polnischen Belletristik nach 1989 fest: Polnische Autoren interessieren sich seiner Meinung nach eindring­licher für Skandinavien, Ungarn oder Tschechien als für Russland, Deutschland, Frankreich und Großbritannien.7 Die angeb­liche ›Umdrehung der Landkarte‹ kann jedoch insofern irreführend sein, als es inzwischen eine reichhaltige Literatur deutschstämmiger Polen oder Deutscher gibt, die exzellent Polnisch gelernt haben und auf Deutsch über die deutsch-­polnische Beziehungskiste schreiben – um nur die Romane von Artur Becker, Steffen ­Möllers witzige Alltagsgeschichten oder Matthias Kneipps Essays 111 Gründe, Polen zu lieben zu erwähnen.8 Und dennoch scheint es in Ostmitteleuropa diese ›Umdrehung‹ der politischen Landkarte durchaus zu geben. Mit Viktor Orbáns ›illiberaler Demokratie‹ in Ungarn und der ›Achse‹ Warschau-­Budapest nach dem Sieg der Partei Recht und Gerechtigkeit bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2015 betonten nationalkonservative Politiker in Polen den Vorrang des ›Intermariums‹ ­zwischen der Adria, dem Schwarzen Meer und der Ostsee. Die EU-Nachzügler 7 Przemysław Czapliński: The Remnants of Modernity. Two Essays on Sarmatism and Utopia in Polish Contemporary Literature (Modernity in Question. Studies in Philosophy, Sociology and History of Ideas, 6). Frankfurt a. M. 2015. 8 Siehe Artur Becker: Kosmopolen. Auf der Suche nach einem europäischen Zuhause. Essays. Frankfurt a. M. 2016; Artur Becker: Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang. Frankfurt a. M. 2013; Artur Becker: Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken. Frankfurt a. M. 2008; Steffen Möller: Viva Warszawa. Polen für Fortgeschrittene. München 2016; Steffen Möller: Viva Polonia. Als deutscher Gastarbeiter in Polen. Frankfurt a. M. 42013; Steffen Möller: Expedition zu den Polen. Eine Reise mit dem Berlin-­Warszawa-­Express. München u. a. 2013; Matthias Kneip: 111 Gründe, Polen zu lieben. Eine Liebeserklärung an das schönste Land der Welt. Berlin 2015.

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aus Ostmittel- und Südosteuropa sollten danach zu einer pressure group in der EU werden, während dem deutsch-­polnisch-­französischen Weimarer Dreieck eine untergeordnete Rolle zugeschrieben wurde. Die Rückendeckung, die Warschau in seinem Streit mit Brüssel um die Aushöhlung der Gewaltenteilung in Polen aus Budapest erhielt, bekräftigte den Anschein eines ›Umdrehens‹ der politischen Karte, zumal nach der brüsken Stornierung eines polnischen Hubschrauber­ deals mit Frankreich auch das Gipfeltreffen der ›Weimarer‹ Regierungschefs zum Abschluss der ›Silberhochzeitsfeiern‹ dieser europäischen Ménage-­à-­trois abgesagt wurde. Angesichts des Brexit und des Dissenses in der Flüchtlingsfrage konnte es tatsäch­lich danach aussehen, als schwinde die Hoffnung auf ein vereintes Europa dahin. Und man konnte auch in polnischen nationalkonservativen Medien mühelos hämische Genugtuung darüber finden, dass man nun end­lich dem ›Brüsseler Diktat‹ Paroli biete. Doch zugleich war den Verlautbarungen der PiS-Politiker Verunsicherung und eine relevante Selbstkorrektur zu entnehmen. Mit dem ­Brexit kam ihnen der strategische Partner abhanden, der ihre Vorstellung von einer eher losen EU statt einer ›immer engeren Union‹ teilte. Und im Europäischen Parlament fanden sie sich plötz­lich vereinsamt, zwar in demselben Klub wie die AfD, aber sonst keiner anderen einflussreichen Partei. Und die Wende war unübersehbar. Bereits Andrzej Duda fand während seines Antrittsbesuches in Berlin, anders als sonst die PiS, warme Worte für den west­lichen Nachbarn. Dann aber sagte auch der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński, der um Seitenhiebe gegen die »deutsche Hegemonie« nie verlegen war, überraschend, auch er würde Angela Merkel wählen.9 Und er bremste schnell Hitzköpfe in seiner Partei, die nach dem Brexit auch von einem Polexit zu faseln begannen; faseln deshalb, weil nach Meinungsumfragen unverändert eine satte Mehrheit der Polen die EU-Mitgliedschaft eindeutig unterstützt, und zwar nicht nur wegen der pekuniären Pfründe, sondern auch wegen der Freizügigkeit und – nicht zuletzt – weil sie in Brüssel doch eine normgebende Instanz sieht. Die europäischen Institutionen genießen näm­lich in Polen größeres Ansehen als die nationalen. Woher kommt dann der Sieg der Euroskeptiker? Eine gescheite Antwort ­darauf gibt Thomas Schmid, der ehemalige Chefredakteur der Welt in seinem gerade erschienenen Buch Europa ist tot, es lebe Europa. Eine Weltmacht muss sich neu erfinden. Mehr als ein Drittel der heutigen EU-Mitgliedstaaten gehörte vor 1989 9 Siehe dazu das Interview von Jarosław Kaczyński mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. Februar 2017 unter dem Titel »Eine Atom-­Supermacht Europa würde ich begrüßen«. Abgerufen unter URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/polen-­kaczynski-­macht-­ werbung-­fuer-­angela-­merkel-14859897.html, letzter Zugriff: 08. 09. 2017.

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dem sowjetischen Einflussbereich an. Ihre EU-Mitgliedschaft »lag nicht in der Logik der alten europäischen Einigung. Sie kamen aus einer anderen Zeit und einer anderen Geschichte«.10 Die Sechsergemeinschaft stellten – mit Ausnahme Luxemburgs – nach dem Krieg deklassierte frühere Kolonialmächte. Die EWG war somit eine »Notgemeinschaf von Nationen, die in ihrer Bedeutung geschrumpft waren«.11 Die ›Neuzugänge‹ von 2004, 2007 und 2013 waren dagegen jahrhundertelang Parias der europäischen Geschichte gewesen, mal majorisiert, mal kolonisiert und ihrer Staat­lichkeit beraubt. Die alte EU sandte an sie nach 1989 nur eine Botschaft: Akzeptiert unsere Regeln und tretet ein! Die besondere Verfasstheit dieser Staaten – bemerkt Schmid – und ihr Bedürfnis nach nationaler Souveränität spielte dabei keine Rolle. Die paragraphenkundigen EU-Handwerker gingen mit beträcht­licher kultureller Ahnungs­ losigkeit vor. Obwohl doch jeder weiß, dass es die longue durée wirk­lich gibt, und kulturelle Prägungen sich nicht per Proklamation, sondern nur langsam im Lebenstakt wirk­licher Menschen verändern, glaubte man, die neuen Mitgliedern hätten mit ihrem Beitritt das volle Programm verinner­licht – von Menschenrechten über Minderheitenrechte, bis hin zu dem verästelten Verbots- und Gebotswerk des Genderansatzes.12

Thomas Schmid warnt vor einer Arroganz des Westens, insbesondere der Deutschen, im Umgang mit den Ostmitteleuropäern. Selbst wenn beispielsweise ein EU-Prüfungsprozess gegenüber einem Mitgliedstaat legitim sei, hält Schmid es für »eine grobe Instinktlosigkeit, dass ausgerechnet ein deutscher Kommissar Polen unter Aufsicht stelle möchte«.13 Die PiS-Regierung bewege sich an der äußersten Grenze dessen, was in der EU akzeptiert werden könne, aber sie setze nur fort, was – frei­lich etwas milder und verbind­licher – auch die in Deutschland so geschätzte Vorgängerregierung (Schröder) betrieben hatte. Auch diese sah in der EU nicht so sehr einen Club des Teilens und der wechselseitigen Verpf­lichtungen, als vielmehr ein nach außen schützendes Dach, unter dem Polen die Existenz eines fried­lichen Nationalstaates führen kann. Es so zu sehen liegt ganz in der Logik der polnischen Geschichte.14

10 Thomas Schmid: Europa ist tot, es lebe Europa! Eine Weltmacht muss sich neu erfinden. München 2016, S. 116 f. 11 Ebd., S. 117. 12 Ebd., S. 118. 13 Ebd., S. 119. 14 Ebd.

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Die Bundesrepublik, Italien, auch das Frankreich von Pétain, das mehrheit­liche Frankreich also, wollten ihre Vergangenheit durch das vereinte Europa übertünchen. ›Souveränitätsgewinn durch Souveränitätsverzicht‹ hieß es bei Adenauer. Dies war für die Ostmitteleuropäer nicht selbstverständ­lich. Die Polen lagen zwar 1989 wirtschaft­lich am Boden, aber in einer völlig anderen mentalen Kondition als die Deutschen 1945. Sie waren keine Geschlagenen, die sich in die Europä­ ische Idee einhüllen mussten. Sie waren stolz auf ihren Beitrag zum Niederringen des Kommunismus, hielten es für eine Fortsetzung ihres Widerstandes im Krieg und sahen keinen Grund für eine reeducation durch die EU. Mir san mir! Keine Zentralen für Politische Bildung bitte! Über unsere politische Kultur entscheiden wir und keine Politkommissare! Das heißt nicht, dass man sich 15 Jahre lang – also während der Beitrittsverhandlungen – verstellt hätte. Nein. Man sah in der EU nicht nur ein Vehikel des wirtschaft­lichen Aufstiegs, sondern durchaus auch der politischen und gesellschaft­ lichen Modernisierung des Landes. Die EU war mehr als ein Fluchtpunkt. Sie war auch eine disziplinierende Instanz. Wieder einmal ein Unterschied zu unserem ›Brudervolk‹ der ehemaligen DDR. Sie waren ja EU-Bürger geworden, ohne auch nur den kleinen Finger für Europa gerührt zu haben. Wir, Polen, Ungarn, Rumänen, mussten und wollten uns Europa zuliebe im Zaum halten. Zum Glück, denn dadurch wurden auch manche Konvulsionen unterbunden, die in Jugoslawien zu blutigen ethnischen Säuberungen führten. Man kann sogar die These wagen, mit einer EU -Perspektive für Jugoslawien wäre der Krieg vielleicht verhindert worden: Die Transformationsenergie, die sich in den Bruderkämpfen austobte, wäre dann womög­lich in den Umbau der jugoslawischen Föderation und in die Übernahme des acquis communautaire der EU umgeleitet worden.

3. Die Rückkehr des Nationalismus aus dem Geist des Antiliberalismus Ein Vierteljahrhundert nach 1989 und über zehn Jahre nach der Aufnahme der ostmitteleuropäischen Staaten in die EU verstehen sich die nationalkonservativen Regierungen in Ungarn und Polen als Avantgarde in einem neuen ›Kulturkampf‹ gegen das ›linke Politikkonzept‹. Der polnische Außenminister Witold Waszczykowski formulierte in seinem Gespräch mit der Bild-­Zeitung: Falsch sei die Vorstellung der Liberalen, »als müsse sich die Welt nach marxistischem Vorbild automatisch in nur eine Richtung bewegen – zu einem neuen Mix von Kulturen und Rassen, eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die nur noch auf erneuerbare Energien setzen und

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gegen jede Form der Religion kämpfen. Das hat mit traditionellen, polnischen Werten nichts mehr zu tun.« 15 Die ›konservative Revolution‹ in Ostmitteleuropa richtet sich nicht allein gegen die linksliberalen ›Ideen von 1968‹, sondern auch gegen die ›Ideen von 1989‹ einer moderaten Machtrochade. Sowohl Jarosław Kaczyński als auch Viktor Orbán delegitimieren den Umbruch als ein Techtelmechtel der Eliten am Runden Tisch, der eine verfilzte und korrupte Hybride geschaffen habe. Bereits 2005 führte die ›PiS‹ den Wahlkampf mit der Ankündigung einer Dritten Republik (als die Zweite gilt Vorkriegspolen, als Erste die Adelsrepublik vor den Teilungen im 18. Jahrhundert). Die Demontage Lech Wałęsas als eines angeb­lichen IM diente nicht nur der Hervorhebung der Rolle Lech Kaczyńskis, sondern einer Umdeutung der Geschichte der Solidarność und der Transformation danach. Etwas Ähn­liches kündigte auch Viktor Orbán 2010 an: Wir, Ungarn des 21. Jahrhunderts, haben die Chance, bei den Wahlen am 11. April unsere eigene Revolution zu machen […]. Die kommenden Wahlen werden ›unsere Revolution‹ sein, ­welche die Nation wieder vereinigen und schnelle, vorhersehbare und verfassungsrecht­liche und damit sichere Veränderungen bringen wird, ohne Verluste an Menschenleben.16

Diese ›unsere eigene Revolution‹ knüpft bewusst nicht an die ›Ideen des Jahres 1989‹ an – als eines freiheit­lichen ›Völkerherbstes‹, der europäischen Vereinigung, der ›deliberativen Demokratie‹ am Runden Tisch im Inland und der frenetischen Versöhnungskultur mit den Nachbarn. Die konservative Revolution hebt dagegen den ›gesunden nationalen Egoismus‹ hervor und verkündet das ›Ende der Schamkultur‹ – der wiederholten Schuldbekenntnisse und des gefeierten ›Versöhnungskitsches‹. Die Nation solle Stolz und Würde ausstrahlen, indem sie sich ›von den Knien erhebt‹. Und vor allem: Sie operiert mit klaren Freund-­Feind-­Schemata, indem Gegner als Agenten fremder Mächte, abgehalfterte Nutznießer des soeben gestürzten Machtklüngels oder einfach als ›Polen minderer Sorte‹ gebrandmarkt werden. Beliebter Staatsphilosoph dieser konservativen Revolution ist Carl Schmitt, und die intellektuelle Stoßrichtung gilt der Aufklärung, die der intellektuelle Ursprung von Gulag, Auschwitz und Hiroshima – der

15 Haben die Polen einen Vogel? Bild-­Interview mit Polens Außenminister. In: Bild.de vom 3. Januar 2016. Abgerufen unter URL: http://www.bild.de/politik/ausland/polen/hat-­die-­ regierung-­einen-­vogel-44003034.bild.html, letzter Zugriff: 13. 09. 2017. 16 Zitiert nach: Árpád von Klimó: Ungarn – Zeitgeschichte als moderne Revolutions­geschichte. In: Docupedia-­Zeitgeschichte. Abgerufen unter URL: http://www.docupedia.de/zg/Ungarn_-_ Zeitgeschichte_als_moderne_Revolutionsgeschichte, letzter Zugriff: 13. 09. 2017.

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drei Erbsünden des 20. Jahrhunderts – gewesen sei. Dass die Dialektik der Aufklärung nach Adorno und Horkheimer nicht nur die »rätselhafte Bereitschaft der technologisch erzogenen Massen«,17 sich dem Despotismus der totalitären Ideologien und Herrschaftsformen auszuliefern, bedeutet, sondern auch Kants ›weltbürger­liche Absicht‹ als Grundlage eines republikanisch verstandenen ›ewigen Friedens‹ beinhaltet, wird von den spin doctors der konservativen Revolution in Ungarn und Polen gerne unterschlagen. Dies ist keineswegs nur eine akademische Debatte, sie ist längst in immer stärker vom Staat unterstützte nationalkonservative Medien übergeschwappt und untermauert philosophisch den ganz bodenständigen Populismus, der mit plumpen Faustregeln wie »Das Hemd ist mir näher als der Rock« und »Die da oben beklauen uns, und die Lügenpresse verheim­licht es«, egoistische Nabelschau, Angst und Hass schüren. Die starke Emotionalisierung der sozialen Medien verstärkt dann die verkürzte Polarisierung. Die neuen Medien bevorzugen eine rüde Sprache als Ausdruck von Authentizität, die die vermeint­lich verlogene ›politische Korrektheit‹ desavouiert. Nicht Knigges aufgeklärter Umgang mit Menschen, sondern die Fähigkeit, in hate speech ›die Sau raus zu lassen‹, wird medial prämiert. Die autoritäre Wende in Ungarn 2010 und Polen 2015 ist kein ostmitteleuropäisches Phänomen, es genügt, auf Haiders Österreich, Geert Wilders Niederlande, auf das England der Brexiteers oder auf das Frankreich Marine Le Pens zu blicken, und vor allem auf Putins Russland, das ja auch in der EU seine Sympa­ thisanten hat. Das Plakat Putin hilf ! bei der Dresdner Pegida-­Demonstration war ja ein Hohn auf die Parole Gorbi hilf ! der Ostberliner am 4. Oktober 1989. Auch wenn es eine gezielte Provokation der ›Ewig-­Gestrigen‹ war, die immer noch der scheinbaren Stabilität des ›Realsozialismus‹ nachtrauern, fügte sie sich nahtlos in die revisionistische Behauptung Putins ein, der Zerfall der UdSSR sei die »größte geostrategische Katastrophe« des 20. Jahrhunderts gewesen.18 Nicht der Erste oder der Zweite Weltkrieg, sondern die Demontage des sowjetischen Zwangssystems! Zugleich aber gibt es die These, die der namhafte Russlandkenner Karl ­Schlögel vertritt, dass es in Russland nie einen Richtungswechsel gegeben habe, weil seit den 1980er Jahren ein harter Kern innerhalb des Sicherheitsapparats auf die 17 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M. 2003 (Erstausgabe 1944), S. 3. 18 Siehe dazu Putins Rede zur Lage der Nation vom April 2005. Kommentiert in: »Eine Frage der Glaubwürdigkeit«. In: Die Zeit, 27. April 2005. Abgerufen unter URL: http://www.zeit. de/2005/17/Putin_Rede, letzter Zugriff: 08. 09. 2017.

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Rückeroberung der Kontrolle hingearbeitet habe.19 Doch die Rückkehr Putins ins Präsidentenamt 2012 in Absprache mit Dmitri Medwedew war eine Grenzüberschreitung. Auf Massendemonstrationen und Kundgebungen reagierte Putin mit scharfen Repressionen. Er verspielte die goldenen Jahre der hohen Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport, indem er spendabel umverteilte, es aber verpasste, die Wirtschaft und Infrastruktur zu modernisieren. »Und nun, wo die Zeiten schwieriger sind, Öl- und Gaspreise auf dem Weltmarkt gefallen sind, hat er nichts zu bieten und flüchtet sich in Fantasiegebilde von der Bedrohung Russlands. Er braucht ein Feindbild, er muss es stets am Laufen halten und immer neue Eskalationsstufen zünden.« 20 Es sei kein Rückfall in den Kalten Krieg mit seiner Symmetrie der Supermächte, sondern eher ein Rückfall in die multipolare Welt der 1920er und 1930er Jahre, meint Schlögel, in der Putin eine »negative Integration« Russlands betreibe. Er erfindet immer neue Feinde: den aggressiven Westen, die USA, Europa und dann auch die angeb­lich von Faschisten regierte Ukraine. Zudem werden alle, die im Land noch unabhängig agieren, gebrandmarkt. Kreative, unternehmerische Menschen resignieren oder verlassen gar das Land. Zugleich aber finden viele Aufsteiger, die die durch den Braindrain frei gewordenen Stellen besetzen konnten, Putin toll. Und für die Massen in der Provinz, wo sich die Lebensbedingungen verschlechtert haben, kompensiert der wiedergewonnene Weltmachtstatus die Einbußen. Die Frage ist für wie lange, und was kommt nach Putin? Michail Chodorkowski schließt eine neue Smuta – eine Phase des Chaos, in der Russland sich wieder auf seine europäischen Wurzeln besinnen könnte – nicht aus. Schlögel ist da skeptischer. »Es gibt einen gewalterprobten faschistischen Untergrund, einen gewaltbereiten Mob in Russland, der dann zum Zug kommen und zum Beispiel ethnische Zusammenstöße entfesseln könnte. Das Potenzial für Konflikte in Russland ist enorm.« 21 Selbst wenn 2015 in Petersburg das Russische-­Internationale Konservative Forum veranstaltet wurde, zu dem unter anderem die NPD, die griechische ›Goldene Morgenröte‹, die bulgarische ›Ataka‹ oder die British National Party eingeladen wurden, wäre es irreführend, alle autoritären Tendenzen in Europa unter dem Etikett Putinismus verbuchen zu wollen. Auch die Wahlerfolge der ›Fidesz‹ in Ungarn und der ›PiS‹ in Polen haben unterschied­liche Gründe. Ungarn war 19 »Die Autokraten bedienen erfolgreich die Gefühle der Zukurzgekommenen«. In: MigrosMagazin.ch vom 29. März 2016. Abgerufen unter URL: www.migrosmagazin.ch/menschen/ interview/artikel/autokraten-­bedienen-­gefuehle-­der-­zukurzgekommenen, letzter Zugriff: 13. 09. 2017. 20 Ebd. 21 Ebd.

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2010 in einer wirtschaft­lich prekären Lage, Polen konnte 2015 auf glänzende makroökonomischen Daten hinweisen, was die Opposition nicht daran hinderte, den Wahlkampf unter der hanebüchenen Parole ›Polen im Ruin‹ zu führen und üppige Wahlgeschenke zu versprechen. Selbst wenn von der polnischen Erfolgsgeschichte nicht alle profitiert haben und fast zwei Millionen Polen ins Ausland gingen – darunter die tüchtigsten jungen Leute, weil sie dort mehr Chancen für sich sahen –, waren es nicht nur die Verlierer der Transformation, die die PO -­ Regierung abwählten, sondern auch erfolgreiche Klein- und mittelständische Unternehmer, die sich über den von der EU-Kommission gedeckten Protektionismus der alten, starken EU-Mitgliedstaaten beklagen. Die Parole, stärker als bis jetzt polnische Interessen in der EU zu vertreten, stieß bei ihnen auf offene Ohren. Die PiS – eine Führer-­Partei mit etwa 40.000 Mitgliedern – gewann 2015 im Vergleich zu 2005 nicht viel dazu. Sie hatte und hat etwa 20 Prozent der Wahlberechtigten hinter sich. Diese sind allerdings eine verschworene Gemeinschaft, die die Unterstützung der konservativeren katholischen ­Kirche, die die Opposition gegen das moderne Europa antreibt, genießt. Die absolute Mehrheit der ›PiS‹, obwohl keine Verfassungsmehrheit, ist auf die Abnutzung der liberalkonservativen Bürgerplattform, den Harakiri der postkommunistischen Sozialdemokraten und die Sprunghaftigkeit der Erstwähler zurückzuführen, die einfach einen Wechsel ›da oben‹ wollten und eine neue Gruppierung eines Rockstars toll fanden. Anders als die Ungarn 2010 wählten die Polen 2015 keine ›Revolution‹, sondern einen demokratischen Machtwechsel, weil auch die PiS sich mit neuen Gesichtern, moderaten jungen Menschen an der Spitze und nicht mit den alten ›Revoluzzern‹ präsentierte. Daher auch die Wucht der Proteste, als die moderate Tarnkappe fiel. Den Zigtausenden Demonstrierenden für das Verfassungsgericht und neu­lich gegen eine Verschärfung des ohnehin äußerst restriktiven Abtreibungsgesetzes konnte die ›PiS‹ kaum etwas entgegensetzen. Sie beschränkte sich darauf, die Proteste auszusitzen und die Protestierenden zu verhöhnen und zu bagatellisieren, in der Hoffnung, dass die Mehrheit sich doch nach und nach mit der neuen Macht arrangieren werde. Zumal sie darauf bauen, dass Ungarn jeg­liche EU-Maßnahmen mit seinem Veto abblocken wird. Dennoch ist auch in Polen die Geschichte nicht zu Ende. Das konservative Lager beruft sich auf die nationalstaat­liche Souveränität und pocht darauf, dass die EU nicht das Recht habe, den Souverän – das heißt die parlamentarische Mehrheit in einem Mitgliedsland – zu belehren. Die Liberalen wiederum berufen sich auf Europa: Wenn die EU sie im Konflikt mit der eigenen Regierung nicht unterstützt, dann verrät sie nicht nur die liberale Demokratie in Polen, sondern auch die Werte Europas. Hier geht es also um Souveränität versus Freiheit. Allerdings hat die EU auch andere Probleme als Polen. Und letztend­lich entscheidet sich

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die Zukunft der polnischen Demokratie in Polen und nicht in Brüssel. Die Leute gehen auf die Straße und wehren sich. Daher lautet Schlögels Schlussfolgerung: Die Nerven behalten. Sich nicht in Panik versetzen lassen. Wenn man aus der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts etwas lernen kann, dann dass man standhalten sollte und nicht die Flucht nach vorn antreten. Wir müssen entschieden die Kostbarkeit funktionierender Institutionen verteidigen und darauf gefasst sein, dass das eine lange Auseinandersetzung sein wird. Noch haben nicht alle erkannt, was sich da anbahnt – es wird Zeit, dass wir aufwachen. Die Idee, dass man mittels irgendeiner Lösung wieder zu einem ruhigen Normalalltag zurückkehren kann, ist reines Wunschdenken. Die Turbulenzen der letzten Zeit sind der neue Normalzustand […] so wie in der Zwischenkriegszeit der 1920er- und 1930er Jahre. Auch damals waren radikale politische Bewegungen sehr aktiv, Grenzen wurden verschoben, alles geriet in Bewegung. Manche Leute sehen in den aktuellen Ereignissen ja sogar das Vorspiel zum nächsten Weltkrieg. Ganz abwegig ist das leider nicht.22

4. Ausblick: Auf dem Weg in ein autoritäres Zeitalter? Das klingt beinahe fatalistisch, aber bereits 1997 vermutete Ralf Dahrendorf, dass das 21. Jahrhundert angesichts der Globalisierung – nach der sozialdemokratischen zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – autoritär werden könne. Das ist ein düsteres Gemälde, bei dessen Anblick daran zu erinnern ist, dass Prozesse der Globalisierung Grenzen haben. Sie haben regionale, aber auch ökonomische und ­soziale Grenzen. Dennoch drängt sich der Schluss auf, dass die Entwicklungen zur Globalisierung und ihre sozialen Folgen eher autoritären als demokratischen Verfassungen Vorschub leisten. Autoritäre Verfassungen aber können dauern; sie sind weder so katastrophenträchtig noch so prekär wie totalitäre Diktaturen. Ein Jahrhundert des Autoritarismus ist keineswegs die unwahrschein­ lichste Prognose für das 21. Jahrhundert.23

Die liberale Demokratie ist im heutigen Europa auf dem blutigen B ­ odensatz totalitärer und diktatorischer Regierungssysteme in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewachsen. Sie ist eine attraktive Lebensform, aber in nur wenigen 22 Die Autokratien bedienen (wie Anm. 19). 23 Ralf Dahrendorf: Die Globalisierung und ihre sozialen Folgen werden zur nächsten ­Herausforderung einer Politik der Freiheit. An der Schwelle zum autoritären Jahrhundert. In: Zeit Online, 14. November 1997. Abgerufen unter URL: www.zeit.de/1997/47/thema. txt.19971114.xml, letzter Zugriff: 13. 09. 2017.

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Gesellschaften ist sie tief in der nationalen Geschichte verwurzelt. Der hier zitierte Ralf Dahrendorf stellte 1965 in seinem klassischen Buch Gesellschaft und Demokratie in Deutschland fest, dass Deutschland mit seiner autoritären Prägung größere Ähn­lichkeiten mit feudalen Strukturen wie in Osteuropa aufweise als mit den angelsächsischen Demokratien, weswegen auch die junge Bundesrepublik »illiberale und demokratiefremde Züge« habe.24 Nicht viel anders ist es heute in Ungarn oder Polen. Der ›illiberalen Demokratie‹ Orbáns oder Kaczyńskis liegt die spezifische politische Geschichte beider Länder zugrunde. Ungarn kannte im 20. Jahrhundert nur autoritäre Herrschaftsformen. Als Mitträger der k. u. k. Monarchie, dann – nach der bolschewistischen Episode Bela Kuhns – fast ein Vierteljahrhundert lang Horthy und anschließend die kommunistische Herrschaft mit dem Intermezzo des Aufstandes 1956, der in die 33-jährige Herrschaft Kadars mündete – eines Henkers von 1956, der zum geachteten Vater der Nation wurde. Polen wiederum kannte zwar eine längere Phasen der ›Parlamentokratie‹ (1918 – 1926), dann aber Piłsudskis autoritäres Regime (übrigens ursprüng­lich von den Linken, darunter auch Kommunisten, unterstützt), das 1935 in eine ›Obristenregierung‹ überglitt und nach dem Krieg eine ›Volksdemokratie‹ verpasst bekam, die – anders als in Ungarn oder der DDR – ständig mit dem Druck von unten konfrontiert wurde, so dass seit 1956 jeder Erste ZK-Sekretär aufgrund von Demonstrationen und Unruhen zurücktreten musste. Das unterschied die VR Polen von der VR Ungarn und von der DDR, und dieser demokratische Widerstand von unten unterscheidet auch heute Kaczyńskis Polen von Orbáns Ungarn. Dennoch darf die autoritäre Prägung nicht nur in den früheren ›Bruderländern‹, sondern auch in Westeuropa nicht vergessen werden. Der Eiserne Vorhang wurde zwar 1945 entlang einer alten europäischen Wasserscheide gezogen, nach der Ostelbien, aber auch Thüringen und Sachsen nie ein liberal-­demokratischer und bürger­lich-­republikanischer Westen gewesen sind. Allerdings waren auch Bayern oder Westfalen fürwahr keine Horte von aufgeklärtem Republikanismus und ›weltbürger­licher Absicht‹. Trotz der konservativen Konterrevolution in Ungarn, Polen, Österreich und Sachsen – Thüringen und Bayern nehme ich aus: Thüringen wegen seines linken Ministerpräsidenten, Bayern dagegen wegen seiner stockautoritären CSU-Seele, die noch nie eine Opposition, etwa aus Neugier oder Langeweile, zum Zuge kommen ließ –, trotz der konservativen Konterrevolution bei uns befinde sich Europa mitten in einer neuen Revolution, stellt der bulgarische Sozialwissenschaftler Ivan Krastev fest. Und diese ist die Migration einer stark vernetzten Welt. Es ist

24 Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. München 1965, S. 472 f.

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keine Revolution der Massen wie im 20. Jahrhundert, sondern eine vom Exodus getriebene Revolution des 21. Jahrhunderts, getragen von Einzelnen und Familien und inspiriert nicht von Zukunftsbildern, wie Ideologen sie einst malten, sondern von den im Internet verbreiteten Bildern des Lebens jenseits der Grenze. Diese neue Revolution verspricht radikale Veränderungen. Und zu ihrem Erfolg ist sie weder auf Ideologien angewiesen noch auf politische Bewegungen oder Führer. Deshalb sollten wir uns nicht wundern, dass der Weg in die Europäische Union für viele im Elend lebende Menschen heute attraktiver ist als jede Utopie. Für immer mehr Menschen bedeutet Veränderung, nicht die Regierung zu wechseln, sondern das Land.25

Und während die Finanzkrise in der EU – so führt Krastev weiter aus – eine Kluft ­zwischen Nord und Süd aufgerissen habe, sorge die Flüchtlingskrise für eine neue Ost-­West-­Spaltung. Im Osten der EU werden die kosmopolitischen Werte, die im Westen auch aufgrund der kolonialen Vergangenheit bereits verankert sind und als Bestandteil der europäischen Identität erachtet werden, als Bedrohung empfunden. Für den Westen ist das umso unverständ­licher, als gerade die ostmitteleuropäischen Staaten nach 1989 auf Solidarität und Hilfe vom Westen für sich zählen konnten.26 Solidarität war ja nachgerade ein polnisches Wort. Und es war doch Ungarn, das 1989 die Grenzverhaue nach Österreich öffnete und damit eine Lawine der DDR -Flüchtlinge auslöste, die die Berliner Mauer zum Einsturz brachten. Man vergisst dabei im Westen, dass diese Fronde gegen die west­lichen Vorstellungen historische Gründe hat. Sie ist einerseits eine mitteleuropäische ­Variante der Volksrevolte gegen die Globalisierung, andererseits entspringt sie einer anderen Erfahrung mit Staat und Nation als im Westen. Diese Staaten entstanden aus dem Zerfall von Reichen und den nachfolgenden ethnischen Säuberungen. Polen war vor dem Zweiten Weltkrieg eine multikulturelle Gesellschaft mit starken deutschen, ukrainischen und jüdischen Minderheiten. Heute ist es eine ethnisch homogene Gesellschaft. Nach Krastev basiert die EU auf der französischen Idee der Nation (wonach die Zugehörigkeit als Loyalität gegenüber den Institutionen der Republik definiert ist) und der deutschen Staatsvorstellung (mächtige Länder und ein relativ schwaches föderales Zentrum). Die mitteleuropäischen Länder stützen sich dagegen auf die deutsche Idee der Nation und die französische Staatsvorstellung. Sie bewundern den allmächtigen französischen Zentralstaat (mit einem starken Präsidenten – de

25 Ivan Krastev: Die Utopie vom Leben jenseits der Grenzen (Zerfällt Europa?). In: FAZ.net, 1. März 2016. Abgerufen unter URL: www.faz.net/-gpf-8dubt, letzter Zugriff: 13. 09. 2017. 26 Ebd.

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Gaulle etwa kannte und schätzte Piłsudski) und das alte deutsche Verständnis der Nation als gemeinsame Abstammungs- und Kulturgemeinschaft.27 Die Osteuropäer fürchten Ausländer, weil sie an der Fähigkeit ihrer Gesellschaft und ihres Staates zweifeln, die schon in ihrer Mitte lebenden ›Anderen‹ – wie die Roma – zu integrieren. Auf traurige Weise hat die Spaltung in der Flüchtlingsfrage alle Vorurteile bestätigt, die Ost und West gegeneinander hegten. Die Krise beweist auch, dass europäische Solidarität sich nicht von ihren Wurzeln in der Aufklärung trennen lässt. Als Osteuropäer erklärten, sie schuldeten den Flüchtlingen nichts, erkannten viele im Westen, dass auch sie Osteuropa nichts schulden.28

Heißt es an d­ iesem Beispiel, dass die Hoffnung auf Europa ausgeträumt ist? Nein, das herbe Erwachen ist ja auch kein Ende der Geschichte. Die Europäische Idee bekommt ganz bestimmt den nächsten Schub. Vielleicht sogar früher, als es uns Missmutigen dünkt.

27 Ebd. 28 Ebd.

Südeuropäische Diktaturen nach 1945: Ideologie, Herrschaft, Gewalt

Carlos Collado Seidel

Ideologie, Herrschaft und Gewalt in Spanien unter Franco

1. Die Fortsetzung des Spanischen Bürgerkriegs: Politische Gewalt und Legitimation der Diktatur 2016 jährte sich der Beginn des Spanischen Bürgerkrieges zum 80. Mal und die Fülle an aus d­ iesem Anlass durchgeführten Gedenkveranstaltungen, die beein­druckende Anzahl der erschienenen Publikationen sowie das dabei durch die Öffent­lichkeit gezeigte Interesse führten einmal mehr vor Augen, dass die Erinnerung an diesen Krieg einen zentralen Referenzpunkt für die spanische Gesellschaft bildet und eine gewaltige emotionale Wirkmacht von ihm ausgeht. Der inhalt­liche Schwerpunkt der Gedenkveranstaltungen und Publikationen zum Spanischen Bürgerkrieg zeigt, dass sich diese Wirkmacht im Wesent­lichen aus der Dimension der ausgeübten Gewalt und Repression erklärt.1 Nachdem während der Diktatur die Erinnerung an die Opfer der Nationalisten wachgehalten worden war, stehen seit etwa 15 Jahren die Toten auf der Seite der Republik im Mittelpunkt des Erinnerungsdiskurses. Aktuellen Zahlen zufolge fielen an die 130.000 Menschen hinter den Frontlinien der ideologisch motivierten Gewalt der Nationalisten zum Opfer.2 Die Forschung hat in d­ iesem Zusammenhang auch den repressiven Charakter der Kriegführung Francos hervorgehoben. So sei es dem Generalissimus ausdrück­lich darum gegangen, den Gegner mög­lichst umfassend zu vernichten. Hierauf kam Franco immer wieder unkaschiert zu sprechen: »In einem Bürgerkrieg ist es angeraten, das Gelände systematisch zu besetzen und notwendigerweise gleichzeitig zu reinigen. Eine rasche Niederlage der feind­ lichen Streitkräfte würde indes ein von Gegnern verseuchtes Land hinterlassen.« 3 1 Siehe Carlos Collado Seidel: Der Spanische Bürgerkrieg. Geschichte eines europä­ ischen Konflikts. 3. bearbeitete und ergänzte Aufl. München 2016 (Erstausgabe 2006); sowie Walther L. Bernecker/Sören Brinkmann: Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft, 1936 – 2010. 5. aktualisierte Aufl. Nettersheim 2010 (Erstausgabe 2006). 2 Francisco Espinosa Maestre (Hrsg.): Violencia roja y azul. España, 1936 – 1950 [Rote und blaue Gewalt. Spanien, 1936 – 1950]. Barcelona 2010, S. 78. 3 So Franco gegenüber einem italienischen Offizier. Zit nach Morten Heiberg: Emperadores del Mediterráneo. Franco, Mussolini y la guerra civil española [Imperatoren des Mittelmeeres.

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Hinsicht­lich einer solchen auf die physische Vernichtung des Gegners abzielenden Haltung fand die Repression auch nach Kriegsende am 1. April 1939 eine Fortsetzung. Der ›Tag des Sieges‹ war keinesfalls ein Tag des Friedens oder gar ein Tag, von dem ein Signal der Versöhnung ausgehen sollte. Nach dem militärischen Sieg begann der Krieg im Inneren. Die »Kultur der Repression« 4 wurde für die Diktatur konstituierend und so verkündete Franco in einer Radioansprache am Tag der Siegesparade in Madrid: »Ich darf Euch an ­diesem Tag nicht die Gefahren verbergen, die unser Vaterland unverändert bedrohen. Der Krieg ist an den Fronten vorbei, aber er geht auf einem anderen Feld weiter«.5 Nach den durch Willkür gekennzeichneten Repressionswellen im Bürgerkriegsverlauf im Gefolge der voranrückenden Truppen stellte nun eine strenge Militärgerichtsbarkeit den Dreh- und Angelpunkt der Siegerjustiz dar, wobei sich die Forschung einig ist, dass diese Justiz ledig­lich formale Kriterien erfüllte. Die Willkür blieb der Regelfall. Das Gesetz über politische Verantwort­lichkeiten vom Februar 1939 sowie das Gesetz zur Unterdrückung von Freimaurerei und Kommunismus vom März 1940 hatten zum Ziel, jeg­liche Opposition im Keim zu ersticken und den Sozialismus und nicht zuletzt auch die Freimaurerei – als besondere Obsession Francos – ein für alle Mal auszumerzen. Ende des Krieges waren Hunderttausende Verfahren anhängig, die schon allein der Masse wegen die Militärgerichtsbarkeit völlig überforderten.6 Außerdem waren die Gefängnisse hoffnungslos überfüllt. Hunger, Seuchen, Entwürdigung, Misshandlungen und Erschießungen bestimmten den Alltag. Darüber hinaus wurden unter menschenverachtenden Bedingungen gewaltige Lager für Zwangsarbeiter geschaffen. Dahinter stand der nach außen getragene Gedanke, dass die ›Sünde‹ der Einlassung mit den Idealen der Republik Bußhandlungen erforder­lich mache. Es gehe darum, Schuld durch Arbeit abzutragen. In der Praxis verfolgten die Torturen indes das Ziel, wie Michael Richards herausstreicht, die Inhaftierten seelisch und körper­lich zu Krüppeln zu machen.7

Franco, Mussolini und der Spanische Bürgerkrieg]. Barcelona 2003, S. 94; siehe hierzu auch Olao Conforti: Guadalajara. La prima sconfitta del fascismo [Guadalajara. Die erste Nieder­ lage des Faschismus]. Mailand (Mursia) 1967, S. 32. – In ­diesem Zusammenhang werden häufig auch die Erinnerungen des italienischen Gesandten Roberto Cantalupo herangezogen. Siehe Roberto Cantalupo: Fu la Spagna. Ambasciata presso Franco. Febbraio–aprile 1937 [Das war Spanien. Mission bei Franco. Februar–April 1937]. Mailand 1948, S. 232 f. 4 Michael Richards: A Time of Silence. Civil War and the Culture of Repression in Franco’s Spain, 1936 – 1945. Cambridge 1998. 5 Rede Francos. Abgedruckt in: ABC, 20. Mai 1939. 6 Siehe hierzu Julius Ruiz: Franco’s Justice. Repression in Madrid after the Spanish Civil War. Oxford 2005. 7 Siehe Richards: A Time of Silence (wie Anm. 4), S. 7, 74 – 84.

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Auch mit einer Haftentlassung war keineswegs der Weg zur sozialen Reintegration frei. So unterlag bereits die Verteilung von Arbeitsplätzen ideologischen Kriterien. Hinzu kamen die Enteignung von Besitz oder Geldstrafen, deren Höhe das Vermögen der Betroffenen oder das der Angehörigen weit übersteigen konnte. Zudem ergingen die Strafbefehle unabhängig davon, ob der Betroffene noch lebte oder bereits hingerichtet worden war. Ganze Familien, die ohnehin in sozialer Isolation lebten, rutschten auf diese Weise in Armut und Elend ab. Tausende Kinder wurden darüber hinaus den Familien von Republikanern entrissen, um sie in kirch­liche Obhut zu übergeben oder zur Adoption freizugeben.8 Da Spanien bis in die 1960er Jahre hinein länd­lich geprägt war, stellte die ­soziale und institutionelle Kontrolle, die durch die ört­lichen Pfarrer, die Delegierten der Einheitspartei ›Falange‹ und die Gemeindeverwaltung ausgeübt wurde, ein probates Mittel der Repression dar. Während Denkmäler, Friedhöfe, Kirchenmauern und Straßennamen die Erinnerung an die Opfer der Sieger allgegenwärtig machte, waren die Unterdrückten zum Schweigen verdammt. Angst, Einsamkeit, Verlust und Ungewissheit lasteten auf den Verlierern. Damit erfolgte eine Zementierung der Spaltung der Gesellschaft in Sieger und Besiegte, Besitzende und Marginalisierte. Aus ­diesem Zusammenhang heraus erklärt sich, dass als Pendant zum deutschen Begriff der Vergangenheitsbewältigung im Zuge der Auseinandersetzung mit den von der NS-Diktatur ausgegangenen Verbrechen sich in Spanien der Begriff der Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses (span.: recuperación de la memoria histórica) etabliert hat. Entsprechend kann auch argumentiert werden, dass der Spanische Bürgerkrieg eine Gegenwartsrelevanz hat, die jener entspricht, die für die bundesdeutsche Gesellschaft die Erinnerung an die von der NS-Diktatur ausgegangenen Verbrechen besitzt. So hat die Dimension der Gewaltausübung in der Bewertung nicht zuletzt auch dazu geführt, dass dem Bürgerkrieg ein genozidaler Charakter attestiert und Assoziationen mit dem Holocaust evoziert werden.9 Vor ­diesem Hintergrund kann auch kaum verwundern, dass der Spanische Bürgerkrieg den Dreh- und Angelpunkt zum Verständnis der gesamten Franco-­Diktatur bildet. Bürgerkrieg und Diktatur sind ein untrennbares Binom. Entsprechend war die Erinnerung an den Bürgerkrieg während des gesamten Verlaufs der Diktatur omnipräsent – im Festtagskalendarium, in der schulischen Geschichtsvermittlung und nicht zuletzt durch Denkmäler. Jede noch so kleine Gemeinde hatte einen 8 Ricard Vinyes/Montse Armengou/Ricard Belis: Los niños perdidos del franquismo [Die verlorenen Kinder des Franquismus]. Barcelona 2002. 9 Paul Preston: The Spanish Holocaust. Inquisition and Extermination in Twentieth-­Century Spain. London 2012; Antonio Miguez Macho: Genocidio e represión franquista en Galicia [Genozid und franquistische Repression in Galicien]. Santiago de Compostela 2009.

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Gedenkort, der an die Erhebung vom 18. Juli erinnerte oder Hauptplätze und Straßen, die nach Generalissimus Franco und dem Gründer der faschistischen Partei ›Falange‹ benannt waren. Zahllose Straßen erinnerten an die siegreich geführten Schlachten und an die so genannten Märtyrer des Bürgerkrieges, und an den Fassaden aller ­Kirchen prangten die Namen der ›für Gott und das Vaterland‹ Gefallenen. Der Spanische Bürgerkrieg bildet aber auch in Franco-­Biografien den zentralen Referenzpunkt. Das betrifft sowohl die narrative Konstitution als auch die Gewichtung der verschiedenen Lebensabschnitte. So widmet Paul Preston in seiner als Referenzwerk verstandenen monumentalen tausendseitigen Darstellung den knapp drei Jahren des Krieges ein Viertel des gesamten Buches. Javier Tusell wendet sich in seiner biografischen Annäherung an Franco wiederum paradigmatisch ausschließ­lich den Jahren des Bürgerkrieges zu und betont dabei, dass allein dessen Spezifika die Dauer der Diktatur erklär­lich machten.10 Autoren wie Alan Lloyd beginnen wiederum ihre biografische Darstellung just mit den Ereignissen des 17. und 18. Juli 1936 und befassen sich erst im Anschluss daran mit der Kindheit Francos.11 Mehr noch: Die gesamte Lebensspanne Francos wird in einen unmittelbaren Bezug zum Spanischen Bürgerkrieg gesetzt.12 Das reicht von den überlieferten Kindheitserlebnissen, auf deren Grundlage Charaktereigenschaften und spätere Verhaltensweisen als Oberbefehlshaber wie Unnahbarkeit und Kälte erklärt werden, bis hin zu seinem letzten öffent­lichen Auftritt am 1. Oktober 1975. Der Bürgerkrieg stellt jenes zentrale Ereignis dar, um das der gesamte Verlauf der Diktatur sowie der Lebenshorizont General Francos kreisen.13

2. ›Nationalkatholizismus‹: Bündnis mit der ­Kirche und religiöse Herrschaftslegitimation Unter den in den Jahren der Diktatur in Erinnerung an den Bürgerkrieg errichteten Denkmälern sticht eines heraus, was nicht allein in seiner megalomanischen Dimension begründet liegt, sondern vor allem darin, dass es wie kein zweites zum 10 Javier Tusell: Franco en la guerra civil. Una biografía política [Franco im Spanischen Bürger­ krieg. Eine politische Biographie]. Barcelona 1993, S. 9, 386. 11 Alan Lloyd: Franco. The Biography of an Enigma. Garden City 1969. 12 Siehe hierzu Enrique González Duro: Franco. Una biografía psicológica [Franco. Ein psychologische Biographie]. Madrid 1992; sowie Gabrielle Ashford Hodges: Franco. A concise biography. London 2000. 13 Siehe hierzu Carlos Collado Seidel: Franco. General, Diktator, Mythos. Stuttgart 2015, Kapitel 14.

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Abb. 1  Das Tal der Gefallenen (span. Valle de los Caídos) mit dem Gedenkkreuz für die Opfer des Spanischen Bürgerkrieges.

Verständnis der Diktatur beiträgt: die Basilika vom Heiligen Kreuz im nörd­lich von Madrid gelegenen ›Tal der Gefallenen‹ (span.: Valle de los Caídos). Mit dem Bau wurde unmittelbar nach Bürgerkriegsende begonnen und allein schon die Ausmaße des Vorhabens, das in einem kriegsfolgenbedingt auf lange Zeit hinaus ›ausgebluteten‹ Land in Angriff genommen wurde, sind überwältigend: Das alles überragende Kreuz misst eine Höhe von 150 Meter und ist damit das weltweit höchste Gedenkkreuz. Die Ikonografie innerhalb der Basilika lässt wiederum keinen Zweifel an der mit d­ iesem Bau verfolgten Intention: An beiden Seiten des Längsschiffs stehen auf stilisierten Säulen überdimensionale Personifizierungen der nationalistischen Streitkräfte: des Heeres, der Luftwaffe, der Kriegsmarine und der Milizen der faschistischen Partei ›Falange‹. Das gewaltige Kuppelmosaik wiederum zeigt Gruppen von Menschen auf ihrem Weg ins Himmelreich. Zwei Engel führen jeweils den Aufstieg von an den Uniformen und Fahnen erkennbaren nationalistischen Kämpfern sowie von zivilen Kriegsopfern an. Der Symbolgehalt dieser Darstellung als ›Triumph des Glaubens‹ wird wiederum unterstrichen, indem als Entsprechung hierzu an der gegenüberliegenden Seite zwei weitere Gruppen zu sehen sind. Die eine wird durch den Apostel Jakobus angeführt und stellt die Himmelfahrt bedeutender spanischer Heiliger dar. An der Spitze der anderen steht wiederum der Apostel Paulus, der den Märtyrern der spanischen Geschichte den Weg weist. In die Basilika wurden

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Abb. 2  Innenansicht der Basilika im Tal der Gefallenen.

nach deren Fertigstellung im Jahr 1959 nach und nach die sterb­lichen Überreste von 33.847 Bürgerkriegsopfern überführt.14 An der prominentesten Stelle der Basilika, am Altar unter der Kuppel, befinden sich wiederum die Grablegen Francos und des mythisierten Gründers der ›Falange‹, José Antonio Primo de Rivera. Es ist auch kein Zufall, dass sich die Basilika vom Tal der Gefallenen unweit vom Escorial befindet, jener durch Philipp II . in Erinnerung an den Sieg in der Schlacht von Saint-­Quentin (1557) errichteten Klosteranlage, könig­lichem Palast und Grablege der spanischen Könige. Der Escorial ist zum Symbol für die imperiale Macht Spaniens und die Verschmelzung von Thron und Altar in der Frühneuzeit geworden. Die mit dem Bau der Basilika inszenierte Verschmelzung der Sphären von Staat und ­Kirche sowie die erklärte Sendungsmission des so genannten Neuen Staates wird insbesondere für die Zeit nach 1945 mit dem Terminus Nationalkatholizismus belegt. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass Nation und Katholizismus miteinander verwoben waren und der Glaube zur Triebfeder des politischen Handelns wurde. Dies ist nicht zuletzt auch für die Kriegführung im Bürgerkrieg herausgearbeitet worden: Die Sakralisierung der Gewalt habe zu 14 Informe Comisión de Expertos para el Futuro del Valle de los Caídos, 29. 11. 2011. Abgerufen unter URL: http://www.memoriahistorica.gob.es/es-­es/vallecaidos/Paginas/ComisionExpertos VCaidos.aspx, letzter Zugriff: 20. 01. 2017.

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einer Steigerung der Kompromisslosigkeit, Unerbitt­lichkeit und Brutalität in der Auseinandersetzung beigetragen und habe darüber hinaus im eigenen Lager kohäsiv gewirkt. Ganz in ­diesem Sinne wurden auch die Geschehnisse auf dem Schlachtfeld religiös gedeutet. Außerordent­lich anschau­lich ist in d­ iesem Zusammenhang die Rückschau, die Franco im Jahr 1954 in der Kathedrale von Santiago bei Anwesenheit der höchsten kirch­lichen Würdenträger am Gedenktag zu Ehren des heiligen Jakobus vornahm: Unser Kreuzzug war reich an Ereignissen, die wir als Wundertaten bezeichnen können: So jene Beherrschung der Meere über drei Jahre hinweg ohne Schiffe und sonstige Mittel außer dem Glauben, der Entschlusskraft und der Hilfe Gottes. […] Zu diesen Wundertaten gehört auch der Einhalt, der dem Ansturm der Roten und ihrer Bomben vor den zwei großen Tempeln der Madonnenverehrung, dem der Maria del Pilar und dem der Maria de Guadalupe geboten wurde. Diese trotzten über zwei Jahre lang als uneinnehmbare Festungen unserer Front den Angriffen unserer Gegner. In wundersamer Weise geschah es auch, dass die Mehrzahl unserer großen Schlachten, ohne dass hierzu Berechnung oder Vorhersage mög­lich gewesen wären, nach Tagen des Kampfes just an den großen Kirchenfeiertagen zu unseren Gunsten entschieden wurden. Hier ragt die erbittert geführte Schlacht von Brunete heraus, die sich nach Tagen härtester und ununterbrochener Kämpfe an einem strahlenden Tag entschied, als die Glocken unserer ­Kirchen den Festtag des Apostels Jakobus einläuteten und sich damit sein Einwirken mit unserem Sieg verband. Es darf uns nicht verwundern, dass dem so geschah, denn unser Krieg erfüllte die Merkmale eines Kreuzzugs. So hat ihn unser Pontifex bezeichnet, und davon kündet jene Plejade tausender Märtyrer, die ohne den Fall einer einzigen Apostasie für den Glauben gestorben sind.15

Im Rahmen dieser religiösen Deutung des Krieges kam dem Heiligen Jakobus eine herausragende Bedeutung zu. In Analogie zu ­diesem Heiligen, auf einem weißen Ross reitend, im Kampf gegen die Mauren zugeschriebenen Heldentaten auf den Schlachtfeldern der mittelalter­lichen Reconquista, der als Kreuzzug verstandenen Vertreibung der Mauren von der Iberischen Halbinsel, habe er auch in die Bürgerkriegskämpfe gegen die ›Roten‹ eingegriffen. Dieser Lesart gemäß stellte sich der Bürgerkrieg als neuer­liche Reconquista dar, diesmal im Kampf gegen den gottlosen Bolschewismus. So wurde Jakobus im Juli 1937 per Dekret zum Schutzpatron Spaniens erhoben, und in ­diesem Sinne entstanden Allegorien Francos als mittelalter­licher Ritter, der unter dem besonderen Schutz des Heiligen stand.

15 Rede Francos in der Kathedrale von Santiago. Abgedruckt in: ABC, 27. Juli 1954.

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Auch Leid und Repression erfuhren eine religiöse Deutung. So erklärte Franco während der öster­lichen Fastenzeit im Jahr 1940, dass das Leiden einer Nation in historischen Schicksalsstunden keine Laune der Geschichte sei, sondern eine spirituelle Bußhandlung und die Strafe, die Gott den Menschen bei einer verfehlten Lebensführung auferlege.16 Dieses Blutvergießen wurde als unumgäng­lich empfunden, als Vorbedingung für die ›Auferstehung der Nation‹, die mit dem Sieg der Nationalisten eintreten werde. Die Verschränkung der Sphären von Staat und ­Kirche erreichte mit dem Ende August 1953 geschlossenen Konkordat ihren Höhepunkt. Für Franco war sie nur folgerichtig, wie er vor den Cortes españolas, dem Ständeparlament als Akklamationsorgan der Diktatur verkündete: »In der Geschichte Spaniens ist es unmög­lich, die kirch­liche und die staat­liche Gewalt zu trennen, denn beide wirken stets zusammen, um die durch die Vorsehung zugewiesene Bestimmung unseres Volkes zu erfüllen«.17 Die Doktrin der katholischen ­Kirche übernahm auf diese Weise eine totalisierende Funktion, da sie auf säkular-­politischer Ebene zum gesamtgesellschaft­lichen Richtmaß erhoben wurde. Die ­Kirche wirkte sitt­ lich normierend auf alle Bereiche des gesellschaft­lichen Lebens. Ihr Missionseifer erwies sich als umfassend. Diese enge Verflechtung von Staat und K ­ irche war aber nicht nur bereits zum Zeitpunkt der Konkordatsunterzeichnung anachronistisch. Letzt­lich verlief sie auch nicht spannungsfrei, denn wenngleich sich der allergrößte Teil des Klerus aus einer tiefen Überzeugung heraus mit dem Regime identifizierte, lassen sich hinter der Fassade der doktrinären Deckungsgleichheit frühzeitig Hinweise auf Reibungsflächen ausmachen, die sich aus einer Konkurrenzsituation ­zwischen den in Begriff Nationalkatholizismus enthaltenen Bestandteilen des Katholischen und des Nationalen ergeben.18 So ging die Unerbitt­lichkeit der Nationalisten im Zuge der Repression trotz einer manifesten Mittäterschaft des Klerus über den durch die katholische Doktrin gesetzten Rahmen hinaus. Entsprechend ließ Papst Pius XII. in seinem Gratulationsschreiben zum errungenen Sieg zwar keinen Zweifel an 16 Rede Francos in Jaen, 18. 03. 1940. Zit. nach Julián Casanova: La Iglesia de Franco [Die ­Kirche Francos]. Madrid 2001, S. 235; siehe auch die Ausführungen des Erzbischofs von Burgos Manuel de Castro Alonso: Sobre las enseñanzas de los tiempos presentes [Von den Lehren der gegenwärtigen Zeit], 14. 02. 1937. Auszugsweise abgedruckt in: Alfonso ­Álvarez Bolado: Para ganar la guerra, para ganar la paz: Iglesia y guerra civil, 1936 – 1939 [Um den Krieg und den Frieden zu erringen. Die ­Kirche und der Bürgerkrieg, 1936 – 1939]. Madrid 1995, S. 120. 17 Rede Francos. Abgedruckt in: La Vanguardia, 27. 10. 1953. 18 Siehe Walther L. Bernecker: Religion in Spanien. Darstellungen und Daten zu Geschichte und Gegenwart. Gütersloh 1995, S. 99.

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der religiösen Begründung des Krieges. Jene Passagen aber, in denen Großmut und Mensch­lichkeit gegenüber den Unterworfenen angemahnt wurden, fielen der Zensur des Regimes anheim. So zeigte sich etwa der Anspruch eines Vorranges des Nationalen darin, dass die päpst­liche Enzyklika ›Mit brennender Sorge‹ vom März 1937, die sich gegen die Ideologie des Nationalsozialismus wandte, in Spanien nicht veröffent­licht werden durfte. Genauso erregte Anfang August 1939 ein Hirtenbrief des Kardinalprimas Isidro Gomá Anstoß, da er sich darin gegen totalitäre Tendenzen in Spanien wandte, die mit der katholischen Doktrin nicht vereinbar ­seien.19 In ­diesem Sinne sind auch Reibungen ­zwischen der ­Kirche und der Staatspartei ›Falange‹ kaum verwunder­lich. Das betraf vor allem Felder, in denen die K ­ irche im Sinne der christ­lichen Soziallehre den Anspruch erhob, normierend zu wirken, und dabei auf die Konkurrenz falangistischer Organisationen stieß. Entsprechend muss auch das im Konkordat nach langem Hin und Her festgeschriebene Präsentationsrecht der spanischen Staatsführung im Rahmen der Besetzung von vakanten Bischofsstühlen als Ausdruck einer intendierten Überordnung des Nationalen gegenüber dem Katholischen verstanden werden. Franco übernahm zwar den doktrinären Überbau der katholischen K ­ irche, instru­ mentalisierte ihn aber gleichzeitig und setzte ihm Grenzen. Damit scheiterten führende, aus dem Umfeld katholischer Laienorganisationen stammende Persön­ lichkeiten wie Erziehungsminister Joaquín Ruiz Giménez oder Außenminister Alberto Martín Artajo mit ihrem Vorhaben, die Strukturen des Regimes auf eine eindeutige katholische Basis zu stellen.20 Erst die grundlegenden Veränderungen im Verständnis des Verhältnisses ­zwischen Staat und ­Kirche als Ergebnis des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 – 1965) brachten das trotz aller unterschwelligen Konflikte solide Gerüst ernsthaft ins Wanken. Nun wurde auch durch die höchste kirch­liche Instanz der Verschränkung von ›Thron und Altar‹ eine Absage erteilt. Außerdem wurde mit klaren Stellungnahmen zu Menschenrechten, politischen Freiheiten und religiöser Toleranz das Wesen der Franco-­Diktatur implizit in Frage gestellt. Darüber hinaus war der niedere Klerus längst in Bewegung geraten, indem er vor allem in den Brennpunkten der ab den 1960er Jahren wuchernden Ballungs- und

19 Siehe hierzu María Luisa Rodríguez Aisa: El cardenal Gomá y la guerra de España. Aspectos de la gestión pública del Primado, 1936 – 1939 [Kardinal Gomá und der Krieg in Spanien. Aspekte des öffent­lichen Wirkens des Primas, 1936 – 1939]. Madrid 1981, S. 322 – 324. 20 Zu ­diesem Themenkomplex siehe vor allem die auf dem Nachlass von Artajo basierende Studie von Javier Tusell: Franco y los católicos. La política interior española entre 1945 y 1957 [Franco und die Katholiken. Die spanische Innenpolitik z­ wischen 1945 und 1957]. Madrid 1984, S. 54 f.

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Industriezentren sowie in den historischen Regionen Baskenland und Katalonien einen sozialen Auftrag wahrzunehmen begann und dabei schnell in politisches Fahrwasser geriet. Es folgten stürmische Zeiten im Verhältnis z­ wischen der katholischen K ­ irche und dem Regime. Einen symbolischen Trennstrich vollzog die K ­ irche schließ­lich im Jahr 1971, als eine auf einer Versammlung von Bischöfen und Priestern eingebrachte Resolution fast zwei Drittel der Stimmen erhielt, in der um Vergebung für die Parteinahme zugunsten der Nationalisten im Spanischen Bürgerkrieg gebeten wurde.21 Den Höhepunkt bildete 1974 der Eklat in der Folge einer Predigt des Bischofs von Bilbao, Antonio Añoveros, in der dieser für die Wahrung der kulturellen Identität des Baskenlandes eintrat. Auf diese als politischer Affront verstandene Äußerung folgte eine Eskalation, bei der sogar der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zum Heiligen Stuhl im Raum stand.

3. Der franquistische Führerstaat und der spanische Faschismus Das von Franco errichtete ›Neue Spanien‹ verstand sich von Anbeginn als Teil der sich scheinbar unaufhaltsam ausbreitenden faschistischen Ordnung in Europa. So notierte der italienische Außenminister Graf Ciano Ende März 1939 unter dem Eindruck des unmittelbar bevorstehenden Bürgerkriegssieges in sein Tagebuch: »Das ist ein großartiger Sieg für den Faschismus, mög­licherweise der bislang größte«.22 Bereits Francos erste Radioansprache am Tag der Ernennung zum Generalissimus und Staatschef am 1. Oktober 1936 hatte den Aufbau eines totalitären Staates faschistischer Prägung angekündigt,23 zu dem Schlagworte wie die Stärke und Größe Spaniens, die Unterordnung des Einzelnen unter den Gemeinwillen, Antikapitalismus, Antikommunismus, s­ oziale Gerechtigkeit und die Eingliederung aller in den Aufbau des Neuen Staates gehörten.24 Hinzu kam das Führerprinzip, das, wenngleich Franco stets vom Kommando und nicht von der Regierung sprach, nicht allein im militärischen Sinn zu verstehen war. So war in den Statuten der im April 1937 unter der Führung Francos geschaffenen Einheitspartei festgeschrieben: 21 Siehe hierzu Secretariado Nacional del clero (Hrsg.): Asamblea conjunta Obispos-­ Sacerdotes [Geheime Versammlung der Bischöfe und Priester]. Madrid 1971, S. 171. 22 Malcolm Muggeridge: Ciano’s Diary, 1939 – 1943. London 1947, S. 57 (Eintrag vom 28. 03. 1939). 23 Siehe hierzu ABC (Sevilla), 02. Oktober 1936. 24 Siehe hierzu Víctor Pradera: El Estado Nuevo [Der neue Staat]. Madrid 1935.

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Der nationale Chef von Falange Española Tradicionalista y de las JONS, höchster Anführer der Bewegung, verkörpert ihre Ehre und alle ihre Werte. Als Schöpfer dieser historischen Ära, in der Spanien die Fähigkeit erlangen wird, seine Bestimmung und damit die Sehnsüchte der Bewegung zu verwirk­lichen, übernimmt der Chef in höchster Vollkommenheit die allumfäng­ liche Macht. Der Chef ist vor Gott und der Geschichte verantwort­lich.25

Ganz im Sinne d­ ieses Prinzips verkörperte Franco den Volkswillen, und für die Propaganda, die maßgeb­lich zur Konstruktion seines Mythos beitrug,26 bildeten Volk, Führer und Nation eine Wesenseinheit: »Das Wesent­liche an Spanien ist diese affektive Beziehung, mit der dem Führer gedient wird, und die auf den Staat übertragen dazu führt, dass dieser vermensch­licht, lebendig wird, indem im Zentrum höchster Autorität, Staat und Führer miteinander verschmelzen. Der Wille des Führers stellt das lebende Gesetz der Nation dar, jenseits staat­licher Ordnung in den endlosen Aufgaben seiner schicksalhaften Bestimmung«.27 Der Rechtsphilosoph Francisco Elías de Tejada erkannte in Franco einen unumschränkten Herrscher, der die »höchste Gewalt«, den »Quell der Souveränität«, die »Wurzel irdischer Macht« verkörpere: »Er nimmt den ersten Platz im neuen Staat ein, ist frei in seinen Entscheidungen, stellt die erhabenste Urteilsinstanz dar und ist unanfechtbar in seinen Weisungen. […] Mit ihm verschwinden die überkommene Teilung der Gewalten und die Verfahrenshemmnisse des alten Parlamentarismus, denn er selbst ist Ausdruck der allerhöchsten Macht«.28 So stellte Franco den unumstrittenen Mittelpunkt allen Handelns dar. Als oberste militärische, politische und seit August 1939 auch als gesetzgeberische Instanz reichte seine Macht weiter als die eines jeden anderen Herrschers in der Geschichte Spaniens. Der Anbruch einer neuen Zeit kam auch auf der symbolischen Ebene zum Ausdruck. So wurde das Festtagskalendarium auf Franco und die durch ihn angeführte ›Nationale Erhebung‹ ausgerichtet: Der Tag des Putsches am 18. Juli, das Datum der Erhöhung Francos zum Generalissimus am 1. Oktober, das Datum der Schaffung der Einheitspartei am 19. April, der ›Tag des Sieges‹ am 1. April sowie das Datum des Todes von José Antonio Primo de Rivera am 20. November wurden zu Nationalfeiertagen. 1937 wurde zudem, analog zum 25 Artikel 47 des Parteistatuts von Falange Española Tradicionalista y de las Juntas de Ofensiva Nacional-­Sindicalista vom 24. April 1937. 26 Siehe hierzu Laura Zenobi: La construcción del mito de Franco [Die Konstruktion des Franco-­Mythos]. Madrid 2011, S. 330. 27 Arriba, 01. 10. 1939; siehe auch ABC (Sevilla), 02. 10. 1937. 28 Rede von Francisco Elías de Tejada, 17. 01. 1939, zit. nach Francisco Sevillano: Franco. Caudillo por la gracia de Dios [Franco. Führer von Gottes Gnaden]. Madrid 2010, S. 170.

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italienischen Vorbild, eine neue Zeitrechnung eingeführt. Die Jahre wurden fortan in Triumph­jahren gezählt. Hinzu kam die gesetz­liche Einführung des ›römischen Grußes‹. Außerdem wurden Z ­­ eichen einer als Referenzpunkt verstandenen, mythisierten Vergangenheit übernommen. In Analogie zum Rutenbündel der römischen Liktoren im faschistischen Italien und dem germanischen Hakenkreuz im nationalsozialistischen Deutschland waren dies Joch und Pfeile­ bündel, die Insignien der katholischen Könige. Damit wurde eine emotionale Brücke zur imperialen Zeit geschaffen, die gleichzeitig die Stoßrichtung des Neuen Staates aufzeigte.29 Nationalspanien knüpfte erklärtermaßen an die frühneuzeit­liche imperiale Epoche an. In ­diesem Sinne stellte sich Francos Heerführerschaft im Bürgerkrieg als Wiederaufnahme der mittelalter­lichen Reconquista dar, und das Bild von der Schaffung der Reichseinheit unter den katholischen Königen fand seine Entsprechung im Neuen Spanien Francos. Ebenso wie dem Abschluss der Reconquista die Eroberung der Neuen Welt und die Schaffung des weltumspannenden Imperiums gefolgt waren, sollte nach dem Sieg im Bürgerkrieg neuer­lich eine strahlende imperiale Zeit anbrechen. Dazu gehörte die rhetorische Hinwendung zu Lateinamerika und – ganz im Einklang mit der i­ mperialen Stoßrichtung und dem aggressiven Nationalismus Italiens und Deutschlands – die tatsäch­liche Eroberung eines Kolonialraumes. In der Gedankenwelt des durch den Kolonialkrieg in Marokko zutiefst geprägten Franco und seiner Mitstreiter lag die koloniale Zukunft Spaniens in Nordafrika. Das angestrebte Imperium sollte weit über das bestehende Protektorat hinausreichen und auf Kosten Frankreichs den gesamten Nordwesten des Kontinents ­zwischen dem algerischen Oran und Mauretanien umfassen.30 Das Neue Spanien sollte zum Abbild des frühneuzeit­lichen Imperiums werden, als Glaube und Herrschaft unauflösbar miteinander verbunden waren. Die Epochen der Aufklärung und des Liberalismus, in denen Spanien von d­ iesem Grundsatz abgerückt sei, wurden als Zeiten der Dekadenz und des Verfalls stigmatisiert. Die Demokratie habe schließ­lich die Massen korrumpiert sowie der Entfaltung niederer materialistischer Triebe Vorschub geleistet, und das allgemeine und g­ leiche Wahlrecht widerspreche den Ordnungsvorstellungen Gottes. Liberalismus und Demokratie wurden als gescheiterte, überkommene und vor allem als unspanische politische Irrwege verurteilt.31 29 Siehe hierzu den Wortlaut des Dekrets über das neue Staatswappen Spaniens vom 02. 02. 1938. 30 Siehe hierzu die programmatische Schrift von José María de Areilza/Fernando María Castiella: Reivindicaciones de España [Spaniens Ansprüche]. Madrid 1941. 31 Siehe etwa die Rede Francos in Medina del Campo. Abgedruckt in: ABC, 30. 05. 1942.

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Der Diktator hielt an ­diesem Staats- und Gesellschaftsmodell auch mit der sich abzeichnenden Niederlage der Achsenmächte fest. So sprach er noch im Frühjahr 1943, als die Invasion Siziliens unmittelbar bevorstand, unbeeindruckt vom Untergang des liberalen Zeitalters und dem unausweich­lichen Siegeszug der neuen Regimes, deren Essenz die s­ oziale Gerechtigkeit und der Kult des Nationalen sei. Spanien habe mit der Erhebung im Jahr 1936 den von Italien und Deutschland gewiesenen Weg in das Zeitalter der Führergestalten unumkehrbar eingeschlagen.32 Nach dem Sturz Mussolinis mäßigte sich zwar diesbezüg­lich die Wortwahl der Propaganda und diese strich nun vor allem die christ­liche Grundlage des Regimes als Unterscheidungsmerkmal heraus.33 Gleichwohl hielt Franco auch nach 1945 an der Vorstellung seiner durch die Vorsehung bestimmten Führerschaft fest. Vor allem aber schlug das Herz des Regimes unverändert für Faschismus und Nationalsozialismus. Exemplarisch hierfür steht die aus heutiger Perspektive ungemein befremd­lich wirkende Feststellung von José Ignacio Escobar, einem der führenden Ideologen Franco-­Spaniens, der im Juli 1946 auf die Auslieferungsanträge der Alliierten für gesuchte Nationalsozialisten mit dem Kommentar reagierte, dass das einzige Verbrechen dieser bedauernswerten Deutschen darin bestanden habe, die Atombombe nicht rechtzeitig fertiggestellt und infolgedessen den Krieg verloren zu haben.34 Viele Jahre später zeigte sich Franco im privaten Gespräch wiederum davon überzeugt, dass die Vereinigten Staaten Italien und Deutschland demokratische Gesellschaftsordnungen aufgezwungen hätten, um sie auf diese Weise an der nationalen Gesundung zu hindern.35 Nun wurde der Begriff der organischen Demokratie zum Lieblingsbegriff Francos zur Charakterisierung des politischen Systems. In ­diesem Sinne hieß es auch nicht mehr, dass der Wille des Herrschers den Willen des Volkes verkörpere. Vielmehr wurde nun das Volk als Inspirationsquelle für das Handeln des Staates bezeichnet.36 Franco hielt aber vor allem an seiner Überzeugung fest, dass der Liberalismus und die Demokratie angesichts der sozialen Herausforderungen und der marxistischen Bedrohung überkommene und gescheiterte Gesellschaftsmodelle 32 Rede Francos. Abgedruckt in: ABC, 09. 12. 1942; sowie Rede Francos. Abgedruckt in: ABC, 05. 05. 1943. 33 Siehe etwa die Rede Francos. Abgedruckt in: ABC, 18. 07. 1945. 34 Siehe hierzu Carlos Collado Seidel: Der Mythos »Franco als Judenretter«. Die »Judenfrage« im Z ­­ eichen der spanischen Realpolitik während des Zweiten Weltkriegs. In: Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte 5 (2011) 2, S. 80 – 96, hier S. 96. 35 Siehe Francisco Franco Salgado-­Araujo: Mis conversaciones privadas con Franco [Meine privaten Unterredungen mit Franco]. Barcelona 1976, S. 67 (Eintrag vom 05. 01. 1955). 36 Siehe Rede Francos. Abgedruckt in: La Vanguardia, 18. 07. 1943.

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­seien. Noch 1966 pries er das von ihm geschaffene System als Avantgarde auf dem Weg in eine Welt größerer sozialer Gerechtigkeit: Das Treff­liche unserer politischen Bewegung liegt darin, seit 30 Jahren zu wissen, dass wir uns in einer neuen Ära befinden. Seit damals hat sich der politische Prozess auch noch beschleunigt, wonach die kapitalistische, liberale, individualistische Gesellschaft trotz allem Beharrungsvermögens schließ­lich einer Gesellschaft Platz zu machen hat, in der die Arbeit den dominierenden Faktor darstellt. Das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit, das wir verkündigen, wird inzwischen kaum mehr in Frage gestellt.37

Trotz aller Orientierung am faschistischen Vorbild verstand sich Franco, hierin ist sich die Forschung einig, nicht als Faschist. Er war Offizier und dem entsprach auch seine Auffassung der Herrschaftsausübung. Allerdings würde es zu kurz reichen, Francos Bekenntnisse zum Faschismus als Geste gegenüber den eigenen Gefolgsleuten oder als oberfläch­liche Reaktion auf den Zeitgeist abzutun.38 Für Franco bestand vielmehr eine grundsätz­liche Übereinstimmung ­zwischen den faschistischen Regimes in Europa und dem von ihm begründeten Neuen Spanien. Er bejahte zeitlebens die korporativ organisierten, der sozialen Frage zugewandten, das Führerprinzip bejahenden und radikal nationalistischen Prinzipien der ›Falange‹. Er vertrat einen totalitären Herrschaftsanspruch, den er im Rahmen eines faschistischen Modells seiner Zeit zu verwirk­lichen versuchte. So ist bezeichnend, dass sich das Erscheinungsbild des Franco-­Regimes zwar über die Jahre wandelte, im Kern aber unverändert blieb.39 Franco hielt nicht nur am Fundament seines politischen Systems fest, sondern auch an einer auf Autarkie ausgerichteten Wirtschaftspolitik. Das tat er auch dann noch, als sich die Verheißungen ­dieses Wirtschaftsmodells in keiner Weise erfüllten. Spanien gelang es weder den Rückstand in der technologischen Entwicklung aus eigener Kraft aufzuholen noch eine Unabhängigkeit von Rohstoff- und Nahrungsmittelimporten zu erreichen. Erschwerend kam hinzu, dass die dirigistische Politik, gepaart mit fach­licher Inkompetenz und einer grassierenden Korruption der wirtschaft­lichen Entwicklung nicht gerade förder­lich war. Überaus kennzeichnend für das Wirtschaftsdenken jener Jahre sind die Gedanken von Ernesto Giménez Caballero, einem der Theoretiker des spanischen Faschismus aus dem Jahr 1954: 37 Rede Francos vor den Cortes. Abgedruckt in: La Vanguardia, 23. 11. 1966. 38 So Juan Pablo Fusi: Autoritarismo y poder personal [Autoritarismus und persön­liche Macht]. Madrid 1985, S. 75 f. Deutsche Ausgabe (aus dem Spanischen übertragen durch Paul Hoser): Franco. Spanien unter der Diktatur 1936 – 1975. München 1992. 39 Siehe hierzu Tusell: Franco (wie Anm. 10), S. 9.

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Für uns klang das Wort ›Wirtschaft‹ immer so ähn­lich wie Armut. In Spanien hat das Wort ›wirtschaften‹ mehr den Sinn von haushalten, und stellt damit eine schreck­liche Lage für den Bedauernswerten dar, der sich dazu gezwungen sieht. Dem Spanier ist das Wort ›wirtschaften‹ genauso ungewohnt, wie jenes andere, das jetzt auch Mode geworden ist: ›produzieren‹. Produzieren!, wirtschaften!, synonyme Wörter für Beständigkeit und Sparsamkeit, zwei Tugenden, die dem spanischen Volk nie Erfolg gebracht haben.40

In der Praxis erholte sich die spanische Wirtschaft entsprechend nur sehr schleppend von den materiellen Folgen des Bürgerkrieges. Anfang der 1950er Jahre hatten die landwirtschaft­liche Produktion und das Volkseinkommen den Vorkriegsstand noch nicht erreicht. Die Rationierung von Grundnahrungsmitteln blieb bis 1951 bestehen. Fehlende Rohstoffe und eine unzureichende Energieversorgung bedingten wiederum eine nur eingeschränkte Produktionsleistung in der Industrie. Fehlendes privates Kapital verhinderte notwendige Investitionsmaßnahmen. Andererseits erwiesen sich staat­liche Prestigeprojekte, so etwa der Bau von Stauseen zur Behebung von Energie- und Wassermangel, als außerordent­lich kostspielig und erfüllten nur ansatzweise die Erwartungen. Eine expansive Geldmengenpolitik zur Finanzierung von Infrastrukturprojekten und zum Ausbau der Sozialleistungen zog wiederum eine starke inflationäre Tendenz nach sich, während eine strikte Lohnpolitik gleichzeitig ein sinkendes Realeinkommen der Arbeiter bedingte. Darauf folgende Lohnerhöhungen beflügelten wiederum die inflatorische Entwicklung. Ein chronischer Devisenmangel zur Finanzierung von notwendigen Importen verschärfte die Situation in dramatischer Weise. Schließ­ lich stand Spanien Ende der 1950er Jahre vor dem Staatsbankrott. Die Politik der ökonomischen Unabhängigkeit war gescheitert.

4. Das Bündnis mit den traditionellen Eliten Das Franco-­Regime war, wie schon die Konkurrenzsituation ­zwischen der ›Falange‹ und dem katholischen Lager gezeigt hat, ein Konglomerat aus ideologisch und politisch heterogenen Gruppierungen, den so genannten Familien. Dazu werden üb­licherweise – wenngleich die Zuschreibungen unpräzise sind und vor allem zu Überlappungen führen – auch die Monarchisten, das Offizierskorps und für die spätere Zeit die Technokraten aus dem Umfeld der katholischen

40 Ernesto Giménez Caballero: El genio antieconómico de España [Das anti-­ökonomische Genie Spaniens]. In: De Economía, Januar–April 1954, S. 72.

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Laienorganisation Opus Dei gezählt. Selbst die im April 1937 geschaffene Einheitspartei war heterogen zusammengesetzt, war sie doch aus einer Zwangs­fusion von Faschisten und katholischen Traditionalisten hervorgegangen, jenen beiden Kräften, die über eigene bewaffnete Milizen verfügten, jedoch ideologisch disparate Positionen vertraten. Die Forschung hat wiederum herausgearbeitet, dass Franco, zumindest in den ersten drei Dekaden seines Regimes, stets auf ein Gleichgewicht der Kräfte achtete. Dies lässt sich über die Jahre hinweg besonders gut an der Zusammensetzung des Ministerrates ablesen. So waren schon bei der Ende Januar 1938 gebildeten ersten Regierung, neben einer starken Präsenz der Generalität, in der zunächst vor allem eine monarchistische Grundhaltung vorherrschte, auch Mitglieder der faschistischen ›Falange‹ sowie mit Pedro Sainz Rodríguez ein erklärter Gefolgsmann des im Exil lebenden Königs Alfons XIII. und mit Graf Rodezno ein herausragender Repräsentant der Traditionalisten vertreten, die für einen eigenen Thronprätendenten und ein theokratisches Herrschaftsprinzip eintraten. Die Ressort- und Machtverteilung stand frei­lich nicht allein im ­­Zeichen des Proporzes. So wurden die Ministerämter tendenziell nach den jeweiligen Interes­sensfeldern der einzelnen ›Familien‹ verteilt. Militärs besetzten die den drei Teilstreitkräften vorbehaltenen Ressorts sowie wiederholt auch das Innenministerium. Die ›Falange‹ belegte wiederum tendenziell die Bereiche der Landwirtschaft, der Arbeit und – oft im Widerstreit mit den Repräsentanten des politischen Katholizismus – der Erziehung. In der Ressortverteilung spiegeln sich aber auch internationale Einflussfaktoren. So avancierte der Falangist Ramón Serrano Suñer unter dem Eindruck der von den Achsenmächten ausgehenden Dynamik zur zentralen Figur innerhalb der Regierung. Die Ernennung des ausgewiesenen Katholiken Alberto Martín Artajo nach Weltkriegsende zum Außenminister stellte wiederum einen außenpolitischen Schachzug dar, um dem faschistischen Antlitz des Regimes entgegenzuwirken. Gleichwohl blieb aber aus Gründen des Machtproporzes die ›Falange‹ auch jetzt noch ein zentraler Machtfaktor. So stand sie im Zuge der Kabinettsumbildung des Jahres 1945 an der Spitze der Ministerien für Inneres, Justiz, Arbeit und Landwirtschaft und übte auf diese Weise nicht zuletzt die Kontrolle über die Polizeikräfte und Zensur aus. Die Forschung ist sich einig, dass die Erhaltung einer Machtbalance ­zwischen den ›Familien‹ vor allem der Sicherung der Herrschaft diente. So wird das Festhalten an der zunächst dezidiert faschistischen Partei ›Falange‹ nicht zuletzt damit erklärt, dass Franco ein Gegengewicht zu den starken monarchistischen Tendenzen innerhalb seines Regimes und der Generalität brauchte. Das g­ leiche Prinzip lässt sich auch für die Jahre davor ausmachen, als es der Diktator im Zuge der Umgestaltung des Regimes nach italienischem Vorbild vermied, sich

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ausdrück­lich gegen die Monarchisten zu stellen oder der ›Falange‹ gar eine hegemoniale Stellung zu verschaffen und damit das Offizierskorps zu entmachten. Auch die Versuche in späteren Jahren, einen durch Stärkung der Partei gegenüber der Regierung den Prinzipien der ›Falange‹ verpf­lichteten Staat zu schaffen, stießen innerhalb des Regimes auf unüberwindbaren Widerstand, und das Vorhaben blieb letzt­lich Stückwerk. Bei aller faschistischen Rhetorik verhinderte die heterogene Machtbasis des franquistischen Systems eine nachhaltige Faschistisierung des Regimes – eine Beobachtung, die letzt­lich aber auch auf die Regime Hitlers und Mussolinis übertragbar ist.41 In d­ iesem Zusammenhang ist sich die Forschung einig, dass Franco vor allem das Ziel verfolgte, seine unumschränkte Machtfülle zu sichern. Bei aller Machtbalance, über die Franco sorgsam wachte, kam es im Verlauf der Diktatur fortwährend zu Spannungen z­ wischen den miteinander rivalisierenden Gruppierungen. Vor allem standen von Anbeginn die Einheitspartei ›Falange‹ und das Offizierskorps, die Monarchisten sowie das katholische Lager einander gegenüber. Die in den ersten Jahren besonders manifeste Rivalität ­zwischen dem Offizierskorps und der ›Falange‹ entlud sich sogar in Gewaltakten, wie jenem vom August 1942, als ›Falange‹-Anhänger ein Bombenattentat auf hochrangige Monarchisten, darunter Heeresminister General Varela, verübten. Historiker wie Paul Preston argumentieren in d­ iesem Zusammenhang, dass Franco diese Rivalitäten nicht nur gelegen gekommen ­seien; er habe sie sogar befeuert, um auf diese Weise als Schiedsrichter aufzutreten und damit seine Machtposition zu bekräftigen.42 Im Ende März 1947 verkündeten Nachfolgegesetz spiegelt sich ebenso das Prinzip der Machtbalance, denn damit wurde Spanien zwar offiziell als Monarchie verfasst, gleichzeitig behielt sich Franco aber nicht nur vor, einen Nachfolger im Rang eines Königs frei zu bestimmen. Das Gesetz schrieb darüber hinaus vor, dass ein Nachfolger den Prinzipien der ›Nationalen Bewegung‹ verpf­lichtet zu sein habe. Auf diese Weise ging es nicht darum, der Restauration der bourbonischen Monarchie den Weg zu ebnen, sondern vielmehr um die Schaffung einer neuen Dynastie auf der Basis des durch Franco errichteten Staatswesens. Selbst die im Jahr darauf mit dem Thronprätendenten Don Juan getroffene Übereinkunft, den ältesten Sohn, den zehnjährigen Prinzen Juan Carlos unter der Obhut Francos erziehen zu lassen, stellte keine Vorentscheidung im Hinblick auf die Restauration 41 Zu NS-Deutschland siehe u. a. Ian Kershaw: Der NS-Staat. Hamburg 42009 (Erstausgabe 1988), S.  263 – 278. 42 Siehe Paul Preston: Franco »Caudillo de España« [Franco »Führer Spaniens«]. Barcelona 1994, S. 73, 408.

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dar. Franco fühlte sich keinesfalls verpf­lichtet, diesen Prinzen zu seinem Nachfolger zu bestimmen. Vielmehr kursierten immer wieder die Namen anderer Kandidaten, die, wie etwa Alfonso de Borbón y Dampierre, aus Nebenlinien des Hauses Bourbon stammten. Auch über den Enkel Francos ist diesbezüg­lich immer wieder spekuliert worden, und der Diktator soll sogar beim österreichischen Kaisersohn Otto angefragt haben. Franco schloss aber auch nicht aus, für die Zeit nach seinem Ableben einen Regenten zu bestimmen.43 Franco ließ sich in dieser Frage nicht unter Druck setzen und verteidigte vor allem unverdrossen das durch die ›Falange‹ verkörperte Gesellschaftsmodell. So stellte er Mitte der 1950er Jahre unumwunden fest: »Es ist im Sinne aller, dass das, wofür die Falange steht, die feste Grundlage für das Leben in unserem Vaterland bildet. Die Falange kann ohne die Monarchie auskommen. Die Monarchie aber hätte ohne die Falange keinen Bestand«.44 So unterstrich er bei dieser Gelegenheit nicht nur, dass die von ihm geschaffene Monarchie nicht auf könig­liches Blut angewiesen sei. Seine Ausführungen gipfelten vielmehr – ganz in faschistischer Manier – in der Bekräftigung der Überlegenheit seiner aus einer historischen Ausnahmesituation hervorgegangenen Führerschaft (span.: Caudillaje) als Ausdruck des kollektiven Volkswillens. Franco ließ sich nicht zu einer Entscheidung drängen, die ihn in seiner Handlungsfreiheit als Diktator eingeschränkt hätte. Erst im Juli 1969 wurde schließ­lich Prinz Juan Carlos zum Nachfolger bestimmt. Dazu musste sich dieser aber zunächst den Prinzipien der ›Nationalen Bewegung‹ unterwerfen und auch die Gründung einer neuen Dynastie anstelle einer Restauration der Monarchie akzeptieren. Juan Carlos erhielt dazu den neu geschaffenen Titel eines Prinzen von Spanien. Das markierte den Unterschied zum traditionellen Titel des Kronprinzen als Prinz von Asturien. Damit und mit dem drei Jahre zuvor verabschiedeten Grundgesetz, das die Strukturen des Staates und die Kompetenzen der Institutionen kodifizierte, das Verfahren der Nachfolge regelte und dem Regime auch über den Tod Francos hinaus Dauerhaftigkeit verleihen sollte, war der Weg für die Zeit nach dem A ­ bleben des Diktators vorgezeichnet. Mit der Ernennung von Admiral Luis Carrero Blanco, seit drei Jahrzehnten engster Berater Francos, zum Ministerpräsidenten im Juni 1973 sollte die Kontinuität abgesichert werden. Dieses Vorhaben durchkreuzte jedoch die Terrororganisation ETA mit ihrem spektakulären Attentat vom Dezember desselben Jahres, dem der Admiral zum Opfer fiel.

43 Siehe Franco Salgado-­Araujo: Mis conversaciones (wie Anm. 35), S. 367 (Eintrag vom 09. 01. 1963) sowie S. 369 (Eintrag vom 17. 01. 1963). 44 Rede Francos in Sevilla. Abgedruckt in: La Vanguardia, 01. 05. 1956.

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5. Gesellschaft­licher Aufbruch und politisches Verharren: Die späte Franco-­Diktatur Ende der 1950er Jahre war angesichts eines drohenden Staatsbankrotts die Einleitung eines radikalen wirtschaftspolitischen Richtungswechsels unausweich­ lich geworden. Zu dem Zeitpunkt war eine Generation fach­lich ausgebildeter Nachwuchskräfte herangewachsen, die die bestehenden, auf Autarkie abzielenden wirtschaftspolitischen Paradigmen in Frage stellten und angesichts der sich dramatisch zuspitzenden Lage ein grundlegendes Umdenken einforderten. Der meist als Technokraten bezeichnete Personenkreis, der vor allem dem Opus Dei zuzurechnen ist, sollte fortan eine zentrale Stellung in der nun beginnenden Etappe einnehmen, in der die Lösung der strukturellen Wirtschaftsprobleme im Vordergrund stand. Die Regierungsumbildung vom Februar 1957 markierte den Anfang, als die Ressorts für Finanzen und Handel durch den Juristen Mariano Navarro Rubio sowie den Wirtschaftswissenschaftler Alberto Ullastres übernommen wurden. Beide waren Mitglieder des Opus Dei. In der darauffolgenden Kabinettsumbildung fiel das Industrieministerium, das sich in Händen des Planwirtschaftlers Joaquín Planell befand, an den Ingenieur Gregorio López Bravo, der ebenfalls Mitglied dieser Laienorganisation war. Zudem erhielt mit Manuel Lora Tamayo eine weitere dem Opus Dei nahestehende Person ein relevantes Ministeramt, in ­diesem Fall das für Erziehung, dem vor allem die Zuständigkeit für die Wissenschaft übertragen wurde. Auch in den weiteren Kabinettsumbildungen bestätigte sich die umfäng­liche Präsenz der Technokraten und Mitglieder des Opus Dei sowie vor allem der Einfluss von Laureano López Rodó, der als Leiter des zentralen Planungs- und Koordinierungsbüros der Reformvorhaben die Schlüsselposition innehatte und als Vater des ›spanischen Wirtschaftswunders‹ in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Im Kern ging es um die Zurückdrängung der dirigistischen Politik zugunsten einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung, was eine Kooperation mit internationalen Wirtschafts- und Finanzorganisationen sowie die Öffnung des Landes für ausländische Investitionen einschloss. Auf diese Weise sollte Spanien nicht nur wirtschaft­lich und finanzpolitisch stabilisiert werden. Eine Hebung des Lebensstandards würde darüber hinaus, so die Erwartung, das bestehende politische System zukunftsfähig machen. Hinzu kam die angestrebte Stabilisierung des Regimes mittels einer Professionalisierung der Regierungsarbeit und der Errichtung effizienter und verfassungsrecht­lich verankerter Staatsstrukturen. Franco tat sich allerdings ungemein schwer, über den eigenen Schatten zu springen und einer Finanz- und Wirtschaftspolitik zuzustimmen, die eine enge Kooperation mit den bis dahin verteufelten internationalen Organisationen wie dem Internationalen

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Währungsfonds und der OECD bedeutete. Vielmehr war er unverändert der Überzeugung, dass es eine seiner großen politischen Leistungen gewesen sei, die Abhängigkeit Spaniens vom internationalen Kapital beendet zu haben, welches er unter der Kontrolle der Freimaurerei wähnte. So konnte er nur außerordent­lich mühevoll zur Einsicht gebracht werden, dass sich das Land in einer ausgesprochen dramatischen Lage befinde und die Situation keinesfalls aus eigener Kraft in den Griff zu bekommen sei. Hierzu gehörte die Beschreibung drastischer Drohszenarien wie die Rückkehr zu den Lebensmittelkarten oder den durch Holzvergasung betriebenen Kraftfahrzeugen. Erst eine s­ olche Bildsprache, so zeitgenössische Beobachter, habe Wirkung gezeigt.45 Franco ließ die Leute um López Rodó letzt­lich gewähren, doch blieb er misstrauisch gegenüber einer wirtschaft­lichen Öffnung, die er als A ­ uslieferung an ausländische Mächte verstand. Überlieferte private Äußerungen zeigen unmissverständ­lich, dass er weiterhin der Vorstellung von der Vorherrschaft der Freimaurerei in den Vereinigten Staaten und anderen west­lichen Demokratien anhing.46 Die Verschwörungstheorien blieben eine Konstante im Denken Francos. In ­diesem Sinn trug er zwar die durch die Technokraten ebenfalls befürworteten Pläne einer Integration Spaniens in die EWG mit, doch tat er dies nicht nur mit großer Skepsis. Die Ablehnung des 1962 gestellten Assoziierungsantrages bestätigten Franco vielmehr in seiner Überzeugung, wonach sich feind­lich gesinnte Kräfte wieder einmal gegen Spanien verschworen hätten. Die Öffnung des spanischen Marktes für ausländische Investitionen bis hin zur Mög­lichkeit des Erwerbs von Mehrheitsbeteiligungen an Unternehmen bedeutete für viele und insbesondere für die ›Falange‹ eine schmerzhafte Abkehr von bisher gültigen Maximen. Letzt­lich aber waren die Gegner machtlos angesichts der durch eine positive Weltkonjunktur mitbedingten Erfolge der Technokraten. Die nach Spanien fließenden Geldströme, zu denen nun auch immer stärker der Tourismus sowie die Devisenüberweisungen der ausschwärmenden ›Gastarbeiter‹ zählten, führten in den 1960er Jahren zu einer nachhaltigen Investitionstätigkeit und Wachstumsphase. Bei aller wirtschaft­lichen Liberalisierung wurde aber alsbald auch die repressive Seite des Regimes wieder sichtbar, wie etwa die hysterische Reaktion auf das Treffen der gemäßigten spanischen Opposition in München im Rahmen 45 Siehe Mariano Navarro Rubio: Mis memorias: Testimonio de una vida política truncada por el »Caso MATESA« [Meine Erinnerungen: Zeugnis über ein durch den »Fall MATESA« ruiniertes politisches Leben]. Barcelona 1991, S. 141 – 48. 46 Franco Salgado-­Araujo: Mis conversaciones (wie Anm. 35), S. 307 f., 311 (Einträge vom 07. 01. 1961 und 06. 02. 1961).

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des Kongresses der Europäischen Bewegung Anfang Juni 1962 zeigt. Damals kamen erstmals seit dem Bürgerkrieg aus Spanien angereiste christdemokratisch und monarchistisch orientierte Regimekritiker mit im Exil lebenden Oppositionellen zusammen, um gemeinsam für einen fried­lichen Wandel hin zu einer freiheit­lichen und demokratischen Grundordnung einzutreten. Der Aufschrei gegen das als unerträg­lich empfundene und als Schandtreffen gebrandmarkte Ereignis, das für viele der rückkehrenden Teilnehmer Haft oder Verbannung zur Folge hatte, zeigte einmal mehr, dass für Franco keine Aussöhnung der ehemals verfeindeten Lager in Frage kam. Dies war eine Reaktion, die sogar wohlwollende christdemokratische Kreise der Bundesrepublik mit großem Befremden aufnahmen. Die gehegte Hoffnung auf eine allmäh­liche politische Liberalisierung des Landes wurde damit herb enttäuscht. Für Franco bildete das Treffen von München indes wieder einmal den Beweis der Existenz einer gegen das ›authentische Spanien‹ gerichteten kommunistisch-­freimaurerischen Verschwörung. So rief er wenige Tage später im Rahmen einer Kundgebung aus: Wie ich schon immer gesagt habe, sind die Gefahren nicht vorüber. Wir haben uns seit Anbeginn der Freimaurerei und dem Kommunismus als Feinden der Würde unseres Vaterlandes entgegengestellt. Wir haben all das bekämpft, was das spanische Leben zersetzte. Wir haben auf unserem Boden gesiegt, doch konnten wir den Kampf nicht außerhalb unserer Grenzen führen. Jene Kräfte, die im Ausland gelenkt werden, versuchen nun mit allen Mitteln den inneren Frieden in unserem Vaterland zu zerstören.47

Dieser Beharrungswille geriet unweiger­lich immer stärker in Widerspruch zu den grundlegenden sozialen Veränderungen, die im Verlauf der 1960er Jahre auf den wachsenden Wohlstand, die Erfahrungen der rückkehrenden ›Gastarbeiter‹, die Folgen des technischen Fortschritts und den Zustrom von Touristen zurückzuführen waren. So stellte Juan Goytisolo Ende des Jahrzehnts fest, dass Spanien mit dem dadurch bedingten Wertewandel längst aufgehört habe, jenes spirituell orientierte Land zu sein, das das Regime zu verkörpern geglaubt habe.48 Zwar war es letzt­lich Franco gewesen, der, wenn auch widerwillig, den Weg zu ­diesem Wandel geebnet hatte. Das hinderte ihn aber keineswegs daran, mit wachsender Kritik an einer an materiellen Werten orientierten Gesellschaft zu reagieren. Nun wurden Sittenverfall, Verlust von Tugenden und eine zunehmende religiöse Indifferenz beklagt, die sich nicht zuletzt auch in einem dramatischen

47 Rede Francos vor Offizieren in Valencia. Abgedruckt in: La Vanguardia, 19. 06. 1962. 48 Siehe Juan Goytisolo: Spanien und die Spanier. Luzern/München 1969.

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Rückgang der Ordinationen spiegelte. Der wachsende Wohlstand ging wider Erwarten nicht mit einer Entpolitisierung im Sozialen einher. Zwar sehnte sich eine durch den Bürgerkrieg traumatisierte Gesellschaft nach den entbehrungsreichen Nachkriegsjahren nach einer materiell besseren Zukunft. Im Laufe der 1960er Jahre entstand aber auch eine Vielzahl an politischen Zirkeln unterschied­ licher politischer Couleur, die von reformorientierten Falangisten, zu denen Torcuato Fernández Miranda oder Manuel Fraga Iribarne gehörten, bis hin zu Christdemokraten wie Joaquín Ruiz Giménez reichten und eine Erneuerung des bestehenden Systems anstrebten. Nach und nach positionierten sich die verschiedenen politischen Kräfte mit Blick auf das absehbare biologische Ende Francos, während sich der harte Kern der Diktatur, der so genannte Bunker, jeg­ lichen Reformen verschloss. Hinzu kam der wachsende Druck seitens einer maßgeb­lich kommunistisch orientierten Opposition, die neben der Artikulation sozialer Anliegen auf Konfrontationskurs zur Diktatur ging. Im Baskenland und in Katalonien wurden wiederum die Rufe nach Anerkennung der eigenen kulturellen und in der Folge auch politischen Identität immer lauter. In ­diesem Zusammenhang spielte die 1959 gegründete baskische Untergrundorganisation ETA eine spektakuläre Rolle, nachdem ihre Aktionen ab Ende der 1960er Jahre mit den ersten Bluttaten dramatisch an Radikalität gewannen. Die Diktatur geriet damit von der Basis her immer stärker unter Druck. Die Folgen der Weltwirtschaftskrise verschärften die Situation zusätz­lich. Zu den massiven Streikbewegungen, so etwa jene des Jahres 1962, kamen ab der Mitte des Jahrzehnts verstärkt Unruhen an den Universitäten hinzu, insbesondere in Madrid und Barcelona. Damit zeigte sich, dass selbst die künftigen sozialen Eliten auf Distanz zum Status quo gingen. Für Franco war besonders verstörend, dass sich sogar der Klerus, der bis dahin Teil des Kontrollund Repressionssystems gewesen war, von der Diktatur abzuwenden begann. Diese Tendenz hatte in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre im niederen Klerus angesichts wachsender sozialer Probleme innerhalb der Industriearbeiterschaft eingesetzt. Sie nahm alsbald auch politische Züge an bis hin zu einer aktiven Unterstützung von im Untergrund tätigen kommunistischen Gruppierungen oder des gewaltbereiten baskischen Nationalismus. Die neuen Leitlinien aus Rom in der Folge der Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils zwangen selbst das Episkopat dazu, auf Distanz zur Diktatur zu gehen. Das Regime und erst recht der nun alternde Diktator sahen sich dieser im Aufbruch befind­lichen, politische Reformen einfordernden Gesellschaft gegenüber letzt­lich hilflos. Für Franco wiederum zeichneten sich in ›bewährter Manier‹ die alten Feinde Spaniens für die Unruhen verantwort­lich, die seiner Überzeugung nach unverändert danach trachteten, die Gesellschaft zu unterwandern

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und das Gemeinwesen zu zerstören.49 Die Diktatur wusste auf die wachsenden Spannungen nur mit Repression zu reagieren, und Franco stand für ein solches Vorgehen ausdrück­lich ein.50 Brutale Polizeieinsätze, grausame Foltermethoden, fragwürdige politische Prozesse oder Hinrichtungen, wie jene des Kommunistenführers Julián Grimau im April 1963, trübten nachhaltig das propagierte Bild eines sich modernisierenden Landes. In ­diesem Zusammenhang stehen auch die Prozesse von Burgos aus dem Jahr 1970, die in der Verhängung von Todesurteilen gegen Mitglieder der Terrororganisation ETA mündeten und einen internationalen Aufschrei zur Folge hatten, der immerhin die Vollstreckung der Urteile verhinderte. Für Franco stand jedoch völlig außer Frage, den Gegnern aus der Zeit des Bürgerkriegs entgegenzukommen. So bemerkte er im Februar 1963: »Es ist völlig undenkbar, dass die Sieger eines Krieges den Verlierern die Macht übertragen, so tun als ob nichts geschehen sei und in d ­ iesem Fall das Rad der Geschichte bis zum Zeitpunkt der Ausrufung der unheilvollen Republik zurückgedreht wird. Das wäre ein Unding sowie ein Verrat am Vaterland und an den Toten, die in unserem Kreuzzug dafür gekämpft haben, Spanien zu erretten«.51 Franco beharrte nicht nur zeitlebens auf seinem unumschränkten Herrschaftsanspruch. Eine Demokratisierung im west­lichen Sinn kam zu keinem Zeitpunkt in Betracht. Freie Meinungsbildung und politische Teilhabe waren und blieben undenkbar. Die grausame repressive Seite des Regimes zeigte sich noch einmal nur wenige Woche vor Francos Ableben. Diesmal weigerte sich der Diktator in fünf Fällen, die Todesurteile gegen Mitglieder der Terrororganisationen ETA und FRAP in Haftstrafen umzuwandeln. Ende September wurden die Urteile vollstreckt. Dem Aufschrei in den internationalen Medien, dem Abzug von Botschaftern und den Ausschreitungen innerhalb und außerhalb Spaniens entgegnete Franco in üb­licher Manier. Am 1. Oktober 1975, dem Jahrestag seiner Erhebung zum Generalissimus und Staatschef, kamen Hunderttausende vor dem Königspalast zusammen und bejubelten den Diktator, der zusammen mit seinem gesamten Kabinett auf dem Balkon erschien und mit zittriger, kaum verständ­licher Stimme verkündete:

49 Siehe die Rede Francos vor der Concentración Nacional de Alféreces Provisionales. Abgedruckt in: La Vanguardia, 29. 05. 1962. – Siehe auch die Neujahrsansprache Francos. Abgedruckt in: La Vanguardia, 31. 12. 1970. 50 Siehe etwa Franco Salgado-­Araujo: Mis conversaciones (wie Anm. 35), S. 513 (Eintrag vom 21. 12. 1967). 51 Siehe ebd., S. 369 (Eintrag vom 04. 02. 1963).

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Ich danke Euch für Eure Unterstützung und für ­dieses standhafte und entschlossene Auftreten, das Ihr den Angriffen entgegensetzt, denen einige unserer diplomatischen Vertretungen und Einrichtungen in Europa ausgesetzt waren. Damit hat sich noch einmal gezeigt, was wir von bestimmten verdorbenen Ländern erwarten können […]. All das, was in Spanien und Europa losgetreten worden ist, ist auf eine freimaurerisch-­linke Verschwörung zurückzuführen, die schänd­ lich verwoben ist mit der kommunistisch-­terroristischen Unterwanderung der Gesellschaft.52

Hierin zeigte sich nicht nur einmal mehr Francos Handeln zeitlebens bestimmende Obsession, von äußeren und inneren Feinden bedroht zu sein. In seiner Rede offenbarte sich unverändert die Sprache des Jahres 1936.

52 Zit. nach Sevillano: Caudillo (wie Anm. 28), S. 12.

Christiane Abele

Einfach nur Dr. Salazar, Ministerpräsident Das Salazar-­Regime in Portugal

»Zuerst war die Diktatur da, dann der Diktator« – so beschrieb der Sozialist Mário Soares (1924 – 2017) die Genese des Salazarismus.1 Tatsäch­lich war die Diktatur in Portugal ähn­lich wie das Franco-­Regime in Spanien die Institutionalisierung eines Akts der Gewalt: Eine Gruppe Militärs hatte 1926 die instabile Erste Republik gestürzt und ein Militärregime errichtet, der es jedoch an politischem Programm und an Plänen für den wirtschaft­lichen Aufbau des Landes fehlte. Die Erste Republik hatte ­diesem Militärregime tiefgreifende ­soziale Probleme hinterlassen: Die Analphabetenquote lag bei etwa 65 Prozent,2 60 Prozent der Erwerbstätigen waren in der Landwirtschaft tätig und nur 13,9 Prozent (1930) der Bevölkerung wohnten in Städten.3 Gegenüber alldem blieben die Machtverhältnisse unklar, es fehlte eine charismatische Führerfigur. In dieser Lage erinnerte man sich António Salazars (1889 – 1970), eines Professors für Ökonomie an der Universität Coimbra, der 1928 auf den Posten des Finanzministers berufen wurde. Salazar wusste die aussichtlose Lage und seine Autorität in Wirtschaftsfragen zu n ­ utzen: Er knüpfte seine Zusage an Befugnisse, die ihm weitreichende Entscheidungsgewalt in Finanzfragen ermög­lichten. Durch 1 Mário Soares: Le Portugal bâillonné. Paris 1972, S. 33. 2 Maria Krebber: Sprache und Nationalismus. Zur Sprachpolitik des Faschismus und des Salazarismus. Saarbrücken 2008, S. 78. Diese Quote sank bis 1940 auf 50 Prozent. Siehe: UNESCO-Studie: L’analphabétisme dans divers pays. Paris 1953. – Analphabetenraten anderer Länder zum Vergleich (laut ebd.): 40 Prozent (Bulgarien 1926), 43 Prozent (Spanien 1920), 5,4 Prozent (USA 1920), 0,9 Prozent (Finnland 1930), 13,7 Prozent (Ungarn 1920), 79,2 Prozent (Türkei 1935), 51,6 Prozent (Mexiko 1940), 56,7 Prozent (Brasilien, 1940). Portugal lag also weltweit im unteren Mittelfeld. 3 António Costa Pinto: Der Zusammenbruch der portugiesischen Demokratie in der ­Zwischenkriegszeit. In: Fernando Rosas (Hrsg.): Vom Ständestaat zur Demokratie. ­München 1997, S. 13 – 35, hier S. 14. – Zum Vergleich: 1933 lebten in Deutschland bereits 25,7 Prozent in Großstädten und weitere 41,3 Prozent in mittelgroßen Städten. Nur mehr 15 Prozent der Arbeitskräfte waren als »Mithelfende« (Landwirte und Handwerker) beschäftigt; siehe Hans-­Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4. München 2003, S. 234, 237. Ledig­lich Italien (1920: 56 Prozent) und die Sowjetunion (86 Prozent im gleichen Zeitraum) hatten einen ähn­lich dominanten Primärsektor wie Portugal.

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ein rigoroses Sparregime auf Kosten von Unter- und Mittelschicht konnte das Land innerhalb weniger Monate wirtschaft­lich stabilisiert werden. Seine Sparmaßnahmen waren eher die eines emsigen Buchhalters als die eines visionären Volkswirts, doch sie zeigten Wirkung. Salazar gelang es, die Staatsfinanzen ins Gleichgewicht und den Staatsapparat unter seine Kontrolle zu bringen. Alle aus der gestürzten Republik übrig gebliebenen rechten Fraktionen scharten sich um ihn: konservative Republikaner, Monarchisten, katholische Klerikale bis hin zu einem Teil der faschistischen Rechten. Im Juli 1932 wurde er zum Ministerpräsidenten ernannt, 1933 schloss er den von ihm geleiteten Prozess der Staatsgründung mit einer neuen Verfassung ab. So hatte sich der unbekannte Ökonomieprofessor vom Finanzmagier zum Anführer der Gegenrevolution gemausert, indem er günstige Voraussetzungen für eine Diktatur zu n ­ utzen gewusst hatte: politische Instabilität gepaart mit wirtschaft­ licher Prekarität, ökonomische und kulturelle Unterentwicklung durch die starke Dominanz des Primärsektors und ein niedriges allgemeines Bildungsniveau sowie die Diskreditierung der pluralistischen Demokratie infolge der politischen Instabilität der 1910er und 1920er Jahre.

1. Die längste Rechtsdiktatur Europas Die von Salazar errichtete Diktatur sollte bis 1974 anhalten und ist damit die (bislang) langlebigste Rechtsdiktatur Europas. Drei Fragen drängen sich angesichts ­dieses Rekords auf: Wie hielt sich das Regime so lange an der Macht,4 und wie veränderte es sich im Laufe dieser langen Zeit? Beiden Fragen will sich dieser Essay widmen. Die Beantwortung einer dritten, sich daran anschließenden Frage – Weshalb brach das Regime schließ­lich doch zusammen, und weshalb gerade 1974? – beantwortet Antonio Muñoz Sánchez’ Beitrag in ­diesem Band. Vier Ansätze mögen dabei helfen, die Langlebigkeit ­dieses Regimes zu erklären. Über historische Kontinuität und nationalistisches Pathos wurde erstens eine Daseinsberechtigung konstruiert, die als Legitimierungsstrategie fungierte. Zweitens war die institutionelle und konstitutionelle Struktur jenes Staates stark auf die Kontrolle und den Charakter eines einzelnen Menschen ausgerichtet, der sich bei seiner Machtausübung noch nicht einmal von einer übermächtigen, offiziellen Partei im Sinne etwa der SED assistieren ließ. Drittens 4 Der portugiesische Historiker Fernando Rosas spricht von der »Kunst des Durchhaltens«. Siehe Fernando Rosas: Salazar e o poder. A arte de saber durar [Salazar und die Macht. Die Kunst des Durchhaltens]. Lissabon 2012.

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ist über Repression und staat­liche Gewalt nachzudenken, jene Gewalt, die Fernando Rosas in präventive und repressive bzw. punitive Gewalt unterteilt hat.5 Und viertens ist nach sozialen Trägerschichten zu fragen, danach also, wer das Salazar-­Regime unterstützte, wer von ihm profitierte, vielleicht manipuliert wurde, und wer gegen das Regime ankämpfte und am meisten unter ihm litt. In den 41 Jahren seines Bestehens veränderte sich das Regime frei­lich in verschiedener Hinsicht. Um eine zu monolithische und generische Analyse zu vermeiden, soll deshalb – nach einem ­kurzen Exkurs über die Gefahren der Verharmlosung jener Diktatur – in einem Abschlusskapitel auf Entwicklungen, Veränderungen und Zäsuren über diesen langen Zeitraum von 1928/1933 bis 1974 hinweg eingegangen werden. 1.1 Herrschaftslegitimation Der Salazarismus konnte zur Legitimierung seiner Herrschaft von spezifischen Ausgangsbedingungen profitieren. Das demokratische Experiment der ersten Republik war nicht nur aufgrund der extremen Instabilität und der häufigen Regierungswechsel diskreditiert. Es war auch in sich nicht konsequent gewesen, hatte doch die überhastete politische Liberalisierung 1910 keinen Widerhall in einer demokratischen Gesellschaftsordnung gefunden – etwa in Form allgemeiner Wahlen, sozialer Bewegungen und Vereinen, allgemeiner Schulpf­licht oder Ähn­lichem.6 Die Finanz- und Wirtschaftskrise um 1930, von deren Auswirkungen Portugal weitgehend verschont blieb, verschaffte Salazar mit seiner ökonomischen Expertise zusätz­liche Glaubwürdigkeit, ja sogar einen Heldenstatus. Viele rechneten ihm zudem hoch an, dass das Land im Zweiten Weltkrieg zumindest offiziell neutral und damit von Kriegshandlungen verschont geblieben war, gleichzeitig aber günstige Handelsbeziehungen zu beiden Kriegsparteien hatte etablieren können. Ein Abkommen über die Nutzung von Militärbasen auf den Azoren mit den USA und Großbritannien aus den Kriegsjahren (1943) sollte die angloamerikanischen Mächte über Jahrzehnte an die Gunst des portugiesischen Diktators binden.

5 Ebd., S.  190 – 210. 6 Manuel Loff: Coming to Terms with the Dictatorial Past in Portugal after 1974. Silence, Remembrance and Ambiguity. In: Stefan Troebst (Hrsg.): Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven. Göttingen 2010, S. 55 – 121, S. 56 f.

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Nach 1945 war es dank der Azorenbasen als Druckmittel ein Kinderspiel, Portugal internationale Akzeptanz zu verschaffen. Das Land war EFTA,7 OECDund NATO-Gründungsmitglied (während etwa Francos Spanien erst nach dem Fall der Diktatur der NATO beitrat). Außerdem wurde Portugal 1955 Mitglied der Vereinten Nationen. Das autoritäre Regime Salazars war also alles andere als isoliert. Es war angesehen und integriert, und es gab nicht wenige europäische Politiker, die die diktatorischen, antiliberalen Zustände in Portugal zu relativieren suchten. Der CSU-Justizminister Richard Jaeger etwa teilte 1965 dem Spiegel mit: »Portugal […] ist unser Bündnispartner, und ich würde es für schlecht halten, wenn ein deutscher Politiker einen solchen Partner öffent­lich wegen seiner Verfassung oder wegen seiner Übersee-­Politik […] kritisierte.« 8 Nach innen kultivierte das Regime eine antiliberale, paternalistische und nationalistische Ideologie. Dem salazaristischen Dekadenzdiskurs zufolge müsse Portugal nach einer Phase der Degeneration unter Monarchie und Republik nun wieder auf Kurs gebracht werden. Träger jener nationalen Regeneration sei der salazaristische Staat, denn einzig er biete, so Salazar in einer Ansprache 1934, den »Trost ewiger Gewissheiten«, indiskutabler Grundsatzwerte also: »Gott und die Tugend stehen nicht zur Debatte/Das Vaterland und seine Geschichte stehen nicht zur Debatte/Autorität und ihr Ansehen stehen nicht zur Debatte/ Familie und Moral stehen nicht nur Debatte/Arbeit und Pf­licht stehen nicht zur Debatte.« 9 Damit propagierte das Regime ein bewährtes, essentialistisches Bild der portugiesischen Nation, die als länd­lich und landwirtschaft­lich geprägt, arm, aber fleißig, organisch strukturiert, katholisch, imperial und zutiefst antikommunistisch dargestellt wurde. Die Gesellschaft wurde nach den Untereinheiten Familie, Schule, K ­ irche und Gemeinde strukturiert, die in den Augen Salazars natür­liche, gottgegebene Hierarchie, Ordnung und Autorität verkörperten. Mit ›katholisch‹ war weniger die K ­ irche als Institution gemeint, zu der Salazar ein eher ambivalentes Verhältnis hatte (siehe Abschnitt 1.4), sondern der Aufruf zu individueller Frömmigkeit und Anspruchslosigkeit. Die imperiale Ambition, die der Salazarismus von Monarchie und Republik übernommen hatte, hatte die absolute Gleichsetzung der beiden Ideensysteme 7 European Free Trade Association (EFTA): Europäische Freihandelsassoziation. 8 »Ich bin für eine scharfe Klinge«. Interview mit Richard Jaeger. In: Der Spiegel 47, 17. November 1965, S. 47 – 59, hier S. 54 f. – Zum Verhältnis ­zwischen Portugal und der Bundesrepublik allgemein siehe Rui Lopes: West Germany and the Portuguese Dictatorship, 1968 – 1974. Between Cold War and Colonialism. Basingstoke 2014. 9 António Salazar: As grandes certezas da Revolução National [Die großen Gewissheiten der Nationalen Revolution]. Rede vom 28. Mai 1936. In: Ders.: Discursos e Notas Políticas [Reden und politische Notizen]. Bd. 2, Coimbra 1937, S. 128 – 139, hier S. 134.

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Nationalismus und Kolonialismus zur Folge. Das Feindbild des Kommunismus war deshalb nicht nur für das nationale Selbstbild von großer Bedeutung, sondern auch, um den erbitterten Widerstand Portugals gegen die Dekolonisierung zum Kampf gegen die angeb­liche bolschewistische Bedrohung der afrikanischen Kolonien stilisieren zu können. Wenn Francos Spanien als »national-­katholisch« gilt,10 so könnte man für Portugal von einem »national-­kolonialen« Selbstbild sprechen.11 Salazar selbst pflegte das zivile Image eines selbstlosen, asketisch lebenden Idealisten, der auf eine eigene Familie verzichtete, um sich ganz dem Wohl der Nation zu widmen. Er trug keinen Beinamen wie Duce, Führer oder Caudillo, sondern ließ sich einfach Dr. Salazar nennen. Ein großer Redner war er nicht, bei seinen seltenen öffent­lichen Ansprachen verfiel er gern in einen Predigerduktus, den er wohl vom Priesterseminar in Coimbra beibehalten hatte. Zeit seines Lebens blieb er unverheiratet. Er war ein selbstdisziplinierter und extrem ehrgeiziger Narzisst, der das Land mit machiavellistischen Methoden zu dem fortschrittsfeind­lichen Arkadien machen wollte, das er sich erträumte. Vier Elemente trugen demnach zur Legitimierung des Regimes nach innen und außen bei: die Lösung einer (finanz)politischen Ausgangskrise, prestigeträchtige und loyale internationale Bündnispartner, eine zwar nicht sehr originelle, aber kohärente Ideologie und ein gemäßigter Führerkult. 1.2 Staat­liche Strukturen Um zu verstehen, was das Salazar-­Regime strukturell aufrechterhielt, ist eine kurze Tour durch die institutionellen Kulissen nötig. An der Spitze des Staates stand der Staatspräsident (port.: Presidente da República). Ihm kamen in erster Linie repräsentative Aufgaben zu; er konnte allerdings den Ministerpräsidenten (port.: Presidente do Conselho de Ministros) – Salazar – ein- und absetzen. Er wurde jeweils für sieben Jahre gewählt. Die Legislative bestand aus zwei Kammern, der Nationalversammlung (port.: Assembleia Nacional) und dem Konsultativorgan der Korporativkammer (port.: Câmara Corporativa), die die Gesetzesentwürfe der Nationalversammlung begutachten und bewerten sollte. Die Kompetenzen beider Instanzen wurden im Laufe der Jahre sukzessive beschnitten. Ab 1945 war die Nationalversammlung in der Legislative zweitrangig; die Regierung war fortan Cogesetzgeberin, konnte Gesetze verabschieden und internationale Konventionen und Verträge genehmigen.

10 Siehe den Beitrag von Carlos Collado Seidel in ­diesem Band. 11 Siehe Christiane Abele: Kein kleines Land. Die Kolonialfrage in Portugal. Göttingen 2017.

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Der Salazarismus war kein Einparteienstaat, sondern ein Keinparteienstaat. Die Pseudopartei Nationale Union (port.: União Nacional) hatte keinen autonomen Handlungsspielraum und keinen Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse. Eine Mitgliedschaft in ihr war kein Sprungbrett für eine politische Karriere. S­ alazar selbst legte großen Wert darauf, dass es sich dabei nicht um eine Partei handle, und konzipierte sie von Anfang an nicht als Rekrutierungspool. Politische Ämter besetzte er stattdessen mit länd­lichen Notabeln.12 Durch die Abhaltung von Wahlen – Parlamentswahlen alle vier und Direktwahl des Staatspräsidenten alle sieben Jahre – und durch die konstitutionelle Verankerung der Gewaltenteilung gab sich das Regime zwar einen demokratischen Anstrich. Aber die Wahlen beruhten auf einem Zensuswahlrecht: Wählen durften alle Familienoberhäupter ab 21 Jahren, die lesen und schreiben konnten und deren Steuersatz über einem bestimmten Mindestbetrag lag. Frauen mussten außerdem einen höheren Schulabschluss nachweisen. Insgesamt waren damit etwa 15 bis 20 Prozent der Gesamtbevölkerung wahlberechtigt. Der Opposition wurde durch verschiedene Schikanen die Teilnahme an der Wahl erschwert: Ohne oder nur mit stark verspätetem Zugriff auf Wählerlisten konnte sie ihr Wahlmaterial und ihre Stimmzettel oft erst am Tag vor der Abstimmung an die Wähler verschicken. Bisweilen wurden ihre Stimmzettel ledig­lich aufgrund abweichenden Formats oder falscher Farbe für ungültig erklärt. Der Wahlkampf diente in Wahrheit vor allem dazu, Zugriff auf aktuelle Mitgliederlisten der Opposition zu erhalten.13 Eine demokratische Fassade konnten die unfreien und völlig bedeutungslosen Parlamentswahlen auch deshalb nicht aufrechterhalten, weil die Opposition letztend­lich nur ein einziges Mal, 1969, daran teilnahm. In allen anderen Fällen bestand die einzige wählbare Liste aus Kandidaten der Nationalen Union. In den Anfangsjahren stand Salazar klar im Zentrum der Herrschaftsstruktur des Regimes. Er hatte Staat und Gesellschaft in seinem Sinne geschaffen, er koordinierte alle Regierungsentscheidungen und vereinte immer wieder Ministerämter in Personalunion in sich. Ideologie und Jargon des Regimes waren ein Abbild des Diktators: machiavellistisch, selbstdiszipliniert, ehrgeizig und stolz. Ab etwa 1950 aber ließ der Einfluss Salazars nach. Staat­liche Strukturen begannen sich zu emanzipieren und teilweise auch ohne ihn zu funktionieren. Die Omnipräsenz 12 António Costa Pinto: Elites, Single Parties and Political Decision-­Making in Fascist-­Era Dictatorships. In: Contemporary European History 11 (2002) 3, S. 429 – 454. 13 Philippe Schmitter: The Impact and Meaning of »Non-­Competitive, Non-­Free and Insignificant« Elections in Authoritarian Portugal, 1933 – 1974. In: Guy Hermet u. a. (Hrsg.): Elections without choice. o. O. 1978, S. 145 – 168.

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und Allwissenheit des Regierungschefs bekam Risse. Ein Beispiel hierfür waren die Zensurbehörden: Quellen lassen den Schluss zu, dass diese nahezu völlig autonom waren, vor allem in den Kolonien. Oft konnten selbst hohe Ministerial­ beamte die Entscheidungen (Kürzungen, Umformulierungen, Publikationsverbote usw.) nicht nachvollziehen.14 Dass der Salazar-­Staat ab 1968 völlig ohne seinen Gründer weiterfunktionierte (siehe Abschnitt 3), beweist ­dieses Nachlassen des Einflusses Salazars. Die enorme Auswahl an (populär)wissenschaft­licher »Salazar-­ und …«-Literatur lässt zwar anderes vermuten, ist aber wohl nichts weiter als ein Verkaufsargument, denn: Salazar sells. Zudem erlaubt die nachträg­liche Fokussierung auf eine einzelne agierende Person schließ­lich auch die Eingrenzung der Verantwortung für massenhaft verursachtes Leid.15 Arbeits- und Sozialbeziehungen waren korporatistisch organisiert. Der Korporatismus war grundlegend für die Loyalität nahezu des gesamten rechtskonserva­tiven Spektrums zum salazaristischen Projekt. Er regelte einerseits die Arbeitsbeziehungen, indem er keine Tarifabkommen vorschrieb und so enorme Gewinnmargen ermög­lichte. Andererseits etablierte er ein protektionistisches Wirtschaftssystem, das Unternehmerprivilegien sicherte und den Wettbewerb regulierte. Die Entstehung und Stabilität einer wohlhabenden Unternehmerelite ermög­lichte der Korporatismus nur auf der Basis extremer sozialer Ungleichheit und streng kontrollierter, selektiver Modernisierung und Industrialisierung. Insgesamt lässt sich der Korporatismus als eine Spielart »staat­lich gesponserten Kapitalismus mit dem Ziel der Ressourcenumverteilung zugunsten der ohnehin bereits Privilegierten« beschreiben.16 Durch die strenge staat­liche Kontrolle dieser Ressourcenverteilung ließ sich außerdem wirtschaft­licher Wandel auf komfortable Weise lenken und eindämmen. Der Salazar-­Staat wurde also stabilisiert durch hohe Bürokratisierung, Ausschaltung der Legislative und aller politischen Parteien, anfangs starke Fokussierung auf den Diktator mit limitierter Autonomie einiger Institutionen (etwa der Zensurbehörden und des Außenministeriums) sowie korporatistische Kontrolle der Wirtschafts- und Arbeitsbeziehungen.

14 Das legen Berichte aus dem Archiv des Überseeministeriums in Lissabon nahe: Die Zensur nimmt zum Teil Kürzungen vor, für die wir keine plausible Erklärung finden können. Aponta­ mento 634, MU-GNP, Nov. 66. AHU/MU/GM/GNP/158 pt. 12. 15 Zur Erinnerungskultur siehe den Beitrag von Teresa Pinheiro in ­diesem Band. 16 Tom Gallagher: Conservatism, Dictatorship and Fascism in Portugal, 1914 – 1945. In: Martin Blinkhorn (Hrsg.): Fascists and Conservatives. The Radical Right and the Establishment in Twentieth-­Century Europe. London 1990, S. 157 – 175, hier S. 160.

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1.3 Repression als Herrschaftsinstrument Nach Fernando Rosas gründete der Salazarismus auf einem doppelten Gewaltregime von repressiver und präventiver Gewalt. Repressive Gewalt meint nach dieser Definition etwa Schikane, Einschüchterung und Verfolgung von Dissidenten, Justizwillkür und Folter, während präventive Gewalt die Entmachtung des Parlaments, das Verbot von Parteien und freien Gewerkschaften, die Zensur, Überwachung und Abschreckung umfasst. Der Salazarismus war ein rationalisierter, latenter, aber unablässiger Repressionsstaat, dessen subtiler, eher ziviler Terror ohne martialische Aufmärsche oder Schlägertruppen auskam. Manuel Loff weist darauf hin, dass staat­liche Gewalt unter Salazar proportional zur empfundenen Bedrohung funktioniert habe und damit zeit­lichen und räum­lichen Konjunkturen unterworfen gewesen sei: Während der Konsolidierungsphase, der Orientierung an faschistischen Diktaturen Mittel- und Südeuropas und des Spanischen Bürgerkrieges in den 1930er Jahren sowie während der Kolonialkriege in den 1960er und 1970er Jahren war die Repression am stärksten, und in den Kolonien wurde insgesamt harscher gegen Dissidenten vorgegangen als im Mutterland.17 Wichtigster Akteur des repressiven Apparats war die Internationale Polizei zur Verteidigung des Staates (port.: Polícia Internacional e de Defesa do Estado, PIDE ).18 Sie vereinte die Funktionen einer Kriminalpolizei, einer internationalen Polizei, eines Geheimdienstes, einer Grenzkontrollbehörde, einer Gefängnisverwaltung und einer Zensurbehörde. Durch ihre berüchtigten Methoden der Folter und Willkür trug sie entscheidend zu einer Stimmung der Angst und Einschüchterung bei. Die PIDE war ein effizienter Polizeiapparat, der sich auf nur wenige Tausend festangestellte Beamte, aber ein landesweites Netz von Informanten stützte.19 Obendrein war sie ein hochbürokratischer Apparat, der eine enorme Menge an Berichten und Protokollen produzierte. Die Repression durch die PIDE erreichte in den Jahren nach 1961 mit 3.000 Festnahmen jähr­lich ihren

17 Loff: Coming to Terms (wie Anm. 6), S. 60. 18 Bis 1945 Polícia de Vigilância e de Defesa do Estado [Polizei zur Überwachung und Verteidigung des Staates, PVDE]; 1969 umbenannt in Direção-­Geral de Segurança [Allgemeine Sicherheitsdirektion, DGS]. 19 Noch 1954 umfasste der PIDE-Apparat gerade einmal 755 Beamte (58 davon in den Kolonien). 1972 war er auf 3.580 (2.222) Personen angewachsen. Ein Großteil dieser verfügbaren Stellen, vor allem in den Kolonien, blieb häufig vakant. Siehe Dalila Cabrita Mateus: A PIDE/ DGS na guerra colonial 1961 – 1974 [Die PIDE/DGS im Kolonialkrieg 1961 – 1974]. Lissabon 2004, S. 24, 34.

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Höhepunkt.20 Politische Gefangene wurden in den vier Gefängnissen der PIDE in Aljube (Lissabon), Peniche, Caxias und Angra do Heroísmo (Azoren) fest­ gehalten, oder sie wurden ins 1936 eröffnete Konzentrationslager Tarrafal auf der kapverdischen Insel Santiago geschickt, das den Beinamen ›Lager des langsamen Todes‹ (port.: Campo da Morte Lenta) trug. Zwischen 1936 und 1954 wurden etwa 2.000 Gefangene, zumeist ohne ordent­lichen Prozess, nach Tarrafal verbannt.21 Die präventive Gewaltformel des Salazarismus war sch­licht: ideologische Indoktrinierung bei gleichzeitiger politischer Demobilisierung. Die katholische ­Kirche als Vermittlerin einer traditionalistischen Weltsicht übernahm besonders auf dem Land die Schulbildung im Sinne Salazars. Die Indoktrinierung fand auf subtile Weise, nicht durch mitreißende Reden oder Aufmärsche in Sportstadien statt; eine ­solche Politik der Massen behagte Salazar gar nicht. Die strenge Zensur machte aus der portugiesischen Presse »vermut­lich die langweiligste der Welt«;22 selbst päpst­liche Enzyklika und die seltenen Interviews Salazars wurden nur zensiert veröffent­licht. Das künst­liche Am-­Leben-­Erhalten archaischer Produktionsformen und der staat­liche Protektionismus in der Anfangsphase des Regimes verlangsamten das Industriewachstum und hielten die Arbeiter- und Mittelschicht klein. Jenen Zustand der Sedierung durch Entpolitisierung und Zäsur, die intellektuelle und kulturelle Ödnis jener Gesellschaft der Salazar-­Jahre beschreibt Antonio Tabucchi in seinem Roman Erklärt Pereira auf äußerst eindrucksvolle Weise.23 1.4 Gesellschaft­liche Trägerschichten und Widerstand Salazars politische Kunst bestand im Austarieren – ­zwischen republikanischen und monarchistischen Kräften, ­zwischen Freimaurern und Katholiken, ­zwischen Hardlinern und Liberalen. »Wenn Trotski die ständige Revolution erfunden hat, dann hat Salazar das ständige Gleichgewicht erfunden.« 24 Durch Ambiguität in der Wortwahl und Pragmatismus im Handeln gelang es ihm, ein soziales Gleichgewicht im von den Grabenkämpfen der E ­ rsten Republik zerrissenen rechten Spektrum herzustellen.

20 Zum Vergleich: Im gesamten Zeitraum ­zwischen 1933 und 1960 wurden ›nur‹ 24.000 Menschen festgenommen. Siehe Loff: Coming to terms (wie Anm. 6), S. 62, 66. 21 Ebd., S. 63. 22 Tom Gallagher: Portugal. A Twentieth-­Century Interpretation. Manchester 1983, S. 101. 23 Antonio Tabucchi: Erklärt Pereira. Eine Zeugenaussage. München 1997. 24 Henrique Raposo: História politicamente incorreta do Portugal Contemporâneo [Politisch unkorrekte Zeitgeschichte Portugals]. Lissabon 2013, S. 21.

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Das galt auch für sein Verhältnis zur ­Kirche und zum Militär. Beide sind häufig als Hauptpfeiler des Regimes bezeichnet worden, tatsäch­lich aber waren die Beziehungen z­ wischen dem Staat und den beiden Institutionen ambivalent. Anders als oft behauptet wird, war das Ziel Salazars nie die Errichtung eines katholischen Staates, sondern vielmehr die politische Neutralisierung der K ­ irche. Seit einem Konkordat von 1940 waren Staat und K ­ irche offiziell getrennt; die K ­ irche war juristische Person und bei internen Fragen autonom, hatte sich aber nicht in politische Angelegenheiten einzumischen. Bis zu einer Verfassungsreform 1951 war der Salazar-­Staat laizistisch. Dennoch war die ­Kirche frei­lich als international vernetzte Elite nicht nur zentraler Akteur im Bildungssystem d ­ ieses »katholaizistischen« 25 Staates, sondern auch unverzichtbarer Brückenkopf ins Ausland. Zudem adelte sie die nationalkonservative Ideologie des Regimes mit Spiritualität. Das Verhältnis ­zwischen Staat und ­Kirche war also nicht so sehr deshalb gespannt, weil der Klerus mit der antiliberalen Ideologie nicht einverstanden gewesen wäre (auch wenn es durchaus einige Dissidenten gab), sondern weil die K ­ irche um ihre Autonomie fürchtete, und das zu Recht: Der Salazar-­Staat versuchte entgegen der Abmachungen des Konkordats mehrfach, Einfluss auf kirch­liche Personalien zu nehmen, insbesondere wenn es um Priesterämter in den Kolonien ging.26 Die ­Kirche musste sich indes gegen den Vorwurf der Kollaboration zur Wehr setzen. Kardinal Cerejeira sah sich mehrfach gezwungen, darauf hinzuweisen, dass die ­Kirche keinen politischen Einfluss habe und sich »über das politische Regime als solches niemals geäußert und es weder gebilligt noch verurteilt« habe.27 Aber ­solche Beteuerungen konnten nicht verdecken, dass es bis auf den Bischof von Porto kein einziger hoher kirch­licher Würdenträger Portugals wagte, Kritik am Regime zu üben oder sich offen mit der Opposition zu solidarisieren.28 Auch die Beziehung z­ wischen jenem Staat, der ja aus einer Militärdiktatur entstanden war, und den Streitkräften war ambivalent und unruhig. Salazar kontrollierte das Militär aus der ständigen Angst vor einem Militärputsch stark. Bereits in den Jahren ­zwischen 1938 und 1940 führte er ohne direkten Anlass eine 25 Manuel Braga da Cruz: Der Estado Novo und die katholische K ­ irche. In: Fernando Rosas (Hrsg.): Vom Ständestaat zur Demokratie (wie Anm. 3). S. 49 – 63, hier S. 51. 26 Ebd., S. 60. 27 Zit. nach Ralf Sänger: Portugals langer Weg nach »Europa«. Die Entwicklung von einem autoritär-­korporativen Regime zu einer bürger­lich-­parlamentarischen Demokratie. Dissertation. Gießen 1993, Frankfurt a. M. 1994, S. 58. 28 Siehe Rita Almeida de Carvalho: Interwar Dictatorships, the Catholic Church and Concordats. The Portuguese New State in a Comparative Perspective. In: Contemporary European History 25 (2016) 1, S. 37 – 55.

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Abb. 1  Der Ministerpräsident Portugals António Salazar (rechts) und der Staatspräsident General Óscar Carmona (links), Datum unbekannt.

Säuberungsaktion durch, die einzig und allein dem Zweck diente, Schlüsselpositionen mit treuen Gefolgsmännern zu besetzen. Gleichzeitig aber produzierte das Regime »endlose Ströme promilitärischer Propaganda« 29 und integrierte militärische Vertreter auch als politisches Personal in den Staat: Alle Staatspräsidenten des Salazarismus kamen aus den Reihen des Militärs (General Óscar ­Carmona 1928 – 1951, General Francisco Craveiro Lopes 1951 – 1958, Admiral Américo Tomás 1958 – 1974). Die Angst vor einem Putsch erwies sich als berechtigt: ein aufwendig geplanter Coup unter General Botelho Moniz scheiterte 1961, und 1974 wurde das Salazar-­Regime tatsäch­lich durch einen Militärputsch gestürzt, der allerdings nicht von der militärischen Führung, sondern von den mittleren Rängen ausging.30 29 Douglas Wheeler: The Military and the Portuguese Dictatorship, 1926 – 1974. The Honor of the Army. In: Lawrence Graham u. a. (Hrsg.): Contemporary Portugal. The Revolution and Its Antecedents. Austin 1979, S. 191 – 220, hier S. 209. 30 Zum Militär unter Salazar insgesamt siehe Rona Fields: The Portuguese Revolution and the Armed Forces Movement. New York 1975; Lawrence Graham: The Military in Politics. The Politicization of the Portuguese Armed Forces. In: Ders. u. a. (Hrsg.): Contemporary Portugal (wie Anm. 29), S.  221 – 256; Wheeler: Military (wie Anm. 29); D. L. Raby: Fascism and Resistance in Portugal. Communists, Liberals and Military Dissidents in the Opposition to Salazar, 1941 – 1974. Manchester 1988; Josep Cervelló Sánchez: A revolução portuguesa

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All dies lässt eher darauf schließen, dass K ­ irche und Militär nicht Pfeiler des Regimes, sondern vielmehr Instrumente sozialer Kontrolle in den Händen ­Salazars waren. Die wahren Pfeiler standen anderswo: Unternehmer, Großgrundbesitzer und länd­liche Mittelschicht profitierten am meisten von der Idee des länd­lichen Portugals und der korporatistischen Organisation der Arbeitsbeziehungen. Die Grundideen der wenig abenteuerlustigen salazaristischen Wirtschaftspolitik waren Währungsstabilität und eine ausgeg­lichene Handelsbilanz. Unter dem stark protektionistisch agierenden Staat lagen Kapital und Produktion ihrerseits größtenteils in Privathand. Portugal war (und ist zum Teil bis heute) ein Land, in dem ökonomische Macht sich in den Händen einiger weniger Kapitalgesellschaften und Clans konzentrierte, die sich unter dem rigiden Protektionismus Salazars ungestört entfalten konnten. Zehn Familien besaßen insgesamt 168 Unternehmen und kontrollierten 53 Prozent des landesweit generierten Umsatzes in den Bereichen Finanzen, Versicherungen, Zement, Bergbau, Raffinerien, Stahl, Petrochemie, Brauereien und Schiffsbau – eine oligarchische Struktur, die bis 1974 gegen jede ­soziale Transformation immun blieb und teilweise bis heute Bestand hat.31 Auch der koloniale Handel und Finanzmarkt war fest in der Hand jener Oligarchien. Korporatismus und Kolonialismus spielten also beide den ohnehin schon Privilegierten in die Hände. Die kolonialen Wirtschaftsbeziehungen bremsten darüber hinaus jeg­liche ökonomische Dynamik durch die Festigung jener Monopolstruktur zusätz­lich aus. Die repressiven Bedingungen machten effektive Oppositionsarbeit unmög­lich. Die politische Opposition gegen das Salazar-­Regime war daher kein geschlossener Block, sondern eine Ansammlung einzelner Kritiker und politischer Grüppchen. Die Kommunistische Partei (PCP), 1921 als portugiesische Sektion der Kommunistischen Internationalen gegründet, war die mit Abstand größte und am besten organisierte oppositionelle Struktur. Die Hegemonie des PCP innerhalb der Opposition gründete auf einem beeindruckend straff organisierten Netzwerk im Untergrund unter der Führung Álvaro Cunhals (1913 – 2005). 1943 hatte die PCP 1.200 Mitglieder, 1947 bereits 7.000.32 Die gemäßigte linke Opposition ihrerseits organisierte sich erst in den 1960er Jahren in parteiähn­lichen Organisationen – der Sozialdemokratischen Aktion (port.: Acção Democrato-­Social, ADS) und der Portugiesischen Sozialistischen Aktion (port.: Acção Socialista Portuguesa, ASP).

e a sua influência na transição espanhola 1961 – 1976 [Die portugiesische Revolution und ihr Einfluss auf die spanische Transition 1961 – 1976]. Lissabon 1993. 31 W. Baer/A. Leite: The Peripheral Economy, Its Performance in Isolation and with Integration. The Case of Portugal. In: Luso-­Brazilian Review 29 (1992) 2, S. 1 – 35, hier S. 2; David Birmingham: A Concise History of Portugal. Cambridge 1993, S. 172 f. 32 Loff: Coming to Terms (wie Anm. 6), S. 64.

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Die linke Opposition agierte in der Halblegalität. Vor Wahlen legalisierte die Regierung sie üb­licherweise für einige Wochen, nicht zuletzt um so im Anschluss Zugriff auf die Namenslisten oppositioneller Kandidaten zu haben. Taktisch changierte die Opposition z­ wischen Legalismus und revolutionären Forderungen, beschränkte sich allerdings im politischen Kampf auf den schrift­ lichen Protest; erst in den 1970er Jahren verübten anarchistische und kommunistische Gruppen auch Terrorangriffe und Sabotageakte. Zeitschriften wie das 1931 gegründete kommunistische Monatsblatt Avante! (dt.: Vorwärts!) und das moderat-­oppositionelle Portugal Democrático (unter vielen anderen) stellten sicher, dass oppositionelles Gedankengut zirkulierte. Ihre tatsäch­liche Verbreitung ist frei­lich schwer messbar. Mit einer Auflage von jeweils etwa 3.000 Exemplaren waren Avante! und das in São Paulo gedruckte Portugal Democrático beides eher Nischenblätter. Das Verdienst und der Todesmut der aktiven Oppositionellen, die unter dem ständigen Damoklesschwert langer Haftstrafen, Folter und Zwangsarbeit operierten, können nicht in Abrede gestellt werden, aber die linke Opposition stellte zu keinem Zeitpunkt einen ernsthaft bedroh­ lichen »alternativen Machtfaktor« 33 dar. Das Gleiche galt für die versprengte Opposition von rechts, die sich ab den 1960er Jahren neu formierte. Nach dem Niedergang des Neosyndikalismus um Rolão Preto bis 1935 entstand im Zuge einer generellen europäischen Renaissance des Neofaschismus vor allem im studentischen Milieu eine neue radikale Rechte. Bei den meisten dieser Gruppierungen handelte es sich um radikale Abspaltungen staat­licher Bewegungen, etwa der Portugiesischen Jugend (port.: Mocidade Portuguesa, MP). Einige entstanden in direkter Reaktion auf die Gewaltausbrüche in der Kolonie Angola 1961. Ähn­lich wie die radikale Linke (Maoisten, Trotzkisten) zählten ­solche Organisationen allerdings zu keinem Zeitpunkt mehr als ein paar Hundert Mitglieder. Allerdings standen viele von ihnen staat­lichen Institutionen, etwa der PIDE, der Portugiesischen Legion (port.: Legião Portuguesa, LP) und dem Innenministerium nahe oder besetzten dort mittlere Posten. So war ihre Fähigkeit, die Regierungspolitik unter anderem in Kolonialfragen zu beeinflussen, immer größer als die der linken Opposition.34 Zweimal im Lauf der vier salazaristischen Jahrzehnte wurde das Experiment einer legalen Gegenpartei innerhalb des Staates gewagt. In den 1940er Jahren hatte 33 Fernando Rosas: Salazarismus oder die Kunst des Überdauerns. In: Ders.: Vom Ständestaat zur Demokratie (wie Anm. 3), S. 36 – 48, hier S. 45. 34 Riccardo Marchi: Império – Nação – Revolução. As direitas radicais portuguesas no fim do Estado Novo 1959 – 1974 [Imperium – Nation – Revolution. Die portugiesische radikale Rechte in der Endphase des Estado Novo 1959 – 1974]. Alfragide 2009, S. 80 – 88.

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sich eine republikanische und eine sozialistische Partei zu organisieren begonnen, die gemeinsam mit den Kommunisten und anderen Widerstandsgruppen in der (legalen!) Bewegung der Nationalen Antifaschistischen Einheit (port.: Movimento de Unidade Nacional Antifascista, MUNAF ), einem »Sammelbecken für Regimegegner« 35 aufgegangen waren. Schon früh hatten sich allerdings die nichtkommunistischen Parteien aus dem MUNAF abgespalten und eine eigene Bewegung, die Bewegung Demokratischer Einheit (port.: Movimento de Unidade Democrática, MUD ) gegründet. Der MUD war im Januar 1948 von staat­licher Seite unter dem Vorwand, er unterhalte enge Verbindungen zum illegalen PCP , verboten und aufgelöst worden. Auch der MUNAF war nach der Abspaltung des MUD bedeutungslos geworden. In den späten 1960er Jahren wurde unter Salazars Nachfolger Marcelo Caetano (1906 – 1980) ein ähn­liches Experiment gestartet. Um eine ala liberal, einen liberalen Flügel zu etablieren, rekrutierte Caetano für die Parlamentswahlen im Oktober 1969 einige junge Wirtschaftsexperten und Juristen, die auf den Listen der ANP für einen Abgeordnetensitz kandidierten. Diese »Semiopposition« 36 war kein zufällig entstandenes oder autonomes Kollektiv, sondern ein bewusstes Projekt, das der Regierung Unterstützung sichern sollte. Die ala liberal als ein Bündnis, das Caetano bei seinem Projekt politischer Liberalisierung und ökonomischer Modernisierung eigent­lich den Rücken hatte freihalten sollen, verselbstständigte sich allerdings bald. Nach den Wahlen veröffent­lichten die jungen Liberalen unter ihrem Wortführer Francisco Sá Carneiro einige revolutionäre Vorstöße, etwa ein Projekt zur vollständigen Abschaffung der Zensur (April 1970), einen Gesetzesentwurf zur Wiedereinführung der Direktwahl des Staatspräsidenten und der Wiederherstellung aller Bürgerrechte (Dezember 1970) und eine Amnestieforderung für politische Gefangene ( Januar 1972). Als die gewünschte Demokratisierung auf sich warten ließ und Großprojekte wie die Verfassungsrevision von 1971 hinter den Erwartungen zurückblieben, traten die beiden Protagonisten der ala liberal, Sá Carneiro und Miller Guerra, Anfang 1973 zurück.37

35 Walther Bernecker/Klaus Herbers: Geschichte Portugals. Stuttgart 2013, S. 273. 36 Tiago Fernandes: The Liberal Wing of the National Assembly (1969 – 1973). A Sociological Profile. In: Portuguese Journal of Social Science 2 (2003) 2, S. 105 – 124, hier S. 106. – Begriff nach Juan Linz: Totalitarian and Authoritarian Regimes. In: F. Greenstein u. a. (Hrsg.): Handbook of Political Science. Bd. 3: Macro-­political Theory. Reading (Mass.) 1975, S. 175 – 411, hier S. 272. 37 Tiago Fernandes: Nem ditadura, nem revolução. A ala liberal e o Marcelismo 1968 – 1974 [Weder Diktatur noch Revolution. Die ala liberal und der Marcelismus 1968 – 1974]. Lissabon 2006, S. 117.

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Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es dem Salazarismus gelang, eine Unterstützerbasis aus Großgrundbesitzern, Wirtschaftsoligarchen und länd­ licher Mittel- und Unterschicht aufzubauen, indem er Erstere durch korporatistische Regelungen und Letztere durch die Mög­lichkeit legaler Emigration und sozialen Aufstiegs in den Kolonien ruhigstellte. Die militärische und klerikale Führungsriege hingegen wurde durch eine klare Kompetenztrennung ­zwischen ­Kirche und Staat sowie durch die Säuberung, Bindung und Integration des Militärs unter Kontrolle gebracht. Die Opposition von links und von rechts war starker Repression ausgesetzt und operierte im Untergrund, während ­Caetanos Versuch der Schaffung einer legalen Gegenpartei von oben in den Jahren 1969 – 1973 scheiterte.

2. Die Falle der Vernied­lichung Das Salazar-­Regime war ein antidemokratischer und antikommunistischer Staat, der auf einem wertkonservativen, nationalistischen Gesellschaftsideal basierte. Seine Macht sicherte es durch präventive und repressive Gewalt, politische Demobilisierung der Bevölkerung und eine Allianz aus Wirtschaftsoligarchen und Großgrundbesitzern, deren Interessen es diente. Das Militär, die katholische ­Kirche und die Geheimpolizei PIDE waren seine wichtigsten Instrumente sozialer Kontrolle. Das Salazar-­Regime war allerdings kein faschistisches Regime, und diese zunächst rein politikwissenschaft­liche Distinktion hat zu historischen Missverständnissen und Polemiken Anlass gegeben. Es war kein faschistisches Regime, denn es praktizierte keine totalitäre Durchdringung der politischen Institutionen und des Alltagslebens, sondern ließ »limitierten Pluralismus« 38 zu. Gleichzeitig fehlten ihm faschistische Komponenten wie ein überhöhter Führerkult oder eine Einheitspartei. Ideologisch basierte der Salazarismus nicht auf der Ausgrenzung einer sozialen Gruppe, etwa der Juden. Und anders als faschistische Regime war er alles andere als antikirch­lich, sondern kultivierte frömmelnden Katholizismus und ein ostentativ gutes Verhältnis zur katholischen K ­ irche, die im Rahmen des Konkordats schließ­lich nicht nur auf Distanz gehalten wurde, sondern auch staat­ lichen Schutz genoss. Nicht zuletzt hegte Salazar selbst große Skepsis, ja Abneigung gegenüber den lärmenden und aggressiv expansionistischen Faschismen im Deutschland und Italien der 1930er und 1940er Jahre.

38 Linz: Totalitarian and Authoritarian Regimes (wie Anm. 36), S.  175 – 411.

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Die zeitweise mit einiger Vehemenz geführte Debatte um den faschistischen Charakter des Salazar-­Regimes ist zwar inzwischen beigelegt.39 Aber sie hat leider dazu geführt, dass mitunter die Tendenz zur Verharmlosung dieser zwar nicht faschis­ tischen, aber antiliberalen und ultrakonservativen Diktatur besteht. Als s­ eien die proklamierte Rückständigkeit, das zivile Erscheinungsbild des Diktators, das zuweilen unfreiwillig komische Pathos der politischen Propaganda nichts als nied­liche Spleens, der aufgeräumte und effiziente Regierungsapparat nichts als eine Diktatur light. Vor einer solchen Fehlinterpretation ist indes vehement zu warnen. Der Salazar-­ Staat war vielleicht äußer­lich kaum militarisiert und nicht von finsteren Aufmärschen und brutalen Schlägertrupps geprägt. Aber permanente Überwachung, die völlige Stilllegung der politischen Kultur und fehlende demokratische Kontrolle kosteten Unzähligen Leben oder Freiheit und standen einzig und allein im Dienst der Machtfantasien eines Einzelnen und der Bereicherung seiner Oligarchie.

3. Wandlungsprozesse und Zäsuren Salazar wurde 1889 geboren und war damit genauso alt wie Hitler. Sein Regime entstand drei Jahre vor der Nazidiktatur und überlebte in den vier Jahrzehnten seines Bestehens einige globale Zäsuren wie die Weltwirtschaftskrise, den Z ­ weiten Weltkrieg und den Holocaust, den größten Teil des Kalten Krieges und den Beginn der Dekolonisierung, Wertewandel und Liberalisierung in Westeuropa, die Entstehung der Konsumgesellschaft, der Frauen- und der Umweltbewegung, die amerikanische Niederlage in Vietnam und die französische in Indochina und Algerien sowie den Beginn und die Konsolidierung der europäischen Einigung. All dies ließ das Regime nicht unberührt. Abschließend soll daher auf Entwicklungen und Wandlungsprozesse dieser Diktatur eingegangen werden, die vielleicht ­flexibler war, als sie oft erscheint. Einiges davon ist im ersten Teil bereits angeklungen, im Folgenden sollen s­ olche Prozesse in loser chronologischer Reihen­ folge zusammengefasst werden.40 39 Als Standardreferenzen siehe Linz: Totalitarian and Authoritarian regimes (wie Anm. 36); António Costa Pinto: Salazar’s Dictatorship and European Fascism. Problems of Interpretation. New York 1995; Stuart Woolf (Hrsg.): European Fascism. London 1968. – In der überarbeiteten Auflage von 1981 ist der Aufsatz zu Portugal nicht mehr enthalten; ­Stanley Payne: Autoritarisme portugais et autoritarismes européens. In: Revista de História das Idéias 16 (1994), S. 7 – 18. Als Gegenrede zur Position der Verf. vgl. Loff: Coming to terms (wie Anm. 6), S.  59 – 61. 40 Auf eine strenge Periodisierung wurde dabei verzichtet. Die klassische Unterteilung des Salazarismus in drei bzw. vier Phasen (1926 – 1933, 1933 – 1945, 1945 – 1961, 1961 – 1974) ist u. a.

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a) Der faschistoide Charakter der 1930er Jahre wurde nach 1945 abgelegt, indem pseudofaschistische Organisationen wie die LP und die MP , die explizit nach dem Vorbild der nationalsozialistischen SA und HJ modelliert worden waren, zusammengestaucht wurden. Das Nationale Propagandasekretariat (port.: Secretariado de Propaganda Nacional, SPN ) wurde just 1945 umbenannt in Nationales Sekretariat für Information und Tourismus (port.: Secretariado Nacional de Informação e Turismo, SNI ); die PVDE in PIDE (vgl. Anm. 17); selbst die propagandistische Eigenbezeichnung als ›Neuer Staat‹ (port.: Estado Novo) wurde wegen ihres faschistischen Beiklangs nach 1945 nur noch sehr selten verwendet. b) Wenngleich das Regime seine faschistoiden Elemente ablegte, wurde es mit der Zeit autoritärer. Die wichtigste konstitutionelle Zäsur hierfür ist die Beschneidung der Kompetenzen der Legislative 1945. Generell erstreckte sich die Kompetenz der Nationalversammlung ohnehin nur auf Gesetzesvorschläge, die weder die Staatseinnahmen beschnitten noch die Staatsausgaben erhöhten. Aber bis 1945 konnte sie mit einer Zweidrittelmehrheit Gesetze auch gegen das Veto des Staatspräsidenten verabschieden. Das war danach nicht mehr mög­lich.41 Ein weiterer Schritt in Richtung einer autoritären Zentralisierung wurde nach den Präsidentschaftswahlen von 1958 getan: Die Kandidatur des Generals Humberto Delgado (1906 – 1965) bei den Präsidentschaftswahlen kann als erste große innere Herausforderung des Regimes gelten. Delgado war eine charismatische Persön­lichkeit mit dem Beinamen ›der furchtlose General‹, dem es erstmals seit 1945 gelungen war, alle oppositionellen Kräfte und Anhänger verschiedener sozialen Schichten hinter sich zu vereinen. Seine Kandidatur brach die erstickte Atmosphäre der 1950er Jahre auf, seine furiosen Auftritte im Wahlkampf sorgten für Jubelstürme im ganzen Land. Delgados Forderungen galten in erster Linie der Demokratisierung innerer Strukturen; berühmt geworden ist seine Antwort auf die Frage eines Journalisten, was er bei einem Wahlsieg mit Ministerpräsident Salazar machen werde: »Ich entlasse ihn selbstverständ­lich!« Beinahe wurden die Wahlen also zu einem Debakel für Salazar; nur sorgfältige Wahlfälschung konnte einen Sieg Delgados verhindern. Im Anschluss wurde umgehend die direkte Präsidentschaftswahl abgeschafft und durch einen indirekten Wahlmodus durch ein Wahlkollegium ersetzt. Delgado engagierte sich nach 1958 weiter in der Opposition und wurde 1965 unter bis heute nicht gänz­lich geklärten Umständen von der PIDE ermordet. bei Manuel Loff nachzulesen: Coming to terms (wie Anm. 6), S. 57 f. 41 José Manuel Tavares Castilho: A elite parlamentar do marcelismo 1965 – 1974 [Die parlamentarische Elite im Marcelismus 1965 – 1974]. In: António Costa Pinto/André Freire (Hrsg.): Elites, Sociedade e Mudança Política [Eliten, Gesellschaft und politischer Wandel]. Oeiras 2003, S. 43 – 66, hier S. 47 f.

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c) Der Mythos von der sozialen und ökonomischen Rückständigkeit des kleinen Landes am Rande Europas unter einer ›autoritären Käseglocke‹ ist nur bedingt aufrechtzuerhalten: Ab etwa 1950 verfolgte das Salazar-­Regime eine staat­lich gelenkte Politik der Industrialisierung und wirtschaft­lichen Modernisierung, die im Zeitraum ­zwischen 1961 und 1973 eine jähr­liche Steigerung des Bruttoinlandsprodukts um 6,9 Prozent zur Folge hatte. Zum Vergleich: Das OECD -Durchschnittswachstum in derselben Periode lag bei 5 Prozent; Portugal hatte damit die dritthöchste Wachstumsrate zu verzeichnen – übrigens hinter Spanien und Griechenland auf den Plätzen eins und zwei. Diese Industrialisierung, obgleich vorsichtig und staat­lich gelenkt, konnte die üb­lichen sozialen Konsequenzen eines solchen Prozesses – Urbanisierung und Landflucht – frei­lich nicht vermeiden. d) Verschiedene Faktoren führten ab den 1950er Jahren zu einer größeren Öffnung gen Europa. Portugal war zwar nicht Mitglied der EWG , aber durch enge Handelsbeziehungen mit ihr verbunden: 1973 ging fast die Hälfte aller portugiesischen Exporte an EWG-Staaten und ledig­lich 15 Prozent an die Kolonien. Ähn­liches galt für Importe.42 Ab 1970 führte Caetano Beitrittsverhandlungen mit der EWG. 1972 schlossen beide ein Freihandelsabkommen ab, das 1973 in Kraft trat und die Senkung der Zölle für Industrieerzeugnisse und bestimmte Agrarerzeugnisse vorsah. Zunehmend wurde der Tourismus als Einnahmequelle entdeckt und ausländische Touristen mit Devisen und in Bikinis bevölkerten ab den 1960er Jahren die Strände des Landes.43 Gleichzeitig musste sich das Innenministerium mit unzähligen legalen und illegalen Emigranten auseinandersetzen, zu denen ab 1961 noch Tausende von Wehrpf­l ichtigen kamen, die so vor dem Wehrdienst in Afrika flohen. Portugal verlor in den Jahren z­ wischen 1960 und 1973 1,5 Millionen Bürger durch Emigration 44 und hatte daher in den 1960er Jahren als einziges europäisches Land 42 José Freire Antunes: O factor africano 1890 – 1990 [Der afrikanische Faktor 1890 – 1990]. Venda Nova 1990, S. 83. 43 Zum aufkommenden Tourismus siehe Susana Lobo: Sun, Sand, Sea & Bikini. Arquitetura e turismo. Portugal anos 60 [Sonne, Sand, Meer & Bikini. Architektur und Tourismus. Portugal in den 1960er Jahren]. In: Revista Crítica de Ciências Sociais 91 (2010), S. 91 – 106; Raphael Costa: The ›Great Façade of Nationality‹. Some Considerations on Portuguese Tourism and the Multiple Meanings of Estado Novo Portugal in Travel Literature. In: Journal of Tourism History 5 (2013) 1, S. 50 – 72. – Aktuell siehe die Forschung von Patricia Hertel an der Universität Basel. 44 Loff: Coming to terms (wie Anm. 6), S. 108; Miguel Cardina: Guerra à Guerra. V ­ iolência e anticolonialismo nas oposições ao Estado Novo [Krieg dem Krieg. Gewalt und Antikolonialismus in der Opposition zum Estado Novo]. In: Revista Crítica de Ciências Sociais 88 (März 2010), S. 207 – 231, hier S. 216. – 1973 lebten bereits mehr als 100.000 portugiesische Emigran­ ten in EWG-Ländern. Siehe Antunes: O factor Africano (wie Anm. 42), S. 83.

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Abb. 2 Programmflyer zum ersten Flug der Tap (Transportes Aéreos Portugueses) von Lissabon nach Lourenҫo Marques, der Hauptstadt Mosambiks, vom 17. Juli 1970.

einen Bevölkerungsrückgang zu verzeichnen, obwohl es weiterhin die höchste Geburtenrate Westeuropas aufwies.45 Das Regime verfolgte gegenüber der Emigration eine einigermaßen paradoxe Politik: Während eine Reihe von Gesetzen die legale Auswanderung vor allem der Arbeiter- und Landbevölkerung quasi unmög­lich machte, so dass die regimetragenden Eliten nicht um günstige Arbeitskräfte fürchten mussten, wurde wenig dafür getan, die tatsäch­lich stattfindende illegale Massenauswanderung einzudämmen. Die polizeistaat­lichen Maßnahmen zur Verhinderung illegaler Auswanderung waren jedenfalls von bemerkenswerter Ineffizienz, was den Schluss zulässt, dass Emigration als soziales Ventil und Devisenquelle durchaus willkommen war.46 45 Von 8,89 Millionen (Zensus 1960) auf 8,67 Millionen (Zensus 1970). Die Geburtenrate lag in den 1960er Jahren bei etwa 200.000 pro Jahr, das entspricht dem Doppelten der heutigen Geburtenrate und zugleich der damaligen Todesrate. 46 Einen sehr guten Überblick zur Emigrationsgesetzgebung und -praxis bietet Vítor Pereira: La politique d’émigration de l’Estado Novo entre 1958 et 1974. In: Cahiers de l’Urmis 9 (Feb. 2004).

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e) Die wichtigste Zäsur der Geschichte des Salazarismus war das Jahr 1961, das annus horribilis: Im Januar/Februar 1961 brachen in Angola Aufstände aus, die sich zum Kolonialkrieg ausweiteten, im Dezember annektierte dann Nehru in Indien kurzerhand die portugiesischen Exklaven auf dem Subkontinent, Goa, Damão und Diu. Der Krieg in Afrika weitete sich rasch aus: In Guinea-­Bissau erklärte die Befreiungsbewegung Partei für Unabhängigkeit Guineas und Kap Verdes (port.: Partido Africano da Independência da Guiné e Cabo Verde, PAIGC) Portugal 1963 den Krieg und gewann rasch die militärische Oberhand. In Mosambik begann die Mosambikanische Befreiungsfront (port.: Frente de Libertação de Moçambique, Frelimo) 1964 ihren Guerillakampf um die Unabhängigkeit. Diese mehrfache, gewaltsame Infragestellung des Kolonialreiches, die letzt­lich den Zusammenbruch zur Folge haben sollte, war die extremste Herausforderung, die das Regime bis dahin zu bewältigen hatte. Das Kolonialreich war Unterpfand für Portugals Status als Weltmacht, soziales Ventil für Auswanderung, Spielwiese für portugiesische und ausländische Investoren und sichtbarer Beleg für das Sendungsbewusstsein und die Legitimität des Regimes. Außerdem erwiesen sich die Kolonialkriege extrem kostspielig in Bezug auf die Staatsfinanzen, Menschenleben und das internationale Prestige.47 f ) Wie oben beschrieben sank der Einfluss Salazars auf die Regierungsgeschäfte ab den späten 1950er Jahren spürbar. Der Grund hierfür war wohl vor allem das hohe Alter des Regierungschefs, das, wie die Quellen verraten, vielen Anlass zur Sorge oder zur gespannten Erwartung gab. Als der Diktator im Sommer 1968 nach einem Sturz ein Schädeltrauma erlitt, von dem er sich nicht mehr erholte (er starb 1970), änderte sich allerdings erst einmal gar nichts. Verfassungsgemäß ernannte Staatspräsident Américo Tomás einen Nachfolger: den 62-jährigen Abgerufen unter URL: http://urmis.revues.org/31, letzter Zugriff: 31. 01. 2017. – Zu den Modalitäten der illegalen Emigration, den Schleppernetzwerken usw. siehe Ders.: Les réseaux de l’émigration clandestine portugaise vers la France entre 1957 et 1974. In: Journal of Modern European History 12 (2014) 1, S. 107 – 125. 47 Mindestens 66.000 Guerillakämpfer verloren in den Kriegen ihr Leben, außerdem knapp 9.000 portugiesische Soldaten und circa 100.000 angolanische und mosambikanische Zivilisten. Während der 1960er Jahre entsprachen die Militärausgaben etwa 50 Prozent des öffent­lichen Budgets, 85 Prozent des allgemeinen Kolonialbudgets und acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Siehe Loff: Coming to terms (wie Anm. 6), S. 67; – darüber hinaus siehe Manuel Porto: Portugal: Twenty Years of Change. In: Allan Williams (Hrsg.): Southern Europe Transformed. Political and Economic Change in Greece, Italy, Portugal and Spain. o. O. 1984, S. 84 – 112, hier S. 91 f.; Pedro Lains: An Account of the Portuguese African Empire, 1885 – 1975. In: Revista de Historia Económica 16/1 (1998), S. 235 – 263, hier S. 258. – Die portugiesische Armee war in den 1960er Jahren im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung die viertgrößte der Welt nach Nordvietnam, Südvietnam und Israel.

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Juristen Marcelo Caetano.48 Ihm hing ein Ruf als Reformer an, und tatsäch­lich begann er sein Mandat mit einigen liberalisierenden Maßnahmen, etwa der Ausweitung des Wahlrechts und der Begnadigung prominenter politischer Exilanten. Der so genannte marcelistische Frühling sollte allerdings nicht lange anhalten. Ab 1970 gewannen die sogenannten Ultras, also die konservative Fraktion, wieder die Oberhand. Reformen wurden widerrufen, die ala liberal trat zurück (siehe Abschnitt 1.4), und der Kolonialstaat wurde noch stärker zentralisiert. Letztend­lich wurde Marcelo Caetano seine Unfähigkeit (oder Unlust) zum Verhängnis, die Kolonialkriege zu beenden und eine politische Lösung der Kolonialfrage mit den Befreiungsbewegungen zu verhandeln. Der Konflikt radikalisierte die linke Opposition: Terroristische Organisationen wie die Liga für die Einheit revolutionärer Aktion (port.: Liga de Unidade de Acção Revolucionária, LUAR ) und die Roten Brigaden entstanden und verübten Attentate auf vornehm­lich militärische Ziele.49 Vor allem aber politisierte die aussichtslose Situation das Militär. Im April 1974 hatten einige der zentralen militärischen Akteure, die die Hauptlast der Kriege trugen, genug von dem sinnlosen Kampf und setzten der Agonie des Regimes mit einem Putsch ein Ende. Die Diktatur war zuerst da gewesen, dann der Diktator – und sie überlebte ihn, wenn auch nur um wenige Jahre.

48 Zu Caetano ist ebenso wie zu Salazar eine (politische) Biografie erschienen. Siehe Filipe Ribeiro de Meneses: Salazar. A political biography. New York 2010; José Manuel ­Tavares Castilho: Marcello Caetano. Uma biografia política [Eine politische Biografie]. Lissabon 2012. 49 Siehe C. Oliveira: Luta armada [Bewaffneter Kampf ]. In: Fernando Rosas u. a. (Hrsg.): Dicionário de história do Estado Novo [Wörterbuch der Geschichte des Estado Novo]. Bd. 1, Venda Nova 1996; João Madeira: As oposições de esquerda e a extrema-­esquerda [Die linke und extrem linke Opposition]. In: Fernando Rosas (Hrsg.): A transição falhada. O marcelismo e o fim do estado novo 1968 – 1974 [Die gescheiterte Transition. Der Marcelismus und das Ende des Estado Novo]. Lissabon 2004, S. 91 – 135, hier S. 118 – 123; Miguel Cardina: Guerra à Guerra (wie Anm. 44), S.  207 – 231.

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Geburtshelfer der Demokratie Die Militärdiktatur in Griechenland, 1967 – 1974

Gerade die Beispiele Griechenland, Spanien und Portugal zeigen auf, dass die Geschichte Europas nach dem Zweiten Weltkrieg nicht ausschließ­lich eine Geschichte der Demokratien ist. Das Bewusstsein hierfür vermag für verschiedene Punkte zu sensibilisieren: dafür, dass Demokratien nichts Selbstverständ­ liches sind, aber auch dafür, dass die demokratischen Gesellschaften und ihre Vertreter auf vielfältige Weise Kontakte zu diesen Regimen unterhielten und im Umgang mit diesen – zumindest im griechischen Fall – teilweise auch sehr unsicher waren. Davon zeugt etwa der Fall eines beim österreichischen Sender ORF angestellten Journalisten. Im Zuge seiner Berichterstattung über Griechenland hatte der Journalist Grstein 1969 über die bevorstehende Anklage zweier österreichischer Auslandskorrespondenten berichtet. Nach der Veröffent­lichung der Mitteilung durch den ORF dementierte die griechische Botschaft in Wien umgehend. Der Chefredakteur zeigte sich beeindruckt und entließ ohne weitere Rücksprache seinen Journalisten mit sofortiger Wirkung und ohne jeg­liche Prüfung. »Durch Ihr Verhalten haben Sie dem Nachrichtenwert des ORF schweren Schaden zugefügt – die Folgen haben Sie nun selbst zu tragen«, bescheidet der Chefredakteur Bock seinen Journalisten in seinem Schreiben vom 24. Juli 1969.1 Die griechische Militärdiktatur dauerte zu d­ iesem Zeitpunkt bereits mehr als zwei Jahre an. Folterungen und politische Verfolgungen waren weithin bekannt. Der Fall zeigt im Kleinen, wie die vom griechischen Regime vielfach betriebenen Vernebelungstaktiken einmal mehr verfingen. Darüber hinaus mag der Fall zugleich verdeut­lichen, welches Privileg verläss­liche und die mensch­liche Würde achtende Prinzipien sind und wie wichtig es ist, sich in dieser Hinsicht nicht verunsichern zu lassen, sondern eben gerade auch im Kleinen für sie einzustehen. Im Folgenden wird auf den Forschungsstand zur griechischen Diktatur eingegangen und deut­lich gemacht, wie es zur Militärdiktatur kam. Daran schließt eine Diskussion an, wie und warum sich im griechischen Fall nicht von einer 1 Siehe die Dokumentation zum Streitfall z­ wischen Grstein und dem ORF in der Princeton University Library. Kostas Semites: Collection of Ephemera and Newspapers On Resistance Organizations and Activities Against the Greek Dictatorship of 1967 – 1974, Box 7.

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ideologisch fundierten oder kohärenten Militärdiktatur sprechen lässt, sondern sich das Militärregime sch­licht als die am besten organisierte Gruppe mit den größten zur Verfügung stehenden Machtmitteln betrachten lässt. Ganz in ­diesem Sinne wird insbesondere auf die Rolle der Gewalt beim Machterhalt eingegangen. Daran wird zugleich die internationale Verflechtung der Militärdiktatur deut­lich, der insbesondere bei der Einhegung der Gewalt eine große Bedeutung zukommt. Im Vergleich zu den Diktaturen in Spanien und in Portugal sind für Griechenland vor allem drei grundsätz­liche Unterschiede zu betonen. Von den hier betrachteten Fällen ist Griechenland erstens die einzige Militärdiktatur, die sich lange nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte. Damit ging zweitens eine wesent­lich stärkere internationale Verflechtung einher. Der international formulierte Protest wie auch die Mitgliedschaft in supranationalen Verbänden wie zum Beispiel dem Europarat wirkten sich stark auf die Militärdiktatur aus und trugen auch dazu bei, dass die Militärdiktatur in Griechenland drittens – nicht wie in Spanien oder Portugal – über Jahrzehnte währte, sondern nur sieben lange Jahre.

1. Historische Kontinuitäten und ideologische Versatzstücke des Regimes Die Obristendiktatur, deren Anfang auf den 21. April 1967 datiert wird, wird aufgrund der sich parallel etablierten Demokratien in anderen Ländern Europas in der internationalen Diktaturforschung gerne als aus der Zeit gefallen betrachtet. So bezeichnen sowohl Gerhard Besier als auch Reinhard Rürup in ihren Werken zu den Diktaturen in Europa den griechischen Fall als »anachronistisch«.2 Dieser Ansatz, die griechische Militärdiktatur gewissermaßen als Sonderfall aus der Zeit hinauszuschreiben, kann indessen nur schwer­lich überzeugen. Eine s­ olche tendenziell ahistorische Perspektive, die sich der Frage nach Gründen und vorangegangenen Bedingungen auf diese Weise entzieht, ist unbefriedigend und insgesamt wohl sch­licht einer allzu groben Perspektive der europäischen Diktaturforschung zum 20. Jahrhundert anzulasten. 2 Gerhard Besier: Das Europa der Diktaturen. Eine neue Geschichte des 20. Jahrhunderts. München 2006, S. 252; Reinhard Rürup: Zur europäischen Diktaturgeschichte im 20. Jahrhundert. In: Thomas Grossbölting/Dirk Hofmann (Hrsg.): Vergangenheit in der Gegenwart. Vom Umgang mit Diktaturerfahrungen in Ost- und Westeuropa. Göttingen 2008, S. 19 – 31, hier S. 28.

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Betrachtet man näm­lich die nationalhistorisch geprägte Forschung zur Geschichte des modernen Griechenlands, so ergibt sich schnell ein anderes Bild. Die Militärdiktatur, die sich selbst gerne in eine Reihe mit der Metaxas-­Diktatur gestellt sehen wollte, die von 1936 bis 1941 währte, wird hier häufig in einen weiteren Zusammenhang mit dem griechischen Bürgerkrieg gestellt. Die Diktatur wird dabei als Produkt eines viel weiter in die Vergangenheit zurückreichenden Konflikts z­ wischen einem linken und einem konservativen nationalistischen Spektrum gesehen.3 Das ist wenig überraschend. So stellt doch der Bürgerkrieg gewissermaßen den Referenzpunkt der modernen griechischen Geschichte und zweifelsohne das am meisten diskutierte Themenfeld in der griechischen Histo­ riografie dar.4 Von dem Umstand einer fast ›manischen‹ Beschäftigung mit dem Bürgerkrieg in der griechischen Historiografie einmal abgesehen, erscheint diese Sicht auf mög­liche Ursachen der Militärdiktatur jedoch plausibel. Gleichwohl ließe sich meines Erachtens auch dafür argumentieren, die Besatzungszeit in diesen Erklärungsansatz einzubeziehen. Schließ­lich lässt sich der Bürgerkrieg auch als ein Produkt der vorangegangenen Besatzungszeit und deutscher Bemühungen auffassen, ein Land im Chaos und Zwiespalt zu hinterlassen. Für eine ­solche Perspektive argumentiert etwa Martin Seckendorf.5 Unbestritten kulminierten 3 Siehe Heinz A. Richter: Griechenland 1950 – 1974. Zwischen Demokratie und Diktatur. Mainz/Wiesbaden 2013; Sotiris Rizas: I elliniki politiki meta ton Emfilio Polemo: Koino­ voulevtismos kai Diktatoria [Die griechische Politik nach dem Zweiten Weltkrieg: Parlamentarismus und Diktatur]. Athen 2008. 4 Dies spiegelt sich nicht zuletzt in der Anfang der 2000er Jahre vom amerikanischen Historiker Stathis Kalyvas losgetretenen Debatte um die Beteiligung von Partisanen an Übergriffen auf die Zivilbevölkerung wider. Siehe Adamantios Skordos: Rezension zu: Stathis N. Kalyvas: The Logic of Violence in Civil War. Cambridge 2006. In: connections 05. 12. 2008. Abgerufen unter URL: www.connections.clio-­online.net/publicationreview/id/rezbuecher-12196, letzter Zugriff: 31. 01. 2017; Nikos Marantzidis/Giorgos Antoniou: The Axis Occupation and Civil War: Changing Trends in Greek Historiography 1941 – 2002. In: Journal of Peace Research 41 (2004) 2, S. 223 – 231; John Sakkas: Old Interpretations and New Approaches in the Historiography of the Greek Civil War. In: Thetis 20 (2013), S. 425 – 439. – Für eine kritische Diskussion dieser Debatten um den Bürgerkrieg siehe Neni Panourgia: Dangerous Citizens. The Greek Left and the Terror of the State. New York 2009, S. 118 – 122. 5 Martin Seckendorf: Nach dem Endsieg. Deutsche Nachkriegsplanungen für Griechenland 1940/41. In: Werner Röhr/Brigitte Beilekamp (Hrsg.): Neuordnung Europas. Vorträge von der Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung 1992 – 1996. Berlin 1996, S.  47 – 57; Martin Seckendorf: Ein einmaliger Raubzug. Die Wehrmacht in Griechenland – 1941 bis 1944. In: Johannes Klotz (Hrsg.): Vorbild Wehrmacht? Wehrmachtsverbrechen, Rechtsextremismus und Bundeswehr. Köln 1998, S. 96 – 124. – Der renommierte Athener Historiker Hagen Fleischer geht hingegen sogar noch einen Schritt weiter und stellt aus der Perspektive der autoritären Herrschaft die Kontinuität des griechischen Regierungssystems seit der Diktatur Metaxas’ heraus: Hagen Fleischer: Authoritarian Rule in

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jedenfalls im Bürgerkrieg von 1944 bis 1949 die Auseinandersetzungen ­zwischen dem bürger­lich-­nationalen auf der einen und dem kommunistischen Lager auf der anderen Seite. Mit der verheerenden Niederlage und der anschließenden Kapitulation der kommunistischen Armee im Sommer 1949 in den makedonischen Gebirgen Grammos und Vitsi fanden die militärischen Auseinandersetzungen ein Ende – die Spaltung der griechischen Gesellschaft lebte hingegen fort und spiegelt sich beispielsweise in dem fortwährenden Verbot der Kommunistischen Partei KKE wider. So beginnt mit dieser Niederlage eine Phase, die der griechische Historiker Ilias Nikolakopoulos treffenderweise als »kränkelnde Demokratie« bezeichnet hat.6 Zwar fanden Wahlen statt, doch kennzeichnen diese Phase insbesondere die Begünstigung konservativ-­royalistischer Kreise und die gezielte Benachteiligung, Exklusion und Diskriminierung der politischen Linken.7 Dies äußerte sich beispielsweise in Restriktionen bei der Zulassung zu bestimmten Berufssparten (zum Beispiel Lehramt), in einer intensiv ausgeprägten Bespitzelung und Beschattung wie auch Gefangennahmen aus politischen Gründen bzw. aus Bürgerkriegszeiten fortgesetzten Inhaftierungen. Als berühmtes Beispiel ließe sich in ­diesem Zusammenhang etwa Chronis Missios anführen, der erst gegen Ende der Militärdiktatur im Sommer 1973 im Zuge einer großen Amnestie wieder in die Freiheit entlassen wurde und letzt­lich von seinem 17. bis zu seinem 43. Lebensjahr inhaftiert war. Allein in seiner Haftzeit spiegelt sich der große Bogen wider, der häufig von der Bürgerkriegszeit bis zur Militärdiktatur gesponnen wird.8 An solch einer Perspektive vermag auch die zunehmende Öffnung der griechischen Gesellschaft nichts zu ändern, die mit gehäuft auftretenden Unruhen in den 1960er Jahren einherging. Paradigmatisch lässt sich an dieser Stelle die weithin bekannte Ermordung des linken Politikers Grigoris Lamprakis im Jahr Greece (1936 – 1974) and Its Heritage. In: Jerzy W. Borejsza/Klaus Ziemer/Magdalena Hułas (Hrsg.): Totalitarian and Authoritarian Regimes in Europe. Legacies and Lessons from the Twentieth Century. New York 2006, S. 237 – 275. 6 Ilias Nikolakopoulos: I kachektiki dimokratia. Kommata kai ekloges, 1946 – 1967 [Die kränkelnde Demokratie. Parteien und Wahlen 1946 – 1967]. Athen 2001. 7 Siehe Panourgia: Dangerous Citizens (wie Anm. 4), S.  122 – 123; Katherine Stefatos: Engendering the Nation: Women, State Oppression and Political Violence in Post-­War Greece, (1946 – 1974). Dissertationsschrift, eingereicht 2011 an der London School of Economics. London 2011, S. 111 – 138. Abgerufen unter URL: http://eprints.gold.ac.uk/8057/1/HIS_­ thesis_Stefatos_2012.pdf, letzter Zugriff: 28. 07. 2017. 8 Chronis Missios: … gut, bist Du früh umgekommen. Zürich 1993. – Siehe dazu auch den ähn­lich gelagerten Fall des griechischen Gewerkschafters Nikos Ambatielos. Princeton University Library: Norma Spector Papers, C1379, Box 42; Princeton University Library: Norma Spector Papers, C1379, Box 37.

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1963 anführen, die ihre filmische Aufarbeitung in dem Politthriller Z von Costas-­ Gavras fand und in deren Folge sich mit der Jugendorganisation L ­ amprakis eine einflussreiche, mehrere Tausend Mitglieder umfassende Bewegung bildete.9 Der Putsch des griechischen Militärs lässt sich vor d­ iesem Hintergrund als eine Reaktion auf genau diese Entwicklung zunehmender politischer Spannungen wie auch einer generellen Öffnung der griechischen Gesellschaft interpretieren. Nicht ohne Grund fand er rund einen Monat vor der auf den 28. Mai 1967 angesetzten Wahl statt und wurde vor allem und wie so häufig mit der Abwehr einer kommunistischen Gefahr begründet. Dabei scheint vor allem die Befürchtung eines Machtverlusts des Militärs bei einem mög­lichen Wahlsieg der gemäßigten Zentrumsunions-­Partei von Georgios Papandreou handlungsleitend gewesen zu sein.10 Es spricht also vieles dafür, die Diktatur im Zusammenhang eines Kontinuums der Dominanz rechts und konservativ ausgerichteter Kreise in der griechischen Gesellschaft zu sehen: Dies gilt für politisch motivierte Verfolgungen und Diskriminierungen einzelner Gruppen bis hin zu propagierten Idealen in der Familien- und Geschlechterpolitik, dem nationalen Erbe oder der religiösen Lebensführung. Wer nicht bereits in der Nacht von dem Umsturz erfahren hatte, der merkte es spätestens am Morgen des 21. April beim Einschalten des Radioprogramms. So wurden ausschließ­lich traditionelle griechische Lieder gespielt, die immer wieder durch Verlautbarungen des Militärregimes unterbrochen wurden, die darüber informierten, dass der Notstand ausgerufen worden sei. Das Abspielen folkloristischer Musik mag zunächst irritieren. Es kann darin jedoch eine Huldigung der vermeint­lich glorreichen Vergangenheit gesehen werden, die von Beginn an eine der prägenden Legitimationssäulen und Projektionsflächen des Regimes war. Besonders deut­lich wird dies in der Beschwörung des nationalen Hellenentums, dem wieder zu alter Größe verholfen werden sollte. Die griechische Nation wurde dabei auf verklärende Weise dargestellt und essentialisiert. So führte der griechische Premierminister Papadopoulos am 17. Oktober 1967 aus: 9 Weiterführend hierzu siehe Ioanna Papathanassiou/Polina Iordanidou (Hrsg.): I neolaia Lampraki ti dekaetia tou 1960. Archeiakes tekmerioseis kai avtoviographikes katatheseis [Die Jugendbewegung Lamprakis in den 1960er Jahren. Archivalische Dokumente und autobiographische Zeugnisse]. Athen 2008. 10 Diese war bereits zwei Jahre zuvor für rund eineinhalb Jahre an der Macht. Noch 1965 war der damalige Premier Papandreou aufgrund von Differenzen mit dem König allerdings zurück­ getreten. Siehe weiterführend zum alternativ vorbereiteten, aber nicht durchgeführten Putsch der Gruppe um König Konstantin II. Stefan A. Möller/David Schriffl/Adamantios T. Skordos: Heim­liche Freunde. Die Beziehungen Österreichs zu den Diktaturen Südeuropas nach 1945: Spanien, Portugal, Griechenland. Köln/Weimar/Wien 2016, S. 242 – 244.

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Griechenland war schon immer geprägt von Menschen, die an die Ideale der Freiheit, der Harmonie und fried­licher Koexistenz glaubten. Die Griechen strebten ein solches Miteinander an, nicht weil es ihnen auferlegt war, sondern weil sie verstanden, wie wichtig es war, dass sich ihre Aktivitäten in ein großes Ganzes einfügten, das durch ein goldenes Gleichgewicht individueller und übergeordneter Interessen geprägt war.11

In ­diesem Geschichtsbild ist jedoch nicht nur die Essentialisierung der griechischen Nation ersicht­lich. So stellte die Imagination der Griechen als einheit­liches Ganzes zugleich die Basis und Legitimation für einen starken Antikommunismus dar. Dieser spiegelt sich nicht zuletzt in der von Papadopoulos zur Begründung des Putsches herangezogenen Phrase von den »wahren Griechen« wider, die sich gegen Kommunisten zur Wehr setzten. Kommunismus und griechische Nationalität werden dabei gewissermaßen als unvereinbare Antagonisten einander gegenübergestellt. Die Imagination eines griechischen Ganzen, aus der Linke und Kommunisten herausfielen, konnte auf eine lange Tradition zurückblicken und fand sich in vielerlei öffent­lich geäußerten Aussagen und Reden wider.12 Der Kommunismus wurde als »größter Unterdrücker mensch­licher Werte und Freiheiten« beschrieben und der kommunistischen Minderheit anempfohlen, das Land doch bitte einfach zu verlassen. »Wir würden ihnen viel Glück wünschen und sie könnten uns Grüße senden«,13 so Papadopoulos in seiner Rede vom 15. November 1967 vor der internationalen Presse – insbesondere in Anbetracht des brutalen und skrupellosen Umgangs des Regimes mit seinen Opponenten eine zynische Bemerkung. Der Antikommunismus einte indessen auch das Militärregime und die Regierung der USA. Nicht zuletzt in der Überschneidung ihrer Interessen wie auch in der vorangegangenen politischen Zusammenarbeit wurde ein Beleg für die ebenso nachhaltige wie kontrovers diskutierte Konspirationstheorie gesehen.14 11 Rede von Papadopoulos: Public Relations as a Function of Truth, 17. 10. 1967. In: Princeton University Library: Semites, Kostas, Collection of Ephemera and Newspapers On Resistance Organizations and Activities Against the Greek Dictatorship of 1967 – 1974, Box 9. 12 Siehe zur Verknüpfung von Kommunismus und antinationalen Einstellungen im Zusammenhang mit dem griechischen Bürgerkrieg Polymeris Voglis: Political Prisoners in the Greek Civil War, 1945 – 50: Greece in Comparative Perspective. In: Journal of Contemporary History 37 (2002) 4, S. 523 – 540, hier S. 531; siehe weiterführend zur Herausbildung des Nationalkonservatismus in Griechenland Despina Papadimitriou: Apo ton Lao ton Nomimofronon sto Ethnos ton Ethnikofronon [Vom Volk der Loyalen zur Nation der Nationalgesinnten]. Athen 2006. 13 Rede von Papadopoulos: The Truth Concerning the Revolution, 15. 11. 1967. In: Semites, Box 9 (wie Anm. 11), S. 8. 14 Siehe zur intensiven Zusammenarbeit bzw. auch Interventionen der US-Regierung in die griechische Politik Christos Kassimeris: United States Intervention in Post-­War Greek Elections. From Civil War to Dictatorship. In: Diplomacy & Statecraft 20 (2009) 4, S. 679 – 696. – Zum

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Gerade unter Einbezug der 2002 öffent­lich zugäng­lich gemachten Akten des US -Außenministeriums scheint sich in der Forschung jedoch zunehmend der Konsens zu etablieren, dass die USA den Putsch der Obristen nicht aktiv vorangetrieben hätten.15 So breitete sich auf amerikanischer Seite zunächst einmal Unsicherheit über die Beweggründe der Putschisten aus, bis schließ­lich am 5. Mai die Botschaft erleichtert Bericht erstattete, dass »unser Eindruck ist, dass die Anführer des Umsturzes pro-­US, pro-­NATO und sehr, wenn nicht sogar fanatisch antikommunistisch eingestellt sind.« 16 Über die zahlreichen demokratiefeind­ lichen Maßnahmen sah die US-Regierung in der Folge zugunsten einer mög­lichst unbeschwerten weiteren Zusammenarbeit allzu generös hinweg.17 Eng mit der Idee des nationalen Hellenentums und dem Antikommunismus war schließ­lich auch die griechisch-­orthodoxe K ­ irche verknüpft. Aus den teils diffusen und verklärenden Vorstellungen des Militärregimes wusste die ­Kirche wiederum Kapital zu schlagen. Bei vielerlei Anlässen demonstrierte sie ihre Unterstützung für das Unterfangen, die griechische Gesellschaft zu »kurieren«.18 stark ausgeprägten Antiamerikanismus in Griechenland im Zusammenhang mit der Junta ­Adamantios Skordos: Die Diktatur der Jahre 1967 bis 1974 in der griechischen und internationalen Historiographie. In: Stefan Troebst (Hrsg.): Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven. Göttingen 2010, S. 122 – 204, hier S. 191 – 196. 15 Siehe Louis Klarevas: Were the Eagle and the Phoenix Birds of a Feather? The United States and the Greek Coup of 1967. Abgerufen unter URL: http://www.lse.ac.uk/european Institute/research/hellenicObservatory/pdf/DiscussionPapers/Klarevas.pdf; letzter Zugriff: 01. 11. 2017; Christos Kassimeris: Causes of the 1967 Greek Coup. In: Democracy and Security 2 (2006) 1, S. 61 – 72; Konstantina Maragkou: The Foreign Factor and the Greek Colonels’ Coming to Power on 21 April 1967. In: Southeast European and Black Sea Studies 6 (2006) 4, S. 427 – 443. 16 284. Telegram From the Embassy in Greece to the Department of State, 05. 05. 1967. In: Foreign Relations of the United States [Frus], 1964 – 1968: Cyprus, Greece, and Turkey, Bd. XVI. Abgerufen unter URL: https://2001 – 2009.state.gov/r/pa/ho/frus/johnsonlb/xvi/4763.htm, letzter Zugriff: 06. 10. 2017. 17 Siehe zum Verhältnis der USA zur griechischen Junta die von Clinton 1999 erfolgte Entschuldigung für die US-Außenpolitik gegenüber Griechenland während der Militärdiktatur ­Klarevas: Were the Eagle and the Phoenix Birds of a Feather? (wie Anm. 15), S. 2; ­Konstantina ­M aragkou: The Relevance of Détente to American Foreign Policy. The Case of Greece, 1967 – 1979. In: Diplomacy & Statecraft 25 (2014) 4, S. 646 – 668; Mogens Pelt: Tying Greece to the West. US-West German-­Greek Relations 1949 – 1974. Copenhagen 2006. 18 Siehe zu d ­ iesem dunklen Kapitel der griechisch-­orthodoxen K ­ irche weiterführend ­Charalampos Andreopoulos: I ekklisia kata ti diktatoria 1967 – 1974. Istoriki ka nomokanoniki proseggisi [Die K ­ irche während der Diktatur 1967 – 1974. Eine historische und nomokanonische Annäherung]. Thessaloniki 2017; Andrea Argyropoulou: Χριστιανοί και πολιτική δράση κατά την περίοδο της δικτατορίας 1967 – 1974 [Christ­liche und politische

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Abb. 1 Stylianos Pattakos, Georgios Papadopoulos und Nikolaos Makarezos (v. l. n. r.), drei der führenden Köpfe des Militärregimes anläss­lich einer Feier vor der Kathedrale Mariä Verkündigung (Mitropolitikos Naos Athinon) im Zentrum Athens (aufgenommen ca. 1970).

Auch die konservativen Anhänger der Monarchie um König Konstantin sympathisierten zunächst mit der Junta. Bald schon aber zeigte sich der König frustriert. So äußerte Konstantin II. in einem Treffen mit dem amerikanischen Präsidenten am 11. September seine Bedenken: »Der König brachte seinen Mangel an Vertrauen in die Führung des Umsturzes zum Ausdruck. Er ging nicht davon aus, dass sie zu einer kohärenten Regierungspolitik in der Lage wären und glaubte sch­licht nicht, dass sie das nötige Talent zum Regieren hätten.« 19 Sein Versuch, gegen das Regime zu putschen, schlug hingegen fehl. In der Folge des misslungenen Umsturzversuchs floh König Konstantin II. im Dezember 1967 ins Exil nach Rom. Diffuse Vorstellungen von Nation, Religion und ein scharfer Antikommunismus prägten somit das Handeln der Junta. In vielerlei Hinsicht führte sie dabei die Politik der vorangegangenen repressiven und »kränkelnden« Demokratie fort, auch wenn sich Intensität, Formen und Ausprägungen zuweilen unterschieden – die politischen Stoßrichtungen taten es eher nicht.20 Deut­lich wird Aktivitäten während der Zeit der Diktatur 1967 – 1974]. Athen 2004. – Siehe weiterführend zum Gebrauch aus der Medizin und Biologie entlehnter Metaphern während der Militärdiktatur Emmi Mikedakis: Manipulating Language: Metaphors in the Political Discourse of Georgios Papadopoulos (1967 – 1973). In: Elizabeth Close/George Frazis/Michael Tsianikas (Hrsg.): Greek Research in Australia: Proceedings of the [3rd] Annual Conference of Greek Studies. Flinders University, 23 – 24 June 2000, Adelaide 2001, S. 76 – 86. 19 301. Memorandum of Meeting Between President Johnson and King Constantine, 07. 09. 1967. In: James Millar (Hrsg.): FRUS, 1964 – 1968: Cyprus, Greece, and Turkey, Bd. XVI. Washington 2002. Abgerufen unter URL: https://2001 – 2009.state.gov/r/pa/ho/frus/johnsonlb/ xvi/4763.htm, letzter Zugriff: 06. 10. 2017. 20 Siehe Fleischer: Authoritarian Rule (wie Anm. 5).

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dies auch am repressiven Gebaren des Militärregimes. So bildet eben nicht das Vorgehen gegen Regimegegner per se, wohl aber die Härte des Vorgehens einen Unterschied zur vorangegangenen Phase. Gerade in den internationalen Protesten gegen die repressive Politik der Militärdiktatur wird zudem die internationale Verflechtung Griechenlands deut­lich, die es erheb­lich vom spanischen und auch vom portugiesischen Fall unterscheidet. Im Folgenden werde ich daher die Methoden des Machterhalts diskutieren, bei denen eine intellektuelle Begründung oder auch die Vision eines neuen Griechen­lands, das in antikem Glanze erstrahlt, letzt­lich nur Schimären sind, ebenso wie die Idee einer charismatischen Führung durch den Diktator Georgios Papadopoulos. Propagierte Werte wie das national-­christ­liche Hellenentum, der Aufbau von Erinnerungsstätten für Metaxas oder auch die Wiedereinführung der Katharevousa als alleiniger Amtssprache stellen meines Erachtens lose Versatzstücke dar, jedoch keinerlei kohärente Vision oder Ideologie.21 So gelangt auch die griechische Historikerin Despina Papadimitriou zu dem Fazit, dass die Junta »keinerlei zusammenhängendes ideologisches System entwickeln konnte«.22 Die Erkenntnis Papadimitrious, dass die Ideologie – was immer dies angesichts ihrer zuvor getätigten Aussage nun genau bezeichnen mag – nicht prominent verfangen habe, wirkt dabei tautologisch.

2. Formen politischer Gewalt und deren Legitimation Die griechische Militärdiktatur lässt sich vor d­ iesem Hintergrund als ein Regime beschreiben, das zwar stets um Konsolidierung bemüht war, sie jedoch letzt­lich zu keinem Zeitpunkt endgültig erlangte. Ein wesent­liches Element im Bemühen 21 Zur Erinnerungskultur der Militärdiktatur an die Diktatur von Metaxas siehe Eleni Kouki/ Dimitris Antoniou: Making the Junta Fascist. Antidictatorial Struggle, the Colonels, and the Statues of Ioannis Metaxas. In: Journal of Modern Greek Studies 35 (2017) 2, S. 451 – 480. Anna-­M aria Sichani/Kostis Kornetis: I Chounta kai oi epibioseis tis – mia diimerida sth Nea Yorki [Die Militärdiktatur und ihr Nachleben – eine Tagung in New York]. In: Chronos 26/3 (2015). Abgerufen unter URL: http://www.chronosmag.eu/index.php/s-­s-­ps-­ ee-­s.html, letzter Zugriff: 30. 01. 2017. – Zur Geschichte der Katharevousa siehe Francisco Rodríguez Adrados: Geschichte der griechischen Sprache von den Anfängen bis heute. Tübingen 2002, S. 289. 22 Despina Papadimitriou: I ideologia tou kathestotos [Die Ideologie des Regimes]. In: Vangelis Karamanolakis (Hrsg.): I stratiotiki diktatoria 1967 – 1974 [Die Militärdiktatur 1967 – 1974]. Athen 2010, S. 105 – 114, hier S. 114. Siehe hierzu auch den umfassenden Forschungsstand bei Skordos: Die Diktatur der Jahre 1967 bis 1974 (wie Anm. 14), hier S.  141 – 149.

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des Regimes um Stabilität stellte der Gebrauch von Gewalt dar. Davon zeugen ganz plastisch die Besetzung der Straßen am 21. April 1967 und in der Folge die Installation von außerordent­lichen Militärgerichten sowie die Wiederinbetriebnahme der aus der Zeit des Bürgerkrieges berüchtigten Verbannungsinseln. Bereits in den 1950er Jahren unter der Regierung Karamanlis war die Wiedereröffnung der Insel Youra als Ort der Verbannung international auf sehr heftigen Widerstand gestoßen. »Ich bitte sie inständig, als Repräsentant Griechenlands in den USA, bei ihrer Regierung zu intervenieren und den Verbrechen auf Youra ein Ende zu setzen«, forderte etwa der Filmproduzent und Schriftsteller Albert E. Kahn in einem der zahllosen offenen Schreiben an den griechischen Botschafter.23 Nachdem erste Misshandlungen von Gefangenen bereits im Jahre 1967 bekannt geworden waren, richtete sich eine Vielzahl der internationalen Bemühungen auf eine Dokumentation, Schließung und Überwachung der Verbannungsinseln. Paradigmatisch können hierfür die Aktivitäten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) genannt werden, das bereits ab Mai die griechische Regierung um die Besichtigung mehrerer Haftlager ersuchte, die ihm auch gewährt wurde.24 Erst nach einiger Zeit wurde offenbar, welch doppeltes Spiel die griechische Regierung trieb. »Falls es tatsäch­lich Anzeichen für einen Fall von Folter unter meiner Regierung gäbe, dann wäre es meine Pf­licht als Mann, der einen solch feier­lichen militärischen Schwur geleistet hat, Selbstmord zu begehen«, hatte Papadopoulos noch 1969 in einem Treffen mit amerikanischen US-Abgeordneten vollmundig verkündet.25 Ganz in ­diesem Sinne wurden auch Berichte der Mitarbeiter des IKRK instrumentalisiert. So wurden bei der Besichtigung der Haftanlagen ledig­lich geringfügige hygienische Mängel beanstandet, was die griechische Junta ihrerseits propagandistisch ausnutzte.26 Besonders deut­lich 23 Schreiben von Albert E. Kahn an den griechischen Botschafter, 15. 11. 1955. In: Princeton University Library: Norma Spector Papers, C1379, Box 29.– Zur langen und brutalen Vorgeschichte der Verbannungsinseln und der darauf eingerichteten Haftlager siehe weiterführend Panourgia: Dangerous Citizens (wie Anm. 4), S.  21 – 23, 89 – 94; Polymeris Voglis: Becoming a Subject. Political Prisoners during the Greek Civil War 1945 – 1950. Oxford/New York 2002, S. 100 – 111. 24 Am 3. November 1969 gelang es dem IKRK gar, mit der griechischen Regierung ein Abkommen auszuhandeln, das die vorbehaltlose Prüfung der Haftanlagen durch Mitarbeiter des IKRK zusicherte. Siehe Roland Siegrist: The Protection of Political Detainees: the International Committee of the Red Cross in Greece 1967 – 1971. Montreux 1985, S. 113 – 117. 25 Mitschrift eines Treffens ­zwischen US-Senatoren und Abgeordneten und dem griechischen Premierminister Papadopoulos, 22. 08. 1969. In: Princeton University Library: Semites, Box 9 (wie Anm. 11), S.  7 – 8. 26 Eine rege Diskussion um die Deutungshoheit und Instrumentalisierungen der zunächst als interne Rückmeldungen an die griechische Regierung gedachten Berichte des IKRK waren die

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wird dies am Beispiel der 1968 vom griechischen Regime herausgegebenen Publi­ kation The Truth about Greece, die insbesondere beim IKRK großes Aufsehen erregte.27 So zeichnete sich das Pamphlet dadurch aus, dass es entgegen der mit dem IKRK zuvor getroffenen Vereinbarungen selektiv Passagen aus den ledig­lich für die interne Verwendung vorgesehenen Berichten zitierte.28 Das Pamphlet lässt sich dabei vor allem als eine Reaktion auf die anhaltenden schwerwiegenden Vorwürfe der Menschenrechtsorganisation Amnesty International begreifen. Diese hatte Ende Januar und Anfang April 1968 zwei Berichte veröffent­licht und darin unter Rückgriff auf Zeugenaussagen ehemaliger Folteropfer Anklage gegen das griechische Militärregime erhoben. Physische Gewalt durch Polizei und Militär waren demzufolge an der Tagesordnung. Anhand bewegender Beispiele wird in den Berichten die erschreckende Vielfalt an Gewalt und Drangsalierungen dargestellt. »Die Polizei und das Militär haben im gegenwärtigen Griechenland freie Hand«,29 so die lapidar geäußerte und gleichwohl alarmierende Schlussfolgerung der Menschenrechtsorganisation in ihrem ersten Bericht. Auch der zweite Bericht betont die Willkür des griechischen Regimes deut­lich. Anhand eines Gesprächs mit dem griechischen Innenminister Stylianos Pattakos verdeut­ licht er zudem die mangelnde Bereitschaft des Regimes, die aufgedeckten Fälle von Folter näher zu untersuchen. »Herr Pattakos’ Entgegnung war ein komplettes Leugnen, dass die Anschuldigungen wahr ­seien oder sein könnten.« 30 Die Auseinandersetzung ­zwischen dem Gesandten Marreko und dem Innenminister Pattakos gipfelte schließ­lich in einen Streit über den tatsäch­lichen Umgang des griechischen Regimes mit seinen Opponenten. Entlarvend wird Pattakos am

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Folge. IKRK: Rapport General sur les visites effectués par les délégués du Comité International de la Croix-­Rouge aux détenus politique en Grèce. In: ICRC-Archives. B AG 225 084 – 100. Ein internes Dokument, das Abweichungen öffent­licher Darstellungen mit dem Bericht auflistet, siehe Tableau comparatif, 13. 06. 1968. In: ICRC-Archives. B AG 225 084 – 100. Press and Information Department of the Ministry to the Prime Minister: The Truth about Greece, Athen 1968. In: ICRC-Archives: B AG 225 084 – 102. Gerade im Sinne der für das IKRK maßgebenden Leitsätze der Diskretion und der Glaubwürdigkeit wurde vereinbart, die Berichte entweder ganz oder eben gar nicht zu veröffent­lichen. Schließ­lich sollten sie in erster Linie einer Evaluation und gegebenenfalls Verbesserung der Umstände dienen, unter denen Opponenten gefangen gehalten wurden. Ein Einbezug der Öffent­lichkeit wurde dabei gemäß den Leitsätzen des IKRK eher als hinder­lich für die eigene Arbeit erachtet. Zur Politik des IKRK sich nicht öffent­lich zu seinen Einsätzen zu äußern siehe Siegrist: Protection (wie Anm. 24), S.  42 – 43. Amnesty International: Situation in Greece, 27. 01. 1968. In: ICRC-Archives. B AG 225 084 – 105. Amnesty International: Second Report on Torture of Political Prisoners in Greece, 06. 04. 1968. In: Princeton University Library, Adamantia Pollis Papers 24, S. 3.

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Ende des Berichts mit den Worten zitiert: »Sie nötigen mich förm­lich dazu dies zu sagen: Die griechische Regierung muss ihre Bürger vor den kommunistischen Feinden schützen und ein Kommunist ist kein Grieche. Unsere [gemeint ist in dem Fall Griechenland, Anm. d. Verf.] Sicherheit kommt dabei an erster Stelle.« 31 Das Pamphlet The Truth about Greece argumentiert auf die g­ leiche Weise und greift den imaginierten Kampf z­ wischen Kommunisten und der freien Welt auf: Auf der Grundlage von Behauptungen über angeb­liche Folterungen von politischen Gefangenen und ihren inhumanen Lebensbedingungen hat der internationale Kommunismus eine beispiellose und widerwärtige Attacke auf die Revolution vom 21. 04. 1967 begonnen. Diese kommunistischen Anschuldigungen werden zusammengefasst in einem Bericht von Amnesty International, dessen Gesandten Anthony Marreko und James Becket auf Einladung Griechenlands vom 30. Dezember 1967 bis zum 26. Januar 1968 in Griechenland waren.32

Dezidiert wird in dem Pamphlet die Strategie verfolgt unter Bezugnahme auf glaubwürdige und seriöse Instanzen wie dem IKRK oder auch britische Abgeordnete, Amnesty International zu diskreditieren und als kommunistisch zu brandmarken. Diese Strategie spiegelt sich insbesondere auch in der griechischen Presseberichterstattung dieser Zeit wider, die durch Artikelüberschriften wie »Amnesty ist nur eine Fassade« geprägt war.33 Die vorgebrachten Anschuldigungen Marrekos werden dabei als persön­licher Feldzug einer ›Operation Marreko‹ dargestellt. Der Gesandte habe demnach ausschließ­lich ausgewählte Kommunisten aufgesucht, um seine verleumderischen Vorwürfe zu untermauern. Letzt­lich handle es sich bei diesen Anschuldigungen jedoch ledig­lich um »vielerlei Fiktionen des Terrors«,34 die jeg­licher Grundlage entbehrten. Bei der Instrumentalisierung der Berichte des IKRK tat sich insbesondere der griechische Staatssekretär Sideratos hervor, der in seinen Auftritten vor der Presse mit markigen Aussagen glänzte und sich gar zu der Behauptung verstieg, die Haftbedingungen politischer Gefangener s­ eien »komfortabel«.35 Pikanterweise war es letzt­lich auch Sideratos, dem in der späteren Auseinandersetzung mit dem IKRK um die Veröffent­lichung des Pamphlets die gesamte Verantwortung zugeschoben wurde und der kurze Zeit darauf aufgrund seines angeb­lich eigenmächtigen Handelns seinen Posten räumen musste. 31 Ebd., S. 4. 32 Press and Information Department of the Ministry to the Prime Minister: Truth about Greece. 33 Amnesty is a Front. In: Athens Daily Post, 5. April 1968. 34 Ebd. 35 Siehe dazu beispielhaft o. A.: Detainees ›comfortable‹: Sideratos refutes press reports of ›torture‹. In: Athens News, 9. April 1968.

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Abb. 2  Das Hauptquartier der Athener Sicherheitspolizei in der Bouboulinastraße. Folterungen fanden hier vor allem auf dem Dach des Gebäudes statt, der berüchtigten ›Terrasse‹. Heute ist das Gebäude Sitz des Ministeriums für Kultur und Sport.

Dessen ungeachtet bleibt dennoch festzuhalten, dass das IKRK in den von ihm besuchten Haftanstalten zunächst keinerlei Anzeichen für die dem griechischen Regime vorgeworfene systematische Folter von unliebsamen Opponenten ausmachen konnte. Die Erklärung ­dieses Umstands ist letzt­lich sch­licht. »Auf die Verbannungsinsel zu kommen. Das war wie das Paradies für mich«,36 formulierte ein ehemaliger Inhaftierter eindrück­lich. Und ein anderer ertappte sich dabei, wie er sagte, dass er bei seiner Überstellung in das Gefängnis auf der Insel Korydallos »in die Freiheit gekommen sei«.37 Letzt­lich waren die Verhöre und nicht die Haftzeiten auf den Verbannungsinseln die Zeiten der Tortur. Polizeistationen und Militärlager waren die eigent­lichen Orte der Gewalt, an denen Opponenten und unliebsame Akteure malträtiert wurden. Die beeindruckenden Studien von Mika Haritos-­Fatouros geben Einblicke in das Foltersystem der griechischen Militärdiktatur: So wurden insbesondere

36 Interview von Janis Nalbadidacis mit M. G. in Athen, 21. 10. 2013. 37 Interview von Janis Nalbadidacis mit D. M. in Athen, 19. 11. 2013.

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bei der Militärpolizei eigens Trainingsprogramme etabliert, in denen die jungen Rekruten gezielt zu Folterern ausgebildet wurden.38 Zur Ausbildung zählten dabei vielfältige Drangsalierungen wie Beschimpfungen oder Schläge, die die künftigen Folterer selbst zu erleiden hatten und die sie auf diese Weise abhärten sollten – ein perfider Zyklus der Gewalt. Betrachtet man die Verhörsituationen, so erscheint die Begründung, durch die Folter gezielt an Informationen zu gelangen, fadenscheinig. »Um aus dir einen besseren Menschen für das System zu machen«, begründet Pe. K., der selbst gefoltert wurde, den Akt der Folter.39 Die Menschen sollten durch die Erfahrung der Gewalt die Macht mit aller Härte spüren und sich ihr beugen. Davon zeugen zu guter Letzt auch die Loyalitätsbekundungen, die aus eigenem Antrieb unterschrieben werden sollten und die häufig mit der Forderung einhergingen, wöchent­lich im Polizeirevier vorstellig zu werden, um dort Bericht zu erstatten.40 So schildert die damals 21 Jahre alte Agrarstudentin M. G. ihr Verhör Anfang Januar 1968 im Hauptquartier der Sicherheitspolizei in der Bouboulinastraße. Bevor sie in das Verhörzimmer hineingerufen wurde, musste sie in einem Vorraum warten, wo sie auch andere ihr flüchtig bekannte Kommilitonen erblickte, die sich ebenso wie sie in der linken Jugendbewegung ›Neolaia Lamprakis‹ engagiert hatten. Einen von ihnen kannte sie sogar bei seinem Namen. Plötz­lich begriff sie, dass er mit der Polizei kooperierte. Es hat mir regelrecht den Boden unter den Füßen weggerissen. Ich konnte das nicht mitansehen. Da kam tatsäch­lich einer von der Polizei aus einem der Büros und redete fast freundschaft­lich mit ihm. Das kannst du dir nicht vorstellen. Das hat mich fertig gemacht.41

Die Situation scheint M. G. sicht­lich erschüttert zu haben. Immerhin führte sie ihr wirkmächtig vor Augen, wie die einst empfundene Solidarität brechen konnte, und schürte auf diese Weise sicher­lich das Misstrauen gegenüber anderen Mitstreitern. Zugleich habe diese Erfahrung sie nach eigenen Angaben allerdings auch 38 Mika Haritos-­Fatouros: Die Ausbildung des Folterers. Trainingsprogramme der Obristendiktatur in Griechenland. In: Jan P. Reemtsma (Hrsg.): Folter. Zur Analyse eines Herrschaftsmittels. Hamburg 1991, S. 73 – 90; Mika Haritos-­Fatouros: The Psychological Origins of Institutionalized Torture. London/New York 2003; Mika Fatouros/Gorm Wagner: Deines Nachbars Sohn. Griechenland/Dänemark 1982. 39 Interview von Janis Nalbadidacis mit Pe. K. Athen, 12. 12. 2013. 40 Ein Beispiel für eine s­ olche Loyalitätsbekundung findet sich im Anhang des ersten Berichts von Amnesty International über die Situation in Griechenland, im Archiv des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (ICRC). Siehe Amnesty International: Situation in Greece (wie Anm. 29). 41 Interview von Janis Nalbadidacis mit M. G. in Athen, 21. 10. 2013.

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in ihrem festen Vorsatz gestärkt, in dem ihr bevorstehenden Verhör Widerstand zu leisten und niemanden zu verraten.42 Eine andere Perspektive ermög­licht uns der Fall von Petros Vlassis. Vlassis wurde bereits am 8. Mai 1967 aufgegriffen und verhaftet. Im Hauptquartier der Sicherheitspolizei wurde er dann verhört und dazu aufgefordert, die Loyalitätsbekundung zu unterzeichnen. Er weigerte sich und wurde daraufhin von mehreren Angehörigen der Sicherheitspolizei zusammengeschlagen. Diese Form der Folter dauerte zwei Tage. Am dritten Tag wurde er schließ­lich in das Büro bestellt und sah sich dort engen Verwandten von ihm gegenüber. Als ihm damit gedroht wurde, ihnen etwas anzutun, gab er auf. »Unter dem psychischen Druck unterzeichnete ich das dreckige Papier. Ich wurde anschließend direkt freigelassen, allerdings unter der Maßgabe zweimal pro Woche bei der Sicherheitspolizei vorstellig zu werden und Bericht zu erstatten.« 43 Bei dem Gesprächspartner von Petros Vlassis, der die Aussage aufnahm, handelte es sich um den Mitarbeiter von Amnesty International, James Becket. Ergänzend fügt Becket an das Ende der Aussage an, dass »Vlassis in den Augen mancher Griechen ein gebrochener Mann war, unabhängig davon, wie sehr sie seine Situation und sein Leid auch nachvollziehen konnten«.44 Griechenland ist ein kleines und überschaubares Land. An sämt­lichen Universitäten wurden Spitzel installiert. Insbesondere aufgrund der eingangs bereits erwähnten detaillierten Akten, die über links eingestellte Familien angelegt worden waren, war der staat­liche Zugriff leicht zu realisieren. Mehrere Tausend Menschen erlitten in den ersten Wochen im Mai und Juni 1967 ein ähn­liches Schicksal wie Petros Vlassis, sie wurden verhaftet, gefoltert und weggesperrt. Zugleich handelte es sich bei Griechenland jedoch auch um ein Land, das – im Gegensatz etwa zu den Diktaturen in Lateinamerika – von einer Vielzahl demokratischer Staaten umgeben war und mit dem Europarat auch einer supranationalen Gemeinschaft angehörte, deren Mitglieder sich auf die Einhaltung der Menschenrechte ver­pflich­tet hatten. »Jede Stimme in Europa gegen die Folter bedeutete für uns eine Ohrfeige weniger«, formulierte etwa einer meiner Interviewpartner plakativ.45 Wohl einzigartig in der Geschichte des Europarats ist vor ­diesem Hintergrund die Eröffnung einer Untersuchung durch eine 1968 eigens eingerichtete Subkommission der Europäischen Kommission für Menschenrechte, 42 Ebd. 43 Aussage von Petros Vlassis in: James Becket: Barbarism in Greece. A young American Lawyer’s Inquiry into the Use of Torture in Contemporary Greece, with Case Histories and Documents. New York 1970, S. 133. 44 Ebd., S. 140. 45 Interview von Janis Nalbadidacis mit Pa. K. Athen, 07. 12. 2013.

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die durch Anklagen der skandinavischen Staaten und der Niederlande in die Wege geleitet wurde. Gerade in ­diesem Zusammenhang wurde eine Vielzahl an Dokumenten öffent­lich, die Aufschluss über die systematisch angewandten Folterungen unter der Militärdiktatur gaben.46 Um sein Gesicht zu wahren, kam Griechenland einem Ausschluss zuvor. Nach der entscheidenden Ministerkonferenz des Europarats im Dezember 1969 kündigte Pattakos den Rücktritt Griechenlands aus dem Europarat an, der dann im Sommer 1970 endgültig vollzogen wurde.47 Die Untersuchungen der Europäischen Kommission für Menschenrechte führten jedoch nicht nur zum Rückzug Griechenlands aus dem Europarat, sie hatten unter dem Eindruck der internationalen Beobachter auch einen zunehmend moderaten Umgang mit den politischen Häftlingen in den Jahren 1971 und 1972 zur Folge. Die Ungewissheit über den weiteren Fortgang der Militärdiktatur blieb dabei weiterhin bestehen. So berichtete etwa der amerikanische Abgeordnete B ­ rademas im vertraulichen Gespräch mit Margaret Papandreou von seiner Unterhaltung mit Papadopoulos im Sommer 1971. Dieser habe ihm drei Ziele und Motive der Militärdiktatur genannt: die Vermeidung von Anarchie, die Effektivierung des öffent­lichen Apparates und schließ­lich eine Veränderung der griechischen Mentalität.48 Denkbar vage blieb auch der üb­liche Sprachgebrauch, der Griechenland als »ungeborenes Kind« auf dem Weg zur Demokratie und die Militärdiktatur als »Geburtshelfer« imaginierte.49 In Abgrenzung zu Portugal oder auch zu Spanien scheint an der griechischen Junta bemerkenswert, dass es ihr letzt­lich nicht gelang, mächtige Allianzen zu schmieden und verschiedene Parteien um sich zu scharen. So zogen die Vertreter des Militärregimes im Bestreben einer mög­lichst ruhigen und entpolitisierten Gesellschaft den Widerstand zahlreicher Akteure aus dem gesamten politischen Spektrum auf sich – von den Kommunisten über Demokraten bis hin zu den 46 Siehe die Fälle Periklis Korovesis und Kiti Arseni, die beide in Straßburg vor einer eigens eingerichteten Unterkommission der Europäischen Kommission für Menschenrechte (EKMR) angehört wurden und die ihre Foltererfahrungen niederschrieben und veröffent­lichten. P ­ eriklis Korovesis: Anthropofilakes [Menschenwärter]. Athen 2007; Kiti Arseni: Bouboulinas 18 [Bouboulinas 18]. Athen 1975. – Siehe zudem die Veröffent­lichung der EKMR zum griechischen Fall Europäische Kommission für Menschenrechte: Yearbook of the European Convention on Human Rights 1969. The Greek Case. Den Haag 1972. 47 Siehe weiterführend Möller/Schriffl/Skordos: Heim­liche Freunde (wie Anm. 10), S.  266 – 274; EKMR: Greek Case (wie Anm. 46), sowie den Archivbestand des Europarats zum griechischen Fall, Council of Europe Archives: 034.1 European Politics, Box 630. 48 Unterhaltung von Brademas und Margaret Papandreou. Gesprächsnotizen vom 14. 07. 1971, S. 7. In: Princeton University Library: Norma Spector Papers, C1379, Box 44. 49 Mitschrift eines Treffens ­zwischen US-Senatoren und Abgeordneten und dem griechischen Premierminister Papadopoulos, 22. 08. 1969, S. 9. In: Semites, Box 9 (wie Anm. 11).

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konservativen Royalisten. So erwies sich gerade das Verhältnis zur Monarchie schwierig. Davon zeugen die Zerschlagung des royalistischen Putsches um König Konstantin II. im Dezember 1967 sowie die Überführung der griechischen Monarchie in ein Präsidialsystem mit Papadopoulos als Präsidenten nach der Zerschlagung des Aufstands der Marine 1973.50 Die zöger­lichen Versuche, zu einem System mit gewählten politischen Repräsentanten zurückzukehren, waren weitestgehend vergeb­lich.51

3. Das Ende der Diktatur Ähn­lich wie in Spanien und Portugal lässt sich in Griechenland nach dem Ende der Diktatur eine in weiten Teilen friedvolle Transition ausmachen. Die letzte Phase der Diktatur war jedoch unversöhn­lich und blutig.52 So stellt ein zentrales Ereignis in der Erinnerung an die Zeit der Militärdiktatur die brutale Niederschlagung des Studentenaufstands im November 1973 dar, gemeinhin ›Polytechnio‹ genannt.53 Bereits am 14. November hatten sich landesweit Studenten auf ihren Universitätsgeländen versammelt, um dort ihren Unmut über das gegenwärtige Regime kundzutun. In Athen eskalierte die Situation, als am 17. November gegen Nachmittag die Räumung beschlossen wurde, Panzer auf das Gelände des Polytechnio rollten und Polizisten gewaltsam die Studierenden vertrieben. Die blutige Auseinandersetzung kostete mindestens 24 Menschen das Leben.54 Aufgrund der

50 Zum versuchten Gegenputsch des Königs im Dezember 1967 und den darauffolgenden Beschneidungen seiner Kompetenzen in der griechischen Verfassung von 1968 siehe Richter: Griechen­ land 1950 – 1974 (wie Anm. 53), S. 331 – 341.– Zur Konspiration königstreuer Marineeinheiten 1973 und der anschließenden Abschaffung der Monarchie siehe ebd., S. 385 – 387. 51 Siehe zum Beispiel die zunehmende Einbindung des konservativen Politikers Makarezinis, die letzt­lich wenig änderte. 52 Siehe dazu zum Beispiel Tokas, der neben dem Polytechnio insbesondere den Februar und März 1974 hervorhebt. Lampros Tokas: Ta paidia tou Flebari. Martiries syllitheton agoniston 40 chronia meta to chtipima sto klimakio tou KKE to 1974 [Die Kinder des Februars. Zeugenaussagen verhafteter Widerstandskämpfer 40 Jahre nach der Zerschlagung der Vereinigung der KKE]. Athen 2014, S. 21. 53 Siehe Kostis Kornetis: Children of the Dictatorship. Student Resistance, Culture Politics and the »Long 1960s« in Greece. New York/Oxford 2013, S. 253 – 286; Giorgios Gatos (Hrsg.): Polytechnio ’73. Reportaz me tin istoria [Polytechnio ’73. Eine Auseinandersetzung mit der Geschichte]. Athen 2004. 54 Zur Diskussion der genauen Opferzahlen siehe Leonidas Kallivretakis: To zitima ton thimaton: Nekroi kai travmaties [Die Frage der Opfer: Tote und Verletzte]. In: Gatos: Polytechnio ’73 (wie Anm. 53), S.  38 – 55.

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zahlreichen Toten wie auch der medialen Berichterstattung ist das Ereignis in der gegenwärtigen Erinnerungskultur von zentraler Bedeutung. Es hatte aber auch auf die Diktatur starke Auswirkungen. Für die Gruppe um General I­ oannidis boten die Unruhen den Anlass, Papadopoulos am 25. November 1973 zu entmachten. Die Diktatur wurde hingegen auch nach d­ iesem Coup d’État in wenig geändertem Gewand weitergeführt; die Anzahl der Berichte über Folterungen stieg sogar wieder an. Hinzu kommt, dass sich für diese vergleichsweise kurze Zeitspanne ein erheb­liches Forschungsdesiderat konstatieren lässt, ebenso wie zu zahlreichen anderen ­Themen der Militärdiktatur.55 Das letzte etwa halbe Jahr der Diktatur war schließ­lich geprägt durch den sich zuspitzenden Konflikt mit Zypern, das die Gruppe um Ioannidis mit Griechenland vereinigen wollte. Die Resultate dieser Bemühungen waren fatal: Das zypriotische Staatsoberhaupt Makarios III . konnte fliehen, und das türkische Militär intervenierte im Norden Zyperns. Die Junta zeigte sich überfordert, und eine Gruppe Offiziere auf Zypern war zum abermaligen Putsch bereit.56 So kapitulierte die Junta schließ­lich vor den Herausforderungen und gab die Macht an die Politik zurück. Mit Kostas Karamanlis fiel die Wahl auf einen erfahrenen Politiker aus dem konservativen Spektrum, der am 24. Juli 1974 nach Griechenland

55 Forschungen zur Militärdiktatur finden sich bislang vor allem im Bereich der staatszentrierten und nationalhistorisch geprägten Politik- und Diplomatiegeschichte. Gerade hinsicht­lich alltagsgeschicht­licher, mikrohistorischer oder auch kulturgeschicht­licher Ansätze ist die Forschung hingegen noch äußerst überschaubar. Siehe hierzu das Plädoyer von Konstantinos Chatzis/Georgia Mavrogonatou: From Structure to Agency to Comparative and ›Cross-­national‹ History? Some Thoughts Regarding Post-1974 Greek Historiography. In: Contemporary European History 19 (2010) 2, S. 151 – 168. – Eine löb­liche Ausnahme bildet in dieser Hinsicht das jüngst erschienene Sonderheft zur Militärdiktatur: Journal of Modern Greek Studies 35 (2017) 2. – Zu kulturhistorischen Ansätzen siehe ferner die Arbeiten von Gonda van Steen, exemplarisch Gonda van Steen: Stage of Emergency. T ­ heater and Public Performance under the Greek Military Dictatorship of 1967 – 1974. Oxford 2015. – Zur Forschung wie auch zur Quellenlage siehe weiterführend Sichani/Kornetis: Die Militärdiktatur und ihr Nachleben (wie Anm. 21); Maria Couroucli/Vangelis Karamanolakis: Renegotiations of Twentieth-­Century History. Access to ›Sensitive‹ Government Records and Archives in Greece. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History. Online-­Ausgabe, 10. 01. 2013. Abgerufen unter URL : http://www.zeithistorische-­ forschungen.de/16126041-couroucli-­karamanolakis-1 – 2013, letzter Zugriff: 28. 07. 2017. 56 Siehe Sotiris Rizas: Eksoteriki politiki kai Kypriako [Außenpolitik und die zypriotische Frage]. In: Vangelis Karamanolakis (Hrsg.): I stratiotiki diktatoria 1967 – 1974 [Die Militärdiktatur 1967 – 1974]. Athen 2010, S. 115 – 128, hier S. 124 – 128; – Weiterführend auch Sotiris Rizas: Oi Inomenes Polteies, i diktatoria ton syntagmatarchon kai to kypriako zitima 1967 – 1974 [Die USA, die Militärdiktatur und die zypriotische Frage 1967 – 1974]. Athen 2002.

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einreiste, als Premierminister vereidigt wurde und die Transition einleitete.57 Betrachtet man das letzte Jahr der Junta, so lassen sich sowohl das ›Polytechnio‹ als auch der Zypernkonflikt als verzweifelte Versuche beschreiben, durch Gewalt im Inneren sowie das Schaffen eines äußeren Feindes eine breite Unterstützung für das eigene Regime herzustellen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die griechische Militärdiktatur aus nur scheinbar demokratischen Verhältnissen sowie einer zunehmend von Unruhen geprägten Gesellschaft hervorging. Gerade diese Kontinuitäten können als Erklärungsansatz dafür dienen, dass die Diktatur keiner kohärenten Ideologie bedurfte, um immerhin sieben lange Jahre zu bestehen. Schließ­lich genügte es, die bestorganisierte Gruppe zu sein, die eigenen zur Verfügung stehenden Machtmittel rücksichtslos einzusetzen und sich dabei als Garant von Ruhe und Ordnung zu gerieren. Die Formen der Gewalt und insbesondere die Praxis der Verbannungsinseln knüpften an nationale Traditionen an. In Bezug auf die Einhegung dieser Gewalt kommt hingegen den internationalen Verflechtungen eine besondere Bedeutung zu. Dieser Kontext unterscheidet Griechenland wesent­lich von anderen mehr oder weniger synchron verlaufenden Diktaturen, wie zum Beispiel in Lateinamerika.

57 Kornetis: Children of the Dictatorship (wie Anm. 53), S.  292 – 303.

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Europa als Perspektive: Das Ende der Diktaturen und die Systemtransformation

Ulrike Capdepón

Spaniens Übergang zur Demokratie und Westintegration Von der ausbleibenden Auseinandersetzung mit der Franco-­Diktatur zur Abkehr vom Transitionskonsens

Der spanische Schriftsteller und Politiker Jorge Semprún, der als republikanischer Häftling das KZ Buchenwald überlebt hatte, formulierte 1994 in einer Rede in der Frankfurter Paulskirche, Spanien habe sich »mit erdrückender Mehrheit […] für eine kollektive und gewollte Amnesie entschied[en], um das Wunder eines fried­ lichen Übergangs zur Demokratie zu schaffen. Aber eines Tages wird es auch den Preis für diesen Prozess zu zahlen haben.« 1 Zum Zeitpunkt der Rede Semprúns, Mitte der 1990er Jahre, galt der spanische Übergang von der Diktatur zur Demokratie mehrheit­lich als nachahmenswertes, archetypisches Erfolgsmodell.2 Angesichts des als relativ fried­lich wahrgenommenen Verlaufs, der in einer stabilen Demokratie mündete, wurde die spanische Transition vor allem vor dem Hintergrund lateinamerikanischer und osteuropäischer Transformationsprozesse als vorbild­lich herangezogen. Die transición avancierte zum wichtigsten Gründungsmythos der spanischen Demokratie. Als Basis für den Erfolg der Demokratisierung gilt allen voran die Integration des Landes in die supranationalen Strukturen des Westens. Kritischen Stimmen, wie jener Semprúns, ist es geschuldet, dass spätestens seit der Jahrtausendwende eine Neuinterpretation d­ ieses Transitionsprozesses eingesetzt hat. Nicht nur in der akademischen Beurteilung, sondern auch in öffent­ lichen Debatten ist die transición zunehmend in die Kritik geraten. Schließ­lich setzte nach dem Tod Francisco Francos zwar eine auf Elitenpakten basierende, von Konsens getragene Transition ein, allerdings – hierauf spielt das Zitat Semprúns

1 Jorge Semprun: »Demokratisierung ist die Wurzel des Friedens – nicht umgekehrt.« Rede zur Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, gehalten am 9. Oktober 1994 in der Paulskirche zu Frankfurt am Main. In: Jorge Semprun: Blick auf Deutschland. Frankfurt a. M. 2003, S. 57 – 87, hier S. 73. 2 Entsprechende Einschätzungen geben als Vertreter der klassischen Transitionsforschung stellvertretend für andere u. a. Juan José Linz/Alfred Stepan: Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South America and Post-Communist Europe. Baltimore 1996, S. 87 ff.

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an – um den Preis einer ausbleibenden Auseinandersetzung mit den Hinterlassen­ schaften der Diktatur. Im Folgenden möchte ich mich ­diesem Demokratisierungsprozess genauer zuwenden. Es sollen die zentralen Ereignisse der Transitionsjahre ab 1975 zusammenfassend beleuchtet werden, die als Grundlage des Versöhnungs- und Konsensdiskurses gelten können. Welche Rolle spielte zudem die Westintegration, insbesondere der Beitritt zur NATO und zur Europäischen Gemeinschaft (EG) Spaniens beim öffent­lichen Umgang mit der Diktaturvergangenheit? Dabei gehe ich der Frage nach, inwiefern der Modus eines paktierten Übergangs zur Demokratie, der aus einer Kompromissstrategie der politischen Akteure resultierte, auf Kosten einer öffent­lichen Auseinandersetzung mit der Franco-­Diktatur ermög­licht worden war. Im Vordergrund steht der vergangenheitspolitische Umgang mit den Hinterlassenschaften der Diktatur, der den Rahmen für eine gesamtgesellschaft­ liche Aufarbeitung der Franco-­Vergangenheit grundsätz­lich vorgab und bis heute nachwirkt. Der konfliktmeidende geschichtspolitische Diskurs der Transition hat die postfranquistische Erinnerungskultur wesent­lich beeinflusst. Mit dem Entstehen einer zivilgesellschaft­lichen Basisbewegung, die sich für eine Aufarbeitung der franquistischen Repression einsetzt, wurde seit der Jahrtausendwende eine fundamentale Kritik und Abkehr vom Transitionskonsens formuliert, die Eingang in die gesellschaft­lichen, wissenschaft­lichen und politischen Debatten des Landes gefunden hat. Dieser Deutungswandel in der Bewertung des Gründungsmythos Transition soll schließ­lich rekonstruiert und zentrale Argumentationsmuster nachgezeichnet werden. Dabei gehe ich insbesondere der Frage nach, inwiefern die Einschreibung des Transitionsmythos in von Aufarbeitungsforderungen getragene Menschenrechtsdiskurse zu einer kritischen Umdeutung des Übergangsprozesses beigetragen hat. Als das zentrale Charakteristikum der transición mit seinen politischen Implikationen gilt, dass es nicht – wie von Teilen der Opposition zunächst gefordert – zu einem offenen Bruch (span.: ruptura) mit dem franquistischen System kam, sondern vielmehr zu einer paktierten Reform (span.: reforma pactada). Als Modell politischer Transformation bedeutete dies den verhandelten Übergang von der Diktatur zur Demokratie, der sich zunächst im Rahmen der Legalität und der Institutionen des alten Regimes vollzog. Reformwillige Repräsentanten des Franco-­Regimes und die gemäßigte Opposition handelten den Systemwechsel aus, die franquistische Vergangenheit wurde ausgeklammert. Von einem Zusammenbruch der Franco-­Diktatur kann entsprechend keine Rede sein, denn auf ein abruptes Ende des Regimes wurde verzichtet. Zum Verständnis des einsetzenden Deutungswandels soll im Folgenden eine kurze ereignisgeschicht­liche Einordnung des spanischen Übergangs zur Demokratie nach dem Tod Francos erfolgen.

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1. Die transición: Der fehlende Bruch mit der Diktatur Als der schwer erkrankte Franco, nachdem er wochenlang künst­lich am Leben gehalten worden war, am 20. November 1975 nach langer Krankheit starb, rief ­dieses Ereignis obgleich der ungewissen Zukunft des Landes bei vielen Erleichterung hervor. Auch wenn die Diktatur keineswegs überwunden war und ein Klima der Angst vorherrschte, trat ein zunehmend größer werdender Teil der politischen Machtelite des Franco-­Regimes unter erheb­lichem Druck der Opposition immer deut­licher für eine demokratische Öffnung ein. Wie die Politikwissenschaftlerin Paloma Aguilar als erste dargelegt hat, prägte die traumatische Erfahrung des Spanischen Bürgerkrieges, welcher der Diktatur ­zwischen 1936 und 1939 vorausgegangen war, den öffent­lichen Diskurs der transición.3 Ausgleich und Konsens waren daher die Maxime, um die mit der Erinnerung an den Bürgerkrieg verbundenen Ängste vor einer Wiederholung konflikthafter Auseinandersetzungen zu überwinden. Eine Debatte über das Franco-­Regime wurde vermieden. Die Reformer aus dem Lager Francos und die gemäßigte Opposition als die zentralen Akteure der transición verzichteten nach Francos Tod auf eine geschichtspolitische Auseinandersetzung mit der Diktatur. Zunächst ersetzte der von Franco zu seinem Nachfolger bestimmte König Juan Carlos I. im Juli 1976 den altfranquistischen und den Beharrungskräften der Diktatur zuzurechnenden Ministerpräsidenten Carlos Arias Navarro, durch den ebenfalls aus dem Franco-­Regime stammenden, jedoch reformfreudigen Adolfo Suárez. Das während seiner Amtszeit ausgearbeitete Gesetz über die politische Reform, das vorsah, die franquistische Ständekammer durch ein von allgemeinen und freien Wahlen zusammengesetztes Zweikammerparlament mit verfassungsgebenden Vollmachten zu ersetzen, billigten die Cortes (Bezeichnung für spanisches Parlament) im November 1976. Der Weg, um das politische System der Franco-­Diktatur institutionell in eine Demokratie westeuropäischen Zuschnitts zu verwandeln, war geebnet. Der junge Suárez wurde in den Medien mit einem Generationenwechsel verbunden, obwohl er innerhalb des franquistischen Staatsapparates hohe Posten bekleidet hatte und damit keinen Bruch mit der Franco-­Diktatur verkörperte, anders als etwa Felipe González, der junge Anführer der Sozialisten. Die ›­Alian­za Popular‹ (dt.: Volksallianz, AP), die Vorgängerpartei der heutigen Regierungspartei PP (span.: Partido Popular, dt.: Volkspartei) dagegen vereinigte die Anhänger

3 Paloma Aguilar Fernandez: Políticas de la memoria y memorias de la política [Politiken der Erinnerung und Erinnerungen der Politik]. Madrid 2008.

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des Franco-­Regimes hinter sich. Ihre franquistischen Wurzeln wurden auch darin deut­lich, dass sich sechs der sieben Gründungsmitglieder als ehemalige Franco-­ Minister aus der politischen Elite der Diktatur rekrutierten. Die anstehende Parlamentswahl verlief nicht ohne Hindernisse: Die Legalisierung der Kommunistischen Partei (span.: Partido Comunista de España, PCE) am 9. April 1977 als eine der wichtigsten Oppositionsparteien zwei Monate vor den ersten freien Wahlen erwies sich als Bewährungsprobe für die Demokratisierung. Die PCE vertrat einen moderaten Kurs des Eurokommunismus und übte sich im Sinne der ›nationalen Versöhnung‹ in Zurückhaltung. So verzichtete sie auf kommunistische Symbolik und erkannte als Zugeständnis die Monarchie als Staatsform an. Dabei gilt es zu bedenken, dass der im Bürgerkrieg begründete Antikommunismus ein ideologischer Grundpfeiler der Franco-­Diktatur gewesen war. Entsprechend fühlten die Militärs sich durch die Legalisierung der PCE in höchste Alarmbereitschaft versetzt; Marineminister Admiral Gabriel Pita da Veiga trat aus Protest von seinem Amt zurück. Um die Lage zu entschärfen, wurden mehrere Generäle pensioniert und der liberale General Manuel Gutiérrez Mellado zum Verteidigungsminister und später zum stellvertretenden Premierminister ernannt. Die den Versöhnungsdiskurs besonders betonende Zentrumspartei UCD (span.: Unión de Centro Democrático, dt.: Union des demokratischen ­Zentrums) gewann im Juni 1977 die ersten freien und allgemeinen Wahlen seit 1931. Mit Adolfo Suárez hatte die UCD bereits in den Jahren zuvor de facto das Regierungsoberhaupt gestellt. Das Fehlen einer klaren parlamentarischen Mehrheit für die UCD -Regierung war ein Faktor, der die Kompromiss- und Dialogbereitschaft ­zwischen den Parteien zusätz­lich beförderte. Mit beständigen Verweisen auf die traumatischen Erfahrungen des ›Bruderkrieges‹ (span.: guerra fratricida) – ein historisches Narrativ aus dem Spätfranquismus, in dem die Bürgerkriegserfahrung als kollektive Tragödie dargestellt wird – versuchten Politik und Medien das Vergessen zu rechtfertigen, ohne das – so die Argumentation – eine Versöhnung nicht mög­lich sei.

2. Das Amnestiegesetz von 1977: Versöhnungsdiskurs und Amnesie Als vergangenheitspolitischer Höhepunkt des Transitionskonsenses und als zentrales Symbol für den Versöhnungsdiskurs kann die Generalamnestie von Oktober 1977 gelten. Bereits in seiner Regierungserklärung hatte Adolfo Suárez ein Amnestiegesetz angekündigt, das am 30. Juli 1976 noch unter der Legitimität des alten Regimes durch

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Abb. 1  Eine Demonstration für die Amnestie in Alicante (1978).

den Ministerrat verabschiedet wurde.4 Als expliziter Ausdruck des Wunsches, die gesellschaft­liche Spaltung aus der Zeit des Bürgerkrieges zu überwinden, plädierte es für ein umfassendes Vergessen der vergangenen Ereignisse. Die dem Gesetz vorausgegangenen Straferlasse des Königs, die als eine Geste der Versöhnung angekündigt worden waren, und die erste Fassung des Amnestiegesetzes standen allerdings in der Tradition des staat­lich verordneten Gnadenrechtes,5 das die Straftat an sich nicht in Frage stellte. Aus ­diesem Grund wurde die erste Fassung des Amnestiegesetzes von großen Teilen der Opposition als ungenügend abgelehnt. Vor dem Hintergrund zunehmender Demonstrationen, etwa in Madrid, Barcelona und Alicante sowie der Arbeiterproteste im baskischen Vitoria, bei denen am 3. März 1976 fünf Demonstranten erschossen und Hunderte weitere verletzt worden waren, verschärften sich die an Amnestieforderungen geknüpften Mobilisierungen. 4 Real Decreto Ley Nr. 10/1976, de 30 de julio 1976 [König­liches Dekret Nr. 10/1976, vom 30. Juli 1976]. In: Boletín Oficial del Estado (BOE) [Spanischer Staatsanzeiger], 4. August 1976. 5 Auch während der Franco-­Diktatur gab es vereinzelt Straferlasse für politische Gefangene, so z. B. aus Anlass der Feier­lichkeiten zum ›25. Jahres des Friedens‹ am 1. April 1964 oder zum 30. Jahrestag des Bürgerkriegsendes 1969. Diese waren allerdings willkür­lich und von äußerst beschränkter Reichweite, dienten sie doch in erster Linie zu Propagandazwecken. Siehe hierzu Aguilar Fernandez: Políticas de la memoria y memorias de la política (wie Anm. 3), S.  171 – 173.

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Die Generalamnestie von 1977, die erste vergangenheitspolitische Maßnahme des neu gewählten demokratischen Parlaments,6 war hinsicht­lich der Diktaturverbrechen an eine staat­liche Amnesie geknüpft. War die Amnestie von der antifranquistischen Opposition als unabdingbare Bedingung für einen fried­lichen Übergang zur Demokratie lange eingefordert worden, so sollte sie schließ­lich nicht nur den politischen Gefangenen der Diktatur Freiheit bringen, sondern auch den an der staat­lichen Repression beteiligten Franquisten umfassenden und langfristigen Schutz vor strafrecht­licher Verfolgung für die während der Diktatur begangenen Verbrechen garantieren. Wie aus der Parlamentsdebatte vom 14. Oktober 1977 deut­lich wird, reichte der Konsens der Abgeordneten in Bezug auf die Amnestie von den Kommunisten und Sozialisten bis zum gemäßigten Flügel der rechten Volksallianz. Somit umfasste er die überragende Mehrheit der parlamentarischen Fraktionen. Getragen von der UCD und der Sozialistischen Arbeiterpartei Spaniens (span.: Partido Socialista Obrero Español, PSOE) betonten die befürwortenden Parteien einmütig die Notwendigkeit ­dieses Gesetzes als Beginn einer neuen Ära und als Beitrag zur ›nationalen Versöhnung‹. In der Parlamentsdebatte sticht besonders der Redebeitrag des Abgeordneten der Kommunistischen Partei und Gewerkschaftsführers der Comisiones Obereras (dt.: Arbeiterkommissionen, CCOO) Marcelino Camacho Abad hervor, der wegen seines antifranquistischen Widerstandskampfes insgesamt neun Jahre im Madrider Gefängnis Carabanchel inhaftiert gewesen war. Nachdem er zwar die politischen Gefangenen der Franco-­Diktatur gewürdigt hatte, führte er aber aus, dass es nun gelte, die Vergangenheit hinter sich zu lassen: »Wie können wir – die wir uns gegenseitig umgebracht hatten – uns versöhnen, wenn wir diese Vergangenheit nicht ein für alle Mal ausradieren? […] Wir, gerade die Kommunisten, die so viele Wunden erleiden mussten, haben unsere Toten und unseren Groll begraben.« 7 Besonders bemerkenswert ist diese Formulierung aus heutiger Perspektive, da die von Francos Truppen getöteten Bürgerkriegsopfer mehrheit­lich eben gerade nicht würdig begraben und bestattet worden waren. Vielmehr lagen auf dem gesamten spanischen Territorium Tausende Bürgerkriegsopfer als Verschwundene weiterhin in klandestinen Massengräbern verscharrt (siehe Abschnitt 6). Dennoch, so Camacho, sei die Versöhnung das oberste Ziel der Kommunisten, die Vergangenheit müsse, wie die Toten, beerdigt und damit abgeschlossen werden. Die mit großer Einmütigkeit geführte Debatte um das Amnestiegesetz verdeut­ licht, dass die parlamentarisch repräsentierten Kräfte der antifranquistischen 6 Ley Nr. 46/1977 de 15 de octubre, de Amnistía. In: BOE, 17. Oktober 1977. 7 Diario de Sesiones de Congreso (DSC) [Plenarmitschriften]: Nr. 27, 14. Oktober 1977, S. 960.

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Opposition größtenteils für ein Schweigen über die belastete Vergangenheit eintraten. Weder eine Opferentschädigung noch eine Bestrafung der Täter wurde in den demokratisch legitimierten Cortes explizit eingefordert. Die Forderung nach einem gewollten beidseitigen Vergessen führte dazu, dass selbst die Politiker der bis kurz zuvor illegalen Parteien hinnahmen, dass die Amnestie die Anhänger des repressiven Verwaltungspersonals der Diktatur mit einschloss – und damit et­liche Täter in die Straflosigkeit entließ. Die beiden zentralen Gesetzesartikel, w ­ elche die justizielle Verfolgung derer untersagt, die im Namen der Diktatur Menschenrechtsverbrechen begangen hatten, wurden in den öffent­lichen und parlamentarischen Debatten, die zur Verabschiedung des Amnestiegesetzes führten, nicht thematisiert. Stattdessen stand bei diesen – unter Verweis auf die Notwendigkeit des gegenseitigen Verzeihens und der Versöhnung – das rückwirkende Vergessen im Mittelpunkt. Damit wurde dauerhaft ausgeschlossen, dass diejenigen, die sich an der Diktatur beteiligt und von ihr profitiert hatten, zur Rechenschaft gezogen werden konnten. Die Verbrechen des Franco-­Regimes blieben ungesühnt. Als Konsequenz der beidseitigen Amnestie, die eine Täteramnestie von ehema­ ligen Militärs und Sicherheitskräften bedeutete, gab es in Spanien über 20 Jahre keine offizielle Auseinandersetzung mit dem Bürgerkrieg und der Franco-­Diktatur. Eine Thematisierung der politischen Unterdrückung wurde gemieden, der vielgepriesene, von Konsens und Ausgleich getragene Übergang zur Demokratie basierte auf einem offiziellen Verschweigen der franquistischen Repression. Da eine Auseinandersetzung mit den persön­lichen Verstrickungen der aus dem Franco-­ Regime stammenden politischen Akteure den paktierten Übergang erschwert hätte, ließ auch ein Austausch belasteter Eliten auf sich warten. Ledig­lich einige Generäle wurden frühzeitig pensioniert. Diskussionen über die Unterscheidung von Opfern und Tätern waren unmög­lich geworden. Am 6. Dezember 1978 billigte die Bevölkerung mit einer großen Mehrheit von 87,8 Prozent der abgegebenen Stimmen die neue Verfassung, die Spanien zu einer parlamentarischen Monarchie machte. Auch wenn der recht­liche Bruch mit dem Franco-­Regime mit der Proklamation der Verfassung durch den König formal vollzogen schien, war die Diktatur Francos damit nicht überwunden. Der ›paktierte Übergang‹ bedeutete insgesamt einen offiziellen ›Pakt des Vergessens‹. Mit dieser geschichtspolitischen Strategie sollte neben dem Bürgerkrieg künftig ebenso seine Fortsetzung in der Franco-­Diktatur institutionell verschwiegen werden. Mehrheit­lich blieb der franquistische Machtapparat unangetastet, an den Besitzverhältnissen änderte sich nichts, auf einen öffent­lich wahrnehmbaren Bruch mit dem alten Regime wurde verzichtet. Nicht umsonst fand innerhalb des Staatsapparates kein Austausch belasteter franquistischer Eliten statt und eine Militärreform wurde vertagt.

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3. Der 23-F 1981: Putschversuch als Legitimation für das Vergessen Es besteht kein Zweifel daran, dass antidemokratische Offiziere bis weit in die 1980er Jahre hinein im militärischen Lager wiederholt Umsturzversuche planten. Ihren Höhepunkt fanden sie in dem für die historische Erinnerung zutiefst prägenden Putschversuch des rechtsextremen Oberstleutnant Antonio Tejero im Parlament. Nachdem zu Jahresbeginn 1981 UCD-Ministerpräsident Adolfo Suárez unter anderem aufgrund seiner zöger­lichen Haltung zum NATO-Beitritt zurückgetreten war und im Februar Leopoldo Calvo Sotelo zu seinem Nachfolger gewählt werden sollte, stürmte eine Gruppe von Militärs die spanischen Cortes und nahm die dort versammelten Politiker vor laufenden Kameras in Geiselhaft. Zeitgleich rückten in Valencia Panzer aus den Kasernen. Der spanische so genannte tejerazo am 23. Februar 1981 (span. Abkürzung: 23-F), der live im spanischen Fernsehen übertragen wurde, sollte die Fragilität des Übergangs zur Demokratie drastisch vor Augen führen. Dass dieser Putsch scheiterte, lag nicht zuletzt, so zumindest die offizielle Lesart, am Agieren von König Juan Carlo I. In seiner Funktion als Oberbefehlshaber forderte er die Militärs in einer Fernsehansprache – obgleich erst volle acht Stunden später – auf, in ihre Kasernen zurückzukehren.8 Obwohl der Staatsstreich vereitelt werden konnte, verweist er auf die Schwächen der Transition und offenbarte das nach wie vor antidemokratische Selbstverständnis eines Großteils der Militärs, der einen Privilegienverlust fürchtete. Zudem verdeut­lichte er die Rolle Juan Carlos’ I.: Als testamentarisch eingesetzter Nachfolger Francos konnte er einerseits Militärs und Altfranquisten, andererseits der moderaten Opposition als Integrationsfigur dienen, stand er doch einer Demokratisierung offen gegenüber. Aus dem Putsch ging er gestärkt hervor. Und schließ­lich zeigte sich während des Putsches eine Mobilisierung der Bevölkerung, die für eine Fortsetzung der Demokratisierung am folgenden Tag in Madrid demonstrierte.9 Erste zivilgesellschaft­liche und kulturelle Initiativen zur Auseinandersetzung mit der Franco-­Diktatur waren allerdings im Keim erstickt worden. Dazu gehörten etwa Forderungen nach einer Öffnung von klandestinen Bürgerkriegsgräbern 8 Unlängst hat die Journalistin Pilar Urbano ein vielbeachtetes Buch vorgelegt, indem sie die bereits vermutete These bestätigt, es habe sich um einen auto golpe gehandelt. König Juan ­Carlos sei nicht nur von den Putschvorbereitungen informiert, sondern auch zur Stärkung seiner Machtposition direkt an ihnen beteiligt gewesen. Siehe Pilar Urbano: La gran desmemoria. Lo que Suárez olividó y el rey prefiere no recordar [Die große Nicht-­Erinnerung. Was Suárez vergaß und woran sich der König lieber nicht erinnern möchte]. Madrid 2014. 9 Birgit Aschmann: Spanien in der transición. Von der Franco-­Diktatur zur Demokratie. In: Mittelweg 36 (2016) 3, S. 29 – 58, hier S. 56 f.

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und erste Umbettungen zur angemessenen Bestattung der republikanischen Opfer. Diese in der Zeit von 1979 bis 1981 durchgeführten Exhumierungen, die weder mit professioneller forensischer Fachkenntnis noch staat­licher Unterstützung eigenständig meist von Angehörigen vorgenommen worden waren, sollten nach dem vereitelten Putsch langfristig unterbunden werden, zu groß schien die Angst vor einer Putschgefahr, die weiterhin vom Militär ausging.10

4. PSOE-Ära und Transitionskonsens: Westintegration ohne Transitional Justice Ganz unter dem Eindruck des gescheiterten Militärputsches und verbunden mit dem Wunsch nach politischer Stabilität stand die Diskussion um den spanischen NATO -Beitritt im Mai 1982 unter UCD -Ministerpräsident Calvo Sotelo. Die PSOE, die den Beitritt als Oppositionspartei unter dem bewusst ambivalent gehaltenen Slogan »OTAN, de entrada no« (dt.: »NATO, nicht von vorn­herein«) noch abgelehnt und zur Entscheidung dieser Frage nach ihrem Wahlsieg ein Referendum in Aussicht gestellt hatte, wollte die Mitgliedschaft an spezifische Bedingungen zu knüpfen. Die 1982 anstehenden Parlamentswahlen brachten den Sozialisten einen Erdrutschsieg und die absolute Mehrheit, die transición galt damit – einer dominanten Lesart folgend – als abgeschlossen.11 Die PSOE brachte umfassende Reformen auf den Weg, mit denen man sowohl wirtschaft­lich als auch gesellschaft­lich Anschluss an Westeuropa zu gewinnen suchte. Nach dem Wahlsieg von Ministerpräsident Felipe González setzte die neue Regierung als Folge aus dem Putschversuch zwar Pensionierungen im Militär durch, beschränkte dessen Einfluss graduell und läutete die Demokratisierung der Streitkräfte ein. In der Frage des NATO-Beitritts allerdings hatte die PSOE, nament­lich der nach dem Wahlsieg wesent­lich moderater auftretende Felipe González, eine klare Kehrtwende vollzogen und favorisierte jetzt unmissverständ­lich die NATO-Mitgliedschaft. Das im März 1986 dennoch durchgeführte Plebiszit endete dann auch mit einer Mehrheit für den Verbleib im transatlantischen Verteidigungsbündnis. 10 Francisco Ferrandiz: El pasado bajo tierra. Exhumaciones contemporáneas de la Guerra Civil [Die begrabene Vergangenheit. Zeitgenössische Exhumierungen aus dem Bürgerkrieg]. Barcelona 2014, S. 162 – 165. 11 Die Indikatoren zur genauen Bestimmung und Abgrenzung des Transitionsprozesses sind umstritten. Die spanische Demokratie gilt nach einer dominanten Interpretation mit dem Wahlsieg der Sozialistischen Partei 1982 als konsolidiert. Als weitere Ereignisse des Endes der Transition werden etwa der gescheiterte Putsch 1981 oder der Eintritt Spaniens in die EG zum 1. Januar 1986 diskutiert.

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Abb. 2  »Einmal Guernica ist genug. Nein zur NATO« (1985). Im Zuge der Diskussion um den NATO-Beitritt hatte sich eine starke Protestbewegung formiert.

Als wesent­lich langwieriger gestalteten sich die 1979 eingeleiteten Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Gemeinschaft (EG ), obgleich die Unterstützung der Bevölkerung gegenüber der Aufnahme in die EG im Vergleich zum NATO -Beitritt ungleich deut­licher ausfiel. Die Franco-­Diktatur war 1962 von der EG mit dem Verweis abgewiesen worden, dass Diktaturen ein Beitritt nicht offenstehe.12 Das daraus resultierende Präferenzabkommen Spaniens mit Brüssel von Oktober 1970 beschränkte sich entsprechend allein auf Wirtschaftsfragen. Die Überwindung des außenpolitischen Erbes des Regimes und die demokratieverteidigende Haltung der EG gegenüber der Franco-­Diktatur können als entscheidende Erklärungsfaktoren für die starke Unterstützung der 12 Zitiert nach Rafael Quirosa-­Cheyrouze y Muñoz: Europeísmo y transición a la democracia en España [Europeismus und Transition zur Demokratie in Spanien]. In: Ricardo Martin de la Guardia/Guillermo A. Perez Sanchez (Hrsg.): España y Portugal. Veinticinco años en la Unión Europea (1986 – 2011) [Spanien und Portugal. Fünfundzwanzig Jahre in der Europäischen Union 1986 – 2011]. Valladolid 2011, hier S. 123.

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PSOE -Regierung und großer Teile der spanischen Gesellschaft gegenüber dem Beitritt angeführt werden. In Abstimmung mit dem weiteren Beitrittskandidaten Portugal vollendete die Regierung González nach siebenjährigen Beitrittsverhandlungen im März 1986 die Westintegration Spaniens. Dabei war neben dem zu erwartenden geostrategischen und ökonomischen Nutzen durch vertiefte Handelsbeziehungen auch die symbolische Dimension der Rückkehr nach Europa von größter Bedeutung. Im zeitgenössischen Diskurs galt die Integration in die europäischen Strukturen als ein Meilenstein der Modernisierung und Garant der Demokratisierung, auch um einen Rückfall in die Diktatur nach der langen außenpolitischen Isolation, die mit dem Bürgerkrieg begonnen hatte, zu verhindern.13 Insgesamt war die spanische transición von der in Aussicht gestellten Westintegration, die noch ganz durch den Kalten Krieg geprägt war, vorangetrieben worden. Sollte die Integration in die supranationalen Institutionen des Westens Diskontinuität mit der Franco-­ Diktatur – bei gleichzeitiger Elitenkontinuität – symbolisieren, so war eine Auseinandersetzung mit den Hinterlassenschaften der Franco-­Diktatur nicht zur Aufnahmebedingung Spaniens zur NATO und Europäischen Gemeinschaft gemacht worden. Die Westintegration Spaniens kam ganz ohne eine innergesellschaft­liche Aufarbeitung der Diktaturvergangenheit aus. Trotz der eigenen Oppositionsrolle während der Franco-­Diktatur knüpften auch die Sozialisten in der Ära González (1982 – 1996) an den offiziellen Schweigekonsens der Transition an. Das politische Desinteresse drückt sich wohl am prägnan­testen in der vielzitieren Erklärung des PSOE-Ministerpräsidenten Felipe González anläss­lich des 50. Jahrestages des Bürgerkriegsbeginns, dem Jahr des spanischen EG-Beitritts und NATO-Referendums, aus. Aus dem Madrider Regierungspalast Moncloa ließ er im Juli 1986 verlauten: »Der Bürgerkrieg ist kein Ereignis, dessen man gedenken sollte, auch wenn es für die, die ihn erlebten und erlitten, eine entscheidende Episode in ihrem Leben darstellte.« 14 Die offizielle Maxime lautete ›Nie wieder Bürgerkrieg‹ und knüpfte damit an die Kollektivschuldthese der Transition und den spätfranquistischen Topos eines ›Bruderkrieges‹ an. Der Bürgerkrieg als längst abgeschlossenes Ereignis sei nicht erinnerungswürdig und bedürfe deshalb keiner öffent­lichen Präsenz in der spanischen Gesellschaft. Diese

13 Walther L. Bernecker: España y la Unión Europea: Una relación cambiante [Spanien und die Europäische Union: Eine wechselhafte Beziehung]. In: Ders./Gunther Maihold (Hrsg.): España: Del consenso a la polarización [Spanien: Vom Konsens zur Polarisierung]. Frankfurt a. M., 2007, S. 45 – 69, hier S. 51. 14 »Una guerra civil no es un acontecimiento conmemorable«, afirma el Gobierno [»Ein Bürgerkrieg ist kein erinnerungswürdiges Ereignis«, erklärt die Regierung]. In: El País, 19. Juli 1986.

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Erklärung wird nicht nur aus dem vergangenheitspolitischen Kontext verständ­ lich, sondern liegt im außenpolitischen Kurs Spaniens begründet. Wie Walther Bernecker treffend kontextualisiert, wurden im Jahr 1986 – in dem Jahr, als Spanien nicht nur Vollmitglied der EG wurde, sondern sich auch für den Verbleib in der NATO entschied – geschichtspolitische Debatten von der anstehenden Westintegration und damit dem Primat von außen- und sicherheitspolitischen Fragen überlagert.15 Das den Transitionsprozess prägende Schlüsselwort lautete ›Konsens‹. Die fehlende Auseinandersetzung mit der Franco-­Diktatur als Konsequenz des Bürgerkrieges ist demnach auch auf den Kompromisscharakter des Systemwechsels zurückzuführen, dessen zentrales Merkmal der verlangte Schlussstrich unter die Vergangenheit gewesen war. Weder 1986 zum 50. Jahrestag des Bürgerkriegsausbruchs noch zum runden Gedenktag des Kriegsendes 1989 hatte die sozialistische Regierung eine politische Debatte um den Bürgerkrieg und das Franco-­Regime angeregt oder in offiziellen Gedenkveranstaltungen an diesen erinnert. Eine kritische Reflexion, etwa über die Ursachen des Krieges oder seine Folgen für die Nachkriegsgesellschaft und das Franco-­Regime als seine Konsequenz, blieb aus. Über den Bürgerkrieg und die Repression der Franco-­Diktatur legte sich, begründet im politischen Schweigekonsens der transición, ein langfristiger Mantel des gesellschaft­lichen Ausblendens, der bis in die Mitte der 1990er Jahre hielt.

5. Die Rückkehr der Franco-­Vergangenheit in die Politik Mit der Regierungsübernahme der konservativen Volkspartei 1996 entfachten die Oppositionsparteien zusammen mit erinnerungspolitischen Vereinigungen eine geschichtspolitische Debatte über die Franco-­Vergangenheit, die vom bisherigen offiziellen Transitionskonsens einer Nichtthematisierung der Franco-­ Diktatur deut­lich abwich. Als Reaktion auf die im Wahljahr 2001 erreichte absolute Mehrheit der Aznar-­Regierung und ihrer konservativen Geschichtspolitik hat sich, angestoßen durch das Aufspüren klandestiner Bürgerkriegsgräber und die Exhumierung republikanischer Opfer, eine Gegenbewegung formiert, die bestehende Deutungen in Frage stellt und den Transitionskonsens herausfordert.

15 Walther L. Bernecker: De la diferencia a la indiferencia. La sociedad española y la Guerra Civil (1936/9 – 1986/89) [Vom Unterschied zur Gleichgültigkeit. Die spanische Gesellschaft und der Bürgerkrieg 1936/9 – 1986/89]. In: Ders./Francisco Lopez Casero/Peter Waldmann (Hrsg.): El precio de la modernización. Formas y retos del cambio de valores en la España de hoy [Der Preis der Modernisierung. Formen und Herausforderungen des Wertewandels im heutigen Spanien]. Frankfurt a. M. 1994, S. 63 – 79, hier S. 68, 74.

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Insbesondere während der absoluten Regierungsmehrheit der Volkspartei PP wandelte sich die Position der PSOE fundamental: Während der offizielle Transitionsdiskurs jahrzehntelang die Notwendigkeit des Schweigens für das fried­liche Zusammenleben betont hatte, vertraten die PSOE und das linke Partei­enspektrum nun die Ansicht, dass die Auseinandersetzung mit der Diktatur unumgäng­lich sei. Fortan wurde die Thematisierung der Diktaturvergangenheit von der Opposition als ›notwendige Erinnerung‹ geschichtspolitisch genutzt, auch um zu unterstreichen, dass ihre Rolle im Kampf gegen die Diktatur und die Zugeständnisse, zu denen sie sich im Sinne der ›nationalen Versöhnung‹ während der transición gezwungen sahen, nicht ausreichend anerkannt worden ­seien. Der ›Pakt der politischen Nichtinstrumentalisierung‹,16 der das postfranquistische Spanien geprägt hatte, erwies sich langfristig als zerbrech­lich, denn die Motive, diesen aufrechtzuerhalten, standen in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander: Offensicht­lich ist, dass jene, die mit der Franco-­Diktatur kollaboriert hatten, von ihrer Nichtthematisierung profitierten, da ihre zweifelhafte Vergangenheit nicht öffent­lich bekannt wurde. Die Gegner des Franco-­ Regimes dagegen hatten den mit dem Amnestiegesetz begründeten Schweigekonsens der transición mit einem Verzicht auf die historische Anerkennung ihres Leids bezahlt, um im Gegenzug einen Zugang zu politischen Machtpositionen zu erhalten. Diese ungleiche Ausgangsposition ist einer der Hauptgründe dafür, dass die geschichtspolitische Debatte über das im Transitionsprozess begründete Verschweigen und Vergessen der Franco-­Diktatur während der absoluten Regierungsmehrheit der Konservativen aufbrach. Die konservative PP hält dagegen bis heute beharr­lich am Gründungsmythos der Transition fest und besteht weiterhin auf ihren Erfolgscharakter. Im Laufe der Jahre lässt sich zudem nicht allein auf institutioneller Ebene eine fortdauernde Europäisierung und »Westernisierung im Süden« 17 des Landes feststellen, auch ein zunehmend transnationalisiertes Erinnerungsimperativ gewinnt, wie das eingangs angeführte Zitat Jorge Semprúns von 1994 andeutet, in Spanien an Einfluss. Als in den 1990er Jahren die Erinnerung an den Holocaust und die Beschäftigung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus für das vereinte Europa zum konstitutiven historischen Bezugspunkt wurde, begann auch die Erinnerung an die Franco-­Diktatur eine zunehmend prominente Rolle in

16 Auf diese Formel bringt es Paloma Aguilar Fernandez: Guerra Civil, franquismo y democracia [Bürgerkrieg, Franquismus und Demokratie] In: Claves. De razón práctica, Nr. 140 (2004), S. 24 – 33, hier S. 31. 17 Aschmann: Spanien in der transición (wie Anm. 9), S. 31 f.

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der spanischen Erinnerungskultur einzunehmen.18 Während die Aufarbeitung der Franco-­Diktatur für den Transitionsprozess und die damit verbundene institutionelle Westintegration Spaniens in den 1980er Jahren noch keine Rolle gespielt hatte, da die Aufnahme in die europäischen Institutionen offensicht­ lich nicht an die Bedingung einer gesellschaft­lichen Aufarbeitung der Franco-­ Diktatur geknüpft war, kamen vor dem Hintergrund einer zunehmend transnationalen Erinnerungskonjunktur auf europäischer Ebene ab 2006 vermehrt geschichtspolitische Initiativen auf, die eine Verurteilung des Franco-­Regimes erreichen wollten. Die innenpolitische Debatte um die Auseinandersetzung mit dem Franquismus seit dem Regierungswechsel 2004 und um die Verabschiedung des umstrittenen Erinnerungsgesetzes unter dem sozialistischen Ministerpräsidenten José Luis Rodríguez Zapatero befand sich zu d­ iesem Zeitpunkt gerade auf ihrem Höhepunkt. Im Zusammenhang mit dem 70. Jahrestag des Bürgerkriegsausbruchs sollte nun – 20 Jahre nach Aufnahme in die EG und in die NATO  – die lokale Auseinandersetzung mit Diktatur und Bürgerkrieg in Spanien als innenpolitisches Druckmittel vorangebracht werden. Die Resolution, ­welche die Parlamentarische Versammlung des Europarates im März 2006 verabschiedete, verurteilte das Franco-­Regime auf europäischer Ebene.19 Einstimmig drängte der Beschluss die spanischen Institutionen dazu, eine Wahrheitskommission einzurichten, die Opfer des Franquismus anzuerkennen und die Menschenrechtsverletzungen der Diktatur offiziell zu verurteilen. Nachdem Anfang Mai auch das Ministerkomitee der Europäischen Union die Menschenrechtsverletzungen des Franco-­Regimes verurteilt hatte, befasste sich Anfang Juli 2006 zudem das Europäische Parlament in einer Debatte mit der Franco-­ Diktatur, um eine Aufklärung der Diktaturverbrechen auf nationaler Ebene zu erwirken. Der spanische Abgeordnete der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP ) Jaime Oreja erwähnte in seinem Redebeitrag jedoch nicht nur die Franco-­Diktatur mit keinem Wort, er lobte vielmehr den Transitionsprozess, in dessen Zuge die Vergangenheit auf exemplarische Weise überwunden worden sei, und verpasste so wiederholt die Gelegenheit, sich öffent­lich von der Franco-­ Diktatur zu distanzieren. Zudem kam es bei dieser Gelegenheit zu einem Eklat, 18 Alejandro Baer/Bernt Schnettler: Vergessen, Erinnern und Wissen: Öffent­liches Gedächtnis und Vergangenheitsaufarbeitung im postfranquistischen Spanien, 2012. Abgerufen unter URL: https://www.academia.edu/20088018/Vergessen_Erinnern_und_Wissen_Öffent­ liches_Gedächtnis_und_Vergangenheitsaufarbeitung_im_postfranquistischen_Spanien, hier S. 6, letzter Zugriff: 14. 01. 2017. 19 El Consejo de Europa condena el franquismo e insta a España a honrar a sus víctimas [Der europäische Rat verurteilt den Franquismus und drängt Spanien darauf, seine Opfer zu würdigen]. In: El País, 18. März 2006.

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als der polnische Europa-­Abgeordnete Maciej Giertych in einem apologetischen Redebeitrag Franco dafür dankte, dass er den kommunistischen Angriff auf das katholische Spanien abgewehrt habe.20

6. Schlussbetrachtung In Spanien fand vor dem Hintergrund der traumatisierenden Erfahrung des Bürgerkrieges über Jahre keine offizielle Aufarbeitung oder institutionalisierte Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Franco-­Diktatur statt. Allerdings gelang eine relativ schnelle formale Demokratisierung der politischen Institutionen, so dass sich die transición nicht nur zum wichtigsten Gründungsmythos der spanischen Demokratie entwickeln konnte, sondern auch aus vergleichender Perspektive als paradigmatisch und vorbild­lich für die Transitionsprozesse anderer Länder herangezogen wurde. Insgesamt wurde der Prozess des politischen Wandels, wie dargelegt, maßgeb­lich von den franquistischen Eliten gelenkt, die auch nach dem Ende der Diktatur wichtige politische Schlüsselpositionen innehatten. Der allmäh­liche Wandel von der Diktatur zur Demokratie innerhalb der Legalität des Franco-­Regimes setzte das Ausblenden der Diktatur aus dem politischen Diskurs voraus. Die auf dem ›Vergessen‹ basierende ›nationale Versöhnung‹ stellte die Basis dar, die das Erfolgsnarrativ der spanischen Transition begründete, gekoppelt an eine Integration in die supranationalen Strukturen von EG und NATO. Seit der Jahrtausendwende werden die langfristigen gesellschaft­lichen Auswirkungen der Generalamnestie, die an ein Schweigen über die Verbrechen der Diktatur geknüpft waren, gesellschaft­lich diskutiert. Die gegenwärtigen Erinnerungsdiskurse verdeut­lichen, dass das Ausklammern der Diktaturvergangenheit aus dem politisch-­institutionellen Diskurs der Transition eine gesellschaft­liche Auseinandersetzung mit dem Franquismus nicht verhindern konnte, sondern vielmehr das Gegenteil bewirkt hat. Wie die kurze Darstellung der während der Demokratisierung ergriffenen vergangenheitspolitischen Maßnahmen verdeut­ licht, wurde während der Transition offiziell auf die Differenzierung in Täter und Opfer verzichtet. Erst in jüngerer Zeit wird der Transitionskonsens öffent­lich debattiert und erneut zur Disposition gestellt. Als einer der ersten Kritiker des dominanten Deutungsmusters der transición war es Gregorio Morán, der – ähn­lich wie eingangs 20 El Parlamento Europeo condena el régimen de Franco con la oposición de Mayor Oreja [Das Europäische Parlament verurteilt das Franco-­Regime, mit der Opposition von Mayor Oreja]. In: El País, 5. Juli 2006.

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Jorge Semprún – das Ausblenden der Diktaturverbrechen während des Übergangsprozesses als »Preis der Transition« brandmarkte, w ­ elchen die anitfranquistische Opposition für die Demokratisierung des Landes in Kauf genommen habe.21 Der die transición prägende politische Konsens sei mit der Tabuisierung der franquistischen Verbrechen erkauft worden. Für die Kritiker des von ihnen als ›Schweigepakt‹ (span.: pacto de silencio) gegeißelten Zustandes stellt die fehlende juristische und politische Aufarbeitung der franquistischen Vergangenheit einen inakzeptablen Kompromiss dar, der negative Auswirkungen auf das politische System und die Gesellschaft insgesamt zeitige. Kritik wird vor allem aufgrund der fehlenden Rehabilitierung der Opfer franquistischer Repression und der nicht erfolgten juristischen Auseinandersetzung mit den Diktaturverbrechen geübt. Mit dem Modus des paktierten Übergangs zur Demokratie verbindet sich, dass keine tiefgreifende diskursive Delegitimierung des franquistischen Systems stattfand. Das Ausbleiben einer intensiven Debatte über die Diktaturvergangenheit in Spanien verhinderte eine kritische gesellschaft­liche Auseinandersetzung mit dem Kollektivschulddiskurs in Bezug auf den Bürgerkrieg und begünstigte das Beschweigen der Diktatur im postfranquistischen Spanien. Die seit der Jahrtausendwende auf den Plan getretene zivilgesellschaft­liche Erinnerungsbewegung und die damit einhergehende Debatte über die Verbrechen der Franco-­Diktatur sorgten für eine sukzessive Erosion des bis dahin wirkungsmächtigen, hegemonialen Meisternarrativs der modellhaften transición. Die Exhumierungen republikanischer Opfer aus dem Bürgerkrieg haben eine gesamtgesellschaft­liche Debatte über die Repression und den Modus des Transi­ tionsprozesses entfacht und damit die lang anhaltende öffent­liche Nichtthematisierung der Franco-­Vergangenheit durchbrochen. Als Diskursanlass aktivieren und bündeln sie Debatten über die franquistische Repression in ihren unterschied­ lichen Facetten. Die Forderung nach politisch-­justizieller Aufarbeitung durch die lokale, zivilgesellschaft­liche Erinnerungsbewegung hat die Legitimation des spanischen Demokratisierungsprozesses als positiven Bezugspunkt nachhaltig in Frage gestellt. Da die Aufarbeitungsforderungen einer Darstellung der transición als ›nationale Versöhnung‹ und ›wechselseitige Vergebung‹ zuwider laufen, stellen sie den zentralen Gründungsmythos des postfranquistischen Spaniens erneut zur Disposition.22 Indem das auf Versöhnung basierende positive 21 Gregorio Moran: El precio de la transición [Der Preis der Transition]. Barcelona 1992. 22 Siehe dazu ausführ­lich Till Sträter: »Gegen die Straflosigkeit des Franquismus!« Die Erinnerungsbewegung in Spanien und die Mythen der transición. In: Ders. u. a.: Zwischen Ignoranz und Inszenierung. Die Bedeutung von Mythos und Geschichte für die Gegenwart der Nation. Münster 2015, S. 60 – 94, hier S. 92 f.

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­ ransitionsnarrativ mit einem Menschenrechtsdiskurs verschränkt wird, findet T eine Umdeutung des Demokratisierungsprozesses statt. Der Transitionskonsens, der auf eine Auseinandersetzung mit der Diktatur verzichtete, kann – wird er in einen an einen globalen Aufarbeitungsimperativ gekoppelten internationalen Menschenrechtsdiskurs eingeschrieben – nicht mehr als positive Referenz dienen, da er die Menschenrechtsverletzungen der Diktatur ignoriert. Aus dieser Perspektive kann die spanische Transition nicht mehr als Vorbild taugen, da sie sich bis heute der Anwendung international etablierter Prinzipien, wie des Rechts der Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung, auf die sich die lokalen Erinnerungsakteure berufen, entzieht. Das Meisternarrativ der transición als ›nationale Versöhnung‹, die nach dem Ende der Diktatur durch das beidseitige Vergessen erreicht worden sei, erscheint in dieser Deutung als Ignoranz gegenüber dem historischen Gedächtnis der Bürgerkriegsverlierer sowie Opfer der Franco-­Diktatur. Neben dem an den Holocaust gebundenen europäischen Erinnerungsimperativ beziehen sich lokale Erinnerungsversverbände auf ein globalisiertes Transitional-­Justice-­Gebot.23 Auf diese Weise stellen sie dem in der transición hegemonial geforderten ›Vergessen‹ Forderungen nach Erinnerung, Aufklärung und Gerechtigkeit für die Opfer der franquistischen Repression gegenüber und delegitimieren nicht zuletzt das Amnestiegesetz von 1977, das als Symbol der nationalen Versöhnung und Eintracht gilt. Der Auffassung der Erinnerungsverbände folgend handle es sich bei dem Gesetz nicht um einen Ausdruck wechselseitiger Vergebung, sondern vielmehr um ein Opfer und Täter nivellierendes Unrecht, welches sich bis heute fortschreibt, da es sich international verankerten Menschenrechtsstandards widersetzt. Durch das Wirken der Erinnerungsverbände hat eine enorme Diversifizierung von heterogenen Stimmen in der Bewertung der lange Zeit hegemonial als positiv gewerteten Transition eingesetzt. Die Studien, die sich in kritischer Orientierung Teilaspekten des Transitionsprozesses widmen, sind kaum mehr zu überblicken. Nicht zuletzt beeinflusst von der 2011 auf den Plan getretenen spanischen 15-M Protestbewegung, der so genannten indignados (dt. Empörten), die infolge der Wirtschaftskrise 2011 aufbegehrte, veröffent­lichte der Jornalist Guillerm Martínez

23 An anderer Stelle habe ich gezeigt, wie das vom Schweigekonsens der transición abweichende Aufkeimen einer lokalen Auseinandersetzung mit der Franco-­Diktatur mit den Aufarbeitungserfahrungen aus dem süd­lichen Lateinamerika, insbesondere seit dem ›Fall Pinochet‹ als Bindeglied und Diskursanlass auf die spanische Erinnerungskultur eingewirkt hat. Siehe dazu: Ulrike Capdepón: Vom Fall Pinochet zu den Verschwundenen des Spanischen Bürger­ krieges. Die Auseinandersetzung mit Diktatur und Menschenrechtsverletzungen in Spanien und Chile. Bielefeld 2015.

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einen Sammelband, welcher die Schattenseiten und andauernden Folgen der auf Stabilität und nationale Kohäsion bauenden, hegemonialen ›Kultur der Transition‹ (span.: cultura de la transición, CT ) offenlegt.24 Die vorgeb­lich an nationaler Eintracht und Versöhnung orientierte Transition sei der Ursprung für eine wirkmächtige kulturelle Kontrolle seitens des politischen Systems, die letzt­lich bis heute eine tiefgreifende Demokratisierung und Erneuerung des postfranquistischen Systems verhindert habe. Zudem haben insbesondere Arbeiten, die einen Perspektivenwechsel einnehmen, indem sie auf die Alltagsgeschichte, auf zivilgesellschaft­liche und gegenkulturelle Bewegungen während der Transitionsjahre fokussieren, gezeigt, dass fern vom offiziell-­politischen Schweigekonsens der Transition unterschied­liche gesellschaft­liche Kräfte, wie etwa Nachbarschaftsverbände, die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, Frauenorganisationen oder Studierendengruppen und LGTBQI-Aktivisten nicht nur eine wichtige Rolle für die Demokratisierung des Landes gespielt haben. Sie haben ebenso eine Auseinandersetzung mit der Franco-­ Diktatur ›von unten‹ eingefordert, wobei ihre kulturellen Praktiken dem offiziellen Schweigepakt der Transition oft diametral zuwiderliefen.25 Das Narrativ der erfolgreichen Transition als Gründungsmythos hat sich ausdifferenziert und ist einer komplexeren, vielschichtigeren Darstellung gewichen.

24 Guillerm Martínez (Hrsg.): CT o la cultura de la transición. Crítica a 35 años de la cultura española [CT oder die Kultur der Transition. Kritik an 35 Jahren spanischer Kultur] Barcelona 2012. 25 Neben zahlreichen Teilstudien exemplarisch jüngst der Versuch einer Gesamtdarstellung: ­Germán Labrador Mendez: Culpables por la literatura. Imaginación política y contracultura en la transición española 1968 – 1986 [Schuld an der Literatur. Politische Imagination und Gegenkultur während des spanischen Transition 1968 – 1986]. Madrid 2017. – Siehe auch: Pamela Radcliff: Making Democratic Citizens in Spain. Civil Society and the Popular ­Origins of the Democratic Transition. London 2011. – Als eine der ersten Teilstudien zur Bedeutung der Nachbarschaftsvereinigungen siehe etwa: Vicente Perez Quintana/ Pablo Sanchez Leon (Hrsg.): Memoria ciudadana y movimiento vecinal 1968 – 2008 [Zivilgesellschaft­liche Erinnerung und Nachbarschaftbewegung]. Madrid 2011.

Antonio Muñoz Sánchez

Die Nelkenrevolution in Portugal 1974 – 1975

»Wir werden niemals die Freiheit opfern.« Mário Soares 1 »Wenn unsere Aufgabe darin bestünde, nach dem Sturz der Diktatur in Richtung einer bürger­lichen Demokratie zu marschieren, dann wäre das nicht so kompliziert.« Álvaro Cunhal an Erich Honecker 2

Lissabon, Mittwoch der 24. April 1974. Ehrenfried von Holleben, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Portugal, gibt am späten Nachmittag in seiner Residenz einen Cocktail anläss­lich seines Abschieds aus dem Amt.3 Unter den Gästen befinden sich die höchsten Vertreter des diplomatischen Korps in Lissabon sowie et­liche Mitglieder der portugiesischen Regierung wie der Innenminister. Die Verhaftung des DDR-Spions Günter Guillaume in Bonn am selben Morgen ist sicher­lich eines der Gesprächsthemen der ehrwürdigen Staatsdiener. Die einen sind die Ohren und Augen der Welt in Portugal, die anderen die am besten informierten Personen im Lande. Und trotzdem ahnt keiner, dass sie gerade die letzten Momente des Estado Novo, des ältesten rechtsgerichteten Regimes in Europa erleben. Nur wenige Kilometer entfernt in einer Militärkaserne laufen die letzten Vorbereitungen zum Sturz des Diktators Marcelo Caetano. Manch ein Gast hat eventuell eine Vorahnung, als auf der Heimfahrt kurz nach Mitternacht im Radio ein verbotenes Lied läuft. In jedem Fall bleibt ihnen keine Zeit zu reagieren. Die Ausstrahlung von Grândola Vila Morena ist für die ›Verschwörer‹ das ausgemachte ­­Zeichen für die Befreiung Portugals.4

1 Mário Soares im Interview mit der Zeitschrift Der Spiegel, Nr. 19, 5. Mai 1975. 2 Bericht der SED über den Aufenthalt des Generalsekräters der Komunistischen Partei Portugals, Alvaro Cunhal, vom 19. bis 20. November in der DDR. In: Bundesarchiv Berlin, DY30/IV 2/1/507. 3 Die Rebellion der Kriegsmüden. In: Süddeutsche Zeitung, 26. April 1974. 4 Über die Putschvorbereitungen, siehe die Erzählung seines Organisators, Otelo Saraiva de Carvalho: Alvorada em Abril [Morgendämmerung im April]. Lissabon 2014.

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Tage später schrieb ein CIA -Beamter, dass die USA sich »out for lunch« befand, als die Panzer in die Straßen Lissabons einrollten.5 In der Tat, als die lange Nacht der Diktatur in Portugal endete, waren nicht nur die USA , sondern die ganze Welt erstaunt. Denn der Estado Novo galt auch nach fast einem halben Jahrhundert trotz des offensicht­lichen Materialverschleißes als stabil, robust und dazu noch liberalisierungswillig.6 Für die Iberische Halbinsel sahen Politologen voraus, dass zuerst Spanien – als weitaus entwickelteres Land und mit einem eindeutigen Wunsch zur Integration in die EWG ausgestattet – nach Francisco Francos Tod durch seinen Nachfolger König Juan Carlos einen Prozess der Demokratisierung in Gang setzen würde. Das Portugal des Professors Marcelo Caetano sollte dann langsam folgen. Es kam aber anders als erwartet. Weder die ›logisch‹ erscheinende Reihenfolge noch das gewünschte Modell des Überganges wurden respektiert. Der Beginn der dritten Welle der Demokratisierung durch eine Revolution anstatt einer Liberalisierung sollte weitreichende Folgen haben. Denn die Mög­lichkeit der Etablierung eines linken Regimes in Portugal zwang das demokratische Europa zu reagieren, um d ­ ieses zu vermeiden, und auch, um die bevorstehende Übergange in Spanien und Griechenland vorsorg­lich zu beeinflussen.7

1. Befreiung! Und was dann? – Der Staatsstreich als Beginn einer Revolution Der Staatsstreich vom 25. April 1974 wurde von einer bis dahin unbekannten Bewegung der Streitkräfte (Movimento das Forças Armadas, MFA) begangen, die aus kaum mehr als 300 Hauptleuten bestand, was nicht einmal mehr als zehn Prozent des ganzen Offizierskorps ausmachte. In einem derart zentralistischen Land wie Portugal reichte es den Aufständischen, strategische Punkte der Hauptstadt einzunehmen, um die Diktatur ins Wanken zu bringen. Widerstand war nicht zu erwarten, denn dafür fehlten die notwendigen Mittel. Die regimentreue Polizei konnte wenig gegen die Panzer der MFA-Rebellen ausrichten, und die loyalen Generäle kämpften fast alle in Angola, Mosambik und Guinea-­Bissau. Allein

5 Zitiert in Kenneth Maxwell: The making of Portuguese democracy. New York 1995, S. 45. 6 Fernando Rosas/Pedro Aires Oliveira: A transição falhada. O marcelismo e o fim do Estado Novo (1968 – 1974) [Der missglückte Übergang. Der Marcelismus und das Ende des Estado Novo (1968 – 1974)]. Lissabon 2004. 7 Mario Del Pero u. a.: Democrazie. L’Europa meridionale e la fine delle dittature [Demokratie. Südeuropa und das Ende der Diktaturen]. Mailand 2010.

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eine Infanterieeinheit stellte sich den Putschisten in einer kinoreifen Szene im Zentrum von Lissabon entgegen. Der rebellische Hauptmann Salgueiro Maia näherte sich den Panzern der Loyalisten, um zu verhandeln, aber dessen Brigade-­ General befahl den Soldaten, das Feuer zu eröffnen. Maia wich nicht zurück und hielt die Stellung mitten auf der Straße, allein ein weißes Tuch in der Hand. Kein einziger Schuss fiel. Die Soldaten verweigerten den Gehorsam und liefen zu den Rebellen über, während Hauptmann Maia vor Rührung seine Lippen zerbiss.8 Um die Mittagszeit begab sich Maias Einheit in die Richtung der Zen­ trale der Nationalgarde in der Altstadt, wo der Diktator Caetano zusammen mit dem Innenminister, der am vorigen Abend beim Cocktail des Deutschen Botschafters gewesen war, Zuflucht gesucht hatte. Obwohl die Aufständischen über das Radio die Bevölkerung aufgefordert hatten, ihre Häuser nicht zu verlassen, war der Platz von Carmo bei Maias Ankunft mit Menschen gefüllt, die die Aufständischen ermutigen wollten. Der Putsch war noch in vollem Gange und doch bereits dabei, sich in etwas anderes als eine reine Elitenangelegenheit zu verwandeln. Um zu verhindern, so Caetano, dass »die Macht an die Straße fällt«, verweigerte der Diktator, vor Hauptmann Maia zu kapitulieren, und verlangte, sich António Spínola zu ergeben, einem der ganz wenigen Generäle, die den Putsch der jüngeren Offiziere unterstützten. Bei seiner Ankunft auf dem Largo do Carmo wurde der populäre Spínola stürmisch bejubelt. Nach einer ­kurzen Verhandlung wurde Caetano in einem Panzer weggebracht und anschließend ins Exil geschickt, um ihn vor der Wut der Bevölkerung zu schützen. Um 1 Uhr am 26. April 1974 erschien im Fernsehen eine ›Junta der Nationalen Rettung‹, w ­ elche aus sieben hohen Befehlshabern der Armee bestand. Ihr Führer, General Spínola, erklärte die Regierung und das Staatsoberhaupt für abgesetzt, sicherte Rede, Presse- und Versammlungsfreiheit zu und kündigte Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung an. So wurde in knapp 24 Stunden eine 48-jährige Diktatur fried­lich abgeschafft. Ledig­lich vier Menschen kostete sie das Leben. Sie waren Opfer der portugiesischen Staatssicherheit, der PIDE, geworden, als diese auf die Menschen schoss, die ihre Zentrale stürmen wollten. Der völlig unerwartete Zusammenbruch des Faschismus löste eine kollektive Euphorie aus, und die Bilder jener Tage sind tief im Gedächtnis der Portugiesen verankert. Die Leute umarmten voller Aufregung die Soldaten und schmückten ihre Gewehre mit Nelken. Gefangene wurden freigelassen und ihre Zellen mit den Mitgliedern der verhassten PIDE gefüllt. Hunderten von Exilanten – unter ihnen der Sozialist Mário Soares und der Kommunist Álvaro Cunhal – wurden

8 Saraiva de Carvalho: Alvorada em Abril (wie Anm. 4).

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Abb. 1  Menschenmenge am Largo do Carmo in Lissabon am Nachmittag des 25. April 1974, dem Höhepunkt des Putsches gegen die längste Rechtsdiktatur Europas.

von den Massen in Lissabon willkommen geheißen und marschierten am 1. Mai auf der größten Kundgebung, die Portugal je gesehen hatte. Im ganzen Land jagten demokratische Aktivisten die Beamten der Diktatur aus den Rathäusern, Gewerkschaften und anderen Institutionen. Dies alles geschah mit einem enormen Gemeinsinn und ohne Gewalt. Die Welt schaute voller Sympathie nach Lissa­ bon, und die Stadt füllte sich mit ausländischen Journalisten, die ihr Vertrauen in die Fähigkeit der Portugiesen, eine Demokratie zu schaffen, zum Ausdruck brachten.9 Nur einige wenige abweichende Stimmen durchbrachen den Optimismus. In einem unheilverheißenden Ton weissagte etwa der Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Walter Haubrich, in seinem Bericht zum 1. Mai aus Lissabon, dass dieser großartigen Party bald das Chaos, wenn nicht gar ein Bürgerkrieg folgen würde.10 Die Ereignisse der nächsten Monate konnte das 9 Neues Deutschland schickte Klaus Steiniger als Korrespondenten nach Lissabon. Siehe Klaus Steiniger: Portugal im April. Chronist der Nelkenrevolution. Berlin 2011. 10 Walter Haubrich: Portugals demokratische Chancen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Mai 1974.

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konservative Lager im Westen im Folgenden wie eine Erfüllung dieser Prophezeiung Haubrichs lesen.11 Der Putsch der MFA am 25. April 1974 hatte keine linke Revolution zum Ziel. Gewiss verfügten die jungen Offiziere über eine progressive Orientierung, die damals innerhalb der westeuropäischen Jugend Konjunktur hatte; stark politisiert waren sie aber nicht. Ihre Motivation war in der Hauptsache korporativistisch. Sie wollten verhindern, dass das Regime dem Heer die Schuld an dem bevorstehenden militärischen Debakel und dem damit einhergehenden traumatischen Verlust der Kolonien gab. Der Krieg sollte beendet werden und dafür musste das Regime gestürzt werden, hielten sie Caetano doch für unfähig, diesen Konflikt politisch zu lösen. Das portugiesische Heer blickte auf eine lange Putschtradition zurück, die bereits auf die Einführung des Liberalismus Anfang des 19. Jahrhunderts zurückging. Der Aufstand der MFA war aber anders als die vorherigen insoweit, als die politische Opposition d­ ieses Mal keinerlei Teilhabe hatte. Die einzigen existierenden Parteien, die Sozialistische und die Kommunistische, wurden nicht einmal informiert. So gesehen war der Staatsstreich eine interne Angelegenheit des Estado Novo. Daher kann der Aufstand als Suizid einer Diktatur gesehen werden, die nicht in der Lage war, ihre Großmachtträume zu beenden und der Nation neue Perspektiven aufzuzeigen.12 Die MFA verfügte allerdings über keinerlei strukturierten Plan, um Portugal diese neuen Perspektiven zu eröffnen. So unglaub­lich es auch in der Retrospektive scheinen mag, ihre Verantwort­lichen hatten sich kaum um den Tag ›danach‹ gekümmert, wie es nach dem Staatsstreich weitergehen sollte. Ihr Programm stellte ledig­lich eine Liste guter Absichten dar, die sich in drei Stichwörtern zusammenfassen ließ: demokratisieren, entkolonisieren, entwickeln. Es fehlte also jeg­liche Strategie zur Bewältigung der enormen Anforderungen, die dem Land bevorstanden. So sollte gleichzeitig das Weltreich aufgelöst, eine Demokratie aufgebaut und eine Antwort auf die Sehnsucht des Volkes nach Wohlstand gegeben werden. Sogar unter weitaus günstigeren Bedingungen wäre es für das kleine Portugal schwer gewesen, diese Mammutaufgaben zu meistern. Inmitten der größten Weltwirtschaftskrise seit den 1930er Jahren und angesichts einer politisch ungeduldigen Bevölkerung, die nach fast 50 Jahren Stagnation nun schnelle und tiefgreifende Veränderungen verlangte, verhieß diese Situation einen schweren Weg in die 11 Siehe Matthias Stenger: Transnationale Parteienzusammenarbeit. Die Beziehungen der deutschen und portugiesischen Christ­lichen Demokraten von der Nelkenrevolution bis zum Vertrag von Maastrich. Düsseldorf 2011. 12 Chistiane Abele: Kein kleines Land. Die Kolonialfrage in Portugal, 1961 – 1974. Göttingen 2017.

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Demokratie. Die Verhältnisse sollten sich am Ende aber noch viel gravierender auswirken und in den folgenden eineinhalb Jahren zu einem Systembruch führen, dessen Radikalismus niemand von einem Volk erwartet hätte, das für seinen Konservativismus, seine Melancholie und seine Resignation bekannt war.13 Die Portugiesische Revolution stellt einen komplizierten, teils verworrenen Prozess dar. Über die wichtigsten Ereignisse und Entwicklungen besteht Konsens, nicht aber über ihre Interpretationen, die weit auseinandergehen und teilweise auch politisch gefärbt sind. Hauptdarsteller war zweifelsohne die Armee, allein schon deshalb, weil sie vom Anfang bis zum Ende der Revolution die Macht in ihren Händen hielt. Die Radikalität des politischen Prozesses kann aber ohne die aktive Beteiligung sozialer Bewegungen nicht verstanden werden. Die politischen Parteien, allen voran die Kommunistische und die Sozialistische Partei Portugals, spielten in ­diesem Prozess eine wichtige Rolle. Nicht zu vergessen sind auch die Unternehmer, die katholische ­Kirche und die Gewerkschaften. Die Einflüsse, Allianzen und Zusammenstöße ­zwischen diesen extrem heterogenen Gruppen bestimmten die Dynamik der Revolution und beendeten sie auch. Ein weiterer Darsteller in ­diesem Spiel war ›das Ausland‹: Regierungen, Parteien, Gewerkschaften, Stiftungen aus dem Westen und aus dem Osten: ein dichtes Netz von Agenten und Interessen, die die Ereignisse in Portugal zu beeinflussen suchten und letztend­lich entscheidend waren für den Triumph der Demokratie 14 oder, wie es andere sahen, für das Scheitern eines Sozialismus in Freiheit.15 Im Folgenden wird im Einzelnen die Dynamik der vier Hauptakteure der Revolution untersucht: der Armee, der sozialen Massenbewegungen, der Parteien und ›des Auslands‹.

2. Kampf um die Macht und den Fortgang der Revolution: Die Armee als zerstrittener Akteur Die ›Junta der Nationalen Rettung‹, die am 25. April die Macht übernahm, ernannte in den folgenden Tagen die Organe, mit denen sie bis zum Inkrafttreten einer neuen Verfassung die Macht teilen würde: einen Präsidenten, einen

13 Für eine ausführ­liche Beschreibung der Nelkenrevolution, siehe Ralf Sänger: Portugals langer Weg nach »Europa«. Frankfurt a. M. 1994, S. 176 – 297. 14 Friedhelm Merz/Victor Cunha Rego: Freiheit für den Sieger. Testfall Portugal; mit Beiträgen von Mario Soares, Willy Brandt, Bruno Kreisky. Zürich 1976. 15 Rainer Eisfeld: Sozialistischer Pluralismus in Europa: Ansätze und Scheitern am Beispiel Portugals. Köln 1984; Bernd Rother: Der verhinderte Übergang zum Sozialismus. Frankfurt 1985.

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Staatsrat und eine Regierung. Die Mehrheit der Posten wurde von Militärs besetzt. Die Kompetenzen der vier Organe waren nur vage definiert – man setzte auf kollegiale Zusammenarbeit. Die MFA wurde ihrerseits nicht institutionalisiert; sie löste sich aber auch entgegen dem Willen des neuen Präsidenten António Spínola nicht auf. Die jungen und idealistischen Offiziere wollten nicht selbst politische Verantwortung übernehmen, aber dennoch den Transformationsprozess überwachen, damit die Essenz ihrer Revolution nicht verlorengehe. Angesichts dieser vage ausbalancierten politischen Machtstruktur waren die Konflikte vorprogrammiert.16 Auf der politischen Bühne Portugals stachen nach dem 25. April 1974 visuell insbesondere zwei Elemente hervor: zum einen der Präsident António Spínola, ein konservativer Militär mit aristokratischen Manieren, den die ausländischen Journalisten zum lusitanischen Charles de Gaulle kürten;17 zum anderen die nationale Einheitsregierung, in der zum ersten Mal in einem NATO-Land die Kommunistische Partei mit den Schwergewichten der Opposition des Regimes, Mário Soares, Francisco Sá Carneiro und Álvaro Cunhal, vertreten war. Es sollten noch ein paar Monate vorgehen, bis deut­lich wurde, dass die reale politische Macht nicht in den Händen des Präsidenten und schon gar nicht in denen der Regierung – die kaum mehr als ein Befehlsempfänger der Militärs war – lag, sondern in denen der MFA, dessen wichtigste Mitglieder in der zweiten Reihe verweilten und sich noch nicht einmal der Bevölkerung zu erkennen gaben. Gleich am 25. April formierten sich die Fronten ­zwischen General Spínola und den jungen Offizieren entlang des Problems, das für den Putsch ausschlaggebend gewesen war: die Lösung der Kolonialfrage. Spínola lehnte die Entkolonialisierung ab und vertrat eine föderale Lösung, um das jahrhundertealte Weltreich noch zu retten. Seine wichtigsten Verbündeten waren hierbei einige wenige Familien, die den Großteil der portugiesischen Wirtschaft kontrollierten und enorme Werte in den Kolonien besaßen. Auf die Armee, die als einzige die portugiesische Präsenz in Afrika hätte sichern können, konnte Spínola allerdings nicht mehr bauen. Nach dem Putsch waren 80 Prozent der Befehlshaber – dem Diktator bis zum Ende treu ergeben – in den Ruhestand gezwungen worden, und Mitglieder der MFA waren in deren Stellen aufgerückt. Damit wurde die Befehlskette unterbrochen und die Heeresdisziplin unterminiert. In den Kolonien schlossen sich viele Offiziere

16 Maria Inácia Rezola: 25 de Abril. Mitos de uma revolução [25. April. Mythos einer Revolution]. Lissabon 2007, S. 62 – 71. 17 Paul Montgomery: Lisbon’s General Critic Antonio Sebastião Ribeiro de Spínola. In: The New York Times, 26. April 1974.

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der MFA an und weigerten sich, weiter gegen die Unabhängigkeitsbewegung zu kämpfen. Zu Spínolas Unglück verbrüderten sie sich auch noch mit dem Feind.18 Im Juli 1974 kam es zu einer ersten Krise z­ wischen Spínola und den Offizieren. Der Ministerpräsident, ein Getreuer des Präsidenten, wurde von der MFA zum Rücktritt gezwungen und durch einen der Ihren ersetzt: Vasco Gonçalves, ein völlig unbekannter Offizier. In einem verzweifelten Versuch, die Kontrolle wiederzuerlangen und die Entkolonisierung zu stoppen, rief Spínola die konservative ›schweigende Mehrheit‹ im Lande auf, in die Hauptstadt zu strömen, um vor dem Präsidentenpalast ihre Unterstützung zu demonstrieren. Diesen ›Marsch auf Lissabon‹ interpretierte die MFA als ein Manöver gegen die Revolution. Mit Hilfe linker Aktivisten blockierte sie daraufhin die Zugänge zur Hauptstadt und die Demonstration der ›schweigenden Mehrheit‹ am 28. September wurde so verhindert. Gedemütigt und isoliert trat der Präsident unter Ankündigung einer apokalyptischen Zukunftsvision, in der er den Ausbruch der Anarchie voraussagte, zurück.19 Von ­diesem Moment an verbrachte Spínola seine Zeit damit, mit rechtsextremen Gruppierungen gegen die MFA zu konspirieren.20 Marschall Francisco Costa Gomes wurde sein Nachfolger im Präsidentenamt. Ab Oktober 1974 übernahm somit die MFA die Kontrolle über ihre Revolution. Damit wurde die Entkolonialisierung beschleunigt, was zum Schrecken der fast eine Million weißen Siedler eine bedingungslose Übergabe der Kolonien an die Unabhängigkeitsbewegungen bedeuten musste. Außerdem wurde eine Debatte über das sozialpolitische Modell für Portugal eröffnet. Im Schatten der sozialen Agitation, auf die später noch eingegangen werden soll, politisierten sich die MFA-Offiziere zunehmend und nahmen die Argumente linker politischer Strömungen an. Verkürzt dargestellt entstanden so innerhalb der MFA drei Gruppen: die Kommunisten, die Sympathie für das sowjetische Wirtschaftsmodell hegten, die Linksradikalen, die für einen Sozialismus kubanischer Art plädierten, und die Sozialisten, die für die west­liche Demokratie mit einem starken öffent­lichen Sektor eintraten.21 In Anbetracht der anwachsenden Radikalisierung und angespornt durch die Gerüchte einer bevorstehenden ›Nacht der langen Messer‹ gegen konservative Persön­lichkeiten, putschte eine Gruppe bestehend aus dem rechten Flügel des 18 Maxwell: The Making (wie Anm. 5), S.  96 – 107. 19 Spínola: Die Anarchie in Portugal zwingt mich zum Rücktritt. In: Die Welt, 1. Oktober 1974. 20 Josep Sánchez Cervelló: A revolução portuguesa e a sua influência na transição espanhola (1961 – 1976) [Die portugiesische Revolution und ihr Einfluss auf den spanischen Übergang (1961 – 1976)]. Lissabon 1993, S.  193 – 210. 21 Maxwell: The Making (wie Anm. 5), S.  108 – 113.

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Militärs unterstützt von António Spínola am 11. März 1975. Der Putsch scheiterte jedoch kläg­lich, und die Folge war eine politische und moralische Aufwertung der Linken. Noch in derselben Nacht des 11. März schworen sich Hunderte von MFA -Offizieren in einer ›wilden Versammlung‹, die Revolution zu retten. In der Folge wurde das Heer von den ›faschistischen‹ Befehlshabern gesäubert, die Staatsmacht von einem Revolutionsrat bestehend aus 30 MFA-Mitgliedern übernommen und das offizielle Ziel verkündet, zum Aufbau des Sozialismus in Portugal überzugehen. Ledig­lich das Eingreifen des besonnenen Präsidenten Marschall Francisco Costa Gomes verhinderte die in dieser Nacht vom linksextremen Flügel der MFA vorgeschlagene Annullierung der Wahlen, bei denen sich ein Sieg der Moderaten abzeichnete. Als erster Schritt zum Aufbau des Sozialismus wurden Mitte März alle Banken und strategisch wichtigen Unternehmen verstaat­licht.22 Der erdrückende Sieg der gemäßigten Parteien bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung am 25. April 1975 markierte einen weiteren Wendepunkt in der politischen Dynamik und den bis dahin kollegialen Beziehungen ­zwischen den diversen Gruppierungen der MFA. Der prokommunistische Zweig um Vasco Gonçalves, der den Revolutionsrat und die Regierung dominierte, sowie die radikale Linke um Otelo Saraiva de Carvalho ließen verlautbaren, dass die Wahlen keinerlei Einfluss auf den politischen Prozess hätten. Durch sie sei ledig­lich deut­lich geworden, dass zwölf Monate Freiheit nicht ausreichend gewesen ­seien, um die Portugiesen von einem halben Jahrhundert ›faschistischer Indoktrinierung‹ zu befreien. In ­diesem Sinne sei es Aufgabe der ›erleuchteten militärischen Avantgarde‹, weiterhin die volle Verantwortung für den Aufbau des Sozialismus und der Demokratie zu tragen. Der moderatere Zweig des frisch ernannten Außenministers Ernesto Melo Antunes vertrat indes eine ganz andere politische Vision. Diese Gruppierung, der sich mit der Zeit die ›schweigende konservative Mehrheit‹ der Streitkräfte anschloss, war der Meinung, die Entscheidung des Volkes in den ersten freien Wahlen nach einem halben Jahrhundert könne nicht ignoriert werden. Die Wahlgewinner sollten unter keinen Umständen von der Führung des Landes ausgeschlossen werden, sondern über die Zukunft der Revolution mitbestimmen.23 Nach den Wahlen am 25. April 1975 versuchten die drei heterogenen Gruppierungen innerhalb der MFA Kompromisse einzugehen, um die Einheit der Bewegung zu erhalten. Dieses Vorhaben stellte sich allerdings schnell als unmög­lich heraus und mündete in einen rücksichtslosen Kampf um die Macht im Revolutionsrat. Durch 22 Luís Nuno Rodrigues: Mareschal Costa Gomes no centro da tempestade [Marschall Costa Gomes im Auge des Sturmes]. Lissabon 2008, S. 219 – 232. 23 Rezola: Os mitos (wie Anm. 16), S. 162 f.

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den anwachsenden Druck der moderaten Parteien um die Anerkennung ihrer Rolle im Fortschreiten der Revolution, durch die ständigen Demonstrationen sowohl linker als auch rechter Gruppierungen, durch die desolate wirtschaft­liche Lage, den Investitionsstopp aus dem Ausland und die schlechte Verwaltung der verstaat­lichten Betriebe, gepaart mit dem Druck ausländischer Regierungen verschärfte sich im so genannten heißen Sommer von 1975 der Streit z­ wischen diesen drei Gruppierungen innerhalb der MFA. Erst ab September entspannte sich der Machtkampf langsam und der gemäßigte Flügel des Revolutionsrates konnte sich durchsetzen. So wurde der Rücktritt des prokommunistischen Ministerpräsidenten Vasco Gonçalves forciert.24 Und doch stand ein letzter dramatischer Zusammenstoß ­zwischen dem gemäßigten und dem radikalsten Flügel der MFA noch aus. Am 25. November 1975, nach wochenlanger Spannung innerhalb der Armee, versuchten linksradikale Einheiten der MFA Lissabon unter ihre Kontrolle zu bringen und einen ihnen günstigen Ausgang des Kampfes zu erzwingen. Der gemäßigte Flügel von Melo Antunes war auf diesen Moment allerdings vorbereitet und reagierte umgehend. Für einige Stunden stand Portugal am Rande eines Bürgerkrieges. Letztend­lich scheiterten die Linksradikalen jedoch, die Revolution endete, und es begann der lange Weg der Implementierung einer Demokratie west­lichen Zuschnitts.25

3. Dynamik und Radikalisierung: Die sozialen Massenbewegungen in der Revolution Der 13-jährige Kolonialkrieg brachte das kleine Portugal an den Rand des wirtschaft­ lichen und sozialen Kollapses. Die Dschungel Afrikas verschlangen 50 Prozent seines Bruttosozialproduktes, und ca. eine Million junge Männer hatten das Land auf der Flucht vor der Armut und dem Wehrdienst verlassen. So war Portugal Anfang der 1970er Jahre die ärmste Nation Westeuropas mit der Struktur eines Entwicklungslandes. Ein Drittel der Bevölkerung von zehn Millionen Menschen war in der Landwirtschaft tätig. Der Norden war geprägt durch Minifundien; viele Familien waren von den Devisenüberweisungen der in Europa lebenden Verwandten abhängig. In den Latifundien des süd­lichen Alentejo erging es den Tagelöhnern noch schlechter. Und selbst die Arbeiter in den modernen Industriegebieten rund um Lissabon, Porto, Setubal, Aveiro oder Braga hatten kein viel besseres Auskommen. 24 Maria Inácia Rezola: Os Militares na Revolução de Abril [Die Militärs in der April-­ Revolution]. Lissabon 2006, S. 187 – 399. 25 José Freire Antunes: O segredo do 25 de Novembro [Das Geheimnis des 25. November]. Lissabon 1980, S. 197 f.

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Das Gehalt eines Fabrikarbeiters war um ein Fünffaches niedriger als das Gehalt eines Arbeiters in Großbritannien. Hinzu kamen die verheerenden Auswirkungen der Ölkrise. In den letzten sechs Monaten der Diktatur hatten sich die Preise für Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln und Stockfisch verdoppelt. In Anbetracht dieser Lage ist die Streik- und Demonstrationswelle nach dem Fall des Regimes im April 1974 nicht verwunder­lich. Lohnerhöhungen und eine allgemeine Verbesserung der für den größten Anteil der Bevölkerung und eines westeuropäischen Landes unwürdigen Lebensbedingungen waren die Forderungen auf diesen Kundgebungen. Erstaun­lich ist, dass die Proteste ausgehend von den großen Fabriken und den Armenvierteln der Hauptstadt sich ausbreiteten, radikalisierten und in eine der größten Massenbewegungen Europas seit 1945 mündeten.26 Weder in Griechenland noch in Spanien gab es ein ähn­liches Phänomen während des politischen Übergangsprozesses. Dort waren die Proteste und Streiks moderater und ört­ lich begrenzter. Warum war das in Portugal anders, obgleich die Arbeiterbewegung hier sogar schwächer war als in Griechenland und Spanien während der Diktatur?27 Wie der Estado Novo endete, war entscheidend für die nachfolgende ­soziale Dynamik. Der Putsch am 25. April 1974 bedeutete sowohl einen politischen als auch einen symbolischen Schnitt mit der Vergangenheit, was weder in Griechenland noch in Spanien der Fall war. Das gesamte Land wurde von einer Aufbruchsstimmung erfasst. In einer erstaun­lichen Geschwindigkeit setzte sich die Ästhetik und Sprache der Linken allerorts durch, vielleicht als Kompensation für die vielfache Anpassung in der Diktatur. Keiner wollte jetzt als Mitläufer des alten Regimes angeprangert werden. Die neue politische Kultur lehnte alles ab, was an den Estado Novo erinnerte. Die Polizei wurde mit ›faschistischen‹ Tendenzen in Verbindung gebracht und als Gegner der Demokratie gesehen. Das Entfernen der alten Befehlshaber von ihren Posten verhalf ihr dabei nicht zu einer Imageverbesserung. Die Medien, nun in der Hand linker Aktivisten, kritisierten jeg­liche Gewalt ›gegen das Volk‹. So verlor die Bevölkerung langsam den Respekt vor der Polizei und diese stellte ihre Interventionen ein, wenn etwa Sozialwohnungen besetzt oder ›faschistische‹ Unternehmer durch improvisierte Arbeiterräte entfernt wurden.28 26 Charles Downs: Revolution at the Grassroots. Community Organizations in the Portuguese Revolution. New York 1989. 27 Uwe Optenhögel: Die Arbeiterbewegung in Portugal im Prozess gesellschaft­lichen Umbruchs: Traditionen, Entstehung und Politik der nachsalazaristischen Gewerkschaften (1969 – 1979). Hamburg 1988. 28 Diego Palacio Cerezales: O Poder Caiu na Rua. Crise de estado e acções colectivas na Revolução portuguesa [Die Macht fiel auf die Straße. Staatskrise und kollektive Aktionen während der portugiesischen Revolution]. Lissabon 2003.

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Die Entscheidung der Regierung, die Löhne zu erhöhen, die Aufrufe des Präsidenten zur Mäßigung, die Warnung der Kommunisten vor einem Putsch wie in Chile und ihre große Kundgebung in Lissabon gegen die Streiks blieben wirkungslos. In Anbetracht der wachsenden Proteste entschieden die militärischen Machthaber im Juli 1974, eine eigene Einheit zur Einhaltung der öffent­lichen Ordnung einzurichten, die COPCON (Comando Operacional do Continente). Otelo Saraiva de Carvalho, der bis zu d­ iesem Zeitpunkt fast unbekannte Organisator des Staatsstreiches, wurde zu ihrem Leiter ernannt. Der Einsatz der Armee anstelle der Polizei führte allerdings nicht zum erwarteten Erfolg. Im Gegenteil: Wurde die COPCON gerufen, um einen Streik in einer Fabrik oder einem Agrarunternehmen zu sch­lichten, dann traten ihre Offiziere nicht an, um den Status quo wiederherzustellen. Stattdessen hörten sie beide Seiten im Konflikt an und beriefen sich selber zu Richtern. Erschienen die Forderungen der Arbeiter ihnen gerecht, so stellten sie sich auf deren Seite, was meistens der Fall war. So goss die COPCON noch mehr Öl in das Feuer der Proteste. Da es nunmehr keine Angst vor Repressionen gab, fiel die Grenze dessen, was man glaubte fordern zu können, ins Bodenlose. Sogar die Abschaffung des Privateigentumes wurde nun verlangt. Andererseits wurden die Militärs durch den Kontakt mit ›dem Volk‹, das ja eigent­lich nur ­soziale Gerechtigkeit verlangte, politisiert und radikalisiert. Es ist daher kein Zufall, dass der Führer der C ­ OPCON , Otelo Saraiva de Carvalho, der von Spínola aufgrund seiner moderaten Gesinnung ernannt worden war, in der Folge zum großen Hoffnungsträger der extremen Linken aufstieg.29 Die endlosen Streiks und die starke Lohnerhöhung führten zur massiven Entkapitalisierung ausländischer und portugiesischer Firmen. Die Arbeiterräte, die sich spontan in den Unternehmen organisierten, reagierten auf diese ›Wirtschaftssabotage‹ mit der Übernahme der Direktion der Betriebe. Dieser improvisierte Sprung zur sozialistischen Selbstverwaltung war nicht auf einige wenige Firmen in großen Städten begrenzt. Anfang 1975 verweigerten einige Großgrundbesitzer des Alentejo in Anbetracht der Forderungen der Tagelöhner den Beginn der Aussaat mit dem Argument: »Soll euch doch die Revolution Arbeit geben!« Als Antwort begannen die Tagelöhner Ländereien zu besetzen und sie genossenschaft­lich zu bearbeiten.30

29 Über die Höffnungen und Grenzen der Extremelinken siehe Günter Schröder (Hrsg.): Materialien und Dokumente über Portugal (5 Bände). Giessen 1975 – 1976. 30 Constantino Piçarra: Die Agrarreform im Süden Portugals (1975). In: Willi Baer/ Karl-­Heinz Dellwo: Portugal 25. April 1974 – Die Nelkenrevolution. Das Ende der

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Nach dem verfehlten Putsch von Spínola im März 1975 und dem Linksrutsch der Revolution nahm die s­ oziale Revolution weiter an Fahrt auf. Im Alentejo besetzten die Landarbeiter in den folgenden Monaten über eine Million H ­ ektar Land und die Unternehmen mit Selbstverwaltung wuchsen auf über 200 an. Der Revolutionsrat und die Regierung von Vasco Gonçalves hatten keine Vorstellungen darüber, wie der angekündigte portugiesische Sozialismus zu verwirk­ lichen sei. In Wirk­lichkeit liefen sie den Initiativen der Massen immer hinterher, indem sie Besetzungen legalisierten und versuchten, die Bauern und Arbeiter mit Technikern, Traktoren oder Saatgut zu unterstützen. Mit der Verstaat­lichung von Unternehmen und der Enteignung von Großgrundbesitz Mitte 1975 schien Portugal vor den Augen der Welt auf dem Weg zu einer Planwirtschaft. Dabei war der öffent­liche Sektor zum damaligen Zeitpunkt nicht größer als der Frankreichs oder Schwedens. Die Verstaat­lichung wichtiger Teile der Wirtschaft brachte aber keine unmittelbare Verbesserung des Lebensstandards der Portugiesen mit sich. Ganz im Gegenteil, die Weltwirtschaftskrise, der Stopp ausländischer Investitionen, das Ausbleiben der Geldsendungen der Migranten seit der Verstaat­lichung der Banken im März, der Kollaps des Tourismus und die Unerfahrenheit der Arbeiter im Betriebs­management verursachten sogar eine Verschlechterung der Wirtschaftslage. Diese zwang die Regierung im Sommer 1975 zur Verordnung von Sparmaßnahmen. In einem Teil der Arbeiterschaft wuchs die Enttäuschung gegenüber dem sozialistischen Experiment und damit die Unterstützung für die moderaten Parteien, ein anderer Teil hingegen radikalisierte sich noch weiter.31 Bis heute prägt die linke Bewegung das Bild der Nelkenrevolution. Der rechten Protestbewegung hingegen wird weniger Interesse beigemessen. Sie war jedoch entscheidend für den Sieg der moderaten Kräfte. Aus dem konservativen Norden betrachtet hatte der Kommunismus Mitte 1975 Lissabon und den Alentejo bereits erobert. Portugal sollte vor einer sowjetischen Machteroberung verteidigt werden. Von der Führung der katholischen K ­ irche und den gemäßigten Parteien ermuntert und mit der Unterstützung gewalttätiger ultrarechter Gruppen entlud sich Ende Juli eine Welle antikommunistischer Gewalt im Norden Portugals. Die Parteilokale der linken Parteien wurden von den Massen geplündert, ihre Mitglieder aus den Gemeinderäten, den verstaat­lichten Banken und Redaktionen Diktatur in Portugal. Hamburg. 2012, S. 87 – 105; Helga M. Novak: Die Landnahme von Torre Bela. Berlin 1976. 31 José Maria Brandão de Brito/Cristina Rodrigues: A UGT na História do movimento sindical português, 1970 – 1990 [Die UGT in der Geschichte der portugiesischen Gewerkschaftsbewegung]. Lissabon 2013, S. 111 – 138.

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der Massenmedien vertrieben. Diese antikommunistische Orgie wurde von den Militärs vor Ort toleriert. Sie machten sich gemein ›mit der Sache des Volkes‹, genauso wie es zuvor ihre Kameraden in Lissabon und im Alentejo mit den linken Aktivisten getan hatten.32 In Portugals süd­licher Hälfte verharrte die ›rote Agitation‹ weiterhin. ­Zwischen September und November 1975 verwandelte sich die Hauptstadt in ein unübersicht­ liches Gewimmel ständiger Kundgebungen. Die spektakulärste war die der Bauarbeiter, die das Parlament umzingelten und die Abgeordneten dazu zwangen, auf ihren Sitzen zu übernachten. Die Belagerung wurde erst aufgehoben, als die Regierung deren Forderungen akzeptierte. Der Druck der Straße in Lissabon war so stark, dass sogar über eine Verlegung des Parlamentssitzes nach Porto nachgedacht wurde. Völlig überlastet trat die Regierung selbst in Streik: sicher­lich ein einmaliges Ereignis in der Weltgeschichte. In der Forschung wird die linke Massenbewegung mitunter als eine parallele Macht im Staate gesehen, vergleichbar mit den Sowjets während der Doppelherrschaft in Russland nach der Februarrevolution.33 Die Gegenseite verneint diese Sichtweise und bezieht sich auf eine angeb­liche Manipulation der Massen durch eine radikale Elite. Aufgrund der Zersplitterung und Zerstreuung der linken Bewegung habe es allerdings kein gemeinsames Projekt gegeben.34 Tatsache ist, dass die Massenbewegung aufgrund der tiefen Staatskrise unaufhör­lich wachsen konnte. Nach der Wiederherstellung der Ordnung innerhalb der Armee – und damit des Gewaltmonopols des Staates – im November 1975 verschwand die politische und ­soziale Agitation von einem Tag auf den anderen. Nichtsdestotrotz hinterließen die Massenbewegungen ein sichtbares Erbe. Als die Regierung Ende der 1970er Jahre die enteigneten Ländereien aus dem ­Alentejo wieder an ihre ursprüng­lichen Besitzer zurückgeben wollte, stießen sie auf den erbitterten Widerstand der Kleinbauern und der ehemaligen Tagelöhner, die sich im Laufe der Revolution emanzipiert hatten und um ihre Rechte wussten. Heute wird in Portugal Massenprotest, anders als zum Beispiel in Spanien, kein negativer Beigeschmack attestiert, vielmehr gilt er als legitime Form, Druck auf die politischen Machthaber auszuüben.35

32 Palacio Cerezales: O Poder (wie Anm. 28), S.  141 – 174. 33 Raquel Varela: História do Povo na Revolução Portuguesa [Geschichte des Volkes in der portugiesischen Revolution]. Lissabon 2014. 34 Rui Ramos: História de Portugal [Geschichte Portugals]. Lissabon 2009, S. 729 – 731. 35 Robert M. Fishman: Democratic Practice after the Revolution: The Case of Portugal and Beyond. In: Politics & Society 39 (2011) 2, S. 233 – 267.

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4. Alte und neue Kräfte: Die Formierung der politischen Parteien Nach dem Zusammenbruch der Diktatur erlebte Portugal ein wahres Feuerwerk an politischem Aktivismus. Eine aufblühende, von jungen Studenten dominierte extreme Linke entfaltete – besonders in Lissabon – ihr frenetisches Wirken.36 Besucher Portugals, die nur in der Hauptstadt weilten, nahmen daher ein verzerrtes Bild der Revolution mit nach Hause. Um sich dem Zeitgeist anzupassen, sahen sich die neu gegründeten Mitte-­Rechts-­Parteien gezwungen, sich als progressiv, wenn nicht sogar marxistisch zu definieren. Es erstaunt daher nicht besonders, dass sich die wichtigste konservative Partei den Namen Sozialdemokratische Partei (PSD) gab. Die einzigen antifaschistischen Parteien, die bereits vor dem Staatsstreich am 25. April 1974 zugelassen waren, waren die Kommunistische Partei von Álvaro Cunhal und die Sozialistische Partei von Mário Soares. Beide sollten zu den einflussreichsten Parteien der Revolution werden; anfangs als Alliierte in der nationalen Einheitsregierung und danach als erklärte Feinde. Während der 48 Jahre des Estado Novo war die Kommunistische Partei (PCP) die einflussreichste oppositionelle Kraft. Sie war eine orthodoxe kommunistische Partei und die einzige, die über Struktur und Aktivisten im ganzen Land verfügte, insbesondere im Alentejo und im Lissaboner Industriegürtel. Ihr mutiger Widerstand gegen die Diktatur verhalf der Partei nach dem 25. April zu enormem Ansehen und zu großem politischen Kapital.37 Die Sozialistische Partei (PS ) hingegen war eine winzige Organisation, die erst 1973 in der Bildungsstätte der Friedrich-­Ebert-­Stiftung in Bad Münstereifel gegründet worden war und am Tag des Putsches nicht einmal 100 Mitglieder hatte. Die PS bestand ausschließ­lich aus Angehörigen der städtischen Mittelschicht, verfügte über keinerlei Kontakte zur Arbeiterbewegung ,und ihr Einfluss reichte kaum über Lissabon hinaus. Im Vergleich zur PCP war die PS ein »Haufen Amateure«, wie ein deutscher Sozial­ demokrat im Sommer 1974 vor Ort anmerkte.38 Auch um sich dem Zeitgeist anzupassen, lehnte die PS die nordeuropäische Sozialdemokratie ab und gab sich als marxistische Organisation aus. Erst nach der Revolution konnte die Partei ihr wahres, sehr moderates Profil offenbaren.39 36 Jorge Fontes: Die extreme Linke während der Revolution. In: Baer/Dellwo: 25. April (wie Anm. 30), S.  167 – 186. 37 Raquel Varela: O PCP e a Revolução dos Cravos [Die PCP und die Nelkenrevolution]. Lissabon 2011. 38 Bericht von Günter Wehrmeyer über eine Reise nach Portugal, 11. August 1974. In: Archiv der sozialen Demokratie. Bonn, FES Hausakten 2972. 39 Juliet Antunes Sablosky: O PS e a Transição para a democracia [Die PS und der Übergang zur Demokratie]. Lissabon 2000.

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Nach dem Staatsstreich führten die erfahrenen kommunistischen Kader die bereits erwähnte ›Sanierung‹ in den Gemeinden, Gewerkschaften und anderen staat­lichen Organisationen durch. Sie übten zudem Einfluss auf die Redaktionen der verschiedenen Medien aus und stellten sich als eine verantwortungsvolle Partei dar, die vor allem am Aufbau der Demokratie interessiert war. Der Minister Álvaro Cunhal rief zur ›antifaschistischen Einheit‹ auf, verurteilte ›wilde Streiks‹, geißelte die ständigen Unruhen der extremen Linken und hörte nicht auf, vor einem ›chilenischen Putsch‹ zu warnen.40 Ohne über eine eigene klare Strategie zu verfügen, war die MFA dankbar für die konstruktive Mitarbeit der Kommunisten, und nach dem Rücktritt des Präsidenten Spínola im September 1974 stütze sie sich verstärkt auf Cunhal und seine Anhänger. Die De-­facto-­Allianz z­ wischen der MFA und der PCP erleichterte es den Kommunisten, ihre Macht im Staat weiter auszubauen. Im Januar 1975 wurde die kommunistische Intersindical als einzige legale Gewerkschaft anerkannt.41 Der Marsch der Kommunisten durch die Staatsstrukturen, die Medien und Gewerkschaften versetzte die PS in Alarmbereitschaft. Die Sozialisten hielten sich für die Einzigen, die aufgrund ihrer antifaschistischen Legitimität gegen die ›Genossen‹ den Finger erheben könnten und sie zu bremsen vermochten. Für die PS stand außer Zweifel, dass die PCP die Dynamik der Revolution Anfang 1975 ­nutzen wollte, um ein kommunistisches Regime zu etablieren. Die Spannungen und Gerüchte um eine Bartholomäusnacht wären nach dieser Lesart nichts anderes als ein Manöver der PCP, um einen konservativen Putsch zu provozieren, der dann ja tatsäch­lich am 11. März stattfand. Auf diese Weise wolle Cunhal – in den Augen der PS – den revolutionären Prozess radikalisieren, die antifaschistische Einheit unter der Ägide der PCP festzurren und damit den Wert der für April anberaumten Wahlen abwerten.42 Doch die Wahlen für die verfassungsgebende Versammlung sollten keine Randnote der Geschichte werden, sondern ein echter Wendepunkt der Revolution zugunsten der moderaten Kräfte. Die Wahlen fanden am ersten Jahrestag der Revolution statt, und die Wahlbeteiligung war mit 91 Prozent überwältigend. Die PS, die unter dem Motto ›Sozialismus in Freiheit‹ antrat, war mit 38 Prozent der Wahlsieger. Den zweiten Platz errang die konservative PSD mit 27 Prozent.

40 Der chilenische Putsch vom 11. September 1973, durch den die chilenische Armee unter der Führung des Generals Augusto Pinochet die Regierung des sozialistischen Salvador Allende gewaltsam absetzte, gilt als Inbegriff eines Putsches von ›rechts‹. 41 Varela: O PCP (wie Anm. 37), S. 141 f. 42 David Castaño: Mário Soares e a Revolução [Mário Soares und die Revolution]. Alfragide 2013, S.  261 – 268.

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Die PCP erhielt nur 12 Prozent der Stimmen, was als Demütigung empfunden wurde. Die Sozialdemokraten hatten ihre Hochburgen im Norden des Landes, die Kommunisten ihre im Süden. Die Sozialisten hingegen waren im ganzen Land gleich stark. Sie konnten daher zu Recht behaupten, die Partei zu sein, die die politische Stimmung der Portugiesen am besten abbildete.43 Über ein Jahr lang war das Militär der legitime Herrscher, da es dem Volk die Freiheit gebracht hatte. Jetzt gab es eine andere Kraft, deren Legitimität aus den Wahlen hervorgegangen war, und dies waren moderaten Parteien, vor allem die PS. Das Militär und die PS traten von nun an in einen Konflikt. Ministerpräsident Vasco Gonçalves und die Kommunisten ignorierten die Wahlen und arbeiteten einfach weiter an ihrem Plan, ein sozialistisches Regime zu implementieren. Gegenüber der italienischen Journalistin Oriana Falacci offenbarte Álvaro C ­ unhal sein Vorhaben auf eine schonungslose Art und Weise in einem Interview mit enormer internationaler Resonanz, das er den Rest seines Lebens bereuen sollte: Aber wir Kommunisten akzeptieren ja die Spielregeln der Wahlen nicht! […] Ich behaupte, dass die Wahlen mit der revolutionären Dynamik nichts oder nur sehr wenig zu tun haben. Ob Ihnen das passt oder nicht, ob es den Sozialisten passt oder nicht: Ich sage, dass der Wahlprozess nur eine Randerscheinung dieser Dynamik ist […]. Ich verspreche Ihnen, dass es in Portugal kein Parlament geben wird.44

Die Sozialisten ihrerseits gingen zur Offensive über. Sie verlangten Posten in der Verwaltung und in den bisher ausschließ­lichen von den Kommunisten besetzten staat­lichen Medien. Sie scheuten nun auch nicht vor der Konfrontation mit den Kommunisten auf offener Straße zurück. Der erste Zusammenstoß geschah auf der Kundgebung zum 1. Mai, als die Einheitsgewerkschaft Mário Soares das Wort auf der Tribüne verweigerte. Zwei Wochen später kam es zum Frontalzusammenstoß. Die Mehrheit der Arbeiter der sozialistischen Tageszeitung República setzten ihre Leitung ab, weil diese ihrer Meinung nach ›antirevolutionär‹ sei. Obwohl diese Arbeiter Anhänger der Linksextremen und nicht der Kommunisten waren, stilisierte die PS die Vorgänge zu einem Versuch der PCP, eine der letzten freien Stimmen Portugals zum Schweigen bringen zu wollen.

43 Die Demokratie gewählt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. April 1975; Absage an den Kommunismus in Portugal. In: Neue Zürcher Zeitung, 28. April 1975; Portugiesisches Lehrstück. In: Frankfurter Rundschau, 28. April 1975; Portugal entschied sich für den europäischen Weg. In: Die Welt, 28. April 1975. 44 »Ich verspreche Ihnen, dass es in Portugal kein Parlament geben wird«. In: Der Stern, 19. Juni 1975.

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Der Fall ›República‹ fand großes Echo in Europa und verstärkte das Image von Mário Soares’ PS als letztem Bollwerk des demokratischen Portugals gegenüber dem kommunistischen Totalitarismus. Nach vielen Wochen ohne Einigung akzeptierte der Revolutionsrat, dass die Zeitung in den Händen der Arbeiter blieb. Daraufhin verließen Mitte Juli die Sozialisten und die Sozialdemokraten die Regierung. In der Folge rief Soares zu einer Kundgebung in Lissabon auf, die zu einer riesigen antikommunistischen Demonstration wurde. Dort konnten end­lich auch viele Personen aus dem Mittelstand ausrufen, was sie bis dato öffent­lich kaum zu sagen gewagt hatten. Die Menge skandierte gegen den Ministerpräsidenten und den ›portugiesischen Lenin‹: »Vasco raus!«, »Cunhal nach Sibirien!«.45 In den nächsten Tagen folgte der Norden dem Lissaboner Vorbild und die bereits beschriebene Welle antikommunistischer Gewalt brach hervor. Der Druck der moderaten Kräfte unter der Führung der PS verschärfte den Machtkampf innerhalb der MFA und führte kurz darauf zum Rücktritt des Ministerpräsidenten Vasco Gonçalves. Die politische Instabilität war damit aber noch lange nicht beendet. Die Agitation der extremen Linken und der Arbeiterräte mit Unterstützung der COPCON dauerte an und fand ihren Höhepunkt in der Belagerung des Parlamentes. Bis heute konnte die Rolle der Kommunisten in den Wirren des Herbstes 1975 nicht ganz geklärt werden. Einige Historiker sind der Meinung, die PCP habe sich in einem verzweifelten Versuch, doch noch an die Macht zu kommen, mit den bis dahin von ihnen abgelehnten Linksex­ tremen und der COPCON verbündet. Andere wiederum behaupten, die PCP habe verstanden, dass sich das Mächteverhältnis zu ­diesem Zeitpunkt bereits zugunsten der moderaten Kräfte verschoben hatte, und sich auf den Erhalt der ›revolutionären Errungenschaften‹ konzentriert. In der Auslegung moderater Politiker und Wissenschaftler ist die PCP verantwort­lich für den Putschversuch des 25. November. Diese Sichtweise hält sich bis heute, obwohl nie Beweise für diese These gefunden wurden.46

45 Kommunisten werfen Molotow-­Cocktails auf Portugals Sozialisten. In: Die Welt, 21. Juli 1975; Attacke Soares’ auf Regierungschef Gonçalves. In: Neue Zürcher Zeitung, 21. Juli 1975. 46 Raquel Varela: Plante die PCP die »Machtergeifung«? In: Baer/Dellwo: 25. April (wie Anm. 30), S.  143 – 166.

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5. ›Das Ausland‹ als mäßigender Faktor: Deutsche Politik und europäische Perspektiven Die Krise im Süden Europas nach 1974 erwischte die Weltmacht USA auf dem falschen Fuß. Der Vietnamkrieg, das Engagement zugunsten des Militärputsches in Chile und ihre Unterstützung der südeuropäischen Diktatoren Franco, ­Caetano und Papadopoulos hatten ihre Einflussmög­lichkeiten beim Übergang zur Demokratie oder beim Ausbremsen des Vormarsches der KP in Italien enorm geschmälert. Die Zeiten, in denen die 6. Flotte der US-Marine allein mit ihrer Präsenz im Mittelmeer die Stabilität sicherte, waren vorbei. Was tun? Außenminister Henry Kissinger entwickelte daraufhin einen machiavellistischen Plan: Um ein Übergreifen des ›linken Wundbrandes‹ auf den ganzen südeuropäischen Körper zu verhindern, müsse das Bein amputiert werden. In den Augen der USA stellte ­dieses Bein Portugal dar. Spätestens nach dem Rücktritt Spínolas Ende September befürchtete Washington, dass die moderaten Kräfte keine Chance gegen die Kommunisten haben würden. Soares kämpfte auf verlorenem Posten – er war, so Kissinger, der ›lusitanische Kerenski‹. Anstatt sich dem unvermeid­lichen Schicksal entgegenzustellen, sollte der Westen Portugal aufgeben und das Beste aus dieser Lage herausholen. Kissinger plädierte dafür, das Land aus der NATO auszuschließen, jede wirtschaft­liche Hilfe abzulehnen und es politisch zu isolieren. Unter diesen Umständen hoffte er, Portugal zu einer schlechten und chaotischen Sowjetrepublik zu stilisieren und zu einem Exempel für die rest­lichen Gesellschaften Südeuropas machen zu können. Spanier, Italiener und Griechen sollten sehen, was aus ihnen würde, wenn sie mit ihren Stimmen Kommunisten an die Macht brächten und die Blocklogik des Kalten Krieges nicht respektierten.47 Diese ›Impftheorie‹ Henry Kissingers löste in Westeuropa eine große Beunruhigung aus, da die Mög­lichkeit einer kommunistischen Regierungsübernahme auf der Iberischen Halbinsel in Westeuropa bis dato als unmög­liche Vorstellung abgetan worden war. Die europäischen Regierungen bauten nun im Gegenzug auf eine konstruktive anstatt auf eine aggressive Strategie im Umgang mit Portugal. So wurde eine Reihe von Maßnahmen implementiert, mit denen man die moderaten Kräfte in Portugal stärken und die Wirtschaftsentwicklung vorantreiben wollte. Dazu versuchte man den Portugiesen die Mitgliedschaft in der EWG als ein neues Ziel und Ersatz für die verlorenen Kolonien schmackhaft zu machen. Mit diesen Maßnahmen sollte das reiche und demokratische

47 Bernardino Gomes/Tiago Moreira de Sá: Carlucci versus Kissinger. The US and the Portuguese Revolution. Plymouth 2011.

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Abb. 2  Die Angst vor dem Kommunismus forcierte die Bereitschaft der Bundesrepublik, gemäßigte Kräfte in Portugal massiv zu unterstützen. Karikatur von Hans Joachim Gerboth in der Kölnischen Rundschau, 19. März 1975.

Europa das iberische Land »umarmen«, damit es nicht in den »Abgrund des Kommu­nismus« fiele.48 Am Ende setzte sich die konstruktive Linke der Europäer gegen die konfrontative Strategie der USA durch und trug maßgeb­lich zum Sieg der moderaten Kräfte bei.49 Betrachtet man die europäische Reaktion eingehender, so lässt sich feststellen, dass sie weder von allen europäischen Ländern getragen wurde noch konfliktfrei ablief. Das ist nicht verwunder­lich, denn damals wie heute gab es keine gemeinsame europäische Außenpolitik. Die ›europäische Antwort‹ auf die Nelkenrevolution war eigent­lich in erster Linie eine westdeutsche Antwort, bei der Bonn die treibende Kraft war.50 Die sozialliberale Regierung unter H ­ elmut Schmidt verstand die Nelkenrevolution als große potentielle Gefahr für die Interessen der BRD, insbesondere für ihre ›Entspannungspolitik‹. Im Gegensatz zu anderen linken Parteien in Europa zeigte die SPD deswegen keinerlei Verständnis für die linken Experimente in Portugal, die ihrer Meinung nach nur den Kommunisten dienten und damit den Status quo in Europa verändern 48 Mario Del Pero: A European Solution for a European Crisis. The International Implications of Portugal’s Revolution. In: Journal of European Integration History 1 (2009) 15, S. 15 – 34. 49 Ebd. 50 Ana Mónica Fonseca: The Federal Republic of Germany and the Portuguese Transition to Democracy (1974 – 1976). In: Journal of European Integration History 1 (2009) 15, S. 35 – 56.

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würden. Die Sozialdemokraten interpretierten die Nelkenrevolution im Grunde als einen Kampf z­ wischen Demokratie und Totalitarismus. Diese Sichtweise teilten sie mit der CDU/CSU und der konservativen Presse, insbesondere der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die die Revolution von Anfang an als einen »Putsch auf Raten« der PCP beschrieben hatte.51 Die Tatsache, dass der so genannte Ostblock und insbesondere die DDR die Genossen in Portugal aktiv unterstützten,52 vergrößerte die Ängste der SPD bezüg­lich einer Sowjetisierung der Iberischen Halbinsel, während andere Sozialisten der EWG diese Option für eine deutsche Übertreibung hielten. Schon kurz nach dem Putsch stellte die Bundesregierung fest, dass sich die moderaten Kräfte in Portugal nie ohne ausländische Hilfe würden durchsetzen können. Dies war auch die vertrau­liche Warnung von Außenminister Mário Soares, der ständig durch Europa reiste, um Solidarität für seine Partei einzuwerben und um sich in Portugal das Image eines Staatsmannes mit einflussreichen Freunden zu schaffen. Ab Mai 1974 finanzierte die SPD nachhaltig die PS , während die Friedrich-­Ebert-­Stiftung beim Aufbau ihrer Parteistruktur und der Ausbildung der Kader beratend zur Seite stand. Zudem bot die Bundesregierung Portugal Wirtschaftshilfen an, obwohl Lissabon aufgrund der wachsenden politischen Handlungsunfähigkeit zunächst eine Antwort schuldig blieb. Vergeb­lich plädierte Helmut Schmidt dafür, eine Art europäischen Marshall-­Plan für Portugal aufzustellen, denn Frankreich, Großbritannien oder Italien waren viel zu sehr mit ihren eigenen Wirtschaftskrisen beschäftigt.53 Der dramatische Linksschwenk der Revolution nach dem Putschversuch im März 1975 wurde in Bonn als der Beginn der Implementierung eines Regimes mit Hilfe der sozialistischen ›Ostblockstaaten‹ gedeutet. Durch die Passivität der europäischen Partner ebenso alarmiert wie durch die Bereitschaft der Vereinigten Staaten, Portugal fallenzulassen, beschloss die Bundesregierung, die Zügel selber in die Hand nehmen, um damit »die Entwicklung Portugals zu 51 Thomas Weissmann: Perceções da Revolução dos Cravos na imprensa alemã. Os exemplos de Die Zeit e Neues Deutschland do 25 de Abril de 1974 até à demissão de Spínola [Die Wahrnehmung der Nelkenrevolution in der deutschen Presse. Die Beispiele aus Der Zeit und Neuen Deutschland vom 25. April 1974 bis zum Rücktritt von Spínola]. In: Diacrítica 28 (2014) 2, S. 61 – 78; Putsch auf Raten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Januar 1975. 52 Tilo Wagner: Portugal e a RDA durante a Revolução dos Cravos [Portugal und die DDR während der Nelkenrevolution]. In: Relações Internacionais 11 (2006), S. 79 – 89. 53 Antonio Muñoz Sánchez: Entre solidaridad y realpolitik. La socialdemocracia alemana y el socialismo portugués de la dictadura a la democracia [Zwischen Solidarität und Realpolitik. Die deutsche Sozialdemokratie und der portugiesische Sozialismus von der Diktatur bis zur Demokratie]. In: Hispania Nova 15 (2017), S. 243 – 273.

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einer freiheit­lichen west­lichen Demokratie sicherzustellen und ein Abgleiten des Landes in das kommunistische Lager zu verhindern«.54 Anfang April verkündete Bonn mitten in der portugiesischen Wahlkampagne eine massive Wirtschaftshilfe für das Land. Nach dem gewaltigen Sieg der moderaten Kräfte traf Kanzler Helmut Schmidt sich auch mehrere Male mit Henry Kissinger, um diesen davon zu überzeugen, die Idee, Portugal aus der NATO auszuschließen, fallenzulassen und sich der Unterstützung der moderaten Kräfte in Portugal anzuschließen. Bonn warnte Moskau außerdem, dass der anstehende KSZE-Gipfel gefährdet sei, sollte sich in Portugal ein kommunistisches Regime durchsetzen.55 Auf diese Art und Weise sollte Leonid Breschnew dazu bewogen werden, Cunhal zu bremsen. Im Juni 1975 gelang es Bonn dann end­lich, die EWG von der Umsetzung eines »kleinen Marschallplanes« für Lissabon zu überzeugen.56 Die Wirtschaftshilfe aus Bonn und Brüssel war aber keineswegs ein Geschenk an Portugal, sondern an politische Bedingungen geknüpft. Die MFA musste sich verpf­lichten, die freie Marktwirtschaft zu respektieren und auf ihre Pläne zur Einführung des Sozialismus verzichten. Diese Junktimklausel 57 wurde von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gefeiert: »Die EG ist nicht eine Vereinigung wohlhabender Nationen, die Portugal sogenannte humanitäre Hilfe bieten wollen, sondern ein Zusammenschluss, der eben durch die Zusammenfassung wirtschaft­licher Kräfte politisches Gewicht in die Waagschale zu werfen hat.« 58 In voller Kenntnis der tiefen portugiesischen Wirtschaftskrise wollte der deutsche Kanzler die finanziellen Hilfen als politisches Druckmittel auf die regierenden Militärs in Lissabon ­nutzen. Das machte Helmut Schmidt aus Anlass des Treffens mit Präsident Marshall Francisco Costa Gomes während des KSZE -Gipfels in Helsinki Anfang August 1975 deut­lich. Ohne Hilfe von auswärts, so der Kanzler, könne Portugal in einigen Monaten nicht mehr aus eigener Kraft überleben.59

54 Bericht über den Hilfsplan Portugals, 7. 4. 1975. In: Politisches Archiv – Auswärtiges Amt. Berlin, Zwischenarchiv 110242. 55 Antonio Muñoz Sanchez: La República Federal de Alemania y la Revolución de los Claveles [Die Bundesrepublik Deutschland und die Nelkenrevolution]. In: Ricerche Storiche XLVI-1 (2016). S. 41 – 50. 56 Portugals Sozialisten finden Verständnis in Europa. In: SPD-Pressedienst, 11. Juli 1975. 57 Als Junktimklausel wird in der Rechtswissenschaft eine Rechtsnorm verstanden, die vorsieht, dass bestimmte rangniedrige Rechtsvorschriften nur in Verbindung mit anderen Regelungen erlassen werden dürfen. 58 Hilfe für Portugal. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Mai 1975. 59 Memo vom Treffen ­zwischen Francisco Costa Gomes und Helmut Schmidt in Helsinki, 1. 8. 1975. In: Archiv der sozialen Demokratie, Helmut-­Schmidt-­Archiv, 6605.

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Willy Brandt seinerseits nutzte die Anwesenheit sämt­licher europäischer Staatsmänner und berief ein Treffen mit den sozialistischen Parteivorsitzenden in Stockholm ein, um Mário Soares seine Solidarität kundzutun. Alle Anwesenden versprachen, weiterhin Druck auf die MFA auszuüben und die PS , so Bruno Kreisky, »mit dem zu unterstützen, was sowohl in der Politik als auch im Krieg essentiell ist: Geld, Geld, Geld«.60 Auf der anschließenden Pressekonferenz äußerte der schwedische Ministerpräsident Olof Palme zur unmittelbaren Zukunft Portugals folgenden Wunsch: »Eine pluralistische Demokratie muss erreicht werden; eine freie Presse muss garantiert werden, die gleichen Garantien müssen für die freien Gewerkschaften bestehen; schließ­lich müssen die Beziehungen zum Ausland frei sein.« 61 Das Treffen in Stockholm stellte einen Meilenstein europäischer Solidarität mit Portugal dar oder, aus der Sicht der alternativen Linken und der sozialistischen ›Ostblockstaaten‹, einen weiteren Schritt west­licher ›imperialistischer‹ Einmischung unter der Führung der deutschen Sozialdemokratie. Erich Honecker kritisierte, kaum dass die Tinte unter der Schlussakte von Helsinki trocken war, dass aggressive Kreise der NATO , der EWG und die CIA ihre reaktionären Aktivitäten gegen das demokratische Portugal verstärken würden.62 Der west­liche politische und wirtschaft­liche Druck verfehlte seine Wirkung nicht. Schon auf dem Heimflug von Helsinki erklärte Costa Gomes den mitgereisten Journalisten, Portugal könne es sich nicht leisten sich von Europa zu isolieren; eine Wende in der politischen Situation sei nötig. Von ­diesem Moment an positionierte sich der Präsident auf Seiten des moderaten Flügels der MFA und isolierte den Premierminister Vasco Gonçalves bis dieser zurücktrat. In den politischen Wirren des Herbstes von 1975 gelang es den moderaten Kräften noch, sich aus einer unsicheren Machtposition heraus die europäische Unterstützung für den Fall einer Offensive der Linksradikalen zu sichern. Wäre der Putsch vom 25. November erfolgreich gewesen, wären bis dato noch unbekannte Pläne zum Einsatz gekommen, in denen moderate Streitkräfte mit Unterstützung der NATO vom Norden her den Süden Portugals wieder unter ihre Gewalt hätten bringen sollen.

60 Castaño: Mário Soares (wie Anm. 42), S. 352 f. 61 Support for Democratic Socialism in Portugal. In: Socialist Affairs 5 (1975), S. 95. 62 Zur Lage in Portugal. In: Neues Deutschland, 15. August 1975.

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6. Fazit Im Herbst 1975 führte eine Luftbrücke über eine halbe Million Siedler, die nicht in einem unabhängigen Angola oder Mosambik leben wollten, nach Portugal zurück. Ihre Besitztümer reisten ihnen per Schiff nach. Die Bilder der entladenen Umzugskisten auf dem Kai in Lissabon vor dem ›Denkmal der Entdeckungen‹ wurden zu einem wirkungsmächtigen Symbol für das abrupte Ende des kolonialen Zeitalters, das die Nelkenrevolution mit sich brachte. Der Verlust der Kolonien bedeutete für Portugal nicht nur eine wirtschaft­liche Katastrophe, sondern vor allem das Ende eines kolonialen Mythos, auf dem ­dieses kleine iberische Volk über mehrere Jahrhunderte lang seine nationale Identität aufgebaut hatte. Die aus dem stürmischen Übergangsprozess entstandene instabile Demokratie fand in Europa sehr schnell eine neue Perspektive. Der Eintritt in die reiche EWG wurde nicht nur aus wirtschaft­lichen Gründen zu einem Wunschtraum, sondern auch als ein Weg gesehen, um die Demokratie zu festigen und dem Land einen würdigen Platz in der internationalen Staatengemeinschaft zu erhalten. Diese neue europäische Ausrichtung Portugals wurde in einem symbolträchtigen Akt in nur 200 Meter Entfernung vom ›Denkmal der Entdeckungen‹ im prächtigen Hieronymuskloster besiegelt, als im Juni 1985 der Premierminister Mário Soares in Anwesenheit aller Regierungs- und Staatsvorsitzenden der EWG die Beitrittsakte zur Gemeinschaft unterzeichnete. Der Mythos Europa hat in Portugal seit 2008 viel an Glanz verloren. Trotzdem ist das Land insgesamt zufrieden mit der politischen Stabilität und dem Wohlstand, den es in den letzten Jahrzehnten als Mitglied der EWG erreicht hat. Heute haben die Portugiesen daher eine zwiespältige Beziehung zur Nelkenrevolution. Einerseits wird sie als Endpunkt der ungeliebten Diktatur und als Startpunkt einer neuen Ära für das Land positiv bewertet. Andererseits werden die Unruhen von 1975 kritisch gesehen und die Kommunisten werden beschuldigt, sie hätten damals eine neue Diktatur errichten wollen. Folgt man dieser Perspektive, so habe die Demokratie in Portugal nur deswegen siegen können, weil die Revolution scheiterte. Von progressiven Kreisen wird diese Sichtweise allerdings vehement abgelehnt. Für sie ist die portugiesische Demokratie ein ›Kind der Revolution‹, denn sie habe nicht nur das Land von einer Diktatur befreit, sondern auch die Nation durch Werte wie Freiheit, Gleichheit und Brüder­lichkeit tief geprägt.

Adamantios Theodor Skordos

Das späte Ende des Bürgerkrieges Die Diktatur der Obristen und deren Überwindung als politische Zäsur in der griechischen Geschichte des 20. Jahrhunderts

Der Historiker Vangelis Karamanolakis hat 2009 in seinem Literaturbericht zur Forschung über die griechische Militärdiktatur konstatiert, dass »der Blick auf die neueste historiographische Produktion zum diktatorischen Regime des 21. April 1967 einen entmutigenden Eindruck« hinterlasse. Obwohl die Bedeutung der siebenjährigen Obristenherrschaft für die griechische Zeitgeschichte der professionellen Historikerzunft bewusst sei, blieben die Taten und Tage des Regimes trotzdem zum größten Teil weiterhin terra incognita.1 Seitdem ist nahezu ein Jahrzehnt vergangen, und einige neue Studien sind zu dieser Epoche erschienen.2 Nichtsdestoweniger trifft die Aussage von Karamanolakis im Großen und Ganzen auch auf den gegenwärtigen defizitären Forschungsstand zu. Weiterhin wird die zeitgeschicht­liche Forschung zu Griechenland durch die Besatzungsund Bürger­kriegszeit vereinnahmt. Im Vergleich zu den unzähligen Veröffent­ lichungen darüber stechen Th ­ emen wie etwa der repressive Staatsapparat der unmittelbaren Nachkriegszeit oder eben die Juntadiktatur, zu denen erstaun­lich wenig geforscht wird, wie ›weiße Flecken‹ auf der Kartografie der akademischen Zeitgeschichtsforschung hervor. In der Forschung zur griechischen Militärdiktatur der Jahre 1967 – 1974 besteht nichtsdestotrotz seit Mitte der 1980er Jahre Konsens darüber, dass das am 21. April 1967 durch Offiziere mittlerer Ränge installierte Juntaregime nur zum Teil als ein Bruch in der zeithistorischen Spanne von der Errichtung der faschistoiden 1 Vangelis Karamanolakis: Stereotypa kai mythologies [Stereotypen und Mythen]. In: Ta Nea, 17. April 2009. Abgerufen unter URL: http://www.tanea.gr/old-­page-­categories/books/ article/4512728/?iid=2, letzter Zugriff: 22. 09. 2017. 2 So zum Beispiel Sotiris Valnten: Paratairoi etairoi. Elliniki diktatoria, kommunistika kathes­ tota kai Valkania, 1967 – 1974 [Distanzierte Partner. Die griechische Diktatur, die kommunistischen Regime und Südosteuropa, 1967 – 1974]. Athen 2009; Kostis Kornetis: Children of the Dictatorship: Student Resistance, Cultural Politics and the ›Long 1960s‹ in Greece. New York u. a. 2013.

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Königsdiktatur von General Ioannis Metaxas 1936 bis zur Gründung der ›Dritten Griechischen Republik‹ 1974 zu bewerten sei. Diese Betrachtungsweise resultiert aus der Erkenntnis, dass die so genannte Diktatur der Obristen im Wesent­ lichen die Folge einer tiefen politischen und sozialen Spaltung der griechischen Gesellschaft sei, die schon während der deutschen Besatzungszeit (1941 – 1944) gewalttätige Züge angenommen habe und durch den darauffolgenden Bürgerkrieg (1944 – 1949) zum dominierenden Faktor der innenpolitischen Entwicklung des Landes in den nächsten Jahrzehnten geworden sei. Weder der Staatsstreich des 21. April noch die politischen Zielsetzungen der Putschisten nach der Machtergreifung können ohne Einbeziehung der vorhergegangenen drei Jahrzehnte angemessen analysiert werden. Die von Oberst Georgios Papadopoulos angeführte Junta steht in einem engen Kontinuitätsverhältnis zu dem besagten Spaltungsprozess, der bereits 1936 seinen Anfang nahm und bis 1967 verschiedene Phasen durchlaufen hatte. In gewisser Hinsicht kann man die von den Putschisten als ›Revolution des 21. April‹ gefeierte Machtergreifung und deren siebenjähriges Regime als die letzte Phase d ­ ieses Prozesses betrachten.3 Demzufolge kann der vergangenheits- und geschichtspolitische Umgang mit der Athener Junta nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss im breiteren Kontext der Überwindung der in der Besatzungs- und Bürgerkriegszeit aufgerissenen Gräben gesehen werden. In d­ iesem Sinne verfolgt der vorliegende Aufsatz das Ziel, die Perspektive zu weiten und die Aufarbeitung der Junta-­Vergangenheit im postdiktatorischen Griechenland in ihrer tiefen Verflochtenheit mit der Bewältigung der Folgen von insgesamt vier Jahrzehnten innerer Zerrissenheit, politischer Unterdrückung, Fremdeinwirkung und -bestimmung sowie einer über längere Zeitabschnitte andauernden Ausnahmesituation zu untersuchen.

1. Vom ›Regime des 4. August‹ zur ›Revolution des 21. April‹ Griechenland ging aus dem E ­ rsten Weltkrieg trotz der territorialen Erweiterung um Westthrakien im Inneren erschüttert hervor. Neben der so genannten Kleinasiatischen Katastrophe, also der im Spätsommer 1922 erfolgten Vertreibung von über 1 Million Griechen aus der Hafenstadt Izmir und dem westanato­ lischen Hinterland durch die Truppen Kemal Atatürks warf der Gegensatz 3 Siehe dazu ausführ­licher Adamantios Skordos: Die Diktatur der Jahre 1967 bis 1974 in der griechischen und internationalen Historiographie. In: Stefan Troebst (Hrsg.): Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Göttingen 2010, S. 112 – 204, hier S.  132 – 142.

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z­ wischen republikanischen ›Venizelisten‹ und könig­lichen ›Antivenizelisten‹ einen schweren Schatten auf die innenpolitische Entwicklung Griechenlands. Die in die Geschichte als ›Nationale Spaltung‹ eingegangene Aufsplitterung des bürger­lichen Lagers in diese beiden Gruppen war das Ergebnis der Unstimmigkeit z­ wischen Premierminister Eleftherios Venizelos und König Konstantin I. in der Frage des Eintritts Griechenlands in den E ­ rsten Weltkrieg aufseiten der Entente. Während Venizelos ein starker Befürworter des Eintritts war, plädierte der König – auch aufgrund seiner engen persön­lichen Bindung zu Deutschland – für die Neutralität seines Landes. Nach längeren Querelen entließ der König im Frühling 1915 seinen Ministerpräsidenten. Im Spätsommer 1915 führte dann Venizelos mit Unterstützung der ihm treuen Offiziere einen Putsch gegen die royalistische Regierung in Athen durch und bildete ein eigenes ›provisorisches‹ Regierungskabinett in Thessaloniki. Auf Druck der Entente musste König Konstantin im Juni 1917 Griechenland verlassen und sein zweiter Sohn Alexander wurde zu seinem Nachfolger ernannt. Daraufhin kehrte Venizelos auf den Posten des Ministerpräsidenten zurück. Seine Regierung führte im Staatsdienst und in der Armee eine großangelegte Säuberungsaktion gegen die so genannten Germanophilen, also die Anhänger Konstantins durch, wodurch sich die Kluft ­zwischen Venizelisten und Antivenizelisten nur noch vergrößerte. Nachdem sich die Venizelisten durchgesetzt hatten, nahm Griechenland spät am ­Ersten Weltkrieg aufseiten der Ententemächte teil. Dafür wurde es mit Gebietsgewinnen belohnt, wodurch die nordöst­liche Staatsgrenze in unmittelbare Nähe Konstantinopels verschoben wurde. Die besagte ›Kleinasiatische Katastrophe‹, für die vonseiten der Venizelisten der Ende 1920 aus dem Exil zurückgekehrte König Konstantin und seine royalistische Regierung verantwort­lich gemacht wurden, führte zu einer weiteren Zuspitzung des innenpolitischen Konflikts, insbesondere nachdem die Venizelisten sechs königstreue Politiker und Offiziere als ›Vaterlandsverräter‹ hingerichtet hatten. Mit Ausnahme der Jahre ­zwischen 1928 und 1932, in denen Premierminister Venizelos eine volle Legislaturperiode regierte, war die Zwischenkriegszeit durch politische Instabilität, die im Konflikt ­zwischen den beiden verfeindeten Blöcken wurzelte, geprägt: Die Monarchie wurde 1924 abgeschafft und 1935 wieder eingeführt, in den Jahren 1925 bis 1926 errichtete General Theodoros Pangalos eine kurzlebige Militärdiktatur, 1933 und 1935 versuchten ›venizelistische‹ Offiziere gegen ›antivenizelistische‹ Regierungen erfolglos zu putschen, und 1933 wurde ein Attentat auf Venizelos verübt, das er unversehrt überlebte.4

4 Richard Clogg: A Concise History of Greece. Cambridge 22007, S.  83 – 91.

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Abb. 1  Ioannis Metaxas in seinem Büro, Athen ca. 1938.

Nachdem in den Wahlen vom Januar 1936 keine der beiden Blöcke ein Ergebnis erzielt hatte, das die Bildung einer Regierungsmehrheit ermög­lichte, ernannte König Georg II. im April desselben Jahres General Ioannis Metaxas zum Ministerpräsidenten einer Interimsregierung. Unter dem Vorwand der Verhinderung eines bevorstehenden, durch die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) ausgerufenen Generalstreiks setzte Metaxas am 4. August 1936 mit der Zustimmung des Königs mehrere Artikel der Verfassung außer Kraft und löste das Parlament auf. In seiner Radioansprache an das griechische Volk vom 10. August begründete Metaxas die Auflösung des Parlamentes durch die kommunistische Gefahr, die seit längerem die wichtigsten Institutionen des griechischen Staates, näm­lich das Militär, das Bildungswesen und das Beamtentum, untergrabe.5 In einem späteren Eintrag in seinem Tagebuch hielt der Diktator fest, dass »Griechenland am 4. August zu einem antikommunistischen, antiparlamentarischen und totalitären Staat wurde«.6 Auch wenn

5 Diangelma pros ton laon dia tin metavolin tis 4. Afgoustou 1936 [Erklärung an das Volk bezüg­ lich der politischen Veränderung vom 4. August 1936]. In: Regierungskanzlei (Hrsg.): Ioannis Metaxas. Logoi kai skepseis, 1936 – 1941 [Ioannis Metaxas. Reden und Überlegungen]. Bd. 1: 1936 – 1938, Athen 1969, S. 16 – 18. 6 Michalis N. Katsigeras: I Ideologia tis »4. Avgoustou« [Die Ideologie des Regimes des »4. August«]. In: Kathimerini, 7. August 2016, S. 5.

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das ›Regime des 4. August‹ das faschistische Italien und nationalsozialistische Deutschland als große Vorbilder hatte und bei diesen beiden Regimes propagandistische Anleihen nahm, so blieb es letztend­lich eine autoritär-­paternalistisch ausgerichtete Diktatur, die weder eine breite Unterstützung im Volk hatte noch ein radikales politisches Programm verfolgte. Damit war sie den anderen südosteuropäischen Königsdiktaturen dieser Zeit weitaus ähn­licher als dem italienischen Faschismus oder dem deutschen Nationalsozialismus. Immerhin erhielt ein Teil der Putschisten von 1967 während der Metaxas-­Diktatur ihre militärische Grundund Offiziersausbildung.7 Ideologische Grundpfeiler des Regimes von Metaxas waren ein exzessiver Antikommunismus und seine Begeisterung für das antike Griechenland. Als großes programmatisches Ziel wurde die Entwicklung einer so genannten Dritten Hellenischen Zivilisation ausgerufen, die an Vorläufer im antiken Griechenland und im Byzantinischen Reich anknüpfen sollte. Tatsäch­lich fokussierte sich die Propaganda des Regimes auf das antike Sparta, das nicht nur wegen der berüchtigten Disziplin und den militärischen Errungenschaften seiner Soldaten, sondern auch wegen der autoritären Regierungsstrukturen zum gesellschaft­lichen Vorbild erkoren wurde. Das Gebiet, auf dem die Metaxas-­Diktatur ihre größten Erfolge feiern konnte, war die Bekämpfung der KKE durch die Festnahme der Parteiführung und deren Verbannung auf abgelegene Inseln sowie durch die Durchdringung der Partei mit Mitarbeitern der Staatssicherheit. Zudem wurden viele Mitglieder der KKE gezwungen, ihrer Partei und dem Kommunismus als Feind der griechischen Nation in der Öffent­lichkeit abzuschwören. Wäre der Zweite Weltkrieg nicht ausgebrochen, dann hätte das ›Regime des 4. August‹ die KKE wohl restlos zerschlagen.8 Trotz der faschistoiden Ausrichtung seines Regimes blieb Metaxas außenpolitisch Großbritannien nahe. 1938 schlug er sogar London einen Allianzvertrag vor, den die Briten allerdings ablehnten. Mussolini, der in Anbetracht der deutschen Blitzkriegerfolge einen zunehmenden Druck verspürte, ähn­liche militärische Erfolge vorzuweisen, stellte am 28. Oktober 1940 Athen ein Kapitulationsultimatum. Dieses lehnte Metaxas unverzüg­lich ab. Daraufhin griff das faschistische Italien Griechenland an. Nachdem die griechischen Streitkräfte die italienische Offensive wider Erwarten abgewehrt hatten, startete NS-Deutschland im April 7 Meletis Meletopoulos: I diktatoria ton syntagmatarchon. Koinonia – ideologia – Oikonomia [Die Diktatur der Obristen. Gesellschaft – Ideologie – Ökonomie]. Athen 22000, S. 45 f. 8 Giorgos Kontogiorgis: To aftarchiko fainomeno: »4. Avgoustou« – »21. Apriliou«. Ermineftikes prosengiseis [Das autoritäre Phänomen: »Das Regime des 4. August« – »Das Regime des 21. April«. Eine analytische Herangehensweise]. Athen 2003, S. 95 – 127.

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1941 einen Angriff, der die dreifache militärische Besatzung Griechenlands zur Folge hatte. Neben den siegreichen deutschen marschierten bulgarische und italienische Truppen ein, die große Teile des griechischen Nordens – das heißt das griechische Makedonien (auch Ägäis-­Makedonien genannt) und Westthrakien – okkupierten.9 Metaxas war inzwischen im Januar 1941 gestorben. Im Rahmen der ›Volksfrontpolitik‹ gegen den Faschismus, w ­ elche die Komin­tern bereits 1935 den kommunistischen Parteien Europas diktiert hatte,10 ­gründeten die nach dem italienischen Angriff freigelassenen Kommunisten im September 1941 die Nationale Befreiungsfront (EAM ) und riefen alle Griechen auf, sich unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung ihnen anzuschließen. Durch diese so genannte Volksfrontstrategie gewann die KKE an politischem Einfluss.11 Die Entwicklung der von den griechischen Kommunisten kontrollierten EAM zu einer Massenbewegung ab Mitte 1943 wurde von der britischen Militärmission in Griechenland und dem inländischen antikommunistischen Lager mit großer Sorge zur Kenntnis genommen. Die Angst vor einer kommunistischen Machtübernahme nach dem Ende der Besatzungszeit wuchs täg­lich – genauso wie die militärische Stärke der Griechischen Volksbefreiungsarmee (ELAS ), des militärischen Arms der EAM .12 Neben anderen Beweggründen spielte bei einem Teil der griechischen Gesellschaft auch die Angst vor einer kommunistischen Machtergreifung eine wichtige Rolle bei der Entscheidung, nicht nur politisch, sondern auch militärisch mit den Deutschen zu kollaborieren. Mehr als 20.000 Männer schlossen sich den so genannten Sicherheitsbataillonen an. Diese waren im November 1943 von der Athener Kollaborationsregierung unter Ioannis ­Rallis aufgestellt worden und wurden von der deutschen Besatzungsmacht ausgerüstet. Ihr öffent­lich erklärtes Hauptziel bestand darin, die »kommunistischen Banden« zu bekämpfen.13 Die militärische Kollaboration 9 Siehe u. a. Heinz A. Richter: Griechenland im Zweiten Weltkrieg. Mannheim 1997; Mark Mazower: Inside Hitler’s Greece. The Experience of Occupation, 1941 – 1944. Yale 1995, S.  1 – 10. 10 David Priestland: Weltgeschichte des Kommunismus. Von der Französischen Revolution bis heute. Bonn 2010, S. 243 (Originalausgabe: The Red Flag. A History of Communism. New York 2009). 11 Vaios Kalogrias: Die KKE und der Bürgerkrieg in Griechenland 1946 – 1949 ( Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2010), S. 31 – 47, hier S. 34 – 35; Matthias Esche: Die kommunistische Partei Griechenlands, 1941 – 1944. Ein Beitrag zur Politik der KKE vom Beginn der Resistance bis zum Ende des Bürgerkriegs. München u. a. 1982, S. 42 – 66. 12 Kaspar Dreidoppel: Der griechische Dämon. Widerstand und Bürgerkrieg im besetzten Griechenland 1941 – 1944. Wiesbaden 2009, S. 331 – 342. 13 Polymeris Voglis: I elliniki koinonia stin katochi, 1941 – 1944 [Die griechische Gesellschaft während der Besatzungszeit, 1941 – 1944]. Athen 2010, S. 130 – 134; Tasos Kostopoulos:

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mit den Nazis aus antikommunistischen Beweggründen breitete sich selbst auf rechtsgesinnte bzw. bürger­liche Widerstandsverbände aus, die ursprüng­lich zur Befreiung Griechenlands von den Achsenmächten ins Leben gerufen worden waren.14 Im makedonischen Nordgriechenland wurden im Zuge der ethnopolitischen Rivalitäten auch nationalistische Formationen griechischer, bulgarischer, albanischer und aromunischer Ausrichtung direkt von der deutsch-­italienisch-­ bulgarischen Besatzungsmacht gegründet. Wie in anderen besetzten Gebieten instrumentalisierten die Achsenmächte ethnische und sprach­liche Minderheiten im Sinne einer divide-­et-­impera-­Besatzungspolitik, indem sie diese gegenein­ ander ausspielten. Neben Angehörigen von Minoritäten, die vor allem in den Jahren der Metaxas-­Diktatur einem repressiven Assimilierungsdruck vonseiten des griechischen Staates ausgesetzt waren, und den besagten antikommunistisch motivierten ›Sicherheitsbataillonisten‹ stellten schließ­lich auch skrupellose Verbrecher, die auf eine schnelle Bereicherung abzielten, den Besatzern ihre Dienste zur Verfügung.15 Aufgrund mehrerer Indizien liegt der Verdacht nahe, dass et­liche der Obristen, die den April-­Umsturz von 1967 durchführten, während der Besatzungszeit Mitglieder der auf Seiten der deutschen Wehrmacht und SS-Truppen kämpfenden ›Sicherheitsbataillone‹ gewesen waren. Vor allem über die Tätigkeit von Juntachef Georgios Papadopoulos wurde und wird weiterhin heftig spekuliert, da es bis heute nicht mög­lich war, eindeutige Beweise für die Kollaboration des damals jungen Offiziers zu erbringen. Jedenfalls schufen die Obristen unmittelbar nach ihrer Machtergreifung einen gesetz­lichen Rahmen, um die ehemaligen ›Sicherheitsbataillonisten‹ in den Korpus der Kämpfer des ›Nationalen Widerstands‹ zu integrieren, so dass auch diese in den Genuss ökonomischer Vergünstigungen kommen könnten. Insbesondere erließen sie eine Reihe von Gesetzen, durch die der »Kampf gegen den fremdgesteuerten Kommunismus« als ebenbürtiger Dienst

I aftolokrimeni mnimi. Ta tagmata asfaleias kai i metapolemiki ethnikofroysni [Die selbstzensierte Erinnerung. Die Sicherheitsbataillone und die Nationalgesinnten der Nachkriegszeit]. Athen 32005, S.  15 – 48; Stratos N. Dordanas: Ellines enantion Ellinon. O kosmos ton tagmaton asfaleias stin katochiki Thessaloniki, 1941 – 1944 [Griechen gegen Griechen. Die Welt der Sicherheitsbataillone im Thessaloniki der Besatzungsjahre]. Thessaloniki 2006, S.  10 – 23. 14 Ole L. Smith: »The First Round« – Civil War during the Occupation. In: David H. Close (Hrsg.): The Greek Civil War, 1943 – 1950. Studies of Polarization. London 1991, S. 58 – 71, hier S. 67. – Zu bürgerkriegsähn­lichen Auseinandersetzungen im makedonischen Nordgriechenland siehe Vaios Kalogrias: Makedonien 1941 – 1944. Okkupation, Widerstand, Kollaboration. Mainz u. a. 2008, S. 239 – 249. 15 Kostopoulos: I aftolokrimeni mnimi (wie Anm. 13), S.  17 – 23.

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für die Nation zu jenem des Widerstands gegen die Besatzungsmächte anerkannt wurde.16 Diese Rechtfertigungs- und Rehabilitierungsargumentation war nicht neu. Bereits in den Gerichtsprozessen, die in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre stattfanden, hatten politisch befangene Gerichte zahlreiche Kollaborateure freigesprochen, indem sie in ihren Urteilen festhielten, dass die ursprüng­lichen Motive, die hinter der Errichtung von Sicherbataillonen standen, »patriotisch« gewesen ­seien, und zwar »die Wiederherstellung der Ordnung auf dem Land und in den Städten, die durch die Tätigkeit krimineller Elemente gefähr­lich gestört war«. Dass die Sicherheitsbataillone von ihrer ursprüng­lichen Mission entgleist ­seien und Verbrechen gegen »unschuldige Griechen« verübt hätten, sei ausschließ­lich »den Deutschen« anzulasten.17 Der Guerillakrieg der Besatzungsjahre ­zwischen linken und rechten Partisanenverbänden eskalierte 1946 in einer dreijährigen militärischen Auseinandersetzung großen Ausmaßes ­zwischen der Athener Regierung und der kommunistischen Demokratischen Armee Griechenlands (DSE). Unmittelbar nach der Befreiung von den Besatzungsmächten hatten im Dezember 1944 in Athen die so genannten Dezemberereignisse stattgefunden. Kommunistische Einheiten lieferten sich mit regierungstreuen und britischen Truppen einen einmonatigen Straßen- und Häuserkampf, den Letztere für sich entschieden. Während dieser militärischen Auseinandersetzung in der Hauptstadt wurde eine große Anzahl von ehemaligen Kollaborateuren in die Regierungstruppen aufgenommen mit dem Ziel, die numerische Überlegenheit der Kommunisten zugunsten der auf einer Seite kämpfenden Briten, rechtsradikalen Milizen und staat­lichen Ordnungskräfte auszugleichen. Diese Rekrutierung stellte den Beginn eines in den folgenden Bürgerkriegsjahren massenhaft erfolgten Übertritts von Kollaborateuren aus den Reihen der Sicherheitsbataillone in die griechisch-­bürger­liche Armee dar. In ihren Lebensläufen führten mehrere Juntamitglieder an, dass sie am ›Kampf um Athen‹ teilgenommen hätten, ohne allerdings zusätz­liche Angaben zu machen.18 Nach den so genannten Dezemberereignissen verschärfte sich die Verfolgung des linken Lagers durch staat­liche Sicherheitskräfte und paramilitärische Banden. Der so genannte Weiße Terror hatte die Flucht zahlreicher politisch Verfolgter in die Berge und den Zusammenschluss bewaffneter Verbände zur Folge. Nach den Wahlen am 31. März 1946, aus denen ein monarchistisches Bündnis als Sieger hervorging, nahm die militante Tätigkeit der Kommunisten zu. In der zweiten Hälfte des Jahres 1946 gelang es den kommunistischen Partisanen, 16 Ebd., S. 73. 17 Ebd., S. 59. 18 Ebd., S. 46.

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große Teile Nordthessaliens und des griechischen Westmakedoniens unter ihre Kontrolle zu bringen, wo sie das so genannte Freie Griechenland errichteten. Die kommunistische Armee, die kurz vor Sommer 1948 mit 26.000 Männern und Frauen ihre größte Stärke erreichte, wurde von Albanien, Bulgarien und vor allem ­Jugoslawien militärisch ausgerüstet und auch anderweitig unterstützt.19 Auch wenn die Athener Regierungstruppen an Ausrüstung, ausgebildeten Offizieren und Rekruten überlegen waren, konnten sie für sehr lange Zeit den Aktionsradius der DSE kaum einschränken. Im März 1947 sahen sich daher die USA gezwungen, im Rahmen der Truman-­Doktrin die Schutzmachtfunktion für Griechenland von den Briten zu übernehmen und sich fortan für den bürger­ lichen Sieg stark zu engagieren.20 Der antikommunistische Kampf wurde nationalistisch legitimiert. Den Gegnern warf man vor, sie kämpften nicht für ein demokratisches Griechenland, sondern im Dienste der slawischen Expansion in Richtung öst­liches Mittelmeer. Der Feind wurde im antikommunistischen Diskurs enthellenisiert und gleichzeitig slawisiert. Zunehmend war nur noch von »Slawokommunisten« die Rede.21 19 Nikos Marantzidis/Kostas Tsivos: O ellinikos emfylios kai to diethnes komounistiko systima. To KKE mesa apo ta tsechika archeia, 1946 – 1968 [Der Griechische Bürgerkrieg und das internationale kommunistische System, 1946 – 1968]. Athen 2012; Nikos ­M arantzidis: Dimokratikos Stratos Elladas, 1946 – 1949 [Die Demokratische Armee Griechenlands, 1946 – 1949]. Athen 2010; Vasilis Kontis/Spyridon Sfetas (Hrsg.): Emfylios polemos. Engrafa apo ta gioungoslavika kai voulgarika archeia [Der Bürgerkrieg. Dokumente aus den bulgarischen und jugoslawischen Archiven]. Thessaloniki 1999. 20 John O. Iatrides: Britain, the United States, and Greece. In: Close (Hrsg.): The Greek Civil War (wie Anm. 14), S.  190 – 213. 21 Siehe ausführ­licher dazu Adamantios Skordos: Griechenlands Makedonische Frage. Bürgerkrieg und Geschichtspolitik im Südosten Europas, 1945 – 1992 (Moderne europäische Geschichte, 2). Göttingen 2012, S. 128 – 137; Adamantios Skordos: Makedonischer Namensstreit und griechischer Bürgerkrieg. Ein kulturhistorischer Erklärungsversuch der griechischen Makedonien-­Haltung 1991. In: Südosteuropa Mitteilungen 51 (2011) 4, S. 36 – 56. – Die griechische Angst vor dem slawischen Expansionismus in den 1940er Jahren war kein »wurzelloses« Phänomen. Die Bedrohungsvorstellung von einer den Hellenismus gefährdenden »panslawischen Flut« hatte sich unter griechischen Nationalisten bereits Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitet, als sich diese im Zuge eigener imperialer Vorstellungen und Pläne mit slawischen Einigungsbestrebungen und russischen Vormachtansprüchen in Südosteuropa konfrontiert sahen. Siehe dazu ausführ­licher Adamantios Th. Skordos: Das panslawische Feindbild im Griechenland des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Südost-­Forschungen 71 (2012), S.  78 – 107; Adamantios Theodor Skordos: Vom »großrussischen Panslavismus« zum »sowjetischen Slavokommunismus«: Das Slaventum als Feindbild bei Deutschen, Österreichern, Italienern und Griechen im 19. und 20. Jahrhundert. In: Agnieszka Gąsior/Lars Karl/Stefan Troebst (Hrsg.): Post-­Panslavismus: Slavizität, Slavische Idee und Antislavismus im 20. und 21. Jahrhundert, Göttingen 2014, S. 390 – 428.

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Der griechische Bürgerkrieg endete im Sommer 1949 mit der Niederlage der kommunistischen Armee in den Gebirgen von Grammos und Vitsi. Infolgedessen flüchteten z­ wischen 70.000 und 100.000 Kommunisten über die nörd­lichen Grenzen nach Albanien, darunter zwei Drittel griechischsprachige Hellenen und ein Drittel slawophone Bürger aus dem griechischen Makedonien. Sie wurden als politische Flüchtlinge auf die UdSSR, Polen, Tschechoslowakei, Rumänien, Ungarn und die DDR aufgeteilt, wo sie bis zu ihrer Rückkehr nach Griechenland Anfang der 1980er Jahre lebten.22 Nach Ende des Bürgerkrieges hielt die Diskriminierung und Unterdrückung der von der Polizei als Kommunisten verdächtigten Bürger an. Die in der Verfassung von 1952 verankerten politischen Freiheiten wurden durch eine Reihe von Beschlüssen, Verfassungsakten, Dekreten und Notstandsgesetzen, die mehrheit­ lich als so genannte außerordent­liche Maßnahmen während des Bürgerkrieges erlassen worden waren und in die Geschichte als ›Nebenverfassung‹ (Parasyntagma) eingingen, stark eingeschränkt.23 Ein aussagekräftiges Beispiel dafür, wie mittels Letzterer die in der Verfassung von 1952 garantierten Freiheiten sowie die postulierte Gleichheit aller Bürger wieder außer Kraft gesetzt wurden, ist das 1948 verabschiedete und nach Bürgerkriegsende weiter bestehende Not­g esetz 516 ›Über die Loyalitätskontrolle der öffent­lichen Bediensteten‹. Darin wurde festlegt, dass Bewerber für eine Stelle im öffent­lichen Dienst ein von den Polizeibehörden ausgestelltes ›Zeugnis sozialer Gesinnung‹ bei den dafür eigens eingerichteten Loyalitätsausschüssen vorzuweisen hätten. Bürgern, die einer kommunistischen oder linken politischen Ausrichtung verdächtigt wurden, blieb ­dieses Zeugnis verwehrt.24 Neben außerordent­lichen Maßnahmen und Notstandsgesetzen, w ­ elche die politischen Freiheiten der Bevölkerungsteile massiv einschränkten, die nicht dem Lager der Bürgerkriegssieger angehörten, bedienten sich die Bürgerkriegssieger eines parastaat­lichen Netzwerkes, das

22 Siehe u. a. Eftichia Voutira u. a. (Hrsg.): »To oplo para poda«. Oi politikoi prosfiges tou ellinikou emfiliou polemou stin anatoliki Evropi [»Gewehr bei Fuß«. Die politischen Flüchtlinge des Bürgerkriegs in Osteuropa]. Thessaloniki 2005. 23 Nikos Alivizatos: Oi politikoi thesmoi se krisi (1922 – 1974). Opseis tis ellinikis empeirias [Die politischen Institutionen in der Krise. Dimensionen des griechischen Falles]. Athen 1985; Nikos Alivizatos: The »Emergency Regime« and Civil Liberties, 1946 – 1949. In: John O. Iatrides (Hrsg.): Greece in the 1940s. A Nation in Crisis. Hanover 1981, S. 220 – 228; Ilias Nikolakopoulos: I kachektiki dimokratia. Kommata kai ekloges, 1946 – 1967 [Die kränkelnde Demokratie. Parteien und Wahlen, 1946 – 1967]. Athen 2000. 24 Alivizatos: The »Emergency Regime« (wie Anm. 23), S.  220 – 228; Theodoros ­L agaris: Innerer Feind, Nation und Demokratie. Zum Legitimationsprozess in Griechenland nach dem Bürgerkrieg. Baden-­Baden 2000, S. 105 f.

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die Zeitgenossen als ›Nebenstaat‹ oder ›Parallelstaat‹ bezeichneten. Dieser ›Neben‹ oder ›Parallelstaat‹ setzte sich aus Organisationen zusammen, die entweder staat­lich geduldet waren oder sogar in enger Zusammenarbeit mit den staat­lichen Sicherheitsdiensten tatsäch­liche oder vermeint­liche Regimegegner, insbesondere auf dem Land einschüchterten.25 Die einflussreichste parastaat­liche Organisation war der so genannte Heilige Bund Griechischer Offiziere (IDEA ), dem auch der spätere Diktator Georgios Papadopoulos angehörte.26 Aufgrund der schwerwiegenden demokratischen Defizite hat der griechische Politologe und Historiker Ilias Nikolakopoulos das politische System, das z­ wischen dem Ende des Griechischen Bürgerkrieges und dem Beginn der siebenjährigen Militärdiktatur in Griechenland existierte, als »kränkelnde Demokratie« bezeichnet.27 Zum großen Hoffnungsträger der reformwilligen Bevölkerungsteile entwickelte sich Anfang der 1960er Jahre die liberale Partei Zentrumsunion (EK ) von Georgios Papandreou. Dieser strebte im Wesent­lichen einen Kompromiss ­zwischen der Bewahrung der alten Machtstrukturen und einer sukzessiven Integration der Bürgerkriegsverlierer an.28 Papandreou konnte nach den gewonnenen Wahlen vom Februar 1964 die Regierungsverantwortung übernehmen, und die Hoffnung vieler Menschen auf mehr Demokratie und Gerechtigkeit schien tatsäch­lich in Erfüllung zu gehen.29 Dies sahen nicht alle so. In der Nacht vom 20. auf den 21. April 1967 riss eine Gruppe von 14 Obristen und einem Brigadier, die eine Demokratisierung des politischen Systems durch die EK befürchtet hatte, die Macht an sich und überging dabei den König, das konservative Establishment und nicht zuletzt ihre militärischen Vorgesetzten.30 Der Staatsstreich kam weit weniger überraschend als die Information über seine Urheber. In den letzten 25 Hagen Fleischer: Authoritarian Rule in Greece and its Heritage. In: Jerzy Borejsza/ Klaus Ziemer (Hrsg.): Totalitarian und Authoritarian Regimes in Europe. Legacies and Lessons from the Twentieth Century. New York 2006, S. 237 – 273, hier S. 250; David Close: The Legacy. In: Ders. (Hrsg.): The Greek Civil War, 1943 – 1950. Studies of Polarization. London 1993, S. 214 – 234, hier S. 214. 26 Pavlos Petridis: Exousia kai Paraexousia stin Ellada (1957 – 1967) : Aporrita dokoumenta [Staat­liche und parastaat­liche Macht in Griechenland (1957 – 1967): Geheime Akten]. Athen 2000. 27 Nikolakopoulos: I kachektiki dimokratia (wie Anm. 23). 28 Dimitris Charalampis: Stratos kai politiki exousia. I domi tis exousias stin metemfyliaki Ellada [Armee und politische Macht. Die Machtstruktur im Nachbürgerkriegsgriechenland]. Athen 1985, S. 288 f. 29 Nikolakopoulos: I kachektiki dimokratia (wie Anm. 23), S.  339 – 363. 30 Solon Grigoriadis: Istoria tis synchronis Elladas, 1941 – 1974. Diktatoria 1967 – 1974 [Geschichte des modernen Griechenland. Diktatur 1967 – 1974]. Bd. 3. Neuaufl. v. 1973, Athen 2011, S.  73 – 107.

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Monaten des Jahres 1966 war eine Verschwörung des Königs, der Generäle und einiger konservativer Politiker – nachträg­lich als ›große Junta‹ bezeichnet – im Gang und das Szenario eines könig­lichen Putsches zirkulierte in der Öffent­ lichkeit.31 Aus US-amerikanischen Akten geht hervor, dass der König und die ihm treuen Generäle auf ein Zugeständnis seitens Washingtons zur Durchführung des Putsches warteten. Nachdem ­dieses ausgeblieben war, zögerte der junge Monarch, dem Militär grünes Licht für einen Eingriff zu geben.32 Daraufhin beschloss die von Oberst Georgios Papadopoulos, Brigadier Stylianos Pattakos und Oberst Nikolaos Makarezos angeführte konspirative Offiziersgruppe – nachträg­lich als ›kleine Junta‹ bezeichnet –, eigenständig zu handeln und die militärische Hierarchie außer Kraft zu setzen. Später zog Pattakos bei der Rechtfertigung des Staatsstreiches Parallelen zum antiken Sparta, wo man angesichts der persischen Gefahr gegen das Gesetz verstoßen und zur ›Rettung der Heimat‹ die Bewaffnung der Sklaven zugelassen habe. Analog hätten die Putschisten des 21. April gehandelt, indem sie im vollen Bewusstsein des begangenen Rechtsbruchs ihre Vorgesetzten übergingen, um eine nationale Gefahr abzuwenden.33 Die neuen Machthaber gaben unmittelbar nach dem Putsch eine Erklärung ab. Sie hätten handeln müssen, um Griechenland in »allerletzter Minute« vor einem »erneuten kommunistischen Machtergreifungsversuch«, dem politischen Chaos und der »Filzokratie« der politischen Klasse zu retten.34 Diktator Papadopoulos verg­lich in seiner Auftaktrede als neuer Staatskanzleiminister Griechenland mit einem schwer kranken Patienten, der so lange im »Gipsverband« bleiben müsse, bis er sich wieder auf dem sicheren Weg der Genesung befinde: »Vergessen Sie nicht, meine Herren, dass wir es mit einem Patienten zu tun haben, der auf dem Operationstisch liegt. Wenn der Chirurg ihn nicht für die Dauer der Operation mit Ledergurten fixiert und narkotisiert, dann besteht die Gefahr, dass die Operation misslingt und zu seinem Tod führt.« 35 In den ersten Tagen des Putsches fanden Massenrazzien statt, bei denen tatsäch­ liche und vermeint­liche Kommunisten festgenommen und ohne Gerichtsprozess in ein Gefängnis gesteckt oder auf eine Insel verbannt wurden. Die willkür­lichen 31 Tasos Vournas: Istoria tis synchronis Elladas, 1967 – 1974. Chounta – Fakelos Kyprou [Geschichte des modernen Griechenland. Junta – Zypern-­Akte]. Athen 1986, S. 7. 32 Alexis Papachelas: O viasmos tis ellinikis dimokratias [Die Vergewaltigung der griechischen Demokratie]. Athen 2007, S. 237; Sotiris Rizas: I elliniki politiki meta ton emfylio. Koinovouleftismos kai dimokratia [Die Politik in Griechenland nach dem Bürgerkrieg. Parla­ mentarismus und Demokratie]. Athen 2008, S. 394 – 397. 33 Meletopoulos: I diktatoria ton syntagmatarchon (wie Anm. 7), S. 56 f. 34 Grigoriadis: Istoria tis synchronis Elladas (wie Anm. 30), S. 106 f. 35 Meletopoulos: I diktatoria ton syntagmatarchon (wie Anm. 7), S. 34.

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Abb. 2  Proteste gegen die griechische Junta während einer Maikundgebung in Stuttgart 1967.

Festnahmen, die Deportationen auf Inseln, die Inhaftierungen ohne einen gericht­ lichen Haftbefehl, die Folterungen sowie die Unterdrückung verschiedener Grundrechte durch militärische Erlasse wurden auch nach den ersten, für die Durchsetzung des Staatsstreiches kritischen Wochen und Monate fortgesetzt. Während der Jahre ­zwischen 1967 und 1974 wurden über 80.000 Bürger aufgrund ihrer politischen Überzeugung festgenommen, wobei die allerwenigsten in einem Gerichtsverfahren verurteilt wurden.36 Die politische Natur der griechischen Militärdiktatur lässt sich nur schwer bestimmen. Es gab nur wenige Überzeugungen und Zielsetzungen, die alle so genannten Aprilianer teilten: Die ›Köpfe‹ der Junta zeichneten sich durch eine politische Fixierung auf das griechische historische Erbe und eine zur Schau gestellte Religiosität aus. Außerdem betonte die Gruppe um Papadopoulos in ihren Reden und Werken immer wieder die Notwendigkeit, die Griechen politisch zu bilden. Richard Clogg hat darüber hinaus auf eine Reihe von Parallelitäten zur Metaxas-­Diktatur der Jahre 1936 – 1940 hingewiesen: Der Hass auf die politische Elite des Landes, der leidenschaft­liche Antikommunismus, die Synthese

36 Alivizatos: Oi politikoi thesmoi (wie Anm. 23), S. 602 f.; siehe auch den Beitrag von Janis Nalbadicacis im vorliegenden Band.

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altgriechischer Zivilisation und christ­lichen Glaubens, die Furcht vor dem Atheismus, Materialismus und der Unsitt­lichkeit – all dies ­seien unerläss­liche Bestandteile der Rhetorik und Ideologie sowohl von Ioannis Metaxas als auch der von ­Papadopoulos angeführten ›Aprilianer‹ gewesen.37

2. Die griechische Transition Nachdem der König im Dezember 1967 infolge eines gescheiterten Gegenputsches Griechenland verlassen hatte, schafften die so genannten Aprilianer im Sommer 1973 die Monarchie als Staatsform ab und ersetzten diese durch ein Präsidialsystem. Juntachef Georgios Papadopoulos ernannte sich selbst zum Präsidenten der Republik und ließ diese Selbstermächtigung durch ein Scheinplebiszit bestätigen.38 Das Ende der Junta kam dennoch abrupt. Die von Papadopoulos wegen des zunehmenden ausländischen Drucks eingeleitete Liberalisierung des Regimes begünstigte im November 1973 im Athener Polytechnikum einen Studentenaufstand gegen die Junta. Seiner blutigen Niederschlagung durch Polizei- und Militärtruppen in den frühen Morgenstunden des 17. November, bei der mindestens 23 Menschen ums Leben kamen, folgte die Absetzung Papadopoulos’ durch den Brigadier und Hardliner Dimitrios Ioannidis.39 Dieser, der zum Zeitpunkt der Amtsenthebung Papadopoulos’ Chef der Militärpolizei war, führte die nächsten sieben Monate die Regierungsgeschäfte hinter den Kulissen, weshalb er auch ›unscheinbarer Diktator‹ genannt wurde. Seinem Umsturz ging eine außenpolitische Niederlage voraus. Eine griechische Intervention auf Zypern gegen den dortigen Staatspräsidenten, Erzbischof Makarios, führte zum türkischen Eingriff auf der Insel. Ziel Ioannidis’ war, eine juntafreund­liche Regierung in Nikosia zu installieren, die einer Vereinigung der Insel mit Griechenland positiv gegenübergestanden hätte. Die türkische Entschlossenheit, auf den von Athen aus initiierten Putsch gegen Makarios mit einer militärischen Invasion zu reagieren, überraschten Ioannidis und die Führung der griechischen Streitkräfte, die aus unerklär­lichen Gründen der festen Überzeugung waren, dass Ankara eine Vereinigung Zyperns

37 Richard Clogg: I ideologia tis »epanastaseos tis 21. Apriliou 1967« [Die Ideologie der »Revolution des 21. April«]. In: Nikos Giannopoulos/Richard Clogg (Hrsg.): I Ellada kato apo stratiotiko zigo [Griechenland unter Militärherrschaft]. Athen 1976, S. 81 – 112. 38 Nikos Alivizatos: To syntagma kai oi echthroi tou sti neoelliniki istoria, 1800 – 2010 [Die Verfassung und ihre Feinde in der neugriechischen Geschichte, 1800 – 2010]. Athen 2011, S.  412 – 4 43. 39 Grigoriadis: Istoria tis synchronis Elladas (wie Anm. 30), S.  763 – 828.

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mit Griechenland hinnehmen würde. Die griechische Armee war für diesen Notfall nicht entsprechend vorbereitet.40 In der aussichtslosen Situation, in der sich Nikosia und Athen aufgrund der politischen Fehlkalkulation Ioannidis’ befanden, entschloss sich die Führung der griechischen Streitkräfte am 23. Juli 1974 für die Beendigung der Militärdiktatur und die Rückgabe der Macht an die praediktatorische politische Klasse. ­Ioannidis, dem zahlreiche mittelranginge Offiziere weiterhin blind gehorchten, sah sich gezwungen, diese Entscheidung zu respektieren. Dies geschah nicht nur unter dem Druck des auf Zypern in süd­licher Richtung vorrückenden türkischen Militärs, sondern auch aufgrund der (letztend­lich unbestätigt gebliebenen) Nachricht, dass 250 in Nordgriechenland stationierte Offiziere bereit s­ eien, gegen die Junta zu revoltieren. Die Generäle und die Vertreter der politischen Klasse, die an den Krisenverhandlungen teilnahmen, einigten sich auf Karamanlis als neuem Regierungschef. Zum einen genoss der konservative Politiker Konstantinos Karamanlis aus seinen früheren Regierungsjahren (1955 – 1963) das Vertrauen des siegreichen antikommunistischen Bürgerkriegslagers, zum anderen schien er zu ­diesem Zeitpunkt als einziger über die notwendige Autorität zu verfügen, um Griechenland aus dem zyprischen Desaster zu führen und einen mög­lichen erneuten Putschversuch juntatreuer Teile des Militärs zu verhindern.41 Karamanlis berief ein provisorisches Kabinett ein, das sich vorwiegend aus Vertretern des vordiktatorischen Establishments zusammensetzte, und leitete den Demokratisierungsprozess ein. Nachdem man in den ersten zwei Regierungsmonaten eine ›Entjuntafizierung‹ der Schlüsselpositionen innerhalb der griechischen Armee vorgenommen und somit den juntatreuen Offizieren wichtigen Boden für die Durchführung eines neuen Staatsstreichs entzogen hatte, wurde die Regierung der ›Nationalen Einheit‹ mutiger. So legalisierte etwa am 23. September 1974, nach insgesamt 27 Jahren und zur großen Ernüchterung des rechten Lagers, ausgerechnet der in früheren Zeiten überzeugte Antikommunist Karamanlis die 40 Sotiris Rizas: Oi Inomenes Politeies, i diktatoria ton syntagmatarchon kai to kypriako zitima 1967 – 1974 [Die USA, die Obristen-­Diktatur und die Zypern-­Frage, 1967 – 1974]. Athen 2 2004, S.  139 – 178; Sotiris Rizas: I elliniki politiki meta ton emfylio. Koinovouleftismos kai dimokratia [Die griechische Politik nach dem Bürgerkrieg. Parlamentarismus und Demokratie]. Athen 2008, S. 475 – 483; Grigoriadis: Istoria tis synchronis Elladas (wie Anm. 30), S.  829 – 900; Adamantios Theodor Skordos: Ethno-­Political Violence in Southeast Europe – The Cyprus Case. In: Austrian Review of International and European Law 19 (2014), S.  171 – 180. 41 Rizas: I elliniki politiki meta ton emfylio (wie Anm. 32), S.  484 – 489; Grigoriadis: Istoria tis synchronis Elladas (wie Anm. 30), S.  949 – 986; Stavros Psycharis: Ta paraskinia tis allagis [Hinter den Kulissen der Transition]. Neuaufl. v. 1975, Athen 2010, S. 89.

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KKE. Anschließend kündigte er für den symbolhaften 17. November 1974 Wahlen an, am ersten Jahrestag der Niederschlagung des studentischen Aufstands auf dem Gelände der Polytechnischen Hochschule Athens. Zudem gründete er noch vor den Wahlen die Partei mit dem prägnanten Namen ›Neue Demokratie‹ (ND). Die Wahlen, an denen auch die Panhellenische Sozialistische Bewegung (PASOK ) von Andreas Papandreou zum ersten Mal teilnahm, verliefen regelkonform und wurden von der ND mit 54 Prozent aller Wahlstimmen gewonnen. Beim Urnengang von 1974 ging es der Mehrheit der Griechen nicht zuletzt darum, den Demokratisierungsprozess ihres Landes fortzusetzen bzw. abzusichern und ein erneutes Eingreifen des Militärs in die innenpolitischen Geschehnisse zu verhindern. Dementsprechend überließen sie die Regierungsverantwortung den ›sicheren Händen‹ von Karamanlis, statt das weiterhin ultrakonservative Militär mit einer zu stark gewordenen Linken zu provozieren. Die ND war sich wiederum der Angst der Wähler vor einem Militärputsch bei einem zu linken Wahlergebnis durchaus bewusst und stellte das griechische Volk vor das Dilemma: »entweder Karamanlis oder die Panzer«.42 Gestützt durch diese Mehrheit gelang es Karamanlis, Griechenland von der undemokratischen Vergangenheit der vier vergangenen Jahrzehnte seit der Metaxas-­Diktatur zu lösen und den Bürgerkrieg endgültig zu beenden. Bereits drei Wochen nach dem Wahlsieg wurde ein Referendum zur zukünftigen Staatsform des Landes durchgeführt, in dem die Griechen ­zwischen parlamentarischer Monarchie und Republik wählen konnten. Der sich noch im Londoner Exil befindende König musste am 8. Dezember 1974 resigniert zur Kenntnis nehmen, dass ihm 70 Prozent der Griechen den Rücken gekehrt hatten. Der nächste Schritt Karamanlis’ auf dem Weg zu einem demokratischen Rechtsstaat war, die Verfassung von 1952, die durch den Bürgerkrieg geprägt war, durch eine liberale, den west­lichen Demokratien angepasste Konstitution zu ersetzen. Zudem wurden die zahlreichen Notgesetze antikommunistischer Stoßrichtung abgeschafft.43 Ein weiterer entscheidender Schritt in Richtung Demokratisierung wurde mit der strafrecht­lichen Verfolgung der Führungsspitze der griechischen Junta gemacht. Rechtsanwälte hatten im September und Oktober 1974 den Stein ins Rollen gebracht, als sie in Einzelverfahren gegen hochrangige Mitglieder des Juntaregimes geklagt hatten. Unter dem Druck der Öffent­lichkeit nahm daraufhin die Regierung Karamanlis eine Reihe von legislativen Eingriffen vor, die den Weg für eine Strafverfolgung der Putschisten des 21. April 1967 freimachten. Die

42 Skordos: Die Diktatur der Jahre 1967 bis 1974 (wie Anm. 3), S.  123 – 125. 43 Ebd., S.  125 – 131.

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Strafen, die den Angeklagten nach einem einmonatigen Prozess am 28. August 1975 auferlegt wurden, reichten von zwei und vier Jahren Haft für die weniger einflussreichen ›Aprilianer‹ über langjährige und lebenslange Gefängnisstrafen für acht der Verurteilten bis hin zur Todesstrafe für die drei den Putsch anführenden Offiziere Georgios Papadopoulos, Stylianos Pattakos und Nikolaos Makarezos. Allerdings wurden die Todesurteile nicht vollstreckt. Zum Ärger der Opposition und der öffent­lichen Meinung stellte die Regierung Karamanlis beim Staatspräsidenten einen Antrag auf Gnadenerlass, dem stattgegeben wurde. In der zweiten Jahreshälfte wurden auch die Verantwort­lichen für die blutige Niederschlagung des Studentenaufstands vom November 1973 sowie mehrere Militärs und Polizisten wegen der Folterung politischer Gefangener zur Rechenschaft gezogen.44 Im Januar 2013 starb Nikolaos Dertilis, der letzte sich noch im Gefängnis befindende ›Aprilianer‹ und einer der Protagonisten des so genannten Polytechnikum-­ Prozesses. Dertilis, der laut Gerichtsurteil im November 1973 während der Nieder­ schlagung des Studentenaufstandes auf dem Gelände der Athener Polytechnischen Hochschule einen jungen Demonstranten kaltblutig erschossen hatte, hatte sich, wie Papadopoulos und Ioannidis, bis zu seinem Ableben geweigert, ein Reuebekenntnis bezüg­lich seiner Taten zu unterzeichnen, um mittels eines präsidialen Gnadenerlasses frühzeitig aus der Haft entlassen zu werden. Viele andere Gleichgesinnte machten indes im Laufe der 1990er Jahre von dieser Mög­lichkeit Gebrauch oder wurden aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustands frühzeitig entlassen, darunter auch Pattakos und Makarezos, die zusammen mit Papadopoulos die führende Triade innerhalb der 15-köpfigen Gruppe der am Staatsstreich von 1967 beteiligten Offiziere stellten und im Prozess der Hauptverantwort­lichen ursprüng­lich zum Tode verurteilt worden waren.

4. Die griechische Transition im Vergleich In ihrer vergleichend angelegten Studie zu verschiedenen Wegen der Diktaturüberwindung in Südeuropa, Lateinamerika und in den ehemaligen kommunistischen Staaten Osteuropas haben Juan Linz und Alfred Stepan die griechische Transitionsphase als die schnellste unter ihren Untersuchungsfällen bewertet. Die Autoren halten die Tatsache, dass das griechische Regime von Beginn an auf 44 Siehe dazu ausführ­licher Adamantios Theodor Skordos: Transitional Justice in Griechenland. In: Anja Mihr//Gert Pickel/Susanne Pickel (Hrsg.): Handbuch Transi­tional Justice. Aufarbeit von Unrecht – hin zur Rechtsstaat­lichkeit und Demokratie. Wiesbaden 2017, S.  295 – 312.

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eine sehr begrenzte Unterstützungsbasis innerhalb der Armee habe zurückgreifen können, während ihm gleichzeitig von dem rechtskonservativen politischen Lager jeg­liche Zusammenarbeit verweigert worden sei, als entscheidend für das Unvermögen der griechischen Junta, auf die türkische Invasion auf Zypern erfolgreich zu reagieren. Infolgedessen sei sie in sich selbst zusammengebrochen. Anschließend zählen Linz und Stepan vier wichtige Charakteristika der nach »142 Tagen« abgeschlossenen griechischen Transition auf: Erstens wurde die Übergabe der Macht an die politische Klasse durch Militärs vollzogen, die sich als Teil des Staates und nicht des Regimes verstanden. Zweitens war die Armee als Institution nicht in der Lage, irgendwelche Forderungen an die Politiker zu stellen. Drittens fand die Transition mittels einer Interimsregierung statt und viertens wurde die hierarchische Struktur innerhalb des Militärs in kürzester Zeit wiederhergestellt.45 Anders als in Spanien und Portugal, wo die Übergangsprozesse von rechten autoritären Regimen zur Demokratie fast zeitgleich zur Transition in Griechenland einsetzten, aber in deren Laufe es nicht zu Gerichtsprozessen gegen die Führungsspitzen der beiden Diktaturen kam, mussten sich die griechischen Obristen für ihre Taten verantworten. Dass es dazu kam, beruht auf einer Reihe von Gründen: Im Gegensatz zu Spanien, wo das franquistische System einen geregelten Rückzug antrat und die Kontrolle über den Verlauf des Demokratisierungsprozesses weitgehend in den eigenen Händen lag, wurde die griechische Junta von den Ereignissen auf Zypern regelrecht überrollt. Fluchtartig übergab man in Athen die Regierungsverantwortung der politischen Klasse, ohne die Zeit zu haben, die notwendigen Vorkehrungsmaßnahmen gegen eine mög­liche juristische Verfolgung ausreichend zu planen. Die Vorstellung der ›Aprilianer‹, Karamanlis werde aufgrund seiner antikommunistischen Vergangenheit ihre Strafverfolgung verhindern, erwies sich als trügerisch. Während die Franquisten aufgrund ihres jahrzehntelangen Verbleibs an der Macht eine institutionalisierte politische Fraktion darstellten, fehlte den Obristen jeg­liche Verankerung in der politischen Klasse und in der Gesellschaft. Das konservativ-­bürger­liche Establishment und der König fühlten sich von den Putschisten hintergangen und respektlos behandelt, so dass nicht nur die Linke eine große Abneigung gegen sie empfand. Aber selbst wenn Karamanlis und seine ND-Partei die Strafverfolgung Papadopoulos’ und seiner Mitverschwörer hätten verhindern wollen, hätten sie dem großen öffent­lichen Druck nicht standgehalten.

45 Juan Linz/Alfred Stepan: Problems of Democratic Transition and Consolidation: ­Southern Europe, South America, and Post-­Communist Europe. Baltimore 1996, S. 130 – 138.

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Auch in Portugal wurde die Forderung nach Gerichtsprozessen gegen Marcelo Caetano, dem Nachfolger António de Oliveira Salazars, und seinen engsten Vertrauten laut, nur hatten sich diese frühzeitig ins brasilianische Exil abgesetzt. Der Versuch, Mitglieder der portugiesischen Staatsicherheit wegen Menschenrechtsverletzungen vor Gericht zu bringen, scheiterte wiederum an einem Putsch der konservativen Kräfte im November 1975, durch den der von der linksradikalen Bewegung der Streitkräfte (Movimento das Forças Armadas) eingeleiteten Transitionsphase ein abruptes Ende gesetzt wurde. Dafür ging in Portugal die Säuberung des Staatsapparates von den Kollaborateuren des Estado-­Novo-­Regimes wesent­lich tiefer als im griechischen Fall.46 Gemein hatte die griechische mit der portugiesischen Transition vor allem, dass beide im Zuge von militärischen Niederlagen auf Zypern bzw. in Angola eingeleitet wurden, was die nationale Delegitimierung der Diktaturen zur Folge hatte. Nichtsdestoweniger entwickelten sich Mitte der 1970er Jahre die juristischen Aufarbeitungsprozesse an der südwest­lichen und südöst­lichen Peripherie Europas recht unterschied­lich.47 Der vergangenheitspolitische Prozess in Lateinamerika, der dem griechischen am nächsten steht, ist zweifelsohne der argentinische. Wie die durch Ioannidis im Sommer 1974 ausgelöste Zypern-­Krise – und wie der verlustreiche Krieg Portugals in Angola –, hatte der verlorene Falklandkrieg 1982 die Diskreditierung der argentinischen Militärjunta als Verteidiger der nationalen Interessen zur Folge. Die Stellung des Militärs war entsprechend schwach, um dem öffent­lichen Druck entgegenzuwirken und eine strafrecht­liche Verfolgung gegen den Führungszirkel der Junta zu verhindern. Infolgedessen kam es vor einem Zivilgericht zum so genannten Prozess des Jahrhunderts gegen die Hauptverantwort­lichen des Regimes, in dem fünf Juntamitglieder zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden. Und ähn­lich wie Karamanlis entschied sich der argentinische Präsident Raúl Alfonsín in seiner Rolle als ›Transitionsmanager‹ gegen eine umfassende Aufarbeitung des durch das Militärregime begangenen Unrechts, so dass sich die Strafverfolgung auf die Führungsspitze der Junta und einzelne Fälle so genannter Exzesstäter beschränkte. Allerdings unterscheidet sich der argentinische vom griechischen Fall insofern, dass in Argentinien ab Mitte der 1990er Jahre das Kapitel der juristischen Aufarbeitung der exzessiven Menschenrechtsverbrechen abermals aufgeschlagen wurde und es zu

46 Omar Encarnaciόn: Justice in Times of Transition: Lessons from the Iberian Experience. Center for European Studies Working Paper Series 173 (2009). Abgerufen unter URL: http:// aei.pitt.edu/11883/1/CES_173.pdf, letzter Zugriff: 27. 02. 2017. 47 Stefan Troebst: Postdiktatorische Geschichtskulturen im öst­lichen und süd­lichen Europa. Eine vergleichende Einführung. In: Ders. (Hrsg.): Postdiktatorische Geschichtskulturen (wie. Anm. 3), S. 11 – 51, hier S. 30.

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mehreren Gerichtsprozessen und Verurteilungen kam.48 In Griechenland hingegen traten auf dem Gebiet der Vergangenheitspolitik nach 1975 keine erwähnenswerten Entwicklungen mehr ein – mit der Ausnahme des Einsatzes einer parlamentarischen Untersuchungskommission zur Aufklärung der ›Zypern-­Tragödie‹.49

5. Die geschichtspolitische 180-Grad-­Wende Die politische Zäsur des Sommers 1974 ist mit großen Umbrüchen in der griechischen Erinnerungskultur verbunden. Das siebenjährige Obristenregime kolla­bierte, wie bereits erwähnt, nach der türkischen Invasion auf Zypern am 20. Juli 1974. Der militärische Eingriff Ankaras war die direkte Folge des durch die griechische Junta initiierten Putsches gegen den zyprischen Präsidenten, Erzbischof Makarios. Die Tatsache, dass die Teilung Zyperns den fanatischsten ›Nationalgesinnten‹ und ihrer Zypernpolitik anzulasten war, fügte der rechten Vergangenheitsdeutung irreparablen Schaden zu. Von ­diesem Zeitpunkt an verfügten nicht länger die Sieger des Bürgerkrieges bzw. die Rechte über die Deutungs­hoheit über die griechische Geschichte im 20. Jahrhundert, sondern die Verlierer des Bürgerkrieges bzw. die Linke begann nun, ihrer Version der Vergangenheit öffent­liche Geltung zu verschaffen.50 Die Linke machte hauptsäch­lich die USA für den Putsch verantwort­lich.51 Vor allem in den Jahren unmittelbar nach dem Ende der Militärdiktatur war der Antiamerikanismus das hervorstechende Merkmal von politischen und erinnerungskulturellen Veranstaltungen nicht nur der kommunistischen Linken, sondern auch des sozialdemokratischen Zentrums, und in einer Umfrage, die vom Griechischen Zentrum für Sozialwissenschaften 1997 durchgeführt wurde, nannten 26 Prozent der Befragten die Amerikaner als die Hauptursache des Putsches.52 48 Siehe Ruth Fuchs/Detlef Nolte: Vergangenheitspolitik in Chile, Argentinien und Uruguay. Bundeszentrale für politische Bildung 2006. Abgerufen unter URL: http://www.bpb.de/ apuz/29474/vergangenheitspolitik-­in-­chile-­argentinien-­und-­uruguay?p=all., letzter Zugriff: 27. 02. 2017. 49 Siehe dazu ausführ­licher Skordos: Transitional Justice (wie Anm. 44), S.  308 – 310. 50 Nikos Koulouris: Elliniki vivliografia tou emfyliou polemou. Aftoteli dimosievmata, 1945 – 1949 [Griechische Bibliographie zum Bürgerkrieg. Eigenständige Publikationen, 1945 – 1949]. Athen 2000, S. 48. 51 Siehe dazu ausführ­licher Adamantios Theodor Skordos: Die Besatzungs- und Bürgerkriegsjahre 1941 – 1949 in der griechischen Erinnerungs- und Geschichtskultur – unter besonderer Berücksichtigung des griechischen »Historikerstreits«. In: Zeitgeschichte 41 (2014) 1, S. 19 – 38, hier S. 25 – 27. 52 Siehe dazu ausführ­licher Panagiotis Kafetzis: I diktatoria sti maziki politiki tis tritis ellinikis dimokratias [Die Diktatur in der Massenpolitik der Dritten Griechischen Republik].

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Nach dem überragenden Sieg der PASOK, die im Oktober 1981 48 Prozent der Wählerstimmen erhielt, durchbrach die erinnerungskulturelle Welle auch den Bereich der staat­lichen Geschichtspolitik. In einer hochsymbolischen Aktion schaffte die Regierung Andreas Papandreous unmittelbar nach Amtsantritt und zum großen Ärger des konservativen Lagers die von der Linken als ›Feiern des Hasses‹ bezeichneten Gedenktage der Bürgerkriegssieger ab. Ende 1982 folgte dann der zweifellos bedeutendste vergangenheitspolitische Akt der sozialdemokratischen Regierung Papandreous. Am Weihnachtstag verkündete der Premierminister im Fernsehen die »Repatriierung der politischen Flüchtlinge und die Wiederverleihung der Staatsbürgerschaft an all jene, die griechischer Abstammung sind«.53 Kurz darauf wurde der ministerielle Beschluss 106841/1982 gefasst, der die Weihnachtsankündigung Papandreous umsetzte und die Einzelheiten zur Realisierung dieser Entscheidung regelte.54 Während das linke Lager bei der Schuldzuweisung die USA und ihre nationalgesinnten ›Handlager‹ ins Visier nahm, erklärten rechte Politiker und Journalisten Andreas Papandreou zum Mitschuldigen, ja gar zum Hauptverantwort­ lichen für den Staatsstreich des 21. April. Dieser war Anfang der 1960er Jahre aus den USA , wo er eine beacht­liche Karriere als Ökonomieprofessor gemacht hatte, nach Griechenland zurückgekehrt und in die EK -Partei seines Vaters eingetreten. Dort avancierte er schnell zum Jungstar und Anführer des linken Parteiflügels, der eine politische Zusammenarbeit mit der den Kommunisten nahestehenden Partei der Vereinten Demokratischen Linken (EDA ) nicht ausschloss und die Abschaffung der Monarchie sowie die Begrenzung der amerikanischen Einflussnahme forderte. Seinen rechten Kritikern zufolge habe Andres Papandreou mit seiner kompromisslosen und unversöhn­lichen Haltung gegenüber seinen politischen Gegnern und dem Könighaus sowie seiner populistischen Hetzkampagne die politische Verständigung z­ wischen liberalem und rechtem Lager gezielt torpediert und Ängste bei ultrakonservativen Kreisen des Staatsapparates und des Militärs auf unverantwort­liche Weise geschürt. Es sei letztend­lich die von ­Papandreou angeführte vordiktatorische ›umstürzlerische In: Elliniki Epitheorisi Politikis Epistimis [Griechische Zeitschrift für Politikwissenschaft] 12 (1998), S.  35 – 56. 53 Me tin apofasi gia epanapatrismo ton politikon prosfygon kleinei mia pligi tou emfyliou [Mit der Entscheidung über die Repatriierung der politischen Flüchtlinge wird eine durch den Bürger­­ krieg aufgerissene Wunde geschlossen]. In: Rizospastis, 29. Dezember 1982, S. 1; Ekdothike i ypourgiki apofasi gia ton epanapatrismo ton politikon prosfygon [Der ministerielle Beschluss zur Repatriierung der politischen Flüchtlinge wurde erlassen]. In: Rizospastis, 30. Dezember 1982, S. 11. 54 Ebd.

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Linke‹ gewesen, die in den Jahren 1963 – 1967 die demokratische Stabilität in Griechenland gezielt untergraben und die günstigen Bedingungen für den Obristenputsch geschaffen habe.55 Der ›Tag des Polytechnikums‹, der jähr­lich am 17. November gefeiert wird, stellt den zentralen Erinnerungstag zur griechischen Militärdiktatur dar. Dieser dient als wichtiges Instrument der ›Katharsis‹, um die siebenjährige Toleranz des griechischen Volkes gegenüber der Diktatur des 21. April vergessen zu machen. Denn trotz vereinzelter Widerstandsaktionen hatte sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung gegenüber dem Regime passiv verhalten, eine massive Widerstandsbewegung hatte es in keiner Phase der siebenjährigen Obristenherrschaft gegeben. In einschlägigen Studien werden hierfür verschiedene Gründe angeführt: so etwa der effektive Kontroll- und Repressionsapparat der Junta, die Enttäuschung der Bürger über die vordiktatorische Demokratie, die beim griechischen Volk vorhandene Hoffnung, dass die west­lichen Demokratien die Junta zum Rücktritt zwingen würden, die Spaltung innerhalb der Opposition sowie nicht zuletzt die stabile Wirtschaftslage vor allem in den ersten vier Jahren des Regimes.56 Umso wichtiger war es nach 1974, einen Widerstandsmythos aufzubauen, dem zufolge das Volk die Demokratie im Land wiederhergestellt habe. Dem Polytechnikum-­Aufstand wurde nun als »Höhepunkt des vielseitigen Kampfes des griechischen Volkes und der streitbaren Jugend gegen eine fremdgesteuerte Diktatur« – so etwa der zukünftige Ministerpräsident Andreas Papandreou 1978 anläss­lich des fünften Polytechnikum-­Jahrestags – allergrößte geschichtspolitische Bedeutung beigemessen. Ende der 1970er Jahre wurde dann staat­licherseits der ›Tag des Polytechnikums‹ als offizieller Gedenktag festgelegt.57

55 Siehe dazu ausführ­licher Adamantios T. Skordos/Stefan A. Müller/David Schriffl: Heim­liche Freunde. Die Beziehungen Österreichs zu den Diktaturen Südeuropas nach 1945: Spanien, Portugal, Griechenland. Köln/Weimar/Wien 2016, S. 246 – 253. 56 Nikos Mouzelis: On the Rise of Postwar Military Dictatorships: Argentina, Chile, Greece. In: Comperative Studies in Society and History 28 (1986) 1, S. 55 – 80, hier S. 59. 57 Siehe dazu ausführ­licher Adamantios Theodor Skordos: Die Juntadiktatur der Jahre 1967 – 1974 in der Vergangenheitspolitik Griechenlands. In: Jörg Ganzenmüller (Hrsg.): Recht und Gerechtigkeit. Die strafrecht­liche Aufarbeitung von Diktaturen in Europa (Europäische Diktaturen und ihre Überwindung, 24). Köln/Weimar/Wien 2017, S. 253 – 272, hier S.  268 – 271.

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6. Ein Schlussstrich? Die Verbrennung der Akten 1989 Der so genannte Koskotas-­Skandal im Sommer 1988, bei dem profilierte PASOK-­ Kader und Minister beschuldigt wurden, vom Großbankier Georgios Koskotas bestochen worden zu sein, leitete das Ende der politischen Dominanz Andreas ­Papandreous ein. Papandreou, der im September 1989 selbst wegen Korruption angeklagt und erst im Januar 1992 von ­diesem Vorwurf freigesprochen wurde, hatte noch kurzfristig versucht, die sich abzeichnende Niederlage seiner Partei in den bevorstehenden Juniwahlen von 1989 zu beschränken, indem er ein neues Wahlsystem einführte. Sein Plan ging jedoch nicht auf: Zwar gelang es Papandreou zu verhindern, dass die aus den Wahlen mit 44 Prozent als stärkste Partei hervorgegangene konservative Partei ›Neue Demokratie‹ (ND) eine Einparteienregierung bilden konnte. Dennoch einigten sich zum großen Entsetzen der PASOK-­ Anhänger der ND-Vorsitzende, Konstantinos Mitsotakis, und Charilaos Florakis, Bürgerkriegsveteran und Vorsitzender der sich aus der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) und den reformistischen Inlandskommunisten zusammengesetzten Allianz der Linken für den Fortschritt (SYN), auf eine Koalitionsregierung begrenzter Dauer mit dem ausschließ­lichen Ziel der Fortführung der justiziellen Aufarbeitung des ›Koskotas-­Skandals‹. Für den Posten des Ministerpräsidenten wählte man den ND-Politiker Tzanis Tzannetakis aus, der 1973 als Marineoffizier Widerstand gegen die Junta geleistet hatte. Mehrere Ministerposten wurden mit SYN-Kadern besetzt.58 Mit dem ministeriellen Beschluss Nr. 8504/7 – 14668 vom 28. August 1989 setzte die Regierung Tzannetakis ein starkes symbolisches Z ­­ eichen der Versöhnung für die Überwindung der traumatischen Bürgerkriegsvergangenheit. Darin wurde die Vernichtung der Polizeiakten aus den vergangenen Jahrzehnten mit Informationen zu ›politisch suspekten‹ bzw. nicht national gesinnten Bürgern angeordnet. Die Gesamtanzahl dieser Schriftstücke, die in ganz Griechenland umgehend zerstört werden sollten, belief sich nach Aussage des damaligen konservativen Ministers für öffent­liche Ordnung, Ioannis Kefalogiannis, auf 33 Millionen. Der Historiker Hagen Fleischer hingegen spricht von 16 Millionen »Gesinnungsund Verfolgungsakten«, die im Namen der »inneren Befriedigung der Gesellschaft« zerstört worden ­seien.59 Fakt ist, dass 40 Jahre nach Bürgerkriegsende 58 Clogg: A Concise History of Greece (wie Anm. 4), S.  195 – 200. 59 Manolis Karellis: I katastrofi ton atomikon fakelon politikon fronimaton Ellinon politon [Die Zerstörung der Akten zur politischen Gesinnung griechischer Staatsbürger]. In: Patris, 26. Oktober 2011. Abgerufen unter URL: http://www.patris.gr/articles/211328?PHPSESSID#. WLsCb7GX-gQ, letzter Zugriff: 04. 03. 2017; Hagen Fleischer: Was wäre wenn. Die

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am 29. August, also an jenem Tag, an dem früher an die Siege von Grammos und Vitsi offiziell erinnert wurde, in ganz Griechenland auf öffent­lichen Plätzen die Polizeiakten zur politischen Gesinnung ›verdächtiger‹ Bürger verbrannt wurden – darunter auch jene aus der Zeit der Militärdiktatur.60

»Bewältigung« der kommunistischen Niederlage nach Wiederherstellung der Demokratie (1974 – 2006). In: Ulf Brunnbauer/Stefan Troebst (Hrsg.): Zwischen Amnestie und Nostalgie. Die Erinnerung an den Kommunismus in Südosteuropa. Köln/Weimar/Wien 2007, S. 27 – 45, hier S. 35. 60 Peter Siani-­Davies/Stefanos Katsikas: National Reconciliation after Civil War: The Case of Greece. In: Journal of Peace Research 46 (2009) 4, S. 559 – 575, hier S. 571 – 572.

Nationales Erinnern und europäisches Vergessen?

Xosé M. Núñez Seixas

Schweigen oder erinnern? Die unterbliebene Auseinandersetzung mit der Franco-­Diktatur in Spanien

Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie in Spanien nach dem Tode General Francos im Jahr 1975 bedeutete für viele zeitgenössische Beobachter und zahlreiche Autoren implizit ein Schweigegebot im Hinblick auf die Vergangenheitsbewältigung und die kritische Beurteilung des Franquismus. Dieses Gebot ging mit einer unausgesprochenen Vereinbarung z­ wischen den spätfranquistischen und den neuen demokratischen Eliten einher: Die Ersteren hatten die Macht, aber keine Legitimation, die Letzteren besaßen Legitimität, aber keine Macht. Die Notwendigkeit, die jüngste, von Bürgerkrieg, Gewalt und fast 40 Jahren Diktatur geprägte Vergangenheit zu überwinden und die noch immer präsenten Gefahren für die Demokratie einzuhegen, die von der Armee, den Polizeikräften und den Überbleibseln der Diktatur im Staatsapparat ausgingen, wurde von einer zusätz­lichen Furcht begleitet: der Angst vor dem Ausbruch eines erneuten Bürgerkrieges.1 Diese Gefahr, die im Staatsstreich vom

1 Zur Einführung in die Diskussion siehe Paloma Aguilar: Memory and Amnesia. The Role of the Spanish Civil War in the Transition to Democracy. Oxford 2002; sowie die divergierenden Ansätze von Francisco Sevillano: La construcción de la memoria y del olvido en la España democrática [Die Konstruktion des Erinnerns und Vergessens im demokratischen Spanien]. In: Ayer 52 (2003), S. 297 – 319 und besonders Santos Juliá: Echar al olvido. Memoria y amnistía en la Transición [Dem Vergessen geweiht. Erinnerung und Amnestie während der Transition]. In: Claves de la Razón Práctica 129 (2003), S. 14 – 25; siehe zudem Ders. (Hrsg.): Memoria de la guerra y del franquismo [Die Erinnerung an Krieg und Franquismus]. Madrid 2006; Javier Rodrigo: Cruzada, paz, memoria. La Guerra Civil en sus relatos [Kreuzzug, Frieden, Erinnerung. Der Bürgerkrieg in seinen Narrativen]. Granada 2013, sowie Walther Bernecker/Sören Brinkmann: Kampf der Erinnerungen. Der spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936 – 2008. Nettersheim 2006; und schließ­lich Anna Miñarro/Teresa Morandi (Hrsg.): Trauma y transmisión. Efectos de la guerra del 36, la posguerra, la dictadura y la transición en la subjetividad de los ciudadanos [Die Auswirkungen des Krieges von 1936, der Nachkriegszeit, der Diktatur und der Transition im subjektiven Blick der Bürger]. Barcelona 2012. Für eine aktualisierte Darstellung, siehe Xose M. Núñez Seixas (Hrsg.): España en democracia, 1975 – 2011 [Das demokratische Spanien, 1975 – 2011]. Barcelona 2017.

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Februar 1981 gipfelte, konnte allerdings unterbunden werden, gleichwohl sich weite Teile der Armee – wenn nicht gar der größte Teil der spanischen Streitkräfte – gegenüber der Demokratie skeptisch zeigten und die ethnoterroristische Gewalt im Baskenland andauerte. Die Konsolidierung der jungen spanischen Demokratie nach der erfolgreichen Volksabstimmung über die neue Verfassung im Jahr 1978, der spätere Wahlsieg der sozialistischen Partei (Partido Socialista Obrero Español, PSOE) im Oktober 1982 und der Eintritt in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (heute Europäische Union) im Jahre 1986 schienen der so genannten ›spanischen Ausnahme‹ in Westeuropa ein definitives Ende gesetzt zu haben. All dies geschah parallel zur Rückkehr Portugals und Griechenlands zur Demokratie in den 1970er Jahren – die so genannte zweite Welle der Demokratisierung Europas – und bedeutete für die politischen Eliten die definitive Wiedereingliederung Spaniens in das westeuropäische Modell einer parlamentarischen Demokratie und eines Wohlfahrtsstaates. Das in der spanischen Historiografie und den Sozialwissenschaften der 1980er und 1990er am meisten verbreitete Narrativ des fried­lichen Übergangs zur Demokratie (span.: transición) wurde daher überwiegend als Erfolgsgeschichte gesehen. Getreu dieser Meistererzählung habe der lange Schatten des Bürgerkrieges von 1936 bis 1939 die politischen Eliten dazu gezwungen, konstruktiv aufeinander zuzugehen – auch wenn es sich bei ihnen größtenteils um ehemalige Feinde gehandelt habe. Der neue demokratische Staat habe mit dem Aufbau einer dezentralisierten Staatsstruktur eine offensicht­lich haltbare Lösung für den Umgang mit der ethno­ nationalen und territorialen Pluralität Spaniens gefunden. Zudem habe er die Grundlagen für einen Wohlfahrtsstaat gelegt, der mehr oder weniger auf Augenhöhe mit denjenigen bereits konsolidierter westeuropäischer Staaten sei. Ferner rückte man König Juan Carlos I. als diskreten und charmanten Sch­lichter in ein positives Licht: Schon 1976 und insbesondere anläss­lich des gescheiterten Militärstreichs vom 23. Februar 1981 sei er dezidiert für die Etablierung und Bewahrung der Demokratie eingetreten. Et­lichen Meinungsumfragen zufolge war die Monar­ chie für die spanischen Bürger bis zum ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts die am meisten respektierte Institution des spanischen Staates. Die Internationale Weltausstellung in Sevilla und die Olympischen Spiele in Barcelona im Jahr 1992 schienen vor der gesamten Weltöffent­lichkeit zu bestätigen, dass Spanien keinen ›Ausnahmefall‹ in Westeuropa darstellte. Anders ausgedrückt: Spanien habe aufgehört, ›anders‹ (different) zu sein, so wie es die Tourismuswerbung der 1960er Jahre propagiert hatte. Nur einige Schattenseiten trübten das Bild des neuen Spaniens: die ständigen Gewalttaten der baskischen Terrororganisation ETA (bask.: Euskadi Ta Askatasuna, deutsch: Baskenland und Freiheit) und anderer terroristischer

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Gruppen,2 die schwerwiegenden sozialen Folgen der Wirtschaftskrise von 1976 bis 1979, die weite Teile der spanischen Unterschichten – vor allem die städtische Arbeiterklasse – in Mitleidenschaft zog und die fortwährenden ›Strukturanpassungen‹ des Industriesektors, der Fischerei und der Agrarwirtschaft an die Anforderungen der EWG/EU. Dennoch ließen die allgemeine wirtschaft­liche Hochkonjunktur von 1994 bis 2008, die sich stetig verbessernden Lebensbedingungen eines Großteils der Bevölkerung, die Abnahme der sozialen Ungleichheit und der rasche ­soziale Wandel, den das Land in diesen Jahren erlebte, diese Probleme als relativ zweitrangig erscheinen.

1. Erinnern und vergessen Et­lichen spanischen wie internationalen Historikern und Politikwissenschaftlern zufolge wurde der Übergang in die Demokratie mit Zugeständnissen im Bereich der Erinnerungspolitik und der Diktaturbewältigung ›erkauft‹. Zwar stellten die Erinnerung an den Bürgerkrieg und seine Verlierer, die Opfer der franquistischen Unterdrückung, die politischen Exilanten und das Wesen des Franquismus schon seit Mitte der 1970er Jahre wichtige Gegenstände der historischen Forschung dar. Auch wurde diese Forschung von einer neu aufkommenden ›Geschichtskultur‹ begleitet, die mittels populärwissenschaft­licher Zeitschriften, Romanen, Filmen, Theaterstücken und journalistischen Berichten kritisch auf die jüngste Vergangenheit blickte. Dennoch setzte der Charakter der spanischen Transition als Übereinkunft unter den Eliten der Tragweite und den Konsequenzen dieser vielfältigen Erinnerungsarbeit, die immerhin von aktiven Gruppen der Zivil­ gesellschaft betrieben wurde, enge Grenzen.3

2 Einen aktualisierten Überblick in: Rafael Leonisio/Fernando Molina/Diego Muro (Hrsg.): ETA’s Terrorist Campaign. From Violence to Politics, 1968 – 2015. London 2017; sowie Sophie Baby: Le mythe de la transition pacifique. Violence et politique en Espagne (1975 – 1982). Madrid 2012, und Xavier Casals: La transición española. El voto ignorado de las armas. Barcelona 2016. 3 Siehe Francisco Ferrándiz/Paloma Aguilar: Memory, media and spectacle. Interviú’s portrayals of Civil War exhumations in the early years of Spanish democracy. In: Journal of Spanish Cultural Studies 17 (2016) 1, S. 1 – 25; Bernecker/Brinkmann: Kampf der Erinnerung (wie Anm. 1), S.  242 – 251; Julia Macher: Historische »Meistererzählungen« über Bürgerkrieg und Franco-­Diktatur in Parlament und Printmedien Spaniens (1975 – 1978). In: Krzysztof Ruchniewicz/Stefan Troebst (Hrsg.): Diktaturbewältigung und nationale Selbstvergewisserung. Geschichtskulturen in Polen und Spanien im Vergleich. Breslau 2004, S.  139 – 147; Alexandre Froidevaux: Gegengeschichten oder Versöhnung?

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Seit Inkrafttreten der Verfassung (Dezember 1978) und insbesondere nach dem gescheiterten Militärputsch zwei Jahre später (Februar 1981) verzichteten die nachfolgenden Regierungen (sowohl konservative als auch sozialdemokratische) darauf, jeg­liche Form der Vergangenheitsbewältigung aktiv voranzu­treiben. Sowohl Sozialisten als auch Konservative zogen es vor, den Bürgerkrieg, das Franco-­Regime und die Zweite Spanische Republik (1931 – 1936) auszublenden, indem sie beide Epochen als ›Ausnahmen‹ auf einem Weg des Fortschritts und der ›Normalität‹ der spanischen Geschichte betrachteten oder – insbesondere den Bürgerkrieg – als ›kollektive Tragödie‹ ad acta legten. Stattdessen richteten sie den Blick auf den Übergang zur Demokratie als dem größten Ereignis der spanischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und auf die ›Wiederaufnahme‹ in Europa 1986 als Schlusspunkt der Rückkehr Spaniens zur historischen ›Normalität‹ und als Ende des spanischen ›Sonderwegs‹. Insbesondere während der langlebigen ersten Regierung der PSOE (1982 – 1996) unter der Präsidentschaft von Felipe González lag der geschichtspolitische Schwerpunkt auf ›Europa‹ und der ›Modernisierung‹ des Landes, in späteren Jahren dann auf der Neubewertung anderer historischer Ereignisse wie der Entdeckung und Kolonisierung Amerikas in der Frühen Neuzeit (infolge der Internationalen Weltausstellung in Sevilla im Jahr 1992). Die spanische Gesellschaft sollte vom ›Aufreißen alter Kriegswunden‹ verschont werden und ihren Blick stattdessen auf die Zukunft richten. Die Folge davon war das Vergessen, wenn nicht sogar ein vom Staat gefördertes Verdrängen der jüngsten Vergangenheit. Es wurde kein einschlägiges Gesetz verabschiedet, das die Umbenennung von Straßen und öffent­lichen Plätzen oder die Entfernung franquistischer Erinnerungsorte verordnete – diese Entscheidung überließ man den einzelnen Gemeinden. Es gab zwar einige symbolische Handlungen, wie zum Beispiel die Anerkennung der Rentenansprüche ehemaliger Kämpfer der Republikanischen Volksarmee im Bürgerkrieg. Dennoch kam in der spanischen Öffent­lichkeit keine institutionell gestützte Debatte über mög­liche Kosten und Nutzen einer Auseinandersetzung mit der eigenen diktatorischen Vergangenheit oder mit der mangelnden Vergangenheitsbewältigung bzw. der Transitional ­Justice zustande. Allesamt konnten unter Verweis auf das Amnestie­ gesetz von 1977 umgangen werden. Gewiss zeigten sich einige Regionalregierungen, Gemeinden und Provinzräte in dieser Hinsicht aktiver als andere. Das wird noch heute beispielsweise durch die geografische Verteilung franquistischer Straßennamen deut­lich: Sie sind besonders in Zentralspanien präsent, wo Konservative

Erinnerungskulturen und Geschichte der spanischen Arbeiterbewegung vom Bürgerkrieg bis zur ›Transición‹ (1939 – 1982). Heidelberg 2015, S. 463 – 515.

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länger auf regionaler und lokaler Ebene an der Macht blieben. Jedenfalls lag dem Umgang mit der Vergangenheit keine staat­lich geförderte Politik zugrunde. Als sich die spanischen sozialistischen Eliten seit Anfang der 1990er Jahre für das von den deutschen Philosophen Dolf Sternberger und Jürgen Habermas geprägte Konzept des Verfassungspatriotismus begeisterten, ließen selbst sie für gewöhn­ lich Habermas’ Bestehen auf die Relevanz einer permanenten Vergangenheitsbewältigung als Grundvoraussetzung für die Stärkung von Demokratien beiseite.4 Erst während der Wahlkämpfe von 1993 und 1996 ließen einige Lager der Sozialistischen Partei in ihrer Wahlpropaganda das Gespenst des Franquismus und Bürgerkrieges wiederauferstehen, um damit ihrer Ablehnung gegenüber einer Rückkehr der Konservativen an die Macht Nachdruck zu verleihen. Trotzdem blieb die Beschäftigung mit dem Spanischen Bürgerkrieg in der politischen Praxis und in den öffent­lichen Debatten weiterhin aus, so dass sie sich weitgehend auf akademische Kreise beschränkte.5

2. Die Rückkehr des ›historischen Gedächtnisses‹ Diese Situation begann sich im 21. Jahrhundert deut­lich zu ändern, sowohl auf geschichtskultureller als auch auf wissenschaft­licher Ebene. Das vermeint­liche öffent­liche ›Vergessen‹ des Bürgerkrieges und der Mangel an einem kritischen Umgang mit der Diktatur, wie er bei weiten Teilen der politischen Elite vorhanden war, geriet seit dem ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts verstärkt in die Kritik. Doch w ­ elche wesent­lichen Faktoren führten zu der so genannten Wiederbelebung der historischen Erinnerung, die nicht nur die Diktatur, sondern auch den vor 25 Jahren eingeschlagenen Weg und den Umgang der spanischen demokratischen Eliten mit der Erinnerung an Bürgerkrieg und Diktatur hinterfragte? Zuerst ist der Generationenwandel zu nennen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts trat eine jüngere Generation in Erscheinung, die im demokratischen Spanien aufgewachsen und politisch sozialisiert war. Die ›Enkelkinder‹ der Opfer des 4 Siehe Xosé M Núñez Seixas: Die Diktatur vergessen, um die Nation zu retten. Das historische Gedächtnis und der »neopatriotische« Diskurs in Spanien. In: Comparativ 14 (2004) 5 – 6, S.  56 – 75. 5 Paloma Aguilar: Presencia y ausencia de la guerra civil y del franquismo en la democracia española. Reflexiones en torno a la articulación y ruptura del ›pacto de silencio‹ [Präsenz und Absenz von Bürgerkrieg und Franquismus. Überlegungen zur Artikulation des ›Pakt des Schweigens‹ und seinem Bruch]. In: Julio Aróstegui/François Godicheau (Hrsg.): Guerra Civil. Mito y memoria [Der Bürgerkrieg. Mythos und Erinnerung]. Madrid 2006, S.  245 – 293.

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Bürgerkrieges und des Franquismus kamen zu Wort und nahmen sich der Aufgabe an, jene dunklen Seiten der spanischen Vergangenheit aufzudecken, die ihre Eltern scheinbar zu vergessen oder zu verdrängen bevorzugten. Obwohl dieser Generationenwandel auch in vielen anderen Ländern aufgetreten ist, ging die Initiative im spanischen Fall weder von Berufshistorikern noch von Politikern, sondern von diversen in der Zivilgesellschaft verankerten Vereinigungen aus. Diese begannen damit, die Überreste Dutzender Opfer der franquistischen Repression zu exhumieren, die seit 1936 in anonymen Kollektiv- oder Massengräbern begraben und nie identifiziert worden waren. Die ersten Exhumierungen führten die Hinterbliebenen der Toten durch – wie beispielsweise der Journalist Emilio Silva, der Enkel eines Offiziers der Republikanischen Volksarmee, der von den Franquisten ermordet worden war.6 Ab dem Jahr 2000 stießen die Exhumierungen und ihre Akteure auf internationaler Ebene auf mediales Interesse, da letztere den spanischen Staat vor dem Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen anklagten. Ab 2002 bildete sich ein zunehmend dichtes Vereinigungsnetzwerk heraus, allen voran der Verein für die Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses (span.: Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica, ARMH ), der sich bis heute über ganz Spanien erstreckt und Freiwillige für die Exhumierung der Toten rekrutiert. Wenngleich er durch Organisationen des linken Spektrums, insbesondere durch die Kommunistische Partei Spaniens (span.: Partido Comunista de España, PCE ), unter Druck gesetzt wurde, seinen Aktivitäten eine stärkere »politische« Dimension zu verleihen, bestand der Vereinsgründer Emilio Silva darauf, dass es sich bei der ARMH nicht um »ein politisches Projekt für Familien, sondern um ein Projekt von Familien für Politiker« handle.7 6 Siehe den Auftaktartikel von Emilio Silva: Mi abuelo también fue un desaparecido [Auch mein Großvater war ein Verschwundener]. In: La Crónica de León, 8. Oktober 2000. – Zur Geschichte und Entwicklung der ARMH, siehe u. a. Asunción Álvarez u. a. (Hrsg.): La memoria de los olvidados. Un debate sobre el silencio de la represión franquista [Die Erinnerung der Vergessenen. Eine Debatte über das Schweigen über die franquistische Repression]. Valladolid 2004; Emilio Silva: Las fosas de Franco. Crónicas de un desagravio [Francos Gräber. Chroniken einer Wiedergutmachung]. Madrid 2006; Ders./Santiago Macías: Las fosas de Franco [Francos Gräber]. Barcelona 2006. 7 Francisco Ferrándiz: Exhuming the defeated. Civil War mass graves in 21st-­century Spain. In: American Ethnologist 40 (2013) 1, S. 38 – 54; Ders.: El pasado bajo tierra. Exhumaciones contemporáneas de la Guerra Civil [Die begrabene Vergangenheit. Gegenwärtige Exhumierungen des Bürgerkriegs]. Barcelona 2014. – Aus einer differenzierten Perspektive siehe Ulrich Winter: ›Localizar a los muertos‹ y ›reconocer al Otro‹. Lugares de memoria(s) en la cultura española contemporánea [›Die Toten lokalisieren‹ und ›den Anderen anerkennen‹. Erinnerungsorte in der gegenwärtigen Kultur Spaniens]. In: Ders./Joan-­R amon Resina (Hrsg.):

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Abb. 1  Das Denkmal in Santander (Kantabrien) zur Erinnerung an die italienischen Einheiten, die die Stadt im Juni 1937 für die Franquisten eroberten.

Parallel zur Exhumierung der sterb­lichen Überreste der Opfer der franquistischen Unterdrückung kritisierte die ›Erinnerungsbewegung‹ die Langlebigkeit franquistischer Erinnerungsstätten. Die Kritik galt vor allem den öffent­lichen Statuen von General Franco, die sich in Provinzhauptstädten und Kleinstädten wie Ferrol, dem Geburtsort des Diktators, Melilla, Santander und Guadalajara befanden. Sie richtete sich aber auch gegen den Erhalt von Straßennamen, die unmissverständ­lich auf die Siegerpartei im Bürgerkrieg, die gefallenen franquistischen Soldaten, bzw. die Gefallenen der so genannten Blauen Division an der Ostfront z­ wischen 1941 und 1943 oder die Opfer des so genannten Roten Terrors Casa encantada. Lugares de la memoria en la España constitucional (1978 – 2004) [Das verwunschene Haus. Erinnerungsorte im konstitutionellen Spanien (1978 – 2004]. Madrid 2005, S.  17 – 39.

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Abb. 2  Mahnmal zum Andenken an die Blaue Division auf dem Deutschen Militärfriedhof in Pankowka, einem Außenbezirk der russischen Stadt Nowgorod.

während des Bürgerkrieges verwiesen. Die genaue Anzahl solcher Straßennamen ist nicht bekannt. In einigen Kleinstädten trugen jedoch mindestens 5 Prozent aller Straßen vergleichbare Bezeichnungen.8 Zum Stein des Anstoßes wurde auch das sichtbarste Symbol des Franquismus, das Tal der Gefallenen (span.: Valle de los Caídos), das nach dem Ende des Bürgerkrieges in der Nähe von Madrid errichtet und 1959 offiziell eingeweiht worden war. Bis heute befinden sich dort die Überreste Tausender, in erster Linie franquistischer Soldaten sowie die Gräber von General Franco und dem Begründer des spanischen Faschismus, José Antonio Primo de Rivera. Das Monument, das von Zwangsarbeitern (vor allem politischen Gefangenen) erbaut wurde, dient noch heute als Ort für Zusammenkünfte und politische Kundgebungen, bei denen Diktaturnostalgiker und Rechtsradikale beispielsweise an den militärischen Aufstand des Jahres 1936 (18. Juli) und an den Tod Francos und Primo de Riveras (20. November) gedenken.9 8 Siehe Montserrat Duch: Toponimia franquista en democracia [Toponymik des Franquismus in Zeiten der Demokratie]. In: Carlos Forcadell u. a. (Hrsg.): Usos públicos de la historia [Der öffent­liche Gebrauch der Geschichte]. Zaragoza 2002, Bd. I, S. 377 – 390. – Zum Thema der Erinnerung an die Blaue Division während der Franco-­Diktatur siehe Xosé M. Núñez Seixas: Die spanische Blaue Division an der Ostfront, 1941 – 1945: Zwischen Kriegserfahrung und Erinnerung. Münster 2016, S. 337 – 363. 9 Siehe Alfredo González-­Ruibal: Topography of Terror or Cultural Heritage? The Monuments of Franco’s Spain. In: Neil Forbes/Robin Page/Guillermo Pérez (Hrsg.):

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Die Erinnerungsbewegung und die allgemeine ›Wiederbelebung des historischen Gedächtnisses‹ hatten zwei Folgen. Erstens brachten sie die spanische Gesellschaft und die Öffent­lichkeit dazu, sich mit einer Hinterlassenschaft des Bürgerkrieges auseinanderzusetzen, die in den öffent­lichen Debatten weithin ignoriert worden war: die Existenz von Dutzenden oder gar Hunderten Kollektivgräbern, w ­ elche die Gebeine anonymer Opfer des Franquismus enthielten, die von ihren Verwandten und Freunden nicht hatten betrauert werden können. In der spanischen Öffent­lichkeit rief dies das bekannte Phänomen der so ­genannten Verschwundenen (span.: desaparecidos) in Erinnerung, die in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre Opfer der rechtsradikalen Militärdiktaturen in Südamerika geworden waren. Zweitens machten die Kollektivgräber darauf aufmerksam, dass das Vermächtnis des Bürgerkrieges auch nach 60 Jahren noch nicht überwunden war, anders als die Vertreter des konservativen Lagers stets behauptet hatten. Tatsäch­lich zeigten Befragungen, dass der Prozentsatz der Spanier, die den Bürgerkrieg »nicht vergessen« hatten, von 40 Prozent (1995) auf 51 Prozent im Jahr 2000 gestiegen war.10 Zeitgleich war das Aufleben der Erinnerungsthematik ein transnationales Phänomen. So wurde es in Spanien durch die spanische Rezeption südamerikanischer Debatten über die Erinnerung an die Opfer der ausgesprochen brutalen Militärdiktaturen der 1970er Jahre (insbesondere in Chile und Argentinien) begleitet, wobei diese Debatten durch die Verhaftung von General Augusto Pinochet während seines Besuchs in London im Oktober 1998 neue Impulse erhielten.11 Dies Europe’s Deadly Century. Perspectives on 20th Century Conflict Heritage. London 2009, S.  65 – 72; Montserrat Duch i Plana: ¿Una ecología de las memorias colectivas? La transición española a la democracia revisitada [Eine Ökologie der kollektiven Gedächtnisse? Eine Revision des spanischen Übergangs in die Demokratie]. Lleida 2014; Jesús De Andrés: Las estatuas de Franco, la memoria del franquismo y la transición política española [Francos Statuen, die franquistische Erinnerung und die spanische Transition]. In: Historia y Política 12 (2004), S. 161 – 186. – Zur Geschichte des Tals der Gefallenen, siehe Fernando Olmeda: El Valle de los Caídos. Una memoria de España [Das Tal der Gefallenen. Ein Denkmal Spaniens]. Barcelona 2009; José M. Calleja: El Valle de los Caídos [Das Tal der Gefallenen]. Madrid 2009; Francisco Ferrándiz: Guerras sin fin. Guía para descifrar el Valle de los Caídos en la España democrática [Kriege ohne Ende. Ein Handbuch, um das Tal der Gefallenen in ­Zeiten der Demokratie zu entziffern]. In: Política y Sociedad 48 (2011) 3, S. 481 – 500, sowie die umfassende Analyse von Gareth Stockey: Valley of the Fallen, the (n)ever Changing Face of General Franco’s Monument. Nottingham 2013. 10 Nach Angaben von Enrique Moradiellos: Ni gesta heroica, ni locura trágica. Nuevas perspectivas históricas sobre la guerra civil [Weder eine Heldentat noch ein tragischer Anfall von Wahnsinn. Neue historische Perspektiven auf den Bürgerkrieg]. In: Ayer 50 (2003), S. 11 – 39. 11 Siehe Caso Pinochet. Cronología. Abgerufen unter URL: http://www.bbc.co.uk/spanish/ extrapinochet.htm, letzter Zugriff: 26. 05. 2017.

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ermög­lichte es den spanischen Aktivisten, ihr Vokabular in ein international anerkanntes Muster einzupassen, wie es von den Menschenrechtsaktivisten in Südamerika seit den 1980er Jahre ausgearbeitet worden war. Prominente Persön­ lichkeiten wie der Richter Baltasar Garzón, der das Gerichtsverfahren gegen den chilenischen Diktator einleitete, entwickelten sich zu transnationalen Ikonen der globalen Menschenrechtsbewegung. Garzón war es auch, der die überlebenden franquistischen Verbrecher vor Gericht zu stellen versuchte – zumindest auf symbolischer Ebene. Das spanische Justizsystem reagierte auf diesen Versuch jedoch mit der Strategie, ihn zu diskreditieren und seines Amtes zu entheben.12 Die Impulsgeber dieser Wiederbelebung kamen in erster Linie ›von unten‹, aus der Zivilgesellschaft. Sie schlossen sich zu Vereinigungen zusammen und finanzierten sich zu Beginn durch Mitgliederspenden. Auch zogen ihre Aktivitäten die Aufmerksamkeit von linken Parteien, vor allem der sozialistischen PSOE, auf sich. Von den Vereinigungen übernahmen diese Parteien seit 2002/03 einen Teil der politischen Agenda mit Hinblick auf die angestrebte ›Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses‹. Auch versprachen sie die Verabschiedung eines Gesetzes zur historischen Erinnerung für den Fall, dass sie in Madrid an die Macht kämen. Die kommunistische Partei, Teile der postkommunistischen Koalition der Vereinigten Linken (span.: Izquierda Unida, IU), warb ebenfalls mit einem alternativen Modell, einem ›Erinnerungsforum‹, das der Kritik an der jüngsten Vergangenheit eine gesteigerte Aufmerksamkeit verlieh. Während der ersten Phase der neuen sozialdemokratischen Regierungsperiode unter Ministerpräsident José Luis Rodríguez-­Zapatero (2004 – 2008) kam es zur Multiplikation und Diversifikation öffent­licher und privater Initiativen, 12 Siehe Paloma Aguilar: Políticas de la memoria y memorias de la política [Erinnerungspolitik und das Gedächtnis der Politik]. Madrid 2006; Luis Martín Cabrera: Radical Justice. Spain and the Southern Cone beyond Market and State. Lewisburg 2011; Nina Elsemann: Umkämpfte Erinnerungen. Die Bedeutung lateinamerikanischer Erfahrungen für die spanische Geschichtspolitik nach Franco. Frankfurt a. M. 2011; Ulrike Capdepón: Vom Fall Pinochet zu den Verschwundenen des Spanischen Bürgerkrieges. Die Auseinandersetzung mit Diktatur und Menschenrechtsverletzungen in Spanien und Chile. Bielefeld 2015; Francisco Moreno Gómez: Los desaparecidos de Franco. Un estudio factual y teórico en el contexto de los crímenes internacionales y las comisiones de la verdad [Francos Verschwundene. Eine theoretische und faktenbasierte Studie im Kontext von internationalen Verbrechen und Wahrheitskommissionen]. Madrid 2016; Ignacio Fernández de Mata: Lloros como puños. El conflicto de los desaparecidos y vencidos de la guerra civil española [Tränen wie Fäuste: Der Konflikt um die Verschwundenen und die Besiegten des spanischen Bürgerkrieges]. Granada 2017; Paloma Aguilar/Leigh A. Payne: El resurgir del pasado en España. Fosas de víctimas y confesiones de verdugos [Das Wiederaufleben der Vergangenheit in Spanien. Opfergräben und Geständnisse der Henker]. Madrid 2018.

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die sich zum Ziel setzten, das »historische Gedächtnis« wiederzuerlangen.13 Da die Regierung von Zapatero während der ersten Legislaturperiode keine absolute Mehrheit im Parlament besaß, wurde sie von den linken Koalitionspartnern dazu gezwungen, sein Wahlversprechen (das Zapatero selbst in einigen seiner Reden geäußert, jedoch nicht im Wahlprogramm der PSOE erwähnt hatte) einzuhalten und das Gesetz über das historische Gedächtnis zu verabschieden (span.: Ley de la Memoria Histórica), obwohl der ursprüng­liche Name anders lautete und der Begriff Gedächtnis im Gesetzestext nicht einmal erwähnt wurde. Ende 2007 passierte es das spanische Parlament trotz des Widerstands der konservativen Volkspartei (Partido Popular, PP), die das Gesetz für ›revanchistisch‹ hielt, und der katalanischen Unabhängigkeitspartei Republikanische Linke Kataloniens (kat.: Esquerra Republicana de Catalunya, ERC), die das Gesetz aus anderen Gründen als unzureichend betrachtete.14 Im Ergebnis war der Gesetzestext deut­lich gemäßigter, als es die ›Erinnerungsbewegung‹ erwartet hatte. Diese hatte die Initiative der Regierung zuvor scharf kritisiert, da das Gesetz unter anderem nicht in Erwähnung zog, eine ›Wahrheitskommission‹ einzurichten, wie dies in Argentinien oder Südafrika auf ähn­liche Weise geschehen war. Andere Defizite lagen für die Kritiker in der nicht erfolgten Aufhebung der Urteile franquistischer Gerichte und im Ausbleiben von finanziellen Wiedergutmachungen für die Opfer, insbesondere für diejenigen, die vom Franco-­Regime enteignet worden waren. Das Gesetz gewährte sowohl eine Entschädigung für die Opfer des so genannten Roten Terrors, die vom Franco-­Regime nicht als s­ olche anerkannt worden waren – das Gesetz bezog sich im Allgemeinen auf die Opfer des Bürgerkrieges und der franquistischen Diktatur, ohne dabei ihre politische Orientierung zu berücksichtigen, was zu teils paradoxen Situationen führte –, als auch finanzielle Unterstützung für die Exhumierungsaktivitäten der Erinnerungsvereine. Ferner verfügte es die fortlaufende Umwandlung oder Entfernung franquistischer Symbole, Denkmäler und Erinnerungsorte, wie auch die Umbenennung von Straßen- oder Ortsnamen (was in d­ iesem Fall den Kommunen oblag, da dies im Bereich ihrer Machtbefugnisse lag). Das Tal der Gefallenen 13 Judith Keene: Turning Memories into History in the Spanish Year of Historical Memory. In: Journal of Contemporary History 42 (2007), S. 661 – 673. 14 Siehe den vollständigen Gesetzestext in Ley 52/2007, de 26 de diciembre, por la que se reconocen y amplían derechos y se establecen medidas en favor de quienes padecieron persecución o violencia durante la guerra civil y la dictadura [Gesetz 52/2007 vom 26. Dezember, wodurch die Rechte anerkannt und erweitert sowie die Maßnahmen zugunsten jener festgesetzt werden, die während des Bürgerkriegs und der Diktatur unter Verfolgung oder Gewalt litten]. Abgerufen unter URL: https://www.boe.es/buscar/doc.php?id=BOE-A-2007 – 22296, letzter Zugriff: 03. 08. 2017.

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sollte gesondert behandelt werden: So sah das Gesetz vor, es zu einem Zentrum für die Erforschung der »historischen Erinnerung« umzufunktionieren.15 Über dessen konkrete Gestalt sollte wiederum ein eigens dafür eingerichtetes Beratungsgremium entscheiden. Die darauffolgende konservative Regierung unter Ministerpräsident Mariano Rajoy (von 2011 bis heute) legte die Umsetzung ­dieses Gesetzes jedoch auf Eis und senkte das Budget für die Exhumierungsaktivitäten kontinuier­lich. Als Argument diente die Haushaltskrise, unter der Spanien im Zusammenhang mit der europäischen Wirtschaftskrise litt.16 Parallel dazu und in Verbindung mit der neuen Vergangenheitswahrnehmung begann die ›Erinnerungsbewegung‹ zunehmend Kritik an der Transition, dem Übergang zur Demokratie während der zweiten Hälfte der 1970er Jahre zu üben. Sie verurteilte ausdrück­lich die ihres Erachtens ›exzessiven‹ Zugeständnisse, ­welche die demokratische Opposition in Sachen Erinnerungspolitik gemacht hatte, um ein Übereinkommen mit den postfranquistischen Eliten zu begünstigen. In Frage gestellt wurde dadurch auch die affirmative Deutung der Transition als fried­licher Übergang von einer autoritären Diktatur zu einer modernen, demokratisch legitimierten, westeuropäischen Demokratie. Die Kontinuität der Monarchie als Institution (wie von Franco persön­lich entworfen) stellte in dieser Deutung kein Problem dar, solange sie mit der parlamentarischen Demokratie vereinbar war. Stattdessen riefen Aktivisten der ›Erinnerungsbewegung‹ so wie auch immer mehr Spitzenpolitiker – angefangen bei einigen galicischen, baskischen und katalanischen linken Nationalisten bis hin zu Vertretern der postkommunistischen Linken – dazu auf, die Kompromisslösung von 1978 ad acta zu legen. Das Ausbleiben jedweder Form von Transitional Justice, das Fehlen einer wahrhaften Diktaturbewältigung und das von oben forcierte Vergessen des Bürgerkrieges (sowie, in gewisser Beziehung, eine nicht stattfindende positive Neubewertung der Zweiten Republik von 1931 bis 1936 als Vorbote einer spanischen Demokratie) wurden als die sprichwört­liche Spitze des Eisbergs betrachtet. Sie galten als Z ­­ eichen verschiedener, der Zeit des Franquismus geschuldeter Demokratiedefizite.17 15 Ebd. 16 Siehe die politisch engagierte Beschreibung der Ereignisse in Francisco Espinosa: Shoot the Messenger? Spanish Democracy and the Crimes of Francoism. From the Pact of Silence to the Trial of Baltasar Garzón. Eastbourne (UK) 2013; siehe auch Elsemann: Umkämpfte Erinnerungen (wie Anm. 12), S.  285 – 316; Ricard Vinyes: Naturaleza y consecuencias del conflicto memorial en España. Entre la impunidad y la privatización [Wesen und Folgen des Konflikts um die Erinnerung in Spanien]. In: Anuari del Conflicte Social 1 (2013), S. 1025 – 1042. 17 Siehe Marije Hristova: Reimagining Spain. Transnational Entanglements and Remembrance of the Spanish Civil War since 1989. Maastricht 2016.

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Worin lagen diese Defizite? Unter ihnen wurden die folgenden Unzuläng­ lichkeiten für das Funktionieren der spanischen Demokratie seit 1978 hervorgehoben: erstens der Fortbestand oder gar die Idealisierung der Monarchie. Denn trotz der neuen Legitimität, die sich König Juan Carlos I. verschafft hatte, darf nicht vergessen werden, dass der Monarch Francos Nachfolger war und als solcher von ihm bestimmt wurde. Zweitens bestand ein Defizit in der Kontinuität wichtiger Teile des franquistischen Staatsapparats nach 1975, insbesondere in Bereichen wie der Polizei, der Armee und dem Justizwesen. Weiter sind drittens die eindeutigen Mängel des spanischen Wohlfahrtstaates zu nennen, die durch eine mangelhafte Übergangsjustiz und den damit zusammenhängenden Verbleib der postfranquistischen sozialen und wirtschaft­lichen Eliten in zentralen Machtpositionen bedingt waren; viertens die Funktionsdefizite demokratischer Institutionen, insbesondere die unzureichende Unabhängigkeit der Justiz gegenüber der Exekutive; und fünftens die unzureichende Anerkennung des multinatio­ nalen Charakters des spanischen Staates. Daraus folgte eine komplexe Wechselbeziehung ­zwischen der Abwesenheit bzw. den Grenzen der postfranquistischen Erinnerungspolitik auf der einen Seite und den anhaltenden Funktionsdefiziten der spanischen Demokratie in der Gegenwart auf der anderen, was sich meines Erachtens auch im Mangel einer tatsäch­lichen ›demokratischen politischen Kultur‹ widerspiegelt.18 Als parallele Gegenreaktion ist der postfranquistische Diskurs über den Spanischen Bürgerkrieg und den Franquismus bei weitem noch nicht abgeklungen. Eher im Gegenteil: Seit der ersten Regierungsperiode des konservativen Ministerpräsidenten José María Aznar (1996 – 2000) wurden die für sie einschlägigen Hauptthemen und Argumente in den neofranquistischen, konservativen und stark katholischen Milieus wieder ›salonfähig‹, und zwar nicht zuletzt aufgrund des Widerhalls, den sie in konservativen Zeitungen und einflussreichen Medienunternehmen erfuhren. Dabei handelte es sich um eine gezielte Strategie, um die diskursive Hegemonie der Linken in einem kulturellen Bereich zu bekämpfen, der weit mehr als nur die Erinnerungspolitik umfasste.19 Die verfochtene Meistererzählung der neuesten spanischen Geschichte und Zeitgeschichte war allerdings 18 Analog dazu siehe die Argumentation des katalanischen Wirtschaftswissenschaftlers Vicenç Navarro: Bienestar insuficiente, democracia incompleta. Sobre lo que no se habla en nuestro país [Unzureichender Wohlstand, unvollständige Demokratie. Worüber in unserem Land nicht gesprochen wird]. Barcelona 2002, hier besonders S. 211 – 15; siehe auch Josep-­Lluís Carod-­ Rovira: Jubilar la transició [Die Transition in den Ruhestand versetzen]. Barcelona 1998. 19 Siehe Javier Muñoz Soro: Sin complejos. Las nuevas derechas españolas y sus intelectuales [Ohne Komplexe. Die neue spanische Rechte und ihre Intellektuellen]. In: Historia y Política 18 (2007), S. 129 – 164.

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nicht wirk­lich neu: Sie stützte sich weiterhin auf eben jenen Erklärungsrahmen, den franquistische Historiker und Propagandisten bereits in den 1940er Jahren entworfen hatten. Die Deutungen waren zwar nicht neu, doch es tauchten neue Akteure auf: Neben der traditionellen Francisco-­Franco-­Stiftung und spätfranquistischen Historikern, wie etwa Ricardo de la Cierva oder Ramón Salas-­Larrazábal, traten neue Journalisten und Publizisten mit Werken hervor, die teilweise zu Bestseller wurden und den Autoren zu einiger Popularität verhalfen. Das war beispielsweise beim ehemaligen linksradikalen Aktivisten und mutmaß­lichen Mitglied der terroristischen Untergrundorganisation GRAPO  20 Pío Moa der Fall. In seinen Schriften wurde der Bürgerkrieg den spätfranquistischen Geschichtsdarstellungen entsprechend präsentiert: als eine Tragödie, in der die aufständischen Militärs nur auf eine verkommene Republik reagierten, die sich zu nationaler Desinte­ gration und revolutionärer Gewalt hin entwickelt hatte. Den Grund dafür sahen sie im strategisch unglück­lichen Zusammentreffen von Linksradikalismus und peripherem Nationalismus bzw. ›Separatismus‹, womit sie eine explizite Parallele zur Gegenwart zogen. Die Dimension der republikanischen Unterdrückung (des so genannten Roten Terrors) und die franquistischen Opfer wurden sowohl quantitativ als auch bisweilen qualitativ mit der erfahrenen Repression und den Opfern der Siegerseite gleichgesetzt, und zwar ungeachtet dessen, dass Erstere entschädigt worden waren und größtenteils eine staat­liche Anerkennung und Wiedergutmachung seitens der franquistischen Diktatur erfahren hatten. Ferner verschleierte und negierte man sogar die faschistischen Elemente der Franco-­ Diktatur, wobei das gesamte Regime als überwiegend katholisch und autoritär dargestellt wurde. Man betonte seine liberale Entwicklung, die im Laufe der 1960er Jahre in einer Pseudodemokratie gemündet habe: Der Übergang zur Demokratie erschien dieser Argumentation folgend als ein von Franco selbst prognostiziertes Ergebnis.21 20 GRAPO ist die Abkürzung für Grupo Revolucionario Antifascista Primero de Octubre (deutsch: Antifaschistische Revolutionäre Gruppe Erster Oktober). Zwischen 2000 und 2015 veröffent­ lichte Pío Moa verschiedene Bücher zur Geschichte des spanischen Bürgerkrieges und des Franco-­Regimes. Sein erfolgsreichstes Buch, das verschiedenen rechtsradikalen Revisionisten den Weg bereitete, war zweifellos sein Los mitos de la Guerra Civil [Die Mythen des Bürgerkrieges], Madrid 2003. Siehe auch Pío Moa: Franco para antifranquistas [Franco für Antifranquisten]. Barcelona 2009. 21 Einige Berufshistoriker haben sich mit den Thesen von Moa durchaus kritisch auseinandergesetzt, so beispielsweise Alberto Reig Tapia: Anti-­Moa. La subversión neofranquista de la Historia [Anti-­Moa. Die neofranquistische Subversion der Geschichte]. Barcelona 2006 sowie Ders., La crítica de la crítica [Die Kritik der Kritik]. Madrid 2017.

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Was einige ihrer Verfechter als »die andere historische Erinnerung« bezeichneten,22 erhielt eine zusätz­liche Resonanz im Kontext der Rezeption einiger ost­ europäischer Erinnerungsdiskurse, die nach dem Ende des Kommunismus aufgekommen waren. In ihnen erkannten sie manche Ähn­lichkeiten: Hätte die Republik den Krieg gewonnen, wäre Spanien in den Einflussbereich der Sowjet­union gefallen und Opfer des stalinistischen Terrors geworden. Dagegen sei Franco das geringere Übel gewesen. Ein spanisches Äquivalent zu Ernst Nolte fehlte den Revisionisten jedoch. Ihre simplifizierenden Argumente wurden von keinem einflussreicheren spanischen Berufshistoriker angenommen. Ledig­lich einige Essayisten und jüngere Historiker aus katholischen Universitäten waren bisher dafür empfäng­lich. Die einzige Ausnahme bildet der US-amerikanische Spanien- und Faschismushistoriker Stanley G. Payne – mittlerweile weit über 80 –, der als bekanntester Verfechter dieser These(n) gilt.23 Die Hauptströmung der spanischen Geschichtsschreibung hat sich jedoch in eine entgegengesetzte Richtung bewegt. Die neue, wiederbelebte und in erster Linie historiografisch erfrischende Diskussion über den Bürgerkrieg und die Ursprünge und Charakteristika des Franquismus wurde auch von der akademischen Geschichtswissenschaft aufgegriffen. Zwar waren die beiden Epochen stets Bestandteile ihrer thematischen Beschäftigung gewesen. Sowohl in Spanien als auch im Ausland waren bereits zahlreiche wissenschaft­liche Studien erschienen. Seit geraumer Zeit ist es aber vor allem die spanische Geschichtsschreibung, ­welche ausgezeichnete Arbeiten zu den verschiedensten Aspekten beider Epochen vorgelegt hat und damit ganz im Einklang mit den Hauptströmungen der europäischen Historiografie steht. Die Ansicht, dass die fundierteste Geschichtsschreibung zur neuesten spanischen Geschichte außerhalb des Landes geschrieben wird, muss mindestens seit den 1980er Jahren als Gemeinplatz gelten. Eindeutige Gegenbeispiele bieten die Debatte über den sozialen Konsens während der Franco-­ Diktatur oder die zunehmende Literatur zur Kriegskultur und Brutalisierung während des Bürgerkrieges, die sich auf Dimensionen wie die Kriegserfahrungen 22 Als Beispiel für die verschiedenen Varianten des neorevisionistischen historischen Diskurses (ultrakatholisch, neofaschistisch oder einfach postfranquistisch) siehe den Tagungsband von Alfonso Bullón de Mendoza/Luis E. Togores (Hrsg.): Revisión de la Guerra Civil española [Revision des spanischen Bürgerkriegs]. Madrid 2002; siehe auch Robert ­Stradling: Moaist Revolution and the Spanish Civil War. Revisionist History and Historical Politics. In: The English Historical Review 113 (2007), S. 442 – 57. 23 Siehe u. a. Stanley G. Payne/Jesús Palacios: Franco: A Personal and Political Biography. Madison (Wi) 2014 sowie Stanley G. Payne: El camino al 18 de julio: la erosión de la democracia en España [Der Weg zum 18. Juli: Die Erodierung der Demokratie in Spanien]. Madrid 2016.

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der Kombattanten und Zivilisten fokussiert und nicht nur auf die Sphären der Politik und Diplomatie beschränkt hat.24 Doch nicht alle Debatten zeichnen sich durch ein ähn­liches Niveau an theoretischer Kohärenz aus, besonders nicht im Bereich der Geschichtskultur.25 Die oft unreflektierte Übernahme der Begriffe Holocaust und Genozid ist in d­ iesem Sinne exemplarisch. Sie haben eine gewisse Verbreitung unter Laien- und professionellen Historikern gefunden, die sie dazu verwenden, den franquistischen Krieg und die darauffolgenden Repressionen konzeptionell zu erfassen. Ihren ersten Befürwortern war nicht wirk­lich bewusst, welch internationale Debatte den Terminus umgab und immer noch umgibt.26 Wieder andere n ­ utzen sie auf emphatische und literarische Weise, ohne ihn in einen größeren Vergleichs­zusammenhang zu stellen. Als Folge des Imports aus der argentinischen Debatte wurde der Genozidbegriff teilweise durch ›Praktiken des Völkermordes‹ (genocidal practices) ersetzt. Losgelöst von der Bedeutung, die ­diesem Konzept durch die Nürnberger Prozesse zugeschrieben worden war, fiel es zurück auf die erste Definition von Raphael Lemkin, ­welche die Unterdrückung oder Vernichtung von politischen oder ideologischen Gegnern miteinbezog.27 Die von Franco mit Gewalt erzwungene Erschaffung einer wahrhaft ›spanischen‹ Nation würde damit zu einer Variante des Genozids.

24 Siehe dazu die historiografischen Essays von Chris Ealham: Myths and the Spanish Civil War. In: Journal of Contemporary History 42 (2007), S. 365 – 376; Till Kössler: Mobilisierung, Gewalt, Erinnerung. Neue Ansätze in der Forschung zum Spanischen Bürgerkrieg. In: Neue Politische Literatur 52 (2007), S. 431 – 455; Ruth MacKay: The Good Fight and Good History. The Spanish Civil War. In: History Workshop Journal 70 (2010), S. 199 – 206; sowie neu­lich die Podiumsdiskussion Public Memory, Political Violence and the Spanish Civil War (mit Beiträgen von Angel Viñas, Peter Anderson, Maria Thomas, Julián Casanova und Jorge Marco). In: Journal of Contemporary History 521 (2017) 1, S.  121 – 163. 25 Siehe dazu Xosé M. Núñez Seixas: Ein endloser Erinnerungskrieg? Bürgerkrieg, Diktatur und Erinnerungsdiskurs in der jüngsten spanischen Historiographie. In: Neue Politische Literatur 55 (2010), S. 23 – 50. 26 Siehe zum Beispiel Montse Armengou/Ricard Belis: Las fosas del silencio. ¿Hay un Holocausto español? [Die Gräber des Schweigens. Gab es spanischen Holocaust?] Barcelona 2004. – Zum Ursprung und zur Entwicklung der Übernahme des Begriffes ›Genozid‹ siehe die treffende historiografische Analyse von Mercedes Yusta: ¿Por qué decimos memoria histórica cuando queremos decir memoria? [Warum sprechen wir von historischer Erinnerung, wenn wir Erinnerung meinen?]. In: Carlos Forcadell (Hrsg.): Razones de historiador. Magisterio y presencia de Juan José Carreras [Gründe eines Historikers. Lehren und Gegenwart Juan José Carreras’]. Zaragoza 2009, S. 161 – 174. 27 Siehe zum Beispiel den m. E. interessanten, jedoch in manchen Aspekten wenig überzeugenden Versuch von Antonio Míguez: La genealogía genocida del franquismo. Violencia, memoria e impunidad [Die genozidale Genealogie des Franquismus]. Madrid 2014.

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In dieser Logik könnte der Zwang zu einer einzigen Sprache und Kultur für das ganze Land sowie die entsprechende Unterdrückung sprach­licher Minderheiten als ›kultureller Genozid‹ oder ›Ethnozid‹ eingestuft werden. Eine ­solche Sichtweise würde wiederum heutige Ansprüche ethnonationalistischer Parteien und Gruppierungen an der iberischen Peripherie (Katalonien, das Basken­land oder Galicien) legitimieren.28 Ein zweites Beispiel ist die Debatte über die mög­lichen Definitionen des franquistischen Regimes: War es während seiner ersten Phase faschistisch und entwickelte es sich in der Folge zu einer katholisch-­autoritären Diktatur militärischer Prägung? War der spanische Faschismus ein integraler Bestandteil des Franquismus, oder war der Franquismus die spezifische Form des spanischen Faschismus? Während dies für professionelle Historiker theoretische Fragen sind, die in Zusammenhang mit den jüngsten Diskussionen über den Charakter des Faschismus stehen, werden sie von vielen Laienhistorikern normativ interpretiert. Spricht man dem Franquismus die Faschismusdefinition ab, so wird das zuweilen als Versuch gedeutet, die vom Regime begangenen Verbrechen sowie seinen repressiven und totalitären Charakter zu relativieren. In eine entgegengesetzte Richtung weist ein drittes Beispiel: Hierbei geht es um die anhaltende Diskussion über die Rolle der von links ausgeübten politischen Gewalt und um ihren Beitrag zur Gewalteskalation in den 1930er Jahren. Damit verbunden ist auch die Frage nach der mutmaß­lichen Verantwortung der Republikaner und der Arbeiterbewegung am Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges. Diese Diskussion hat zum Teil dazu geführt, dass die Zweite Spanische Republik in einem ähn­lichen Licht wie die Weimarer Republik dargestellt wird, näm­lich als ›Republik ohne Republikaner‹. Aus dieser These ziehen sowohl einige revisionistische als auch nichtrevisionistische Autoren folgende Schlussfolgerung: Im Spanischen Bürgerkrieg habe es weder Täter noch Opfer gegeben. Entscheidend s­ eien Stärke bzw. Schwäche der Kriegsparteien gewesen, ohne dass sich diese bedeutend unterschieden hätten. Obwohl die Forschung wichtige Schritte in die richtige Richtung unternommen hat, steht eine abschließende Antwort der professionellen Historiografie auf diese wichtige Frage immer noch 28 Siehe z. B. Sören Brinkmann: Katalonien und der spanische Bürgerkrieg. Geschichte und Erinnerung. Berlin 2007, S. 132 – 154; John P. Thompson: As novelas da memoria. Trauma e representación da Historia na Galiza contemporánea [Die Erinnerungsromane. Trauma und Geschichtsdarstellung im zeitgenössichen Galicien]. Vigo 2009; Mikel Urquijo: La memoria negada. La encrucijada de la vía institucional en el caso del Gobierno Vasco y las víctimas del franquismo [Die verweigerte Erinnerung. Der institutionelle Weg als Scheideweg im Fall der baskische Regierung und der Opfer des Franquismus]. In: Hispania Nova 6 (2006). Abgerufen unter URL: http://hispanianova.rediris.es/6/dossier.htm, letzter Zugriff: 15. 01. 2017.

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aus: War die auf beiden Seiten praktizierte Gewalt – der rote und der weiße Terror, das heißt die revolutionäre Gewalt und die militärische Unterdrückung, die später vom franquistischen Staat ausgeübt wurde – vergleichbar? Dem histo­ riografischen Dialog zu dieser Problematik fällt es allerdings schwer, von den normativen Folgen, die diese Frage in der breiten Öffent­lichkeit erregen, ausreichend Abstand zu gewinnen. Die vom Erinnerungsboom der Jahre 2003 bis 2012 ausgelösten Wellen sind bisher noch nicht abgeflacht. Es scheint sich eher eine fragmentierte Erinnerungslandschaft konsolidiert zu haben, die von unterschied­lichen politischen Kulturen und ideologischen Lagern gepflegt wird und dabei auch auf regionaler Ebene stark voneinander abweicht. Es existiert keine gemeinsame Erinnerungskultur, die von einer Mehrheit der politischen Parteien geteilt wird, und zwar auch dort nicht, wo sich die Parteien zum bestehenden demokratischen System oder zur Verfassung von 1978 bekennen.

3. Erinnerungskultur und Defizite der Demokratie Die schwere Wirtschaftskrise – die südeuropäische Variante der Eurokrise –, die auch Spanien seit 2008 mit großer Intensität erfasst hat, hat die öffent­liche ­Präsenz der Debatte um die Erinnerung abgeschwächt. Die gemäßigte Linke schien sich mit der Verabschiedung und dem Inkrafttreten des Gesetzes über das historische Gedächtnis zufriedenzugeben, während die regierenden Konservativen es sch­lichtweg aussetzten, ohne dieser Thematik weitere Impulse zu geben. Als offizielle Begründung genügten die Devise ›Keinen interessiert das mehr!‹ und der Verweis auf eine finanzielle Schieflage, die dem Staat daran hindern würde, eine aktive Vergangenheitspolitik zu betreiben. Allerdings klagen die neue und die postkommunistische Linke sowie die peripheren Nationalisten weiterhin vehement die Defizite an, w ­ elche die spanische Demokratie ihres Erachtens mit Bezug auf die Diktaturbewältigung aufweist. So ist es für zwei der Hauptfiguren der jungen Linkspartei ›Podemos‹ (dt.: Wir können), Pablo Iglesias und Juan Carlos Monedero, endgültig an der Zeit, das noch verbliebene und die Phase des demokratischen Übergangs überdauernde Erbe des Franquismus hinter sich zu lassen. Die Wurzeln der Monarchie – seit 2012 in einer tiefen Legitimitätskrise –, des Justizwesens, der Territorialstruktur des Staates und der von einigen sozialen Eliten genossenen Privilegien (abschätzig als ›Kaste‹ bezeichnet) würden tief ins Franco-­Regime reichen und sollten, so ihr Standpunkt, durch eine radikale Neugründung der spanischen Demokratie restlos beseitigt werden. Diese müsse man hingegen auf den Prinzipien einer

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mehr oder weniger föderalen und sozialreformistischen Republik neu errichten.29 Verschiedene ›Podemos‹-Vertreter wie andere Linksintellektuelle haben die Meinung vertreten, dass es sich beim demokratischen Übergang nicht um eine Erfolgs­geschichte gehandelt habe, sondern um einen Verrat an der linken und antifranquistischen Opposition und damit am Erbe der Bürgerkriegsverlierer. Ihnen zufolge könne eine kritische Umdeutung des demokratischen Übergangs auf diese Weise auch die spanische Demokratie neu beleben und sie von ihren im Franquismus wurzelnden Defiziten befreien: unter anderem von der verbreiteten Korruption auf verschiedenen Ebenen der Staatsverwaltung, der mangelnden Toleranz gegenüber der Meinung politischer und sozialer Minderheiten und vom Fehlen einer wirk­lich funktionierenden demokratischen Öffent­lichkeit – im Sinne einer öffent­lichen und demokratischen Diskussion. Ob diese demokratischen Defizite allerdings ausschließ­lich dem Erbe des Franquismus und der in den letzten 40 Jahren nicht vollzogenen radikalen Diktaturbewältigung zugeschrieben werden können, steht weiterhin zur Debatte.30 Erwartungsgemäß haben die Gemeinden, die seit Mai 2015 von der neuen Linken ›Podemos‹ und/oder von alternativen Linkskoalitionen regiert werden, die Umsetzung des im Jahr 2007 verabschiedeten Erinnerungsgesetztes der Zapatero-­Regierung beschleunigt. Städte wie Madrid, A Coruña und Cádiz entfernen nun aus der Franco-­Zeit überlieferte Straßennamen. Das Gleiche geschieht auch in Dutzenden anderen Städten und Dörfern.31 Das Portrait des aktuellen Königs (Felipe VI .) wurde ebenfalls aus einigen Rathäusern entfernt, als eine Form republikanischer Geste. Wäre nach den Parlamentswahlen im Jahr 2016 ein Linksbündnis zustande gekommen, hätte dies sicher­lich eine kompromisslosere Haltung und eine engagiertere Erinnerungspolitik nach sich gezogen. Was wiederum eine Gegenreaktion vonseiten der Rechten ausgelöst hätte, die noch immer der Entfernung von franquistischen Straßen- und Ortsnamen entgegenwirkt.

29 Siehe Juan Carlos Monedero: La transición contada a nuestros padres. Nocturno sobre la democracia española [Die Transition, unseren Eltern erzählt. Nachtstück über die spanische Demokratie]. Madrid 2011; Pablo Iglesias: Una nueva transición. Materiales del año del cambio [Eine neue Transition. Materialien für ein Jahr des Wandels]. Madrid 2015; Guillem Martínez (Hrsg.): CT o la cultura de la transición. Crítica a 35 años de cultura española [CT oder die Kultur der Transition. Eine Kritik 35 Jahre spanischer Kultur]. Barcelona 2016. 30 Siehe neuerdings José C. Rueda Laffond: El candado del 78. Podemos ante la memoria y la historiografía sobre la Transición democrática [Der Riegel von 78. Podemos im Angesicht der Erinnerung und der Historiographie zur Transition in die Demokratie]. In: Historia Contemporánea 53 (2016), S. 725 – 751. 31 Für den Fall Galicien siehe John P. Thompson: Galician Memorials. Civic Activism and Shortcomings. In: Galicia 21. Journal of Contemporary Galician Studies F (2014/15), S. 43 – 59.

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Dabei machen sie altbekannte Argumente geltend wie das unheilvolle Erwachen der ›Gespenster der Vergangenheit‹, die gefähr­liche Zunahme gesellschaft­licher Spannungen oder nicht zuletzt auch die drohende Abspaltung Kataloniens und anderer Territorien. Die Mehrheit der spanischen Konservativen hat noch immer ein substantielles Problem damit, sich der Aufgabe einer dezidierten und kompromisslosen Vergangenheitsbewältigung anzunehmen. Dies betrifft nicht nur die Volkspartei. Auch die aufstrebende liberale Partei der Mitte, die sogenannten Staatsbürger (span.: Ciudadanos), deren politische Spitze einer jüngeren, in den 1980er und 1990er Jahren aufgewachsenen Generation entstammt, zeigt große Vorbehalte gegenüber einer kritischen Auseinandersetzung mit der Erinnerung an das Franco-­Regime. Dies liegt zum Teil darin begründet, dass die von ihr anvisierten konservativen Wähler die Erinnerungsproblematik als einen wichtigen Prüfstein ihrer politischen Identität betrachten. In dieser Hinsicht hat sich seit den 1990er Jahren nichts Substantielles geändert. Hinzu kommt die Tatsache, dass viele die Übernahme einer kritischen Diktatur- und Vergangenheitsbewältigung mit einer indirekten Entlegitimisierung der spanischen Meistererzählung der nationalen Staatseinheit verknüpfen. Aus ihr ergebe sich, so die Konservativen, eine gravierende Gefahr für die von den peripheren Nationalbewegungen bedrohte territoriale Einheit der spanischen Nation. Die konservativen Intellektuellen begegnen dieser vermeint­lichen Gefahr mit der Forderung nach einer wohlwollenden und positiven Erzählung der jüngsten spanischen Vergangenheit, die ihre positiven Seiten hervorhebe und damit den nationalen Stolz aller spanischen Staatsbürger stärke. Betont werden beispielsweise der erfolgreiche Übergang zur Demokratie ­zwischen 1975 und 1978, die Anerkennung der inneren territorialen Vielfalt, der Beitritt zur EU und der Aufbau eines Wohlfahrtsstaates. Eine zu kritische Sicht der spanischen Geschichte führe hingegen ledig­lich dazu, dass sich die Spanier für ihr Land »schämten«. Die Erinnerungspolitik müsse auf einer durchweg positiven Interpretation der spanischen Vergangenheit beruhen, die nicht nur den Bürgerkrieg und den Franquismus, sondern auch andere Perioden der spanischen Vergangenheit, wie etwa den spanischen Kolonialismus in Afrika und Amerika, abdecke.32

32 Zu ­diesem Argument siehe Núñez Seixas: Die Diktatur vergessen (wie Anm. 4), sowie Ders.: From National-­Catholic Nostalgia to ›Constitutional Patriotism‹. Conservative ­Spanish Nationalism since the Early 1990s. In: Sebastian Balfour (Hrsg.): The Politics of Contemporary Spain. London 2005, S. 121 – 145; siehe auch Carsten Humlebaek: Spain. Inventing the Nation. London 2015, S. 157 – 178.

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Eine symbolische Versöhnung z­ wischen den Erinnerungsparteien ist immer noch nicht erfolgt. In dieser Hinsicht bietet sich allerdings ein vergleichender Blickwinkel an. So stellte sich eine kritische Haltung gegenüber der eigenen dikta­torischen Vergangenheit auch in anderen europäischen Staaten wie Italien und Deutschland erst 30 Jahre nach dem Ende der jeweiligen Diktatur oder faschistischen Besatzung ein. Insofern ist der spanische Fall anderen europäischen Aufarbeitungsbemühungen zeit­lich nachgelagert, er kann jedoch mitnichten als absolute Ausnahme gewertet werden. Der Übergang zur Demokratie in Spanien wurde zwar in den vergangenen Jahrzehnten als Modell präsentiert. Dieses erfreute sich in Ländern wie Polen und Ungarn während der 1990er Jahre großer Beliebtheit. Zudem gab es et­liche Versuche, das spanische Beispiel nach Lateinamerika zu exportieren, und zwar als Weg, um die belastete Vergangenheit der dortigen ehemaligen Diktaturen zu bewältigen. Insgesamt erweist sich das hier skizzierte Verhältnis z­ wischen Transition und Erinnerung allerdings wohl kaum als das Vorbild schlechthin, zu dem es erklärt worden ist und dem andere Gesellschaften in Europa oder in Lateinamerika folgen sollten. Als historisch wertvolle Erfahrung eignet sich das Beispiel Spaniens aber dennoch, um daraus zu lernen und es mit anderen Erfahrungen zu vergleichen.

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Teresa Pinheiro

Die Erinnerung an den Estado Novo im demokratischen Portugal

Die längste rechtsorientierte Diktatur Europas, der Estado Novo, herrschte über 40 Jahre in Portugal und prägte somit mehrere Generation im west­lichsten Staat Kontinentaleuropas. Noch heute, über 40 Jahre nach ihrem Ende, ist die Erinnerung an die Diktatur im öffent­lichen Raum präsent. Zwar wurden die ehemaligen Machthaber mit der Nelkenrevolution entmachtet und die Monumente der Diktatur entfernt, dennoch sorgt die Erinnerung an den Estado Novo seit seinem Ende 1974 bis heute für kontroverse Diskussionen in Politik und Gesellschaft. Dabei geht es allem voran um Deutungshoheit, darum, das Erbe dieser prägenden Epoche der Zeitgeschichte für die Gegenwart zu definieren. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, Modalitäten der Erinnerung an den Estado Novo im demokratischen Portugal – das heißt von 1974 bis heute – zu analysieren. Der Fokus liegt dabei weniger auf den vielfältigen Formen individueller Erinnerung. Vielmehr geht es darum, Entwicklungen im öffent­lichen Umgang mit dem Erbe der Diktatur nachzuzeichnen. Der erste Teil des Beitrags arbeitet das erinnerungspolitische Potential zentraler Ereignisse der portugiesischen Geschichte des 20. Jahrhunderts heraus, denn mit ­diesem Erbe mussten sich die politische Führung und die Gesellschaft nach 1974 auseinandersetzen. Im zweiten und zentralen Teil des Aufsatzes geht es um den Umgang mit der Diktatur des Estado Novo nach 1974.

1. Ein erinnerungspolitisches Erbe: Erste Republik, Estado Novo und Nelkenrevolution Die politische Geschichte Portugals im 20. Jahrhundert wies Entwicklungen auf, die sich in den europäischen Kontext einschreiben lassen. Mit der Ausrufung der ­Ersten Republik am 5. Oktober 1910 endete die acht Jahrhunderte andauernde Monarchie, die in den letzten Jahrzehnten ihrer Existenz vom aufkommenden Republikanismus zunehmend bedroht und von beinahe allen sozialen Kräften

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angeprangert worden war.1 Dem ersten Versuch einer Demokratisierung und Modernisierung während der ­Ersten Republik, der seinen Niederschlag in der Verfassung von 1911 fand, standen jedoch eine ungünstige wirtschaft­liche Lage, ein mangelnder Konsens in der politischen Klasse und eine zu schwache Verankerung der demokratischen Ideale in der Bevölkerung gegenüber. Die verheerenden Folgen der portugiesischen Beteiligung am ­Ersten Weltkrieg ließen den gesellschaft­lichen Rückhalt der republikanischen Regierungen noch weiter schwinden.2 Der von General Gomes da Costa angeführte Putsch am 28. Mai 1926 setzte der E ­ rsten Republik ein Ende und etablierte – unter Beibehaltung der Republik als Staatsform – eine Militärdiktatur mit dem General Óscar ­Carmona als Präsidenten. Als der Wirtschaftsprofessor António de Oliveira Salazar 1932 den Posten des Ministerpräsidenten annahm, konsolidierte sich die Diktatur als ein autoritäres, antiliberales und von Salazar selbst als ›Neuer Staat‹ konzipiertes Regime. Die 1933 verabschiedete Verfassung etablierte eine korporativistische Diktatur, die von Institutionen wie der Zensur, der Einheitspartei União Nacional (mit entsprechender Auflösung des Parteienpluralismus) oder Massenorganisationen wie der Portugiesischen Jugend und der Portugiesischen Legion flankiert wurde. Besonders aber die Staatspolizei PIDE 3 – gegründet 1933 nach dem Vorbild der Gestapo – avancierte mit einem gut organisierten Repressionssystem (zu dem Verhöre, Inhaftierung und Folter in Spezialgefängnissen und Mord gehörten) und einem engmaschigen Informantennetz zu einer der Grundsäulen des Regimes.4 Salazar, der die Geschicke des Landes um die sich stets verändernde Großwetterlage in Europa und in der Welt zu lenken vermochte, regierte als Ministerpräsident bis 1968 und prägte damit wie kein anderer Politiker die Ausrichtung 1 Fernando Rosas/Maria Fernanda Rollo: História da Primeira República Portuguesa [Geschichte der ­Ersten Portugiesischen Republik]. Lisboa 2011, S. 15 f. 2 Siehe Luís Filipe Raposo Pereira: Museu de arte popular: memórias de poder [Volkskunstmuseum: Erinnerungen der Macht]. In: Cadernos de Sociomuseologia, 39 (2011), S. 23 – 76, hier S. 24 f. 3 PIDE steht für Polícia Internacional de Defesa do Estado (dt.: Internationale Staatsschutzpolizei). Obwohl die Staatspolizei des Estado Novo, die von 1933 bis zu ihrer Auflösung 1974 herrschte, unter ­diesem Akronym bekannt ist, erhielt sie im Laufe der Jahrzehnte unterschied­ liche Namen und veränderte ihre Strukturen: Zwischen 1933 und 1945 war die Staatspolizei des Estado Novo als Polícia de Vigilância e Defesa do Estado (PVDE, Überwachungs- und Staatsschutzpolizei) institutionalisiert; 1969 ging die PIDE in die Direcção-­Geral de Segurança (DGS, Zentralamt für Sicherheit) ein. 4 Fernando Rosas: O salazarismo e o homem novo: ensaio sobre o Estado Novo e a questão do totalitarismo [Salazarismus und der neue Mensch: Abhandlung über den Estado Novo und die Frage des Totalitarismus]. In: Análise Social, 35/157, S. 1031 – 1054.

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der Diktatur des Estado Novo. Die Etablierung des Estado Novo erfolgte zwar im Schulterschluss mit den rechtsorientierten Diktaturen Europas der 1930er Jahre, der Neue Staat sah sich aber zu Beginn mit der Konkurrenz anderer Kolonialmächte in Afrika konfrontiert – als Kolonialminister erkannte Salazar bald die Notwendigkeit, das portugiesische Kolonialreich durch eine effektive Präsenz in Afrika aufrechtzuerhalten.5 Die offizielle Neutralität im Zweiten Weltkrieg und die strategische Bedeutung der Azoren erleichterten den Anschluss Portugals an die internationale Politik in der Nachkriegszeit – etwa als Gründungsmitglied der NATO –, obwohl das diktatorische und kolonialistische Regime zunehmend obsolet geworden war.6 Mit dem Kolonialkrieg, der 1961 mit einem Aufstand in Angola begann, sich aber bald auf Mosambik und Guinea-­Bissau ausweitete, geriet Salazar spürbar in die Kritik der west­lichen Partner. Die zaghafte Öffnung des Regimes unter Salazars Nachfolger Marcelo Caetano bewirkte weniger die Eindämmung der sozialen und politischen Proteste gegen den Krieg als ihr Gegenteil: Unfähig, klare Zeichen ­­ der Demokratisierung zu setzen und einen Konsens in der polemisch debattierten Frage nach der Zukunft des portugiesischen Kolonialreiches zu erreichen, manövrierte sich Caetano in eine politische Sackgasse – aus der ausgerechnet das Militär das Land befreite. Die Nelkenrevolution vom 25. April 1974 gehört mit dem 5. Oktober 1910 und dem 28. Mai 1926 zu den großen politischen Zäsuren der Zeitgeschichte Portugals. Die Bewegung der Streitkräfte MFA (port.: Movimento das Forças Armadas) setzte mit dem Militärputsch in der Nacht des 25. April der 48-jährigen Diktatur ein Ende. Die Tatsache, dass sich die Lissaboner Bevölkerung über die per Radio-­ Communiqué übermittelte Aufforderung der Streitkräfte hinwegsetzte, nicht auf die Straße zu gehen, steht symbolisch für den weiteren Verlauf des Demokratisierungsprozesses in Portugal. Im Laufe des Tages konzentrierten sich Tausende von Zivilisten im Zentrum des Geschehens in der Innenstadt, unterstützten die Militärs und skandierten Parolen für die Absetzung des Regimes und das Ende des Kolonialkrieges. Was mit einem militärischen Putsch begann, entwickelte in nur wenigen Stunden Merkmale einer bürger­lichen Revolution. Der 25. April 1974 bereitete der Diktatur ein abruptes Ende. Der amtierende Ministerpräsident Marcelo Caetano verließ das Land nach der Kapitulation und fand in Brasilien Exil; das Gleiche geschah mit dem Präsidenten der Republik, 5 Valentim Alexandre: Ideologia, economia e política: a questão colonial na implantação do Estado Novo [Ideologie, Wirtschaft, Politik: Die koloniale Frage in der Genese des Estado Novo]. In: Análise Social, 28/123 – 124, S. 1117 – 1136, hier S. 1133. 6 António Costa Pinto/Nuno Severiano Teixeira (Hrsg.): Southern Europe and the Making of the European Union. Colorado 2002, S. 8 f.

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Américo Tomás. Die Auflösung der wichtigsten Institutionen der Diktatur – Einheitspartei, Korporativkammer, Zensur, Massenorganisationen, PIDE – wies den Weg in die Demokratisierung. Das Programm des MFA sah außerdem die bedingungslose Dekolonisierung vor, die in der Tat umgesetzt wurde: Bis November 1975 waren alle ehemaligen portugiesischen Kolonien zu unabhängigen Staaten geworden. Der Dekolonisierungsprozess sorgte für tiefe Spaltungen in Politik und Gesellschaft. Unter der Regie des damaligen Außenministers, des Sozialisten Mário Soares, wurde die Dekolonisierung von weiten Teilen der linksgeprägten Bürger und von den linksorientierten Parteien begrüßt. Konservative Politiker und weite Teile des Militärs standen dem Prozess ablehnend gegenüber. Vor allem aber den vielen so genannten Retornados – den ehemaligen portugiesischen Siedlern in Afrika, die ­zwischen 1974 und 1975 fluchtartig nach Portugal fliehen mussten – fügte die Dekolonisierung einen tiefen Einschnitt in ihren Biografien zu. So brach die Nelkenrevolution nicht nur mit einem halben Jahrhundert Diktatur in Portugal, sondern beendete zugleich ein über fünf Jahrhunderte andauerndes Kolonialsystem. Mit einem Schlag war das Territorium Portugals auf seine kontinentale Größe zuzüg­lich der Inselgruppen Madeira und Azoren reduziert worden.7 Mit ­diesem Amputationsschmerz und mit der neu errungenen – für das Gros der Bevölkerung unbekannten – Freiheit musste die gesamte Gesellschaft – Retornados, Residenten, Militärs und Politiker jeg­licher Couleur gleichermaßen – umzugehen lernen. Welche Rolle die Erinnerung an den Estado Novo bei dieser demokratischen und postkolonialen Neufindung Portugals spielte, darum soll es im Folgenden gehen.

2. Der Umgang mit dem Estado Novo im demokratischen Portugal Anders als etwa im Nachbarland Spanien brachte die Nelkenrevolution in Portugal einen dezidierten Bruch mit der Diktatur, es gab keinen paktierten Übergang mit der politischen Führung des Estado Novo.8 Auf dieser Ruptur baute der Demokratisierungsprozess auf. Der Umgang mit der Diktatur gestaltete sich jedoch in den letzten 40 Jahren nicht immer gleich. Seit 1974 durchläuft das Land einen tiefgreifenden politischen, wirtschaft­lichen und sozialen Wandel. In Korrelation mit ­diesem Wandel lassen sich mehrere Phasen der Erinnerung an den Estado 7 Auch Macau blieb noch bis 1999 unter portugiesischer Verwaltung. 8 Siehe António Costa Pinto: As chaves do período 1960 – 2000 [Meilensteine der E ­ poche 1960 – 2000]. In: Ders. (Hrsg.): História contemporânea de Portugal. Bd. 5: A busca da democracia 1960 – 2000 [Die Suche nach der Demokratie 1960 – 2000]. Lisboa 2015, S. 20.

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Novo unterscheiden. Eine erste Phase im erinnerungspolitischen Umgang mit der Diktatur ist in den ersten zwei Jahren nach der Nelkenrevolution auszumachen, einer Zeit des radikalen Bruchs mit der Vergangenheit. Die zweite Phase erstreckt sich bis ungefähr Mitte der 1990er Jahre und ist durch eine Versöhnungs- und Konsenspolitik charakterisiert, die zur Eindämmung der Aufarbeitung der Vergangenheit bis hin zum Vergessen im Namen der politischen Stabilisierung führte. Seit den 1990er Jahren jedoch zeichnet sich eine Tendenz ab, die Erinnerung an die Diktatur und an die koloniale Vergangenheit zu reaktivieren. Diese schematisch anmutende Periodisierung der Erinnerung an den Estado Novo wird im Folgenden als heuristischer Kompass genutzt, um Makrotendenzen in der Aufarbeitung der Diktatur im öffent­lichen Raum unter besonderer Berücksichtigung der politischen Erinnerungskultur, der publizistischen Diskurse, der medialen Aufarbeitung und der sozialen Bewegungen zu identifizieren. 2.1 Der revolutionäre Erinnerungsbruch (1974 – 1976) So deut­lich sich der Bruch mit der Diktatur nach dem 25. April gestaltete, so ungewiss war die Zukunft des Landes in den ersten zwei Jahren der erlangten Freiheit. Denn die politische Klasse war gespalten. Eine erste Spaltung zeichnete sich bereits in den ersten Monaten nach der Nelkenrevolution um die Frage der Dekolonisierung ab. Der Präsident der neu ins Leben gerufenen Militärjunta, General António de Spínola, vertrat eine allmäh­liche und vage Lösung für die Kolonien und geriet damit in Konflikt mit Mitgliedern des MFA, die eine sofortige und klare Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung der Völker in den portugiesischen Kolonien vertraten; auf ihrer Seite hatten sie die Parteien des Zentrums und des linken Spektrums, die an den provisorischen Regierungen beteiligt waren.9 Mit dem Gesetz 7/74 vom 27. Juli 1974 wurde das Recht auf Unabhängigkeit der Kolonien anerkannt, was einer Absage der Linie Spínolas gleichkam und in seinen Rücktritt im September desselben Jahres mündete. Eine weitere Spaltung vollzog sich z­ wischen den gemäßigten Parteien, die nach der Etablierung einer 9 Dazu gehörten die Kommunistische Partei Portugals (Partido Comunista Português, PCP), die 1921 gegründet wurde und als einzige organisierte Partei während des Estado Novo im Untergrund agierte; die Sozialistische Partei (Partido Socialista, PS), die 1973 von Mário Soares mit Unterstützung der deutschen SPD in Bad Münstereifel gegründet wurde; die Demokratische Bewegung Portugal (Movimento Democrático Português, MDP), die auf eine linksorientierte Oppositionsbewegung gegen den Estado Novo zurückging; und die mitte-­rechts-­gerichtete Volksdemokratische Partei (Partido Popular Democrático, PPD), die ihren Ursprung im liberalen Flügel des Parlaments in den letzten Jahren der Diktatur hatte.

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parteipluralistischen repräsentativen Demokratie strebten, und den Parteien des linken Spektrums – in den ersten Wochen nach dem 25. April hatten sich zahlreiche Parteien maoistischer, marxistisch-­leninistischer und trotzkistischer Orientierung gegründet –, die sozialrevolutionären Bestrebungen nachhingen. Bald schwappten diese Konflikte auch auf die nun stark politisierten Betriebsräte und Gewerkschaften sowie auf die Zivilgesellschaft über. Den Höhepunkt politischer Polarisierung erreichten die Konfrontationen im so genannten heißen Sommer von 1975. Nach dem Scheitern eines von Spínola-­ Anhängern organisierten Putsches im März radikalisierte sich die linke Politik der provisorischen Regierung von Vasco Gonçalves nicht nur mit der Intensivierung der Agrarreform und der Verstaat­lichung der größten Konzerne, sondern auch mit der Gründung des Revolutionsrats, eines militärischen Ausschusses, der über die politischen Entscheidungen wachte. Diese Radikalisierung in der Politik begünstigte gleichermaßen die Polarisierung der Gesellschaft z­ wischen extrem linken und extrem rechten Gruppen, die sich teilweise auf offener Straße äußerte. Schließ­lich begruben der Sieg der moderaten demokratischen Kräfte – allen voran der Sozialisten – in der Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung am 25. April 1975 und das Scheitern eines Putschversuchs seitens der revolutionären Flanken des Militärs am 25. November desselben Jahres die revolutionären Aspirationen der ersten Stunde und ebneten den Weg in die Konsolidierung eines demokratischen und parteipluralistischen Regimes. Diese ersten Jahre der Transition zur Demokratie, die in Portugal als ›Revolutionäre Periode‹ bekannt sind und deckungsgleich mit den provisorischen Regierungen waren, gingen mit einer radikalen Aufarbeitung der Diktatur einher. Denn die verschiedenen Akteure waren sich zwar über das politische Modell für das Land uneinig, doch fanden sie in der Verurteilung des früheren Regimes einen gemeinsamen Nenner. Der dezidierte Bruch mit der Diktatur nach der Nelken­revolution führte zu dem, was in der Politikwissenschaft Transitional ­Justice genannt wird, deren tragende Säule Lustrationsprozesse waren, also die Substitution der politischen Eliten. Eine der ersten Maßnahmen der neu ins Leben gerufenen Militärjunta JNS (port.: Junta de Salvação Nacional) bestand darin, die Führungskräfte des früheren Regimes aus dem politischen Leben zu entfernen. Das erste Gesetz der Junta – das Gesetz 1/74 vom 25. April mit dem Titel ›Abberufung der faschistischen Führer‹ – verordnete die Entlassung des Präsidenten Américo Tomás, des Premierministers Marcelo Caetano und aller Minister und Staatssekretäre sowie die Abschaffung der Regierung und des Staatsrates;10 die

10 Lei no. 1/74: Junta de Salvação Nacional. In: Diário do Governo, I.a Série, No. 97, 25. 04. 1974, S. 1.

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Auflösung der Nationalversammlung und der Korporativkammer folgte mit dem Gesetz 2/74.11 Im Militär kam es zu Lustrationsprozessen, indem Unterstützer von Caetano der Reserve zugeteilt wurden. Auch die Staatsverwaltung war Ziel von Lustrationsprozessen, gestützt auf die ebenfalls im Juni 1974 gegründete Interministeriale Kommission zur Sanierung und Reklassifizierung.12 Insbesondere während des heißen Sommers spitzten sich darüber hinaus spontane Säuberungsaktionen auf lokaler Ebene in den Betrieben, in der öffent­lichen Verwaltung und im privaten Sektor zu »wilden Säuberungen«, wie António Costa Pinto sie nennt, zu.13 Das hauptsäch­liche Ziel der politischen Aufarbeitung des Estado Novo war aber die Staatspolizei PIDE, was wenig verwundert, war doch die PIDE nicht nur die zentrale Ausführungsinstanz der Verbrechen der Diktatur, sondern auch verantwort­lich für die einzigen Todesopfer, die am Ende des 25. April 1974 zu beklagen waren.14 So wurde gleich am 7. Juni 1974 der Ausschuss zur Abschaffung der PIDE-DGS gegründet.15 Während die Lustrationsprozesse einen bedeutenden Teil der politischen, technischen und wirtschaft­lichen Elite des Landes von der Ausübung öffent­licher Ämter ausschloss, sorgte das Amnestiegesetz vom 15. Juni 197416 für die Rehabilitierung der politischen Gefangenen, die in einem der Spezialgefängnisse der PIDE in Portugal oder den Kolonien inhaftiert waren. Die Oppositionellen, die sich im Exil befanden, durften nun in das Land zurückkehren. Viele von ihnen – wie der historische Führer der Kommunistischen Partei Álvaro Cunhal und der Gründer der Sozialistischen Partei Mário Soares – spielten eine entscheidende Rolle in der Neubestimmung der Politik nach der Nelkenrevolution. 11 Lei no. 2/74: Extingue a Assembleia Nacional e a Câmara Corporativa. In: Diário do Governo, I.a Série, No 112, Anhang, 25. 04. 1974, S. 1. 12 Die Comissão Interministerial de Saneamento e Reclassificação wurde per Dekret gegründet. Siehe Decreto-­Lei no. 277/74. In: Diário do Governo, I.a Série, No. 146, 25. 06. 1974, S. 743. 13 Siehe António Costa Pinto: The Legacy of the Authoritarian Past in Portugal’s Democratisation. In: Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 2 – 3, S. 265 – 291, hier S. 280; siehe auch: António Costa Pinto: Coping with the Double Legacy of Authoritanism and Revolution in Portuguese Democracy. In: South European Society and Politics 15 (2010) 3, S. 395 – 412, hier S. 398 – 4 02. 14 Als sich damals eine Menschenmenge vor dem Hauptquartier der PIDE in der Innenstadt Lissa­ bons versammelte und die Kapitulation der sich im Gebäude verschanzten Agenten forderte, schossen diese von dem Balkon in die Menge, wodurch vier Personen getötet und mehrere verletzt wurden. 15 Die vollständige Bezeichnung des Ausschusses lautete Comissão de Extinção da PIDE-DGS, MP e LP; die Institution zielte also auf die Auslöschung nicht nur der PIDE, sondern auch der Massenorganisationen Portugiesische Jugend und Portugiesische Legion. 16 Siehe Decreto-­Lei 259/74. In: Diário do Governo, I.a Série, N°138, 15. 06. 1974, S. 716.

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Diese Atmosphäre der Politisierung des öffent­lichen Lebens und der offenen und dezidierten Abrechnung mit dem Estado Novo beeinflusste auch die Erinnerungspolitik nach der Nelkenrevolution, die durch einen Umbruch gekennzeichnet war, der typisch für plötz­liche Regimewechsel ist und darin besteht, dass die Symbole des gestürzten Regimes durch Symbole der sich etablierenden politischen Neuordnung ersetzt werden.17 Auf Portugal nach der Nelkenrevolution bezogen bedeutete dies zum einen die Entfernung der Symbole des Estado Novo und zum anderen die Bestätigung bzw. Umsetzung zentraler Erinnerungsorte der Demokratie, näm­lich die der ­Ersten Republik und des 25. April. Die Entfernung der Symbole des Estado Novo Dass es notwendig war, nun im stark links geprägten Portugal die Symbole des Estado Novo zu entfernen, zeigt eine Bekanntmachung der Stadtverwaltung Lissa­ bon vom 30. Dezember 1974, in der die Rede ist von der »Notwendigkeit, Namen zu entfernen, die mit dem früheren Regime verbunden sind, weil sie für die Bevölkerung einen Affront darstellen«.18 Die Entfernung der Symbole des Estado Novo war radikal. Straßen, die an Führungspersön­lichkeiten und Ereignisse der Diktatur erinnerten, wurden derart flächendeckend umbenannt, dass nur wenige Jahre später kaum noch Spuren davon im öffent­lichen Raum – zumindest der größeren Städte – zu finden waren.19 17 Siehe Geoffrey Pridham: The Dynamics of Democratization. A Comparative Approach. London/New York 2001, S. 47 f. 18 Im Original: »Necessidade de eliminação de nomes afrontosos para a população, pela sua última ligação ao regime« (Edital 161/74 da Câmara Municipal de Lisboa). Alle Übersetzungen stammen von der Autorin. 19 In den eher peripheren ruralen Gegenden war die Entfernung der Symbole des Estado Novo nicht so radikal. Immerhin ergab eine landesweite Google-­Maps-­Suche nach Straßennamen, die ich im Januar 2017 durchgeführt habe, sieben Einträge für Marcelo Caetano, 13 für O ­ liveira Salazar, drei für den letzten Präsidenten Américo Tomás und 13 für den ersten Präsidenten der Diktatur, Óscar Carmona. Mit Ausnahme des Letzteren, der Namensgeber von Straßen auch in mittleren Städten wie Santarém und Loures ist, handelt es sich bei den meisten um Einträge in kleinen Ortschaften in länd­lichen Gegenden. In einigen wie Dominguizo scheint die Allee Almirante Américo Tomás ein vergessenes Überbleibsel aus früheren Zeiten zu sein, mündet sie hier doch nach einer Linkskurve in die Allee des E ­ rsten Mai; ähn­lich verhält es sich in Ansião, wo die Salazar-­Straße parallel zur Straße des 25. April verläuft. In anderen Orten jedoch sind mehrere Verweise auf Politiker des Estado Novo zu finden – etwa in Vermelha, wo die ­Américo Tomás-­Straße die Dr. Oliveira Salazar-­Straße kreuzt. Ein weiterer Ort ist Tremês, wo die Salazar-­Straße eine Verlängerung der Carmona-­Straße ist; das Gleiche ist in Pinheiro de Ázere festzustellen. Dass die konsequente Umbenennung von Straßen, Plätzen oder Vierteln

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Um nur einige Beispiele zu nennen: Die Avenida Marechal Carmona in Lissabon, genannt nach dem ersten Präsidenten der Diktatur, wurde in Avenida General Norton de Matos umbenannt – nach dem Mann, der sich bei der Präsidentschaftswahl 1949 als Gegenkandidat des Regimes präsentiert hatte.20 In Castelo Branco wurde die Allee Marechal Carmona nach General Humberto Delgado umbenannt, der sich wiederum bei der Präsidentschaftswahl 1958 als Kandidat der Opposition angetreten war.21 Die Allee des 28. Mai, genannt nach dem Tag des Putsches von 1926, wurde in Lissabon in Allee der Streitkräfte umbenannt, eine Hommage an den MFA. In Castelo Branco wurde aus der Allee des 28. Mai die Allee des 1. Mai. Über die Umbenennung von Straßen hinaus war die Entfernung von Statuen aus dem öffent­lichen Raum an der erinnerungspolitischen Tagesordnung. Beispiel hierfür ist die Statue von Óscar Carmona in Lissabon, die aus dem öffent­ lichen Raum entfernt wurde.22 Dabei wurde die Statue nicht zerstört, sondern aus dem Garten von Campo Grande im modernen Zentrum Lissabons an einen nicht nur von der revolutionären Atmosphäre in der Hauptstadt abhing, sondern auch stark von der jeweiligen politischen Stimmung auf lokaler Ebene beeinflusst war, zeigt auch die Tatsache, dass sich die meisten Namen ehemaliger Politiker des Estado Novo vor allem in bevölkerungsarmen ruralen Ortschaften sowie im konservativen Norden des Landes konzentrieren. Im traditionell linksgeprägten Süden sind ­solche Überreste der Diktatur selten. 20 Norton de Matos war bereits ab 1943 als Präsident des ›Movimento de Unidade Antifascista‹ (dt.: Bewegung der Antifaschistischen Einheit) und Beiratsmitglied des ›Movimento de Unidade Democrática‹ (dt.: Bewegung der Demokratischen Einheit) in der Opposition aktiv und erklärte sich bereit, gegen Óscar Carmona für die Präsidentschaftswahl 1949 zu kandidieren. Nach zahlreichen Erschwernissen zog Norton de Matos seine Kandidatur am Tag vor der Wahl zurück, so dass Óscar Carmona im Amt bestätigt werden konnte. Siehe hierzu: Armando Malheiro da Silva: General Norton de Matos. Aspectos maiores de um perfil histórico-­ biográfico: o militar, o colonialista e o democrata [Norton de Matos. Zentrale Aspekte eines historisch-­biografischen Profils: Der Militär, der Kolonialist, der Demokrat]. In: Africana Studia 6 (2003), S. 173 – 200, hier S. 196 – 197. 21 Anders als Norton de Matos zehn Jahre zuvor, blieb Delgado bei seiner Kandidatur und erhielt 23 Prozent der Stimmen gegen 76,4 Prozent für den Kandidaten des Regimes Américo Tomás. Nachdem Delgado der Wahlkommission Wahlbetrug vorgeworfen hatte, wurde er aus der Armee entlassen, woraufhin er ins Exil nach Brasilien ging. Von dort aus unterstützte er die portugiesische Opposition weiterhin. Als ›Gefährder‹ des Regimes eingeschätzt, wurde Humberto Delgado 1965 in einer von dem PIDE-Agenten António Rosa Casaco geleiteten Operation ermordet. Es verwundert deshalb kaum, dass im Zuge des Erinnerungsbruchs nach der Nelkenrevolution neben Norton de Matos vor allem der Name Humberto Delgado in Straßen­bezeichnungen die Vertreter des Estado Novo ersetzte. 22 Siehe Helena Elias/Inês Marques: As últimas encomendas de arte pública do Estado Novo (1965 – 1985) [Die letzten Aufträge öffent­licher Monumente des Estado Novo (1965 – 1985)]. In: On the w@terfront 23 (2012), S. 19 f.

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halböffent­lichen Ort versetzt, näm­lich in die Gärten des Stadtmuseums ebenfalls in Campo Grande. Dieser Ortswechsel von nur einigen hundert Metern ist erinnerungstheoretisch von Bedeutung, denn damit verließ die Erinnerung an Carmona und den Estado Novo den Bereich der aktivierten Erinnerung, den Aleida Assmann Kanon oder Funktionsgedächtnis nennt, sie wurde aber nicht in das Depot des Vergessens – nach Assmann das Archiv oder Speichergedächtnis – verbannt, sondern verharrt im ambivalenten Zustand z­ wischen Erinnerung und Vergessen.23 Natür­lich betraf die Entfernung oder Zerstörung von Statuen vor allem diejenigen, die Oliveira Salazar gewidmet waren. Dabei fällt auf, dass Salazar-­Statuen oft nicht nur entfernt wurden, sondern zuvor auch Ziel symbolischer Prozesse der Entmachtung waren, die über die bloße Zerstörung hinausgingen. Die Statue Salazars in seinem Geburtsort Santa Comba Dão etwa wurde enthauptet, bevor sie endgültig zerstört wurde – eine symbolische Abrechnung mit dem Diktator. Die Statue 24 war 1965 in einer feier­lichen Zeremonie eingeweiht worden und wurde nach der Nelkenrevolution häufig Opfer von Vandalismus, bis es im ­Februar 1975 zur Enthauptung kam.25 1978 wurde die Statue schließ­lich durch eine Explosion zerstört.26

23 Assmann führt hierzu aus: »Die Dynamik des kulturellen Gedächtnisses beruht auf dem Austausch z­ wischen den beiden Institutionen Kanon und Archiv. Die Archiv-­Materialien befinden sich sozusagen in einem Purgatorium z­ wischen dem Inferno des Vergessens und dem Paradiso des Erinnerns«. Siehe Aleida Assmann: Formen des Vergessens. Göttingen 2016, S. 41. – Die Tatsache, dass die Statue Carmonas aus ihrem ursprüng­lichen öffent­lichen Kontext entfernt wurde, ist symptomatisch für die angesprochene Dynamik des kulturellen Gedächtnisses: Die gebührende Erinnerung an den Estado Novo sollte hierdurch getilgt werden. Da die Statue jedoch nicht zerstört wurde und auch nicht in den Ausstellungsbereich des Stadtmuseums Eingang fand, gerät die Erinnerung nicht unwiderruf­lich in Vergessenheit, wird aber auch nicht für die Gegenwart interpretiert. 24 Der Historiker João de Medina sieht in ihr eine misslungene Kopie des Lincoln-­Memorials. Siehe João Medina: A estátua decapitada do ditador [Die enthauptete Statue des Diktators]. In: Malomil, 1. 05. 2013. Abgerufen unter URL: http://malomil.blogspot.de/2013/05/1-veja-­se-­ onosso-­livro-­minha-­america.html, letzter Zugriff: 12. 01. 2017. – Nicht ganz zu Unrecht: Wie Lincoln sitzt Salazar auf Büchern gestützt und leicht nach vorne gebeugt mit ausgestrecktem rechtem Fuß. Inwiefern der Bildhauer des Estado Novo und Urheber dieser Statue, Leopoldo de Almeida, durch ­dieses Zitat des Lincoln-­Memorials Salazar die Aura eines Vaters der Nation, dem Monument den Charakter eines Memorials und damit Santa Comba Dão die Funktion eines Pilgerorts verleihen wollte, lässt sich quellenkritisch nicht belegen. 25 Siehe o. A.: Decapitada a estátua de Oliveira Salazar em Santa Comba Dão [Enthauptete ­Statue Salazars in Santa Comba Dão]. In: Diário de Notícias, 18. 02. 1975. 26 Eine Gruppe von Bewohnern hatte beschlossen, den verlorengegangenen Kopf wiedereinzusetzen. Obwohl die Regierung dies verbot, führten sie in der Nacht des 5. Februar 1978 die

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Eine ähn­liche – wenn auch fried­lichere – Zeremonie der Entmachtung musste eine andere Statue Salazars über sich ergehen lassen. Es handelt sich um eine Arbeit des Bildhauers Francisco Franco, die Salazar im Kleid einer akademischen Toga zeigt. Die erste Kopie des Monuments wurde im portugiesischen Pavillon der Weltausstellung 1937 in Paris und drei Jahre später in der großen Ausstellung O Mundo Português (dt.: Die portugiesische Welt) in Lissabon gezeigt. 1959 wurde eine Bronzekopie der Statue im Innenhof des Hauptquartiers des Secretariado Nacional de Informação, Cultura Popular e Turismo (Nationalamt für Information, Volkskultur und Tourismus) eingeweiht.27 Am 28. Mai 1974 – an dem Tag also, an dem während des Estado Novo mit einem Feiertag des Putsches von 1926 gedacht worden war – veranstaltete die Künstlergruppe ›Movimento Democrático de Artistas Plásticos‹ (dt.: Demokratische Bewegung bildender Künstler) eine zeremonielle Verbannung Salazars aus dem Kanon des kollektiven Gedächtnisses. Mitglieder der Gruppe umhüllten die Statue mit einem Banner, das die Inschrift trug: »A arte fascista faz mal à vista« (dt.: Die faschistische Kunst ist schlecht für die Augen). Daraufhin verschwand die Statue.28 Die Erste Republik und der 25. April als Erinnerungsorte der Demokratie Die Zerstörung der Symbole der Diktatur ließ ein Vakuum entstehen, das sofort durch zwei neue Erinnerungsorte gefüllt wurde: die Erste Republik und der 25. April. Die Erste Republik musste zwar nicht auf die Nelkenrevolution warten, um in Portugal die Funktion eines zentralen Erinnerungsortes zu bekleiden, die Interpretation der Bedeutung der Republik unterlag jedoch im Laufe des 20. Jahrhunderts Wiederherstellung der Statue durch, woraufhin wenige Stunden später die Polizei den Kopf erneut entfernte. Im Laufe des Tages verwickelten sich Pro-­Salazar-­Anhänger und linksextreme Gruppen in Konfrontationen, bei denen eine Frau durch einen Schuss töd­lich getroffen und 18 Personen verletzt wurden. Siehe dazu Nicole Guardiola: Graves incidentes por una estatua de Salazar [Schwere Vorfälle wegen einer Salazar-­Statue]. In: El País, 7. 02. 1978. – Um zu verhindern, dass die Lokalbevölkerung erneute Versuche der Wiederherstellung unternahm, sprengten Mitglieder der revolutionären Gruppe ›Partido Revolucionário do Proletariado – Brigadas Revolucionárias‹ (dt.: Revolutionäre Partei des Proletariats – Revolutionäre Brigaden) die Statue. Siehe: Elias/Marques: As últimas encomendas (wie Anm. 22), S. 20. 27 Siehe Joaquim Saial: A estatuária portuguesa dos anos 30 (1926 – 4 0) [Portugiesische Bildhauerkunst der 30er Jahre (1926 – 4 0)]. Lisboa 1991, S. 157. 28 Siehe Elias/Marques: As últimas encomendas (wie Anm. 21), S. 28 f.; João Medina: ­Salazar, Hitler e Franco. Estudos sobre Salazar e a Ditadura [Salazar, Hitler und Franco. Studien zu Salazar und der Diktatur]. Lisboa 2000, S. 195 f.

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nennenswerten Veränderungen. Mit der Ausrufung der Republik am 5. Oktober 1910 war zugleich auch der Erinnerungsort Republik kreiert worden. Damals wurden die zentralen Alleen der Groß- und Kleinstädte nach der Republik benannt, der 5. Oktober war von 1911 an auch ein Feiertag. Die Tatsache, dass der Estado Novo die Republik als Staatsform beibehielt, sorgte dafür, dass die zentralen Elemente der Erinnerungspolitik der ­Ersten Republik bewahrt wurden. So blieben die Alleen der Republik in den portugiesischen Städten bestehen, und sogar der 5. Oktober blieb während des Estado Novo weiterhin ein Feiertag 29 – oder genauer: ein Gedenktag. Salazar nutzte den 5. Oktober als negativen Gründungsmythos seines Regimes – eine Maßnahme, die Parallelen zur Stigmatisierung der Zweiten Republik im Franquismus aufweist.30 Mit der Nelkenrevolution erhielt die Erste Republik erneut die Funktion des positiven Erinnerungsortes, der ihr ­zwischen 1910 und 1926 zugewiesen war. In den Anfängen des demokratischen Regimes nach 1974 war es notwendig geworden, nach einer historischen Kontinuität des demokratischen Denkens zu suchen. Diese fand die politische Führung nach dem 25. April in der ­Ersten Republik. Zwar hinterließen die Jahre 1910 bis 1926 ein schweres und ambivalentes Erbe, doch konnte sich nach der Nelkenrevolution ein vereinfachtes und verklärtes Bild d­ ieses ersten Demokratieversuchs durchsetzen, das die Erste Republik zum Erinnerungsort der portugiesischen Demokratie zu destillieren vermochte.31 So konnte der 5. Oktober nach 48 Jahren als Geburtsstunde der portugiesischen 29 Ironischerweise wurde der Feiertag am 5. Oktober im demokratischen Regime getilgt. 2012 sah sich die konservative Regierung unter Premierminister Pedro Passos Coelho gezwungen, vier Feiertage aus dem politischen und religiösen Kalender Portugals zu eliminieren, darunter den 5. Oktober, um die von der Troika verhängten Sparmaßnahmen einhalten zu können. Überall im Land gab es Proteste vor allem gegen das Verschwinden des symbolisch beladenen Feier­tages. Siehe dazu o. A.: 5 de Outubro vai continuar a festejar-­se em Lisboa [Der 5. Oktober wird in Lissabon weiterhin gefeiert]. In: Diário de Notícias, 26. 01. 2012. – So war die Wieder­einsetzung des Feiertags eine der ersten Maßnahmen der linken Regierung unter António Costa. Seit 2016 ist der 5. Oktober in Portugal wieder Nationalfeiertag. 30 Siehe João Brito Freire: Cinco de Outubro [Fünfter Oktober]. In: Fernando Rosas/J. M. Brandão de Brito (Hrsg.): Dicionário de história do Estado Novo. Bd. I. Venda Nova 1996, S. 146 – 147, hier S. 147. – Zur erinnerungspolitischen Bedeutung von Feiertagen in Portugal siehe Luís Oliveira Andrade/Luís Reis Torgal: Feriados em Portugal: tempos de memória e de sociabilidade [Feiertage in Portugal: Zeiten der Erinnerung und des sozialen Lebens]. Coimbra 2012. 31 Diese Aneignung für erinnerungspolitische Zwecke steht im Kontrast zum geschichtswissen­ schaft­lichen Umgang mit dieser Epoche, der seit 1974 eher durch multiperspektivische und differenzierte Analysen gekennzeichnet ist. Siehe José Miguel Sardica: The Memory of the Portuguese First Republic throughout the Twentieth Century. In: e-­JPH, 9 (2011) 1, S. 63 – 89, hier S.  83 – 84.

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Abb. 1  Künstlerische Wandmalerei in den Straßen der westportugiesischen Stadt Laranjeiro-­Almada zur Erinnerung an die Nelkenrevolution mit der Aufschrift: »25. April für immer! Nie wieder Faschismus!«

Demokratie gefeiert werden. Dies zeigt folgendes Zitat aus einem Zeitungs­ artikel vom 5. Oktober 1974, als der Republik zum ersten Mal seit dem Ende der Diktatur feier­lich gedacht wurde: »Zum ersten Mal seit beinahe einem halben Jahrhundert kann das portugiesische Volk heute den Tag der Ausrufung der Republik in Freiheit feiern«.32 Neben der Republik war auch der 25. April zum Erinnerungsort der portugiesischen Demokratie auserkoren worden. Der Tag selbst wurde zum Feiertag – und gehört bis heute mit dem 5. Oktober zu den zentralen Feiertagen Portugals. Damit konnten nun die Sockel der abgerissenen Statuen für die Symbole der Revolution umfunktioniert und die Straßen, die namenlos geworden waren, in Straßen des 25. April umbenannt werden, und zwar derart konsequent, dass der ›25. April‹ heutzutage am häufigsten als Straßenname portugiesischer Städte auftritt.33 Die

32 Original: »Pela primeira vez desde há quase meio século, o Povo Português pode, hoje, festejar em liberdade o dia da implantação da República.« In: O Século, 05. 10. 1974. 33 Eine von der Zeitung Jornal i durchgeführte Erhebung fand 1.159 Belege für den Namen ›25. April‹ in Portugal: 634 Straßen, 160 Alleen, 142 Gassen, 52 Plätze und 15 Viertel. Mehrfachbenennung in der gleichen Stadt sind durchaus üb­lich, wie das Beispiel der Stadt Gondomar bei Porto zeigt. Hier ist die Allee 25 de Abril und die Straße 25 de Abril durch die Gasse 25 de Abril verbunden;

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symbolische Krönung d­ ieses Erinnerungsbruchs war die Umbenennung der Brücke Salazar in ›Brücke des 25. April‹ im Jahre 1974, wobei die Einweihung des neuen Namens ausgerechnet am 5. Oktober erfolgte. 2.2 Eine Vergessenskultur in Zeiten politischer Stabilisierung (1976 bis 1990er Jahre) Ab 1976 setzte eine neue Phase im Umgang mit dem Estado Novo ein, die wir Vergessenskultur nennen können. Gemeint ist hiermit das, was Hermann Lübbe ein kommunikatives Beschweigen und Aleida Assmann ein konstruktives Vergessen genannt haben: In Politik und Gesellschaft werden die kontroversen ­Themen des soeben abgesetzten Regimes im Dienste des demokratischen Aufbaus beschwiegen.34 Den Kontext hierfür bildet die politische Stabilisierung ab 1976, die das endgültige Ende der Exzesse während der ›Revolutionären Periode‹ bedeutete. Die Vereitelung des Putschversuchs vom 25. November 1975 durch eine Gruppe von gemäßigten Generälen – die so genannte Gruppe der Neun – war der Totenschein des ab März eingeschlagenen sozialrevolutionären Weges, sehr zur Erleichterung der west­lichen Mächte, die befürchtet hatten, Portugal könne zum westeuropäischen Vorposten des Kommunismus werden. Im Januar 1976 wurde die Verfassung im Parlament angenommen, sie trat im April desselben Jahres in Kraft. Genau zwei Jahre nach der Nelkenrevolution, am 25. April 1976, fand die erste konstitutionelle Parlamentswahl statt. Aus dieser Wahl ging die Sozialistische Partei mit Mário Soares als erste Kraft hervor. Die Wahl bestätigte die bereits bei der Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung ein Jahr zuvor klar gewordene Tendenz der Wähler, ihre Stimmen den gemäßigten Parteien anzuvertrauen.35 Zwei Monate später gewann General Ramalho Eanes die Präsidentschaftswahl mit Unterstützung der gemäßigten Parteien.36 Sowohl die siehe hierzu. o. A.: Revolução. O 25 de Abril está em 1559 ruas [Revolution. Der 25. April ist in 1.559 Straßen]. In: Jornal i, 22. 04. 2004, S. 16 – 19. – Die Nelkenrevolution übertraf somit die anderen Klassiker der Straßennamen, näm­lich die Signifikanten ›Republik‹ und ›5. Oktober‹. 34 Siehe Hermann Lübbe: Vom Parteigenossen zum Bundesbürger – über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten. München 2007, S. 7 f.; Assmann: Formen des Vergessens (wie Anm. 23), S. 57 f. 35 Die Mitte- und Mitte-Rechts Parteien – PS, PPD und CDS – erhielten zusammen 222 der 263 Sitze im Parlament, gegen nur 40 Sitze der PCP und einen Sitz der UDP. 36 Hier zeigte sich die ­gleiche Tendenz wie bei der Parlamentswahl: Ramalho Eanes erhielt 61,59 Prozent der Stimmen gegen 38,42 Prozent, die die drei weiteren Kandidaten – alle aus dem linken Spektrum – zusammen erhielten.

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extremen Rechten als auch die extremen Linken, die sich während der ›Revolutionären Periode‹ Straßenschlachten geliefert hatten, wurden an die Peripherie der Politik gedrängt.37 Im Kontext der politischen Normalisierung wurde deut­lich, dass der Aufbau des Landes zu einer soliden Demokratie und zur Marktwirtschaft mit den Exzessen der ›Revolutionären Periode‹ unvereinbar war. Die Notwendigkeit einer Versöhnung und der Wiedereingliederung der politischen und wirtschaft­lichen Eliten führte zur Einstellung von Prozessen gegen ehemalige Regimefunktionäre. Auch die wirtschaft­liche Elite, die aus Angst vor Enteignung das Land verlassen hatte, kehrte nun allmäh­lich zurück. António Costa Pinto fasst diese Periode wie folgt zusammen: ›Versöhnung‹ und ›Befriedung‹ des politischen Lebens waren wichtige Elemente des offiziellen Diskurses der ersten konstitutionellen Regierungen, die vom sozialistischen Premierminister Mário Soares geführt und vom ersten demokratisch gewählten Präsidenten Ramalho Eanes unterstützt wurden. Die Säuberungen wurden eingestellt und unter Druck der Mitte-­Rechtsund Rechtsparteien, die sie für einen ›Exzess‹ von 1974 – 1975 hielten, revidiert.38

Diese Notwendigkeit der Versöhnung rüttelte zwar kaum an der offiziellen Erinnerungspolitik der ›Revolutionären Periode‹: Die Statuen und Straßennamen des Estado Novo waren ja zerstört, entfernt oder umbenannt worden und kehrten nicht zurück; nach wie vor waren auch die Erste Republik und der 25. April die Erinnerungssäulen der Demokratie. Und dennoch passierte etwas Neues: Die Notwendigkeit der Versöhnung und die Konzentration auf den Aufbau machten es erforder­lich, die erinnerungspolitischen Konflikte der ›Revolutionären 37 Dies soll jedoch nicht suggerieren, dass der Sozialismus aus der portugiesischen Politik verbannt wurde, im Gegenteil: Die Verfassung von 1976 verankerte Elemente wie die Agrarreform, die Verstaat­lichung der Produktionsmittel oder den Revolutionsrat juristisch noch stärker. Darüber hinaus beschwor Artikel 2 das Ziel, die Transition zum Sozialismus zu gewährleisten. Erst die Aussicht auf einen EWG-Beitritt festigte den Weg in Richtung einer sozialen Marktwirtschaft und machte es notwendig, die Verfassung von den sozialistischen Elementen und vom marxistischen Jargon zu bereinigen, was mit der ersten Verfassungsreform von 1982 geschah. Siehe Manuel Loff: Coming to Terms with the Dictatorial Past in Portugal after 1974. In: Stefan Troebst (Hrsg.): Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Göttingen 2010, S. 81. 38 Im Original: »›Reconciliação‹ e ›pacificação‹ da vida política seriam elementos importantes do discurso oficial dos primeiros governos constitucionais, dirigidos por Mário Soares, primeiro-­ministro socialista, apoiados pelo primeiro presidente democraticamente eleito, o general Ramalho Eanes. Os saneamentos foram interrompidos e reavaliados, sob pressão dos partidos de centro-­direita e direita, que os consideravam um ›excesso‹ de 1974 – 1975.« Siehe Pinto: As chaves do período (wie Anm. 8), S. 50.

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Periode‹ zu überwinden. Die Aufbruchstimmung, die sich ab den 1980er Jahren breitmachte, begünstigte ­dieses Vergessen: Die neuen Mög­lichkeiten, die die Annäherung an Europa mit sich brachten – Reisen, Bildung, Konsum –, ließen weite Teile der Bevölkerung von blühenden Landschaften im Wohlstandsschoß Europas träumen und die Zeiten der Rückständigkeit und Entbehrungen vergessen. Warum nicht?, könnte man zu Recht fragen. Denn anders als etwa die Nachbarn in Spanien – wo nach Francos Tod eine paktierte Transition einsetzte, die eine Aufarbeitung der Diktatur erschwerte – hatten die Portugiesen die demokratischen Hausaufgaben gemacht: die Diktatur verurteilt, die Eliten ersetzt, die Erinnerung an den Estado Novo aus den Straßen verbannt. Und hier liegt ironischerweise das Versäumnis dieser Phase. Im Namen der Versöhnung versäumten es die Politiker, Räume für das Gedenken an die Diktatur zu schaffen. Es gab kein Museum, kein in eine Gedenkstätte umgewandeltes Gefängnis, das den bereits in Demokratie heranwachsenden Generationen näherbrachte, was vor dem 25. April war und warum es sich gelohnt hatte, an jenem Tag auf die Straße zu gehen. So liefen Jahr für Jahr an jedem 25. April im öffent­lichen Fernsehen dieselben Archivbilder von jenem historischen Tag und dieselben öffent­lichen Figuren wurden gefragt, wo sie sich an d­ iesem Tag aufgehalten hatten. Im Parlament hielten die Amtsträger Reden, in denen sie den Hauptleuten dankten, die Werte der Freiheit und Demokratie beschworen und betonten, w ­ elche gewaltigen Schritte das Land in Bildung, Infrastruktur, Wirtschaftskraft, Gesundheit und sozialer Gerechtigkeit seitdem gemacht habe. In dieser Fokussierung auf die Nelkenrevolution verblasste die Diktatur zu etwas Vagem, Opakem, was so weit in der Vergangenheit zurücklag, dass niemand mehr einen Bezug, gar eine persön­liche Erinnerung daran zu haben schien.39 2.3 Die Wiedererlangung des kollektiven Gedächtnisses seit den 1990er Jahren Seit den 1990er Jahren jedoch scheint sich der Estado Novo vom Bann des Vergessens zu befreien. So begünstigte die europäische Entwicklung im Laufe der 1990er Jahre die Beschäftigung mit der Geschichte des ›schweren‹ 20. Jahrhunderts. 39 Frei­lich gab es Institutionen, die entgegen dem ›Mainstream‹ auch nach 1976 die Erinnerung an die Verbrechen des Estado Novo wachhielten. Ein Beispiel ist die ›União de Resistentes Antifascistas Portugueses‹ (dt.: Vereinigung der Portugiesischen Antifaschistischen Kämpfer), die bereits 1976 gegründet wurde. Jedoch blieben ­solche Initiativen lange Zeit auf die lokale Ebene beschränkt und erreichten nur die Minderheit der politisch Gleichgesinnten.

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Portugal blieb dieser globalen Einkehr des Neohistorismus gegenüber nicht immun, genauso wie es gegenüber der medialen Revolution nicht gefeit war, die uns das digitale Zeitalter bereitet und unseren Umgang mit der Vergangenheit verändert hat. Diese globalen Faktoren trafen im Portugal der 1990er Jahre auf eine Lage, die eine erneute Beschäftigung mit der Vergangenheit begünstigte. Der Beitritt zur EWG 1986 war erfolgreich gewesen, Portugal befand sich in einer Zeit des wirtschaft­lichen Aufschwungs, der Modernisierung und Europäisierung und erreichte einen demokratischen Reifezustand. Die konservative Regierung von Cavaco Silva war die erste, die mit absoluter Mehrheit regierte. Auch wirtschaft­ lich prägte Cavaco Silva das Land: Die Ära des Cavaquismus von 1985 bis 1995 war die Zeit des dezidierten Einzugs in die Marktwirtschaft. Es schien also, dass 20 Jahre nach der Nelkenrevolution die portugiesische Demokratie die notwendige Reife erlangte, um eine erneute Beschäftigung mit der Vergangenheit durchstehen zu können. Einen besonderen Impuls zu der erneuten Beschäftigung mit der Diktatur gab die Öffnung der PIDE-Archive im Jahre 1994. Die Bereitstellung der individuellen PIDE-Akten und der Dokumente der früheren Staatspolizei setzte vor allem in der Wissenschaft einen wichtigen Prozess der Erforschung des Estado Novo in Gang, der nicht mög­lich gewesen war, solange die Archive unter Verschluss lagen. Seitdem ist eine bibliothekenfüllende wissenschaft­liche und journalistische Aktivität zu verzeichnen, die sich nicht nur mit der PIDE befasst,40 sondern auch die unterschied­lichsten Aspekte und Facetten des Estado Novo ins Visier nimmt.

40 Noch 2004 stellte Andrea Fleschenberg fest: »Wie bereits erwähnt, gibt es in Portugal einen wenig ausgeprägten Forschungs- und Publikationsstand zum Thema Vergangenheitsbewältigung allgemein sowie zum Estado Novo im spezifischen.« Siehe Andrea Fleschenberg: Diktaturbewältigung durch Aktenöffnung in Deutschland und Portugal? Münster 2004, S. 236. – Mittlerweile haben sowohl die historiografische Forschung zu Estado Novo und PIDE als auch kulturwissenschaft­liche und politikwissenschaft­liche Arbeiten zur Vergangenheitsbewältigung explosionsartig zugenommen. Um nur einige Arbeiten zu nennen, die vordergründig die PIDE zum Gegenstand haben: Maria da Conceição Ribeiro: A polícia política no Estado Novo: 1926 – 1945 [Die Staatspolizei des Estado Novo: 1926 – 1945]. Lisboa 1995; Bruno Oliveira Santos: Histórias secretas da PIDE-DGS [Geheime Geschichten aus der PIDE-DGS]. Lisboa 2000; Dalila Cabrita Mateus: A PIDE-DGS na Guerra Colonial [Die PIDE-DGS im Kolonialkrieg]. Lisboa 2003; Irene Pimentel: A PIDE-DGS 1945 – 1974 [Die PIDE-DGS 1945 – 1974]. Lisboa 2006; António Brotas: Três informadores da PIDE: notas sobre o assassinato do General Delgado e outros anexos [Drei PIDE-Informanten: Anmerkungen zum Mord des Generals Delgado und andere Dokumente]. Lisboa 2008; Filipe S. Fernandes/ Luís Vilalobos: Negócios vigiados. As ligações das empresas e dos empresários à PIDE [Überwachte Geschäfte. Die Beziehung der Unternehmen und Unternehmer zur PIDE]. Cruz

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Begünstigend war auch das Aufkommen der privaten Fernsehsender, die die Medienlandschaft über den offiziellen Konsens der beiden ersten öffent­lichen Sender hinaus öffneten. Und es war gerade ein privater Sender – SIC –, der 1994 am 20. Jahrestag der Revolution für einen Skandal sorgte. Ein ehemaliger Mitarbeiter der PIDE war zum Interview eingeladen und verteidigte – in Gegenwart ehemaliger Oppositioneller – die Arbeit der Geheimpolizei, unter anderem indem er beteuerte, dass weder Folter noch Mord zu den Methoden der PIDE gehört hätten. Der sozialistische Abgeordnete und ehemalige Oppositionelle des Salazar-­Regimes Manuel Alegre interpretierte jene Fernsehdebatte als etwas, was niemand für mög­lich gehalten habe, näm­lich als Rehabilitierung der PIDE.41 Einige Jahre später machte ein ähn­licher Vorfall Schlagzeilen, als die Wochenzeitung Expresso ein Interview mit António Rosa Casaco veröffent­lichte. Das ehemalige PIDE-­Mitglied Rosa Casaco war der Leiter der Operation Herbst, die zur Ermordung von Humberto Delgado geführt hatte. Zwar war Rosa Casaco nach der Nelkenrevolution zu 15 Jahren Haft in absentia verurteilt worden, er konnte sich aber einem internationalen Haftbefehl entziehen und sich mit portugiesischen Dokumenten ­zwischen Spanien, Brasilien und sogar Portugal frei bewegen.42 Diese und andere ähn­liche Episoden lösten eine breite Debatte in den Medien aus. Sie machten deut­lich, dass ein Vergessen der Diktatur und der PIDE die demokratischen Werte gefährdete. Denn es öffnete der Leugnung der Gräueltaten des Regimes Tür und Tor oder beförderte gar dessen Rehabilitierung. Damit begann, was wir einen Kampf gegen das Vergessen nennen können, näm­lich die Bemühung, die Diktatur und die PIDE wieder in den Fokus der öffent­lichen Erinnerung zu rücken. Diese Anstrengungen kamen aber nicht von offizieller Seite. Es waren vor allem Bürgerinitiativen, die die Forderung nach einer kritischen Aufarbeitung der Diktatur stellten. Diese Bürgerinitiativen kritisierten vor allem zwei Praktiken der Erinnerungspolitik: zum einen die geringe Anerkennung der Oppositionellen, die gegen die Diktatur und für die Demokratisierung Portugals gekämpft Quebrada 2008; José António Pinho: A estátua: a tortura preferida pela PIDE [Die Statue: Die Lieblingsfolter der PIDE]. Lisboa 2010; Aurora Rodrigues/António M. Cardoso: Uma história na PIDE [Eine Geschichte in der PIDE]. Castro Verde 2011; Ana Aranha/ Carlos Ademar: No limite da dor: a tortura nas prisões da PIDE [An der Schmerzgrenze: Folter in den PIDE-Gefängnissen]. Lisboa 2014; Afonso Chipepe: Processo 495/68 PIDEDGS. Um caso de prisão e deportação em S. Nicolau [Prozess 497/68 PIDE-DGS. Ein Fall von Haft und Verbannung auf S. Nicolau]. Lisboa 2015. Auf Deutsch siehe Fleschenberg: Diktaturbewältigung. 41 Siehe Loff: Coming to Terms (wie Anm. 37), S. 93. 42 Siehe José Pedro Castanheira: Rosa Casaco conta tudo [Rosa Casaco erzählt alles]. In: Expresso Revista, 14. 02. 1998; Loff: Coming to Terms (wie Anm. 37), S. 97 f.

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hatten; zum anderen das Schweigen im öffent­lichen Raum über die Verbrechen des Estado Novo: über die Geheimpolizei PIDE, über die Gefängnisse und über die Konzentrationslager. Eine der Bürgerinitiativen, der es am nachdrück­lichsten gelang, ihr Anliegen medienwirksam vorzubringen, ist der Verein ›Não Apaguem a Memória!‹ (dt.: Löscht das Gedächtnis Nicht!), der am 5. Oktober 2005 gegründet wurde, das heißt genau am 95. Jahrestag der Ausrufung der Republik. Die Umstände seiner Entstehung sind paradigmatisch für den Ruf nach Wiedererlangung des kollektiven Gedächtnisses. Anlass für die Mobilisierung war der Plan der Stadt Lissabon, aus dem ehemaligen Sitz der PIDE Privatwohnungen zu machen.43 Angesichts der Symbolik des Ortes, nicht nur als Zentrum der Überwachung und Verbrechen des Estado Novo, sondern auch als Ort, an dem die vier Opfer des 25. April 1974 fielen, hielten die Initiatoren des Vereins diese Privatisierung des Gebäudes für einen Affront gegen all jene, die der Diktatur Widerstand geleistet hatten. Sie sahen darin nicht nur die Gefahr einer Rehabilitierung der Diktatur, sondern – schlimmer noch – befürchteten vor allem die Verbannung der Verbrechen des Estado Novo aus dem kollektiven Gedächtnis. Sie besetzten das Gebäude und hielten Banner mit der Aufschrift »Não deixamos que nos apaquem a memória!« (dt.: Wir lassen uns unser Gedächtnis nicht löschen!). Auf anderen Bannern waren die Namen von 20 Todesopfern des früheren Regimes angebracht.44 Den Prozess der Privatisierung konnte die Initiative nicht stoppen; ihr gelang es aber, vor dem Eingang des zum Wohnungsblock umfunktionierten Baus eine Gedenktafel aufzustellen, die daran erinnert, dass sich dort der Hauptsitz der PIDE befunden hatte. Diese und andere Initiativen brachten den Stein der Erinnerung ins Rollen: der Erinnerung an die negativen Seiten der Diktatur und der Erinnerung an die Opfer des Regimes. Seitdem ist eine erneute Aufarbeitung der Diktatur im Gange, die nicht auf den wissenschaft­lichen Diskurs beschränkt ist, sondern in weiten Teilen des öffent­lichen Lebens präsent ist. Durch Ausstellungen, Filme, Fernsehserien, Monumente oder Museen wird den Opfern der Diktatur gedacht und das Verbrechen der PIDE und des Estado Novo aufgearbeitet. Emblematisch hierfür war die Ausstellung A Voz das Vítimas (dt.: Die Stimme der Opfer), die am 14. April 2011 im ehemaligen PIDE-Gefängnis von Aljube im Zentrum Lissabons eröffnet wurde. Die Ausstellung ging auf die Initiative der Bewegung ›Não Apaguem a Memória!‹, der Stiftung Mário Soares und des Instituts für 43 Siehe Fernanda Ribeiro: Câmara aprovou condomínio na antiga sede da PIDE [Stadt bewilligt Wohnanlage im ehemaligen Hauptquartier der PIDE]. In: Público, 6. 02. 2005. 44 Siehe Não Apaguem a Memória (Hrsg.): História do Movimento. Abgerufen unter URL: http://maismemoria.org/mm/home/historia/, letzter Zugriff: 19. 01. 2017.

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Abb. 2  Blick in den ›Saal des 25. April‹ der Ausstellung A Voz das Vítimas im ehemaligen PIDE-Gefängnis von Aljube. Die Ikonografie zum Gedenken an den 25. April 1974 wird hier durch eine Wand aus roten Nelken bestimmt.

Zeitgeschichte der Universidade Nova de Lisboa zurück und zeigte Aufnahmen und Stimmen derjenigen, die der Gewalt der PIDE ausgesetzt waren. Diese Personalisierung der Opfer der Diktatur hatte den wichtigen Effekt, dass der Estado Novo nun nicht mehr als die aseptische historische Periode erscheint, die sie in den Jahren des Vergessens war, sondern dass die Epoche eine mit Gewalt behaftete Konkretheit erlangt hat. Die Ausstellung wurde aber auch zu einem Meilenstein für die Wiedererlangung des kollektiven Gedächtnisses, weil sich mit ihr die Türen des Gefängnisses von Aljube öffneten. Aljube war bei weitem nicht das einzige PIDE-Gefängnis,45 aber unter Oppositionellen wegen der schlechten Bedingungen und engen Isolationszellen – der sogenannten curros – besonders gefürchtet. Bereits unmittelbar nach der Nelken­ revolution gab es Pläne, in den Räumen des ehemaligen Gefängnisses ein Museum der Resistenzbewegung unterzubringen; diese Pläne gerieten jedoch in Vergessenheit – im Einklang mit der Phase des konstruktiven Vergessens ab 1976. So blieb 45 Zu den bedeutendsten gehörten auch das Gefängnis von Caxias bei Lissabon, die Festung von Peniche (etwa 100 Kilometer nörd­lich von Lissabon), die Quartiere der PIDE in Lissabon und in Porto und das Konzentrationslager Tarrafal auf der Insel Santiago der Kapverdischen Inseln.

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das Gebäude verschlossen, und an der mittlerweile ergrauten Fassade strömten jahrzehntelang Touristen und Lissabonner gleichermaßen unwissend ob der früheren Funktion des Komplexes vorbei. Mit der Ausstellung rückte das Gefängnis wieder ins Zentrum der kollektiven Erinnerung und wurde schließ­lich am 25. April 2015 zum physischen Ort des lange ersehnten Museums des Widerstands und der Freiheit. 41 Jahre nach der Nelkenrevolution zeigte die Einweihung des ­Museums ausgerechnet an jenem symbolischen Ort der Repression durch den Estado Novo, dass der in den 1990er Jahren begonnene Prozess der Wiedererlangung des kollektiven Gedächtnisses Früchte trug: Er sorgte dafür, dass die Erinnerung an die Verbrechen der Diktatur, die lange Zeit nur eine individuelle Erinnerung der Opfer gewesen war, nun in den Kanon des kollektiven Gedächtnis aufgenommen worden ist und an die Generationen, die die Diktatur nicht mehr erlebt haben, weitergegeben wird. Es war höchste Zeit, wenn man bedenkt, dass Mário Soares, eine der zentralen Figuren des Widerstands gegen die Diktatur und einst selbst im Gefängnis von Aljube inhaftiert, am 7. Januar 2017 im Alter von 92 Jahren starb. Die Wiedererlangung des kollektiven Gedächtnisses, versinnbild­licht in den sich öffnenden Toren von Aljube, gleicht jedoch auch dem Öffnen einer Pandora-­ Büchse. Das 21. Jahrhundert ist nicht nur durch die erneute Verurteilung der Diktatur gekennzeichnet, wie unmittelbar nach der Nelkenrevolution. Das B ­ rechen der Tabus in Bezug auf die Vergangenheit ging auch mit der Gefahr einher, die Diktatur aus der Stigmatisierung während der ›Revolutionären Periode‹ zu befreien und damit zu rehabilitieren. Diese Tendenz ist etwa in den jüngeren Biografien Salazars ablesbar, in denen der Politiker als bedeutender Staatsmann dargestellt wird.46 Aber auch in der populären Kultur zeichnet sich die Neigung ab, weniger bekannte Facetten des Diktators auszuloten und seine mensch­liche Seite zu unterstreichen.47 Einen medialen Höhepunkt erfuhr diese Rehabilitierung in der Sendung Os Grandes Portugueses (dt.: Die großen Portugiesen), die vom öffent­lich-­recht­lichen Fernsehsender RTP 1 2007 ausgestrahlt wurde und in der Salazar Platz eins unter den bedeutendsten Portugiesen erlangte.48 Wenngleich die meisten Indikatoren einer positiven Darstellung des Estado Novo unter ­Salazar hauptsäch­lich im Bereich der medialen Kultur anzusiedeln und insofern 46 Etwa: Jaime Nogueira Pinto: António de Oliveira Salazar. O outro retrato [António de Oliveira Salazar. Das andere Porträt]. Lisboa 2007. 47 Siehe z. B. die Publikationen Felícia Cabrita: As mulheres de Salazar [Die Frauen ­Salazars]. Lisboa 1999; Felícia Cabrita: Os amores de Salazar [Salazars Liebschaften]. Lisboa 2006. Siehe auch die Fernsehserie A vida privada de Salazar [Das private Leben von Salazar]. SIC 2009. 48 Siehe Teresa Pinheiro: Facetten der Erinnerungskultur – Portugals Umgang mit dem Estado Novo. In: Neue Politische Literatur 55 (2010), S. 7 – 22, hier S. 18 f.

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als ­­Zeichen der diskursiven Heterogenität in gut funktionierenden Demokratien zu deuten sind, lassen sich auch vermehrt Bemühungen beobachten, eine Rehabilitierung der Diktatur auf den sensiblen – weil auf Konsens bedachten – Bereich der Erinnerungspolitik auszuweiten. So bemüht sich der Oberbürgermeister der Stadt Santa Comba Dão seit 2007, im Geburtshaus Salazars ein Museum zu errichten – ein Unterfangen, das vor allem von den Bürgerinitiativen ›Não Apaguem a Memória!‹ und ›União de Resistentes Antifascistas Portugueses‹ als historischer Revisionismus eines faschistischen Regimes angeprangert wird.49 Nicht weniger provokant war der Versuch der Kurstadt Caldas da Rainha im Jahre 2014, die Statue Óscar Carmonas, die im Zuge der Nelkenrevolution von dem gleichnamigen Platz entfernt worden war und bis heute in einem Lager der Stadt aufbewahrt wird, wieder am selben Ort aufzustellen – der Platz heißt nun aber nicht mehr Largo Carmona, sondern Largo 25 de Abril. Die Unvereinbarkeit der Erinnerung an den ersten Präsidenten des Estado Novo mit der Erinnerung an den Militärputsch, der diesen stürzte,50 rief eine polemische Debatte im Stadtrat hervor, die in einen Kompromiss mündete: Die Statue Carmonas soll in einem nicht weiter bestimmten museologischen Ort der Stadt einen neuen Platz finden. Sollte diese Entscheidung des Stadtrats umgesetzt werden, wird die Erinnerung an Óscar Carmona in Caldas da Rainha ein ähn­liches Schicksal erleiden wie in Lissabon: Sie wird im Limbus ­zwischen Erinnerung und Vergessen umherirren.

3. Schlussbetrachtung Dieser Streifzug durch vier Jahrzehnte Erinnerung an den Estado Novo im demokratischen Portugal zeigt eine Entwicklung auf, die sich aus den Charakteristika der Diktatur und aus der Art des Übergangs zur Demokratie erinnerungstheoretisch

49 Dass sowohl die Biografie Salazars O outro retrato als auch die Fernsehsendung Os Grandes Portugueses und die ersten Anstrengungen um ein Salazar-­Museum auf das Jahr 2007 zurückgehen, ist kein Zufall. Der Autor der Biografie, Jaime Nogueira Pinto, war zugleich der Anwalt Salazars in der Fernsehsendung. In dem langen Plädoyer für den früheren Ministerpräsidenten zeigte Nogueira Pinto unter anderem auch das Geburtshaus Salazars in Santa Comba Dão und prangerte den verwahrlosten Zustand des Gebäudes an. Die Reaktion des Oberbürgermeisters ließ nicht lange auf sich warten. 50 Dabei betonte João Miguel Diniz, Mitglied des Stadtrats für die konservative Partei und Initiator der Wiedereinweihung der Statue, dass Carmona nicht als Staatschef geehrt werde, sondern als derjenige, der Caldas da Rainha zur Stadt erhoben habe. Siehe Assembleia Municipal das Caldas da Rainha (Hrsg.): Sessão extraordinária de 22 de Julho 2014 [Außerordent­ liche Sitzung vom 22. Juli 2014], S. 386.

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nachvollziehen lässt. Das Erbe der Vergangenheit, das nach der Nelkenrevolution aufzuarbeiten war, barg ein enormes Konfliktpotential: Zum einen war da die lange, repressive Diktatur, die einen ungerechten, anachronistischen Kolonialkrieg hervorgebracht hatte und damit ein schweres kollektives Trauma verursachte; zum anderen gab es einen Diktator – Salazar –, der mit politischem Geschick das Land vor der Beteiligung am Zweiten Weltkrieg bewahrte und Portugal in der Nachkriegszeit in den Verbund der Westmächte integrierte, und ein zweiter, ihm nachfolgender Diktator – Marcelo Caetano –, der zumindest am Anfang um politische Öffnung bemüht war. Der Bruch, den der Militärputsch am 25. April 1974 hervorrief, indem er die Diktatur dezidiert verurteilte und ablehnte, bildete die Basis für den Demokratieaufbau im Sinne eines radikalen Neubeginns. Demgegenüber führte die Notwendigkeit der Versöhnung ab 1976 zwar nicht zum völligen Vergessen, aber durchaus zu einem pragmatischen Beschweigen der Vergangenheit um des Aufbaus willen. Nach d­ iesem abrupten Wechsel z­ wischen lauter Abrechnung und versöhn­lichem Schweigen verwundert es nicht, dass die neuer­liche Hinwendung zur Vergangenheit, die mit der Öffnung der PIDE-Akten einsetzte und nach der Jahrtausendwende geradezu explosionsartig um sich griff, ein scheinbar widersprüch­liches, kaleidoskopisches Bild abgibt, das sich z­ wischen den Polen bedingungsloser Verurteilung und unbedingter Verherr­lichung bewegt. In Wahrheit entsprechen diese unterschied­lichen Modalitäten der Geschichtsaneignung überaus unterschied­ lichen Forderungen: Die einen beklagen die nicht vollzogene Aufarbeitung der Herrschaft von PIDE und des Estado Novo, die anderen wehren sich gegen die pauschale Stigmatisierung der Hauptakteure Oliveira Salazar und Marcelo ­Caetano und die unhinterfragte Verherr­lichung des Militärputsches im April 1974. Dies hat den notwendigen Prozess von Neuverhandlung der Vergangenheit und Neufindung in der Gegenwart in Gang gesetzt. Indes stellt die Diktatur des Estado Novo bei weitem nicht den einzigen Zankapfel in der gegenwärtigen Debatte dar. 40 Jahre nach dem Geschehen geraten nun der Kolonialkrieg, die Dekolonisierung und die demokratische Transition selbst in das Visier der öffent­lichen Auseinandersetzungen. Die Dokumentarserie A Guerra/Colonial/ do Ultramar/de Libertação (dt.: Der Kolonial-/Übersee-/Befreiungskrieg), die ­zwischen 2007 und 2013 produziert und im öffent­lich-­recht­lichen Fernsehsender RTP1 ausgestrahlt wurde, war einer der medienwirksamsten Versuche, den Krieg aus unterschied­lichen Perspektiven (die in den unterschied­lichen Bezeichnungen im Titel der Serie zum Ausdruck kommen) zu beleuchten und die Gesellschaft zu einer offenen Reflexion über den Kolonialkrieg anzuregen. Vorherrschend in der ausgelösten Debatte ist nach wie vor das, was Manuel Loff Selbstviktimismus nennt: die Fokussierung auf die portugiesischen Soldaten als Opfer eines kriegswilligen

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Regimes und auf die Retornados als Opfer einer vermeint­lich unüberlegten, vorschnellen Dekolonisierung.51 Vor allem das Schicksal der Retornados, die die Kolonien fluchtartig verlassen und im revolutionären Portugal oft als Stigmatisierte ein neues Leben aufbauen mussten, erfährt seit einem Jahrzehnt eine geradezu virale mediale Präsenz.52 Aber auch über die lange tabuisierten Jahre der ›Revolutionären Periode‹ wird kontrovers diskutiert, genauso wie über den Platz der Nelkenrevolution in der portugiesischen Geschichte. Die Heterogenität in der Deutung der Vergangenheit und die öffent­liche Wieder­belebung konfliktbehafteter Erinnerungen sind nur mög­lich, weil sowohl in der Politik als auch in breiten Teilen der portugiesischen Gesellschaft ein konsensuelles Bekenntnis zur Demokratie besteht, das auf dem radikalen Bruch mit der Diktatur am 25. April 1974 aufbaut. Bei aller berechtigten Kritik an den revolutionären Übertreibungen während der portugiesischen Transition zur Demokratie liegt der Keim ­dieses Konsenses genau in jener entschiedenen Verurteilung der Diktatur, die Voraussetzung für den Demokratisierungsprozess war. In der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hat sich eine solide politische Kultur entwickelt, die sogar dem kritischen Umgang mit dem großen Gründungsmythos 53 des demokratischen Portugals – der Nelkenrevolution – standhält.

51 Siehe Loff: Coming to Terms (wie Anm. 37), S. 118 f. 52 Zu den auflagestärksten Büchern gehören: Tiago Rebelo: O último ano em Luanda [Das letzte Jahr in Luanda]. Lisboa 92013, und Maria Dulce Cardoso: O retorno [Die Rückkehr]. Lisboa 2011, mit zwei vergriffenen Auflagen im selben Jahr und Übersetzungen ins Französische und Englische. – Besondere Aufmerksamkeit erhielt die fiktionale Fernsehserie Depois do Adeus (RTP1 2013), die eine Familie von Retornados in ihrer Odyssee von Afrika nach Portugal porträtiert und dabei die revolutionären Exzesse der Transition an den Pranger stellt. Siehe dazu: Teresa Pinheiro: O retorno dos retornados. A construção de memória do passado recente na série televisiva Depois do Adeus [Die Rückkehr der Retornados. Zur Konstruktion der jüngsten Vergangenheit in der Fernsehserie Depois do Adeus]. In: Elias J. Torres u. a.: Estudos da AIL em Literatura, História e Cultura Portuguesas [Studien des internationalen Lusitanistenverbands zur portugiesischen Literatur, Geschichte und Kultur]. Santiago de Compostela/Coimbra 2015, S. 279 – 290. 53 Der Historiker Fernando Rosas spricht bei der Nelkenrevolution von der genetischen Prägung der portugiesischen Demokratie. Siehe Fernando Rosas: Abril é Revolução. In: Público, 14. 04. 2004, S. 6. – Zur gegenwärtigen Debatte um die Nelkenrevolution siehe Teresa ­Pinheiro: Die Nelkenrevolution im 21. Jahrhundert: Wandel einer erinnerungspolitischen Praxis. In: Janett Reinstädler/Henry Thorau: Die Nelkenrevolution und ihre Folgen. Der portugiesische 25. April 1974 in Literatur und Medien. Berlin 2015, S. 17 – 32.

Janis Nalbadidacis

Im Schatten der ›Generation Polytechnio‹ Erinnerungen der ›Generation Z‹ an die Militärdiktatur

Rund sechseinhalb Jahre nach dem Beginn der Militärdiktatur in Griechenland prägten Bilder blutüberströmter Student_innen und prügelnder Polizisten die internationale Berichterstattung. Nicht zuletzt der Einsatz von Panzern zur Erstürmung des Universitätsgeländes avancierte zur symbolträchtigen Metapher für ein Regime, das auch vor brutaler Gewalt nicht zurückschreckte, um die eigene Macht zu sichern. Mindestens 24 Menschen starben bei den Novemberunruhen in Athen im Jahr 1973.1 Bezeichnete ›Polytechnio‹ zunächst nur eine spezifische Art der Hochschule in Griechenland, so wurde der Begriff bald schon zum Synonym für die tragischen Ereignisse. In der Folge der eskalierten Unruhen verlor die bisherige Führungsriege um Georgios Papadopoulos ihren Rückhalt. Angeführt von General Ioannidis fand nur kurze Zeit darauf ein Putsch statt. Die Macht des Militärs sowie die diktatorische Verfasstheit des griechischen Staates blieben hingegen weiter bestehen. Erst das Fiasko um Zypern bewog das Militär schließ­lich dazu, im Juli 1974 die Transition einzuleiten und die Macht wieder zunehmend in die Hände einer demokratisch legitimierten und gewählten politischen Elite zu geben. In der Person des ehemaligen Ministerpräsidenten Konstantinos Karamanlis wurde ein erfahrener politischer Akteur gefunden, der mit Geschick die Übergangsphase moderierte und dessen konservative Partei ›Nea Dimokratia‹ aus den am 17. November 1974 stattfindenden Wahlen als klarer Sieger hervorging.2

1 Siehe Kallivretakis, der insgesamt von 24 Opfern ausgeht, während Skordos eine genaue Festlegung vermeidet, indem er ledig­lich von »mindestens 23 Toten« spricht. Leonidas ­Kallivretakis: To zitima ton thimaton: Nekroi kai travmaties [Die Frage der Opfer: Tote und Verletzte]. In: Giorgios Gatos (Hrsg.): Polytechnio ’73. Reportaz me tin istoria [Polytechnio ’73. Eine Auseinandersetzung mit der Geschichte]. Athen 2004, S. 38 – 55; A ­ damantios Theodor Skordos: Griechenland im Kontext des öst­lichen Europa. Geschichtsregionale, kulturelle und völkerrecht­liche Dimensionen. Leipzig 2016, S. 200. 2 Die Wahl wurde dabei zum Gedenken an den blutig niedergeschlagenen Studentenaufstand absicht­lich auf den 17. November gelegt. Zur Transition siehe den Beitrag von Adamantios Theodor Skordos in ­diesem Band.

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Zeitnah fand eine bemerkenswert ernsthafte Auseinandersetzung und juristische Aufarbeitung der Vergehen von Repräsentanten der griechischen Militärdiktatur statt.3 So handelt es sich bei Griechenland in den 1970er Jahren um das einzige Land mit diktatorischer Vergangenheit, das ehemalige Verantwortungsträger vor Gericht gestellt und mit der Todesstrafe bedacht hat.4 Diese ernsthafte Ausein­andersetzung mit den Vergehen des Regimes spiegelt sich zugleich in der Fülle an Egodokumenten und auch filmischen Aufbereitungen wider, die sich mit der systematischen Folter während der Militärdiktatur auseinandersetzten und die in den ersten Jahren nach der Diktatur entstanden.5 Sie steht zudem für eine sämt­liche gesellschaft­liche Schichten und politische Strömungen prägende Absetzbewegung von der diktatorischen Vergangenheit. Gerade am Beispiel filmischer Repräsentationen wird indessen auch deut­lich, wie der Erinnerungsdiskurs in der griechischen Gesellschaft ab den späten 1980er Jahren zunehmend durch verklärende und zugleich verharmlosend nostalgische Repräsentationen geprägt war. Dabei standen nun nicht mehr die Repressionen des Regimes im Vordergrund. Vielmehr bildete die siebenjährige Periode zunehmend die Hintergrundfolie für Coming-­of-­Age-­Erzählungen, die insbesondere 3 Siehe hierzu ausführ­lich den Beitrag von Adamantios Theodor Skordos in d­ iesem Sammelband, insbesondere zu den drei Prozessen gegen die Hauptverantwort­lichen der Junta, gegen die Folterer und gegen die Verantwort­lichen für das ›Polytechnio‹. Siehe außerdem A ­ damantios Theodor Skordos: Die Juntadiktatur der Jahre 1967 – 1974 in der Vergangenheitspolitik Griechenlands. In: Jörg Ganzenmüller (Hrsg.): Recht und Gerechtigkeit. Die strafrecht­liche Aufarbeitung von Diktaturen in Europa (Europäische Diktaturen und ihre Überwindung, 23), S. 253 – 272. – Howe-­Charalambous macht indessen vor allem auf den Inszenierungs­charakter dieser Prozesse aufmerksam. Nachvollziehbar und in Anlehnung an die Ausführungen von Arendt zum Eichmann-­Prozess argumentiert sie für eine besondere Inszenierung des Prozesses gegen Papadopoulos, die sichtbar zum Ziel hatten, die Illegitimität des vorangegangenen Systems herauszustellen. Siehe Chloe Howe-­haralambous: Making History (Disappear). Greece’s Junta Trials and the Staging of Political Legitimation. In: Journal of Modern Greek Studies 35 (2017) 2, S. 307 – 337. 4 Die Todesstrafen wurden zwar verhängt, jedoch rasch in lebenslange Haftstrafen umgewandelt. Kostis Kornetis: Public History and the Issue of Torture under the Colonel’s Regime in Greece. In: Ricerche Storiche 44 (2016) 1, S. 81 – 100, hier S. 85. – Für Kontroversen sorgten bei den Prozessen die milden Urteile gegenüber Angehörigen der Sicherheitspolizei. Insbesondere diese zogen letzt­lich die terroristischen Akte der Gruppierung 17. November nach sich. Siehe George Kassimeris: Europe’s Last Terrorists. The Revolutionary Organization 17 November. New York 2000. 5 Siehe beispielhaft die beeindruckende Dokumentation von Fatouros zur Ausbildung von Folterern bei der Militärpolizei oder auch die in Griechenland übersetzte und 1979 herausgegebene Neuauflage der bereits 1973 publizierten Foltererfahrungen von Minis. Mika Fatouros: Din Nabos Son [Deines Nachbars Sohn]. 1982, 65 Min.; Anastassios Minis: Die Folter geht weiter. 111 Tage Einzelhaft bei der Militärpolizei ESA. Reinbek bei Hamburg 1973.

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in den 1990er Jahren ihre Hochphase erlebten.6 So verstanden, zielten diese Erzählungen nicht etwa auf eine Rehabilitierung dieser Zeit ab, sondern lassen sich vielmehr als Ausdruck von politischem Desinteresse an und Distanz zu dieser Periode lesen.7 Eine veränderte Einstellung und auch ein zunehmendes und zugleich differenziertes Interesse der griechischen Gesellschaft an der Militärdiktatur ist seit dem Krisenjahr 2008 erneut festzustellen. Insbesondere unter linken und studentischen Gruppierungen diente der Bezug auf die Junta dazu, die eigene Kritik am Staat zu formulieren und sich selbst in eine lange Widerstandstradition zu stellen.8 Derweil üben sich insbesondere Vertreter_innen aus den Reihen der rechtspopulistischen Partei ›Chrysi Avgi‹ (dt.: Goldene Morgenröte) in revisionistischen Äußerungen zu dieser Zeit, in denen sie den starken und ordnenden Charakter des Regimes hervorheben und seine autoritären Züge und vermeint­lichen wirtschaft­lichen Erfolge zum Ideal verklären.9 Abgesehen von den jüngeren Entwicklungen im Zuge der Krise lässt sich daher die These vertreten, dass bis 2008 die scheinbar einhellige Ablehnung der Junta in der politischen Erinnerungskultur Griechenlands vor allem auch als die Gesellschaft einigender Brückenschlag ­zwischen den tiefen und lange unüberwindbar scheinenden Gräben fungierte, die der Bürgerkrieg in der griechischen Gesellschaft hinterlassen hatte.

6 Siehe beispielhaft für diese Filme Antonis Kokkinos: Telos Epochis [Das Ende einer Ära]. 1994, 98 Min. Kostas Kapakas: Peppermint. 1999, 105 Min. – Siehe weiterführend dazu Kostis Kornetis: From politics to nostalgia – and back to politics. Tracing the shifts in the filmic depiction of the Greek ›long 1960s‹ over time. In: Historein 14 (2015) 2, S. 89 – 102, hier S.  91 – 93. 7 So begründet Kornetis diesen Wandel vor allem mit Filmemachern, die sich in ihren Werken stärker dem Coming-­of-­Age-­Genre zuwandten. Die Zeit der Militärdiktatur geriet dabei ledig­ lich zu einer Hintergrundfolie, um die eigene Jugend und Reifungsprozesse auf amüsante Weise zu thematisieren. Siehe Kornetis: From politics to nostalgia (wie Anm. 6), S.  189 – 190. 8 Für eine ­solche Sicht spricht beispielsweise die Verwendung eines im Zusammenhang mit dem ›Polytechnio‹ sehr populären Slogans, der zudem einen unmittelbaren Zusammenhang zur Militärdiktatur herstellt: »Ψωμί, παιδεία, ελευθερία. Η χούντα δεν τελείωσε το ’73« [Brot, ­Erziehung, Freiheit. Die Junta endete nicht 1973]. Zit. nach Kornetis: Public History and the Issue of Torture (wie Anm. 4), hier S. 82; siehe auch Kostis Kornetis: No More Heroes? Rejection and Reverberation of the Past in the 2008 Events in Greece. In: Journal of Modern Greek Studies 28 (2010) 2, S. 173 – 197. 9 Siehe beispielhaft die vermeint­lich ironische Auseinandersetzung mit den Verdiensten von Papadopoulos in der parteieigenen Zeitschrift. Insbesondere jeg­liche Aussparung der brutalen Unterdrückung durch das Regime sowie die Fokussierung auf die vermeint­liche erfolgreiche Wirtschaftspolitik wirken zynisch. O. A.: »Kataremene« Papadopoule [»Verfluchter« ­Papadopoulos]. In: Chrysi Avgi, 19. April 2017, S. 8.

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Gerade unter der Ägide von Andreas Papandreou verstetigte sich dabei das Bild einer über die unschuldige griechische Bevölkerung gewissermaßen hereingebrochenen Diktatur, die von äußeren und größeren Mächten – insbesondere den USA – gestützt und getragen wurde. Gesellschaft­lichen Rückhalt genoss die Junta aus dieser Perspektive zu keinem Zeitpunkt. Ein solches Narrativ der Militärdiktatur als gewaltsamer und übermächtiger Invasor und Unterdrücker barg und birgt vor allem aus der Sicht des linken politischen Lagers Vorzüge.10 So ließ und lässt sich auf dieser Basis trotz der augenschein­lichen Passivität der griechischen Gesellschaft die Bevölkerung für die eigenen Positionen vereinnahmen. Ausschließ­lich Furcht und Angst waren es demzufolge, die die Bevölkerung über Jahre hinweg das Regime erdulden ließen.11 Als Rechtfertigung und Kristallisationspunkt einer solchen Perspektive auf die Zeit der Militärdiktatur diente das ›Polytechnio‹. In ihm wurden die Asymmetrie der Macht und die Unverhältnismäßigkeit der Gewalt gleichermaßen sichtbar und es wirkte fortan auf mannigfaltige Weise als Referenzpunkt in der postdiktatorischen Zeit in Griechenland (metapolitefsi). Die Bedeutung für den griechischen Erinnerungsdiskurs kann dabei nur schwer­lich überschätzt werden und spiegelt sich auf zahlreichen Ebenen wider. So wird sie bereits im eigens für diese Ereignisse angesetzten Prozess deut­lich, der nach den Verantwort­lichen für die Eskalation und das gewaltsame Vorgehen fragte, aber auch in den zahlreichen populärwissenschaft­lichen Abhandlungen oder künstlerischen Verarbeitungen.12

10 In Anlehnung an Pendakis meint die Bezeichung ›linkes Spektrum‹ dabei ausdrück­lich unterschied­liche sich selbst als links verortende Gruppierungen. Pendakis ist zuzustimmen, wenn sie im Widerspruch zu Panourgia darauf hinweist, dass eine Geschichte ­dieses linken Spektrums eben nicht allein anhand der kommunistischen Partei erzählt werden könne. ­Katherine L. Pendakis: On the Value of Failing and Keeping a Distance. Narrating Returns to Post-­ Dictatorship Greece. In: Identities 17 (2017) 1, S. 1 – 18, hier S. 4. 11 Hierbei ist es wichtig anzumerken, dass Repressionen und Folter tatsäch­lich elementarer Bestandteil der griechischen Junta waren. Gleichwohl erscheint eine solch verengende Perspektive zu vereinfachend. So verschließt sie sich auf diese Weise vollständig Fragen nach einem gesellschaft­lichen Rückhalt des Militärregimes und individuellen Vorteilen Einzelner, die letzt­lich eben auch zu einem Erhalt des Regimes beigetragen haben. Siehe weiterführend Thomas Kyriakis: Konsolidierungsformen und Legitimationsprozesse des griechischen Obristenregimes (1967 – 1974). Frankfurt a. M. 2016. 12 Siehe zum eigens angesetzten Prozess, der große Aufmerksamkeit in der griechischen Öffent­ lichkeit erfuhr, Periklis Rodakis: Oi dikes tis chountas. I diki tou polytechniou. Pliri praktika [Die Gerichtsprozesse der Junta. Der Polytechnio-­Prozess. Vollständige Mitschrift]. Bd.1 – 5, Athen 1975. – Siehe exemplarisch zur populärwissenschaft­lichen Aufarbeitung Dimitris Papachristos (Hrsg.): To polytechnio dei? 30 + 1. Oneira, mythoi, alitheies [Das Polytechnio lebt? 30 + 1. Träume, Mythen, Wahrheiten]. Athen 2004. – Zu filmischen Repräsentationen

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Ganz in ­diesem Sinne nimmt auch Kornetis ­dieses Ereignis als Ausgangpunkt für seine aufschlussreiche Studie zum studentischen Widerstand während der griechischen Militärdiktatur.13 Die griechische Erinnerungskultur sieht er dabei in besonderem Maße durch die von ihm so benannte ›Generation Polytechnio‹ dominiert. Mit der ›Generation Polytechnio‹ bezeichnet er die nach dem Ende des Bürgerkrieges geborenen Student_innen, die erst während der Militärdiktatur ihr Studium aufgenommen hatten und für die die Erfahrungen des ›Polytechnio‹ prägend waren. Ihr stellt er die so genannte Generation Z gegenüber, womit er die während des Bürgerkrieges oder auch die wenige Jahre zuvor geborene Alters­kohorte meint. In besonderem Maße sieht er diese durch die Erfahrung des Mordes an dem linken Abgeordneten Grigoris Lamprakis am 27. Mai 1963 und die nach ihm benannte linke Jugendbewegung ›Dimokratiki Neolaia Lampraki‹ (DNL) geprägt. Z, das als Abkürzung für er lebt gelesen werden kann, wurde in der Folge zu einem wirkmächtigen Symbol, das sich an vielerlei Hauswänden und Mauern wiederfand.14 Mit der Regierung von Georgios Papandreou, die nach dem Skandal um die Ermordung von Lamprakis im November 1963 an die Macht kam, verknüpften die Vertreter_innen dieser Generation die Hoffnung auf eine Öffnung der Gesellschaft. Gerade die Entlassung des Ministerpräsidenten Papandreou und seiner Regierung durch den König im Jahr 1965 begleiteten sie vor ­diesem Hintergrund mit großem Protest.15 Diese sehr turbulente Phase vor der Diktatur beschreiben damalige Akteur_ innen wie zum Beispiel die damals Anfang 20-jährige Agrarwissenschaftsstudentin M. G. gerade im Kontrast zur Militärdiktatur dennoch als eine Periode gesellschaft­licher Öffnung.16 Der Historiker Papadogiannis stützt diesen ­Eindruck,

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des Polytechnio siehe Nikos Antonakos: Dexiotera tis dexias [Weiter rechts als rechts]. 1989, 120 Min. Kostis Kornetis: Children of the Dictatorship. Student Resistance, Culture Politics and the »Long 1960s« in Greece. New York/Oxford 2013. International erlangte die Bewegung vor allem durch den einige Jahre später und während der Militärdiktatur 1969 veröffent­lichten Film von Costa-­Gavras Aufmerksamkeit. Siehe ­Constantin Costa-­Gavras: Z – Anatomie eines politischen Mordes. 1969, 127 Min. Siehe weiterführend zu der vordiktatorischen Zeit aus politikgeschicht­licher Perspektive Heinz A. Richter: Griechenland 1950 – 1974. Zwischen Demokratie und Diktatur. Mainz/Wiesbaden 2013, S. 227 – 309. Siehe dazu das Interview mit der damals Anfang 20-jährigen Agrarwissenschaftsstudentin M. G., die beschreibt, wie in der vordiktatorischen Zeit »die Jugendbewegung der Atem der Gesellschaft war«. Interview von Janis Nalbadidacis mit M. G. in Athen vom 10. Oktober 2013. – Siehe weiterführend zur Geschichte der Dimokratiki Neolaia Lampraki Ioanna Papathanassiou/Polina Iordanidou (Hrsg.): I neolaia Lampraki ti dekaetia tou 1960. Archeiakes tekmirioseis kai avtobiografikes katatheseis [Die Jugendbewegung Lamprakis in

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Abb. 1  Eine Großkundgebung der Dimokratiki Neolaia Lampraki, ca. 1965/66 in Athen.

wenn er betont, dass es sich bei der Jugendbewegung keinesfalls nur um ein rein isoliertes städtisches Phänomen gehandelt habe, sondern sich sogar in Dörfern Ortsverbände mit eigenen Räum­lichkeiten gebildet hätten.17 Die Aktivitäten der Mitglieder beschränkten sich dabei keineswegs nur auf die politische Sphäre. Vielmehr wurden auch vielfältige kulturelle Veranstaltungen organisiert. Eine besondere Bedeutung kam dabei der Absicht zu, griechische Hochkultur einer breiteren Masse zugäng­lich zu machen. Deut­lich wird dies insbesondere am Beispiel der Musik. So wurden zahlreiche lyrische Werke vertont. Die Musik bestach dabei durch ihren volkstüm­lichen Charakter und ihre eingängigen Melodien und erfreut sich zuweilen noch heute großer Popularität.18 Im Diskurs über die den 1960er Jahren. Archivalische Dokumente und autobiographische Zeugnisse]. Athen 2008, S.  75 – 109. 17 Nikolaos Papadogiannis: Militant around the Clock? Left-­Wing Youth Politics, Leisure and Sexuality in Post-­Dictatorship in Greece, 1974 – 1981. New York/Oxford 2015, S. 37. 18 Ebd. S. 35 – 36. – Ein besonders populäres Beispiel stellt die Vertonung des Gedichtzyklus Epitaphio von Iannis Ritsos durch Mikis Theodorakis dar. Siehe weiterführend zum Konzept, Lyrik mit traditioneller Musik zu kombinieren und auf diese Weise breiteren Bevölkerungsschichten zugäng­lich zu machen, Dimitris Papanikolaou: Singing poets. Literature and Popular Music in France and Greece. London 2007.

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­ ilitärdiktatur im Griechenland der metapolitefsi fanden die ErinnerungsnarraM tive der ›Generation Z‹ hingegen nur wenig Gehör. Der vorliegende Beitrag geht vor ­diesem Hintergrund am Beispiel ausgewählter Interviews der Frage nach, wie sich Repräsentant_innen der ›Generation Z‹ an die Militärdiktatur erinnern. Mit den Mitteln der Oral History sollen auf diese Weise neue Facetten jenseits bekannter dominierender Narrative über die griechische Militärdiktatur erschlossen und sichtbar gemacht werden.19 Mit dem Fokus auf dem Darstellungs- und Konstruktionscharakter der Ereignisse und der eigenen Erfahrungen folgt der Artikel vor allem der im Zuge der postpositivistischen Wende formulierten Kritik an einem allzu naiven Umgang mit dem Interviewmaterial. Nicht zuletzt unter dem von Pierre Bourdieu eingeführten Schlagwort der »biografischen Illusion« wurde dabei der subjektive Konstruktionscharakter von Interviews herausgestellt.20 In eben diese Kerbe schlägt auch der Sozialpsychologe Harald Welzer, wenn er betont, dass sich Interviews nicht dazu eignen würden, vergangene Lebenswelten zu rekonstruieren. »In der Sicht des Historikers nun wäre das Zeitzeugeninterview nicht als Quelle dafür zu betrachten, wie etwas gewesen ist, sondern wie etwas von heute aus als vergangenes Ereignis wahrgenommen wird.« 21 Welzer tritt demnach für das Ziehen einer äußerst klaren Trennlinie ­zwischen Gesprächssituation und Gesprächsgegenstand ein. Auf der Grundlage der Interviews könne der vergangene Gegenstand demnach gar nicht mehr Kern des Forschungsinteresses sein, einzig die Erzählweise darüber. Ohne diese unbedingte und grundsätz­liche Absage Welzers an jeg­liche anderweitige Verwendung dieser Interviews zu teilen, folgt der vorliegende Aufsatz der von ihm vorgeschlagenen Herangehensweise.22

19 Siehe weiterführend zu Mög­lichkeiten und Grenzen, Vorzügen und Kritik an der Oral History die nach wie vor sehr konzise Darstellung bei von Plato. Alexander von Plato: Zeitzeugen und die historische Zunft. Erinnerung, kommunikative Tradierung und kollektives Gedächtnis in der qualitativen Geschichtswissenschaft – ein Problemaufriss. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 13 (2000) 1, S. 5 – 29. 20 Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 3 (1990) 1, S. 75 – 81; siehe außerdem Peter Alheit: Geschichten und Strukturen. Methodologische Überlegungen zur Narrativität. In: Zeitschrift für Qualitative Forschung 8 (2007) 1, S. 75 – 96, hier S. 77. 21 Harald Welzer: Das Interview als Artefakt. Zur Kritik der Zeitzeugenforschung. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 13 (2000) 1, S. 51 – 63, hier S. 61. 22 Gerade die Annahme Welzers von recht strikt unterscheidbarer zeit­licher Linearität scheint streitbar. So betont insbesondere Landwehr, dass man vielmehr von einer parallelen Existenz und einem Ineinanderwirken unterschied­licher Zeiten und Deutungsmuster ausgehen müsse. So verstanden eignen sich biografische Interviews auch für Kontexte jenseits von Fragen nach Erzählweisen. Die zeit­liche Kontextgebundenheit des oral erfassten Quellenmaterials stellt in ­diesem Zusammenhang keinerlei Spezifikum dar. Achim Landwehr: Die anwesende

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Thematisiert werden im Folgenden ausschließ­lich die in den Interviews zutage tretenden Narrative über die griechische Militärdiktatur. Die Analyse des zugrunde liegenden Quellenkorpus vollzieht sich dabei entlang von fünf Aspekten: So wird erstens anhand identitätsstiftender Referenzpunkte in die Interviewsituationen aber auch die Selbstrepräsentation der Interviewpartner_innen eingeführt. Am Beispiel des Ausbruchs der Militärdiktatur werden daran anschließend zweitens der (vermeint­liche) ausländische Einfluss sowie Fragen von Kontinuität und Brüchen thematisiert. Als prägende Erinnerung an den Widerstand lässt sich bei vielen die Zeit des Untertauchens beschreiben, die als dritter Punkt analysiert wird, bevor viertens darauf eingegangen wird, auf w ­ elche Weise das ›Polytechnio‹ in den Erzählungen dargestellt wird. Den abschließenden Aspekt stellt fünftens die Frage nach den Gegenwartsbezügen in den Interviews dar. Die Interviews entstammen einem übergeordneten Forschungsprojekt zu Repressionen während der griechischen und der argentinischen Militärdiktatur am Beispiel zweier berüchtigter Folterzentren.23 Wenngleich das leitende Forschungsinteresse die Zeit der Inhaftierung in diesen beiden Folter- und Verhörzentren betraf, so waren die Interviews als narrative Interviews angelegt, die weitaus größere Erfahrungshorizonte der Interviewpartner_innen umfassten. Die neun Interviews, die mit Repräsentant_innen der ›Generation Z‹ geführt wurden, bilden folgend den Quellenkorpus. Auch wenn dabei keinerlei quantitative Repräsentanz unterstellt wird, so wird doch davon ausgegangen, dass sich in der Beschäftigung mit den getätigten Aussagen tieferliegende Erzähl- und Erinnerungsmuster an die eigene Zeit während der griechischen Militärdiktatur ausmachen lassen. Zu Beginn der Militärdiktatur waren meine Gesprächspartner_innen z­ wischen 22 und 27 Jahren alt und ausnahmslos in der Jugendorganisation DNL organisiert. Außer J. S. und D. M., die im Einzelhandel und im Bauwesen tätig waren, waren sämt­liche meiner Interviewpartner_innen an Universitäten eingeschrieben. Wie M. G. oder K. G. waren viele von ihnen zum Studium nach Athen gezogen. Das Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie. Frankfurt a. M. 2016. Siehe zu ­diesem Argument auch von Plato: Zeitzeugen und die historische Zunft (wie Anm. 19), hier S. 25. 23 Dabei handelt es sich im argentinischen Fall um die ›Escuela de Mecánica de la Armada‹ und im griechischen Fall um das Hauptquartier der Athener Sicherheitspolizei, das sich zunächst in der Straße Bouboulina und schließ­lich in der Straße Mesogeiou befand. Zum Forschungsprojekt siehe Janis Nalbadidacis/Andreas Guidi: Torture Centers in Greece and Argentina during the Military Dictatorships. In: The Southeast Passage #007. A Podcast about the History and the Society of the Balkans and Beyond, 07. 12. 2015. Abgerufen unter URL: http://thesoutheastpassage.com/nalbadidacis-­torture-­centers-­greece-­argentina/, letzter Zugriff: 13. 09. 2017.

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eigenständige Leben in der Stadt beschreiben sie vor ­diesem Hintergrund als horizonterweiternd und aufregend. Ihre aktive Mitwirkung in der DNL ging mit zahlreichen neuen Bekanntschaften und Freundschaften einher. Nicht selten bildeten sie, so wie zum Beispiel im Falle der damals 21-jährigen M. G., Wohngemeinschaften mit anderen Mitgliedern der Jugendbewegung. Manche kamen indessen auch wie M. K. bei Verwandten unter. Bei der Wahl der Räum­lichkeiten, in denen die Interviews durchgeführt wurden, entsprach ich stets den Wünschen meiner Interviewpartner_innen. Zumeist trafen wir uns bei ihnen zu Hause. In manchen Fällen bevorzugten sie aber auch andere Räum­lichkeiten wie zum Beispiel ein nahegelegenes Café oder ihr Büro. Ulrike Jureit hebt die dynamische Entstehungssituation von Interviews hervor und prägt dafür den Begriff des szenischen Verstehens.24 So war ich als Interviewführender an der Entstehung dieser Quelle maßgeb­lich beteiligt. Ein Runzeln der Stirn, eine hochgezogene Augenbraue oder ein nochmaliges Nachfragen, selbst kleinste Details mögen sich auf den Fortgang eines Interviews ausgewirkt haben. Die gesprochenen Worte werden nach Mög­lichkeit daher stets im Gesamtzusammenhang der Interviewsituation betrachtet und analysiert. Ganz in ­diesem Sinne werden im Folgenden auch nonverbale Interaktionen und Faktoren in die Analyse der Interviews einbezogen und transparent gemacht.

1. Wer wir sind – Identitätsstiftende Referenzpunkte Gerade einmal 23 Jahre alt war mein Interviewpartner Pa. K., als er Ende Februar 1968 durch einen unglück­lichen Zufall aufgegriffen wurde. Der damalige Student der Wirtschaftswissenschaften hatte sich in der studentischen Widerstandsbewegung ›Rigas Feraios‹ engagiert. Als er durch Bekannte davon erfuhr, dass sich die Polizei nach ihm erkundigt hatte, ging er noch 1967 in den Untergrund.25 Bei 24 Siehe Ulrike Jureit: Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden – Münd­ lich erfragte Fallgeschichten als Quellen historischer Forschung. In: Susanne Düwell/ Nicolas Pethes (Hrsg.): Fall – Fallgeschichte – Fallstudie. ­Theorie und Geschichte einer Wissensform. Frankfurt a. M. u. a. 2014, S. 227 – 241, hier S. 237 – 241; Welzer teilt diese Auffassung und beklagt, dass teilweise noch immer der Idee eines neutralen Interviewverhaltens nachgehangen werde. Siehe Welzer: Das Interview als Artefakt (wie Anm. 21), hier S. 61. 25 Weiterführend zu der Widerstandsgruppe ›Rigas Feraios‹ siehe Rigas Feraios (Hrsg.): To levkoma tou Riga Feraiou. Chronologikos pinakas, prin apo to madiko kinima, to madiko kinima, afises, thourios, deltio, entypa, schedia [Zur Geschichte von Rigas Feraios. Zeittafel, vor der Massenbewegung, die Massenbewegung, Plakate, Thourios, Berichte, Pamphlete, Pläne]. Athen 1974.

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einer Fahrt mit dem Trolley durch Athen erkannte ihn schließ­lich ein Mitarbeiter der Polizei, verhaftete ihn und brachte ihn in das Hauptquartier der Athener Sicherheitspolizei an der Bouboulinastraße. Auf eindrück­liche und beklemmende Weise schildert Pa. K. die ersten Verhöre, die schnell auch mit Folterungen einhergingen. In besonderem Maße gehen wir auf die Folterungen auf der berüchtigten Dachterrasse des Hauptquartiers der Sicherheitspolizei ein.26 Bevor mein Gesprächspartner zu seiner Gefangenschaft im Militärlager Dionissos überleitet, hält er einen Moment inne. Offensicht­lich denkt er über die geschilderten Grausamkeiten und mein Interesse daran nach. Schließ­lich lacht er und fährt fort: »Hach Janis, dass du dich mit uns verbandelst.« 27 Pointiert bringt er damit den für diese Interviewsituation stattfindenden Vergemeinschaftungsprozess von Interviewtem und Interviewer zum Ausdruck. Dieser findet sich ebenfalls in den Situationen gemeinsamen Lachens im Zusammenhang mit den teils drastischen Gewalterfahrungen wieder. Das Lachen vermag hierbei nur auf den ersten Blick zu irritieren. Schließ­lich dient es auch einer Distanzierung zum Geschilderten und erfüllt in d ­ iesem Sinne eine Schutzfunktion.28 Meinen Interviewpartnern war diese Doppelfunktion von erzeugter Vergemeinschaftung einerseits und Selbstschutzfunktion andererseits dabei zuweilen nur zu bewusst. »Jetzt lachen wir, aber damals war das alles andere als lustig«, beschließt einer meiner Interviewpartner nicht umsonst seine Anekdote.29 Neben diesen situationsbezogenen Aspekten fand eine Vergemeinschaftung vor allem entlang des Alters statt. Mit 26 Siehe hierzu Anna Papaeti: Music, Torture, Testimony: Reopening the Case of the Greek Junta (1967 – 1974). In: The World of Music (New Series) 2 (2013) 1, S. 67 – 89, hier S. 70 – 73; Kostis Giourgos/Takis Kampilis/James Becket (Hrsg.): I taratsa tis Bouboulinas. Katastoli kai vasanistiria stin Ellada tou ’67 – 69 [Die Dachterasse Bouboulinas. Unterdrückung und Folter in Griechenland von ’67 – 69]. Athen 2009. 27 Interview von Janis Nalbadidacis mit Pa. K. Athen, 07. 12. 2013. 28 Siehe zum Zusammenhang von Resilienz und Lachen weiterführend Nicholas A. Kuiper: Humor and Resiliency. Towards a Process Model of Coping and Growth. In: Europe’s Journal of Psychology 8 (2012) 3, S. 475 – 491; Linda D. Henman: Humor as a Coping Mechanism. Lessons from POWs. In: Humor – International Journal of Humor Research 14 (2001) 1, S.  83 – 94; Rod A. Martin: The Psychology of Humor. An Integrative Approach. Burlington 2007, S. 305. 29 Dabei handelte es sich um den damals 27 Jahre alten J. S., der in der Zeit vor Ausbruch der Diktatur in einem Athener Vorort wohnte und Sekretär bei der ›Neolaia Lamprakis‹ war. Er war im Einzelhandel bei seinen Verwandten tätig und tauchte am 22. April unter. Rund vier Monate später wurde er von der Polizei gefasst. Im Interview schilderte er, wie ein Polizist versuchte, ihn mit dem Angebot einer Zigarette zum Sprechen zu bewegen. J. S. spielte das Spiel mit und ließ unerwähnt, dass er gar nicht rauchte. Als diese Form der Provokation aufflog, hätten ihn die Polizisten brutal zusammengeschlagen. Interview von Janis Nalbadidacis mit J. S. in Athen, 7. Dezember 2013.

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16 Jahren war D. M. Mitte der 1950er Jahre bereits aus seinem Dorf nach Athen zu seinen älteren Geschwistern gezogen. Seine Eltern waren bereits verstorben, die Schule hatte er abgebrochen. In Athen verdingte er sich schließ­lich als Tagelöhner und Bauarbeiter. Ab dem Ende der 1950er Jahre engagierte er sich erst für den linksgerichteten Parteienverbund ›Eniaia Dimokratiki Aristera‹ (Vereinigte Demokratische Linke) und ab 1963 schließ­lich für die DNL. Direkt mit Beginn der Diktatur beschloss D. M., in den Untergrund zu gehen. Entdeckt und gefangengenommen wurde D. M. erst nach rund drei Jahren im März 1970.30 Im Verlauf unseres Interviews rezitiert D. M. schließ­lich eines seiner selbstverfassten Gedichte, in dem er auf seine Zeit im Gefängnis eingeht und das er explizit mit den Worten einleitet, dass er damals eben in meinem Alter gewesen sei. Doch auch unabhängig von Querverweisen auf mich als Interviewer sprechen meine Interviewpartner_innen dem Alter eine hohe Bedeutung zu. Gemeinhin wird sch­licht von »der Jugend« gesprochen.31 Die Jugend wird dabei vor allem mit einem Mangel an Erfahrung einerseits und einem naiven Idealismus andererseits in Verbindung gebracht. Die eigenen Widerstandsaktivitäten werden dadurch gleichermaßen als bedeutungsvoll wie dilettantisch beschrieben. So führt Pa. K. im Interview aus: »In unserem Alter war es eine wirk­lich ernste Sache, dass wir in unserem Land nun eine Diktatur hatten. Das führte uns in den Widerstand, in den Kampf. Das war keine leichte Angelegenheit.« 32 Auch die damalige Mathematikstudentin M. K. betont, dass der »erste Impuls war, dass wir irgendetwas machen mussten«. M. K. war 1960 bereits als Schülerin nach Athen gekommen, wo sie bei Verwandten unterkam. Bei der Jugendbewegung DNL brachte sie sich von Beginn an ein. Da sie bei der DNL eine vergleichsweise verantwortungsvolle und prominente Rolle innehatte, war sie wie D. M. noch im April 1967 untergetaucht. In ihren Schilderungen der Widerstandsaktivitäten in der ersten Zeit der Militärdiktatur hebt sie vor allem die mangelnde Erfahrung der Beteiligten hervor: »Wir waren Kinder damals. Unerfahren. […] Wir haben dann angefangen, Flugblätter von Hand zu schreiben.« 33 Ganz in ­diesem Sinne schreibt auch Pa. K. der Jugend vor allem »Widerstandsfähigkeit

30 D. M. war zum Zeitpunkt seiner Verhaftung nach eigenen Angaben um die 30 Jahre. Tatsäch­ lich mag das Alter um ein bis zwei Jahre variieren. D. M. selbst sprach davon, dass sich seine Verwandten uneins gewesen s­ eien, wann er denn nun genau geboren worden war, und er dem offiziell eingetragenen Geburtsdatum daher nur bedingt Glauben schenke. Interview von Janis Nalbadidacis mit D. M. in Athen, 19. November 2013. 31 Eine Differenzierung im Sinne Kornetis wird dabei nicht selbstreflektierend aufgegriffen. 32 Interview von Janis Nalbadidacis mit Pa. K. (wie Anm. 27). 33 Interview von Janis Nalbadidacis mit M. K. in Athen, 5. November 2013.

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und ein inneres Feuer« als charakteristische Merkmale zu.34 Ausgehend von der mangelnden Erfahrung betont meine Interviewpartnerin und damalige Architekturstudentin P. S. hingegen auch, dass sie als junges Mädchen in ganz anderem Maße durch die Haft und die erlebte Folter eingeschüchtert und auch zutiefst beschämt worden sei. »Schließ­lich war mir als junge Frau meine äußere Erscheinung damals wichtig.« 35 Neben dem Alter als identitärem Bezugspunkt meiner Gesprächspartner_ innen spielte auch die Selbstwahrnehmung als Grieche/als Griechin eine besondere Rolle. »Es war, als spürte ich die gesamte griechische Geschichte in meinem Rücken, die ganze Tapferkeit, die wir 1821 an den Tag gelegt hatten bei unserem nationalen Widerstand, und ich dachte mir: ›Die haben damals die Folter ausgehalten, wir werden es auch aushalten‹«, beschreibt mir mein Interviewpartner K. M. in ausdrucksstarken Worten seine Verhörsituation.36 Deut­lich wird hierbei zweifelsohne das weitverbreitete Narrativ eines geeinten Volkes, das sich seiner Unterdrücker zu erwehren habe. Dies geht insbesondere mit der Beanspruchung eines wahren Hellenentums einher, das dabei in vielerlei Hinsicht als einigende Projektionsfläche dient.37 Die Zugehörigkeit zum linken S­ pektrum 34 Interview mit Pa. K. (wie Anm. 27). 35 Interview von Janis Nalbadidacis mit P. S. in Athen, 22. November 2013. – P. S. wurde in dem Athen vorgelagerten eigenständigen Distrikt Piräus groß. Ihr Architekturstudium nahm sie 1964 am ›Polytechnio‹ in Athen auf, wo sie sich auch in der ›Dimokratiki Neolaia Lampraki‹ engagierte. Im Vergleich zu den älteren J. S. oder M. K. bekleidete sie in der Jugendbewegung zu Beginn der Diktatur keinerlei verantwortungsvolle oder prominente Position. Sie ging daher auch nicht direkt in den Untergrund. Bei ihrem Versuch Ende November 1967 nach Italien auszureisen, wurde sie schließ­lich von der Polizei gefangen genommen. Im Interview ging sie insbesondere auch auf die hygienischen Umstände der Haftbedingungen ein. 36 Interview von Janis Nalbadidacis mit K. M. in Athen, 17. Dezember 2013. – K. M. wuchs in den 1940er und 1950er Jahren in Athen auf. Zum Studium der Rechtswissenschaften ging er 1962 nach Thessaloniki, wo er auch Vorsitzender der Jugendbewegung ›Neolaia Lampraki‹ wurde. Zur Zeit des Militärputsches hielt er sich in Athen bei seiner Familie auf, um sich dort auf seine Prüfungen vorzubereiten. Noch am 21. April ging er in den Untergrund. Im April 1968 wurde er schließ­lich von der Polizei geschnappt und über mehrere Monate im Hauptquartier der Sicherheitspolizei festgehalten. Siehe zu Referenzen der griechischen Linken auf das 19. Jahrhundert als Bezugspunkt eines nationalen Freiheitskampfes Papadogiannis: Militant around the Clock? (wie Anm. 17), S. 34. 37 Die Verknüpfung nationaler Gesinnung im Verbund mit an anderen Stellen geäußerten kommunistischen Idealen, mag auf den ersten Blick irritieren. Sie steht jedoch symptomatisch für die Spaltung der griechischen Linken 1968 und die damit verbundene Idee eines Eurokommunismus. Siehe hierzu weiterführend die jüngst erschienene Monografie von Jannis Valavanidis: Evrokomounismos. Apo tin kommunistiki sti ridospastiki evropaiki aristera [Eurokommunismus. Von der kommunistischen zur radikalen europäischen Linken]. Athen 2015. – Zur Heroisierung eines wie auch immer gearteten Griechentums siehe das populäre

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wird schließ­lich als dritter Aspekt von meinen Interviewpartner_innen für ihre Selbstbeschreibung hervorgehoben. Im Besonderen geschieht dies durch eine Verknüpfung mit der eigenen Familiengeschichte. So berichten gleich mehrere meiner Interviewpartner_innen, dass sie linken Familien entstammten und ihre eigene Unterdrückung sich daher in jahrzehntelange Repressions- und Diskriminierungserfahrungen innerhalb der griechischen Gesellschaft einfüge. Fast ehrfürchtig lässt meine Interviewpartnerin und damalige Studentin der Agrarwissenschaften M. G. das Leben ihrer Eltern Revue passieren. Als Linke wurden diese in jungen Jahren im Zuge des Bevölkerungsaustauschs ­zwischen Griechenland und der Türkei nach Griechenland zwangsumgesiedelt. Dort hatten sie zunächst unter den Repressionen der Diktatur Metaxas’ und schließ­lich unter der Besatzungszeit der Nationalsozialisten zu leiden, um nach dem Bürgerkrieg das autoritäre System und die Verhaftung ihrer Tochter in der Zeit der Militärdiktatur zu erleben. »Das ist eigent­lich zu viel für ein Leben«, so M. G. mitfühlend.38 Das linke Spektrum, die Familienzugehörigkeit und die Diskriminierungserfahrung verschmelzen aus dieser Perspektive zu einer Einheit. Der Widerstand gegen die Militärdiktatur wird vor d ­ iesem Hintergrund auch aus familiärer Verbundenheit bedeutsam und lässt sich gewissermaßen auch als familiäre Verpf­lichtung und als Erbe beschreiben.

2. »Wie zwei Welten« – Zum Beginn der Diktatur Gerade aus der Diskriminierungsperspektive des linken Spektrums lässt sich die Militärdiktatur als Kontinuum beschreiben. Dies ist auch in der Forschung eine weitgehend einhellige Meinung.39 Zugleich ist unstrittig, dass die Militärdiktatur wesent­lich brutaler gegen die politische Linke vorging, als es noch unter den konservativen Parteien im autoritären Griechenland der 1950er Jahre der Fall gewesen war. Insofern stellte sie in dieser Hinsicht vielleicht keinen Bruch, wohl aber eine eindeutige Veränderung des politischen Klimas und des Alltags der Linken dar,

Lied von Mikis Theodorakis: Ti Romiosyni min tin klais [Beweine nicht das Griechentum, Übers. d. Verf.]. 38 Interview von Janis Nalbadidacis mit M. G. in Athen, 21. Oktober 2013. Siehe ferner zu ­diesem Aspekt Interview von Janis Nalbadidacis mit K. G. in Athen, 18. November 2013 und Interview mit K. M. (wie Anm. 36). 39 Siehe dazu beispielsweise Panourgia, die recht konsequent für eine ­solche Perspektive eintritt. Neni Panourgia: Dangerous Citizens. The Greek Left and the Terror of the State. New York 2009.

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­ elche fortan Opfer von Verfolgungen, Folterungen und Verbannungen wurden.40 w Dies wurde bereits mit Beginn des Militärputsches in der Nacht vom 20. auf den 21. April 1967 deut­lich, in der zahllose Gefangennahmen erfolgten. Ihren Putsch begründeten die Obristen vor allem mit der Gefahr eines drohenden Umsturzes durch Kommunisten. Dieses für die eigene Initiative ins Feld geführte Argument fand auch im linken Spektrum seinen Widerhall. Den Verantwort­lichen des Putsches wurde dabei jedoch jeg­licher Handlungsspielraum für eigenständiges Agieren abgesprochen. Gerade im sich in der metapolitefsi herausbildenden Narrativ über die griechische Militärdiktatur wurde Griechenland im Sinne konspirativer Theorien vielmehr als Spielball ausländischer Mächte dargestellt. Insbesondere den USA wurde in ­diesem Zusammenhang immer wieder eine zweifelhafte und bedeutsame Rolle zugesprochen.41 So wurden sie sowohl für den Putsch als auch für den langen Fortbestand der griechischen Militärdiktatur verantwort­lich gemacht. Das Themenfeld bleibt bis heute in der griechischen Gesellschaft, aber auch in der Forschung kontrovers und umstritten. Adamatios Theodor Skordos macht beispielsweise geltend, dass sich keinerlei valide Belege für eine Einmischung seitens der USA finden lassen.42 Die häufig vorgenommene Schuldzuweisung lasse sich demnach eher als Ausdruck einer Scheu vor der eigenen Verantwortung interpretieren, die man auch für diesen Verlauf der Geschichte zu tragen habe. Im Gegensatz dazu scheint Neni Panourgia in ihrer sonst sehr aufschlussreichen Studie das Argument amerikanischer Konspiration und Intervention weitgehend unhinterfragt unter Bezugnahme auf die von Philip Agee 1975 veröffent­lichte Monografie zu übernehmen.43 Ihr genügt dabei der Verweis auf die unbenommen lange und intensive Kooperation ­zwischen den griechischen Regierungen der 40 Siehe beispielsweise das Berufsverbot für Linke oder auch die Diskussionen um die Wiedereröffnung der Verbannungsinsel in den 1950er Jahre. 41 Siehe hierzu insbesondere die Äußerungen des späteren griechischen Ministerpräsidenten ­Andreas Papandreou. Andreas Papandreou: I dimokratia sto apospasma [Die Demokratie am Abgrund], Bd. 2. Athen 2006, S. 47 – 6 4. – Siehe ferner zur Rolle von Andreas Papandreou einen populistisch aufgeladenen Antiamerikanismus in Griechenland zu schüren Richter: Griechenland 1950 – 1974 (wie Anm. 15), S.  296 – 300. 42 Siehe den Beitrag von Adamantios Theodor Skordos im Band. – Gestützt wird eine ­solche Sicht ebenfalls durch Kassimeris, der in seiner Forschung insbesondere diplomatische Akten des State Departments berücksichtigt. Christos Kassimeris: Causes of the 1967 Greek Coup. In: Democracy and Security 2 (2006) 1, S. 61 – 72, hier S. 70 – 71. 43 Panourgia: Dangerous Citizens (wie Anm. 39), S. 88. – Bei Philip Agee handelt es sich um einen ehemaligen Agenten der CIA, der insbesondere durch die Publikation seiner Erfahrungen im Dienste der CIA großes Aufsehen erregte. Siehe Philip Agee: Inside the Company. CIA Diary. Harmondsworth, Middlesex 1975.

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Nachkriegszeit und den USA .44 Wie aber stellen sich der Umsturz und der Einfluss ausländischer Mächte auf die Etablierung der Militärdiktatur in den Interviews mit meinen Gesprächspartner_innen dar? Etwas lag in der Luft. […] Im kleinen Kreis waren wir etwas beunruhigt. Etwas würde passieren. Etwas würden sie unternehmen. So würden sie es nicht weitergehen lassen. Die Parteiführung hat uns dann aber gesagt, dass wir Ruhe bewahren sollten. Letzt­lich war das auch nur so ein dumpfes Gefühl. Wir haben uns nun nicht aktiv auf so etwas vorbereitet. Unsere Aktivitäten blieben bis zuletzt die gleichen. Der Unterschied war am Ende also nur diese dunkle Ahnung.45

Meine Gesprächspartnerin M. G. betont, dass ungeachtet eines solchen Gefühls zum damaligen Zeitpunkt niemand ernsthaft mit der Diktatur gerechnet habe. So nahm sie noch am Vorabend an einer Sitzung der DNL teil, bei der die weiteren Schritte in Vorbereitung für die auf den 28. Mai 1967 angesetzten Wahlen diskutiert wurden. Tatsäch­lich meldete sich im Zuge der Diskussionen ein Mitglied zu Wort und fragte, was sie denn machen würden, wenn nun ein Umsturz stattfinden und eine Diktatur etabliert werden würde. Nach einem k­ urzen Innehalten verwarf der Vorsitzende derlei Gedankenspiele dann für den Moment als überflüssig. Die Wahrschein­lichkeit eines Umsturzes vor den Wahlen sei insgesamt als äußerst gering einzustufen. Insofern wurde diese Frage auf das nächste Treffen vertagt.46 Die Geschichte verlief anders: In der folgenden Nacht riss das Militär die Macht an sich, besetzte den öffent­lichen Raum und rief die Diktatur aus. M. G. beschreibt dies als Schockmoment: Überall waren Panzer und Militär. Es war ein Alptraum. Wir konnten es nicht glauben. Durch den Schock war es so, als würden wir in zwei unterschied­lichen Welten leben. In der einen hattest du bis gerade eben noch einen Alltag und hast dich engagiert, und in der anderen bist du plötz­lich eine Art Marionette.47

Deut­lich wird in den Beschreibungen meiner Interviewpartner_innen dabei vor allem das Gefühl der Ohnmacht. Die Stimmung in der Gesellschaft wird im

44 Zu den Interventionen und Interessen der USA in die griechische Politik siehe den sehr ausgewogenen Beitrag von Christos Kassimeris: United States Intervention in Post-­War Greek Elections. From Civil War to Dictatorship. In: Diplomacy & Statecraft 20 (2009) 4, S. 679 – 696; siehe ferner Richter: Griechenland 1950 – 1974 (wie Anm. 15), S.  292 – 300. 45 Interview M. K. (wie Anm. 33). 46 Interview mit M. G. (wie Anm. 38). 47 Ebd.

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Vorhinein insbesondere im Hinblick auf die Wahlen als angespannt beschrieben. Umsturzversuche wurden scheinbar vor allem für die Zeit nach den Wahlen erwartet. Als mög­liche Akteure für einen solchen Putsch werden dabei der König, das Militär, konservative Regierungskreise und parastaat­liche Akteure genannt. Von einem Einfluss der USA auf den Umsturz im Zuge konspirativer Verschwörungstheorien über ausländische Mächte sprechen meine Intervierwpartner_innen indessen nicht. Vielmehr konzentrieren sich ihre Erzählungen auf die eigenen Erlebnisse und betonen die starke Präsenz des Militärs am Folgetag.48 Erst in der Beschreibung der eigenen Leiden gewinnt der ausländische Faktor in Form der internationalen Öffent­lichkeit an Bedeutung. »Jede Stimme in Europa gegen die Folter bedeutete für uns eine Ohrfeige weniger«, formulierte etwa mein Interviewpartner Pa. K. pointiert.49 Die immense und positiv behaftete Bedeutung Europas wird dabei insbesondere in den Aussagen jener Folteropfer deut­ lich, die im Anschluss an ihre Freilassung als Zeug_innen bei der Europäischen Kommission für Menschenrechte auftraten.50 Den leidvollen Foltererfahrungen und Misshandlungen gingen hingegen in den meisten Fällen Versuche voraus, sich dem Regime durch Flucht oder den Gang in den Untergrund zu entziehen.

3. »Du kannst niemandem mehr trauen« – Die Zeit im Untergrund Viele meiner Gesprächspartner_innen tauchten aufgrund ihres allseits bekannten Engagements in der DNL bereits in den ersten Tagen der Diktatur unter, so auch die Mathematikstudentin M. K. Nach eigenen Aussagen sah sie keinerlei anderen 48 Selbstkritisch gilt es an dieser Stelle anzumerken, dass ich als Interviewer im Vorhinein hingegen auch deut­lich gemacht habe, dass ich insbesondere an Erzählungen aus den eigenen Erfahrungen interessiert sei. Die Eröffnungssequenz bestand dementsprechend häufig in der Aufforderung, davon zu erzählen, wie meine Interviewpartner_innen nach Athen gekommen waren und wie sie die Zeit vor dem Umsturz und auch den Umsturz selbst erlebt hatten. 49 Interview mit Pa. K. (wie Anm. 27). 50 Siehe hierzu beispielsweise die noch während der Diktatur erschienenen Publikationen von Periklis Korovessis und Kiti Arseni. Kiti Arseni: Bouboulinas 18 [Bouboulinas 18]. Athen 1975; Periklis Korovesis: Anthropofilakes [Menschenwärter]. Athen 2007. – Siehe auch das Interview mit dem noch vor dem Bürgerkrieg geborenen und daher im engeren Sinne von Kornetis nicht unbedingt zur ›Generation Z‹ zu rechnenden Periklis Korovesis. Interview von Janis Nalbadidacis mit Pe. K. in Athen, 12. Dezember 2013. – Zu den Aussagen vor der Europäischen Kommission für Menschenrechte siehe Europäische Kommission für Menschenrechte: Yearbook of the European Convention on Human Rights 1969. The Greek Case. Den Haag 1972.

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Weg, wenn sie nicht direkt verhaftet werden wollte. »Die Zeit im Untergrund war hart. Wir hatten keinerlei Einkommen, verfügten über keine Erfahrung und hatten auch nicht die nötige Infrastruktur zur Verfügung.« 51 Neben der eigenen Unerfahrenheit hebt sie vor allem den Mangel an Unterstützung hervor: »Angst war das vorherrschende Gefühl innerhalb der Bevölkerung, und nur wenige trauten sich, uns zu helfen und uns einen Schlafplatz zur Verfügung zu stellen. Es gab wirk­lich große Angst davor, geschnappt und eingesperrt zu werden, weil man jemandem, der gesucht wurde, geholfen hat.« 52 Die damals 20-jährige Studentin der Agrarwissenschaften M. G. war sich hingegen sicher, dass ihre Daten noch nicht von der Polizei im Zusammenhang mit der DNL erfasst worden waren. Dementsprechend führte sie die ersten Monate ihr Studentenleben fort und besuchte weiterhin sämt­liche ihrer Kurse. Gleichwohl engagierte sie sich mit einigen ihrer Kommiliton_innen für den Widerstand. »Wir schrieben Sprüche auf Tafeln, verteilten Flyer oder stellten irgendwo Kassettenrecorder hin, die Parolen gegen die Diktatur abspielten.« 53 Anfang Januar trat dann plötz­lich ein Spitzel der Polizei auf sie zu und zwang sie dazu, ihn mit auf die Wache zu begleiten. Nach einem strapaziösen und einschüchternden Verhör wurde sie wider Erwarten entlassen. »Ich konnte im ersten Moment gar nicht fassen, dass sie mich wieder gehen ließen.« 54 Gleichwohl knüpften sich daran Bedingungen. So sollte M. G. für die Polizei spionieren und zweimal pro Woche bei der Wache vorstellig werden, um dort Bericht zu erstatten. M. G. beschreibt, wie sie noch am selben Abend den Entschluss fasste unterzutauchen. Schließ­lich sei sie davon ausgegangen, dass es nur eine Frage der Zeit gewesen wäre, bis ihre bisherigen Widerstandsaktivitäten von der Polizei aufgedeckt worden wären. Wie nachhaltig und verunsichernd die repressiven Maßnahmen des diktatorischen Regimes wirkten, wird insbesondere in der Beschreibung ihrer letztmaligen Zusammenkunft mit ihrer damaligen Freundin und Mitbewohnerin sowie zwei weiteren Freunden nach dem Verhör deut­lich. Diese hatten von M. G.s Verhaftung erfahren und besprachen am Abend in einer Bar ihre eigene Gefährdung sowie ihr weiteres Vorgehen, als M. G. sie dort antraf. Als sie mich sahen, erstarrten sie, blickten mich mit offenen Mündern an und bekamen kein Wort heraus. Was sie gedacht haben? Dass ich ausgesagt und sie verraten hätte und deshalb freigekommen sei. Dieses Misstrauen konnte ich richtiggehend spüren, und das war erschütternd.55

51 Interview M. K. (wie Anm. 33). 52 Ebd. 53 Interview mit M. G. (wie Anm. 38). 54 Interview von Janis Nalbadidacis mit M. G. in Athen, 24. Oktober 2013. 55 Ebd.

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Misstrauen war denn letzt­lich auch prägend für die Zeit im Untergrund. So berichten meine Interviewpartner_innen davon, wie sie mehrmals ihren Unterschlupf wechselten und bestimmte Codephrasen etablierten. So klingelte eines Abends bei M. G.s Eltern das Telefon. M. G.s Bruder hob ab, und eine Bekannte seiner Schwester teilte ihm mit, dass der Freund von M. G. »von der weiterführenden Schule aufgenommen« worden sei. Im Klartext bedeutete diese Phrase, dass der Freund von M. G. von der Polizei aufgegriffen und verhaftet und ihr gemeinsamer Unterschlupf entdeckt worden war. M. G. war in der Folge nicht nur in Sorge um ihren verhafteten Freund, sondern musste sich auch wieder auf die verzweifelte Suche nach einem neuen Versteck begeben. Selbst Verwandte wie ihr Cousin hätten damals abgelehnt, sie zu beherbergen.56 Misstrauen und die Furcht, verraten oder entdeckt zu werden, prägten dabei die Suche nach einer sicheren Unterkunft. Zugleich brachte diese Zeit zahlreiche Entbehrungen mit sich und führte meine Gesprächspartner_innen in vielerlei Hinsicht an ihre Grenzen.57 Schließ­lich waren damit nicht nur Ungewissheit, sondern vor allem auch die eindeutige Aufgabe des bisherigen Lebens sowie die Entscheidung für einen aktiven Widerstand verbunden. Mangel an Erfahrung und an Unterstützung sowie das damit verbundene Gefühl der Einsamkeit und des mangelnden Rückhalts in der griechischen Gesellschaft sind die leitenden Motive, die in den Narrativen über die Zeit im Untergrund zum Ausdruck kommen.

4. Der Referenzpunkt griechischen Widerstands – Das ›Polytechnio‹ Bis 1971 wurden sämt­liche meiner Interviewpartner_innen von der Polizei aufgegriffen und verhaftet. Nach der grausamen Zeit der Verhöre im Hauptquartier der Sicherheitspolizei wurden die meisten von ihnen auf Verbannungsinseln verbracht, wo sie mehrere Jahre gefangen gehalten wurden. Zum Zeitpunkt der Studentenunruhen waren die meisten meiner Interviewpartner_innen aufgrund von Amnestien jedoch nicht mehr in Gefangenschaft. Auf das ›Polytechnio‹ im

56 Ebd. 57 So beschreibt M. G., wie wenig sie zu essen hatten und wie sie sich einige Tage nur von Brot ernährten, das sie in Öl und Essig tauchten. Siehe das Interview mit M. G. vom 24. Oktober 2013. – Im Zusammenhang mit den ständigen Suchen nach einem neuen Unterschlupf und mög­lichen Sympathisanten äußert M. G. das verwendete Zitat »Du kannst niemandem mehr trauen«. Interview mit M. G. (wie Anm. 38).

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Jahr 1973 gehen sie dennoch allenfalls am Rande ein. Bereits seit 1971 war J. S. wieder frei, stand seitdem jedoch unter verschärfter Beobachtung. Das Jahr 1973 stand für ihn vor allem im ­­Zeichen der Geburt seines Kindes, das im November zur Welt kam. Just an dem Morgen des Tages, an dem das Militär gewaltsam das Gelände des ›Polytechnio‹ stürmte, kehrte seine Frau entkräftet von der Geburt nach Hause zurück. Aus Sorge um seine Frau blieb J. S. damals der Demons­ tration fern und tauchte auch im Anschluss an die Eskalation nicht unter. Die Demonstranten hatte er eigenen Angaben zufolge durch das Bereitstellen von Medikamenten und Nahrungsmitteln unterstützt. Da er ohnehin bereits unter Beobachtung stand, sei die Polizei im Nachgang der Studentenunruhen auch zu seinem Haus gekommen und hätte ihn für einige Tage inhaftiert, verhört und auch gefoltert.58 Ähn­liches berichtet Pa. K., der erst im Sommer 1973 entlassen worden war.59 Auch er hatte damals nicht aktiv an den Demonstrationen rund um das ›Polytechnio‹ teilgenommen. Die Polizei fahndete dennoch nach ihm und griff ihn letzt­lich einige Tage später auf. Nach wenigen Tagen ließen sie ihn jedoch wieder frei. Deut­lich wird in den Interviews, dass meine Gesprächspartner_innen weder federführend an den studentischen Aufständen teilnahmen noch die primären Adressaten für die nachfolgenden Repressionen waren. Zwar wurde nach ihnen gefahndet, die gewaltsamen Machtdemonstrationen fielen in ihren Fällen jedoch vergleichsweise milde aus. Ihren Kampf mit dem Regime hatten die Vertreter_innen der ›Generation Z‹ zu ­diesem Zeitpunkt zu großen Teilen bereits ausgefochten, die unnachgiebige und brutale Hand des repressiven Militärregimes bereits erfahren. In ihrem diachronen Vergleich des studentischen Widerstands kommt M. G. dementsprechend zu dem Schluss, dass wir [gem. sind die Vertreter der ›Generation Z‹, Anm. d. Autors] damals nicht so offen agieren konnten. Diese organisierte Arbeit, die auf Massen abzielte, nahm allenfalls nach 1971/1972 zu. Damals, als in etwas größeren Verbünden etwas unternommen wurde – als die Juristische Fakultät besetzt wurde, als das Polytechnio besetzt wurde. […] Unsere Generation war zum damaligen Zeitpunkt verschwunden.« 60

Ganz in ­diesem Sinne hebt P. S. leicht verbittert hervor, dass viele im Nachgang für sich reklamiert hätten, Widerstand geleistet zu haben. »Aber was glaubst du? Es waren letzt­lich nur wenige, die Widerstand leisteten, ausgesprochen wenige.« 61 58 59 60 61

Interview mit J. S. (wie Anm. 29). Pa. K. kam im Zuge der Amnestie am 21. August 1973 frei. Interview mit Pa. K. (wie Anm. 27). Interview mit M. G. (wie Anm. 38). Interview mit P. S. (wie Anm. 35).

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Gerade durch die Medien fanden die studentischen Unruhen jedoch einen großen Widerhall. Das ›Polytechnio‹ wurde zu einer Projektionsfläche und einem Referenzpunkt der griechischen Gesellschaft für vielfältige Arten des Widerstands. In besonderem Maße wurde dies im Zuge der griechischen Wirtschaftskrise deut­lich. So war am 6. Dezember 2008 abermals das ›Polytechnio‹ Ausgangspunkt einer Demonstration, in deren Zusammenhang bei einer Auseinandersetzung z­ wischen zwei Polizisten und linken Jugend­lichen der 15-jährige Alexis Grigoropoulos durch einen Querschläger zu Tode kam. Die ohnehin aufgeheizte Stimmung und die sich abzeichnende Finanzkrise verschärften sich in den folgenden Jahren.

5. Der lange Atem der Geschichte – Gegenwartsbezüge Die Interviews entstanden im Jahre 2013. Griechenland war spürbar geprägt von den Folgen der Finanzkrise. Der Großteil der Bevölkerung hatte zum damaligen Zeitpunkt bereits zahllose Einschnitte zu verkraften. Mit 27,5 Prozent erreichte die Arbeitslosigkeit in ­diesem Jahr einen neuen Höhepunkt.62 In der Altersgruppe bis 30 lag die Arbeitslosenquote sogar bei rund 50 Prozent.63 Die rechtsgerichtete Partei ›Chrysi Avgi‹ erlangte in der Krise zunehmend Zuspruch und zog bei den Wahlen 2012 erstmals ins griechische Parlament ein. Inmitten der ohnehin angespannten Lage eskalierte im September 2013 in der Athener Vorstadt Keratsini ein Streit, bei dem Anhänger der ›Chrysi Avgi‹ den Musiker Pavlos Fyssas ermordeten. Im Gegenzug erschossen am 1. November Mitglieder einer linksex­ tremen Gruppe zwei Anhänger der ›Chrysi Avgi‹. Demonstrationen und Streiks waren 2013 an der Tagesordnung. Sowohl den Gedenktag an das ›Polytechnio‹ wie auch den sich zum fünften Mal jährenden Todestag von Grigoropoulos am 6. Dezember 2013 begleiteten gewaltsame Ausschreitungen. Das hier nur skizzierte aufgeheizte politische Klima wird auch in den Ausführungen meiner Gesprächspartner_innen aufgegriffen und spiegelt sich vor allem in Versuchen wider, große Bögen von der Vergangenheit bis in die Gegenwart zu schlagen. »Wir machen, wir tun und versuchen und so weiter und dann – bam!– landen

62 Eurostat: Arbeitslosenquote, insgesamt. Abgerufen unter URL: http://ec.europa.eu/eurostat/ tgm/table.do?tab=table&init=1&language=de&pcode=tsdec450&plugin=1, letzter Zugriff: 25. 08. 2017. 63 Siehe hierzu die Arbeitslosenstatistiken von Eurostat für die Altersgruppen 15 – 24 und 25 – 29. Eurostat: Arbeitslosenquote nach Alter. Abgerufen unter URL: http://ec.europa.eu/eurostat/ tgm/refreshTableAction.do?tab=table&plugin=1&pcode=tepsr_wc170&language=de, letzter Zugriff: 25. 08. 2017.

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wir wieder auf der Nase«, erklärt mir mein Interviewpartner K. G. in plastischen Worten aus seiner Sicht das Schicksal der Linken im Griechenland des 20. Jahrhunderts.64 So s­ eien die Linken in Griechenland zwar immer bemüht, die Gesellschaft voranzubringen und sich in die Gesellschaft zu integrieren. Alle 25 Jahre würden sie aber von einer »Katastrophe« heimgesucht, so die resignative Erkenntnis. Zur Untermauerung seiner These verweist K. G. auf das vom sowjetischen Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Kondratieff in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte Wirtschaftsmodell, das von rund 25-jährigen Zyklen der Konjunktur ausgeht.65 Das Modell dient ihm dabei insbesondere dazu, den Bogen von der Besatzungserfahrung über die Militärdiktatur bis zur Zeit der Finanzkrise in Griechenland zu schlagen. Die Integration der zeitgenössischen Finanzkrise in d­ ieses Narrativ scheint dabei von besonderer Bedeutung. Auch P. S. wirkt angesichts der gegenwärtigen Lage verzagt. Von der Verantwortung eines jeden Einzelnen für die Situation der Gesamtgesellschaft kommt sie auf die ›Chrysi Avgi‹ zu sprechen und führt aus, dass »die Faschisten derzeit die Nöte der Bevölkerung für sich zu ­nutzen wissen«.66 Resigniert stellt sie schließ­lich für sich fest, dass sie keinerlei Probleme mit der Zeit im Gefängnis habe, wenn es denn tatsäch­lich etwas bewegt hätte. Die Inszenierung des damaligen Widerstands im zeitgenössischen Erinnerungsdiskurs erscheine ihr hingegen inhaltsleer. »Im Nachgang an die Diktatur konnte man den Eindruck gewinnen, alle wären damals Lamprakides gewesen.« 67 Selbstkritisch merkt sie an, dass sie und auch ihre Freund_innen lange den Mantel des Schweigens über diese Zeit ausgebreitet hätten, was sie nicht zuletzt in schlechten Erfahrungen im Umgang mit Medien und aus dem Kontext gerissenen Zitaten begründet sieht. Als Indiz eines in der jüngeren Vergangenheit zunehmend ernsthafteren und differenzierteren Umgangs mit dieser Zeit wertet sie vor d­ iesem Hintergrund die Dokumentation von Alida Dimitriou, ­welche anhand von Zeitzeugeninterviews nach den Erlebnissen und Haftbedingungen linker Aktivistinnen fragt.68 Ein verstärktes gesellschaft­liches Interesse an der griechischen Militärdiktatur ließ sich zudem naturgemäß in den Gedenkjahren 2014 und auch 2017 feststellen.69 64 Interview mit K. G. (wie Anm. 38). 65 Siehe Nikolai D. Kondratieff: Die langen Wellen der Konjunktur. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 56 (1926) 3, S. 573 – 609. 66 Interview mit P. S. (wie Anm. 35). 67 Ebd. 68 Alida Dimitriou: Ta koritsia tis brochis [Die Mädchen des Regens]. 2012, 120 Min. 69 Siehe hierzu die Veranstaltungen der documenta im Jahre 2014 zur griechischen Militärdiktatur. Abgerufen unter URL: http://www.documenta14.de/en/calendar/, letzter Zugriff: 02. 10. 2017. – Siehe für das Jahr 2017 beispielsweise die in der Kooperation von Friedrich-­Ebert-­ Stiftung und dem in Athen angesiedelten zeithistorischen und gesellschaftswissenschaft­lichen

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Abb. 2  Die Studentin Maria Kallergi in ihrer Zelle im Gefängnis Korydallos, 1972. Maria Kallergi wurde Ende 1967 von der Polizei verhaftet und über mehrere Monate gefoltert, bevor sie ins Gefängnis Korydallos gebracht wurde. Das Foto wurde zum Titelbild des Dokumentarfilms Ta koritsia tis brochis (dt. Die Mädchen des Regens) von Alida Dimitriou aus dem Jahr 2011.

Zahlreiche Veranstaltungen der documenta 2014 in Athen fanden in gemeinsamer Zusammenarbeit mit dem Verband inhaftierter und verbannter Widerständskämpfer_innen 1967 – 1974 auf dem ehemaligen Gelände der Militärpolizei EAT/ESA statt.70 So sehr P. S. ­solche Initiativen begrüßt, betont sie auch, dass die erfahrenen Leiden unabhängig von solch kulturellen Projekten und gesellschaft­lichen Initiativen auf persön­licher Ebene fortwirken würden:

Archiv (ASKI) entstandene Wanderausstellung zum Widerstand gegen die griechische Militär­ diktatur. Abgerufen unter URL: https://www.fes.de/oas/portal/pls/portal/filefunctions.download/PLAKON/VERANSTALTUNG/218440/F1694638057/FES_Flyer_Einlad_Ausst_ Solid_u_Widerst.pdf, letzter Zugriff: 02. 10. 2017. 70 Der griechische Name des Verbands lautet Σύνδεσμο Φυλακισθέντων και Εξορισθέντων Αντιστασιακών 1967 – 1974. Er wurde bereits kurze Zeit nach der Militärdiktatur gegründet. Der Verband verfügt auf dem ehemaligen Gelände der Militärpolizei über Büroräume und verantwortet dort zudem das ›Mouseio antidiktatorikis kai dimokratikis antistasis‹ [Museum zum antidiktatorischen und demokratischen Widerstand]. Neben Gedenkveranstaltungen werden dort auch Führungen angeboten. Abgerufen unter URL: http://www.sfea.gr/index.php/eat-­esa/ 2015 – 05 – 20 – 22 – 48 – 27/item/323-mouseio-­eat-­esa, letzter Zugriff: 02. 10. 2017.

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Du musst dir vor Augen führen, dass dich die staat­liche Gewalt, wenn du sie auf diese Weise erfährst wie wir sie erfahren haben, überallhin verfolgt. Auch wenn gar nichts passiert, siehst du sie überall. Es ist wie eine kleine Psychose. Mir graut seitdem vor jedem Gang zu einer staat­ lichen Behörde, weil ich das einfach mit den Folterungen verbinde. Das ist sogar jetzt noch so.

Einen wirk­lichen Platz in der griechischen Gesellschaft, so P. S. weiter, habe sie mit ihren Erfahrungen nicht mehr gefunden.71 Dies korrespondiert mit der Beobachtung des Historikers Antonis Liakos, der selbst zur ›Generation Z‹ gezählt werden kann. Ihm zufolge zeichne die Vertreter_innen der ›Generation Z‹ aus, dass sie nach der Militärdiktatur allesamt sehr individuelle Wege eingeschlagen hätten. In das politische Leben hätten sie sich hingegen allenfalls sporadisch noch eingemischt.72

6. Fazit Der vorliegende Aufsatz hatte zum Ziel, anhand subjektiver Schilderungen von Zeitzeug_innen und ihren eigenen Erfahrungen und Sichtweisen Einblicke in den Erinnerungsdiskurs um die griechische Militärdiktatur zu geben. Insofern verbinden sich mit dem hier gewählten Ansatz der Oral History weder der Anspruch einer systematischen Darstellung des Erinnerungsdiskurses noch eine fundierte Korrektur dominanter Erinnerungsnarrative der griechischen Militärdiktatur. Wohl aber können auf der Grundlage von Interviews, die mit Vertreter_innen der ›Generation Z‹ durchgeführt wurden, bestehende dominante Erinnerungsnarrative um wichtige Facetten bereichert und differenziert werden. Für das Selbstverständnis und die Selbstdarstellung meiner Interviewpartner_innen waren ihre griechische Nationalität, ihre damalige Jugend sowie die Zugehörigkeit zum linken Spektrum von Bedeutung, die häufig auch mit der eigenen Familie verknüpft wurde. Einschneidende und prägende Erlebnisse stellten in den Schilderungen vor allem die Untergrunderfahrungen sowie die 71 Interview mit P. S. (wie Anm. 35). – Siehe dazu Améry und seinen häufig zitierten Ausspruch zum Holocaust: »Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt«. Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München 1988, S. 58; siehe außerdem das Interview mit D. M., der betont, dass er mit der Linken in der metapolitefsi gebrochen habe. Interview mit D. M. (wie Anm. 30). – K. G. beschreibt demgegenüber wie ihn die Folterungen manches Mal noch bis in seine Träume hinein verfolgen würden. Siehe das Interview mit K. G. (wie Anm. 38). 72 Siehe hierzu die Aussage von Liakos bei Kornetis: Children of the Dictatorship (wie Anm. 13), S. 296.

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Zeiten der Inhaftierung und der Folter dar. Bei all der in den Interviews imaginierten Zusammengehörigkeit innerhalb des linken Widerstands gingen diese konkreten Erfahrungen indessen vor allem mit einem Gefühl der Ohnmacht und der Isolation von der griechischen Gesellschaft einher. Das Gefühl eines gesamtgesellschaft­lichen Rückhalts erfuhr vor ­diesem Hintergrund starke und nachhaltige Zweifel. Dies wird insbesondere an den Äußerungen zum ›Polytechnio‹ deut­lich, welches bezeichnenderweise keinen zentralen Erinnerungspunkt meiner Gesprächspartner_innen an die Diktaturzeit darstellt. Selbst wenn meine Interviewpartner_innen zu ­diesem Zeitpunkt von den in der Folge stattfindenden Verfolgungen abermals betroffen waren, so waren sie doch keineswegs Protagonist_innen der Studentenunruhen, sondern allenfalls Zaungäste. Ihren Kampf mit dem Regime hatten sie zu ­diesem Zeitpunkt zu großen Teilen bereits ausgefochten, die unnachgiebige und brutale Hand des repressiven Militärregimes bereits erfahren. Diese Narrative stehen damit in starkem Kontrast zu dem gerade im linken Spektrum und durch Vertreter_innen der ›Generation Polytechnio‹ postulierten Bild eines geeinten unterdrückten Volkes, das letzt­lich gegen die Militärdiktatur aufbegehrte. Gerade diese durch die eigenen Erfahrungen erworbene kritische Sicht meiner Interviewpartner_innen auf die griechische Gesellschaft mag hingegen auch als Erklärung dafür dienen, dass die in den gängigen Narrativen im linken Spektrum vielfach diskutierte Einmischung durch die USA allenfalls am Rande Erwähnung fand. Im Gegensatz zur ›Generation Polytechnio‹ haben meine Gesprächspartner_ innen über Jahre hinweg eine Isolierung erlebt und empfinden diese insbesondere im Vergleich zur vordiktatorischen Zeit als stark. Der mit den Ausgrenzungs- und Isolationserfahrungen einhergehende Frust mag sich zum einen in individuelleren und unpolitischeren Werdegängen niedergeschlagen haben, zum anderen wird er auch in den Gegenwartsbezügen deut­lich. So werden in d­ iesem Zusammenhang nicht nur die eigenen, teils noch immer nachwirkenden traumatischen Ereignisse thematisiert, sondern eben auch der Unmut über die zeitgenössische Krise in Griechenland sowie dem damit zusammenhängenden Aufschwung der ›Chrysi Avgi‹ geäußert. Für etwas, so der Tenor, müsse das eigene vergangene Leid doch gut gewesen sein.

Dokumentation der Abschlussdiskussion des 15. Internationalen Symposiums

Europa – eine verlorene Hoffnung? Süd- und ostmitteleuropäische Perspektiven im Vergleich

Jörg Ganzenmüller Bei der heutigen Podiumsdiskussion wollen wir fragen, ­welchen Einfluss die dikta­ torische Vergangenheit und die Diktaturerfahrung auf die politischen Kulturen der Länder heute haben. Adam Krzemiński hat uns ja bereits einen Einblick in die polnische und einige ostmitteleuropäische postdiktatorische Gesellschaften gegeben. Auf dem Podium möchten wir nun das, was wir über Spanien, Portugal und Griechenland gelernt haben, mit einem Blick nach Ostmitteleuropa vergleichend betrachten. 2015 zeigte der Thüringen-­Monitor, dass es durchaus einen Zusammenhang ­zwischen der Apologie der SED-Diktatur und antidemokratischen Einstellungen im Allgemeinen gibt. Das heißt, dass diejenigen, die ein positives Bild von der DDR haben, weit mehr autoritäre, teilweise auch rechtsextreme Einstellungen vertreten als jene, die ein kritisches DDR-Bild haben. Vor d­ iesem Hintergrund stellt sich also die Frage, inwieweit ein Zusammenhang z­ wischen der Aufarbeitung von Diktaturerfahrung in postdiktatorischen Gesellschaften und dem Erstarken von europakritischen und auch populistischen Bewegungen im heutigen Europa besteht. Diese Frage möchten wir nun auf unserem Abschlusspodium mit Frau Professor Dr. Teresa Pinheiro, Herrn Professor Dr. Xosé Núñez Seixas und Herrn Dr. Adamantios Theodor Skordos diskutieren. Zusätz­lich haben wir mit Frau Professor Dr. Éva Kovács und Herrn Professor Dr. Włodzimierz Borodziej zwei ausgewiesene Experten für die Zeitgeschichte Ungarns und Polens eingeladen. Zunächst würde ich das Podium gerne ganz generell nach den Spuren der Diktaturerfahrung und nach der Aufarbeitung der Diktaturen in den heutigen politischen Kulturen der jeweiligen Länder befragen. Meine erste Frage richtet sich an Éva Kovács. Wie ist in Ungarn die kommunistische Diktaturerfahrung aufgearbeitet worden, w ­ elche Geschichtsbilder wurden hier sowohl staat­licherseits als auch seitens der Gesellschaft produziert? Éva Kovács Ich habe Ihnen zwei Beispiele aus Ungarn mitgebracht, die exemplarisch die aktuellen dominanten Geschichtsbilder der kommunistischen Diktaturerfahrung präsentieren sollen. Vielleicht haben Sie in den deutschen Zeitungen gelesen, dass es 2014 in Budapest einen großen Skandal über das so genannte Besatzungsdenkmal

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gab. Dabei handelte es sich um ein staat­liches Denkmal, das an die deutsche Besatzung des Landes im Jahr 1944 erinnert und wegen der permanenten Kritik durch die Zivilgesellschaft nie offiziell eingeweiht wurde. Diesem Denkmal wurde durch die Kritik von einer Gruppe engagierter Bürger ein anderes Denkmal entgegengesetzt. Der Name der gesellschaft­lichen Initiative ist ›Eleven Emlékmű‹, was sich mit ›lebendigem Denkmal‹ übersetzten lässt. Das ›Gegennarrativ‹ d­ ieses spontanen Denkmals thematisiert die Opfer und die Verantwortung des ungarischen Staates nach 1944. Verschiedene Gruppen und Individuen haben ihre Erinnerungsobjekte, historische Dokumente, Fotos und persön­liche Memoiren auf der Straße ausgestellt und organisieren regelmäßig Diskussionen am Ort. Dieses Beispiel zeigt, dass seitens der ungarischen Orbán-­Regierung eine sehr aggressive Tendenz zu beobachten ist, Ungarn als einen nichtsouveränen Akteur des Zweiten Weltkrieges zu portraitieren. Gleichzeitig zeigt diese Episode aber auch, dass es trotzdem Bürgerinitiativen gibt, die eine alternative Version der Geschichte des Zweiten Weltkrieges akzeptieren, in der die damalige ungarische Regierung eine bedeutende Mitverantwortung an der Ermordung der ungarischen Juden zugeschrieben wird. Mein zweites Beispiel führt uns zur Erinnerung an die Revolution von 1956 und die Rolle des ›Haus des Terrors‹ in der Umschreibung der früheren historischen Erzählung. Viele von Ihnen kennen die Funktion und Position des ›Haus des Terrors‹ in der ungarischen Erinnerungslandschaft; wie dort beispielsweise die doppelte Besatzung – also die nationalsozialistische und kommunistische – verhandelt und präsentiert wurde. Von Beginn an wurde die skandalöse Ausstellung von berühmten Historikern wie zum Beispiel von Tony Judt harsch kritisiert. Das ›Haus des Terrors‹ erweiterte 2015/2016 seine Agenda mit der großzügigen Unterstützung der Orbán-­Regierung und versuchte, auch die Geschichte und die Erinnerung an die Revolution von 1956 neu zu thematisieren. Dabei erfand es unter anderem die Geschichte der ›Budapester Burschen‹ und präsentierte diese neue Version 2016 in einer Open-­Air-­Ausstellung. In dieser Erzählung spielen die ›Pester Burschen‹ – also bewaffnete Jugend­liche als Freiheitskämpfer – die Hauptrolle in der Revolution von 1956. Sowohl der reformkommunistische Charakter der Revolution als auch ihre intellektuellen Helden und Märtyrer wurden in dieser Version verschwiegen. Um die Narrative des Hauses des Terrors zu ergänzen und zu kritisieren, stellte die Zivilinitiative ›Eleven Emlékmű‹ den offiziellen Tafeln des Museums ein weiteres ›lebendiges Denkmal‹ gegenüber. Hier wurde unretouchiert erzählt, dass es zum Beispiel viele Opfer der Revolution gab, die nicht zu den ›Pester Burschen‹ gehörten, und die ideologische und ­soziale Vielfarbigkeit der Revolution wurde ebenfalls nicht verschwiegen. Das ›Haus des Terrors‹ stellte daraufhin eine Tafel ­zwischen seine Ausstellungsobjekte und die Tafeln des ›lebendigen Denkmals‹

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und erklärte darauf, dass es keine Verantwort­lichkeit für die von der Bürgerinitiative dargestellte Version habe. An ­diesem Beispiel wird das Oszillieren ­zwischen zwei unterschied­lichen Narrativen deut­lich, ­zwischen dem der Opfer und dem der Täter, den einfachen Menschen, bzw. den Intellektuellen und den Kommunisten. Heute bin ich optimistischer als früher, als ich dachte, dass die staat­liche ungarische Geschicht­spolitik der Regierung Orbán die Geschichtsschreibung vollkommen umschreiben kann. Diese Beispiele machen allerdings deut­lich, dass nicht nur renommierte Historiker und Intellektuelle, sondern auch zivilgesellschaft­liche Gruppen auf den Plan treten, die das staat­liche Geschichtsnarrativ kritisieren und alternative Erzählungen neu in den Diskurs einführen. Jörg Ganzenmüller Éva, du hast jetzt vor allem den Konflikt z­ wischen der staat­lichen Geschichtspolitik Viktor Orbáns und zivilgesellschaft­lichen Gegenerzählungen geschildert. Wie verläuft dieser Erinnerungskonflikt denn innerhalb der ungarischen Gesellschaft? Éva Kovács Wie die Meinungsforschungen zeigen, erinnert sich die ungarische Gesellschaft kaum an ihre Geschichte. Wenn wir uns die Untersuchungen zu ungarischen Schulbüchern ansehen, wird jedoch deut­lich, dass spätestens seit der ersten Orbán-­ Regierung (1998 – 2002) kontinuier­lich eine nationalistische Demagogie in die Schulbücher gelangt ist, die an die kommende Generation weitergegeben werden soll. Nicht unabhängig davon spielen nationale Helden heutzutage eine größere Rolle als noch vor 20 Jahren. Nichtsdestotrotz – die Revolution von 1956 konnten die konservativen Regierungen bisher noch sehr wenig umschreiben. Und auch die sozialliberalen Regierungen waren nicht sehr erfolgreich darin, die Erinnerung an die Revolution von 1956 in ihre sozialistisch-­sozialdemokratische Geschichtspolitik einzugliedern. Insgesamt ist es ein großes Fiasko, dass weder die Historiker noch die politischen Akteure eine Berührung zur Revolution zu finden scheinen, um sie in die kollektive ungarische Erinnerung zu integrieren. Jörg Ganzenmüller Das bedeutet also, dass eine umtriebige staat­liche Geschichtspolitik nicht zwangsläufig zu mehr Wissen über die Vergangenheit führt. Werfen wir einen Blick nach Polen und damit zu Włodzimierz Borodziej. Wie ist die Entwicklung in Polen in den letzten 25 Jahren verlaufen? Wo finden sich in der heutigen politischen Kultur Polens Spuren der Diktaturerfahrung und der bisherigen Auseinandersetzung mit der Diktatur?

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Włodzimierz Borodziej Ich würde das gerne vergleichend anlegen und zugleich auf die Beiträge, die ich gestern und heute gehört habe, eingehen. Zunächst möchte ich auf die Frage eingehen, die gestern in Bezug auf Griechenland aufgekommen ist. Es ging um die Friedrich-­Ebert-­Stiftung, die quasi als älterer Bruder und Mentor der entstehenden legalen sozialdemokratischen Parteien in Spanien, Portugal und Griechenland agierte. Die Frage lautete, ob die Stiftung damals versucht hat, auf ihre ›jüngeren Brüder‹ einzuwirken, um mit der Diktatur abzurechnen oder die diktatorische Vergangenheit aufzuarbeiten. Darüber sei nichts bekannt, lautete die Antwort. Ich würde tatsäch­lich noch weitergehen und behaupten, dass ich mir ­solche Gespräche überhaupt nicht vorstellen kann. Dass also die Deutschen beispielsweise den Griechen 1975 bzw. 1976 nahegelegt haben könnten, mit der Diktatur abzurechnen. Ich denke, diese Sichtweise lag völlig außerhalb des mentalen Horizonts der westdeutschen Eliten – nach den Erfahrungen, die sie im eigenen Land ­zwischen 1945 und etwa 1958 gemacht hatten, wo ja bewusst das ›kommunikative Beschweigen‹ und nicht die Abrechnung mit durchaus öffent­ lich präsenten NS-Funktionsträgern als Strategie zur Festigung der Demokratie gewählt worden war. Und eine zweite Szene, auf die ich in d ­ iesem Zusammenhang verweisen möchte, spielt in Lissabon um 1995. Während eines Abendessens bei einer deutsch-­ portugiesischen Konferenz zum Umgang mit dem Diktaturerbe in beiden Staaten fragten die Deutschen – wohlbemerkt alles ›Wessis‹ – die prominenten portugiesischen Kollegen: Was ist denn eigent­lich mit den Akten der PIDE ? Die Portugiesen schauen erstaunt. Wie kommen die Deutschen auf diese Frage? Ich komme gleich auf diesen Punkt zurück. Ganz allgemein würde ich sagen: Es gibt in keinem der hier verhandelten Länder Korrelationen ­zwischen der Brutalität der Diktatur, der Breite des Widerstands und der Zahl der Opfer. Allerdings weisen die polnische und ungarische Diktaturaufarbeitung gewisse Ähn­lichkeiten mit dem Aufarbeitungsprozess der drei Länder auf, die hier im Mittelpunkt stehen. Diese beziehen sich beispielsweise auf die Handlungen im öffent­lichen Raum, also auf die Umgestaltung der staat­lichen Symbolik in der Öffent­lichkeit, wie das bei der Umbenennung von Denkmälern der Fall war. Aber der grundlegende Unterschied ­zwischen der polnischen, tschechischen oder ostmitteleuropäischen Aufarbeitung und der Auseinandersetzung mit der diktatorischen Vergangenheit in Spanien, Portugal und Griechenland scheint mir darin zu bestehen, dass sich die zentrale Frage in den Nachbarländern Deutschlands auf das bezieht, was wir die ›Stasiakten‹ nennen. Und ich nehme an, dass es kein Zufall ist, dass ich d­ ieses Motiv in den gestrigen und heutigen Darstellungen nicht wiedergefunden habe. Sicher­lich werden ehemalige staat­liche Gefängnisse in diesen Ländern musealisiert,

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aber die Frage nach den Akten der politischen Polizei der drei südeuropäischen Regime war bisher völlig abwesend, wenn ich das richtig sehe. Und an ­diesem Punkt kommen wir auch auf einen zeit­lichen Faktor zu sprechen. Es ergibt nicht nur der synchrone Vergleich z­ wischen der Aufarbeitung diktatorischer Vergangenheiten in Ostmitteleuropa und Südeuropa Sinn. Ich glaube, man ist sich in Deutschland nicht bewusst, dass das wichtigste Produkt d­ ieses Landes im Bereich von ›Softpower‹ die so genannte Gauck-­Behörde ist. Sie war und ist öst­lich und südöst­lich von Deutschland ein Bezugspunkt für die Prozesse, über die wir sprechen. Ohne die Entstehung dieser Behörde in Deutschland wäre die Aufarbeitung der realsozialistischen Diktaturen in den Nachbarländern völlig anders verlaufen. Ich weiß nicht wie, aber auf jeden Fall anders. Eine weitere Ähn­lichkeit möchte ich am Beispiel Spaniens erläutern. Die Aufarbeitung der Verbrechen der Franco-­ Diktatur in Spanien beginnt mit den Exhumierungen der Opfer. Die Verbrechen der Diktatur werden also dokumentiert. Sie stehen im Mittelpunkt der ersten Jahre des Protestes, es formiert sich eine Bewegung gegen ein angeb­liches oder tatsäch­ liches Verschweigen der Verbrechen. Und dann können wir in Spanien genauso wie in Polen und in Ungarn eine ähn­liche Entwicklung ausmachen. Irgendwann sind diese Verbrechen ›abgearbeitet‹ und nicht mehr so schreck­lich interessant. Es wird nun die Phase des Übergangs thematisiert, weil der Übergang schuld sein soll an der Misere der heutigen Demokratie in Ungarn, Polen und Spanien. Nun geht es längst nicht mehr um die Aufarbeitung oder Auseinandersetzung mit der Diktaturerfahrung. Es geht primär um die Legitimierung heutiger Bewegungen gegen die existierende parlamentarische Demokratie. Jörg Ganzenmüller Diese Fragen würde ich gerne direkt an unsere Experten für die drei südeuropä­ ischen Länder weitergeben. Beginnen wir mit Herrn Nuñez Seixas und in Spanien. Einerseits stellt sich die Frage nach den Akten der Geheimpolizei. Ist das tatsäch­lich kein Thema, und inwieweit bedeutet die Thematisierung der transición eigent­lich eine Delegitimierung der heutigen spanischen Demokratie? Xosé M. Núñez Seixas Auch ich würde sagen, dass das spanische Beispiel sowohl einige Parallelen zur osteuropäischen Diktaturerfahrung aufweist als auch wesent­liche Unterschiede. In Spanien existiert im Moment keine große rechtsradikale Bewegung. Diejenigen, die heute den Übergang zur Demokratie oder die Art und Weise, wie die spanische Transition vollzogen wurde, in Frage stellen, streben keine Delegitimierung der Demokratie an. Hier ist, denke ich, ein Unterschied zur osteuropäischen Entwicklung zu sehen. Ganz im Gegenteil, sie streben eine andere, radikalere Form der

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Demokratie an. Eigent­lich wird viel eher das alte Dilemma der antifranquistischen Opposition bis 1975/76, Monarchie versus Republik, wiederbelebt. Natür­lich stellen zum Beispiel die ›Podemos‹-Partei und andere linkspopulistische, linksradikale oder linke Intellektuelle gelegent­lich die transición in Frage und präsentieren die Wiederherstellung der 1939 besiegten Republik oder eine neue Republik als alternative Lösung zu allen Defiziten der spanischen Demokratie. Allerdings schreiben sie dann dem Vermächtnis der spanischen Republik der 1930er Jahre eine ganz andere Bedeutung zu. Denn sie identifizieren diese Republik mit einer linksorientierten bzw. linksradikalen Republik, auch mit einer Bundesrepublik und/oder sogar mit einem multinationalen Bundesstaat, der mit der alten Vorstellung der Nostalgiker der Zweiten Republik während des Übergangs zur Demokratie eigent­lich ganz wenig zu tun hat. Es werden zwar alte Konzepte bzw. Termini wiederbelebt, trotzdem hat sich die Bedeutung, die solchen Konzepten zugeschrieben wird, radikal geändert. Jörg Ganzenmüller Das bringt uns direkt zum Vergleich mit der Situation in Portugal. Frau Pinheiro, wie ist es hier? Inwieweit haben die Diktatur Salazars, aber auch die Nelken­ revolution die politische Kultur Portugals in den letzten Jahrzehnten geprägt und prägen sie noch bis heute? Teresa Pinheiro Wenn Sie erlauben, möchte ich zunächst auf die gestellte Frage von Herrn ­Borodziej eingehen, also die Frage nach den PIDE-Akten und der Aufarbeitung des Übergangs. Die Akten der PIDE sind heute offen. In Portugal ist ein vorbild­licher Prozess der Aktenöffnung vollzogen worden. Jeder darf die Akten einsehen. Nach einer Karenzzeit von 20 Jahren, die üb­lich ist und in den Zeitraum fiel, als Herr Borodziej Portugal besucht hat, wurden die Akten 1994 dem breiten Publikum zugäng­lich gemacht. Der Prozess läuft sehr gut und anhand der Akten wird sehr viel geforscht. Es gibt sogar eine Studie auf Deutsch von Andrea Fleschenberg zur Aktenöffnung der DDR- und der PIDE-Akten von 2004. Die Literatur zur PIDE, die sich auch auf die PIDE-Akten bezieht, füllt mittlerweile ganze Biblio­ theken. Es überrascht mich, dass Herr Borodziej 1994 in Portugal war und feststellte, dass die Portugiesen nicht wussten, was die PIDE -Akten sind. Zumal es durch die Öffnung der PIDE-Akten in den 1990er Jahren zu einer erneuten Zuwendung zur Vergangenheit kam. Die Frage nach der Aufarbeitung des Übergangs finde ich für den portugie­ sischen Fall sehr interessant. Ich würde noch einmal bekräftigen, was Herr Núñez Seixas gesagt hat. Den Vergleich zu Spanien muss man sowohl in Bezug auf Ost­ mittel­europa als auch Portugal betreffend sehr vorsichtig ziehen. Denn die transición

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in Spanien war eine transición der Kontinuität. Das bedeutet: Kritisiert man heutzutage die transición, so ist man nicht revisionistisch, sondern man klagt die politische Kontinuität an. Es gibt noch immer einen König, der von Franco ernannt wurde. Wir haben in Spanien also noch immer eine Institution, näm­lich die Monar­chie, die ein Erbe der Franco-­Diktatur ist. Es gibt viele Menschen in Spanien, die zwar keine Republikaner sind, aber dennoch zumindest ein Referendum zur Staatsform einfordern. Nur so könne eine wirk­lich vollzogene transición erreicht werden, so deren Argumentation. Die portugiesische Transition wird heutzutage ebenfalls kritisiert. Thematisch ist diese Kritik aber sehr breit und man muss da sehr stark differenzieren. Wenn man heute die portugiesische Transition kritisiert, dann ist man revisionistisch. Es gibt einen revisionistischen Diskurs, der besagt, dass Portugal auch ohne die Revolution den Weg in die Demokratie eingeschlagen hätte. Sie erinnern sich: Salazar wird arbeitsunfähig ab 1968, stirbt dann zwei Jahre später. Dann haben wir die Zeit des zweiten Diktators, sein Nachfolger Marcelo Caetano, der eine gewisse politische Öffnung angestrebt hat, die aber nicht wirk­lich von Erfolg gekrönt war. Der Revisionismus von rechts geht dahin zu argumentieren, dass die Transition eigent­lich bereits mit Marcelo Caetano angefangen hat. Dieser Sichtweise zufolge hätte es nicht der Militärs aus Afrika bedurft, um die Demokratie nach Portugal zu bringen, die dann sowieso über das Ziel hinausgeschossen sei und den Weg in Richtung einer Diktatur des Proletariats anstrebe. Diese Argumentation existiert, obwohl es keine freien Wahlen gab, die Zensur aufrechterhalten wurde und die PIDE nach wie vor bis 1974 existierte. Ich will hier keinen Gegendiskurs aufmachen, es geht mir nur darum zu beschreiben, dass dieser Revisionismus existiert. Das ist also eine Kritik an der portugiesischen Transition. Gleichzeitig gibt es aber auch eine kritische Haltung – wenn man das so nennen mag –, die nicht unbedingt von rechts kommt. Dabei geht es um die Wiedererlangung des historischen Wissens über den Prozess der Transition. Die Transition sei nicht nur der 25. April, der in die Demokratie mündete, so der neue kritische Diskurs. Es war ein langer Prozess. Und dieser Prozess hätte das Land auch in eine andere Richtung lenken können. Bei der portugiesischen Transition zur Demokratie handle es sich um einen langen Kampf der gemäßigten parteipluralistischen politischen Kräfte, um das Land in die Demokratie zu lenken, die wir heutzutage haben. In ­diesem Sinne haben wir es hierbei mit einer Wiederzuwendung hin zur Transition zu tun, die nicht wirk­lich an politischen Richtungen festzumachen ist. Hierbei geht es in erster Linie um die Erkenntnis, was hätte anders kommen können. Und um auf Ihre Frage nach dem Kolonialismus und dem Kolonialkrieg zurückzukommen: Diese Diskussion ist Teil der Infragestellung des Transitionsprozesses. Wie sah die Dekolonisierung aus? Im portugiesischen Fall handelte sich um eine sehr schnelle Dekolonisierung, sozusagen eine bedingungslose Dekolonisierung,

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die innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen war. Bereits im November 1975 gab es keine portugiesischen Kolonien mehr. Darüber wird heutzutage erneut sehr viel gesprochen, nachdem konsensual sehr lange darüber geschwiegen wurde. Wie ist die Dekolonisierung abgelaufen? Inwiefern ist Portugal verantwort­lich für die Bürgerkriege, die sich fast nahtlos an die Kolonialkriege in Angola und Mosambik angeschlossen haben? Außerdem stehen die Dekolonisierten im Mittel­punkt, also die portugiesischen Retornados, diejenigen, die in den Kolonien waren und nach Portugal zurückgekehrt sind bzw. zurückkehren und sich dann ein neues Leben aufbauen mussten. Sie wurden im stark links geprägten Portugal als Kolonialisten feind­lich aufgenommen. Heute rücken diese Menschen mit ihren persön­ lichen Schicksalen wieder in die Öffent­lichkeit und sowohl von links als auch von rechts wird danach gefragt, wie es war, in ­diesem feind­lichen Kontext ein Leben neu aufzubauen. Xosé M. Núñez Seixas Ganz kurz, das ist auch die Erfahrung betreffend der Akten des spanischen Innenministeriums bzw. der spanischen politischen Polizei und der Kriminalpolizei. Ein wichtiger Unterschied ­zwischen einer Transition und einer Revolution besteht auch darin, dass die Personen, die an der Macht sind, genug Zeit haben, um viele Akten zu vernichten. Zudem stellt sich die Frage der Geheimdienstakten in Spanien kaum, denn die spanische Geheimpolizei bzw. die politische Polizei war in Spanien nicht so mächtig und nicht so allumfassend wie in anderen Ländern. Jörg Ganzenmüller Werfen wir noch den Blick nach Griechenland, wo die Diktatur vergleichsweise kurz war. Wie tief sind die Spuren, die sie in der griechischen Gesellschaft hinterlassen hat bzw. war die Gesellschaft oder waren gesellschaft­liche Gruppen Träger dieser Diktatur jenseits der Obristen? Adamantios Theodor Skordos Vielleicht beginne ich auch mit dieser sehr interessanten Frage zu den Akten, die in Bezug auf den griechischen Fall extrem spannend ist und sich kurz erzählen lässt. Die Akten der griechischen Geheimpolizei gibt es nicht mehr, da sie 1989 verbrannt wurden. Diese Entscheidung wurde von der ersten rechts-­linken Koalitionsregierung nach dem Bürgerkrieg getroffen. Dabei handelte es sich um eine Übergangsregierung zur Aufarbeitung der Skandale der PASOK -Sozialisten, die von 1981 bis 1989 an der Regierung waren. Die besagte Übergangsregierung bestand aus der ›Neuen Demokratie‹ – also den Rechtskonservativen – und aus der vereinigten Linken, die sich wiederum aus den Eurokommunisten und den

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vormals moskautreuen Kommunisten zusammensetzte. Damals einigten sich die politischen Nachfolger der beiden Bürgerkriegslager, alle Akten zur ›politischen Gesinnung‹ seit der Bürgerkriegszeit inklusive der Zeit der Militärdiktatur zu verbrennen – ein wahrhaft tragischer Moment für jeden Historiker und die griechische Zeitgeschichte insgesamt. Sowohl vor der Militärdiktatur als auch währenddessen hatte man diese Akten verwendet, um Bürger, die als linksorientiert galten, politisch, sozial und ökonomisch zu diskriminieren. Der Vorschlag der Aktenvernichtung kam interessanterweise von der rechtskonservativen Seite als eine Geste der Versöhnung und der Überwindung der Gegensätze gegenüber dem linken Lager der Bürgerkriegsverlierer. Die Führung der damaligen Linken wurde regelrecht über den Tisch gezogen, da sie zugestimmt hat, die eindeutigen Beweise der politischen Unterdrückung zu vernichten. Als Folge dieser Entwicklung tun sich Zeithistoriker extrem schwer, die so genannte kränkelnde Demokratie der Nachkriegszeit zu erforschen und zu dokumentieren. So gibt es fast keine Quellen, um zum Beispiel die Tätigkeit der rechten parastaat­lichen Organisationen, die in Städten und Dörfern ›politisch suspekte‹ Bürger terrorisierten, zu belegen. Die Verbrennungsaktion fand am 31. August 1989 statt. Dabei handelte es sich um einen hochsymbolischen Akt, denn der 31. August stand sehr lange für den Tag des Sieges gegenüber den ›kommunistischen Banditen‹. Man wählte also ­dieses Datum bewusst aus und im ganzen Land wurden auf den Straßen Akten verbrannt. Für die heutige Linke ist das ein sehr schmerzhaftes Thema. Und nun zur Frage von Herrn Ganzenmüller: Ich denke, dass die Militärdiktatur keine tiefen Spuren in der politischen Kultur Griechenlands hinterlassen hat, da das Regime nur sieben Jahre an der Macht war und es in ­diesem Zeitraum geschafft hat, sich mit allen zu überwerfen; das heißt mit dem König, der gegen das Regime erfolglos putschte und dann das Land verlassen musste, mit dem linksorientierten Lager, aber auch mit den Rechtskonservativen. Denn auch sie wurden in den frühen Morgenstunden des 21. April festgenommen und als Teil der ›korrupten‹ politischen Klasse diffamiert. Das führte dazu, dass 1974 eigent­ lich niemand mehr etwas mit den Obristen zu tun haben wollte. Alle gingen auf Distanz. Vielleicht noch ein kurzer wichtiger Hinweis: Die Transition in Griechenland bzw. die Konsolidierung der griechischen Demokratie erreichte ihren Höhepunkt im Jahr 1981, als die PASOK-Sozialisten von Andreas ­Papandreou zum ersten Mal an die Regierung kamen. Bis dahin war der konservative Konstantinos Karamanlis im Amt, der in den 1950er und 1960er Jahren Ministerpräsident Griechenlands war. Heutzutage wird die von Karamanlis geleitete Transition, besonders in ihrer ersten Phase, vonseiten rechtsradikaler Kreise stark hinterfragt, und das vor allem auf Grundlage der heutigen Krise. Die ›Goldene Morgenröte‹, die rechtsradikale Partei Griechenlands, argumentiert beispielsweise, dass

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die Wurzeln des heutigen Übels zu einem großen Teil in dieser Übergangsphase begründet liegen, da man damals – so die Behauptung –, alles, was gut und heilig war, abgeworfen habe. In ihrer Lesart ist das der Antikommunismus, die enge Beziehung zur Orthodoxie und die federführende Rolle des Militärs in der griechischen Innenpolitik. Außerdem habe man während der Übergangsphase die Weichen gestellt, dass die Verlierer des Bürgerkrieges an die Macht kommen, die wiederum für den heutigen nicht nur wirtschaft­lichen, sondern auch politischen und moralischen Verfall in Griechenland hauptverantwort­lich s­ eien. Die Militärdiktatur tritt heute also auf einmal wieder geschichtspolitisch in Erscheinung, vor allem durch die ›Goldene Morgenröte‹, die mittlerweile die drittstärkste politische Kraft in Griechenland ist. Und trotzdem hält sich die Identifikation mit den Köpfen der Militärdiktatur in Grenzen, da jeder in Griechenland weiß, dass die Hauptschuld für die Zyperntragödie – wie in Griechenland die türkische Invasion auf Zypern und die Teilung der Insel genannt wird – bei ­diesem Regime liegt. Und damit will keiner in Griechenland etwas zu tun haben – auch nicht die Rechtsradikalen. Jörg Ganzenmüller Blicken wir erneut nach Ungarn und den dort sehr starken rechtspopulistischen Strömungen. Mit Viktor Orbán sitzt der wohl prominenteste Vertreter einer dieser Strömungen in der Regierung. Rechts davon gibt es mit ›Jobbik‹ noch eine rechtsextreme Partei, die drittstärkste Kraft im Parlament ist. Warum dem so ist, hat sicher­lich viele verschiedene Ursachen, nicht zuletzt s­ oziale und wirtschaft­ liche, die wir hier gar nicht alle auffächern können. Mich würde dennoch interessieren, inwieweit es einen Zusammenhang z­ wischen der Diktaturerfahrung und dem Umgang mit der Diktatur nach 1989 auf der einen Seite und dem Erstarken des Rechtspopulismus in Ungarn auf der anderen Seite gibt. Éva Kovács Das ist eine spannende Frage, aber vielleicht bin ich nicht die geeignete Expertin, um sie korrekt zu beantworten. Zwischen Deutschland und Ungarn sehe ich einen Unterschied im Umgang mit der Diktaturerfahrung darin, dass es in Ungarn keine Nostalgie im Sinne des so genannten Retro-­Movements gibt, sondern eine Art Vergangenheitsorientierung. Es ist etwas seltsam, denn normalerweise sind Gesellschaften zukunftsorientiert und diese Zukunftsvorstellungen erzählen uns, wie wir Geschichte verstehen müssen. In Ungarn gibt es in d­ iesem Sinne allerdings eher eine Vergangenheitsorientierung. Diese besagt, dass die Erfahrungen und Erinnerungen vorherrschen, dass man es damals nicht nur symbolisch, sondern auch materiell besser hatte und dass die älteren Generationen, die noch ihre Rente

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›aus den schönen alten sozialistischen Zeiten‹ beziehen, Häuser und kleines Eigentum haben und inzwischen leitende Oberhäupter einer Familie geworden sind. Wenn man über Populismus soziologisch diskutieren möchte, dann spielt Ideologie – also rechte und linke – keine große Rolle. Der Populismus in Ungarn beruht in erster Linie auf der bereits erwähnten Erfahrung der Enttäuschung über die Demokratisierung nach 1990 und der daraus folgenden Ausgrenzungssucht der Gesellschaft. Das ist sehr wichtig, weil dahinter eine wirkungsmächtige ­soziale Angst steht, dass ohne Ausgrenzung der ethnischen oder sozialen Minderheiten (wie zum Beispiel der Obdachlosen, der Roma usw.) das Alltagsleben nicht mehr bewältigt werden könne. Das ist ein sehr zentraler Punkt, in dem sich Ungarn wahrschein­lich nicht so sehr von den anderen Staaten Mitteleuropas unterscheidet. Statt Protest herrscht in Ungarn die ­soziale Exklusion. Jörg Ganzenmüller Wenn man nach Polen schaut, das ja häufig mit Ungarn verg­lichen wird, so hat man eine ähn­liche Situation mit der ›PiS‹, also der Partei ›Recht und Gerechtigkeit‹. Sie stellt seit 2015 den Präsidenten und die Regierungschefin und liegt seitdem im Streit mit dem polnischen Verfassungsgericht. Auch hier gibt es natür­lich zahlreiche Ursachen für den Wahlsieg der ›PiS‹, nicht zuletzt, da sie ja bereits zum zweiten Mal an der Regierung ist. Trotzdem ist auch hier meine Frage: Ähn­lich wie Viktor Orbán haben ja auch in Polen viele politische Akteure eine Vergangenheit in der Diktatur, und zwar in erster Linie in der Solidarność. Inwieweit gibt es einen Zusammenhang ­zwischen einem starken europakritischen Rechtspopulismus, den Erfahrungen mit der kommunistischen Diktatur und der Aufarbeitung in den Jahren danach? Włodzimierz Borodziej Eigent­lich sehe ich hier keinen direkten Zusammenhang. Ich würde gerne noch einmal auf den polnisch-­spanischen Vergleich zurückkommen. Wenn ich Sie – Herrn Nuñez Seixas – richtig verstanden habe, kommt das Postulat einer neuen Form der Demokratie in Spanien von links. Die polnische Rechte wiederum sagt eigent­lich auch nichts anderes, als dass sie eine neue Form von Demokratie will. Ich denke, diese Parallele sollte nachdenk­lich machen. Man könnte sagen, es liegt eine gewisse Logik in dieser Kritik der Übergangsphase, und das heißt nicht zuletzt der heutigen Demokratie: Weil in Spanien die Diktatur rechts war, kommt jetzt der Protest von links. Weil sie in Polen theoretisch – sehr theoretisch übrigens – links war, kommt in Polen der Protest nun von rechts. Aber ich glaube nicht, dass das wirk­lich der wichtige Punkt ist. Die Kritik an der Übergangsphase ist ein ganz wichtiger Bestandteil der so genannten Geschichtspolitik der ›PiS‹. Dabei steht

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der Übergang im Vordergrund, weil er das Prinzip des Kompromisses, des erfolgreichen Kompromisses dokumentiert und legitimiert. Die Geschichtspolitik der ›PiS‹ richtet sich gegen die 1989 entstandenen Eliten, die sie aus der heutigen polnischen Politik entfernen will, weil sie bis heute ­dieses Prinzip verkörpern. Insofern würde ich sagen, dass sich die Rolle der Geschichte in der heutigen politischen Auseinandersetzung sehr reduziert hat, auf die Rolle eines Instrumentes, das im Kreuzzug für die illiberale Demokratie dien­lich scheint. Und an dieser Stelle kommen wir zu den Protestbewegungen, die Éva Kovács bereits angesprochen hat. Meiner Überzeugung nach haben diese Protestbewegungen mit der Aufarbeitung des Staatssozialismus fast nichts zu tun. Vielmehr handelt es sich um eine Protestbewegung gegen die Welt, in der wir nach 2008 leben, mit einem deregulierten Arbeits- und Finanzmarkt. Es ist ein Protest gegen Ungerechtigkeit, der zwangsläufig antielitenhaft sein muss. Aber das wichtigste Angriffsziel der Proteste sind die Politiker. Den Politikern, die aus der polnischen Transitionszeit kommen, wird unter anderem vorgeworfen, korrupt zu sein. Allerdings spielt dieser Vorwurf, glaube ich, eine geringere Rolle als in Spanien. Vielmehr werden sie als inkompetent dargestellt, und es herrscht die Überzeugung vor, dass man sie nicht haftbar machen kann für ihre Fehler, die sie selbstverständ­lich begangen haben. Ein Genie, dass in den 1990er Jahren – in der Übergangsphase zu Demokratie und Marktwirtschaft, als es ja keine Vorbilder oder Orientierungspunkte gegeben hat – alles vorausgesehen und gewusst hätte, wie man es richtig macht, war bekannt­lich nirgendwo vorhanden. Das scheint mir übrigens ein Punkt zu sein, der alle Protestbewegungen, die eine neue Form der Demokratie fordern, insgesamt miteinander verbindet. Und noch einmal zum generationellen Aspekt. Herr Núñez Seixas, Sie sprachen ja zu Recht von der Generation der Enkel, die in Spanien der Erinnerungsbewegung ihr Gesicht gegeben hat. In Polen stellen die Enkel der Opfer des Staatssozialismus in der heutigen Politik keinen nennenswerten Faktor dar. Als Lobby und sichtbare gesellschaft­liche Bewegung gibt es sie einfach nicht. Was wir über das Geschichtswissen der heutigen polnischen Jugend – insbesondere zur Periode des Staats­sozialismus – wissen, ist, dass ­dieses Wissen gegen null tendiert. Insgesamt würde ich sagen, dass die Rolle der Geschichte in diesen massiven Angriffen auf die liberale Demokratie rein instrumentell und nachrangig ist. Jörg Ganzenmüller Der Vergleich zu Spanien ist ja bereits angesprochen worden. Auch hier hat man es mit einer sozialen Protestbewegung zu tun und mit dem Wunsch, die Demokratie so weit zu erneuern, dass eine andere, eine neue Demokratie entsteht. Hier kommt der Vorstoß allerdings von der politischen Linken. Warum kommt dieser Protest in Spanien von links und nicht wie in Ungarn oder Polen von rechts?

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Xosé M. Núñez Seixas Ich würde gerne auf Ihre Frage mit einer Gegenfrage antworten: Warum sollten die rechtsgerichteten Parteien die heutige spanische Demokratie in Frage stellen? Die Mehrheit der Wähler und Vertreter der heutigen konservativen Partei (Volkspartei, ›Partido Popular‹) gehört ja nicht zu den Verlierern der heutigen Wirtschaftskrise. Deswegen sehen sie auch keinen wesent­lichen Grund, das demokratische System in Frage zu stellen. Ich stimme den Ausführungen von Herrn Borodziej zu, denn natür­ lich gibt es verschiedene Gründe für die Infragestellung des heutigen demokratischen Systems. In Spanien handelt es sich dabei um eine Form des sozialen Protestes gegen die ­soziale Ungerechtigkeit und gegen die Perspektivlosigkeit der jüngeren Generationen, die die Sparpolitik, die seit 2010/11 durch die Madrider Regierungen umgesetzt wurde und die von der EU gefordert wurde, ablehnen. Außerdem lässt sich auch ein Protest gegen die Eliten ausmachen. Die spanischen Eliten gelten – ähn­lich wie in Polen – ebenfalls als korrupt. Die Korruption, und die Reaktion auf die verschiedenen Korruptionsskandale, die von der Presse enthüllt wurden, spielt in den letzten Jahren eine enorme Rolle in der spanischen Politik; nicht zuletzt deswegen, da die Spanier vor zwei, drei Jahren der festen Überzeugung anhingen, ihr Land wäre im Vergleich zu Italien überhaupt nicht korrupt. Die spanische öffent­liche Meinung ist den Italienern in dieser Frage immer mit einer gewissen Arroganz begegnet. Doch nun haben auch die Spanier feststellen müssen, dass nicht nur einzelne Bürgermeister oder Ratsherren, ja selbst der König, die höheren Institutionen und die hohen Eliten ebenso korrupt waren wie andere. Und trotzdem stellt sich die Frage, warum sich der Protest in Spanien im Bereich der Linken und nicht der Rechten artikuliert. Ich denke, solange die Rechten an der Regierung sind, brauchen sie keinen Protest auszusprechen. Würden sie allerdings in ihrer Regierungsverantwortung abgelöst, würden wir sicher­lich eine neue Welle des politischen Protestes erleben, wahrschein­lich einen radikalen Revisionismus gegenüber dem System, das durch die Verfassung von 1978 umgesetzt wurde. Dieser Protest würde wiederum andere Aspekte thematisieren, zum Beispiel die Reichweite der territorialen Dezentralisierung, den mangelnden spanischen Patriotismus, die vermeint­lich zu großen Zugeständnisse an die Europäische Union usw. Schließen möchte ich mit dem Verweis darauf, dass auch die linksorientierte Protestbewegung Th ­ emen in den Vordergrund bringt, die zuvor bereits sowohl von den Rechten als auch von den Linken artikuliert wurden. Die Anführer von ›Podemos‹ beziehen sich beispielsweise auf das Vaterland – Patria. Der Begriff bezieht sich auf die spanische Souveränität, die in einer sehr widersprüch­lichen Weise mit dem Selbstbestimmungsrecht der Nationalitäten in Spanien kombiniert wird. Frei nach dem Motto: Die Rechtskonservativen sagen, sie ­seien Patrioten, obwohl sie das ›Diktat von Brüssel‹ akzeptieren. Ich denke, an ­diesem Punkt werden gewisse Ähn­lichkeiten mit Osteuropa deut­lich.

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Jörg Ganzenmüller Portugal hat auch s­ oziale und wirtschaft­liche Probleme. Dort scheint das politische System aber vergleichsweise stabil zu sein. Wie erklärt sich das, Frau Pinheiro? Teresa Pinheiro Portugal scheint tatsäch­lich eine Ausnahme in d­ iesem Vergleich zu sein. Es gibt in Portugal eigent­lich keine populistischen Bewegungen, egal ob man den engen Begriff anwendet oder ein breiteres Verständnis zugrunde legt. Die populistische Bewegung in Portugal besteht höchstens aus ein paar Hundert Menschen, es handelt sich also um eine marginale Gruppe. Es gibt keine Bewegung, die mit ›Podemos‹ vergleichbar wäre, ­dieses Phänomen tritt in Portugal nicht auf. Ich denke, das liegt daran, dass ­solche populistischen Bewegungen durch ein Vakuum der repräsentativen Politik entstehen, wie beispielsweise der Fall AfD oder Pegida beweist. Das ist in Portugal anders. Die linken Protestbewegungen finden vielmehr ein Sprachrohr in der repräsentativen Politik, etwa im Linksblock: den ›Bloco de Esquerda‹, der marxistisch-­leninistische, maoistische und trotzkistische Parteien vereint, die auch im Umfeld der Nelkenrevolution – also der revolutionären Zeit – entstanden sind. Auch diese Parteien kann man wählen, und sie besitzen ein sehr stark linksorientiertes Programm. Sie fordern zum Beispiel den Austritt aus der NATO , allerdings keineswegs den Austritt aus der Europäischen Union, da sie sehr realpolitisch orientiert sind. Gerade deswegen sind sie ja ein Sprachrohr für den unzufriedenen Teil der Gesellschaft. Insofern sind sie also nicht für den Austritt aus der Europäischen Union, sondern eher kritisch und reformorientiert. Außer dem Linksblock existiert auch die CDU , die links von der Sozialistischen Partei anzusiedeln ist. Die portugiesische CDU ist eine Koalition aus linken Parteien, allen voran der kommunistischen Partei und der Grünen. Was ich sagen will, ist, dass es in Portugal sehr viele Parteien gibt, die ein Segment der portugiesischen Gesellschaft repräsentieren, das vielleicht in Spanien ›Podemos‹ wählen würde. Ich denke, das ist der Hauptgrund, warum populistische Bewegungen in Portugal so gut wie keinen Zulauf haben. Ein weiterer Grund liegt meines Erachtens darin, dass die Unzufriedenheit in Portugal hauptsäch­lich durch die Krise herrührt, während sie in Spanien auch im Transitionsprozess begründet liegt. In Portugal gab es anders als in Spanien eine viel stärkere Akzeptanz der Austeritätspolitik der konservativen Partei. Sie brauchen sich nur die Wahlen anzuschauen. Die konservative Partei war die Partei, die während der Krise die Regierungsverantwortung übertragen bekam. Portugal hatte gerade den Rettungsschirm beantragt und dann übernahmen die Konservativen von den Sozialisten die Regierungsgeschäfte. Die Finanzkrise hat die portugiesische Gesellschaft tief getroffen, das war ein regelrechter

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›Aderlass‹, der viele Menschen noch tiefer in die Armut trieb. Es kam zu Lohneinbußen, und ich spreche nicht von Lohnstagnation, sondern von Kürzungen. Und dennoch gewann die konservative Partei erneut die Wahlen 2015. Zwar verlor sie einige Prozentpunkte von 38 Prozent auf 32 Prozent, aber sie wurde stärkste Partei. Insgesamt gibt es in Portugal eine große Akzeptanz für den Regierungskurs und es herrscht die Ansicht: ›Wir haben uns die Krise selbst zuzuschreiben, da wir lange Zeit über unsere Mög­lichkeiten gelebt haben‹. So ist der Diskurs der Konservativen, der aus sehr komplexen Gründen – die ich hier nur anreißen konnte – von der portugiesischen Bevölkerung weitgehend, oder zumindest eher als in Spanien oder Griechenland, akzeptiert wurde. Jetzt kommt natür­lich die Frage, warum dann der jetzige Premierminister Portugals, António Costa, ein Linker ist. Das liegt daran, dass die Konservativen mit der Bildung einer Regierung beauftragt wurden, aber ihr Programm im Parlament abgelehnt wurde und somit die Sozialisten – und das tun sie bis heute – in einer Minderheitsregierung regieren konnten. Das bedeutet, im Grunde bekennt sich die Bevölkerung zur Austeritätspolitik, und Portugal wurde noch vor der Wahl vom Rettungsschirm befreit. Eben das war ein wichtiges ­­Zeichen dahingehend, dass sich die Politik in den Augen der Bevölkerung ›gelohnt‹ hatte, denn Portugal konnte seine Souveränität wiedererlangen. Der Rettungsschirm bedeutete eine Verletzung des Nationalstolzes. Jahrelang musste Portugal gegenüber der Troika Bericht erstatten, so dass die Troika zu einem Hasssymbol avancierte, allerdings nicht die EU . In Portugal hat man differenziert ­zwischen der Troika und der Europäischen Union. Und deswegen war diese Befreiung aus dem Rettungsschirm eine Politik, die der konservativen Regierung zugeschrieben wurde. Gleichzeitig bedeutete die Befreiung auch ein Signal, eine andere Politik fortzusetzen und zu dem Standard zurückzukehren, den die Bevölkerung vor der Finanzkrise hatte. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass sich die wenigen Protestwähler im Bereich der repräsentativen Politik in Portugal wiederfinden und nicht in populistischen Bewegungen. Jörg Ganzenmüller Bevor wir die Diskussion ins Publikum öffnen, hätte ich noch eine letzte Frage an Herrn Skordos im Hinblick auf Griechenland. Hier haben wir ja mit ›Syriza‹ eine Bewegung, die gemeinhin als linkspopulistisch bezeichnet wird; eine Gruppierung, die EU -kritisch, aber europafreund­lich ist, wenn man das so sagen kann. Nun ist ›Syriza‹ allerdings bereits so lange in der Regierung, dass sich die Frage stellt: Kann man ›Syriza‹ überhaupt noch als linkspopulistisch bezeichnen, oder wie würden Sie die heutige Situation in Griechenland einschätzen?

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Adamantios Theodor Skordos Meiner Meinung nach kann man sie als linkspopulistisch bezeichnen, weil sie in einer Tradition mit allen anderen griechischen Parteien steht, die seit 1975 an der Regierung waren. Sie alle waren etwas mehr oder etwas weniger populistisch ausgerichtet. Natür­lich könnte jetzt die Frage gestellt werden, was genau man unter ›populistisch‹ versteht. Tatsache ist, dass alle Parteien in Griechenland Versprechen gemacht haben, bei denen sie von vorneherein wussten, dass sie sie nicht einhalten können. Sie alle haben sich gegenseitig überboten an Versprechungen, vor allem an mög­lichen Sozialgeschenken. Ich würde sagen, dass ›Syriza‹ in der Tat als eine linkspopulistische Partei einzustufen ist, da sie zu sehr komplexen und schwierigen Problemlagen simple Lösungen vorschlug und vermeint­lich schnell zu erzielende Ergebnisse versprach. Bemerkenswerterweise regiert sie gemeinsam mit der rechtspopulistischen Partei der ›Unabhängigen Griechen‹, die die Wirtschaftskrise in Griechenland als eine Verschwörung finsterer Mächte im Ausland und Verräter im Inland interpretiert. Beide haben eine Koalition geschlossen, die selbst für die meisten Anhänger der ›Syriza‹-Partei unverständ­lich und unbegründet ist, da man auch mit anderen Parteien eine Koalition hätte abschließen können. Wenn man jetzt eine Erklärung dafür sucht, warum in Griechenland im Moment eine linkspopulistische Partei so erfolgreich ist, dann sollte man die Tatsache in Erwägung ziehen, dass es im Rückblick von 1975 bis heute in Griechenland eindeutig eine linke oder linksliberale politische Mehrheit gibt – auch aufgrund der Militärdiktatur. Selbst als die konservative ›Neue Demokratie‹ z­ wischen 2004 bis 2009 an der Regierung war, musste sie ideologisch, politisch und argumentativ in die Mitte rücken, um es zu schaffen, an die Regierung zu kommen. Für mich ist diese Regierungszeit von 2004 bis 2009 eigent­lich eine Regierungszeit, die, was Populismus und Korruption betrifft, an die Zeit der PASOK-Sozialisten direkt anschließt. Insgesamt geht es in der griechischen Politik seit Ausbruch der Krise darum, dass man den Hauptfeind im Neoliberalismus ausgemacht hat, und das bedeutet, dass eine linksorientierte Partei eindeutig leichter mit d­ iesem Argumentationsthema operieren oder sich darin wiederfinden kann als eine rechtsliberale Partei wie die ›Neue Demokratie‹, zumindest noch vor den Wahlen von 2015. Die Mehrheit der griechischen Bevölkerung will ja in ihr Leben vor 2010 zurück und will keine weitere neoliberale Verschärfung, die mittlerweile in Griechenland, würde ich sagen, auch überhaupt nichts mehr bringt. Das Land ist kaputtgespart und teils auch kaputtreformiert. In der Eurozone hat man nicht erkannt, dass – und da würde ich sagen, hat ›Syriza‹ überhaupt nicht so Unrecht – gewisse Reformen mehr Zeit brauchen, um umgesetzt zu werden und Wirkung zu zeigen als ein oder zwei Jahre. Man wurde schnell sehr ungeduldig mit Griechenland, was auch dazu geführt hat, dass auch deshalb die Bevölkerung der Meinung war, dass

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die Reformen überhaupt nichts bringen. Aus ­diesem Grund wollte die Mehrheit eine Partei, die ihnen versprach, dass alles so wird, wie es früher war. Und das hat ›Syriza‹ getan, weshalb ich sagen würde, dass es sich bei ›Syriza‹ um eine hundertprozentig populistische Partei handelt. Jörg Ganzenmüller Wir möchten jetzt dem Publikum die Mög­lichkeit geben, Fragen an das Podium zu stellen, und wir sammeln gleich ein paar Wortmeldungen. Ein Gast Es heißt im Titel: ›Europa – eine verlorene Hoffnung?‹. Was ist oder was waren die Hoffnungen nach Kriegen, nach Diktaturen? Kann man sagen, dass es Teil der Hoffnung war, Nationalismen zu überwinden und sich auf gewisse Mindeststandards oder, genauer gesagt, auf Menschenrechte und Grundrechte zu besinnen? Wie steht es heute mit Europa? Man braucht Institutionen zur Sicherung dieser Hoffnung, Strukturen, Gerichtshöfe, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zum Beispiel. Doch die Entwicklungen zeigen, dass gegen diese Strukturen verstoßen wird, wenn sich jetzt beispielsweise in Ungarn Tendenzen zur Einschränkung der Medienfreiheit entwickeln. Wie können wir ­dieses Europa mit dieser Gestalt gewordenen Hoffnung wieder sichern? Antonio Muñoz Sánchez Ich habe eine Bemerkung und eine Frage. Mein Kommentar bezieht sich auf die Friedrich-­Ebert-­Stiftung und die Vergangenheitsbewältigung in Spanien. 1986, 50 Jahre nach dem Spanischen Bürgerkrieg, hat die Friedrich-­Ebert-­Stiftung der sozialistischen spanischen Regierung vorgeschlagen, bei einer großen Ausstellung in Spanien über den spanischen Bürgerkrieg mitzuwirken. Die sozialistische Regierung hat damals kein Interesse gezeigt. Sie sagte sinngemäß, dass es nicht der passende Moment wäre, sich einer solchen Ausstellung zu widmen. Vor ein paar Jahren hat sich Felipe González 1 zu d­ iesem Thema geäußert, nicht über die Details der Gespräche mit der Friedrich-­Ebert-­Stiftung, sondern im Allgemeinen dazu, dass er sich nicht um die Erinnerungskultur gekümmert habe. Heute bereue er das, sagte Gonzáles. Frau Kovács hat sehr schön dargestellt, wie schwer es der ungarischen Regierung fällt, die Oppositionellen in der Diktatur zu würdigen, die nicht in ihr Schema passen. Und das bringt mich zu meiner Frage nach dem

1 Felipe González war von 1974 bis 1997 Generalsekretär der Spanischen Sozialistischen Arbeiter­ partei (PSOE) und war von 1982 bis Mitte 1996 Ministerpräsident von Spanien.

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spanischen und dem portugiesischen Fall. Die Parteien, die in Spanien und Portugal nach dem Übergang zur Demokratie regiert haben, gehörten in der Zeit der Diktaturen entweder zu marginalen Gruppen oder existierten nicht mehr. Kann es sein, dass diese Parteien es versäumt haben, sich um die Erinnerung und die Würdigung der oppositionellen Gruppen in der Diktatur zu kümmern? Gerade im Hinblick darauf, dass die Oppositionsbewegungen in Spanien und Portugal fast ausschließ­lich aus Kommunisten bestanden und es in den 1980ern und 1990er Jahren in Spanien und Portugal unbeliebt war, Kommunisten zu würdigen? Janis Nalbadidacis Ich habe eine Frage an die Referenten und zugleich noch eine hoffnungsfrohe Ergänzung. Mir scheint einer der wichtigen Unterschiede darin zu liegen, dass sich die Diktaturüberwindung in Abhängigkeit davon entwickelt, ob sich eine Gesellschaft in ihrer Mehrheit als eine unterdrückte Gesellschaft imaginieren kann. Auf dieser Grundlage basiert auch meine Frage, näm­lich: Inwieweit unterscheidet sich die Diktaturüberwindung demzufolge in den einzelnen Ländern? Damit ist also vor allem der gesellschaft­liche Rückhalt gemeint, den die Diktaturen genossen haben, und anknüpfend daran in Bezug auf die Diktaturüberwindung, der Umgang mit dem Bewusstsein eines gesellschaft­lichen Rückhalts, der den Umgang mit der jeweiligen Diktaturerfahrung unterschied­lich gestalten lässt. Meine hoffnungsfrohe Anmerkung bezieht sich auf Griechenland, die vielleicht noch einmal aufzeigt, wie diffus die Lage in Bezug auf die Geheimdienstakten ist. Tatsäch­lich ist vor wenigen Tagen eine für Zeithistoriker frohe Botschaft verkündet worden, näm­lich dass 2.000 Akten des Innenministeriums, ich glaube, irgendwann im nächsten Sommer, für die Forschung bereitgestellt werden sollen. Es scheinen also wohl doch noch Akten aufgefunden worden zu sein, die nun zugäng­lich gemacht werden sollen. Alexander Thumfart, Universität Erfurt Ich möchte noch einmal erinnern oder anschließen an die Bemerkung von Herrn Ganzenmüller am Anfang, als er sagte: »Gibt es einen Zusammenhang ­zwischen Demokratieskepsis und der positiven Erinnerung an die Diktaturen davor?« Könnte es uns mit Blick auf die Gegenwart helfen, wenn wir z­ wischen Souveränität und Staatsform trennen und wenn wir sagen, dass rechtspopulistische Bewegungen als oberstes Ziel die Souveränität im Blick haben und es ihnen zunächst gleichgültig ist, in welcher Staatsform diese Souveränität erneut errungen werden soll? Zur Mobilisierung wird die Vergangenheit von rechtspopulistischen Unternehmen – denn im Grunde sind es ja Bewegungsunternehmen – in ihrem Sinne instrumentalisiert, um zur Souveränität zu gelangen. Auch wenn das impliziert,

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dass man sich an die diktatorische Vergangenheit positiv erinnert. Also geht es eher um die Instru­mentalisierung einer Erinnerung für die Rückgewinnung einer Souveränität unter welcher Staatsform auch immer? Raphael Utz, Imre Kertész Kolleg Jena Ich würde gerne die Trennung in Rechts- und Linkspopulismus grundsätz­lich in Frage stellen wollen und damit an das anknüpfen, was Włodzimierz Borodziej argumentiert hat. Abseits der Frage nach Souveränität oder Staatsform: Liegt das eigent­liche Problem von dem, was wir in den letzten Jahren unter ganz unterschied­ lichen politischen Vorzeichen erleben, nicht in einer Rückkehr der Kategorie des ethnischen Nationalismus in den politischen Mainstream? Ist nicht dieser ethnische Nationalismus die Grundlage für verschiedenste Forderungen und der Kritik an der repräsentativen Demokratie, sowohl von links als auch von rechts? Nur ein winziger Verweis, bevor ich zu einem zweiten Punkt komme: Die Frage des Nationalismus muss ja nun gerade in Spanien ganz besonders diskutiert werden, wenn man sich anschaut, in welcher Art und Weise in Katalonien diese Fragen diskutiert werden. Der zweite Punkt bezieht sich auf die Zwischenkriegszeit und die intellektuelle, ideologische Begründung der Diktaturen. Auffällig scheint mir eine ungeheure intellektuelle Armut der Bewegungen. Letzt­lich ist es immer das Gleiche: Es gibt irgendeine Form von K ­ irche, irgendeine Form von traditioneller Lebensweise, irgendeine Form von Ordnung, die gerne mit Gewalt durchgesetzt wird. Aber zusammengenommen haben wir es in den Diktaturen mit einem intellektuell armen Programm zu tun. In der Zwischenkriegszeit lässt sich d­ ieses Programm wiederum auf Nationalismus, auf einen mal klerikalen Nationalismus oder einen weniger klerikalen Nationalismus reduzieren und eindampfen, der verbunden ist mit einer Kritik an irgendwelchen verunglimpften Eliten, gegen irgendwelche herbeigeredeten, herbeikonstruierten bolschewistischen Bedrohungen der Familie, der ­Kirche usw. Das Entscheidende in d­ iesem Augenblick ist doch, dass wir uns in ganz ähn­lichen strukturellen argumentativen Situationen befinden und dass die Kritik auch von links an der repräsentativen Demokratie mög­licherweise viel gefähr­licher ist im Sinne einer Wende in Rechtsdiktaturen, als wir uns das gerade in aufgeklärter Bürgermanier mit Kritik an der spanischen Transition oder dem Übergang in Polen von links eingestehen wollen. Ein Gast Der Blick auf die Vergangenheit ist ja ein ganz wichtiger Punkt für die Legitimation der gegenwärtigen Demokratien. Wir haben es auf ­diesem Symposium mit einem ganzen Spektrum unterschied­licher Diktaturerfahrungen und unterschied­ lichen Umgangs mit diesen Diktaturerfahrungen zu tun. Im Hinblick auf die

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Fragestellung der gesamten Tagung frage ich mich, inwieweit diese unterschied­ lichen Erfahrungen eine Basis sein können für ein gemeinsames Demokratieverständnis in Europa? Xosé M. Núñez Seixas Ich werde mich auf die Beantwortung nur einer Frage beschränken. Natür­lich betrifft das Thema, was mit Europa geschehen soll, ein sehr weites Feld. Ich glaube, Europa müsste wieder eine Zukunftsvision entwickeln und seine grundlegenden Werte stärker definieren, um dadurch eventuell wieder an Souveränität zu gewinnen. So würde ich mir auch wünschen, dass europäische Demonstrationen entstehen und/oder gefühlvolle starke Symbole gesamteuropäischer Reichweite geschaffen werden. Aber es ist interessant zu sehen, dass obwohl in Südeuropa die Europäische Union oder bestimmte Aspekte der europäischen Politik in Frage gestellt werden, die Briten die Europäische Union verlassen wollen. Eventuell folgen gar die Österreicher und die Holländer. Kurz gefasst, das bedeutet auch, dass es die ›Reichen‹ sind, die den ›Verein‹ verlassen und nicht die ›Armen‹. Das alles hat natür­lich mit der Eurokrise und mit der Übernahme der gemeinsamen Währungsunion zu tun und würde jetzt eine zu große Diskussion aufmachen. Was die Frage von Herrn Muñoz Sánchez angeht, so glaube ich nicht, dass sich die spanischen Sozialisten zu wenig um die Erinnerung an die Opfer der Diktatur gekümmert haben, weil die Mehrheit der Betroffenen nicht der sozialistischen Partei, sondern der kommunistischen Partei angehört haben. Ganz im Gegenteil! Die meisten Opfer der franquistischen Repression in den 1940er Jahren gehörten zur sozialistischen Partei und zur anarchistischen Bewegung und nicht unbedingt (oder nicht nur) zur kommunistischen Partei. In Galicien haben wir beispielsweise vor einigen Jahren (2005 – 2009) erlebt, dass nicht die Sozialisten, sondern die Linksnationalisten eine aktive Vergangenheitsbewältigung betrieben und dann zu dem Entschluss kamen: »Wir haben Vergangenheitsarbeit für die PSOE betrieben und nicht für uns selbst«. Weil natür­lich die meisten Opfer der sozialistischen Partei angehörten. Insofern hat dieser Punkt, auf den Sie anspielen, meiner Meinung nach keine große Rolle gespielt. Die PSOE-Regierung in der Ära González hat allerdings nicht nur in ihrer Forderung nach einer aktiven Bewältigungspolitik zugunsten der Opfer der Franco-­Diktatur versagt, sondern auch darin, ihre eigene Parteigeschichte während der 1940er und 1950er Jahre zu würdigen. Und um auf die Frage zum Thema Populismus und Nationalismus zurückzukommen: Was bedeutet Populismus? Populismus wird oft von den Medien als ­Etikett und auch als Delegitimationsstrategie verwendet. Dieses Etikett wird ja auch häufig vielen linksradikalen bzw. linksorientierten Bewegungen zugeschrieben. Ich habe immer Schwierigkeiten mit dem deutschen Verständnis

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des Nationalismuskonzeptes. Es wird vor allem negativ und normativ definiert und als die Überhöhung der nationalen Identität gegenüber anderen Völkern wahrgenommen. In dieser Hinsicht wäre ich dafür, ein neutrales und nicht normatives Konzept anzuwenden, wie es in der englischsprachigen Nationalismusforschung üb­lich ist. In d­ iesem Sinne würde ich die verschiedenen Formen der Nationalbewegungen in Europa, wie zum Beispiel die Schotten, die Katalanen, die Galicier, die Waliser oder die Basken nicht mit den neuen rechtsradikalen Formen des Staatsnationalismus in Osteuropa vergleichen und auf keinen Fall automatisch gleichsetzen. Denn es gibt bedeutende Unterschiede. Wenn Sie sich zum Beispiel das politische Programm der katalanischen oder der schottischen Unabhängigkeitsbewegung ansehen, so stehen dort die Souveränität der Europä­ ischen Union sowie der Anspruch, Souveränität an die EU abzugeben, an erster Stelle. In ­diesem Sinne sind diese Bewegungen viel europäischer als viele gemäßigte Staatsnationalismen – nicht zu sprechen von Ungarn oder Polen. Darüber hinaus haben wir es bei diesen Bewegungen ja auch nicht mit ethnischen bzw. ›völkischen‹ Nationalisten im klassischen Sinne zu tun. Es handelt sich vielmehr um eine Mischung aus Staatsnationen und Kulturnationen. Sie weisen also sowohl kulturelle als auch bürgerrecht­liche Elemente auf. Besonders deut­lich wird das bei der schottischen Nationalbewegung. Teresa Pinheiro Welche Hoffnungen hat man in Portugal mit Europa verbunden? Ganz einfach: Es war die Hoffnung auf Wohlstand und Demokratie. Europa bedeutete in erster Linie Wohlstand. Das stand im Vordergrund, und das ist die Erklärung dafür, warum es heutzutage in Portugal einen sehr geringen Euroskeptizismus gibt. Ähn­liches würde ich im Übrigen auch für Spanien sagen. Es gibt zwar Kritik an Europa – schließ­lich haben die Menschen aufgrund der europäischen Sparpolitik vieles durchgemacht –, aber diese Kritik bezieht sich auf die Sparpolitik. In ­diesem Punkt wird ganz klar differenziert. Und ich denke, das ist als Zeugnis von politischer Reife zu begreifen, dass das, was in Europa schiefgelaufen ist, die Sparpolitik war und nicht die europäische Idee. Und aus d­ iesem Grund wird die europäische Idee nicht in Frage gestellt. Das bestätigen auch die Statistiken, denen zufolge Portugal und Spanien zu den Ländern zählen, in denen es die größte Zustimmung für die Europäische Union gibt. Deutschland hingegen hat viel niedrigere Werte. Das heißt der Euroskeptizismus ist nicht unbedingt eine Reaktion auf die Krise, zumindest kann ich das aus portugiesischer und spanischer Sicht nicht bestätigen. Deswegen gibt es in Portugal auch keinen Euroskeptizismus in Bezug auf die Wiedererlangung der Souveränität. Die Diskussionen zur Souveränität Portugals bezogen sich alleine auf die Troika

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und nicht auf Europa. Portugal will nach wie vor Mitglied der Europäischen Union bleiben. Und in d­ iesem Punkt bildet auch der portugiesische Nationalismus keinen Widerspruch. Portugal zeugt von einem ausgeprägten Patriotismus, der allerdings nicht auf die Überlegenheit gegenüber anderen abzielt und auch kein ethnischer Nationalismus ist. Vielmehr herrscht in Portugal ein Kulturnationalismus vor, weswegen auch die Geschichte eine wichtige Rolle spielt. Włodzimierz Borodziej Ich möchte mich zunächst zur Frage nach der staat­lichen Souveränität und dem ethnischen Nationalismus äußern. Ich glaube, beides ist untrennbar miteinander verbunden. Im polnischen Fall haben wir eine Begriff­lichkeit, die in etwa so aussieht: Es hat eine wunderbare polnische Republik der Zwischenkriegszeit gegeben. Während dieser Zeit war die polnische Nation die Titularnation und der Souverän. Heute haben wir Brüssel, das unsere Souveränität einschränkt. Diese Vorstellung kollidiert mit der urdemokratischen Annahme, dass das Volk der Souverän ist. Und aus d­ iesem Konflikt entwickelt man dann nicht nur Kritik an Brüssel, sondern eine grundsätz­lich europaskeptische Weltanschauung. Wobei in Bezug auf die Statistiken – die eben angesprochen wurden – hinzugefügt werden muss, dass unter den europafreund­lichsten Ländern 2015 Polen mit etwa 85 Prozent an erster Stelle stand. Das bedeutet, wir haben es im polnischen Fall mit einem politischen Projekt zu tun, das sich völlig unabhängig von Meinungsumfragen entwickelt. Der zweite Punkt, zu dem ich etwas sagen möchte, betrifft die ›verlorene Hoffnung Europa‹. Ich denke, dass 1989 die polnische Vorstellung ähn­lich war wie die der Portugiesen: Europa bedeutet Demokratie und Wohlstand. Es war nie die Rede davon, dass der polnische Nationalstaat in der Union aufgehen soll. Polen sollte ein Nationalstaat bleiben, der in ein vernünftiges internationales Beziehungsgeflecht eingebettet ist, das auf dem Prinzip des Kompromisses aufgebaut ist. Heute scheint ­dieses Prinzip offenbar nicht mehr zu funktionieren. Das Prinzip des Nationalstaates, so scheint es, wird immer mehr in permanente Erpressung verwandelt, die von allen mög­lichen Spielern auf der europäischen Bühne genutzt wird. Und Brüssel – um auf eine der Fragen zurückzukommen – ist machtlos. Brüsseler Experten sagen, zur Disziplinierung der Nationalstaaten könnte man Artikel 7, die so genannte Atomwaffe, anwenden.2 Da man aber eine Atombombe bekannt­lich nur einmal anwenden kann – sie zerstört zu viel und 2 Artikel 7 der Europäischen Verträge regelt mög­liche Sanktionen gegen Mitgliedsländer, sollten diese Grundwerte der EU verletzen. Er wird aufgrund seiner politischen Sprengkraft in Brüssel die ›Atombombe‹ genannt. Bis heute ist er noch nie angewendet worden.

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schafft die Grundlage für eine so oder so andere Welt –, will man es lieber gar nicht tun. Der Ausweg wäre natür­lich, dass Brüssel seine eigene Symbolik entwickelt, die über Demokratie und Wohlstand und geordnete Verhältnisse hinausgeht. Ich sehe allerdings keinerlei Ansätze dafür. In ­diesem Saal ist vor einigen Jahren auf einer Tagung der Stiftung Ettersberg in einem ganz anderen Zusammenhang der Satz gefallen: »Die Europäische Union ist das am schlechtesten vermarktete Produkt der Weltgeschichte«.3 Und ich kann mir wirk­lich nicht vorstellen, dass das in absehbarer Zeit anders wird. Schließ­lich komme ich auf die Bemerkung zurück, ob der Umgang mit der Vergangenheit Rückschlüsse auf das Demokratieverständnis im jeweiligen Land zulässt. Ich denke, alle Vorträge haben deut­lich gemacht, dass die Art des Umgangs mit der Vergangenheit in einem indirekten Verhältnis zum Demokratieverständnis in den jeweiligen Staaten steht. Wir haben auf dieser Tagung gelernt, dass es sehr unterschied­liche Wege gibt, mit der diktatorischen Vergangenheit umzugehen, auch im Hinblick auf den deutschen Bezugspunkt. Éva Kovács Ich beginne mit der Frage nach der ›verlorenen Hoffnung Europa‹ und möchte abschließend noch ein wenig Hoffnung verbreiten. Ich denke, dass das Symposium durchaus gezeigt hat, dass sich die Erinnerungsformen an diktatorische Vergangenheiten ähneln und europäisch bzw. amerikanisiert sind – je nachdem, wie man es bewerten möchte. Auf dieser Konferenz haben wir die Erfahrung gemacht, dass es doch einen europäischen Diskurs gibt, der zeigt, dass wir unsere Geschichten in einer ähn­lichen Sprache erzählen bzw. zu erzählen versuchen. Selbstverständ­ lich resultieren lange Diktaturerfahrungen in der jeweils eigenen Kultur, ebenso wie man auch Eigensinn in jeder Diktatur findet. Die unterschied­lichen Wege des Umgangs mit der diktatorischen Vergangenheit hängen meiner Meinung nach mit dem divergierenden Demokratieverständnis und den verschiedenen Zukunftsperspektiven dieser Länder zusammen. Die osteuropäischen ›Nationalismen‹ spielen eine spezifische Rolle in unserer Geschichte, mir fällt es schwer vorzustellen, dass die Konzepte eines ›gesunden‹ Patriotismus oder das des ›Kulturnationalismus‹, wie sie Teresa Pinheiro hier diskutierte, für Osteuropa adaptierbar sein könnten. Die Geschichte Osteuropas hat uns gelehrt, dass Nationalismus wahnsinnig gefähr­lich ist, weil er sich immer exklusiv den ethnischen oder sozialen Minderheiten gegenüber definiert und ohne Diskriminierung gar nicht lebensfähig ist.

3 Das Zitat wurde im Rahmen der Podiumsdiskussion des 9. Internationalen Symposiums vom 22. bis 23. Oktober 2010 in Weimar zum Thema ›Das Haus der Europäischen Geschichte – Auf dem Weg zu einem europäischen Gedächtnis?‹ geprägt.

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Adamantios Theodor Skordos Ich werde nur zwei Aspekte ansprechen; zunächst in Bezug auf die Frage von Souveränität und Nationalismus. Interessanterweise ist es ausgerechnet ›Syriza‹, die diese Kategorien in die heutige griechische Öffent­lichkeit zurückgebracht hat. Die Argumentation konzentrierte sich ja ursprüng­lich auf die Zurückerlangung der staat­lichen Souveränität gegenüber Brüssel. Und das Motto, das man hierfür verwendete, war: »Griechenland den Griechen«. Interessanterweise findet sich das Motto auch in der Vergangenheit Griechenlands, als man es gegen die USA, gegen die Türken, die Albaner oder die Slawen anwandte – kurz gesagt gegen alle, die angeb­lich die Existenz des Hellenismus in irgendeiner Form bedrohten. Während der Wirtschaftskrise griff ›Syriza‹ ­dieses Konzept erneut auf und verwendete es in einem Kontext, der besagte: »Griechenland dem griechischen Volk« – um es derart etwas mehr an die linke Rhetorik anzupassen. Eigent­lich ging es dabei um die Erlangung der Souveränität gegenüber Brüssel und insbesondere auch gegenüber Deutschland. Der zweite Punkt, den ich ganz kurz ansprechen werde, bezieht sich auf die Frage von Janis Nalbadidacis: inwieweit die Imagination einer unterdrückten Gesellschaft anzugehören, eine Voraussetzung für die Diktaturüberwindung ist. Ich denke, dass die griechische Militärdiktatur wichtig war, um die sehr tiefe Spaltung des Bürgerkrieges zu überwinden. Denn bis zur griechischen Militärdiktatur war es klar, wer die Herrscher waren und wer die Unterworfenen. Dann kam die Militärdiktatur, die fast alle unterworfen hat. Nach der Diktatur traten 1974 sowohl gemäßigte Rechtskonservative als auch Linke auf den Plan, die in den sieben Jahren der Militärdiktatur unterdrückt und verfolgt wurden. Beide Gruppierungen teilten also die Erinnerung an die Unterwerfung unter ein diktatorisches Regime. Im griechischen Fall hat letztend­lich die Militärdiktatur unfreiwillig dazu geführt, dass die alten Feindschaften ­zwischen dem rechten und dem linken Bürgerkriegslager überwunden werden konnten. Jörg Ganzenmüller Zum Stichwort Europa ließe sich noch ergänzen, dass Europa als Referenzpunkt in allen Ländern, mit denen wir uns auf d­ iesem Symposium beschäftigt haben, während der Transitionsphase besonders wichtig war. Natür­lich sind viele der Hoffnungen, die sich anfäng­lich mit Europa verbanden, enttäuscht worden. Aber vielleicht lässt sich als positive Gemeinsamkeit feststellen, dass Europa in Gesellschaften mit diktatorischer Erfahrung seine Strahlkraft nicht völlig verloren hat. Demokratie, Rechtsstaat­lichkeit und Frieden sind auch heute noch hochattraktive Konzepte. Es wird ja häufig angemahnt, dass Europa, um zusammenwachsen zu können, ein gemeinsames europäisches Bewusstsein braucht. Ich glaube, auf

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unserem Symposium ist deut­lich geworden, dass das aufgrund der unterschied­ lichen historischen Erfahrungen gar nicht mög­lich ist. Ich denke, das ist auch gar nicht notwendig. Viel wichtiger ist, dass Kenntnis darüber herrscht, was die historischen Erfahrungen der jeweiligen anderen europäischen Länder sind und ­welche Auswirkungen das auf die aktuellen politischen Kulturen hat. Ich habe auf ­diesem Symposium sehr viel gelernt und bedanke mich an dieser Stelle bei allen Beteiligten und würde jetzt Franz-­Josef Sch­lichting als Mitveranstalter der Landeszentrale für politische Bildung noch um ein kurzes Schlusswort bitten. Franz-­Josef Sch­lichting Meine Damen und Herren, wir stehen am Ende eines gelungenen, eines spannenden und eines sehr dichten Symposiums. Wir können uns als Veranstalter in der Themenwahl bestätigt fühlen, näm­lich in der Fokussierung auf die Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland. Mit unserem Symposium verfolgen wir ja grundsätz­lich einen vergleichenden Ansatz und ich denke, in d­ iesem Jahr war dieser Ansatz besonders lohnenswert, da er zahlreiche Vergleichspunkte, Gemeinsamkeiten und auch Unterschiede zu Tage gefördert hat. Besonders bemerkenswert und aufschlussreich war für mich, wie sehr Europa als Bezugspunkt – sozusagen als Zielpunkt – eine integrative Größe in den Vorträgen und Diskussionen dargestellt hat. Ich will hoffen, dass auch wir durch unser Handeln und den gesellschaft­lichen und intellektuellen Diskurs dazu beitragen können, dass Europa keine verlorene Hoffnung wird. Ich denke, es ist gelungen, das Fortwirken der Geschichte in der Gegenwart aufzuzeigen. Ich danke Ihnen im Namen der Stiftung Ettersberg und der Landeszentrale für politische Bildung ganz herz­lich für Ihr Kommen. Vielen Dank.

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Autorinnen und Autoren

Abele, Christiane, geboren 1985 in München, Dr. phil.; studierte von 2004 bis 2010 Neuere und Neueste Geschichte und Romanistik in Freiburg, Lissabon und Löwen; 2015 erfolgte ihre Promotion in Neuerer und Neuester Geschichte an der Albert-­Ludwigs-­Universität Freiburg. Seit 2015 ist sie im Wissenschaftsmanagement in Paris tätig. Publikationen (Auswahl): Kein kleines Land. Die Kolonialfrage in Portugal 1961 – 1974 (Moderne Zeit, 28). Göttingen 2017; April ist Revolution! Über den Gründungsmythos und die aktuelle Erinnerungskultur der portugiesischen Demokratie. In: Zeitgeschichte Online, 24. 04. 2014. URL: http://www.zeitgeschichte-­ online.de/kommentar/april-­ist-­revolution, letzter Zugriff: 20. 04. 2018. Borodziej, Włodzimierz, Prof. Dr. Dr. h. c. phil., geboren 1956 in Warschau, war von 1979 bis 1984 wissenschaft­licher Mitarbeiter und von 1985 bis 1991 Assistenzprofessor am Historischen Institut der Universität Warschau, wo er 1984 promovierte und 1991 habilitierte. Seit 1996 ist Włodzimierz Borodziej Professor am Historischen Institut der Universität Warschau. Er war von 1999 bis 2002 Prorektor der Universität Warschau sowie von 1997 bis 2007 Vorsitzender der Deutsch-­Polnischen Schulbuchkommission. Von 2010 bis September 2016 war Herr Borodziej zusammen mit Prof. Dr. Joachim von Puttkamer Direktor des Imre Kertész Kollegs an der Friedrich-­Schiller-­Universität Jena. Er ist Vorsitzender des Wissenschaft­lichen Beirats des Hauses der europäischen Geschichte in Brüssel und erhielt u. a. 2004 den Viadrina-­Preis der Europa-­Universität in Frankfurt-­Oder, 2006 den Herder Preis der Alfred-­Töpfer-­Stiftung und 2010 den Carl-­von-­Ossietzky-­Preis der Stadt Oldenburg. Publikationen (Auswahl): zusammen mit Stanislav Holubec und ­Joachim von Puttkamer (Hrsg.): Mastery and Lost Illusions. Space and Time in the Modernization of Eastern and Central Europe (Europas Osten im 20. Jahrhundert, 5), München 2014; zusammen mit Jochen Böhler und Joachim von Puttkamer (Hrsg.): Legacies of Violence. Eastern Europe’s First World War (Europas Osten im 20. Jahrhundert, 3), München 2014; zusammen mit Maciej Górny: Nasza wojna. Imperia 1912 – 1916 [Unser Krieg. Das Imperium, 1912 – 1916], ­Warszawa 2014; Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010.

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Capdepón, Ulrike, geboren 1978 in Madrid, Dr. phil., promovierte 2011 in Politischer Wissenschaft an der Universität Hamburg und am Institut für Lateinamerika Studien (ILAS) des German Institute of Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg. Sie war Marie-­Curie-­Fellow am Center for Human Science and Humanities (CCHS) des Spanish National Research Council (CSIC) in ­Madrid und Postdoctoral Research Fellow an der Universität Konstanz an einem European Research Council (ERC)-Projekt zu ›Narrativen des Terrors und des Verschwindenlassens in Argentinien‹. Nachdem sie zwei Jahre am Institute for the Study of Human Rights (ISHR ) der Columbia University in New York City geforscht hat, lehrt sie zurzeit im ›Program in Latin American Studies‹ (PLAS) der Princeton University. Ihre Forschungsgebiete sind Menschenrechte, Memory Studies, Diktatur- und Gewaltforschung und die Auseinandersetzung mit belasteter Vergangenheit in Spanien und Lateinamerika. Publikationen (Auswahl): Die späte Auseinandersetzung mit der Franco-­ Vergangenheit. In: Anja Mihr/Gert Pickel/Susanne Pickel (Hrsg.): Transitional Justice. Aufarbeitung von Unrecht. Rechtsstaat­lichkeit und Demokratie. Berlin/Heidelberg 2017; Vom Fall Pinochet zu den Verschwundenen des Spanischen Bürgerkrieges. Die Auseinandersetzung mit Diktatur und Menschenrechtsverletzungen in Spanien und Chile. Bielefeld 2015; (Mithrsg.): The Impact of Human Rights Prosecutions: Insights from European, Latin American, and African Post-­Conflict Societies. Leuven, erscheint 2019. Collado Seidel, Carlos, geboren 1966 in München; Prof. Dr. phil.; studierte Neuere und Neueste Geschichte, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie Politikwissenschaft an der Ludwig-­Maximilians-­Universität München und der Universidad Complutense, Madrid. 1998 promovierte er in Neuester Geschichte an der Universität München, 2005 folgte seine Habilitation an der Philipps-­Universität Marburg. Forschungs- und Lehrtätigkeiten führten ihn an die Universidad Nacional de Educación a Distancia in Madrid (1991 – 1994 sowie 2005 – 2006), an die Universitäten Marburg (1995 – 1997 sowie 2002 – 2005) und Erlangen-­Nürnberg (1999 – 2002) sowie an die London School of Economics and Political Science (2006 – 2007); Gastprofessuren und Lehrstuhlvertretungen hatte er in Göttingen (2007 – 2009), München (2010 – 2012) sowie an der Universität des Baskenlandes (2013 – 2014). Seit 2011 ist er außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Philipps-­Universität Marburg und seit 2017 Generalsekretär des PEN -Zentrums Deutschland. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte Spaniens seit dem Spanischen Bürgerkrieg und die deutsch-­ spanischen Beziehungen im 20. und 21. Jahrhundert.

Autorinnen und Autoren  |

Publikationen (Auswahl): Franco. General, Diktator, Mythos. Stuttgart 2015; Der Spanische Bürgerkrieg. Geschichte eines europäischen Konflikts. München 2006, 32016; zusammen mit Walther L. Bernecker (Hrsg.): Spanien nach Franco. Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie 1975 – 1982. München 1993. Ganzenmüller, Jörg, geboren 1969 in Augsburg, Prof. Dr. phil., studierte z­ wischen 1992 und 1999 Neuere und Neueste Geschichte, Osteuropäische Geschichte und Wissenschaft­liche Politik an der Albert-­Ludwigs-­Universität in Freiburg. Zwischen 2000 und 2001 und z­ wischen 2002 und 2004 war er wissenschaft­licher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Osteuropäische Geschichte an der Universität Freiburg. 2003 erfolgte seine Promotion an der Universität Freiburg mit einer Studie zum belagerten Leningrad. Von 2004 bis 2010 war er wissenschaft­licher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Friedrich-­Schiller-­ Universität Jena. Zwischen 2008 und 2009 war er Stipendiat des Historischen Kollegs in München und habilitierte 2010 an der Universität Jena zum polnischen Adel in den west­lichen Provinzen des russischen Zarenreiches. Zwischen 2010 und 2014 war er Vertreter des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte an der Universität Jena. Seit 2014 ist Jörg Ganzenmüller Vorstandsvorsitzender der Stiftung Ettersberg in Weimar. Im Herbst 2017 wurde er auf die Professur für europäischen Diktaturenvergleich an der Friedrich-­Schiller-­Universität Jena berufen. Publikationen (Auswahl): (Hrsg.): Recht und Gerechtigkeit. Die strafrecht­ liche Aufarbeitung von Diktaturen in Europa (Europäische Diktaturen und ihre Überwindung, 23). Köln/Weimar/Wien 2017; zusammen mit Raphael Utz (Hrsg.): Orte der Shoah in Polen. Gedenkstätten z­ wischen Mahnmal und Museum (Europäische Diktaturen und ihre Überwindung, 22). Köln/Weimar/Wien 2016; Russische Staatsgewalt und polnischer Adel. Elitenintegration und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772 – 1850) (Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 46). Köln/Weimar/Wien 2013; Das belagerte Leningrad 1941 bis 1944. Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern (Krieg in der Geschichte, 22). Paderborn u. a. 2005, 2., durchges. Auflage 2007. Kovács, Éva, Prof. Dr., studierte Soziologie und Ökonomie an den Universitäten Pécs und Budapest. 1994 erfolgte ihre Promotion, 2009 ihre Habilitation. Sie ist wissenschaft­liche Mitarbeiterin im Institut für Soziologie an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und wissenschaft­liche Leiterin am Wiener ­Wiesenthal Institut für Holocaust-­Studien. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Geschichte des Holocaust, in der jüdischen Geschichte Ungarns und der Slowakei, in der Beschäftigung mit Erinnerungskulturen sowie in den Themenkomplexen Migration und Gender.

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Publikationen (Auswahl): zusammen mit Henry Greenspan u. a.: Engaging Survivors. Assessing ›Testimony‹ and ›Trauma‹ as Foundational Concepts. In: Dapim: Studies of the Holocaust 28 (2014), S. 190 – 226; Innocent Culprits – Silent Communities: On the Europeanization of the Memory of the Holocaust in Austria. In: Anatoly M. Khazanov/Stanley Payne (Hrsg.): Perpetrators, Accomplices and Victims in Twentieth-­Century Politics. Reckoning with the Past. London/New York 2009, S. 66 – 77; zusammen mit Gerhard Seewann: Ungarn. Der Kampf um das Gedächtnis. In: Monika Flacke (Hrsg.): Mythen der Nationen: 1945 – Arena der Erinnerungen. Mainz 2004, S. 817 – 845. Krzemiński, Adam, geboren 1945, studierte Germanistik an den Universitäten Warschau und Leipzig. Er ist seit 1973 Redakteur des polnischen politischen Wochenmagazins Polityka und ist als Gastredakteur neben vielen anderen Tages- und Wochenzeitungen u. a. für die Zeit tätig. Er ist Preisträger der Goethe-­Medaille für seine Verdienste um die deutsch-­polnische Verständigung (1993). 1999 erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz, 2006 war er Viadrina-­ Preisträger und 2010 gemeinsam mit Prof. Dr. Karl Schlögel Preisträger des Samuel-­Bogumił-­Linde-­Preises. Publikationen (Auswahl): Der Posener Aufstand im Juni 1956. In: Robert Grünbaum/Heike Tuchscheerer (Hrsg.): 1956 – Aufbruch im Osten. Die Entstalinisierung in Ostmitteleuropa und ihre Folgen. Berlin 2017, S. 169 – 182; zusammen mit Gunter Hofmann: Schuld & Sühne und Stolz & Vorurteil – Polen und Deutsche. Essays. Berlin u. a. 2007; Deutsch-­Polnische Verspiegelungen. Essays. Wien 2001; Polen im 20. Jahrhundert. Ein historischer Essay. München 1993. Muñoz Sánchez, Antonio, geboren 1971 in Gijón (Spanien); Dr. phil., studierte Geschichtswissenschaft an der Universität Oviedo (Spanien). Danach erfolgte seine Promotion am Europäischen Hochschulinstitut Florenz. Seit 2012 ist er wissenschaft­licher Mitarbeiter im Institut für ­soziale Wissenschaften der Universität Lissabon. 2017/18 hat er eine Gastprofessur an der Technischen Universität Chemnitz inne. Publikationen (Auswahl): gemeinsam mit Johannes Platz und Patrik von zur Mühlen (Hrsg.): Max Diamant. Sozialist, Exilant, Gewerkschafter. Bonn 2017; Von der Franco-­Diktatur zur Demokratie. Die Tätigkeit der Friedrich-­ Ebert-­Stiftung in Spanien. Bonn 2013; El amigo alemán. El SPD y el PSOE de la dictadura a la democracia [Der deutsche Freund. Die SPD und die PSOE von der Diktatur zur Demokratie]. Barcelona 2012.

Autorinnen und Autoren  |

Nalbadidacis, Janis, geboren 1984 in Essen, studierte Grundschulpädagogik und Geschichtswissenschaft an der Humboldt-­Universität zu Berlin. Janis N ­ albadidacis ist seit 2012 Promotionsstudent am Historischen Institut der Humboldt-­Universität zu Berlin und forscht zum Thema ›In den Verliesen der Diktatur. Eine vergleichende Betrachtung der Folterzentren Argentiniens und Griechenlands während der Militärdiktatur‹. Publikation: zusammen mit Andreas Guidi (2015): Torture Centers in Greece and Argentina during the Military Dictatorships. In: The Southeast Passage #007, 07. 12. 2015. URL: http://thesoutheastpassage.com/nalbadidacis-­torture-­ centers-­greece-­argentina/, letzter Zugriff: 20. 04. 2018. Núňez Seixas, Xosé Manoel, geboren 1966 in Ourense (Spanien); studierte Geschichtswissenschaft an den Universitäten Santiago de Compostela und Dijon; 1992 erfolgte seine Promotion am Europäischen Hochschulinstitut Florenz. Seit 2007 ist er Professor für Neueste und Zeitgeschichte an der Universität Santiago de Compostela. Zwischen 2012 und 2017 war er Professor für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Ludwig-­Maximilians Universität München. Er hatte zudem Gastprofessuren an den Universitäten Bielefeld, Paris VII , Paris X, City University of New York und der Stanford University inne. Publikationen (Auswahl): Die spanische Blaue Division an der Ostfront, 1941 – 1945. Zwischen Kriegserfahrung und Erinnerung. Münster 2016 (spanische Fassung: Barcelona 2016, 22017); Fascismo, guerra e memória. Olhares ibéricos e europeus [Faschismus, Krieg und Erinnerung aus iberischer und europäischer Sicht]. Porto Alegre 2016; gemeinsam mit J. Moreno Luzón (Hrsg.): Metaphors of Spain. Representations of Spanish National Identity in the Twentieth Century, New York/Oxford 2017; gemeinsam mit L. Gálvez und J. Muñoz-­ Soro: España en democracia, 1975 – 2011. Barcelona/Madrid 2017. Pinheiro, Teresa, geboren 1972 in Lissabon; Prof. Dr. phil., studierte Germanistik und Lusitanistik an den Universitäten Lissabon und Köln. 2002 erfolgte ihre Promotion im Fachbereich Kulturwissenschaft­liche Anthropologie an der Universität Paderborn. 2003 erhielt sie den Georg-­Rudolf-­Lind-­Förderpreis des Deutschen Lusitanistenverbands und seit 2004 hat sie die Professur für Kulturellen und Sozialen Wandel an der Technischen Universität Chemnitz inne. Sie war von 2009 bis 2011 Direktorin des Instituts für Europäische Studien an der TU Chemnitz und von 2013 bis 2017 Vizepräsidentin des Deutschen Lusitanistenverbands. Zwischen 2015 und 2016 hatte sie eine Europa-­Gastprofessur an der Universität des Saarlandes inne. Von 2017 bis 2018 erhielt sie für Forschungen am Consejo

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Superior de Investigaciones Científicas (CSIC ) in Madrid das Alexander-­von-­ Humboldt-­Forschungsstipendium als erfahrene Wissenschaftlerin. Publikationen (Auswahl): (Mithrsg.): Alles andere als unsichtbar. Th ­ eater, Literatur und Film der Romania ­zwischen Kunst und Leben/Tudo menos invisível. Teatro, literatura e cinema no mundo ibero-­românico entre vida e arte. Wien u. a. 2017; Les arpenteurs du monde. In: Thomas Sarrier/Étienne François (Hrsg.): Europa. Paris 2017, S. 52 – 60; Memoria de la República en las transiciones democráticas ibéricas. In: Pasajes de pensamiento contemporáneo 48 (2015), S. 49 – 64; Die Nelkenrevolution im 21. Jahrhundert: Wandel einer erinnerungspolitischen Praxis. In: Janett Reinstädler/Henry Thorau (Hrsg.): Die Nelkenrevolution und ihre Folgen. Der 25. April 1974 in Literatur und Medien. Berlin 2015, S. 17 – 32. Skordos, Adamantios Theodor, geboren 1978 in Bludenz/Österreich, Dr. phil., studierte von 1996 bis 2001 Germanistik und Deutsch als Fremdsprache in Thessaloniki und Graz, bevor er ­zwischen 2001 und 2003 ein Aufbaustudium der Europastudien an der Universität Leipzig absolvierte. 2009 erfolgte seine Promotion ebenfalls an der Universität Leipzig mit einer Arbeit zum Einfluss des Griechischen Bürgerkrieges auf den makedonischen Namensstreit der frühen 1990er Jahre. Seit 2016 ist er wissenschaft­licher Referent des Direktors des Leibniz-­Instituts für Geschichte und Kultur des öst­lichen Europa (GWZO ). Seine Forschungsschwerpunkte sind die moderne Geschichte Südost- und Ostmitteleuropas und die Völkerrechtsgeschichte. Er ist Preisträger der Research Academy Leipzig und der Südosteuropa-­Gesellschaft. Publikationen (Auswahl): Griechenland im Kontext des öst­lichen Europa. Geschichtsregionale, kulturelle und völkerrecht­liche Dimensionen (Transnationalisierung und Regionalisierung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 9). Leipzig 2016; zusammen mit Stefan A. Müller und David Schriffl: Heim­liche Freunde. Die Beziehungen Österreichs zu den Diktaturen Südeuropas nach 1945: Spanien, Portugal, Griechenland (Schriftenreihe des Forschungsinstituts für politisch-­historische Studien der Dr.-Wilfried-­Haslauer-­Bibliothek, 54). Köln/Weimar/Wien 2016; Griechenlands Makedonische Frage. Bürgerkrieg und Geschichtspolitik im Südosten Europas, 1945 – 1992 (Moderne Europäische Geschichte, 2). Göttingen 2012.

Abbildungsverzeichnis

Collado Seidel: Ideologie, Herrschaft und Gewalt Abb. 1 © Cuelgamuros, también conocido como El Valle de los Caídos o la Abadía de la Santa Cruz del Valle de los Caídos (Valle de los Caídos).jpg, Autor: Jorge Díaz Bes; Wikipedia Commons, lizensiert unter Creative Commons Attribution-­ShareAlike 3.0 International, URL: https:// creativecommons.org/licenses/by-­sa/3.0/deed.en, letzter Zugriff: 26. 03. 2018 Abb. 2 © picture alliance/dpa; Fotograf: Bodo Marks Abele: Einfach nur Dr. Salazar Abb. 1 © Col. Estúdio Horácio Novais I FCG- Biblioteca de Arte e Arquivos Abb. 2 © João Loureiro (MAISIMAGEM); entnommen aus: Joao Loureiro (Hrsg.): Memorias de Lourenco Marques. Lissabon 2003. Nalbadidacis: Die Geburtshelfer der Demokratie Abb. 1 © ELIA/MIET Photographic Archive Abb. 2 © Janis Nalbadidacis Capdepón: Spaniens Übergang zur Demokratie Abb. 1 © Archivo de la Democracia de la Universidad de Alicante, Subfondo José Antonio Marín Chacón Abb. 2 © Archivo de la Democracia de la Universidad de Alicante, Subfondo José Gutiérrez Carbonell Muñoz Sánchez: Die Nelkenrevolution in Portugal Abb. 1 © Arq. CD25A, Col. DGCS, Sammlung Centro de Documentação 25 de Abril, Universidade de Coimbra Abb. 2 © Hans-­Joachim Gerboth Skordos: Das späte Ende des Bürgerkrieges Abb. 1 © ELIA/MIET Photographic Archive, Fotograf: Nikos Zografos Abb. 2 © Bundesarchiv, Bild 183-F0503 – 0204 – 005, Fotograf: ohne Angaben Núñez Seixas: Schweigen oder Erinnern? Abb. 1 © X. M. Núñez-­Seixas Abb. 2 © X. M. Núñez-­Seixas Pinheiro: Die Erinnerung an den Estado Novo Abb. 1 © António da Paixão Esteves, Sammlung Centro de Documentação 25 de Abril, Universidade de Coimbra Abb. 2 © Museu do Aljube Resistência e Liberdade Nalbadidacis: Im Schatten der ›Generation Polytechnio‹ Abb. 1 © Quelle: Contemporary Social History Archives (ASKI) Abb. 2 © Quelle: Contemporary Social History Archives (ASKI)

Personenregister

A

E

Alfons XIII., König von Spanien  60 Añoveros, Antonio  54 Arévalo, Tomás Domínguez, Graf von Rodezno 60 Arias Navarro, Carlos  115 Aznar López, José María  193

Elías de Tejada, Francisco  55

B Brandt, Willy  152 Breschnew, Leonid Iljitsch  152

F Falacci, Oriana  147 Felipe VI., König von Spanien  199 Fernández Miranda, Torcuato  66 Fraga Iribarne, Manuel  66 Franco Bahamonde, Francisco  45 f., 50 ff., 60 ff., 65 ff., 113, 115, 120, 127, 132, 149

G C Caetano, Marcelo José das Neves Alves  82, 89, 131, 133, 135, 149, 173, 205, 208, 225, 259 Calvo Sotelo, Leopoldo  120 Camacho Abad, Marcelino  118 Cantalupo, Roberto  46 Carmona, António Óscar de Fragoso  79, 211 f., 224 Cavaco Silva, Aníbal  219 Ciano, Galeazzo  54 Costa Pinto, António  209, 217 Cunhal, Álvaro  80, 133, 137, 145 ff., 152, 209 Czapliński, Przemysław  31

Garzón, Baltasar  18, 190 Gauck, Joachim  25 Geremek, Bronisław  25 Gomá, Isidro  53 Gomes da Costa, Manuel de Oliveira  204 Gonçalves, Vasco dos Santos  138 ff., 143, 147 f., 153, 208 González, Felipe  115, 121, 123, 184, 269 Gorbatschow, Michail Sergejewitsch  30 Goytisolo, Juan  65 Grimau, Julián  67 Guillaume, Günter Karl Heinz  131 Gutiérrez Mellado, Manuel  116

D

H

da Costa Gomes, Francisco  139, 152 f. Dahrendorf, Ralf  40 de Borbón y Dampierre, Alfonso  62 de la Cierva y Hoces, Ricardo  194 Delgado, Humberto  85, 211, 220 Dertilis, Nikolaos  171 Dönhoff, Marion Hedda Ilse Gräfin  29

Habermas, Jürgen  185 Haubrich, Walter  134 f. Honecker, Erich Ernst Paul  153

I Iglesias Turrión, Pablo Manuel  198 Ioannidis, Dimitrios  108, 168, 227

Personenregister  |

J

N

Jaruzelski, Wojciech  26 f. Juan Carlos I., König von Spanien  16, 61 f., 115, 120, 132, 182, 193

Navarro Rubio, Mariano  63 Norton de Matos, José Maria Mendes Ribeiro 211

K

O

Kaczyński, Jarosław  21, 25, 32 Kaczyński, Lech  35 Kallergi, Maria  248 Karamanlis, Konstantinos  17, 108, 169 f., 172, 227, 261 Kissinger, Henry Alfred  149, 152 Kneipp, Matthias  31 Knigge, Volkhard  20 Koselleck, Reinhart  20 Krastev, Ivan  40 f. Kreisky, Bruno  152

Orbán, Viktor  25, 31, 35 Oreja, Jaime  126

L Lamprakis, Grigoris  94, 231 Le Pen, Marine  29, 36 Lloyd, Alan  48 López Bravo, Gregorio  63 López Rodó, Laureano  63 Lora Tamayo, Manuel  63

P Palme, Sven Olof Joachim  153 Papadopoulos, Georgios  99 f., 106 ff., 149, 156, 161, 165 f., 168, 171 f., 227 Papandreou, Andreas Georgiou  170, 175, 177, 230, 261 Papandreou, Georgios  95, 165, 231 Passos Coelho, Pedro Manuel Mamede  214 Pattakos, Stylianos  166, 171 Payne, Stanley George  195 Philipp II., König von Spanien  50 Pita da Veiga, Gabriel  116 Pius XII.  52 Planell, Joaquín  63 Preston, Paul  48 Primo de Rivera, José Antonio  50, 55, 188 Putin, Wladimir Wladimirowitsch  37

M Maia Salgueiro, Fernando José  133 Makarezos, Nikolaos  166, 171 Makarios III., Erzbischof  108, 168, 174 Martín Artajo, Alberto  60 Mazowiecki, Tadeusz  25 Melo Antunes, Ernesto Augusto de  139 f. Merkel, Angela  32 Metaxas, Ioannis  99, 156, 158 ff., 168 Monedero Fernández, Juan Carlos  198 Morán, Gregorio  127 Mussolini, Benito  57

R Rajoy, Mariano  192 Ramalho Eanes, António  216 f. Richards, Michael  46 Rodríguez, Luis Pío Moa  194 Rodríguez-Zapatero, José Luis  190

S Sá Carneiro, Francisco Manuel Lumbrales de  82, 137 Sainz Rodríguez, Pedro  60 Salas-Larrazábal, Ramón  194

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|  Personenregister

Salazar, António de Oliveira  15 f., 69, 72 ff., 77, 79, 83 f., 88, 204 f., 212 ff. Salgueiro Maia, Fernando José  133 Saraiva de Carvalho, Otelo Nuno Romão  139, 142 Schlögel, Karl  36 f., 39 Schmidt, Helmut Heinrich Waldemar  151 f. Schmid, Thomas  32 f. Schmitt, Carl  35 Schwarz, Hans-Peter  24 Semprún, Jorge  113, 125, 128 Serrano Súñer, Ramón  60 Silva, Emilio  186 Soares, Mário  69, 133, 137, 145, 147 ff., 151 f., 206, 209, 221 Spínola, António Sebastião Ribeiro de  133, 137 ff., 143, 146, 149, 207 Sternberger, Adolf  185 Suárez, Adolfo  115 f., 120

T Tejero, Antonio  120 Tomás, Américo de Deus Rodrigues  206 Trump, Donald John  25 Tusell, Javier  48 Tzannetakis, Tzanis  177

U Ullastres, Alberto  63

V Varela, José Enrique  61 Venizelos, Eleftherios  157 von Holleben, Ehrenfried Anton Theodor Ludwig 131

W Wałęsa, Lech  25, 35 Waszczykowski, Witold  34