Europarecht: Grundlagen und Politiken der Union [2 ed.] 9783110498349, 9783110496895

The textbook gives a detailed account of the EU’s legal foundations and its current and potential future policy outlook

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Europarecht: Grundlagen und Politiken der Union [2 ed.]
 9783110498349, 9783110496895

Table of contents :
Vorwort – Hinweise zur Benutzung
Inhaltsübersicht – Autorinnen und Autoren
Abkürzungsverzeichnis
Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur
Teil 1: Grundlagen der Union
§ 1. Vertragliche Grundlagen, rechtliche Gestalt, Institutionen der Union
§ 2. Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung
§ 3. Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten
§ 4. Grundrechte
§ 5. Unionsrecht und nationales Recht
§ 6. Die Zuständigkeiten der Union
§ 7. Rechtsakte und Rechtssetzung der Union
§ 8. Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz
§ 9. Die Finanzverfassung der Union
§ 10. Verstärkte Zusammenarbeit
§ 11. Methodische Besonderheiten des Unionsrechts
Teil 2: Politiken der Union
§ 12. Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft
§ 13. Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten
§ 14. Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts
§ 15. Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union
§ 16. Die Kohäsionspolitik der Union
§ 17. Die Gemeinsame Agrar- und Fischereipolitik der Union
§ 18. Sozialpolitik der Union
§ 19. Die Umweltpolitik der Union
§ 20. Bildung, Kultur, Forschung und technologische Entwicklung
§ 21. Die Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
§ 22. Das auswärtige Handeln der Union
Register

Citation preview

I

Europarecht De Gruyter Handbuch

II

III

Europarecht Grundlagen und Politiken der Union

Herausgegeben von Matthias Niedobitek 2., völlig neu bearbeitete Auflage Mit Beiträgen von Hermann-Josef Blanke Robert Böttner Hans-Joachim Cremer Ulrike Davy Kerstin von der Decken Astrid Epiney Ludwig Gramlich Joachim Gruber Ines Härtel Peter Hilpold Stephanie Jungheim-Hertwig Dieter Kugelmann

Roman Lehner Siegfried Magiera José Martinez Matthias Niedobitek Walter Obwexer Eckhard Pache Matthias Rossi Werner Schroeder Karl-Peter Sommermann Stefan Storr Wolfgang Weiß

IV

Prof. Dr. Matthias Niedobitek, Inhaber der Professur Europäische Integration, Philosophische Fakultät, Institut für Europäische Studien und Geschichtswissenschaften, Technische Universität Chemnitz

Dieses Projekt wurde mit Unterstützung der Europäischen Kommission finanziert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung (Mitteilung) trägt allein der Verfasser; die Kommission haftet nicht für die weitere Verwendung der darin enthaltenen Angaben.

ISBN 978-3-11-049689-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-049834-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-049554-6 Library of Congress Control Number: 2019946376 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: TheaDesign/iStock/Getty Images Datenkonvertierung und Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort | V

Vorwort – Hinweise zur Benutzung Vorwort Vorwort https://doi.org/10.1515/9783110498349-202 Seit dem Erscheinen der ersten Auflage des „Europarecht“ im Jahr 2014 sind mehr als fünf Jahre vergangen, so dass es höchste Zeit war, die Beiträge zu überarbeiten und auf aktuellen Stand zu bringen. Ungeachtet seines beträchtlichen Umfangs und der Aufteilung in zwei Bände (Grundlagen der Union, Politiken der Union) wurde das Werk, auch in seiner elektronischen Version, gut angenommen. Gleichwohl haben sich Herausgeber und Verlag entschieden, beide Bände zu einem „Handbuch“ zusammenzuführen, um der Systematik des Aufbaus und dem Zusammenhang der Beiträge stärker Rechnung zu tragen. Zwar wurden die EU-Verträge in den zurückliegenden fünf Jahren nicht grundlegend geändert, jedoch sind das primäre und das sekundäre Unionsrecht durch verschiedene Entwicklungen einer bis heute anhaltenden Belastungsprobe ausgesetzt, insbesondere durch den Brexit und die „Migrationskrise“. Positive Impulse versuchte die EU-Kommission durch den „Weißbuch-Prozess“ zur Zukunft Europas zu setzen, während die Personalentscheidungen im Nachgang zur Europawahl 2019 und das (einstweilige) Scheitern des vom Europaparlament favorisierten „Spitzenkandidaten“-Modells dem Ruf der Union keinen Dienst erwiesen. Im Übrigen war der dynamischen Fortentwicklung des Unionsrechts, nicht zuletzt der Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU, Rechnung zu tragen. Das vorliegende Handbuch möchte das heutige Europarecht in seiner ganzen Breite und Tiefe auf der Höhe der wissenschaftlichen Diskussion darstellen. Eine lückenlose Aufbereitung des Stoffes war allerdings nicht das Ziel. Vielmehr ging es Herausgeber sowie Autorinnen und Autoren in erster Linie darum, eine tiefere wissenschaftliche Durchdringung der Materie zu erreichen. Das Werk wendet sich an die Wissenschaft, an Richter und Rechtsanwälte, an „Think Tanks“ und an Politiker sowie nicht zuletzt an Studierende und Referendare – kurzum an alle, die sich in beruflicher Praxis oder Ausbildung mit dem Europarecht beschäftigen. Es ist zweigeteilt: Der erste Teil, gleichsam der „Allgemeine Teil“ des Europarechts, ist den Grundlagen der Union gewidmet, die in elf Paragraphen dargestellt werden. Der zweite Teil, ebenfalls in elf Paragraphen unterteilt, behandelt die wichtigsten Politiken der Union und damit gewissermaßen den „Besonderen Teil“ des Europarechts. Das Werk will seine Leserinnen und Leser dazu einladen, sich die formellen und materiellen Aspekte der Unionsrechtsordnung zu „erlesen“ und so ein tieferes Verständnis für das System und die Inhalte der Unionsrechtsordnung zu gewinnen. Dafür bietet der monographische Charakter der Einzeldarstellungen die besten Voraussetzungen. Jeder Paragraph bildet einen in sich geschlossenen Text, der die relevanten Gegenstände des jeweiligen Themas – sowohl die Grundlagen unter Einschluss historischer Aspekte als auch spezifische Rechtsprobleme – in der gebotenen Tiefe und mit didaktischem Anspruch behandelt. Inhaltliche Überschneidungen zwischen den Paragraphen und ggf divergierende Ansichten der Autorinnen und Autoren waren dabei unausweichlich und

https://doi.org/10.1515/9783110498349-202

VI | Vorwort

auch erwünscht, da sie den europarechtswissenschaftlichen Diskurs und die diesen Diskurs prägenden unterschiedlichen Auffassungen freilegen. Alle Autoreninnen und Autoren haben die Chance genutzt, „ihr“ Thema ganz neu zu durchdenken, es neu zu strukturieren, es neu darzustellen. Dadurch ist jeder Paragraph eine Quelle der Inspiration und des besseren Verständnisses der Unionsrechtsordnung und zugleich eine zuverlässige Dokumentation des gegenwärtigen Stands des Europarechts. Mein Dank, den ich auch im Namen aller Autorinnen und Autoren ausspreche, geht zunächst an den Verlag De Gruyter. Jan Martin Schmidt, seinerzeit Senior Editorial Director Legal & Economics, hatte die erste Auflage und anfangs die zweite Auflage betreut. Ihm folgte Friederike Buhl L.L.M., Editorial Director Law, nach, die die Verantwortung für die zweite Auflage übernahm. Auf Produktionsebene waren vor allem Lili Hammler, Project Editor, sowie Frauke Schafft, Production Editor, und Monika Pfleghar, Production Editor, mit der zweiten Auflage befasst, die durch ihre hohe Professionalität und ständige Kontaktbereitschaft das Vorhaben nachhaltig gefördert haben. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank! Bei der redaktionellen Bearbeitung der Texte wurde ich von meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Andreas Löwe M.A., meiner studentischen Hilfskraft Tabea Lohrey und meinem Sohn Markus Niedobitek unterstützt, in der Schlussphase auch von meiner Sekretärin Ines Görg. Auch ihnen danke ich herzlich! Für Anregungen und Kritik sind Herausgeber sowie Autorinnen und Autoren dankbar (bitte an: [email protected]).

Hinweise zur Benutzung Nachweise von Judikatur und Literatur wurden in den Fußnoten auf ein Mindestmaß beschränkt. Die Rechtsprechung der Unionsgerichte wird nicht aus der amtlichen Sammlung zitiert, die in Buchform uU schwer zugänglich ist. Herausgeber sowie Autorinnen und Autoren sind davon überzeugt, dass auf die Judikatur der Unionsgerichte regelmäßig online zugegriffen wird (curia.europa.eu), wofür die Rechtssachennummer ausreicht; auf die Angabe des „European Case Law Identifier“ (ECLI) wurde aus diesem Grund ebenfalls verzichtet, zumal sich dieser noch nicht durchgesetzt hat. Was die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angeht, wird idR nur das erste von mehreren Aktenzeichen sowie möglichst die Fundstelle in der amtlichen Sammlung angegeben. Monographien und Sammelbände, aus denen in den Fußnoten zitiert wird, sind im „Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur“ nachgewiesen, welches die bibliographischen Angaben enthält und Auskunft über die in den Fußnoten verwendete Zitierweise gibt. Dementsprechend werden Aufsätze in Sammelbänden als solche nicht im „Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur“ nachgewiesen; sie werden in den Fußnoten idR lediglich durch Angabe des Herausgebers des Sammelbands sowie des Urhebers des einzel-

Vorwort | VII

nen Beitrags kenntlich gemacht. Beiträge in Festschriften, Festgaben, Gedächtnisschriften oä und in Zeitschriften werden (in einer Kurzform) unter Angabe des Erscheinungsjahres ausschließlich in den Fußnoten nachgewiesen. Chemnitz, im Herbst 2019

Matthias Niedobitek

VIII | Vorwort

Inhaltsübersicht – Autorinnen und Autoren | IX

Inhaltsübersicht – Autorinnen und Autoren Inhaltsübersicht – Autorinnen und Autoren Inhaltsübersicht – Autorinnen und Autoren

Abkürzungsverzeichnis | XIII Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur | XXXIII

Teil 1: Grundlagen der Union Prof. Dr. Matthias Niedobitek Technische Universität Chemnitz § 1 Vertragliche Grundlagen, rechtliche Gestalt, Institutionen der Union | 3 Dr. Roman Lehner, Akad. Rat a.Z. Georg-August-Universität Göttingen § 2 Mitgliedschaft in der Europäischen Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung | 205 Prof. Dr. Dr. h.c. Karl-Peter Sommermann Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer § 3 Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten | 257 Prof. Dr. Dieter Kugelmann Landesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Rheinland-Pfalz § 4 Grundrechte | 293 Prof. Dr. Wolfgang Weiß Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer § 5 Unionsrecht und nationales Recht | 361 Prof. Dr. Ines Härtel Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) § 6 Die Zuständigkeiten der Union | 447 Prof. Dr. Siegfried Magiera Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer § 7 Rechtsakte und Rechtssetzung der Union | 525 Prof. Dr. Werner Schroeder Leopold-Franzens-Universität Innsbruck § 8 Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz | 591

X | Inhaltsübersicht – Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Stefan Storr Wirtschaftsuniversität Wien § 9 Die Finanzverfassung der Union | 667 Prof. Dr. Walter Obwexer Leopold-Franzens-Universität Innsbruck § 10 Verstärkte Zusammenarbeit | 745 Prof. Dr. Joachim Gruber Westsächsische Hochschule Zwickau § 11 Methodische Besonderheiten des Unionsrechts | 775

Teil 2: Politiken der Union Prof. Dr. Peter Hilpold Leopold-Franzens-Universität Innsbruck § 12 Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft | 805 Prof. Dr. Hermann-Josef Blanke Universität Erfurt Dipl.-Jur. Robert Böttner L.L.M. Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten | 887 Priv.-Doz. Dr. Stephanie Jungheim-Hertwig Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Berlin Prof. Dr. Wolfgang Weiß Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts | 1115 Prof. Dr. Ludwig Gramlich Technische Universität Chemnitz § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union | 1239 Prof. Dr. Matthias Rossi Universität Augsburg § 16 Die Kohäsionspolitik der Union | 1333 Prof. Dr. José Martinez Georg-August-Universität Göttingen § 17 Die Gemeinsame Agrar- und Fischereipolitik der Union | 1391

Inhaltsübersicht – Autorinnen und Autoren | XI

Prof. Dr. Ulrike Davy Universität Bielefeld; Visiting Professor, Faculty of Law, University of Johannesburg, South Africa § 18 Sozialpolitik der Union | 1447 Prof. Dr. Astrid Epiney Universität Freiburg i.Ue. § 19 Die Umweltpolitik der Union | 1569 Prof. Dr. Kerstin von der Decken Christian-Albrechts-Universität zu Kiel § 20 Bildung, Kultur, Forschung und technologische Entwicklung | 1649 Prof. Dr. Eckhard Pache Julius-Maximilians-Universität Würzburg § 21 Die Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts | 1693 Prof. Dr. Hans-Joachim Cremer Universität Mannheim § 22 Das auswärtige Handeln der Union | 1845

Register | 1967

XII | Inhaltsübersicht – Autorinnen und Autoren

Abkürzungsverzeichnis | XIII

Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis A aA AAAPSS aaO AbfallR abgedr abl ABl Abs Abschn abw AD-GrundVO AdR aE AEMR AEUV AEU-Vertrag aF AfP AG AGG AGVO AJCL AJIL AKP AktG allgem allgM Alt aM AmEcRev AMG amtl Begr and Änd ÄndG Anh Anl Anm Ans ao AOK AöR ARB ArbG ArbR ArbuR

Abkürzungsverzeichnis https://doi.org/10.1515/9783110498349-204 anderer Ansicht Annals of the American Academy of Politial and Social Science am angegebenen Ort Zeitschrift für das Recht der Abfallwirtschaft abgedruckt ablehnend Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften/Europäischen Union Absatz Abschnitt abweichend Antidumping-Grundverordnung 2016/1036 Ausschuss der Regionen am Ende Allgemeine Erklärung für Menschenrechte Vertrag über die Arbeitsweise der EU Vertrag über die Arbeitsweise der EU alte Fassung Archiv für Presserecht Aktiengesellschaft/Arbeitsgemeinschaft Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung American Journal of Comparative Law American Journal of International Law Afrikanische, karibische und pazifische Staaten Aktiengesetz allgemein allgemeine Meinung Alternative andere(r) Meinung American Economic Review Arzneimittelgesetz amtliche Begründung anders Änderung Gesetz zur Änderung (von) Anhang Anlage Anmerkung(en) Ansicht außerordentlich Allgemeine Ortskrankenkasse Archiv des öffentlichen Rechts Assoziationsratsbeschluss Arbeitsgericht Arbeitsrecht Arbeit und Recht

https://doi.org/10.1515/9783110498349-204

XIV | Abkürzungsverzeichnis

ArchVR arg ARSP Art AS ASA ASEAN AS-GrundVO AStV AsylVfG AT AuA AufenthG Aufl AUR ausf AuslG AuWi AV AVR AWG AWV Az

Archiv des Völkerrechts argumentum Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie/Archives for Philosophy of Law and Social Philosophy Artikel Amtliche Sammlung Archiv für Schweizerisches Abgaberecht Association of South East Asian Nations Antisubventions-Grundverordnung 2016/1037 Ausschuss der Ständigen Vertreter Asylverfahrensgesetz Allgemeiner Teil Arbeit und Arbeitsrecht Aufenthaltsgesetz Auflage Agrar- und Umweltrecht ausführlich Ausländergesetz Außenwirtschaft (Fachzeitschrift) Amsterdamer Vertrag Archiv des Völkerrechts Außenwirtschaftsgesetz Außenwirtschaftsverordnung Aktenzeichen

B bad-württ BAG BALM BAnz BAT BauGB BayVBl BayVerfGH BayVGH BB BBankG Bd Bde begr Begr Beil Bek Bekl Bem ber bes Beschl betr

baden-württembergisch Bundesarbeitsgericht Bundesanstalt für Landwirtschaftliche Marktordnung Bundesanzeiger Bundesangestelltentarifvertrag Baugesetzbuch Bayerische Verwaltungsblätter Bayrischer Verfassungsgerichtshof Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Betriebs-Berater Gesetz über die Deutsche Bundesbank Band Bände begründet Begründung/Begründer (iSv Urheber) Beilage Bekanntmachung Beklagter Bemerkung berichtigt besonders, besondere Beschluss betreffend

Abkürzungsverzeichnis | XV

BetrVG Bf BFH BGB BGBl BGH BGHZ BImSchG BIP bish BIZ BKartA BKK BKR BLE BMAS BMBF BMEL BMELV BMF BMWi BNatSchG BNE BörsenZ BR BRAO BRD BR-Drs BRZ BS BSG BSHG Bsp BSP bspw BT BT-Drs Buchst bulg BullBReg BullEG BullEU BV BVerfG BVerfGE BVerfGG BVers BVerwG

Betriebsverfassungsgesetz Beschwerdeführer Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des BGH in Zivilsachen Bundes-Immissionsschutzgesetz Bruttoinlandsprodukt bisher(ige) Bank für Internationalen Zahlungsausgleich Bundeskartellamt Betriebskrankenkasse Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung Bundesministerium für Arbeit und Soziales Bundesministerium für Bildung und Forschung Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (alte Bezeichnung) Bundesministerium der Finanzen Bundesministerium für Wirtschaft und Energie Bundesnaturschutzgesetz Bruttonationaleinkommen Börsenzeitung Bundesrat Bundesrechtsanwaltsordnung Bundesrepublik Deutschland Bundesrats-Drucksache Zeitschrift für Beihilfenrecht Beamtenstatut Bundessozialgericht Bundessozialhilfegesetz Beispiel(e) Bruttosozialprodukt beispielsweise Bundestag Bundestags-Drucksache Buchstabe bulgarisch Bulletin der Bundesregierung Bulletin der Europäischen Gemeinschaften Bulletin der Europäischen Union Bundesverfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft Bundesverfassungsgericht amtliche Sammlung der Entscheidungen des BVerfG Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesversammlung Bundesverwaltungsgericht

XVI | Abkürzungsverzeichnis

BVerwGE B-VG bzgl bzw C ca CBC CCBM CD CDE CELAD CEN CENELEC CETA

amtliche Sammlung der Entscheidungen des BVerwG Bundesverfassungsgesetz (Österreich) bezüglich beziehungsweise

CJEL CLS CMLRep CMLRev CO COM CONV CPCC CSD CTBTO CWÜ CYELP

circa Cross-Border Cooperation (Grenzübergreifende Zusammenarbeit) Correspondent Central Banking Model Collections of Decisions, Sammlung der Entscheidungen der EKMR Cahiers de droit européen European Committee to Combat Drugs Comité Européen de Normalisation Comité Européen de Normalisation Électrotechnique Comprehensive Economic and Trade Agreement, auch Canada-EU Trade Agreement Columbia Journal of European Law Continious Linked Settlement Common Market Law Reports Common Market Law Review Kohlenmonoxid Commission (Europäische Kommission) Dokument des Europäischen Konvents Civilian Planning and Conduct Capability Central Securities Depository Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty Organization C-Waffen-Übereinkommen Croatian Yearbook of European Law and Policy

D d DawI DB DBV DDR DEA dens ders DFL DG ECFIN DGErhG DGL dgl dh dies div DNA Dok DÖV

der, des Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse Der Betrieb Deutscher Bauernverband Deutsche Demokratische Republik Direktion für europäische Angelegenheiten denselben derselbe Deutsche Fußball Liga (Ligaverband) Directorate General for Economic and Financial Affairs Dauergrünlanderhaltungsgesetz Dauergrünland dergleichen das heißt dieselben diverse Desoxyribonukleinsäure Dokument Die Öffentliche Verwaltung

Abkürzungsverzeichnis | XVII

DR Drs DRV DSB DStJG DSU

DZWIR

Décisions et Rapports der Europäischen Kommission für Menschenrechte Drucksache Deutscher Raiffeisenverband Dispute Settlement Body Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft Understanding on Rules and Procedures Governing the Settlement of Disputes (Anhang 2 zum WTO-Übk) deutsch Deutsche Telekom AG Deutschland Datenschutz und Datensicherheit Durchführungsverordnung Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Verwaltungspraxis Direktwahlakt = Beschluss und Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments Deutsche Zeitschrift für Wirtschafts- und Insolvenzrecht

E E EA EAD EAG EAGFL EAGV EAR EBA ebd EBGT EBWE EC ECA ECB ECHR ECLR ECN ECOFIN ECTS ECU ECVET ed(s) EDA EEA EEF EELR EFRE EFSF EFSM EFTA

Entscheidung Europa-Archiv Europäischer Auswärtiger Dienst Europäische Atomgemeinschaft Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft EAG-Vertrag Europäische Agentur für den Wiederaufbau European Banking Authority ebenda European Border Guard Team Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung European Community European Competition Authorities European Central Bank European Court Of Human Rights European Competition Law Review European Competition Network Rat für Wirtschaft und Finanzen European Credit Transfer System Europäische Währungseinheit/European Currency Unit European Credit System for Vocational Education and Training editor(s)/edition Eidgenössische Departements für auswärtige Angelegenheiten Einheitliche Europäische Akte Europäischer Entwicklungsfonds European Energy and Environmental Law Review Europäischer Fonds für regionale Entwicklung Europäische Finanzstabilisierungsfazilität Europäischer Finanzstabilisierungsmechanismus Europäische Freihandelsassoziation (European Free Trade Association)

dt DTAG Dtl DuD DurchführungsVO DVBl DVP DWA

XVIII | Abkürzungsverzeichnis

EFWZ EG EGBGB EGF EGFL EGKS EGKSV EGMR EGV EHRLR EIB Einf Einl EJB EJE EJG EJIL EJML EJN EJSS EKMR EL ELA ELER ELJ ELR ELRev ELSJ EMFF Emory ILR EMRK endg engl ENISA ENKP ENP entspr Entw EnzEur EP EPA EPC EPL EPZ ERF

Europäischer Fonds für währungspolitische Zusammenarbeit Europäische Gemeinschaft(en) Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Europäischer Fonds für die Anpassung an die Globalisierung Europäischer Garantiefonds für die Landwirtschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft European Human Rights Law Review Europäische Investitionsbank Einführung Einleitung Eurojust-Beschluss European Journal of Education Eurojust-Gesetz European Journal of International Law European Journal of Migration and Law Europäisches Justizielles Netz European Journal of Social Security Europäische Kommission für Menschenrechte Ergänzungslieferung Emergency Liquidity Assistance Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums European Law Journal European Law Reporter European Law Review Espace de liberté, de sécurité et de justice (siehe RFSR) Europäischer Meeres- und Fischereifonds Emory International Law Review Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention) endgültig englisch Europäische Agentur für Netz- und Informationssicherheit Europäisches Netz für Kriminalprävention Europäische Nachbarschaftspolitik entsprechend(e,r) Entwurf Enzyklopädie Europarecht, 10 Bände, Gesamtherausgeber Armin Hatje, Peter-Christian Müller-Graff Europäisches Parlament Europäische Polizeiakademie European Payments Council European Public Law Europäische Politische Zusammenarbeit Europäischer Raum der Forschung

Abkürzungsverzeichnis | XIX

EQR ERE ErgBd Erl ERMS ERT Erwgr ES ESC ESF ESFS ESI ESM ESMFinG ESMV ESRB EStA EStAL EStG ESZB ESZB-Satzung etc ETS ETSI ETZ EU BAM EU NAVFOR EU EUCO EuConst EuG EuGH EuGH-Satzung EuGRZ EuGVÜ

EuGVVO/EuGVO EUMC EUMS EUPOL Eur J Law Econ EUR EuR EURATOM EUREK

Europäischer Qualifikationsrahmen Europäische Rechnungseinheit Ergänzungsband Erläuterung(en) Eurosystem Reserve Management Services Elliniki Radiophonia Tiléorassi (Griechischer Rundfunk und Fernsehen) Erwägungsgrund Entscheidungssammlung European Social Charter Europäischer Sozialfonds European System of Financial Supervision Europäische Struktur- und Investitionsfonds Europäischer Stabilitätsmechanismus Gesetz zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus Vertrag über die Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus European Systemic Risk Board Europäische Staatsanwaltschaft European State Aid Law Quarterly Einkommensteuergesetz Europäisches System der Zentralbanken Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank et cetera European Treaty Series European Telecommunications Standards Institute Europäische Territoriale Zusammenarbeit EU Border Assistance Mission EU Naval Force Europäische Union Europäischer Rat (European Council), Abkürzung auf Dokumenten European Constitutional Law Review „Gericht“ (der Europäischen Union) Gerichtshof; vgl auch → Gerichtshof der EU Satzung des Gerichtshofes der Europäischen Union Europäische Grundrechte-Zeitschrift Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27.10.1968 (BGBl. 1972 II 774) Verordnung des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen European Military Committee European Union Military Staff European Union Police Mission European Journal of Law and Economics Euro (Währung) Europarecht (Zeitschrift) Europäische Atomgemeinschaft Europäisches Raumentwicklungskonzept

XX | Abkürzungsverzeichnis

Eurojust europ EuropawahlG EuropawahlRL Europol/EUROPOL EUROSUR EurUP EUSF EU-SILC EUTM EUV EuVTVO EuZA EUZBBG

EuZW EVTZ EWG EWGV EWI EWIV EWR EWS ex EZB EZFF

Einheit für justizielle Zusammenarbeit der Europäischen Union europäisch Europawahlgesetz Europawahlrichtlinie Europäisches Polizeiamt European Border Surveillance System Zeitschrift für Europäisches Umwelt- und Planungsrecht Solidaritätsfonds der Europäischen Union European Union Statistics on Income and Living Conditions European Union Training Mission Vertrag über die Europäische Union Europäische Vollstreckungstitelverordnung Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der EU Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der EU Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäischer Verbund für territoriale Zusammenarbeit Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Europäisches Währungsinstitut Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung Europäischer Wirtschaftsraum Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht ehemalige(r,s) Europäische Zentralbank Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung

F f FAO FAZ FCE FD-StR ff FFH FG FGG FGO FIAF FIW FKVO Fn Fordham ILJ FPÖ FPR FR FRAN

folgende Food and Agriculture Organization of the United Nations Frankfurter Allgemeine Zeitung Forum Constitutionis Europae Fachdienst Deutsches Steuerrecht fortfolgende Flora-Fauna-Habitat Festgabe/Finanzgericht Gesetz über die Freiwillige Gerichtsbarkeit Finanzgerichtsordnung Finanzinstrument für die Ausrichtung der Fischerei Forschungsinstitut für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb eV Fusionskontrollverordnung Fußnote Fordham International Law Jorunal Freiheitliche Partei Österreichs Familie Partnerschaft Recht Finanz-Rundschau (Ertragssteuerrecht) Frontex Risk Analysis Network

EUZBLG

Abkürzungsverzeichnis | XXI

FRAND

FS FSC FTE

Fair, Reasonable and Non-Discriminatory (in Bezug auf Lizenzbedingungen für Ausschlussrechte) französisch Freisetzungsrichtlinie Agence européenne pour la gestion de la coopération opérationnelle aux frontières extérieures Festschrift Financial Stability Committee Forschung und technologische Entwicklung

G G8/G20 GA GAM GAOR GAP GASP GATS GATT GBl GBO GD geänd GEAS GEK gem gen Gerichtshof der EU Ges GF GFP GG ggf G.I.B. GKI glA GLJ GmbH GmbHR GMBl GMO GO GöD GO-ErwRatEZB GO-EurRat GPR GRCh grds grundl

Gruppe der Acht/Gruppe der Zwanzig Generalanwalt/Generalanwältin Groupe d’Assistance Mutuelle General Assembly Official Records Gemeinsame Agrarpolitik Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik General Agreement on Trade in Services General Agreement on Tariffs and Trade Gesetzblatt Grundbuchordnung Generaldirektion geändert Gemeinsames Europäisches Asylsystem Gemeinsames Europäisches Kaufrecht gemäß genannt Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art 19 EUV Gesetz Genfer Flüchtlingskonvention Gemeinsame Fischereipolitik Grundgesetz gegebenenfalls Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH Gemeinsame Kontrollinstanz gleicher Ansicht German Law Journal Gesellschaft mit beschränkter Haftung GmbH Rundschau Gemeinsames Ministerialblatt Gemeinsame Marktordnung Geschäftsordnung Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union Geschäftsordnung des Erweiterten Rates der EZB Geschäftsordnung des Europäischen Rates Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht Charta der Grundrechte der EU grundsätzlich grundlegend

franz FreisRL FRONTEX

XXII | Abkürzungsverzeichnis

GRUR Int GRUR Prax GRUR GS GSR GSVP GSWS GU GV GVBl GVG GVNRW GVO GVOBl GWB GWP GYIL Gz H hA HABM Halbs HandwO HarvILJ Hdb HER Hervorh hess HFR HGR HHI Hinw HKMMG hL hM HO HRG HRLJ HRRS Hrsg hrsg Hs HV

Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Internationaler Teil Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Praxis im Immaterialgüterund Wettbewerbsrecht Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Gedächtnisschrift Gemeinsamer Strategischer Rahmen Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik Gemeinschaftsschnellwarnsystem für Lebensmittel Gemeinschaftsunternehmen Gemeinsame Verfügung (mehrerer Ministerien) Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen Grundstückverkehrsordnung bzw Gruppenfreistellungsverordnung bzw gentechnisch veränderte Organismen Gesetz- und Verordnungsblatt Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Gesellschaft. Wirtschaft. Politik (Zeitschrift) German Yearbook of International Law Geschäftszahl

herrschende Ansicht Europäisches Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt Halbsatz Handwerksordnung Harvard International Law Journal Handbuch Handbuch des Europäischen Rechts Hervorhebung hessisch Humboldt Forum Recht Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Herausgeber Merten / Papier Herfindahl-Hirschmann-Index Hinweis(e) Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff (s Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur) herrschende Lehre herrschende Meinung Haushaltsordnung Hauptrefinanzierungsgeschäft Human Rights Law Journal Online-Zeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht Herausgeber herausgegeben Halbsatz Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik

Abkürzungsverzeichnis | XXIII

I ICCPR ICI ICJ ICLQ ICYT idF idR idS IE iErg ieS ifo IGH iHv IJMGR IJSW ILC ILM ILO ILOAT im Allg IMI InfAuslR INI inkl insb insg Interpol IntGesR IntVG IntWR InVeKoS IOL Rev IPA IPbürgR IPE IPR IPrax IPwirtR iR iRd IRG iRv iS(v) iSd iSe iVm

International Covenant on Civil and Political Rights Imperial Chemical Industries International Court of Justice International and Comparative Law Quarterly International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia in der Fassung in der Regel in diesem Sinne Industrieemissionen im Ergebnis im engeren Sinne Institut für Wirtschaftsforschung Internationaler Gerichtshof in Höhe von International Journal on Minority and Group Rights International Journal of Social Welfare International Law Commission International Legal Materials International Labour Organization Verwaltungsgericht der Internationalen Arbeitsorganisation im Allgemeinen Internal Market Information System Informationsbrief Ausländerrecht Initiativberichte des Europäischen Parlaments inklusive insbesondere insgesamt Internationale kriminalpolizeiliche Organisation Internationales Gesellschaftsrecht Integrationsverantwortungsgesetz Internationales Wirtschaftsrecht (Autor Herdegen) Integriertes Verwaltungs- und Kontrollsystem International Organizations Law Review Instrument for Pre-Accession Assistance (Instrument für Heranführungshilfe) Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Ius Publicum Europaeum Internationales Privatrecht Praxis des internationalen Privatrechts Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte im Rahmen im Rahmen des Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen im Rahmen von im Sinne (von) im Sinne des/der im Sinne einer/eines in Verbindung mit

XXIV | Abkürzungsverzeichnis

iVz iW IWF IWRZ iwS iZw

im Verhältnis zu im Wesentlichen Internationaler Währungsfonds Zeitschrift für Internationales Wirtschaftsrecht in weiterem Sinne im Zweifel

J JA JASPERS JBl JCMS JEEPL JEFTA JEPM jew Jhd JI JoJZG JöR JSt JTDE JURA JuS JWT JZ

Juristische Arbeitsblätter Joint Assistance to Support Projects in European Regions Juristische Blätter Journal of Common Market Studies Journal for European Environmental Planning & Law Japan-EU Free Trade Agreement Journal of Environmental Planning and Management jeweils/jeweilige Jahrhundert Justiz und Inneres Journal der juristischen Zeitgeschichte Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Journal für Strafrecht Journal des Tribunaux – Droit européen Juristische Ausbildung Juristische Schulung Journal of World Trade Juristenzeitung

K Kap KF KfW KfZ KJ Kl km KMU KOM Komm KommunalwahlRL KonsG krit KritV KSE KSZE KWahlG KWG

Kapitel Kohäsionsfonds Kreditanstalt für Wiederaufbau Kraftfahrzeug Kritische Justiz Kläger Kilometer Kleine und mittlere Unternehmen Europäische Kommission Kommentar Kommunalwahlrichtlinie Konsulargesetz kritisch Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Kölner Schriften zum Europarecht Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Kommunalwahlgesetz Kreditwesengesetz

L LA

Liber Amicorum

Abkürzungsverzeichnis | XXV

LeGes lfd LG LIEI lit Lit LL LRG LS LSG lt Ltd

Mitteilungsblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Gesetzgebung (SGG) und der Schweizerischen Evaluationsgesellschaft (SEVAL) laufend Landgericht (Deutschland)/Landesgericht (Österreich) Legal Issues of Economic Integration Buchstabe Literatur Leitlinie(n) längerfristiges Refinanzierungsgeschäft Leitsatz Landessozialgericht laut Limited Company

M m m Hinw m krit Anm m Vw m zust Anm Maastr JECL maW max mbH mE MedR Mercosur Mio MJ MLR MMR mN MNP MoU MPEPIL Mrd MS MüKo Münch Hdb GesR MünzG M-V mwN MwSt

mit mit Hinweis(en) mit kritischer Anmerkung (von) mit Verweis mit zustimmender Anmerkung Maastricht Journal of European and Comparative Law mit anderen Worten maximal mit beschränkter Haftung meines Erachtens Medizinrecht (Zeitschrift) Mercado Común del Sur, Gemeinsamer Markt des Südens Million(en) Maastricht Journal (of European and Comparative Law) Modern Law Review MultiMedia und Recht mit Nachweisen Milieu en Natuur Planbureau, Niederländische Umweltagentur Memoranda of Understanding Max Planck Encyclopedia of Public International Law Milliarde(n) Mitgliedstaat(en) Münchener Kommentar (s Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur) Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts Münzgesetz Mecklenburg-Vorpommern mit weiteren Nachweisen Mehrwertsteuer

N Nachw NATO NatSchG NdsVBl

Nachweis(e) North Atlantic Treaty Organization Naturschutzgesetz Niedersächsische Verwaltungsblätter

XXVI | Abkürzungsverzeichnis

NEET nF NGO NJW No Nov NQHR Nr NR NRW NSRP NStZ NuR NUTS NVwZ NVwZ-RR NYIL NZA NZB NZG NZKart NZS NZZ O o O oa oä OAS OECD og oJ ÖJZ OLAF OLG OMK OMT ÖP ORDO öst ÖstGewO OSZE oV ÖVfGH OVG ÖVP OVWC

Not in Education, Employment or Training neue Fassung non-governmental organisation(s) Neue Juristische Wochenschrift number (Nummer) Novelle Netherlands Quarterly of Human Rights Nummer Nationalrat Nordrhein-Westfalen Nationaler Strategischer Rahmenplan Neue Zeitschrift für Strafrecht Natur und Recht Systematik der Gebietseinheiten für die Statistik Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht – Rechtsprechungsreport Netherlands Yearbook of International Law Neue Zeitschrift für Arbeits -und Sozialrecht Nationale Zentralbank Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht Neue Zeitschrift für Kartellrecht Neue Zeitschrift für Sozialrecht Neue Zürcher Zeitung

oben Ordnung oben angegeben oder ähnlich Organization of American States Organization for Economic Cooperation and Development oben genannt(e,r,s) ohne Jahr Österreichische Juristenzeitung Office Européen de Lutte Anti-Fraude – Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung Oberlandesgericht offene Methode der Koordinierung Outright Monetary Transactions Östliche Partnerschaft Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft österreichisch österreichische GewO Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ohne Verfasser Verfassungsgerichtshof Österreich Oberverwaltungsgericht Österreichische Volkspartei Organisation für das Verbot chemischer Waffen

Abkürzungsverzeichnis | XXVII

P p.m. PET PESC phG PJZS Pkt Pkw Prot PSD PSK

pro memoria Polyäthylenterephtalat Politique étrangère et de sécurité commune (siehe GASP) persönlich haftender Gesellschafter Polizeiliche und Justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen Punkt Personenkraftwagen Protokoll Payment Services Directive Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee

Q QCC

Qualifying Commonwealth Citizen

R R.E.D.E. RA RabelsZ RABIT RAussch RB RbEuHb rd RdA RdE RdErl RDI RdJB Rdschr RDUE RECIEL Reg Rep Res resp Rev RFSR RGBl REDE RH rh-pf RIW RJD RK RL RL-E RMC RMCUE

Revue Européenne de Droit de l’Environnement Rechtsanwalt Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Rapid Border Intervention Teams Rechtsausschuss Rahmenbeschluss EU-Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl rund Recht der Arbeit Recht der Energiewirtschaft Runderlaß Rivista di Diritto Internazionale Recht der Jugend und des Bildungswesens Rundschreiben Revue du Droit de l’Union Européenne Review of European, Comparative & International Environmental Law Regierung Reports (of Judgments and Decisions) Resolution respektive Review Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Reichsgesetzblatt Revue Européenne de Droit de l’Environnement Rechnungshof rheinland-pfälzisch Recht der internationalen Wirtschaft Reports of Judgement and Decision Regierungskonferenz Richtlinie Richtlinien-Entwurf Revue du Marché Commun Revue du Marché Commun et de l’Union européenne

XXVIII | Abkürzungsverzeichnis

RMG Rn Rs Rspr Rspr-Nachw RTDE RUDH Rz S sa so su S s sächs sachs-anh SAM Sart SCE SchlA SDR SDÜ SE SEC SEK SEPA SGb SGB SGG SH SIEC SIGMA SIPE SIS SJER SKSV SLC Slg SMP SN sog Sp SPE Spstr SRM SSM

Rengeling/Middeke/Gellermann (Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur) Randnummer Rechtssache Rechtsprechung Rechtsprechungsnachweise Revue Trimestrielle de Droit Européen Revue Universelle des Droits de l’Homme Randziffer

siehe auch siehe oben siehe unten Seite, Satz siehe sächsisch sachsen-anhaltinisch State Aid Modernisation Sartorius Societas Cooperativa Europaea, Europäische Genossenschaft Schlussantrag/-anträge Special drawing right Schengener Durchführungsübereinkommen Societas Europaea, Europäische Aktiengesellschaft Dokumente der Kommission (Generalsekretariat); s auch SEK Dokumente der Kommission (Generalsekretariat); s auch SEC Single European Payment Area Die Sozialgerichtsbarkeit Sozialgesetzbuch Sozialgerichtsgesetz Schleswig-Holstein Significant Impediment to Effective Competition Support for Improvement in Governance and Management Societas Iuris Publici Europaei Schengener Informationssystem Schweizerisches Jahrbuch für Europarecht Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschaftsund Währungsunion Substantial Lessening of Competition Amtliche Sammlung der Entscheidungen des EuGH Securities Markets Programme Standard Note sogenannt(e) Spalte Societas Privata Europaea, Europäische Privatrechtsgesellschaft Spiegelstrich, Gedankenstrich Single Resolution Mechanism Single Supervisory Mechanism

Abkürzungsverzeichnis | XXIX

SSNIP SSS st StGB StR str stRspr StuB Stud L R StuW StWG SÜ SWP SZ SZIER SZS

T TEU TFEU TRIPS TTIP Tz TzBfG U u uä ua UAbs uam UBC Überbl Übk UCLAF UdSSR UEFA UK ULG üM umstr UN UNAT UNESCO UNO unstr UNTS

Smal but Significant and Non-transitory Increase in Price Securities Settlement System ständige(s, r) Strafgesetzbuch Steuerrecht; Ständerat streitig, strittig ständige Rechtsprechung Steuern und Bilanzen Studies Law Review Steuer und Wirtschaft Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft Schengener Übereinkommen Stabilitäts- und Wachstumspakt, Stiftung Wissenschaft und Politik Süddeutsche Zeitung Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht Schweizerische Zeitschrift für Sozialversicherung und berufliche Vorsorge

Treaty on European Union Treaty on the Functioning of the European Union Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights Transatlantic Trade and Investment Partnership Textziffer Teilzeit- und Befristungsgesetz

und, unten und ähnliche unter anderem, und andere Unterabsatz und anderes mehr United Brands Company Überblick Übereinkommen Dienststelle für die Koordinierung der Betrugsbekämpfung Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Union of European Football Associations United Kingdom, Vereinigtes Königreich Überseeisches Land oder Gebiet überwiegende Meinung umstritten United Nations United Nations Administrative Tribunal (Verwaltungsgericht der Vereinten Nationen) United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization United Nations Organization unstreitig/unstrittig United Nations Treaty Series

XXX | Abkürzungsverzeichnis

unv uö UPP UPR Urt US USt UStG usw UTR uU uVm UVP UWG uwN V v VA va Var VB VBlBW verb Rs Verf VerfGH VerfGH BW VerfGH VerfO EMRK VerfO EuG VerfO EuGH VerfO GöD VerfO VerfVO Vers VersR VerwArch Vf VfGH VfSlg VG VGH vgl vH VJTL VK VN VO

unveröffentlicht und öfter Upwards Pricing Pressure Umwelt- und Planungsrecht Urteil United States Reports (Cases Adjuged in the Supreme Court) Umsatzsteuer Umsatzsteuergesetz und so weiter Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts unter Umständen und Verschiedenes mehr Umweltverträglichkeitsprüfung Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb und weitere(n) Nachweise(n)

vom/von; versus Verwaltungsakt vor allem Variante Verfassungsbeschwerde Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg verbundene Rechtssache Verfassung, Verfasser Verfassungsgerichtshof Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg Verfassungsgerichtshof Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Verfahrensordnung des Europäischen Gerichts Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs Verfahrensordnung des Gerichts für den öffentlichen Dienst Verfahrensordnung Verfahrensverordnung (VO 659/1999) Versicherung Versicherungsrecht Verwaltungsarchiv Verfasser(in) Verfassungsgerichtshof Österreich Amtliche Sammung der Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs Österreichs Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vergleiche vom Hundert Vanderbilt Journal of Transnational Law Vereinigtes Königreich Vereinte Nationen Verordnung

Abkürzungsverzeichnis | XXXI

VO-E Vol Vol-% Voraufl Vorbem VR vs VSKS VSSR vTI VuR VVDStRL VVE VVE-Entw VwGO VwVfG W w w Nachw b Wash U Global WBL WEU WHO WissR WiVerw WKM WM WP WPA WpÜG WRP WSA WSK (-Rechte) WTO WuB WÜK WuW WVK

Verordnungs-Entwurf Volume (Band) Volumenprozent Vorauflage Vorbemerkung Völkerrecht (Autor Herdegen) versus Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschaftsund Währungsunion, kurz Europäischer Fiskalpakt Vierteljahresschrift für Sozialrecht von Thünen-Institut Verbraucher und Recht Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Vertrag über eine Verfassung für Europa Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz

WWU

weitere(r) weitere Nachweise bei Washington University Global Wirtschaftsrechtliche Blätter Westeuropäische Union World Health Organization Wissenschaftsrecht Wirtschaft und Verwaltung (Zeitschrift) Wechselkursmechanismus Wertpapier-Mitteilungen – Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht Wahlperiode Ausschuss für Wirtschaftspolitik Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz Wettbewerb in Recht und Praxis Wirtschafts- und Sozialausschuss wirtschaftliche, soziale und kulturelle (Rechte) World Trade Organisation Entscheidungssammlung zum Wirtschafts- und Bankrecht Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen Wirtschaft und Wettbewerb Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge („Wiener Vertragsrechtskonvention“) Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge zwischen Staaten und Internationalen Organisationen oder zwischen Internationalen Organisationen Wirtschafts- und Währungsunion

Y YB YEEL

Yearbook of the European Convention on Human Rights Yearbook of European Environmental Law

WVKIO

XXXII | Abkürzungsverzeichnis

YEL YLJ Z z z Zt zahlr ZaöRV ZAP ZAR zB ZBJI ZD ZESAR ZEuP ZEuS ZfA ZfBR ZfRV ZFSH/SGB ZfV ZfVP ZG ZGR ZHR ZIAS ZIB Ziff ZIP ZIS zit ZJS ZKL ZLR ZP ZParl ZPO ZR ZRP zsfd zT ZUM ZUR zust zutr ZVglRWiss ZWeR zZ

Yearbook of European Law Yale Law Journal

zum zur Zeit zahlreich Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für die Anwaltspraxis Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik zum Beispiel Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres Zeitschrift für Datenschutz Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Europarechtliche Studien Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für deutsches und internationales Baurecht Zeitschrift für Europarecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung Zeitschrift für die sozialrechtliche Praxis Zeitschrift für Verwaltungsrecht Zeitschrift für vergleichende Politikwissenschaft Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht Zeitschrift für Internationale Beziehungen Ziffer Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik zitiert Zeitschrift für das Juristische Studium Zeitschrift für Kulturtechnik und Landentwicklung Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht Zusatzprotokoll Zeitschrift für Parlamentsfragen Zivilprozessordnung Revision in Zivilsachen Zeitschrift für Rechtspolitik zusammenfassend zum Teil Zeitschrift für Urheber und Medienrecht Zeitschrift für Umweltrecht zustimmend zutreffend Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft Zeitschrift für Wettbewerbsrecht zur Zeit

Literaturverzeichnis | XXXIII

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur Literaturverzeichnis Literaturverzeichnis https://doi.org/10.1515/9783110498349-205 Abels, Gabriele/Eppler, Annegret (Hrsg) Auf dem Weg zum Mehrebenenparlamentarismus?, 2011. (zit: Abels/Eppler/Bearbeiter) Achenbach, Jelena von Demokratische Gesetzgebung in der EU, 2014. (zit: Achenbach) Achermann, Alberto/Bieber, Roland/Epiney, Astrid/Wehner, Ruth (Hrsg) Schengen und die Folgen, 1995. (zit: Achermann/Bieber/Epiney/Wehner/Bearbeiter) Ackrill, Robert The Common Agricultural Policy, 2000. (zit: Ackrill) Adolf, Jörg Kohäsionspolitik und Gemeinwohlorientierung der Europäischen Gemeinschaft, 1999. (zit: Adolf) Ahlfeld, Martin Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, 1997. (zit: Ahlfeld) Ahlfeldt, Gabriel Europa, Binnenmarkt und Liberalisierung, 2006. (zit: Ahlfeldt) Alemann, Florian von Die Handlungsform der interinstitutionellen Vereinbarung, 2006. (zit: F vAlemann) Alemann, Sven von Der Rat der Europäischen Union, 2009. (zit: S vAlemann) Alexy, Robert Theorie der Grundrechte, 1985. (zit: Alexy) Alland, Denis/Rials, Stéphane (Hrsg) Dictionnaire de la culture juridique, 2003. (zit: Alland/Rials/ Bearbeiter) Altmeyer, Sabine Vertrauensschutz im Recht der Europäischen Union und im deutschen Recht: Analyse und Vergleich anhand der Rechtsprechung des EuGH und der deutschen Fachgerichte, 2003. (zit: Altmeyer) Altwicker, Tillmann Menschenrechtlicher Gleichheitsschutz, 2011. (zit: Altwicker) Andermann, Jürgen Territorialitätsprinzip im Patentrecht und Gemeinsamer Markt, 1975. (zit: Andermann) Arnauld, Andreas von (Hrsg) Enzyklopädie Europarecht, Bd 10: Europäische Außenbeziehungen, 2014. (zit: vArnauld EnzEuR 10/Bearbeiter) Arnauld, Andreas von/Hufeld, Ulrich (Hrsg) Systematischer Kommentar zu den Lissabon-Begleitgesetzen, 2. Aufl, 2018. (zit: vArnauld/Hufeld/Bearbeiter) Arndt, Birger Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht, 2009. (zit: Arndt) Arndt, Hans-Wolfgang/Fischer, Kristian/Fetzer, Thomas Fälle zum Europarecht, 8. Aufl, 2015. (zit: Arndt/Fischer/Fetzer) Arnim, Hans Herbert von 9.053 Euro Gehalt für Europaabgeordnete? Der Streit um das europäische Abgeordnetenstatut, 2004. (zit: vArnim) Arzoz, Xabier (Hrsg) Respecting Linguistic Diversity in the European Union, 2008. (zit: Arzoz/Bearbeiter) Ascher, Annika Sozialleistungen für Unionsbürger, 2017. (zit: Ascher) Atilgan, Canan/Klein, Deborah EU-Integrationsmodelle unterhalb der Mitgliedschaft, 2006. (zit: Atilgan/Klein) Auby, Jean-Bernard/Dutheil de la Rochère, Jacqueline (Hrsg) Traité de droit administratif européen, 2. Aufl, 2014. (zit: Auby/Dutheil de la Rochère) Baach, Florian Parlamentarische Mitwirkung in Angelegenheiten der Europäischen Union, 2008. (zit: Baach) Baasner, Frank/Seidendorf, Stefan (Hrsg.) Jeder für sich oder alle gemeinsam in Europa?, 2013 (zit: Baasner/Seidendorf/Bearbeiter) Bachtler, John/Mendez, Carlos/Wishlade Fiona EU Cohesion Policy and European Integration: The dynamics of EU budget and regional policy reforms, 2013. (zit: Bachtler/Mendez/Wishlade) Baldwin, Richard/Wyplosz, Charles The Economics of European Integration, 5. Aufl, 2015. (zit: Baldwin/Wyplosz)

https://doi.org/10.1515/9783110498349-205

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Teil 1: Grundlagen der Union

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Gliederungsübersicht I. Völkerrechtliche Verträge als Grundlage der Union 1. Die Integrationsverträge als völkerrechtliche Verträge a) Der völkerrechtliche Geltungsgrund der Unionsrechtsordnung b) Die Reichweite der Autonomie der Unionsrechtsordnung 2. Kategorien von Integrationsverträgen (eine kurze Vertragsgeschichte) a) Überblick b) Gründungsverträge c) Änderungsverträge d) Beitrittsverträge e) Auflösungsverträge f) Austrittsverträge g) Exkurs: Völkerrechtliche Verträge der Mitgliedstaaten jenseits der Integrationsverträge 3. Die Vertragsgrundlage der Union nach Lissabon a) Überblick b) Der Vertrag von Lissabon als Änderungs-, Gründungs- und Auflösungsvertrag c) Das Verhältnis zwischen EUV und AEUV d) Die Charta der Grundrechte als Bestandteil des primären Unionsrechts e) Das Verhältnis zwischen der Union und der Euratom 4. Merkmale und Bestandteile der Verträge a) Die Urheber der Verträge b) Urschrift – Sprachfassungen c) Präambeln d) Die operativen Bestimmungen der Verträge e) Protokolle und Anhänge f) Die Bedeutung der Schlussakte – Die Rolle von Erklärungen g) Ungeschriebene Bestandteile der Verträge h) Besonderheiten von Beitrittsverträgen 5. Inkrafttreten und Publikation der Verträge 6. Vertragsänderungen a) Allgemeines b) Die Urheber von Vertragsänderungen aa) Die Mitgliedstaaten bb) Die Union c) Rechtliche Grenzen von Vertragsänderungen d) Justiziabilität 7. Berichtigung und Konsolidierung der Vertragstexte 8. Zur Frage einer Normenhierarchie im primären Unionsrecht II. Die rechtliche Gestalt der Union 1. Rechtspersönlichkeit der Union a) Die Union als neue Rechtspersönlichkeit b) Die rechtlichen Dimensionen der Rechtspersönlichkeit der Union

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Rn 1 1 1 7 13 13 14 16 22 25 28 30 35 35 36 44 47 51 56 57 59 63 65 67 70 72 79 83 87 87 91 91 96 99 103 105 109 115 116 116 117

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c) Rechtspersönlichkeit und Organ d) Das Verhältnis der Union zu weiteren primärrechtlichen Rechtspersönlichkeiten 2. Merkmale der Unionsrechtsordnung a) Der supranationale Charakter der Unionsrechtsordnung b) Der „Verfassungscharakter“ der Unionsrechtsordnung c) Geltungsdimensionen der Unionsrechtsordnung aa) Allgemeines bb) Der persönliche Geltungsbereich der Unionsrechtsordnung cc) Der räumliche Geltungsbereich der Unionsrechtsordnung dd) Der sachliche Geltungsbereich der Unionsrechtsordnung ee) Der zeitliche Geltungsbereich der Unionsrechtsordnung 3. Das Wesen der Union a) Die Union als Integrationsgemeinschaft – Ziele der Union b) Die Union als „Union“ III. Die Institutionen der Union 1. Begriff der Institution – Kategorien von Institutionen 2. Entwicklung des institutionellen Gefüges 3. Neue Union, neue Organe 4. Interinstitutionelle Beziehungen a) Allgemeines b) Gleichheit der Organe, Grundsätze ihres Zusammenwirkens c) Institutionelles Gleichgewicht d) Formalisierung interinstitutioneller Beziehungen 5. Die Organe der Union a) Neujustierungen des institutionellen Gleichgewichts b) Die Funktion der Organe c) Die Aufgaben der Organe aa) Allgemeines bb) Politische Leitung und politische Planung cc) Rechtsetzung/Gesetzgebung dd) Finanz- und Haushaltsplanung ee) Verwaltung ff) Kontrolle gg) Rechtsprechung hh) Besetzung von Organen ii) Vertretung der Union d) Die Zusammensetzung der Organe aa) Europäisches Parlament bb) Europäischer Rat und Rat cc) Kommission dd) Gerichtshof der Europäischen Union ee) Europäische Zentralbank und Rechnungshof e) Kollegialitätsprinzip – Präsidentschaft/Vorsitz – Beschlussfassung aa) Allgemeines bb) Das Kollegialitätsprinzip cc) Präsidentschaft/Vorsitz der Unionsorgane dd) Die Beschlussfassung der Unionsorgane f) Arbeitsweise der Organe: Organisationsrecht und Unterstützungsstrukturen

122 123 124 124 132 139 139 144 150 156 162 171 172 178 182 182 191 196 198 198 199 200 206 217 217 224 231 231 233 237 240 241 246 255 256 257 261 262 268 272 275 283 286 286 287 292 296 306

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aa) bb) cc) dd) ee) ff)

6.

Organisationsrecht Die Fraktionen und Ausschüsse des Europäischen Parlaments Der Ausschuss der Ständigen Vertreter Die Kabinette der Kommissionsmitglieder Generalsekretariate/Kanzleien Organübergreifende beratende Ausschüsse: Der Wirtschafts- und Sozialausschuss und der Ausschuss der Regionen g) Sitz der Organe – Sprachenregime h) Einbindung von Organen in unionsassoziierte Kooperationen der Mitgliedstaaten („Organleihe“) Agenturen der Union

307 312 316 320 321 324 329 337 344

Spezialschrifttum Bieber, Roland Das Verfahrensrecht von Verfassungsorganen, 1992; Calliess, Christian Die neue Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon, 2010; Court of Justice of the European Union (Hrsg) The Court of Justice and the Construction of Europe, 2013; Craig, Paul The Treaty of Lisbon, 2010; Curtin, Deirdre Executive Power of the European Union, 2009; Dörr, Oliver/Schmalenbach, Kirsten (Hrsg) Vienna Convention on the Law of Treaties – A Commentary, 2. Aufl, 2018; Eilmansberger, Thomas/Griller, Stefan/Obwexer, Walter (Hrsg) Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon, 2011; Fischoeder, Christian Sukzession bei Internationalen Organisationen, 2013; Goeters, Hanna Das institutionelle Gleichgewicht – seine Funktion und Ausgestaltung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2008; Heukels, Tom Intertemporales Gemeinschaftsrecht, 1990; Hilf, Meinhard Die Organisationsstruktur der Europäischen Gemeinschaften, 1982; Hummer, Waldemar/Obwexer, Walter (Hrsg) Der Vertrag von Lissabon, 2009; Kietz, Daniela/Slominski, Peter/Maurer, Andreas/ Puntscher Riekmann, Sonja (Hrsg) Interinstitutionelle Vereinbarungen in der Europäischen Union, 2010; Klabbers, Jan An Introduction to International Institutional Law, 3. Aufl, 2015; Laursen, Finn The EU’s Lisbon Treaty, 2012; Ludewig, Philipp Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2012; Meurs, Christian Normenhierarchien im europäischen Sekundärrecht, 2012; Niedobitek, Matthias Der Gerichtshof der Europäischen Union – Multinationales Rechtsprechungsorgan und Integrationsmotor, in: Peter Becker / Barbara Lippert (Hrsg), Handbuch Europäische Union, Wiesbaden 2018, DOI https://doi.org/10.1007/978-3-658-17436-1_141; Niedobitek, Matthias Verfassungspolitik nach Lissabon, in: Eppler, Annegret/Scheller, Henrik (Hrsg), Zur Konzeptionalisierung europäischer Desintegration, 2013, S 233–255; Niedobitek, Matthias Die institutionellen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft, in: Munke, Martin/Thoß, Hendrik (Hrsg) Europäische Räume – Les espaces européens, 2013, S 21–34; Niedobitek, Matthias Die europäische Verwaltung der Europäischen Union, in: FS Heinrich Siedentopf, 2008, S 87–100; Niedobitek, Matthias Kontinuität zwischen alter und neuer Union, in: ders/Ruth, Simone (Hrsg), Die neue Union – Beiträge zum Verfassungsvertrag, 2007, S 135–157; Niedobitek, Matthias Völker- und europarechtliche Grundfragen des EU-Beitrittsvertrages, JZ 2004, 369–375; Papenkort, Katja Der Euratom-Vertrag im Lichte des Vertrags über eine Verfassung für Europa, 2008; Pawlik, Martin Das REACH-System und die Meroni-Doktrin, 2013; Peers, Steve Towards a New Form of EU Law?: The Use of EU Institutions outside the EU Legal Framework, EuConst 9 (2013) 1, 37–72; Piris, Jean-Claude The Constitution for Europe, 2006; Piris, JeanClaude The Lisbon Treaty, 2010; Raschauer, Nicolas (Hrsg) Europäische Agenturen, 2012; Reuter, Paul Introduction to the Law of the Treaties, 2. Aufl, 1995; Schermers, Henry G/Blokker, Niels M International Institutional Law, 6. Aufl, 2018; Schilling, Theodor Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994; Sichert, Markus Grenzen der Revision des Primärrechts in der Europäischen Union, 2005; Wägenbaur, Bertrand Satzung und Verfahrensordnungen des Gerichtshofs und des Gerichts der Europäischen Union, 2. Aufl, 2017.

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6 | § 1 Vertragliche Grundlagen, rechtliche Gestalt, Institutionen der Union

Leitentscheidungen EuGH, Rs 9/56 – Meroni, Slg 1958, 44 (institutionelles Gleichgewicht; Grenzen der Delegationsbefugnis); verb Rs 27/59 und 39/59 – Campolongo (funktionelle Einheit der Gemeinschaften); Rs 26/62 – Van Gend & Loos (Rechtsnatur der Gemeinschaftsrechtsordnung; Rechtssubjektivität des Einzelnen); Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L. (Autonomie und Vorrang der Gemeinschaftsrechtsordnung); Rs 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft (Gemeinschaftsrecht als alleiniger Prüfungsmaßstab; Grundrechte); Rs 283/81 – C.I.L.F.I.T. (Verbindlichkeit aller Sprachfassungen der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts); Rs 13/83 – Gemeinsame Verkehrspolitik (Ermessen der Organe bei der Aufgabenerfüllung); Rs 294/83 – Les Verts (Verfassungscharakter der Gemeinschaftsrechtsordnung); Rs 24/86 – Blaizot (Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen); verb Rs 31 und 35/86 – LAISA (Änderung sekundären Gemeinschaftsrechts durch Beitrittsverträge); Rs 70/88 – Parlament / Rat [Zwischenurteil] (institutionelles Gleichgewicht); verb Rs C-213/88 und C-39/89 – Luxemburg / Parlament (Sitz der Organe); Gutachten 1/91 – EWR I (charakteristische Merkmale der Gemeinschaftsrechtsordnung); Rs C-65/93 – Parlament / Rat (Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit); Rs C-316/91 – Parlament / Rat („Organleihe“); Rs C-25/94 – Kommission / Rat (Verbindlichkeit interinstitutioneller Vereinbarungen; Rechtsstellung des AStV); Rs C-17/98 [Beschluss] – Emesa Sugar (Rechtsstellung der Generalanwälte); Rs C-486/01 P – Front national / Parlament, Rs C-488/01 P – Martinez / Parlament (Fraktionsbildung im Europäischen Parlament; Grenzen); Rs C-301/02 P – Tralli / EZB (Kollegialitätsprinzip; Geschäftsordnungsautonomie); Rs C-145/04 – Spanien / Vereinigtes Königreich (Wahlrecht zum Europäischen Parlament; Kreis der Wahlberechtigten); Rs C-217/04 – ENISA (Art 114 AEUV als Rechtsgrundlage für Agrneturen); Rs C-432/04 – Cresson (Unabhängigkeit der Kommission; Sanktionen); Rs C-127/08 – Metock (Effet utile); Rs C-135/08 – Rottmann (Staatsangehörigkeit der Mitgliedstaaten; Verlust); Rs C-335/09 P – Polen / Kommission (EU als „Rechtsunion“); Rs C-370/12 – Pringle (Justiziabilität autonomer Vertragsänderungen; Unterscheidung zwischen Primärrecht und Sekundärrecht; „Organleihe“); Gutachten 2/13 – EMRK-Beitritt; Gutachten 1/17 – CETA (Vereinbarkeit des CETA mit dem Unionsrecht); Rs C-621/18 – Wightman (BREXIT; Rücknahme der Austrittserklärung); EuG, Rs T-222/99 ua – Martinez ua / Parlament (Fraktionsbildung im Europäischen Parlament; Grenzen); Rs T-209/00 – Lamberts [Beschluss v 22.2.2001] (Rechtsstellung des Bürgerbeauftragten); verb Rs T-27/03 ua – Bewehrungsrundstahl (EGKSV als Rechtsgrundlage nach seinem Auslaufen).

I. Völkerrechtliche Verträge als Grundlage der Union I. Völkerrechtliche Verträge als Grundlage der Union 1. Die Integrationsverträge als völkerrechtliche Verträge a) Der völkerrechtliche Geltungsgrund der Unionsrechtsordnung 1 Die heutige Europäische Union – in EUV und AEUV, einschl GRCh,1 nur noch „Union“ genannt (vgl Art 1 I EUV)2 – ist die Folge eines Integrationsprozesses, dessen rechtliche Grundlagen völkervertraglicher Natur sind, dh die Union beruht auf (im Folgenden so genannten) „Integrationsverträgen“. Dies gilt nicht nur für die ursprüngliche Begründung des europäischen Integrationsprozesses, welcher mit

_____ 1 Anders ist dies zuweilen in den den Verträgen beigefügten Protokollen. 2 Bereits die EGKS, die EWG und die EAG wurden – gleichwohl ohne eine Art 1 I EUV entsprechende ausdrückliche Regelung – in den operativen Bestimmungen der Gründungsverträge abgekürzt als „Gemeinschaft“ bezeichnet. Matthias Niedobitek

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dem EGKSV (1951) und dem EWGV und dem EAGV (1957) seinen Ausgang nahm, sondern auch für alle nachfolgenden Schritte der Erweiterung und Vertiefung3 sowie Neugründung, zuletzt durch den Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 20074 (zur Entwicklung vgl Rn 13 ff). Neben die „vertraglichen Grundlagen“,5 die den europäischen Integrationsprozess in Gang gesetzt, fortentwickelt und erneuert haben, treten völkerrechtliche Verträge der Mitgliedstaaten (nicht unbedingt aller), die einen mehr oder weniger engen Bezug zu den grundlegenden Verträgen haben, ohne jedoch deren rechtlichen Gehalt zu ändern (näher Rn 30 ff). Als Geschöpfe des Völkerrechts genügten die bisherigen Europäischen Gemein- 2 schaften und genügen die heutige Union und die fortexistierende EAG zweifellos den Minimumanforderungen, die das Völkerrecht an eine (öffentliche) Internationale Organisation stellt.6 Allerdings ging es speziell im Fall der EWG als Rechtsvorgängerin der Union (vgl Art 1 III 2 EUV) von vornherein nicht um die Schaffung einer gewöhnlichen Internationalen Organisation, sondern um die Errichtung „einer mit eigenen Hoheitsbefugnissen ausgestatteten übernationalen Gemeinschaft“, mithin um ein „europäisches Gebilde verfassungsrechtlicher Gattung“.7 Die völkervertragliche Fundierung des Integrationsprozesses wurde damit indes nicht in Frage gestellt,8 mithin grundsätzlich auch nicht die Einordnung von Gemeinschaften und Union als Internationale Organisationen (freilich supranationalen Charakters).9 Als völkerrechtliche Verträge10 beziehen die Integrationsverträge ihre rechtliche 3 Bindungswirkung aus dem im allgemeinen Völkerrecht verankerten11 Grundsatz

_____ 3 Das Begriffspaar „Vertiefung / Erweiterung“ kennzeichnet die beiden wesentlichen Dimensionen des Integrationsprozesses, nämlich die inhaltliche Fortentwicklung der Verträge und die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten, und das zwischen beiden Aspekten bestehende bzw angenommene Spannungsverhältnis. Vgl etwa Kühnhardt. 4 ABl 2007 C 306; konsolidierte Fassung der Vertragstexte (EUV, AEUV und GRCh) in ABl 2016 C 202. 5 Für den Begriff vgl Art 23 I 3 GG. 6 Hierzu vgl Schermers/Blokker §§ 33 ff; Seidl-Hohenveldern/Loibl Rn 0105. 7 So die „Erläuterungen“ zum EWGV und zum EAGV in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs 3440 (2. WP) v 4. Mai 1957, S 108. 8 Ebenso iErg Vitzthum/Proelß/Vitzthum Abschn 1 Rn 40. 9 Demgegenüber scheinen Vitzthum/Proelß/Klein/Schmahl 4. Abschn Rn 14, die die Internationalen und die Supranationalen Organisationen randscharf abgrenzen zu wollen. Differenzierter ebd, Rn 249 ff. 10 Zum Begriff des völkerrechtlichen Vertrages vgl nur Vitzthum/Proelß/Vitzthum 1. Abschn Rn 113 ff. 11 Dass Art 26 WVK betreffend den Grundsatz pacta sunt servanda nicht selbst die Verbindlichkeit völkerrechtlicher Verträge anordnen kann, sondern insoweit lediglich von symbolischer Bedeutung ist, zeigt Dörr/Schmalenbach/Schmalenbach Art 26 WVK Rn 1. Die genaue Verortung des Grundsatzes im Rechtsquellenkanon des Völkerrechts (Völkergewohnheitsrecht oder allgemeiner Rechtsgrundsatz) ist im Übrigen umstritten; vgl ebd Rn 20–22. Matthias Niedobitek

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pacta sunt servanda.12 Konstitutives Element eines völkerrechtlichen Vertrages ist die Willenseinigung der am Vertragsschluss beteiligten Völkerrechtssubjekte, die in der Absicht erfolgt, die völkerrechtlichen Beziehungen der Parteien rechtsverbindlich zu regeln (Rechtsbindungswille).13 Die vertragsgerichtete Willenseinigung der Kontrahenten für sich genommen vermag jedoch die Rechtsbindung nicht aus sich heraus hervorzubringen, vielmehr bildet sie lediglich – als Lebensverhältnis, nicht schon Rechtsverhältnis – den Tatbestand, an den das Völkerrecht die Rechtsfolge der Vertragsbindung knüpft.14 Auf die konkrete Bezeichnung der Willenseinigung kommt es nicht an.15 Die die europäische Integration betreffenden Verträge heißen in der Regel „Vertrag“ (treaty, traité), nur ausnahmsweise wird eine andere Bezeichnung gewählt.16 Die Willenseinigung identifiziert und individualisiert den Vertrag als „Ge4 schöpf“ einer bestimmten Rechtsordnung. Zu einem bestimmten Vertrag gehören im materiellen Sinn alle diejenigen Vertragsbestandteile, die aus Sicht aller Vertragsparteien in einem notwendigen Bedingungszusammenhang stehen. In der Regel (und idealerweise) sind die wesentlichen Vertragsbestandteile – die essentialia negotii17 – in einem einheitlichen Dokument enthalten, das somit nicht nur im materiellen Sinn, sondern auch im formellen Sinn einen „Vertrag“ darstellt.18 Ein Vertrag (im materiellen Sinn) kann allerdings auch auf verschiedene Vertragsdokumente verteilt werden,19 ebenso wie umgekehrt ein dem äußeren Anschein nach einheitliches Vertragsdokument mehrere Verträge (im materiellen Sinn) umfassen kann. Über ihren völkerrechtlichen Ursprung lassen die Unionsverträge selbst 5 keinen Zweifel. Die Vertragsstaaten bezeichnen sich selbst als „Hohe Vertragsparteien“ (Art 1 I, 54 I EUV, 357 I AEUV), vertreten werden sie von ihren – eingangs der Präambel aufgelisteten – Staatsoberhäuptern, die gem Art 7 II lit a WVK als zum völkerrechtlichen Vertragsschluss ermächtigt gelten. Die Staatsoberhäupter wiederum benennen hochrangige „Bevollmächtigte“ (in der Regel Regierungschefs bzw Außenminister), die „nach Austausch ihrer als gut und gehörig befundenen Voll-

_____ 12 Vgl Niedobitek Recht der grenzüberschreitenden Verträge S 144–146. 13 Diesen betont auch Vitzthum/Proelß/Vitzthum 1. Abschn Rn 115. 14 Vgl – hinsichtlich nationalrechtlicher Verträge – Niedobitek Recht der grenzüberschreitenden Verträge S 335 f. 15 Eine Auswahl möglicher englischsprachiger Bezeichnungen hat die ILC in ihrem Entwurf einer Kodifikation des Rechts der Verträge zusammengetragen: „treaty, convention, protocol, covenant, charter, statute, act, declaration, concordat, exchange of notes, agreed minute, memorandum of agreement, modus vivendi or any other appellation“; vgl YILC 1962 II 161 (bzw ACDI 1962 II 176 für die französische Fassung). 16 Insb im Fall der Einheitlichen Europäischen Akte. 17 So die zivilrechtliche Terminologie; vgl MüKo/Busche § 145 BGB Rn 6. 18 Reuter Rn 52. 19 Ebd. Matthias Niedobitek

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machten“ die Verträge vereinbaren. Die Verträge lassen auch nicht erkennen, dass die Vertragsstaaten ihre völkerrechtliche Souveränität aufgegeben hätten, um einen europäischen Bundesstaat zu konstituieren,20 sie bleiben „Herren der Verträge“.21 Dies kommt nicht nur in den Vorschriften des Unionsrechts betreffend Vertragsänderungen, Beitritt und Austritt zum Ausdruck, sondern auch in verschiedenen materiellen Bestimmungen. So benennt Art. 5 II 1 EUV (Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung) seit dem Vertrag von Lissabon22 ausdrücklich die Mitgliedstaaten als Quelle der Unionszuständigkeiten und betont in S 2 (und an weiteren Stellen des EUV), dass alle nicht der Union übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten verbleiben.23 Ferner verpflichtet Art 4 II 1 EUV die Union, die nationale Identität der einzelnen Mitgliedstaaten zu achten. Die frühe, noch die EWG betreffende Rechtsprechung des EuGH bestätigt die 6 völkerrechtliche Verankerung der Unionsrechtsordnung. In Van Gend & Loos kennzeichnet der EuGH die verfahrensgegenständlichen Bestimmungen des EWGV als „Vorschriften eines völkerrechtlichen Vertrages“24 und die Gemeinschaft als „eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts“.25 Auch wenn der EuGH diese Feststellung genau so offenbar nur ein einziges Mal, in Van Gend & Loos, getroffen hat, kann aus den insoweit abweichenden Formulierungen nachfolgender Entscheidungen, in denen die Gemeinschaftsrechtsordnung nicht mehr als eine solche „des Völkerrechts“ gekennzeichnet wird,26 nicht geschlossen werden, dass der EuGH nunmehr Europarecht und Völkerrecht kategorisch unterschiede.27 Vielmehr grenzt der EuGH auch noch in seiner späteren Rechtsprechung den EWGV von „gewöhnlichen internationalen Verträgen“ ab,28 eine Formulierung, die er erst jüngst in seinem Ur-

_____ 20 Ebenso GA Kokott, Rs C-370/12 – Pringle, Nr 137. Das Bundesverfassungsgericht sieht die souveräne Staatlichkeit Deutschlands als von Art 79 III GG garantiert; vgl BVerfG, 2 BvE 2, 5/08, BVerfGE 123, 267 (343) – Vertrag von Lissabon. 21 Vgl nur Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Magiera § 13 Rn 1; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 1 EUV Rn 12. 22 Vor Lissabon war der Grundsatz begrenzter Einzelermächtigung ohne inhaltliche Einbuße knapper und nüchterner formuliert; vgl ex-Art 5 I EGV. 23 Ironischerweise könnte Art 5 II 2 EUV allerdings auch als Nukleus einer bundesstaatlichen Zuständigkeitsregel top down verstanden werden. 24 EuGH, Rs 26/62 – Van Gend & Loos, Slg 1963, 24. 25 Ebd, S 25. 26 Vgl nur EuGH, Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L., Slg 1964, 1269: „eigene Rechtsordnung“; Rs 14/68 – Walt Wilhelm, Slg 1969, 14: „eigenständige Rechtsordnung“; Gutachten 1/91 – EWR I, Rn 21 („neue Rechtsordnung“); ferner EuG, Rs T-59/09 – Deutschland / Kommission, Rn 63: „neue Rechtsordnung“. 27 Vgl Niedobitek/Zemánek/Niedobitek S 70; Marschik S 196. 28 EuGH, Rs C-2/88 Imm. (erster Beschluss) – Zwartveld ua, Rn 15 (Hervorhebung hinzugefügt); vgl insofern bereits EuGH, Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L., Slg 1964, 1269; ferner EuG, Rs T-59/09 – Deutschland / Kommission, Rn 63. Matthias Niedobitek

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teil in der Rechtssache C-621/18 wiederholt hat29 und durch die er anerkennt, dass die EU-Verträge als – wenn auch nicht „gewöhnliche“ – völkerrechtliche Verträge Grundlage seiner Rechtsprechungstätigkeit sind. Das Unionsrecht hat und behält somit seinen Geltungsgrund im Völkerrecht.30 Dass sich die Unionsrechtsordnung von ihrer völkerrechtlichen Grundlage gelöst hätte,31 ist weder plausibel noch durch die Autonomiethese des EuGH gefordert.32

b) Die Reichweite der Autonomie der Unionsrechtsordnung 7 Kann somit die plakative Frage „Ist Europarecht Völkerrecht?“33 grundsätzlich be-

jaht werden,34 zumindest was das hier interessierende primäre Unionsrecht angeht,35 stellt sich die weitere Frage, ob sich die Unionsrechtsordnung – als Subsystem des Völkerrechts – in ihren internen Beziehungen gegenüber den Einflüssen der allgemeinen Völkerrechtsordnung grundsätzlich offen zeigt oder ob sie insoweit „abgeschlossen“, ob sie ein „self-contained regime“ ist. Diese Frage wird zwar hauptsächlich im Hinblick auf die Möglichkeit diskutiert, im Falle einer Rechtsverletzung subsidiär auf die allgemeinen Regeln des Völkerrechts betreffend die Staatenverantwortlichkeit zurückzugreifen,36 jedoch impliziert sie allgemeiner die Vorstellung von gegenüber fremden Normen hermetisch abgeschlossenen Systemen,37 die im Fall der Union einen – bereits zurückgewiesenen (Rn 5) – „Umschlag

_____ 29 EuGH, Rs C-612/18 – Wightman, Rn 44. Der EuGH spricht hier von „gewöhnlichen völkerrechtlichen Verträgen“ (Hervorhebung hinzugefügt). Mit gleicher Intention sprach Constantinesco JuS 1965, 289 (292) von „einfachen“, „traditionellen“ bzw „klassischen“ völkerrechtlichen Verträgen. 30 Diese Auffassung bezeichnet Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Ehlers § 11 Rn 7 als die „traditionelle“. 31 Vgl Calliess/Ruffert/Ruffert Art 1 AEUV Rn 5; Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Ehlers § 11 Rn 8, der dies für ein Erfordernis der Autonomiethese des EuGH zu halten scheint. 32 Vgl Streinz/Kokott Art 47 EUV Rn 10. 33 So gestellt von Marschik S 194. 34 Dezidiert aA Calliess/Ruffert/Ruffert Art 1 AEUV Rn 5; Calliess/Ruffert/Ruffert VerfEU Art I-6 VVE Rn 3: Unionsrecht sei kein Völkerrecht, die supranationale Verdichtung führe zu einer qualitativen Abschichtung ihrer Rechtsordnung vom Völkerrecht. IErg ebenso bereits Constantinesco JuS 1965, 289 (292), der die Verträge „als konstituierende Akte der Gemeinschaften“ einordnet und (ohne Begründung) folgert: „Als solche sind sie nicht mehr Bestandteil des Völkerrechts“. 35 Die rechtliche Einordnung von Sekundärrecht Internationaler Organisationen ist umstritten. Hierzu wird vertreten, es unterscheide sich aufgrund seiner in den Innenbereich der Organisation gerichteten Wirkung so stark von dem zwischen Völkerrechtssubjekten geltenden Recht, dass es nicht mehr als Völkerrecht betrachtet werden könne. Hierzu instruktiv (und im Ergebnis zu Recht ablehnend) Vitzthum/Proelß/Klein/Schmahl 4. Abschn Rn 114–117. 36 Vgl Marschik passim. 37 Marschik S 172; enger die Begriffsbildung bei Calliess/Ruffert/Cremer Art 48 EUV Rn 19 iVm Fn 62. Matthias Niedobitek

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in staatsrechtliche Kategorien“ voraussetzen würde.38 Nach allgM handelt es sich bei der Unionsrechtsordnung nicht um ein „self-contained regime“,39 auch wenn bspw Art 344 AEUV – mit der Pflicht der Mitgliedstaaten, Streitigkeiten nur gemäß den Verträgen zu regeln – darauf hindeuten könnte.40 Vielmehr sind insb41 die völkerrechtlichen Regeln betreffend das Recht der Verträge, wie sie in der WVK kodifiziert wurden, ganz zu schweigen von völkerrechtlichem ius cogens,42 ergänzend heranzuziehen, soweit die Bestimmungen des primären Unionsrechts einen Sachverhalt nicht abschließend regeln.43 So kann bspw ein Mitgliedstaat, freilich nur unter außergewöhnlichen Umständen („ultima ratio“), gem Art 60 II WVK aus der Union ausgeschlossen werden,44 obwohl (bzw weil) die EU-Verträge hierzu keine Regelung treffen. Auch finden die Auslegungsregeln der WVK auf die „Schlussakte“ (hierzu Rn 70, 71) Anwendung, insb was die Relevanz der den Verträgen beigefügten Erklärungen angeht.45 Schließlich stützen sich die Mitgliedstaaten auf ihre völkerrechtliche Handlungsfähigkeit auch in den vertraglich vorgesehen Fällen, die ein einvernehmliches Handeln der Regierungen der Mitgliedstaaten erfordern (etwa in Art 341 AEUV).46 Die EU-Verträge sind, wie der EuGH zu Recht festgestellt hat, keine „gewöhnli- 8 chen“ völkerrechtlichen Verträge, da sie sich nicht wie „einfache“ völkerrechtliche Verträge darin erschöpfen, Rechte und Pflichten der Vertragsparteien zu regeln, sondern zusätzlich eine Internationale Organisation errichten. Zur obligatorischen Seite der Verträge tritt somit eine gleichsam dingliche Seite hinzu, die sich darin manifestiert, dass durch die Verträge eine neue juristische Person des Völkerrechts – die Union – geschaffen (vgl Art 47 EUV) und mit einer eigenen Rechtsordnung ausgestattet wurde.47 Während die obligatorische Seite der Verträge synallagmati-

_____ 38 Vitzthum/Proelß/Klein/Schmahl 4. Abschn Rn 117. 39 Vgl nur Vitzthum/Proelß/Klein/Schmahl 4. Abschn Rn 117: „Nabelschnur zu seinen völkerrechtlichen Ursprüngen nicht durchschnitten“. Dasselbe Bild hatte zuvor bereits Ophüls, NJW 1951, 289 (290), im Hinblick auf die EGKS verwendet. 40 Insoweit ist zwar verständlich, dass Oppermann/Classen/Nettesheim § 9 Rn 152 meinen, die Union weise „Züge eines ‚self-contained regime‘“ auf, allerdings ist fraglich, ob der Begriff des „selfcontained regime“ Relativierungen bzw Abstufungen duldet. 41 Allgemein hat der EuGH festgestellt, dass die Befugnisse der Gemeinschaft/Union unter Beachtung des Völkerrechts auszuüben sind; vgl EuGH, Rs C-286/90 – Poulsen und Diva Navigation, Rn 9; Rs C-162/96 – Racke / Hauptzollamt Mainz, Rn 45. 42 Hierzu Hobe Rn 472. 43 Dies nehmen Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 458 für den in Art 7 EUV, 354 AEUV verankerten Sanktionsmechanismus an. 44 Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 113; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 46; aus Perspektive der WVK vgl Dörr/Schmalenbach/Giegerich Art 60 WVK Rn 52. 45 Vgl Bieber/Epiney/Haag/Kotzur § 6 Rn 9. 46 Vgl Vedder/Heintschel vHeinegg/Epping Art 341 AEUV Rn 1. 47 Darüber hinaus haben die EU-Verträge noch weitere juristische Personen geschaffen; näher Rn 128. Matthias Niedobitek

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scher Natur ist, beruht die dingliche Seite des Vertrages auf einem „Gesamtakt“ der Vertragsparteien,48 der als Rechtshandlung in den Verträgen bereits enthalten ist und von den Vertragsparteien durch Bildung der Organe zu realisieren ist. Hierin unterscheiden sich die Unionsverträge nicht von den Gründungsdokumenten anderer Internationaler Organisationen mit Völkerrechtssubjektivität, ja von jeglichem Vertrag, der darauf gerichtet ist, eine juristische Person zu errichten.49 Sie sind gewissermaßen „janusköpfig“: Der Form nach handelt es sich um klassische völkerrechtliche Verträge, in der Sache konstituieren sie (auch) die Rechtsordnung (die „Verfassung“ bzw „Satzung“) eines autonomen Verbands,50 einer lebendigen, sich entwickelnden Organisation.51 Solche völkerrechtlichen Verträge haben mithin stets eine „Doppelnatur“ mit 9 einer daraus resultierenden „Doppelstellung“ der Vertragsstaaten.52 Einerseits betreffen sie die Stellung der Vertragsstaaten als „Herren der Verträge“, mithin das vertragliche „Grundverhältnis“ (insoweit haben sie „Vertragscharakter“), andererseits enthalten sie Regelungen für das „Verbandsleben“,53 welches die Vertragsstaaten nicht mehr als „Herren der Verträge“, sondern als Verbandsmitglieder – und insofern als Rechtsunterworfene – betrifft (insoweit haben sie „Satzungscharakter“). Ob eine Vertragsbestimmung Vertragscharakter oder Satzungscharakter hat, ist im Einzelfall zu beurteilen und nicht immer leicht zu entscheiden.54 Mit Gründung der Union steht gewiss der zweite Aspekt des Gründungsvertrages (des Vertrags von Lissabon), sein Charakter als Verbandssatzung, im Vordergrund,55 allerdings sollte der Kreis der Bestimmungen mit „Vertragscharakter“ nicht zu eng gezogen und auf Vertragsbestimmungen rein obligatorischen Charakters (Regelung von Rechten und Pflichten der Mitgliedstaaten in ihrer Eigenschaft als Vertragsstaaten) beschränkt werden. Vielmehr können hierzu auch all diejenigen Vertragsbestimmungen gezählt werden, die den Mitgliedstaaten den gestaltenden Zugriff auf die vertraglichen Grundlagen gestatten (und sie als „Herren der Verträge“ auswei-

_____ 48 Mosler ZaöRV 19 (1958), 275 (305). Für die europäische Integration näher (und sehr anschaulich) Constantinesco JuS 1965, 340; HP Ipsen S 58 ff. 49 Für den privatrechtlichen Verein deutschen Rechts, bei dem in der Satzung, gleichsam objektiv, die Grundordnung des Vereins geregelt ist, vgl nur MüKo/Leuschner § 25 BGB Rn 16; für den europarechtlichen EVTZ vgl VO 1082/2006, ABl 2006 L 210/19, die klar zwischen „Übereinkunft“ und „Satzung“ unterscheidet. 50 Begriff bei Mosler ZaöRV 19 (1958), 275 (305). 51 Schermers/Blokker §§ 1142, 1148. 52 Grundlegend Mosler ZaöRV 19 (1958), 275 (305 f). 53 Zur Begrifflichkeit vgl Vitzthum/Proelß/Klein/Schmahl 4. Abschn Rn 37. 54 Vgl den allgemeinen Hinweis von Mosler ZaöRV 19 (1958), 275 (306), wonach Bestimmungen betreffend Vertragsänderung oder Beitritt abhängig vom jeweiligen Vertrag „mehr oder weniger der Satzungsordnung angehören oder Vertragscharakter besitzen“ können. 55 So zu Recht Vitzthum/Proelß/Klein/Schmahl 4. Abschn Rn 37. Matthias Niedobitek

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sen), etwa auch die Bestimmungen über den Beitritt neuer Mitgliedstaaten und über Vertragsänderungen.56 Letztlich ist die Frage der Einordnung allerdings vor allem für das allgemeine Verständnis der Verträge wichtig und somit eher von akademischem Interesse. Rechtliche Konsequenzen sind mit der Unterscheidung nicht verbunden, da sowohl die Bestimmungen mit Vertragscharakter als auch die Satzungsbestimmungen Teil der EU-Verträge sind, deren Verletzung durch einen Mitgliedstaat ohne Unterschied im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens (Art 258 AEUV) geahndet werden kann. Die erwähnte Doppelstellung der Mitgliedstaaten ist unionsrechtlicher Natur, sie beruht auf den EU-Verträgen. Von den im primären Unionsrecht vorgesehenen Restriktionen nicht tangiert ist die fortbestehende völkerrechtliche Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten, die diese in den Stand versetzt, das Unionsrecht, etwa durch den Abschluss völkerrechtlicher Verträge mit Drittstaaten, zu verletzten (vgl hierzu Rn 34).57 Die Doppelstellung der EU-Mitgliedstaaten wird in den Beitrittsverträgen – im 10 Gegensatz zu den Gründungsverträgen selbst – klar differenziert. So bestimmt bspw der Vertrag über den Beitritt der Republik Kroatien zur Union58 in seinem Art 1 I zunächst: „Die Republik Kroatien wird Mitglied der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft.“,59 um in Art 1 II festzustellen, dass Kroatien Vertragspartei des EUV, des AEUV und des EAGV wird. Rechtlich gesehen hätte auf die in Abs 1 getroffene Bestimmung verzichtet werden können, denn die Eigenschaft als Vertragspartei der genannten Gründungsverträge umfasst zweifellos die Mitgliedschaft in den erwähnten Organisationen.60 Der Umstand allerdings, dass zuerst die Mitgliedschaft in der Union und erst anschließend die Stellung des beitretenden Staates als Vertragspartei der der Union zugrunde liegenden Verträge genannt wird, weist auf die politisch-praktisch vorrangige Bedeutung der Verbandsmitgliedschaft hin, die das eigentliche Ziel des Beitritts darstellt. Jede Internationale Organisation verfügt somit über eine eigene „Rechtsord- 11 nung“61 oder „Verfassung“, die sich von den Rechtsordnungen ihrer Mitglieder unterscheidet und insofern zwingend einen gewissen Grad an Autonomie aufweist.62 Denn es ist begrifflich notwendiger Zweck der Schaffung einer Internationalen Or-

_____ 56 Nicht von ungefähr spricht Art 48 EUV betreffend Vertragsänderungen von den „Mitgliedstaaten“, dies auch soweit diese Änderungsverträge ratifizieren, während in den Verträgen selbst, die eine solche Vertragsänderung zum Gegenstand haben, die Mitgliedstaaten stets als die „Hohen Vertragsparteien“ angesprochen werden, wenn es um die Ratifikation geht; vgl etwa Art 6 I des Lissabonner Vertrags, ABl 2007 C 306/1. 57 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 47 EUV Rn 109; Repasi EuR 2013, 45 (47 ff). 58 ABl 2012 L 112. 59 Hervorhebung hinzugefügt. 60 Vgl Niedobitek JZ 2004, 369 (371). 61 Oder Rechtssystem; vgl Schroeder Gemeinschaftsrechtssystem S 104 ff. 62 Vgl Schermers/Blokker § 1142. Matthias Niedobitek

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ganisation, ihr mittels einer gegenüber den Mitgliedern verselbständigten Struktur, mag diese auch nur rudimentär sein, zu ermöglichen, einen eigenen Willen zu bilden, „der sich nicht notwendigerweise mit dem Willen jedes seiner Mitglieder deckt“.63 An die Begriffe „Rechtsordnung“, „Verfassung“ und „Autonomie“ können im allgemeinen völkerrechtlichen Zusammenhang allerdings keine bestimmten qualitativen Anforderungen, etwa hinsichtlich Dichte, Kohärenz, Aufgabenfülle, Organstruktur, Entscheidungsverfahren oder Rechtswirkung, gestellt werden. Wenn demgegenüber der EuGH die Autonomie der Unionsrechtsordnung (bzw Gemeinschaftsrechtsordnung)64 und ihren Verfassungscharakter65 betont, liegen dem anspruchsvollere Konzepte von Rechtsordnung, Verfassung und Autonomie zugrunde,66 die mit der Besonderheit der Unionsrechtsordnung, insb ihrem supranationalen Charakter (va unmittelbare Geltung, Vorrang, Adressierung des Individuums)67 und ihrer starken Verdichtung zusammenhängen. Im Ergebnis ist es dem EuGH gelungen, das Unionsrecht als selbständige 12 Rechtsordnung zu etablieren, die sich von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten kategorisch und vom allgemeinen Völkervertragsrecht qualitativ unterscheidet, ohne jedoch ihre völkerrechtlichen Wurzeln zu negieren. Im Vordergrund steht dabei jedoch weniger die Eigenständigkeit des Unionsrechtssystems gegenüber dem Völkerrechtssystem,68 sondern die Autonomie gegenüber den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten,69 deren Einfluss nicht nur für die Verwirklichung des Unionsrechts unerlässlich ist,70 sondern auch eine ständige Gefahr für dessen einheitliche Geltung darstellt. Dies gilt umso mehr, als die Union in besonderer Weise auf die Autorität, letztlich den effet utile, ihres Rechts angewiesen ist, da sie „im

_____ 63 Seidl-Hohenveldern/Loibl Rn 0105; im Ergebnis ebenso Schermers/Blokker § 33. 64 Vgl bereits EuGH, Rs 6/64 – Costa/E.N.E.L, Slg 1964, 1269 („eigene Rechtsordnung“); später etwa Gutachten 1/91 – EWR I, Rn 30; Gutachten 1/92 – EWR II, Rn 17, 18, 22, 24, 29, 36; jüngst Rs C234/17 – XC ua, Rn 39; Gutachten 1/17 – CETA, Rn 107 ff. Hierzu umfassend Schroeder Gemeinschaftsrechtssystem S 105 ff. 65 Vgl etwa EuGH, Gutachten 1/91 – EWR I, Rn 21; Rs 294/83 – Les Verts, Rn 23; in dem Gutachten 1/17 – CETA, Rn 110, spricht der EuGH vom „verfassungsrechtlichen Rahmen“, über den die Union verfüge. 66 Verfehlt ist es, wenn das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil die Autonomie der Unionrechtsordnung in Parallele zum Recht der Selbstverwaltung sieht; vgl BVerfG, 2 BvE 2, 5/08, BVerfGE 123, 267 (349) – Vertrag von Lissabon. 67 Deutlich insoweit EuGH, Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L, Slg 1964, 1269; zusammenfassend Gutachten 1/17 – CETA, Rn 109, in dem der EuGH von einem „strukturiertem Netz miteinander verflochtener Grundätze, Regeln und Rechtsbeziehungen“ spricht. 68 So wohl Schroeder Gemeinschaftsrechtssystem S 130; zu diesem Aspekt vgl EuGH, Rs C-402/05 P – Kadi und Al Barakaat, Rn 282, 316. 69 Zu beiden Stoßrichtungen der Autonomie des Unionsrechts s EuGH, Gutachten 1/17 – CETA, Rn 109. 70 Hierzu Schroeder § 8 (in diesem Band) Rn 54 ff. Matthias Niedobitek

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Wesentlichen als Rechtsunion aufgrund und im Rahmen der zwischen ihren Mitgliedstaaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Gründungs- und Folgeverträge“ existiert71 und – in Ermangelung der Möglichkeit, ihr Recht zwangsweise durchzusetzen – auf die Instrumente des Rechts angewiesen ist.72

2. Kategorien von Integrationsverträgen (eine kurze Vertragsgeschichte73) a) Überblick Die Integrationsverträge,74 die in ihrer zurzeit geltenden Fassung das „primäre Uni- 13 onsrecht“ enthalten,75 können ihrer Art nach in vier Gruppen eingeteilt werden: Gründungsverträge, Änderungsverträge, Beitrittsverträge, Auflösungsverträge. Die von diesen Kategorien umfassten Verträge berühren die rechtlichen Grundlagen der Union und stellen daher den wichtigsten Anwendungsbereich des EU-bezogenen völkervertraglichen Zusammenwirkens der Mitgliedstaaten dar; sie werden im Folgenden (Rn 14–27) genauer behandelt; eines besonderen Kommentars bedürfen die Austrittsverträge (Rn 28, 29). Allerdings bilden diese Verträge nur einen Ausschnitt des EU-bezogenen völkervertraglichen Handelns der Mitgliedstaaten, der durch weitere, in recht unterschiedlichen Formen auftretende Verträge der Mitgliedstaaten ergänzt wird. Auch wenn solche Verträge nicht zu den grundlegenden Verträgen zählen, dienen sie doch vielfach der Ausführung und Flankierung der durch die Integrationsverträge installierten Unionsrechtsordnung; zudem fungieren sie – gerade in jüngerer Zeit – zuweilen als funktionales Äquivalent für den Abschluss von „echten“ Integrationsverträgen und sind daher auch aus diesem Grund im vorliegenden Zusammenhang zu berücksichtigen (Rn 30–34). Verträge

_____ 71 Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Magiera § 13 Rn 1. 72 Ebd, Rn 2. 73 Eine anschauliche, kapitelweise Darstellung der einzelnen Gründungs- und Änderungsverträge findet sich in „The Oxford Handbook of the European Union“, hrsgg von Erik Jones, Anand Menon und Stephen Weatherill, 2012. 74 Oppermann/Classen/Nettesheim § 9 Rn 19 verwenden ebenfalls den Begriff der „Integrationsverträge“, jedoch in einem engeren Sinn, unter Ausschluss von Änderungs- und Beitrittsverträgen. Für einen recht umfassenden Überblick über die Vertragsentwicklung (mit Schwerpunkt auf den Verfassungsprozess nach Laeken) vgl Biondi/Eeckhout/Ripley/Berman S 3–39. 75 Der in der europarechtlichen Literatur verbreitete Begriff des „primären Unionsrechts“ wird gelegentlich auch vom EuGH verwendet, in neuerer Zeit etwa in Rs C-226/11 – Expedia Inc. / Autorité de la concurrence ua, Rn 33; Rs C-177/10 – Rosado Santana, Rn 85, 100, Tenor Nr 3; öfter verwendet der EuGH den kürzeren Begriff „Primärrecht (der Union)“, jüngst etwa in seinem Gutachten 1/17 – CETA, Rn 237, 237, 245; ferner in Rs C-370/12 – Pringle, Rn 30 ff. Der Begriff „Primärrecht“ ist allerdings nicht für die Union reserviert, sondern kennzeichnet im Recht der Internationalen Organisationen allgemein die Bestimmungen satzungsrechtlicher Natur; vgl Vitzthum/Proelß/Klein/Schmahl 4. Abschn Rn 37. Zur Unterscheidung zwischen primärem und sekundärem/tertiärem Unionsrecht vgl Magiera § 7 (in diesem Band) Rn 2, 3. Matthias Niedobitek

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der Union mit Drittstaaten oder Internationalen Organisationen zählen nicht zum primären Unionsrecht, vielmehr müssen sie „mit den Verträgen“ vereinbar sein (vgl Art 218 XI AEUV), jedoch gehen sie gem Art 216 II AEUV dem sekundären Unionsrecht vor.76

b) Gründungsverträge 14 Gründungsverträge sind Verträge, die die Errichtung einer Internationalen Organi-

sation zum Gegenstand haben. Unter den Integrationsverträgen sind Gründungsverträge zumeist daran zu erkennen, dass sie ausdrücklich als solche bezeichnet werden. Dies gilt für den EGKSV (1951),77 den EWGV (1957)78 und den EAGV (1957).79 Auch der Sache nach handelt es sich bei diesen drei Verträgen um Gründungsverträge, da sie Internationale (im Kern supranationale) Organisationen mit Rechtspersönlichkeit (ex-Art 6 EGKSV, 210 EWGV, 184 EAGV) geschaffen haben. Die Geltungsdauer des EGKSV war auf fünfzig Jahre beschränkt (ex-Art 97 EGKSV), so dass die EGKS ex lege am 23. Juli 2002 zu existieren aufhörte.80 Nicht ausdrücklich als Gründungsvertrag firmiert der Maastrichter „Vertrag 15 über die Europäische Union“ (1992),81 allerdings bestimmt sein Artikel A: „Durch diesen Vertrag gründen die Hohen Vertragsparteien untereinander eine Europäische Union, im folgenden als ‚Union‘ bezeichnet“. Das besondere Verdienst dieses Vertrags als Gründungsvertrag besteht darin, dass er die drei seinerzeit existierenden Europäischen Gemeinschaften in Art A III zur „Grundlage der Union“ gemacht und damit letztlich ihre Absorption durch die Union vorgezeichnet hat. Die bis zuletzt umstrittene Frage, ob die Union vor Lissabon über Rechtspersönlichkeit verfügte,82 ist für die Einordnung als Gründungsvertrag nicht von Bedeutung, da eine Internationale Organisation nicht begriffsnotwendig über Rechtspersönlichkeit verfügen muss.83 Auch der – nicht in Kraft getretene84 – „Vertrag über eine Verfassung für

_____ 76 Vgl nur Schwarze/Terhechte Art 216 AEUV Rn 20. 77 BGBl 1952 II 447. 78 BGBl 1957 II 766. 79 BGBl 1957 II 1014. 80 Dies hatte zwangsläufig zur Folge, dass die Kommission eine kartellrechtliche Entscheidung im Stahlsektor nach Auslaufen des EGKSV nicht mehr auf diesen Vertrag stützten konnte, wie das EuG, verb Rs T-27/03 ua – Bewehrungsrundstahl, Rn 117 ff, zu Recht festgestellt hat. Hierzu näher Niedobitek/Ruth/Niedobitek S 141 f. 81 ABl 1992 C 191. 82 Vgl, mwN, Calliess Lissabon S 82 f. 83 Schermers/Blokker § 1565; Vitzthum/Proelß/Klein/Schmahl 4. Abschn Rn 13, 93; ebenso wohl Schroeder EuR 2012, Beiheft 2, 9 (13); Fischoeder S 20 f; aA Pechstein/Koenig Rn 62 f. Beispiel für eine Internationale Organisation ohne Rechtspersönlichkeit ist die OSZE; hierzu Schermers/Blokker § 1569. 84 Nach ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden war die Fortsetzung des Ratifikationsprozesses schließlich aufgegeben. Hierzu Piris Lisbon Treaty S 23 ff. Matthias Niedobitek

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Europa“85 gehört in die Kategorie der Gründungsverträge,86 da er, wie sein Art I-1 I feststellt, die Europäische Union „begründet“. Was den Vertrag von Lissabon87 angeht, haben sich die Vertragsstaaten – nach der Erfahrung des gescheiterten Verfassungsvertrages88 – darum bemüht, den Eindruck zu erwecken, es handele sich hierbei um einen Änderungsvertrag der herkömmlichen Art, nicht um einen Gründungsvertrag,89 jedoch zeigt eine genauere Untersuchung des Vertrags das Gegenteil: Der Vertrag gründet eine neue, von der durch den Maastrichter EUV geschaffenen Union verschiedene Organisation selben Namens. Der rechtliche Kern des Gründungsakts besteht in der Konstituierung der Union als (neue) Rechtspersönlichkeit (hierzu näher Rn 39, 40).

c) Änderungsverträge Jeder Änderungsvertrag greift definitionsgemäß in den Text der Gründungsver- 16 träge ein,90 allerdings werden gem Art 48 II–V EUV nur noch die primärrechtlich nicht vorgezeichneten und somit allein dem politischen Prozess unterworfenen Vertragsänderungen durch einen „klassischen“ Änderungsvertrag, vorbereitet durch eine Regierungskonferenz und ggf einen Konvent, vorgenommen. Demgegenüber werden zahlreiche in den Verträgen vorgesehene Vertragsänderungen und -ergänzungen nicht im Vertragswege vereinbart, sondern im Wege vereinfachter Änderungsverfahren höchst unterschiedlicher Ausgestaltung durch Organbeschluss festgelegt (hierzu Rn 96–98). In den Text der Gründungsverträge wird nicht nur bei sachlichen Vertragsände- 17 rungen eingegriffen, sondern auch bei jedem Beitritt, aus dessen Anlass im Beitrittsvertrag va organisatorische Bestimmungen der Verträge (etwa betr die Zusammensetzung von Organen) an die erhöhte Zahl der Mitgliedstaaten angepasst

_____ 85 ABl 2004 C 310. 86 Das Inkrafttreten ist kein Begriffsbestandteil des Vertrages, vielmehr setzen die Regeln über das Inkrafttreten einen „Vertrag“ voraus. Aus dem Entwurfsstadium tritt ein Vertrag mit der Unterzeichnung, durch die der authentische Vertragstext festgelegt wird; vgl Art 10 WVK. Demgegenüber bezeichnet Grabitz/Hilf/Nettesheim/Hölscheidt Art 14 EUV Rn 17–19 den Verfassungsvertrag als „Verfassungsentwurf“. 87 ABl 2007 C 306. 88 Für eine Analyse der ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden vgl Piris Constitution S 9–24. 89 Alle Bemühungen waren darauf gerichtet, neuerliche Referenden möglichst zu vermeiden. Vgl Piris Lisbon Treaty S 30 ff. 90 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 48 EUV Rn 21. Dies schließt nicht aus, dass eine Textänderung implizite, textlich nicht sichtbare Vertragsänderungen nach sich zieht. Zu dieser vor allem vor Lissabon relevanten Frage vgl Streinz/Pechstein EUV/EGV Art 47 EUV Rn 5 ff. Als aktuelles Beispiel mag Art 106a EAGV dienen, der – auch mit Wirkung für die Union – das Verhältnis zwischen EUV und AEUV einerseits und EAGV andererseits regelt. Matthias Niedobitek

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werden müssen. Im Verhältnis zu Art 48 EUV betreffend Vertragsänderungen ist Art 49 EUV betreffend den Beitritt neuer Mitgliedstaaten lex specialis.91 Nicht ausgeschlossen ist es aber, anlässlich eines Beitritts auch Änderungen des Primärrechts zu vereinbaren, die nicht beitrittsbezogen sind, sofern nur die im Einzelfall anwendbaren Verfahren der Art 48 und 49 EUV miteinander vereinbar sind und eingehalten werden.92 In diesem Sinne93 hatten die Staats- und Regierungschefs anlässlich des Europäischen Rates v 29./30. Oktober 2009 beschlossen,94 das Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf die Tschechische Republik „zum Zeitpunkt des Abschlusses des nächsten Beitrittsvertrages“ den EU-Verträgen beizufügen.95 Beide Projekte – der seinerzeit noch bevorstehende Beitritt Kroatiens zur Union und die Beifügung des erwähnten Protokolls zu den EU-Verträgen – hatten sich indes unterschiedlich entwickelt,96 so dass eine Verbindung schon aus zeitlichen Gründen nicht mehr in Betracht kam. Der Beitritt Koratiens wurde allerdings genutzt, um dem EUV und dem AEUV das „Protokoll zu den Anliegen der irischen Bevölkerung bezüglich des Vertrags von Lissabon“ beizufügen.97 Die Gründungsverträge wurden im Zuge der bisherigen Integrationsgeschichte98 18 mehrfach punktuell, moderat oder in großem Stil geändert. Zu den frühen Änderungsverträgen zählen die beiden Fusionsverträge – von 1957 (betreffend die Versammlung und den Gerichtshof)99 und von 1965 (betreffend den Rat und die Kommission)100 –, die an die Stelle der in den drei Gemeinschaftsverträgen jeweils vorgesehenen Organe einheitliche Organe setzten und (im Fusionsvertrag von 1965) einen einzigen „Haushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften“ schufen.101 Die rechtliche Selbständigkeit der drei Gemeinschaften wurde dadurch zwar nicht berührt, allerdings scheuten sich die Gemeinschaftsgerichte später nicht, die Verträge

_____ 91 Zutreffend Streinz/Pechstein Art 48 EUV Rn 8; Sichert S 201 ff. 92 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 48 EUV Rn 51; hierzu näher Sichert S 201 ff. 93 Das Zitat aus den Schlussfolgerungen spricht ausdrücklich nur die zeitliche Parallelität von Beitritt und Vertragsänderung an. 94 Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Ziff I.2. iVm Anlage I, Rats-Dok 15265/1/09. 95 Zum Hintergrund Eppler/Scheller/Niedobitek S 248 f. 96 Der Beitrittsvertrag war bereits am 9. Dezember 2011 unterzeichnet worden, während die Tschechische Republik kaum drei Monate vorher, am 5. September 2011, einen Entwurf betreffend die Beifügung des Protokolls vorgelegt hatte. Hierzu vgl Dok EUCO 132/13 v 18.6.2013. Mittlerweile hat die Tschechische Republik auf den Vorbehalt zur Grundrechtecharta verzichtet; vgl Streinz/Streinz Vor GRCh Rn 16. 97 ABl. 2013 L 60/131. 98 Überblick bei Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 48 EUV Rn 5–7. 99 BGBl 1957 II 1156. Dieser erste Fusionsvertrag wurde uno actu mit den Römischen Verträgen geschlossen. Gem seinem Art 7 II trat er gleichzeitig mit EWGV und EAGV in Kraft. 100 ABl 1967 Nr 152/2. 101 Hierzu näher Niedobitek FS Heinrich Siedentopf, 2008, S 89 ff. Matthias Niedobitek

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zusammen genommen dennoch als „einheitliche Rechtsordnung“ zu bezeichnen.102 Die beiden sog Finanzverträge von 1970103 und 1975104 begleiteten den vertraglich (in ex-Art 201 EWGV) vorgezeichneten Übergang von Finanzbeiträgen der Mitgliedstaaten zu Eigenmitteln durch eine Stärkung des Europäischen Parlaments, insb durch die heute wieder entfallene Unterscheidung zwischen obligatorischen und nichtobligatorischen Ausgaben, und durch die Einführung eines „Rechnungshofs“ als Instrument der externen Rechnungskontrolle. Nach einer langen Zeit der integrationspolitischen Stagnation105 verlieh erst die 19 „Einheitliche Europäische Akte“ von 1986,106 als dem „ersten substantiellen Integrationsfortschritt seit Gründung der EWG und der EAG“,107 dem Integrationsprozess wieder neuen Schub, dies va durch die Verankerung des Binnenmarktziels (unter Einschluss eines erleichterten Rechtsetzungsverfahrens) und durch die Einfügung neuer, bisher nur sekundärrechtlich wahrgenommener Politikbereiche (wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt, Forschung und technologische Entwicklung, Umwelt). Die gleichfalls in der EEA vereinbarte „Europäische Politische Zusammenarbeit“108 blieb, ähnlich wie später die GASP, außerhalb der Integrationsverträge, mithin im völkerrechtlichen Kooperationsbereich.109 Der Maastrichter Unionsvertrag von 1992110 war nicht nur ein Gründungsvertrag (vgl Rn 15), sondern zugleich ein Änderungsvertrag (im Hinblick auf die seinerzeit existierenden Gemeinschaftsverträge), dessen wesentliche Elemente sich wie folgt zusammenfassen lassen: Begründung einer Politischen Union, insb durch Einführung der Unionsbürgerschaft (als reine EG-Bürgerschaft111) und des Bürgerbeauftragten; Initiierung der Währungsunion; Ausweitung der nicht im engeren Sinn ökonomischen Politikbereiche (ua Kultur, Bildung, Gesundheitsschutz, Verbraucherschutz); folgerichtig Umbenennung der EWG in EG. Der Maastrichter Unionsvertrag ist, was die Entwicklung und Konsolidierung der Politikfelder der Union angeht, zweifellos als wichtiger einzustufen als alle Folgeverträge, einschließlich des Vertrags von Lissabon.

_____ 102 Vgl nur EuGH, verb Rs C-201/09 P und C-216/09 P – Kommission / ArcelorMittal Luxembourg ua, Rn 49. Ausgangspunkt dieser Behauptung ist wohl Gutachten 1/91 – EWR I, Rn 21. 103 ABl 1971 L 2/1. 104 ABl 1977 L 359/1. 105 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 48 EUV Rn 5. 106 ABl 1987 L 169/1. 107 Calliess Lissabon S 28. 108 Calliess Lissabon S 29 weist darauf hin, dass die Verklammerung von Bestimmungen betreffend die Gemeinschaften und die EPZ, die jeweils einen unterschiedlichen Integrationsgrad aufwiesen, für die EEA namensgebend gewesen ist. 109 Vgl Streinz/Pechstein Art 1 EUV Rn 1. 110 ABl 1992 C 191. 111 Zu den Gründen der Verankerung der Unionsbürgerschaft im EGV näher Streinz/Magiera Art 20 AEUV Rn 10. Matthias Niedobitek

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Der Vertrag von Amsterdam (1997)112 brachte wichtige Fortschritte im Detail, etwa die Vergemeinschaftung der Regelungen des im Maastrichter Unionsvertrag noch als (nicht ausdrücklich so bezeichnete) Verstärkte Zusammenarbeit enthaltenen Protokolls über die Sozialpolitik, ferner die Einführung einer „Beschäftigungspolitik“, den Ausbau des „Mitentscheidungsverfahrens“ (dh eine weitere Stärkung des Europäischen Parlaments) sowie die Einführung des Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – gem ex-Art 26 EUV personalidentisch mit dem Generalsekretär des Rates –, ohne jedoch unter den Änderungsverträgen eine besonderen Rang einzunehmen. Er verfügt auch, anders als üblich, nicht über eine Präambel, die über die allgemeine Zielsetzung des Vertrages Auskunft geben könnte. Demgegenüber verdeutlicht der Vertrag von Nizza (2001)113 in einer Präambel seine Zielsetzung: Im Mittelpunkt stand die Vorbereitung der Organe auf die seinerzeit bevorstehende Erweiterung der Union, eine Aufgabe, die durch den Amsterdamer Vertrag nicht zufriedenstellend gelöst worden war.114 Allerdings wird auch dem Vertrag von Nizza kein gutes Zeugnis ausgestellt: Seine Regelungen seien „kompromisshaft und sehr kompliziert“ gewesen115 und über ein „Reformminimum“ nicht hinausgekommen.116 Die am 7. Dezember 2000 proklamierte Charta der Grundrechte der Europäischen Union117 wurde nicht in den Vertrag von Nizza integriert – Erwähnung findet sie nur in der (23.) „Erklärung zur Zukunft der Union“, in der die leftovers (ua Klärung des rechtlichen Status der Charta) formuliert wurden. Der Verfassungsvertrag (2004)118 war in formaler Hinsicht ein reiner Grün21 dungsvertrag, da er – technisch gesehen – nicht darauf gerichtet war, die bisherigen Verträge zu ändern, sondern diese umfassend aufheben sollte (vgl Art IV-437). Obwohl der Verfassungsvertrag den acquis communautaire inhaltlich nicht antasten, sondern ihn fortentwickeln sollte (vgl den 5. Erwägungsgrund der Präambel), kann er daher nicht zu den Änderungsverträgen gezählt werden. Der Vertrag von Lissabon (2007),119 der noch genauer behandelt wird (Rn 35–55), vollbringt das Kunststück, das im Verfassungsvertrag angelegte Verhältnis zwischen Form und Inhalt auf den Kopf zu stellen: Technisch gesehen ein Änderungsvertrag, ist er der Sache nach ein Gründungsvertrag.

20

_____ 112 113 114 115 116 117 118 119

ABl 1997 C 340/1. ABl 2001 C 80. Vgl Calliess Lissabon S 36. Oppermann/Classen/Nettesheim 5. Aufl S 15. Calliess Lissabon S 37. ABl 2000 C 364. ABl 2004 C 310. ABl 2007 C 306. Matthias Niedobitek

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d) Beitrittsverträge Beitrittsverträge sind leicht als solche zu erkennen, nicht nur, weil sie in der 22 Rechtsdatenbank der Union EUR-Lex kompakt dargestellt werden,120 sondern weil sie stets als Beitrittsverträge bezeichnet werden. Seit Beginn des europäischen Integrationsprozesses sind 22 Staaten den Gemeinschaften bzw der Union beigetreten: drei Staaten – Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich – traten mit Wirkung vom 1. Januar 1973 bei,121 ein Staat – Griechenland – mit Wirkung vom 1. Januar 1981,122 zwei Staaten – Spanien und Portugal – mit Wirkung vom 1. Januar 1986,123 drei Staaten – Österreich, Finnland und Schweden – mit Wirkung vom 1. Januar 1995,124 zehn Staaten – die Tschechische Republik, Estland, Zypern, Lettland, Litauen, Ungarn, Malta, Polen, Slowenien und die Slowakische Republik – mit Wirkung vom 1. Mai 2004,125 zwei Staaten – Bulgarien und Rumänien – mit Wirkung vom 1. Januar 2007126 und ein Staat – Kroatien – mit Wirkung vom 1. Juli 2013.127 Die Reihenfolge, in der die Staaten in den mehrere Staaten betreffenden Beitrittsverträgen (und auch hier) aufgeführt werden, ist alphabetisch, wobei die Landessprache maßgebend ist.128 Die Beitrittsverträge werden bereits in ihrem Titel, aber auch im jeweiligen Vertragstext, im Singular angesprochen, selbst wenn gleichzeitig mehrere Staaten beitreten. Es stellt sich daher die – später zu behandelnde (Rn 80) – Frage, ob in solchen Fällen tatsächlich, dem äußeren Anschein entsprechend, nur ein Vertrag geschlossen wird oder so viele Beitrittsverträge wie beitretende Staaten. Der Beitritt erstreckte sich stets auf alle existierenden Integrationsgemein- 23 schaften, was zunächst explizit nach EGKS einerseits und EWG und EAG andererseits getrennt geregelt werden musste129 – so im Fall der Beitrittsverträge von 1972, 1979 und 1985 – und später, infolge der Verklammerung der Gemeinschaften durch den Maastrichter Unionsvertrag und durch die Einführung eines einzigen, nur noch die Union betreffenden Beitrittsverfahrens (Artikel O des Maastrichter Unionsvertrages), rechtlich zwingend war – so im Fall der Beitrittsverträge von 1994, 2003 und

_____ 120 S unter https://eur-lex.europa.eu/collection/eu-law/treaties/treaties-accession.html. 121 Beitrittsvertrag: ABl 1972 L 73. 122 Beitrittsvertrag: ABl 1979 L 291. 123 Beitrittsvertrag: ABl 1985 L 302. 124 Beitrittsvertrag: ABl 1994 C 241. 125 Beitrittsvertrag: ABl 2003 L 236. 126 Beitrittsvertrag: ABl 2005 L 157. 127 Beitrittsvertrag: ABl 2012 L 112. 128 Dies mag der Beitrittsvertrag von 2003 verdeutlichen: Česká republika, Eesti, Κύπρος, Latvija, Lietuva, Magyarország, Malta, Polska, Slovenija, Slovensko. Die Beachtung der Landessprache bei der Anordnung der Mitgliedstaaten entspricht der Praxis des Rates, etwa bei der Darstellung von Abstimmungsergebnissen zu EU-Rechtsakten (zugänglich auf der Website des Rates unter „Abstimmungsverfahren“, „Voting results“). 129 Zu den Gründen näher Rn 85. Matthias Niedobitek

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2005. Der Beitrittsvertrag mit Kroatien wurde bereits nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon unterzeichnet. Er erstreckt sich auf die Union und die EAG, wobei der Frage, ob ein Beitritt nur zu einer der beiden Organisationen rechtlich möglich gewesen wäre, genauer zu untersuchen ist (hierzu näher, am Beispiel der Euratom, Rn 55). Abgesehen von Norwegen sind stets alle Staaten, die einen Beitrittsvertrag un24 terzeichnet hatten, Mitglied der Gemeinschaften/Union geworden. Norwegen war Vertragspartei des ersten (1972) und des vierten Beitrittsvertrags (1994), konnte jedoch wegen ablehnender Referenden keinen der beiden Verträge ratifizieren.130 Für den Fall des gleichzeitigen Beitritts mehrerer Staaten treffen die Beitrittsverträge stets Vorsorge für den Fall einer Nichtratifikation, indem sie den Rat ermächtigen, die erforderlichen Anpassungen des Vertrags vorzunehmen.131 Dementsprechend hat der Rat am 1. Januar 1973132 und am 1. Januar 1995133 eine Anpassung der betreffenden Beitrittsverträge beschlossen.

e) Auflösungsverträge 25 Es liegt in der Natur der Sache, dass Gründungsverträge (Rn 14, 15), die anfangs – in

der Phase der Entwicklung und Ausbreitung der europäischen Integration (von der EGKS zu EWG und EAG) – noch ohne Konkurrenz waren, in einem späteren Stadium des inzwischen konsolidierten Integrationsprozesses mit Auflösungsverträgen einhergehen (könnten), jedenfalls soweit die neu gegründete Organisation an die Stelle einer bereits existierenden Organisation treten soll. Die Befristung der Lebensdauer einer Organisation erspart zwar einen Auflösungsvertrag, dieses Modell wurde jedoch nur im Fall der EGKS angewandt (hierzu Rn 14). Als Auflösungsvertrag – und nicht nur als Gründungsvertrag – war daher zu26 nächst der Verfassungsvertrag konzipiert, der in Art I-437 die Aufhebung aller bisherigen Verträge (Gründungs-/Änderungs-/Beitrittsverträge) – freilich mit Ausnahme des EAGV – und mithin die Auflösung aller bisher auf der Grundlage jener Verträge bestehenden Internationalen Organisationen vorsah. 134 Die Auflösung sollte explizit erfolgen und diente der Rechtssicherheit.135 Letztlich reagierte der

_____ 130 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 6. 131 Vgl zuletzt Art 4 II UAbs 2 des Beitrittsvertrag von 2005 über den Beitritt Bulgariens und Rumäniens, ABl 2005 L 157/11. 132 ABl 1973 L 2/1. 133 Beschluss 95/1, ABl 1995 L 1/1. 134 Hierzu näher Niedobitek/Ruth/Niedobitek S 140 ff. 135 Im Europäischen Konvent, der den Verfassungsvertrag vorbereitet hatte, genauer in dessen Gruppe III „Rechtspersönlichkeit“, war darauf hingewiesen worden, dass eine bloße Überlagerung der bestehenden, nicht fusionierten Verträge „vor allem im Hinblick auf die Rechtssicherheit mit Risiken behaftet ist“; vgl den Schlussbericht der Gruppe, Dok CONV 305/02, Ziff 17. In Dok CONV Matthias Niedobitek

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Verfassungsvertrag damit auf die Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union, die eine Vereinfachung und Neuordnung der Verträge als wünschenswert ins Auge gefasst hatte.136 Was den anschließend unterzeichneten Vertrag von Lissabon angeht, so handelt es hierbei sich zwar technisch gesehen um einen Änderungsvertrag, der Sache nach jedoch sowohl um einen Gründungsvertrag (Rn 21) als auch um einen Auflösungsvertrag, da er sowohl die bisherige EU als auch die EG zugunsten der neuen Union aufgehoben hat (hierzu näher Rn 41, 42). Ein Auflösungsvertrag kann allerdings nicht nur, in Verbindung mit einem 27 Neugründungsvertrag, auf die Fortentwicklung der europäischen Integration gerichtet sein, sondern darauf zielen, den Integrationsprozess zu beenden. Die rechtliche – völker- und unionsrechtliche – Zulässigkeit eines solchen Vertrages wird heute allgemein anerkannt. 137 Sie beruht auf der fortbestehenden, durch die EUVerträge nicht beschränkten völkerrechtlichen Verfügungsgewalt der Vertragsstaaten (vgl Rn 5), wie sie in Art 54 lit b) WVK vorausgesetzt wird, und ist gewissermaßen Ausdruck der „destruktiven“ Komponente ihrer Eigenschaft als „Herren der Verträge“.138 Art 53 EUV, 356 AEUV („Dieser Vertrag gilt auf unbegrenzte Zeit“) stehen nicht entgegen.139 Eine Auflösung der Union, die auch verfahrensmäßig außerhalb des Unionsrechts stehen würde (s Rn 100), könnte gem Art 70 WVK allerdings nur ex nunc, dh für die Zukunft, erfolgen.140

f) Austrittsverträge Der Austritt eines Mitgliedstaats, der mit dem „Brexit“ erstmals bevorsteht (Rn 29, 28 173), stellt für die Union zweifellos ein ebenso grundlegendes Ereignis wie ein Beitritt dar, allerdings folgen beide Ereignisse nicht denselben Regeln. Ein von allen Mitgliedstaaten abzuschließender Austrittsvertrag – als actus contrarius zum Beitrittsvertrag – ist im Unionsrecht nicht vorgesehen. Vor Inkrafttreten des

_____ 250/02 wird ebenfalls die Aufhebung der bestehenden Verträge unter dem Blickwinkel der Vereinfachung thematisiert. 136 Vgl die Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates v 14./15. Dezember 2001, Anlage I, S 23 f. 137 Vgl etwa Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 44; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Jaeckel Art 356 AEUV Rn 17; Calliess/Ruffert/Calliess Art 50 EUV Rn 14; Dörr/Schmalenbach/Giegerich Art 54 WVK Rn 47; Vedder/Heintschel vHeinegg/Heintschel vHeinegg Art 50 EUV Rn 2 (auch unter Hinweis darauf, dass diese Frage vor Lissabon umstritten gewesen sei), Art 53 EUV Rn 3; aA Schwarze/Herrnfeld Art 53 EUV Rn 1. 138 Calliess/Ruffert/Calliess VerfEU Art I-60 VVE Rn 7; vgl auch BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (190) – Maastricht. 139 Überzeugend – zu Art 53 EUV – Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 53 EUV Rn 4: Die Bestimmung beschränke sich auf die Feststellung, dass der Vertrag (anders als seinerzeit der EGKSV) nicht befristet sei. 140 Hierzu näher Dörr/Schmalenbach/Wittrich Art 70 WVK Rn 22, 24. Matthias Niedobitek

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Vertrags von Lissabon wurde es zwar überwiegend für zulässig gehalten, einen Mitgliedstaat einvernehmlich aus der Union zu entlassen.141 Mit der Einfügung von Art 50 EUV, der die Möglichkeit des Austritts aus der Union – eine Art „Kündigung“ – nunmehr ausdrücklich regelt, dürfte indes eine davon abweichende einvernehmliche Entlassung eines Mitgliedstaats aus der Union im Wege eines konstitutiv wirkenden Austrittsvertrages der Mitgliedstaaten – ungeachtet seiner völkerrechtlichen Wirksamkeit (vgl Rn 9 aE) – nunmehr unionsrechtlich ausgeschlossen sein.142 Der Austritt eines Mitgliedstaats erfolgt gem Art 50 II 1 EUV durch (einseitige) 29 rechtsgestaltende Mitteilung des austrittswilligen Staates, sie allein bewirkt den (vollständigen143) Austritt. Im Zusammenhang mit dem „Brexit“ hat der EuGH entschieden, dass diese Erklärung jederzeit vor Inkrafttreten eines Austrittsabkommens oder ggf vor Ablauf der in Art 50 III EUV genannten Frist einseitig zurückgenommen werden kann.144 Das in Art 50 II EUV vorgesehene Abkommen mit dem austretenden Mitgliedstaat, das nicht von den Mitgliedstaaten, sondern von der Union geschlossen wird, dient lediglich dazu, die „Einzelheiten des Austritts“ und ggf die künftigen Beziehungen des austretenden Staates zur Union zu regeln. Es ähnelt der Assoziierungskompetenz der Union gem Art 217 AEUV.145 Weder ist somit ein Austrittsabkommen konstitutive Voraussetzung für den Austritt,146 noch könnte das Austrittsabkommen den Austritt mit konstitutiver Wirkung regeln.147 Auch kann ein Austrittsabkommen die Gründungsverträge nicht anpassen, um dem Austritt (textlich) Rechnung zu tragen,148 geschweige denn diese substanziell ändern. Hierzu hätte es einer Art 49 II EUV entsprechenden Regelung des Inhalts bedurft, wonach der Austrittsvertrag die „erforderlich werdenden Anpassungen der Verträge“ enthalten kann. Das Austrittsabkommen muss daher die Kompetenzgrenzen der Union strikt beachten und unterliegt der Rechtskontrolle durch den EuGH, der auch gem Art 218 XI AEUV (analog149) um ein Gutachten zur Vereinbarkeit des Austrittsabkommens mit den Verträgen ersucht werden kann. Somit ist es Sache der verbleibenden Mit-

_____ 141 Zum Meinungsstand vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Jaeckel Art 356 AEUV Rn 9. 142 So auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 45. 143 Ein Teilaustritt – etwa aus der Währungsunion – ist in Art 50 EUV nicht vorgesehen. Gem Art 50 III EUV finden „[d]ie Verträge“ mit Wirksamwerden des Austritts ohne jede Einschränkung keine Anwendung auf den betreffenden Staat mehr. Ebenso Lehner § 2 (in diesem Band) Rn 37; Hummer/Obwexer/Kumin Vertrag von Lissabon S 321; unklar insoweit Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 30. Zu rechtlichen Konstruktionsmöglichkeiten eines Ausscheidens aus der Währungsunion vgl Meyer EuR 2013, 334 ff. 144 EuGH, Rs C-621/18 – Wightman. 145 IErg ähnlich – mit Hinweis auf Art 8 I EUV – Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 31. 146 So zu Recht Calliess/Ruffert/Calliess Art 50 EUV Rn 5. 147 Ebenso iErg Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 13. 148 Erwogen von Hummer/Obwexer/Kumin Vertrag von Lissabon S 319 aus Gründen der Rechtssicherheit; iErg ebenso Calliess/Ruffert/Calliess Art 50 EUV Rn 7. 149 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 32. Matthias Niedobitek

I. Völkerrechtliche Verträge als Grundlage der Union | 25

gliedstaaten, die erforderlichen Vertragsanpassungen im Wege des ordentlichen Änderungsverfahrens gem Art 48 II–V EUV zu vereinbaren.150 Das Austrittsabkommen zwischen dem Vereingten Königreich und der Union sowie der EAG151 dürfte die beschriebenen Grenzen einhalten.

g) Exkurs: Völkerrechtliche Verträge der Mitgliedstaaten jenseits der Integrationsverträge Die Mitgliedstaaten der Union setzen ihre völkerrechtliche Handlungsfähigkeit 30 nicht nur ein, um die Grundlagen der Union durch Gründungs-, Änderungs-, Beitritts- und Auflösungsverträge zu gestalten, sondern auch, um untereinander EU-bezogene völkerrechtliche Verträge zu schließen, die zuweilen in den EU-Verträgen selbst vorgesehen sind, den Integrationsprozess jedenfalls aber flankieren oder fördern sollen. Ihre Nähe zu den (grundlegenden) Integrationsverträgen wird dann deutlich (und problematisch), wenn sie Vertragsänderungen ersetzen oder vermeiden sollen und somit als deren funktionales Äquivalent fungieren (vgl Rn 33). In seltenen Fällen erfordern152 bereits die EU-Verträge selbst ein einvernehmli- 31 ches Handeln der Regierungen der Mitgliedstaaten, wie in den Fällen der Ernennung der Richter und Generalanwälte des EuGH (Art 253 I AEUV), der Ernennung der Richter des EuG (Art 254 II AEUV) und der Regelung des Sitzes der Organe der Union (Art 341 AEUV). Die Herstellung des Einvernehmens stellt eine vereinfachte Form des völkerrechtlichen Vertragsschlusses dar.153 Sofern die Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten darüber hinaus (gemeinsam mit dem Rat) „Entschließungen“ annehmen,154 entbehren diese in der Regel der rechtlichen Verbindlichkeit und haben keinen Vertragscharakter.155 Im Übrigen gibt es zahlreiche, hier nur beispielhaft genannte völkerrechtliche 32 Verträge der Mitgliedstaaten, die den Zweck verfolg(t)en, den Integrationspro-

_____ 150 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 10; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 48 EUV Rn 51. 151 ABl 2019 C 66 I/1. Der Rahmen für die künftigen Beziehungen zwischen dem Vereingten Königreich und der Union sind Gegenstand einer Politischen Erklärung; vgl ABl 2019 C 66 I/185. 152 Eine (abgeschwächte) Verhandlungspflicht enthielt ex-Art 293 EGV, der die Mitgliedstaaten aufforderte, „[s]oweit erforderlich“ Verhandlungen zu bestimmten Fragen einzuleiten (etwa die Vermeidung der Doppelbesteuerung). Ex-Art 293 EGV wurde durch den Lissabonner Vertrag ersatzlos gestrichen. 153 Bleckmann EuR Rn 159, 478. 154 Bspw die Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten zur Weiterentwicklung des strukturierten Dialogs über Sport auf EU-Ebene, ABl 2017 C 425/1. 155 Zur Handlungsform der Entschließung vgl Niedobitek Kultur S 261 ff. Matthias Niedobitek

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zess zu fördern. Zu den frühen Verträgen dieser Art zählte die Satzung der Europäischen Schule v 12. April 1957.156 Die Satzung (und ein 1962 unterzeichnetes Protokoll) wurde durch Vereinbarung der Mitgliedstaaten v 21. Juni 1994157 – nun unter Beteiligung der seinerzeit existierenden drei Europäischen Gemeinschaften – auf eine neue völkerrechtliche Grundlage gestellt.158 Des Weiteren arbeiten die EUMitgliedstaaten (und andere europäische Staaten) auf dem Gebiet des Patentwesens zusammen. So schlossen sie am 5. März 1973 das – zuletzt im Jahr 2000 revidierte – Europäische Patentübereinkommen.159 Um den Patentschutz in der Union zu verbessern haben die meisten EU-Mitgliedstaaten am 19. Februar 2013 ein Übereinkommen über ein einheitliches Patentgericht unterzeichnet.160 Auch der Direktwahlakt von 1976 wird als völkerrechtlicher Vertrag im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts eingeordnet.161 Darüber hinaus ist hier auch die EEA zu erwähnen, da sie nicht nur eine Änderung der seinerzeitigen Gemeinschaftsverträge betraf, sondern darüber hinaus – außerhalb des Gemeinschaftsrahmens – die EPZ als Kooperationsfeld und den Europäischen Rat als Institution völkerrechtlich verankerte (vgl auch Rn 19).162 Ferner bewegte sich das Abkommen „über die Sozialpolitik“ – als Teil des gleichnamigen, dem Maastrichter Unionsvertrag beigefügten Protokolls – außerhalb der Integrationsverträge, auch wenn es einen engen Bezug zu diesen hatte.163 Des Weiteren sind im vorliegenden Zusammenhang die beiden Schengener Abkommen von 1985164 und 1990165 zu nennen, die die Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten des Schengen-Raums zum Gegenstand haben und deren Besitzstand durch den Vertrag von Amsterdam in das Unionsrecht integriert wurde; ähnliches gilt für das „Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrags“,166 das sog „Dubliner Übereinkommen“ von 1990, dessen Regelung heute Gegenstand einer EU-Verordnung ist.167 Ferner haben die Mitgliedstaaten untereinander vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon eine Reihe von Verträgen ge-

_____ 156 BGBl 1965 II 1042. 157 ABl 1994 L 212/3; BGBl 1996 II 2559. 158 Instruktiv zur Geschichte und zum rechtlichen Rahmen der Europäischen Schulen Gruber IOLRev 8 (2011) 1, 175 ff. 159 BGBl 1976 II 826. 160 ABl 2013 C 175/1. 161 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Hölscheidt Art 223 AEUV Rn 19. 162 Vgl Streinz/Pechstein Art 1 EUV Rn 1. 163 Hierzu vgl auch Repasi EuR 2013, 45 (58). 164 GMBl 1985 S 79. 165 BGBl 1993 II 1013. 166 ABl 1997 C 254/1. 167 VO 604/2013, ABl 2013 L 180/31. Matthias Niedobitek

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schlossen, die sich auf die 2. und die 3. Säule des Maastrichter Unionsvertrages (GASP bzw ZBJI/PJZS) bezogen.168 Schließlich ist auch auf die „Internen Abkommen“ der Mitgliedstaaten betr die Finanzierung der AKP-EU-Zusammenarbeit hinzuweisen (hierzu vgl auch Rn 337).169 In neuerer Zeit ist die völkerrechtliche Handlungsfähigkeit der (meisten) EU- 33 Mitgliedstaaten im Kontext der Wirtschafts- und Finanzkrise gefordert gewesen.170 Im Einzelnen geht es vor allem um den ESM-Vertrag und den „Fiskalvertrag“. Der ESM-Vertrag wurde am 2. Februar 2012 von den Staaten des Euro-Währungsgebiets unterzeichnet171 und trat am 27. September 2012 in Kraft.172 Er zielt auf die Einrichtung eines dauerhaften Mechanismus zur Sicherung der Stabilität des EuroWährungsgebietes. Sicherheitshalber – aus Sicht des EuGH entbehrlich173 – verankerten die Mitgliedstaaten im Wege eines vereinfachten Vertragsänderungsverfahrens für den ESM eine Rechtsgrundlage in den Verträgen (Art 136 III AEUV). Der sog „Fiskalvertrag“ v 2. März 2012 (hierzu vgl auch Rn 337),174 der am 1. Januar 2013 in Kraft trat,175 zielt im Kern auf die Verhinderung öffentlicher Defizite der Vertragsstaaten. Thematisch berührt er damit die wirtschaftspolitischen Kompetenzen der Union aus Art 121, 126 AEUV,176 genauer den sog Stabilitäts- und Wachstumspakt.177 Angesichts der ursprünglichen Pläne, die Inhalte des Fiskalvertrags im primären Unionsrecht zu verankern,178 wird den 25 Vertragsstaaten179 vorgehalten, sie seien „in die so genannte Intergouvernementalität“ ausgewichen.180 Die rechtlichen Spielräume der Mitgliedstaaten beim Abschluss völkerrechtli- 34 cher Verträge können hier nicht dargestellt werden.181 Allerdings erscheint die allenthalben getroffene Feststellung, das Unionsrecht schmälere nicht die völker-

_____ 168 Vgl nur die die GASP betreffende Vereinbarung v 17. November 2003 betreffend das „EUTruppenstatut“, BGBl 2005 II 19. 169 Zuletzt vgl das Interne Abkommen v 24./26. Juni 2013, ABl 2013 L 210/1. 170 Hierzu vgl auch Härtel § 6 (in diesem Band) Rn 146 ff. 171 BGBl 2012 II 983. 172 BGBl 2012 II 1086. 173 EuGH, Rs 370/12 – Pringle, Rn 184. 174 Vertrag v 2. März 2012 über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion. 175 BGBl 2013 II 162. 176 So allgemein auch Lorz/Sauer DÖV 2012, 573 (575). 177 Zum Zusammenhang vgl etwa Bieber/Epiney/HaagKotzur § 24 Rn 11, 13. 178 Näher Eppler/Scheller/Niedobitek S 252. 179 Alle seinerzeitigen Mitgliedstaaten außer der Tschechischen Republik und dem Vereinigten Königreich. Diese Mitgliedstaaten und Kroatien können dem Vertrag gem seinem Art 15 beitreten. 180 Schorkopf ZSE 2012, 1 (16). 181 Hierzu umfassend Repasi EuR 2013, 45 ff. Matthias Niedobitek

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rechtliche Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten,182 als unangebracht, so zutreffend sie auch ist. Wichtig ist nämlich nicht, dass die Mitgliedstaaten das Unionsrecht verletzen „können“, sondern wie es ihnen gelingt, dies zu vermeiden. In allen Fällen des Abschlusses völkerrechtlicher Verträge, sei es untereinander oder mit Drittstaaten oder Internationalen Organisationen, sind die Mitgliedstaaten uneingeschränkt verpflichtet, das Unionsrecht beachten.183

3. Die Vertragsgrundlage der Union nach Lissabon a) Überblick 35 Die Vertragsgrundlage der Union nach Lissabon wird in den EU-Verträgen (EUV, AEUV) abschließend als solche bezeichnet. Gem Art 1 III EUV sind Grundlage der Union „dieser Vertrag und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“. Spiegelbildlich formuliert Art 1 II 1 AEUV: „Dieser Vertrag und der Vertrag über die Europäische Union bilden die Verträge, auf die sich die Union gründet“. Beide Verträge sind rechtlich gleichrangig, wie sich aus Art 1 III 2 EUV und Art 1 II 2 AEUV ergibt. Die wechselseitige Zuordnung beider Verträge ist dennoch unklar (hierzu Rn 44–46), was nicht zuletzt mit dem Entstehungsprozess des Vertrags von Lissabon und dessen Einordnung unter den Kategorien von Integrationsverträgen (Rn 13) zusammenhängt (hierzu Rn 36–43). Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist ein (ungeschriebener) Bestandteil von EUV und AEUV und zählt daher auch zur Grundlage der Union184 (hierzu näher Rn 47–50). Der EAGV hingegen ist keiner der Verträge, „auf die sich die Union gründet“, gleichwohl sind Union und EAG eng miteinander verbunden (näher Rn 51–55).

b) Der Vertrag von Lissabon als Änderungs-, Gründungs- und Auflösungsvertrag 36 Der „Vertrag von Lissabon“, wie der Vertrag in seinem Art 7 ausdrücklich bezeichnet

wird, ist einzigartig unter den Integrationsverträgen. Dass er kein Beitrittsvertrag ist, liegt auf der Hand, aber ansonsten fällt er in alle Kategorien von Integrationsverträgen (Rn 13): Er ist Änderungsvertrag, Gründungsvertrag und Auflösungsvertrag in einem. Der Vertrag von Lissabon ist das Ergebnis einer auf Verwirrung, Vernebelung und Verschleierung gerichteten Vertragsgestaltung,185 die nur im Lichte der

_____ 182 Das völkerrechtliche „Können“ werde, so wird der Sache nach richtig festgestellt, durch das Unionsrecht nicht eingeschränkt; vgl nur Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 47 EUV Rn 109; Repasi EuR 2013, 45 (47 ff); vgl ferner oben, Rn 10 aE. 183 EuGH, Rs C-370/12 – Pringle, Rn 69, 72, 121; Rs C-55/00 – Gottardo, Rn 32. 184 Ebenso Schwarze/Schwarze/Wunderlich Art 1 EUV Rn 4; aA Hummer/Obwexer/Obwexer Vertrag von Lissabon S 103. 185 Nüchterner Eilmansberger/Griller/Obwexer/Beaucillon/Erlbacher S 110 f, wonach „soweit wie möglich auf eine Wortwahl verzichtet worden ist, die die Auflösung der EG heraushebt“. Matthias Niedobitek

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Vorgeschichte des Vertrags zu verstehen ist. Nach dem Scheitern des Verfassungsvertrags – als Konsequenz aus ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden186 – sahen sich die Mitgliedstaaten in einer ausweglosen Situation: Einerseits wollten sie den Verfassungsvertrag in seiner Substanz „retten“,187 um die mühsam erreichten Ergebnisse der RK 2003/2004188 nicht in Frage zu stellen und diejenigen Mitgliedstaaten, die den Verfassungsvertrag bereits ratifiziert hatten, nicht zu desavouieren, andererseits war schnell klar, dass ein unveränderter Vertragstext nicht erneut vorgelegt werden konnte.189 Eine Analyse des negativen Ausgangs der Referenden förderte (naturgemäß) zahlreiche Gründe für die ablehnenden Voten zutage,190 allerdings identifizierten die Mitgliedstaaten den „Verfassungscharakter“ des Verfassungsvertrags als Hauptgrund der Ablehnung.191 Das Mandat für die Regierungskonferenz 2007192 trug der komplexen Proble- 37 matik dieser Situation dadurch Rechnung, dass es (a) die RK bat, einen „Reformvertrag“ auszuarbeiten, durch den die bestehenden Verträge geändert würden, (b) feststellte, dass EUV und AEUV „keinen Verfassungscharakter“ haben würden, und (c) feststellte, dass „die auf die RK 2004 zurückgehenden Neuerungen so, wie es in diesem Mandat angegeben ist, in den EUV und den Vertrag über die Arbeitsweise der Union“ eingearbeitet würden.193 Dabei wurde die Rettung des Verfassungsvertrags so weit getrieben, dass im Ergebnis nicht nur dessen materielle Inhalte,194 sondern auch die wichtigsten formalen Aspekte im Wesentlichen erhalten blieben. Um dies zu kaschieren, mussten allerdings alle Register der Kunst der Vertragsgestaltung gezogen werden. Letztlich ging es darum, durch eine verbale Herabstufung des Vertrages zu einem gewöhnlichen Änderungsvertrag nationale Referenden möglichst entbehrlich zu machen. Dies gelang weitgehend; nur in Irland musste ein Referendum durchgeführt werden.195 Gleichwohl erwies sich auch der Prozess der Ratifika-

_____ 186 Vgl Piris Lisbon Treaty S 23 ff. 187 Vgl Streinz/Ohler/Herrmann S 17. Für einen recht detaillierten Überblick über die Änderungen gegenüber dem Verfassungsvertrag, die im Mandat für die Regierungskonferenz 2007 vorgesehen waren, vgl Hummer/Obwexer/Fülöp Vertrag von Lissabon S 78 ff. 188 Die Problematik der Verhandlungen wird deutlich in der Schilderung des Ablaufs der RK von Hummer/Obwexer/Tichy-Fisslberger Verfassung für Europa S 39 ff. 189 Zu diesem Dilemma vgl nur Streinz/Ohler/Herrmann S 24. 190 Für eine detaillierte Übersicht vgl Piris Constitution S 19 ff; hierzu vgl auch Streinz/Ohler/ Herrmann S 23. 191 Streinz/Ohler/Herrmann S 23 meinen, ein entscheidendes Ablehnungsmotiv sei „die in ihren Wirkungen falsch eingeschätzte Bezeichnung als ‚Verfassung‘“ gewesen. 192 Europäischer Rat v 21./22. Juni 2007, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Rats-Dok 11177/1/07, Anlage I. 193 Ebd, Ziff 1, 3, 4. 194 Vgl Streinz/Ohler/Herrmann S 40. 195 Vgl Piris Lisbon Treaty S 51. Matthias Niedobitek

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tion des Vertrags von Lissabon erneut als schwierig.196 Nach dem ablehnenden ersten irischen Referendum197 ebneten der Europäische Rat bzw die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten durch Zusagen hinsichtlich der Zusammensetzung der Kommission198 bzw Klarstellungen hinsichtlich der „Anliegen der irischen Bevölkerung“199 den Weg für den Erfolg des zweiten Referendums und die Ratifikation des Vertrags von Lissabon durch Irland. Zunächst – bei oberflächlicher Betrachtung – ist der Vertrag von Lissabon tat38 sächlich ein „klassischer“ 200 Änderungsvertrag. Der – unvollständige 201 – Titel spricht jedenfalls dafür: „Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft“.202 Nicht nur sein Titel, auch sein gesamtes Erscheinungsbild präsentiert den Vertrag von Lissabon als klassischen Änderungsvertrag. Den Titel des EUV hat er nicht angetastet, während der Titel des EGV durch Art 2 Ziff 1) des Lissabonner Vertrags folgende Fassung erhielt: „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“. Auch im Übrigen weicht der Vertrag von Lissabon, wenigstens dem äußeren Anschein nach, nicht vom Vorbild bisheriger Änderungsverträge ab. Das wird auch, soweit ersichtlich, in der Literatur kaum in Zweifel gezogen.203 Gleichwohl ist die Einordnung des Vertrags von Lissabon als („klassischer“) Änderungsvertrag letztlich irreführend. Der EWGV wurde seinerzeit geschlossen, um eine bestimmte, individualisierbare Gemeinschaft, die (später in EG umbenannte) EWG, zu errichten. Die EG wurde durch den Lissabonner Vertrag jedoch aufgelöst (vgl Rn 41) und der „umbenannte“ (aber eigentlich aufgehobene) EGV diente von nun an nur noch als formale rechtliche Hülle, in die die neue Union „schlüpfen“ konnte. Die Technik des Änderungsvertrages wurde somit nur benutzt, um einen Gründungsvertrag zu kaschieren.

_____ 196 Näher Piris Lisbon Treaty S 49 ff. 197 Zu den Gründen vgl Wessels integration 2008, 312 ff. 198 Es wurde verabredet, einen Beschluss zu fassen, wonach – abweichend vom in Art 17 V UAbs 2 EUV vorgesehenen Rotationssystem – weiterhin ein Staatsangehöriger jedes Mitgliedstaats der Kommission angehört. Als Rechtsgrundlage dient heute Art 17 V UAbs 1 EUV. Der Beschluss wurde am 22. Mai 2013 gefasst (Beschluss 2013/272, ABl 2013 L 165/98). 199 Zu beiden Punkten vgl Europäischer Rat v 18./19. Juni 2009, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Rats-Dok 11225/2/09, Ziff 2, 4; vgl ferner das „Protokoll zu den Anliegen der irischen Bevölkerung bezüglich des Vertrags von Lissabon“, ABl 2013 L 60/131. 200 So Hummer/Obwexer/Fülöp Vertrag von Lissabon S 76. 201 Der Vertrag von Lissabon ändert auch den EAGV; vgl das dem Vertrag von Lissabon beigefügte Protokoll Nr 2 „zur Änderung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft“. 202 ABl 2007 C 306/1. 203 Vgl etwa Craig S 25: “So, let us be clear about the basics. The Lisbon Treaty amends the Treaty on European Union and the Treaty Establishing the European Community”. IErg ebenso, allerdings differenzierter, Biondi/Eeckhout/Ripley/Cremona S 40 ff, ferner Hummer/Obwexer/Obwexer Vertrag von Lissabon S 102. Matthias Niedobitek

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Der Vertrag von Lissabon ist ein Gründungsvertrag, weil er die rechtliche 39 Grundlage einer neuen Union bildet.204 Der rechtliche Kern des Gründungsakts besteht in der Konstituierung der Union als Rechtspersönlichkeit,205 verbunden mit der Schaffung einer neuen Rechtsordnung, die die EG-Rechtsordnung und die alte EURechtsordnung ablöst. Man könnte zwar, um die These einer rechtlichen Kontinuität zwischen der Union vor und nach Lissabon zu untermauern, argumentieren, dass Art 47 EUV lediglich eine (von manchen befürwortete206) bereits vorher bestehende Rechtspersönlichkeit der Union bestätige und außer Streit stelle, allerdings zeigt der Vertrag von Lissabon unabhängig von der Frage der Rechtspersönlichkeit der bisherigen Union, dass er nicht nur die EG, sondern auch die „alte“ EU auflöst (hierzu näher Rn 42). Im Einzelnen bedeutet dies Folgendes: Alle 27 Unterzeichnerstaaten des Vertrags 40 von Lissabon sind Gründungsmitglieder der Union. Kroatien ist der durch den Vertrag von Lissabon neu gegründeten Union beigetreten; dies schlägt sich auch in einem Sprachwechsel des Beitrittsvertrags gegenüber früheren Beitrittsverträgen nieder.207 Die früher geschlossenen Beitrittsverträge sind, soweit sie nicht den Beitritt zur EAG betreffen,208 hinfällig. Grundsätzlich gilt dasselbe auch für alle früheren Gründungs- und Änderungsverträge, auch wenn der Vertrag von Lissabon – anders als der Verfassungsvertrag (Art IV-437 VVE) – dies im Unklaren lässt. Der Vertrag von Lissabon schafft, rechtlich gesehen, auch neue Organe (näher Rn 196, 197). Der Vertrag von Lissabon ist im Hinblick auf die EG und die „alte“ Union – not- 41 wendigerweise (vgl Rn 25) – auch ein Auflösungsvertrag. Eindeutig geregelt ist dies im Hinblick auf die EG. Art 1 III 3 EUV bestimmt: „Die Union tritt an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft, deren Rechtsnachfolgerin sie ist“.209 Um diese

_____ 204 So die hM; vgl etwa Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 38; Calliess/Ruffert/Ruffert Art 47 EUV Rn 1. 205 Dies unterschätzt Hummer/Obwexer/Obwexer Vertrag von Lissabon S 105, der meint, die mit dem EU-Vertrag v 1992 gegründete EU werde beibehalten und erhalte ausdrücklich den Status einer Internationalen Organisation. Implizit ebenso Hummer/Obwexer/Erlbacher Vertrag von Lissabon S 126: „Die Union erhält eine einheitliche Rechtspersönlichkeit“ (Hervorhebung hinzugefügt). 206 Zur Diskussion vgl etwa Calliess/Ruffert/Ruffert Art 47 EUV Rn 2. 207 Während bspw gem Beitrittsvertrag 2003 die Beitrittsstaaten „Vertragsparteien der die Union begründenden Verträge in ihrer jeweiligen geänderten oder ergänzten Fassung“ wurden (Art 1 I), wurde Kroatien „Vertragspartei des Vertrags über die Europäische Union, des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft in ihrer jeweiligen geänderten oder ergänzten Fassung“ (Art 1 II). Damit dokumentieren die Vertragsstaaten, dass sie EUV und AEUV – letztlich den Vertrag von Lissabon – als neue Grundlage der Union betrachten. 208 Dies wurde im Verfassungsvertrag ausdrücklich geregelt; vgl Art 1 II Protokoll Nr 36 zur Änderung des EAGV, ABl 2004 C 310/391. 209 Die von der Union angetretene Rechtsnachfolge der EG als Partei völkerrechtlicher Verträge, insb ein entsprechendes Schreiben der Präsidenten von Rat und Kommission an den Generalsekretär der Vereinten Nationen, wurde im Bundesgesetzblatt bekannt gemacht; vgl BGBl 2010 II 250. Matthias Niedobitek

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Rechtslage zu erzeugen, war es notwendig, die EG als Rechtspersönlichkeit, letztlich die durch sie verkörperte Rechtsordnung,210 aufzuheben. Der Vertrag von Lissabon bewerkstelligt dies pietätlos. Art 2 Ziff 280) bestimmt in S 1 lapidar: „Die Artikel 281, 293, 305 und 314 werden aufgehoben.“, womit die in ex-Art 281 EGV verankerte Rechtspersönlichkeit der EG gestrichen war.211 Was die vor Lissabon existierende Union angeht, enthält der Vertrag von Lissa42 bon keine entsprechende Bestimmung. Auch beschränkt Art 1 III 3 EUV die Regelung der Rechtsnachfolge auf das Verhältnis zwischen neuer Union und EG, nicht jedoch – wie seinerzeit noch der Verfassungsvertrag (Art IV-438 I VVE) – auch auf die „alte“ Union.212 Daraus könnte gefolgert werden, dass die „alte“ Union auch auf der Grundlage des Vertrags von Lissabon weiter existiert, wobei ihre Rechtspersönlichkeit in Art 47 EUV lediglich klargestellt wäre (vgl hierzu auch Rn 39). Jedoch geht der Vertrag von Lissabon von einer solchen Konstruktion nicht aus. Art 9 des (36.) Protokolls über die Übergangsbestimmungen ordnet nämlich – praktisch wortgleich mit Art IV-438 III VVE – an, dass Rechtsakte, „die vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auf der Grundlage des Vertrags über die Europäische Union angenommen wurden, […] so lange Rechtswirkung [behalten], bis sie in Anwendung der Verträge aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert werden“. Hatte Art IV-438 III VVE die Bedeutung, ein rechtliches Vakuum zu vermeiden,213 das durch die umfassende Aufhebung der bis dahin bestehenden Integrationsverträge entstanden wäre, so ist dies im Fall des Vertrags von Lissabon nicht anders. Art 9 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen wäre maW überflüssig gewesen, wenn der Vertrag von Lissabon nicht eine neue, von der früheren Union verschiedene Organisation gegründet und die alte Union implizit aufgelöst hätte. Auch die Tatsache, dass die Union seit Lissabon erstmals mit einer eigenen institutionellen Struktur ausgestattet ist (vgl Rn 197), bestätigt die Auffassung, wonach der Union in Art 47 EUV eine Rechtspersönlichkeit neu verliehen wurde. Dass der Titel des EUV nicht geändert werden musste, ist nur dem Umstand zu verdanken, dass

_____ 210 Die Auflösung einer Internationalen Organisation hat zur Folge, dass ihre Rechtsordnung erlischt, soweit nicht mittels einer Kontinuitätsregelung für die Übernahme des Normenbestands durch eine andere Organisation Sorge getragen wurde; hierzu näher Niedobitek/Ruth/Niedobitek S 140 ff. 211 Angesichts der klaren Rechtslage ist die Feststellung von Hummer/Obwexer/Erlbacher Vertrag von Lissabon S 131 nicht nachvollziehbar, es sei nach dem Wortlaut des Art 1 III EUV „nicht eindeutig, ob die Rechtsnachfolge völkerrechtlich nach dem Prinzip der Sukzession oder der Kontinuität erfolgen“ solle, der Gesamtzusammenhang deute jedoch eher darauf hin, dass die Rechtspersönlichkeit der EG „nach dem Prinzip der Kontinuität durch die EU fortgesetzt“ werde. Klargestellt von Eilmansberger/Griller/Obwexer/Beaucillon/Erlbacher S 105 f. 212 Darauf weist auch Calliess/Ruffert/Calliess Art 1 EUV Rn 7 hin. 213 Vgl Niedobitek/Ruth/Niedobitek S 147 ff. Matthias Niedobitek

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die neue Union den gleichen Namen trägt wie die alte.214 Das Schreiben der Präsidenten von Rat und Kommission vom 30. November 2009, mit dem dem Generalsekretär der Vereinten Nationen die Rechtsnachfolge der Union in die von der EG geschlossenen völkerrechtlichen Verträge mit VN-Bezug mitgeteilt wurde, 215 geht ebenfalls von einer Auflösung der alten EU aus, wenn es dort ua heißt: „Daher wird die Europäische Union ab diesem Tag alle Rechte der Europäischen Gemeinschaft ausüben und alle ihre Pflichten übernehmen, einschließlich ihres Status innerhalb der Vereinten Nationen; gleichzeitig wird sie weiterhin die bestehenden Rechte der Europäischen Union ausüben und deren Pflichten übernehmen.“216 Der Vertrag von Lissabon ist auch, materiell betrachtet, weit davon entfernt, den 43 EUV bloß zu ändern. Die meisten früheren Bestimmungen wurden durch vollständig neu formulierte Bestimmungen ersetzt.217 Dass die Artikel betreffend Vertragsänderungen (Art 48 EUV) und Beitritt (Art 49 EUV) dieselbe Ziffer tragen wie vorher, ist genauso zufällig wie die erwähnte Namensgleichheit beider Organisationen. All dies bestätigt, dass es letztlich nicht um eine „klassische“ Vertragsänderung ging, sondern um die Erschaffung einer nicht nur formal, sondern auch materiell „neuen“ Union.

c) Das Verhältnis zwischen EUV und AEUV Das Verhältnis zwischen EUV und AEUV wird durch den Vertrag von Lissabon ge- 44 nauso verschleiert wie seine Eigenschaft als Gründungsvertrag. Beides hängt auch notwendig zusammen: Als „Änderungsvertrag“ musste der Vertrag von Lissabon von zwei Verträgen ausgehen: dem EUV und dem EGV. Als „Änderungsvertrag“ durfte der Vertrag von Lissabon die „Selbständigkeit“ dieser beiden Verträge nicht (wenigstens nicht offensichtlich) antasten. Andernfalls wäre sichtbar geworden, dass der Vertrag von Lissabon nichts anderes ist als ein juristisch kaschierter Verfassungsvertrag. Tatsächlich bemüht sich der Vertrag von Lissabon, den Eindruck zu erwecken, er ändere die bislang existierenden Verträge: Er enthält einen ersten Artikel, der den EUV ändert, und einen zweiten Artikel, der den EGV ändert. Beide Verträge, EUV und umbenannter EGV, behalten auch ihre jeweils eigene Präambel. Beide Verträge haben jeweils eigene Bestimmungen betreffend den räumlichen und den zeitlichen Geltungsbereich und sogar ein jeweils eigenes Ratifikationserfordernis. Bei oberflächlicher Betrachtung ist die Illusion perfekt. In Wahrheit hat der Vertrag von Lissabon den EUV und den EGV, materiell ge- 45 sehen, zu einem einzigen Vertrag verschmolzen, wobei dieser neue Vertrag –

_____ 214 Zwischenzeitlich waren andere Bezeichnungen für die neue Union erwogen worden; vgl B Fassbender AVR 2004, 26 (27). 215 BGBl 2010 II 250. 216 Hervorhebung hinzugefügt. 217 Vgl insofern auch den Hinweis von Hummer/Obwexer/Fülöp Vertrag von Lissabon S 79. Matthias Niedobitek

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nennen wir ihn „Unionsvertrag“ – auf zwei (nicht drei218) Texte verteilt ist. Es wurde bereits dargelegt (Rn 4), dass sich ein Vertrag – als ein von anderen Verträgen abgrenzbares Geschöpf einer bestimmten Rechtsordnung – durch die Willenseinigung der Vertragsparteien individualisiert, deren Gegenstände aus Sicht der Vertragsparteien in einen notwendigen Zusammenhang stehen. Dass dies bei den EU-Verträgen der Fall ist, liegt auf der Hand. Einige Hinweise müssen genügen. Beide Verträge zusammen sind Grundlage einer einzigen Internationalen Orga46 nisation, der Union, keiner von beiden ist wichtiger als der andere, zuddem sind sie auch rechtlich gleichrangig (Art 1 III 2 EUV, 1 II 2 AEUV). Der eine Vertrag ist ohne den anderen nicht denkbar.219 Dies wird besonders darin deutlich, dass EUV und AEUV vielfach aufeinander Bezug nehmen und sich kumulativ als „(die) Verträge“ legaldefinieren, auf denen die Union beruht (vgl Art 1 III 1 EUV, 1 II 2 AEUV). Der neu formulierte (Rn 43) EUV nimmt nur in wenigen Fällen allein auf „diesen Vertrag“ (im Singular) Bezug (so in den formalen Bestimmungen der Art 53–55 EUV), weil der AEUV analoge Bestimmungen enthält (Art 356–358 AEUV). Was den AEUV angeht, entledigt sich der Vertrag von Lissabon der Umstellung auf die „ZweiVertrags-Lösung“220 noch eleganter, indem er in Art 2 Ziff 2) a) anordnet: Im gesamten Vertrag „werden die Worte ‚dieser Vertrag‘ durch die Worte ‚die Verträge‘ ersetzt, in der entsprechenden grammatikalischen Form und mit den entsprechenden grammatikalischen Anpassungen“. Beide Verträge können auch in zahlreichen Punkten nicht ohne den jeweils anderen gelesen werden. Dies gilt va für die Organe, die im EUV grundlegende und im AEUV konkretere Bestimmungen enthalten (auch insoweit verweist der AEUV vielfach auf den EUV, bspw in Art 246 AEUV). Auch die Bestimmungen betreffend Beitritt (Art 49 EUV), Austritt (Art 50 EUV) und Vertragsänderungen (Art 48 EUV) beziehen sich zwingend auf die eine Union und mithin auf beide Verträge. Dies war zwar, was den Beitritt zur früheren Union und Vertragsänderungen angeht, vor Lissabon nicht anders geregelt (vgl ex-Art 49, ex-Art 48 EUV), allerdings erfüllten diese Artikel damals eine andere Aufgabe als heute: Sie bezogen sich auf zunächst drei, später noch zwei rechtliche selbständige Gemeinschaften und auf die (gem der seinerzeit hM) rechtlich noch nicht personifizierte Union. Sie bewirkten zwar eine rechtliche Verklammerung der Gemeinschaften untereinander und mit der ex-Union,221 die va in ex-Art 1 III 1 EUV zum Ausdruck kam222 und nicht

_____ 218 Biondi/Eeckhout/Ripley/Cremona S 40 titelt: “The Two (or Three) Treaty Solution”, wobei mit dem dritten Vertrag der EAG-Vertrag gemeint ist. Allerdings zählt dieser nicht zu den Grundlagen der Union. 219 So auch Biondi/Eeckhout/Ripley/Cremona S 44: “ … incapable of standing alone …”. 220 In Anlehnung an Biondi/Eeckhout/Ripley/Cremona S 41: “The Two Treaty Solution”. 221 So auch Streinz/Pechstein EUV/EGV Art 1 EUV Rn 22. 222 Wortlaut: „Grundlage der Union sind die Europäischen Gemeinschaften, ergänzt durch die mit diesem Vertrag eingeführten Politiken und Formen der Zusammenarbeit“. Matthias Niedobitek

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zuletzt der lange vorher erfolgten Fusionierung der Organe (vgl Rn 18) Rechnung trug. Jedoch tangierte diese Verklammerung nach hM nicht die grundsätzliche rechtliche Trennung von Gemeinschaften und Union und die rechtliche Selbständigkeit der zugrundeliegenden Verträge.223 Seit „Lissabon“ bildet jedoch die eine Union den rechtlichen Bezugspunkt von EUV und AEUV, so dass beide „Verträge“ einen einzigen Vertrag, verteilt auf zwei Texte, darstellen. Art 40 EUV steht dem nicht entgegen. Die Bestimmung betrifft nicht das Verhältnis der beiden Verträge zueinander (sie war auch schon im Verfassungsvertrag in Art III-308 VVE enthalten), sondern das Verhältnis zwischen der GASP und den Politikbereichen des AEUV.224 Die Anordnung der wechselseitigen „Unberührtheit“ wird allgemein überschätzt.225 Letztlich ist sie nichts anderes als eine spezifische, den betroffenen Politikfeldern Rechnung tragende Ausformung des Grundsatzes begrenzter Ermächtigung.226

d) Die Charta der Grundrechte als Bestandteil des primären Unionsrechts Die Charta der Grundrechte sollte als Teil II des Verfassungsvertrags in das primäre 47 Unionsrecht Eingang finden. Nach dessen Scheitern gelang es der RK 2007, das eigentliche Anliegen der Charta, „die überragende Bedeutung der Grundrechte und ihre Tragweite für die Unionsbürger sichtbar zu verankern“,227 zu konterkarieren. Das Mandat für die RK 2007228 erwähnte in Ziff 4 unter den inhaltlichen Neuerungen gegenüber der RK 2004 die „Behandlung der Charta der Grundrechte“, der nur noch durch einen „Querverweis“ rechtliche Verbindlichkeit verliehen werden sollte. Ein (verschämter) Fußnotenhinweis vermerkt dazu: „Daher wird der Text der Charta der Grundrechte nicht in den Verträgen enthalten sein“. Hintergrund dieser unglücklichen Behandlung der Charta waren unüberbrückbare Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten, wobei zu den Gegnern einer Aufnahme der Charta in

_____ 223 Zur Diskussion und zum seinerzeitigen Meinungsstand vgl nur Streinz/Pechstein EUV/EGV Art 1 EUV Rn 24, 25. 224 Vgl EuGH, Rs C-72/15 – Rosneft, Rn 84 ff. 225 Vgl die Kommentierungen von Art 40 EUV. 226 In diese Richtung überlegt auch Biondi/Eeckhout/Ripley/Cremona S 56. Im Ergebnis ebenso Calliess/Ruffert/Cremer Art 40 EUV Rn 11: „Allerdings verlangt Art. 40, die Frage, auf welche Befugnisse eine Maßnahme zu stützen und damit nach welchen Verfahren sie zu erlassen ist, eindeutig zu beantworten. Daher ist es ausgeschlossen, eine Maßnahme zugleich auf Ermächtigungen aus dem Bereich der GASP und einer sonstigen Unionspolitik zu stützten“. Vorsichtiger hinsichtlich des letzten Punkts allerdings Biondi/Eeckhout/Ripley/Cremona S 57 f. 227 Europäischer Rat v 3./4. Juni 1999, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Anhang IV, erster Absatz, zugänglich auf der Website des Europäischen Rates unter „Schlussfolgerungen“. 228 Europäischer Rat v 21./22. Juni 2007, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Rats-Dok 11177/1/07, Anlage I. Matthias Niedobitek

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die Verträge – ja selbst in eine bloße Erklärung229 – vor allem das Vereinigte Königreich zählte.230 Durch die von der RK 2007 bewirkte „Unsichtbarmachung“ der Charta231 sollte „zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung die Verbindung zum Reformvertrag weniger stark zum Ausdruck kommen“.232 Es ist nicht weniger als absurd, dass dem Vertrag von Lissabon zwar ein – im Rang des Primärrechts stehendes (Art 51 EUV) – Protokoll über die Anwendung der Charta beigefügt wurde,233 nicht jedoch ein Protokoll mit dem Text der Charta selbst. Art 6 I Halbs 1 EUV bestimmt, dass die Union „die Rechte, Freiheiten und Grund48 sätze [anerkennt], die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung niedergelegt sind“. Dass diese Anerkennung sich jedoch nicht lediglich, wie es zunächst scheinen könnte, auf die „Rechte, Freiheiten und Grundsätze“ der Charta bezieht, sondern auf die Charta insgesamt, verdeutlicht Halbs 2. Danach sind „die Charta der Grundrechte und die Verträge […] rechtlich gleichrangig“. Bestätigt wird dies durch die dem Vertrag von Lissabon beigefügte „Erklärung zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union“,234 wonach „[d]ie Charta der Grundrechte“ (insgesamt) – einschließlich ihrer Präambel235 – rechtsverbindlich ist. Die Anerkennung bezieht sich somit auf die am 12. Dezember 2007236 als unverbindlicher Text („feierlich“) von Europäischem Parlament, Rat und Kommission proklamierte Fassung der Charta.237 Dass die Charta rechtlich bindend ist, ergibt sich allein aus Art 6 I UAbs 1 EUV, 49 der einen Statuswechsel der Charta bewirkt.238 Als aus sich heraus rechtlich verbindlicher Text des primären Unionsrechts existiert die Charta daher nicht. Die Anerkennung der Charta-Verbürgungen in Art 6 I UAbs 1 EUV bedeutet somit, dass neben die fortexisitierende unverbindliche Fassung der Charta eine „unsichtbare“

_____ 229 Vgl den Hinweis von Hummer/Obwexer/Fülöp Vertrag von Lissabon S 84. 230 Vgl nur Hummer/Obwexer/Fülöp Vertrag von Lissabon S 84; Piris Lisbon Treaty S 150. Zu den „four ‚red lines‘“ des Vereinigten Königreichs vgl Biondi/Eeckhout/Ripley/Berman S 23. 231 Hierzu näher Merten/Papier/Niedobitek HGR VI/1 § 159 Rn 21. Zu Recht bezeichnen Biondi/Eeckhout/Ripley/Anderson/Murphy S 159 diese Situation als paradox. Plastisch auch Craig S 200, wonach „[t]he approach adopted by the Lisbon Treaty to the Charter is ‘messier’ than that in the Constitutional Treaty”. 232 Hummer/Obwexer/Fülöp Vertrag von Lissabon S 84. 233 „Protokoll (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich“, ABl 2016 C 202/312. 234 1. Erklärung der Regierungskonferenz, ABl 2016 C 202/337. 235 AA Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 6 EUV Rn 21. 236 Im Anschluss an den Text der Charta, jedoch vor den Unterschriften der Präsidenten der proklamierenden Organe, wird bestimmt, dass die im Jahr 2007 angepasste Fassung der Charta die Charta von 2000 „ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon“ ersetzt. 237 Ebenso Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 6 EUV Rn 21. 238 Zutreffend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 6 EUV Rn 21, dem allerdings darin nicht gefolgt werden kann, dass die Verweisung auf die Charta nicht deren Präambel umfassen soll. Matthias Niedobitek

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verbindliche Fassung getreten ist.239 An der „Unsichtbarkeit“ ändert auch nichts, dass die Charta der Grundrechte, im Hinblick auf ihre seinerzeit bevorstehende rechtliche Verbindlichkeit, im deutschen Bundesgesetzblatt veröffentlicht wurde240 (auch wenn der „Sichtbarkeit“ der Charta damit gewiss ein Dienst erwiesen wurde), denn die Veröffentlichung enthält notwendigerweise den Text der 2007 proklamierten unverbindlichen Charta; die Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt, mag sie aus rechtsstaatlichen Gründen geboten gewesen sein, kann die textliche Sichtbarmachung im Primärrecht der Union nicht ersetzen. Im Ergebnis ist die Charta als geschriebener Text unverbindlich und als verbindlicher Text ungeschrieben – gewiss ein „clever piece of drafting“.241 Während über den Charakter der Charta als Bestandteil des primären Unions- 50 rechts Einvernehmen herrscht,242 ist die rechtliche Konstruktion dieses Ergebnisses umstritten. Art 6 I EUV geht seinem Wortlaut nach davon aus, dass die Charta der Grundrechte etwas anderes als die Verträge, ein „Drittes“, ist, auf das sich die Anerkennung seitens der Union bezieht. Demnach, so wird gesagt, sind die Verträge und die Charta „streng zu unterscheiden“.243 So einleuchtend diese Auffassung auf den ersten Blick ist, vermag sie letztlich nicht zu überzeugen. Art 6 I EUV kann nämlich nicht wörtlich genommen werden. Er geht zwar (zunächst und zu Recht) davon aus, dass die Charta außerhalb der Verträge steht, jedoch ist es gerade Aufgabe von Art 6 I EUV, es dabei nicht zu belassen, sondern die Charta durch Verweisung zu inkorporieren.244 Die Inkorporation der Charta erfolgt indes nicht – unspezifisch – in das „primäre Unionsrecht“,245 sondern ganz konkret in „die Verträge“, wie auch Art 6 I Halbs 2 EUV deutlich macht.246 Dies folgt schon – rechtstheoretisch – daraus, dass die verweisende Norm, die einen außerhalb ihrer selbst stehenden Normenbestand heranzieht, über dessen Rang und rechtliche Verortung entscheidet.247 Die Verweisung in Art 6 I EUV bewirkt somit, dass die Charta der Grundrechte Bestandteil beider EU-Verträge, des EUV und des AEUV, geworden ist248 und ggf dem or-

_____ 239 Zur Wirkungsweise einer durch Verweisung bewirkten Inkorporation einer (auch außer- bzw nichtrechtlichen) Norm näher T Schilling S 304 f: Es werde für die Zwecke der verweisenden Rechtsordnung bzw Norm eine „inhaltliche parallele Norm“ neu geschaffen; ebenso S 312. 240 BGBl 2008 II 1165. 241 So – wenn auch in einem anderen Zusammenhang – Biondi/Eeckhout/Ripley/Cremona S 45. 242 Vgl nur Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 6 EUV Rn 28; Streinz/Streinz Art 6 EUV Rn 2; Schwarze/Hatje Art 6 EUV Rn 6. 243 So in der Tat Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 6 EUV Rn 20. 244 Zu dieser Wirkung einer Verweisung vgl allgemein T Schilling S 421. 245 So etwa Schwarze/Schwarze Art 1 EUV Rn 4. 246 Ebenso, mit überzeugender Begründung, Schwarze/Hatje Art 6 EUV Rn 6. 247 Vgl T Schilling S 167. 248 Grundsätzlich ebenso, aber in Nuancen anders Terhechte S 65–67: Die Charta sei wie ein Bestandteil der Verträge zu behandeln (S 67). Matthias Niedobitek

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dentlichen Vertragsänderungsverfahren unterliegt, das jedoch wegen des Zusammenspiels zwischen dem proklamierten unverbindlichen Text und Art 6 I UAbs 1 EUV besondere Voraussetzungen hat (hierzu vgl Rn 91).

e) Das Verhältnis zwischen der Union und der Euratom 51 Das Verhältnis zwischen der Union und der Europäischen Atomgemeinschaft – in

der Präambel und in Art 1 EAGV kurz als „Euratom“ bezeichnet – ist auf den ersten Blick klar. Während EUV und AEUV die Grundlage der Union bilden, bildet der EAGV die Grundlage der Euratom. Ebenso wie die Union (Art 47 EUV) verfügt die Euratom über Rechtspersönlichkeit (Art 184 EAGV). An dieser rechtlichen Trennung beider Organisationen ist an sich auch nichts zu deuteln.249 Indessen ist nicht zu übersehen, dass die Rechtspersönlichkeit der Euratom nur noch gleichsam „virtueller“ Natur ist,250 da sie rechtlich-institutionell solchermaßen eng mit der Union verbunden wurde, dass sie im Ergebnis von der Union nicht mehr zu trennen ist.251 Wenn daher in der Literatur die Auffassung vertreten wird, der EAGV sei „nicht mehr als Gründungsvertrag für eine eigenständige Internationale Organisation anzusehen, sondern als (teil-)verfassungsrechtliche Grundlage der EU“,252 so ist das rechtlich gesehen zwar nicht korrekt,253 aber im praktisch-politischen Ergebnis doch zutreffend. Die enge Verbindung zwischen der Euratom und der Union resultiert aus 52 einer Geltungserstreckung der meisten institutionellen und finanziellen Bestimmungen der EU-Verträge auf den EAGV. Der durch den Vertrag von Lissabon in den EAGV eingefügte Art 106a regelt dies in den ersten beiden Absätzen. Art 106a I EAGV nennt die betreffenden Artikel des EUV und des AEUV sowie das Protokoll über die Übergangsbestimmungen; diese Vorschriften, so sagt Art 106a I EAGV, „gelten auch für diesen Vertrag“. Art 106a II EAGV bestimmt im Wesentlichen, dass Bezugnahmen auf die Union in jenen Vorschriften im Kontext des EAGV als Bezugnahmen auf die Euratom zu gelten haben. Voraussetzung der Geltungserstreckung war die Streichung aller entsprechenden Bestimmungen des EAGV, wie dies in Art 5 des dem Vertrag von Lissabon beigefügten Protokolls Nr 2 zur Änderung des EAGV254 angeordnet wurde.

_____ 249 So auch Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 38; Hummer/Obwexer/Kumin Vertrag von Lissabon S 321 iVm Fn 36. 250 Im Zuge der Ausarbeitung des Verfassungsvertrages war zunächst vorgesehen gewesen, die Rechtspersönlichkeit der Euratom aufzuheben, was jedoch wieder revidiert wurde. Hierzu näher Busek/Hummer/Hummer S 37–40; zusammenfassend Munke/Thoß/Niedobitek S 24 f. 251 C Nowak S 84 untertreibt stark, wenn er schreibt, vollkommen beziehungslos stünden die Euratom und die Union nicht nebeneinander. 252 Oppermann/Classen/Nettesheim § 9 Rn 4. 253 Ungenau auch Borchardt Rn 83, nach Rn 104, der den EAGV zu den „Unionsverträgen“ zählt. 254 ABl 2007 C 306/199. Matthias Niedobitek

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Im Einzelnen bedeutet dies, dass die Euratom nicht über eigene (bzw mit den 53 Unionsorganen fusionierte gemeinsame) Organe verfügt, sondern auf die Organe der Union angewiesen ist, die mithin als solche, als Organe der Union, für die Euratom handeln.255 Nicht zutreffend erscheint es, Art 106a I EAGV dahin zu deuten, die Verweisung auf Bestimmungen des Unionsrechts habe nur dazu gedient, „Wiederholungen zu vermeiden und den Euratom-Vertrag rechtstechnisch an [das Unionsrecht 256 ] anzupassen“. 257 Die aufwändig begründete Gegenmeinung 258 vermag letztlich in keinem Punkt zu überzeugen.259 Es findet keine Inkorporation der betreffenden Bestimmungen des Unionsrechts in den EAGV statt,260 vielmehr erstreckt Art 106a I EAGV deren Geltungsbereich auf den EAGV. Wiederholungen zu vermeiden, war gewiss nicht ein Hauptanliegen des Lissabonner Vertrags.261 Die Bestimmungen des EUV und des AEUV hätten mühelos mutatis mutandis in den EAGV „eingearbeitet“ werden können, wie dies Art 1 Ziff 21) des Lissabonner Vertrags im Hinblick auf Titel IV des bisherigen EUV (betreffend Änderungen des EAGV) angeordnet hat. Indem Art 106a II EAGV dafür sorgt, dass die in Bezug genommenen Bestimmungen des Unionsrechts sprachlich an das vertragliche Umfeld des EAGV angepasst werden, entspricht er einer bloßen Selbstverständlichkeit, denn natürlich würde die Geltungserstreckung leerlaufen, wenn die betreffenden Bestimmungen der EU-Verträge weiterhin allein die Union adressieren würden. Folgerungen hinsichtlich einer Fortexistenz eigener Organe der Euratom lassen sich daraus somit nicht ziehen.262 Soweit der EAG-Vertrag dennoch in einzelnen, durch den Vertrag von Lissabon nicht geänderten Vorschriften von den „Organen der Gemeinschaft“ bzw von „ihren“ Organen spricht,263 sind diese Bestimmungen im Lichte der dargelegten Ersetzung der EAG-Organe durch Unionsorgane zu lesen. Da die Euratom nicht über eigene Organe verfügt, scheidet eine „Fusion“ der 54 Organe von Union und Euratom aus. Auch eine „Organleihe“ trifft die rechtliche Situation nicht,264 da der EAGV für die Unionsorgane kein „geliehener“, kein eigentlich „fremder“, sondern ihr ureigener Tätigkeitsbereich ist. Dies bedeutet im

_____ 255 Ebenso etwa Busek/Hummer/Hummer S 39; Busek/Hummer/Obwexer S 125. 256 Im Original: „den Verfassungsvertrag“. 257 Papenkort S 161. 258 Va vertreten von Papenkort. 259 Hierzu im Einzelnen Munke/Thoß/Niedobitek S 21–34. 260 Dies meinen aber Biondi/Eeckhout/Ripley/Cremona S 59; Vedder/Heintschel vHeinegg/ Indlekofer/Schwichtenberg Einführung: Euratom und Union (S 1543 ff) Rn 3. 261 Es gibt viele Redundanzen, etwa die mehrfach getroffene Feststellung, dass die der Union nicht übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten verbleiben (vgl Art 4 I, 5 II 2 EUV, ferner Erklärung Nr 18 zur Abgrenzung der Zuständigkeiten, ABl 2012 C 326/346). 262 So indes Papenkort S 159. 263 Vgl insb Art 188 II, 189, 192 I, 194 EAGV. 264 So bereits Niedobitek FS Heinrich Siedentopf, 2008, S 100; aA Schwarze/Hatje Art 13 EUV Rn 1: Organleihe. Genauer Vedder/Heintschel vHeinegg/Rodi Art 106a EAGV Rn 2: „Personalunion“. Matthias Niedobitek

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Ergebnis, dass der Zuständigkeitsbereich der Unionsorgane – (nur) insofern ähnlich wie früher bei den „fusionierten“ Organen der Europäischen Gemeinschaften – aufgrund von Art 106a EAGV weiter reicht als die Unionsverträge. Die enge Verbindung zwischen Union und Euratom geht über die institutionelle 55 Seite weit hinaus. Nicht nur steht die Euratom gewissermaßen unter Kuratel der Unionsorgane, Union und Euratom sind auch ansonsten auf das Engste miteinander verbunden. Dies betrifft insb den Unionshaushalt sowie Beitritt und Austritt aus Union/Euratom. Art 106a II EAGV (Rn 53) ist kein Indiz für die Möglichkeit einer isolierten Anwendung der unionsrechtlichen Bestimmungen auf die Euratom. Art 106a I EAGV regelt nicht nur, gleichsam technisch, die Geltungserstreckung der dort genannten Bestimmungen des Unionsrechts, sondern zielt materiell auf einen Gleichklang zwischen Union und Euratom. Was bspw den Beitritt (Art 49 EUV) angeht, ist Art 106a I EAGV dahin zu verstehen, dass sich dieser zwingend sowohl auf die Union als auch auf die Euratom erstreckt; eine andere Konstruktion wäre auch rechtlich nicht durchführbar, sie würde leerlaufen.265 Damit verfehlt der Vertrag von Lissabon das mit der Aufrechterhaltung der Rechtspersönlichkeit der Euratom verfolgte Ziel, die Möglichkeit eines isolierten Austritts aus der Euratom offen zu halten.266 Die Beitrittspraxis nach Lissabon bestätigt diese Rechtslage: Kroatien ist gem Art 1 I des Beitrittsvertrags267 sowohl der Union als auch der Euratom beigetreten; Art 1 der Beitrittsakte definiert den Ausdruck „Union“ als „die durch den EUV und den AEUV geschaffene Europäische Union und/oder je nach Sachlage die Europäische Atomgemeinschaft“.

4. Merkmale und Bestandteile der Verträge 56 Die Integrationsverträge zeichnen sich durch eine Reihe von Merkmalen und Bestandteilen aus, die ihnen gemeinsam sind. Die wichtigsten werden im Folgenden behandelt (Rn 57–78). Für die Beitrittsverträge gelten einige Besonderheiten (s Rn 79–82).

a) Die Urheber der Verträge 57 Über die Urheber der Verträge besteht kein Zweifel: Es handelt sich um diejenigen

Staaten, die die Verträge schließen (vgl auch Art 52 EUV). Dass es allerdings „Staaten“ sind, die die Verträge schließen, ist nur bei den Beitrittsverträgen offensichtlich, weil die aufnehmenden und beitretenden Staaten im Titel des Vertrags aufgelistet und weil der/die beitretende/n Staat/en in Art 1 jeweils ausdrücklich bezeichnet werden. Bei den Änderungs- und (Neu-)Gründungsverträgen werden nicht

_____ 265 Vgl Munke/Thoß/Niedobitek S 32–34. 266 Zu diesem Ziel vgl Busek/Hummer/Hummer S 39. 267 ABl 2012 L 112/10. Matthias Niedobitek

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die Vertragsstaaten als Urheber benannt. Vielmehr listet bspw268 der Vertrag von Lissabon zu Beginn der Präambel zunächst die Staatsoberhäupter (Majestäten und Präsidenten269) der Vertragsstaaten auf, die erklären, sie seien übereingekommen, den EUV, den EGV und den EAGV zu ändern, und sie hätten zu diesem Zweck bestimmte Funktionsträger zu ihren Bevollmächtigten ernannt, denen es dann („nach Austausch ihrer als gut und gehörig befundenen Vollmachten“) oblag, die Vertragsänderungen zu vereinbaren. Die Unterzeichnung von Integrationsverträgen durch Belgien erfordert eine ge- 58 nauere Betrachtung. Die belgische Verfassung konstituiert den belgischen Staat seit 1993270 als einen „Föderalstaat, der sich aus den Gemeinschaften und den Regionen zusammensetzt“ (Art 1 der belgischen Verfassung).271 Die Gemeinschaften und Regionen verfügen im belgischen Verfassungssystem über eine außerordentlich starke Position, auch was die auswärtigen Beziehungen angeht.272 Dabei zählen Verträge, die die europäische Integration betreffen, zu den „gemischten“ Verträgen, welche Zuständigkeiten sowohl der Zentrale als auch der Gemeinschaften und Regionen betreffen.273 Dies erklärt, weshalb die Integrationsverträge, beginnend mit dem Beitrittsvertrag von 1994, stets einen besonderen Hinweis darauf enthalten, dass durch den Vertrag auch die belgischen Gemeinschaften und Regionen eine internationale Verpflichtung eingehen. Dieser Hinweis war zunächst Gegenstand eines besonderen „Unterzeichnungsprotokolls“ im Nachgang zur Schlussakte,274 später wurde bei der Unterzeichnung, die „[f]ür Seine Majestät den König der Belgier“ erfolgt, vermerkt: „Diese Unterschrift bindet zugleich die Deutschsprachige Gemeinschaft, die Flämische Gemeinschaft, die Französische Gemeinschaft, die Wallonische Region, die Flämische Region und die Region Brüssel-Hauptstadt“.275

b) Urschrift – Sprachfassungen Jeder Integrationsvertrag – handele es sich um einen Gründungs-/Auflösungs-, Än- 59 derungs- oder Beitrittsvertrag – existiert in einer „einzigen“276 Urschrift, die den

_____ 268 Zum EWGV vgl bereits Wohlfarth/Everling/Glaesner/Sprung/Wohlfarth Art 1 EWGV Nr 4. 269 Nur im Fall Schwedens wird die Regierung genannt. 270 Vgl Hrbek/Delmartino Außenbeziehungen S 104. 271 Vgl die Website des belgischen Senats, http://www.senate.be/deutsch/20151023_die_Verfas sung.pdf. 272 Markant insoweit Hrbek/Delmartino Außenbeziehungen S 104: “Federal legislation lacks the classical pre-eminence over sub-national ‘decrees’. As a result, Communities and Regions are exclusively responsible in their field of competence, even on the international level”. 273 Vgl Hrbek/Delmartino Außenbeziehungen S 110. 274 Soweit ersichtlich nur im Fall des Beitrittsvertrages von 1994, vgl ABl 1994 C 241/402. 275 So im Fall des Vertrags über den Beitritts Kroatiens, ABl 2012 L 112/15, 101. 276 So noch betont in ex-Art 100 EGKSV. Deutlicher heute andere Sprachfassungen wie die englische („drawn up in a single original“); hierzu vgl auch Calliess/Ruffert/Cremer Art 55 EUV Rn 2. Matthias Niedobitek

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Vertragstext in sämtlichen Vertragssprachen umfasst. 277 Allen Sprachfassungen kommt die gleiche rechtliche Bedeutung zu,278 sie sind „gleichermaßen verbindlich“,279 was bei der Auslegung der Verträge zu berücksichtigen ist.280 Auch wenn, entsprechend Art 33 III WVK, vermutet wird, dass die Ausdrücke eines Vertrags in jedem authentischen Text dieselbe Bedeutung haben, sind Sinn- und Begriffsdivergenzen nicht zu vermeiden.281 Gemessen daran greift es eigentlich zu kurz, wenn, wie in Deutschland, heute nur eine Sprachfassung, die Vertragssprache des betreffenden Mitgliedstaats, zum Gegenstand des nationalen Gesetzgebungsverfahrens bzw Zustimmungsverfahren gemacht wird (anders noch bspw im Fall des Fusionsvertrags 1965).282 Andererseits wäre es kaum sinnvoll, mehrere oder gar alle Sprachfassungen, mithin den ganzen Vertrag, zum Gegenstand des nationalen Zustimmungsverfahrens zu machen. Ein matter Abglanz der Mehrsprachigkeit der Verträge ist es, wenn – in der Veröffentlichung im Amtsblatt der EU283 – Zeit und Ort der Unterzeichnung in allen Vertragssprachen wiedergegeben werden. Die Regelung über die „Urschrift“ verdeutlicht eine Selbstverständlichkeit, die 60 jedoch gerade im Kontext mehrsprachiger Verträge besondere Bedeutung erlangen kann,284 dass nämlich die Integrationsverträge – in Übereinstimmung mit Art 2 I lit a) WVK – schriftlich abgefasst sind.285 Art 48 EUV betreffend Vertragsänderun-

_____ 277 Dies entspricht der Praxis bei multilateralen Verträgen: Jede Vertragspartei unterzeichnet nur einmal. Vgl Dörr/Schmalenbach/Tichy/Bittner Art 77 WVK Rn 30. 278 Vgl auch Art 33 WVK. 279 EuGH, Rs 283/81 – C.I.L.F.I.T., Rn 18. 280 EuG, verb Rs T-349/06, T-371/06, T-14/07, T-15/07 und Rs T-332/07 – Deutschland / Kommission, Rn 67: Bei der grammatikalischen Auslegung sei zu berücksichtigen, „dass Gemeinschaftsrechtstexte in mehreren Sprachen abgefasst werden und die verschiedenen Sprachfassungen gleichermaßen verbindlich sind, so dass die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts einen Vergleich der Sprachfassungen impliziert“. Einen umfassenden Vergleich aller Sprachfassungen einer Bestimmung des Beitrittsvertrags 1994 nahm der EuGH in Rs C-259/95 – Europäisches Parlament / Rat, Rn 12, vor. Die Sprachfassungen des EWG-Vertrags vergleicht der EuGH in Rs C-327/91 – Frankreich / Kommission, Rn 32 ff. Zur Problematik unterschiedlicher Sprachfassungen vgl jüngst EuGH, Rs C-239/17 – Teglgaard und Fløjstrupgård, Rn 34 ff. 281 Vgl etwa EuGH, Rs C-370/07 – Kommission / Rat, Rn 23, 41. Die dieser Rechtssache zugrundeliegende Unterscheidung zwischen den Rechtsaktsformen „Entscheidung“ und „Beschluss (sui generis)“, wie sie insb aufgrund in der deutschen Sprachfassung des EGV nahe lag, ist nach Lissabon nicht mehr relevant, weil nun auch in der deutschen Fassung von Art 288 AEUV die frühere Entscheidung (ex-Art 249 EGV) in „Beschluss“ umbenannt (und auch neu definiert) wurde. 282 Vgl einerseits der Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Vertrag von Lissabon, BT-Drs 16/8300; andererseits den Gesetzentwurf zum Fusionsvertrag 1965, BT-Drs IV/3530. 283 ABl 2007 C 306/136; nicht jedoch im Bundesgesetzblatt, vgl BGBl 2008 II 1149. 284 Vgl Schwarze/Schwarze/Wunderlich Art 19 EUV Rn 37. 285 Dass völkerrechtliche Verträge auch mündlich geschlossen werden können, ist unbestritten, praktisch jedoch nicht mehr relevant; näher hierzu Dörr/Schmalenbach/Schmalenbach Art 3 WVK Rn 4–7. Matthias Niedobitek

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gen geht ebenfalls davon aus, dass die Verträge nur schriftlich und gemäß den vorgezeichneten Verfahren (Rn 90) geändert werden können:286 Eine Vertragsänderung beruht auf „Entwürfen“, bedarf gem Art 48 V EUV der „Unterzeichnung“ etc. Die Schriftlichkeit der Verträge lenkt den Blick zwangsläufig auf ihren Wortlaut, der Ausgangspunkt jeder Auslegung der Vertragsbestimmungen ist. Daher bezieht sich der EuGH in seinen Entscheidungen oft auf den Wortlaut287 oder den Wortsinn288 der in den Verträgen verwendeten Begriffe, wobei allerdings die Worte nicht isoliert betrachtet, sondern in ihrem Zusammenhang auszulegen sind.289 Wenn der Wortlaut einer Bestimmung dem EuGH „klar“ erscheint, schließt er eine abweichende Interpretation mithilfe anderer Auslegungsmethoden aus.290 Neben dem verschriftlichten Vertragstext, der die Willenseinigung der Vertragsparteien verkörpert und sichtbar macht, enthalten die Verträge auch ungeschriebene Bestandteile (hierzu Rn 72–78). Die formale Gleichstellung aller Sprachfassungen ist von der Frage zu trennen, 61 welche Sprache für den Ausgangstext verwendet wird, der die Grundlage für die Übersetzung in die anderen Vertragssprachen bildet. Dies ist nach wie vor das Französische, auch wenn bei Beitrittsverträgen das Englische Einzug hält.291 Dies bringt es mit sich, dass zu einem späteren Zeitpunkt zuweilen Übersetzungsfehler im Wege einer förmlichen Berichtigung (hierzu Rn 105–107) korrigiert werden müssen. Seit den „Römischen Verträgen“ (EWGV, EAGV) werden alle Integrationsverträ- 62 ge „im Archiv der Regierung der Italienischen Republik hinterlegt“,292 wobei der Italienischen Regierung gleichzeitig die Aufgabe übertragen wird, „der Regierung jedes anderen Unterzeichnerstaats eine beglaubigte Abschrift“ zu übermitteln (vgl nur Art 7 des Lissabonner Vertrags; Art 4 des Vertrags über den Beitritts Kroatiens).

c) Präambeln Die Integrationsverträge haben, wie bei völkerrechtlichen Verträgen üblich, eine 63 Präambel, in der sich die Vertragsparteien regelmäßig in allgemein-abstrakter Weise ihrer Motive und der mit dem Vertrag verfolgten Ziele vergewissern. Prä-

_____ 286 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 48 EUV Rn 26, wonach eine gewohnheitsrechtliche Änderung der Verträge, etwa durch schlüssiges Verhalten der Mitgliedstaaten, ausgeschlossen ist. 287 So etwa in Rs C-370/12 – Pringle, Rn 130, 132 (zu Art 123 und 125 AEUV). 288 Vgl hierzu EuGH, verb Rs C-182/03 und C-217/03 – Belgien / Kommission, Rn 86 (zum Begriff der Beihilfe). 289 Vgl Bleckmann EuR Rn 539. Ebenso aus Sicht der WVK Dörr/Schmalenbach/Dörr Art 31 WVK Rn 43 f. 290 Vgl etwa EuGH, verb Rs C-393/07 und C-9/08 – Italien und Donnici / Parlament, Rn 72; hierzu vgl auch Oppermann/Classen/Nettesheim § 9 Rn 70. 291 Auskunft des Generalsekretariats des Rates. 292 Das (französische) Original des in Paris unterzeichneten EGKSV wurde gem seinem Art 100 „in den Archiven der Regierung der Französischen Republik“ hinterlegt. Matthias Niedobitek

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ambeln können durchaus materielle Substanz haben und diese in mehreren Erwägungsgründen ausbreiten, wie etwa im Fall des Maastrichter Unionsvertrages, sie können sich aber auch, wie im Fall des Amsterdamer Vertrags, auf eine Auflistung der Staatsoberhäupter und die Mitteilung des Entschlusses, die Verträge zu ändern, beschränken. Der Vertrag von Lissabon zählt zu den Verträgen mit einer eher einsilbigen Präambel, die in diesem Fall – was ihren materiellen Gehalt betrifft – nur aus einem einzigen Satz besteht.293 Eine Präambel ist, wovon auch Art 31 II lit a) WVK ausgeht,294 Teil des Ver64 trages.295 Dass sie, sofern sie materielle Aussagen zu den Motiven und Zielen der Vertragsparteien enthält, nicht dieselbe inhaltliche Bindungswirkung wie die Vertragsartikel hat – insoweit unterscheidet sich die Präambel nicht von den Erwägungsgründen der Akte des sekundären Unionsrechts296 –, liegt auf der Hand. Dies folgt zum einen bereits aus dem Umstand, dass die Präambel vom operativen Teil des Vertrages abgesetzt ist, vor allem aber daraus, dass sie sich inhaltlich nicht für die Ableitung konkreter Vertragspflichten eignet. Generell trägt die Präambel daher eher politisch-programmatische Züge.297 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Präambel rechtlich irrelevant wäre.298 Allgemein kann sie – was der EuGH gelegentlich auch macht299 – zur Auslegung des Unionsrechts (nicht nur der „Verträge“) herangezogen werden.300 Darüber hinaus können speziell die Präambeln des EUV und des AEUV im Rahmen von Art 352 AEUV relevant werden, soweit sie nämlich „Ziele der Verträge“ formulieren, die im Rahmen dieser Bestimmungen verwirklicht werden können.301

_____ 293 Wortlaut: „In dem Wunsch, den mit dem Vertrag von Amsterdam und dem Vertrag von Nizza eingeleiteten Prozess, mit dem die Effizienz und die demokratische Legitimität der Union erhöht und die Kohärenz ihres Handelns verbessert werden sollen, abzuschließen, …“. 294 Vgl Dörr/Schmalenbach/Dörr Art 31 WVK Rn 45. 295 Zur Bedeutung von Präambeln vgl allg Y Becker et al/Kopetz S 9 ff. 296 Bekanntlich zieht der EuGH in ständiger Rechtsprechung die Erwägungsgründe eines Rechtsakts heran, um – im Rahmen der Ermittlung der zutreffenden Rechtsgrundlage – das Ziel eines Rechtsakts festzustellen; hierzu vgl etwa Rs C-493/17 – PSPP, passim; Rs C-490/10 – Parlament / Rat, Rn 49–52. 297 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Hilf/Terhechte Präambel EUV Rn 2. 298 Daher wurden die Präambeln von EUV und AEUV zu Unrecht im Kommentar von Calliess/Ruffert nicht kommentiert. 299 Vgl etwa EuGH, Rs C-621/18 – Wightman, Rn 61; verb Rs C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki ua, Rn 112 (zum EG-Vertrag). 300 Dies entspricht auch Art 31 II lit a) WVK; hierzu Dörr/Schmalenbach/Dörr Art 31 WVK Rn 49. 301 Ebenso Grabitz/Hilf/Nettesheim/Hilf/Terhechte Präambel EUV Rn 14; einschränkend Streinz/ Streinz Art 352 AEUV Rn 29, um „den Anwendungsbereich des Art 352 AEUV nicht durch einen Rückgriff auf zu weite und zu unbestimmte Zielbestimmungen über Gebühr auszudehnen“. Für eine Berücksichtigung der Präambel des EWGV im Rahmen von ex-Art 235 EWGV Niedobitek Kultur S 294 f. Matthias Niedobitek

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d) Die operativen Bestimmungen der Verträge In Übereinstimmung mit völkerrechtlichen Gepflogenheiten werden die Integra- 65 tionsverträge, was ihren operativen Gehalt angeht, in „Artikel“ eingeteilt. Diese bilden die kleinste selbständige Sinneinheit eines Vertrages, die ihrerseits wieder in Absätze und Unterabsätze unterteilt und mit einer Buchstabenaufzählung versehen sein können. Die kleinste Subeinheit bilden die Sätze, die ihrerseits in – oft durch Semikolon getrennte – Halbsätze aufgeteilt sein können.302 Ob Absätze eines Artikels mit einer Absatznummerierung versehen sind oder nicht, folgt bei den EUVerträgen keiner erkennbaren Regel. Artikel, die nach Absätzen gegliedert sind, ohne eine entsprechende Nummerierung aufzuweisen, sind bei der Zitierung ohne weiteres mit einer Absatznummer zu versehen, wie dies auch vom EuGH303 und von der Literatur304 praktiziert wird. Der Standort der Artikel in den Integrationsverträgen ist in der Regel nicht be- 66 liebig, sondern folgt systematischen Gesichtspunkten, die die gewählte Reihenfolge zwar nicht als zwingend, aber doch als plausibel erscheinen lassen. Das Bemühen um eine Systematisierung des Vertragsstoffes kommt darin zum Ausdruck, dass die Artikel in eine hierarchische Struktur von Haupt- und Untergliederungspunkten eingeordnet werden, im Fall des AEUV „Teil“, „Titel“, „Kapitel“, „Abschnitt“. Das Streben nach einer Systematisierung der Verträge, das diesen nicht nur eine formale Struktur gibt, sondern sie auch und vor allem inhaltlich gliedert, erlaubt und verlangt es, die Vertragssystematik bei der Auslegung der Vertragsbestimmungen einzubeziehen,305 wobei der EuGH auch Subsysteme identifiziert und für die Auslegung fruchtbar macht, wie etwa das „Zuständigkeitssystem“ der Union306 oder das vertragliche „Klagesystem“.307

e) Protokolle und Anhänge Art 51 EUV bestimmt für beide EU-Verträge, dass die Protokolle und Anhänge der Ver- 67 träge deren Bestandteil sind. Gegenwärtig zählen zu den beiden EU-Verträgen 38

_____ 302 Bspw ist Art 6 I UAbs 1 EUV in der deutschen Fassung in zwei Halbsätze aufgeteilt. Die englische und die französische Fassung verfügen nur über einen Satz mit angehängtem Relativsatz. 303 Vgl etwa EuGH, Rs C-535/11 – Novartis Pharma, Rn 31, wo der EuGH den zweiten Absatz von Art 252 AEUV als „Art. 252 Abs. 2 AEUV“ zitiert, obwohl der Artikel nicht über eine Absatznummerierung verfügt. 304 Vgl insb die einschlägige Kommentarliteratur. 305 Vgl Oppermann/Classen/Nettesheim § 9 Rn 172 f; aus Sicht der WVK Dörr/Schmalenbach/Dörr Art 31 WVK Rn 43. 306 Vgl etwa EuGH, Rs C-166/07 – Parlament / Rat, Rn 42; Rs C-479/04 – Laserdisken, Rn 30. 307 Vgl etwa EuGH, Rs C-620/18 – Kommission / Deutschland, Rn 89; Rs C-37/11 – Kommission / Tschechische Republik, Rn 46; verb Rs C-463/10 P und C-475/10 P – Deutsche Post / Kommission, Rn 51. Matthias Niedobitek

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Protokolle und zwei Anhänge.308 Alle Protokolle außer Protokoll Nr 34 (über die Sonderregelung für Grönland) sind gemäß ihrer Präambel ausdrücklich sowohl dem EUV als auch dem AEUV, gelegentlich auch dem EAGV, beigefügt. Art 51 EUV betrifft jedoch nur den EUV und den AEUV, indes nicht den Vertrag von Lissabon und den EAGV. Die dem Vertrag von Lissabon beigefügten beiden Protokolle werden in seinem Art 4 aufgeführt und damit – vergleichbar Art 51 EUV – in den Vertrag einbezogen. Was den EAGV angeht, enthält dieser mit Art 207 eine Art 51 EUV entsprechende Vorschrift, wobei sich jene allerdings nur auf Protokolle, nicht auf Anhänge bezieht. Dies ist jedoch unschädlich, weil alle vier Anhänge zum EAGV in den Artikeln des Vertrags erwähnt und damit ebenfalls zum Bestandteil des Vertrags gemacht wurden. Alle Protokolle und Anhänge zu den Verträgen sind deren „Bestandteil“ und 68 verfügen daher über denselben förmlichen Rang wie die Verträge;309 ob Art 51 EUV (bzw die entsprechenden Regelungen des Vertrags von Lissabon und des EAGV; vgl Rn 67) insoweit lediglich deklaratorischer Natur ist,310 kann dahinstehen. Letztlich gibt es keinen zwingenden rechtlichen Grund, die in den Protokollen und Anhängen enthaltenen Regelungen und Konkretisierungen nicht in den Kerntext der Verträge zu integrieren. Allerdings liegt es auf der Hand, dass die Vertragstexte dann kaum noch lesbar wären. Bei näherem Hinsehen dürften manche Protokolle wie etwa die EuGH-Satzung zahlreiche Bestimmungen enthalten, die gemessen an ihrem Detaillierungsgrad besser durch einen Rechtsakt des sekundären Unionsrechts geregelt worden wären, denen somit kaum die „Dignität“ primären Unionsrechts zukommt. Letztlich dient die textliche Ausgliederung von Protokollen und Anhängen dazu, den „eigentlichen“ Vertragstext – die „Artikel“ (vgl Rn 65) – auf die wesentlichen Vorschriften zu konzentrieren und ihn nicht mit Detailbestimmungen zu überfrachten,311 deren vertragliche Regelung sich die Vertragsparteien nicht nehmen lassen wollten. Die Gleichstellung der Protokolle und Anhänge mit dem eigentlichen Vertragstext impliziert, dass deren Änderung grundsätzlich den Bestimmungen von Art 48 EUV unterliegt,312 wobei allerdings einige Protokolle in einem vereinfachten Verfahren geändert werden können wie etwa die EuGHSatzung gem Art 281 II AEUV durch das Europäische Parlament und den Rat im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren. Die Ausgliederung von Protokollen führt zwar zu einer bedeutend klareren Ver69 tragsstruktur, sie kann jedoch auch die Verständlichkeit des eigentlichen Ver-

_____ 308 Vgl die konsolidierte Fassung der Verträge, ABl 2016 C 202, die allerdings nur 37 Protokolle auflistet; das „Protokoll zu den Anliegen der irischen Bevölkerung bezüglich des Vertrags von Lissabon“, ABl 2013 L 60/131, ist hier nicht enthalten. 309 Vgl nur Streinz/Kokott Art 51 EUV Rn 4. 310 So Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 51 EUV Rn 26. 311 Ähnlich Streinz/Kokott Art 51 EUV Rn 2. 312 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 51 EUV Rn 30. Matthias Niedobitek

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tragstextes gravierend beeinträchtigen. Dies ist dann der Fall, wenn es der Vertragstext versäumt, auf Protokolle zu verweisen, deren Kenntnis für die Lektüre der Artikel unabdingbar ist.313 Dies kann anhand der Bestimmungen über den „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (Art 67–89 AEUV) demonstriert werden. Anders als noch der EGV (ex-Art 69 EGV) enthält der AEUV in den genannten Bestimmungen keinen Hinweis darauf, dass die Bestimmungen des RFSR auf das Vereinigte Königreich und Irland grundsätzlich nicht und auf Dänemark nur mit Einschränkung Anwendung finden. Dies erschließt sich erst aus den Protokollen Nr 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts314 und Nr 22 über die Position Dänemarks.315 Der Vertragstext suggeriert maW ein „intaktes“ Politikfeld, das jedoch in Wahrheit nur eine Form der Verstärkten Zusammenarbeit repräsentiert.

f) Die Bedeutung der Schlussakte – Die Rolle von Erklärungen Alle bisherigen Integrationsverträge abgesehen vom EGKSV wurden von einer sog 70 „Schlussakte“ (final act / acte final) begleitet. Schlussakten werden im internationalen Verkehr va verwendet, um das Ergebnis von Regierungskonferenzen, an denen eine größere Zahl von Vertragsstaaten beteiligt ist, zusammenzufassen und um den authentischen Vertragstext festzulegen,316 wie dies in Art 10 lit b) WVK vorgesehen ist. Die Schlussakte erfüllt daher in erster Linie eine Protokollfunktion, indem sie minutiös die Texte auflistet, auf die sich die Regierungskonferenz geeinigt hat.317 Damit dient sie auch der Selbstvergewisserung der Vertragsstaaten über das Ergebnis der Konferenz. Die Bezeichnung als „Schlussakte“ trifft in einem doppelten Sinn zu: In zeitlicher Hinsicht bildet sie den Abschluss der Regierungskonferenz, in textlicher Hinsicht steht sie am Schluss der Verhandlungsdokumentation.318 Die Schlussakte könnte als formales Gegenstück zur Präambel (Rn 63, 64) gelten, wäre sie integraler Bestandteil des jeweiligen Vertrages. Dies ist jedoch nicht der Fall, die Schlussakte steht, nicht nur räumlich-textlich, außerhalb der vertraglichen Einigung. Dies leuchtet insb dann ein, wenn sich die Schlussakte auf mehrere Ver-

_____ 313 Der Text von EUV und AEUV nimmt zwar auf einige Protokolle Bezug (vgl etwa Art 5 III UAbs 2, IV UAbs 2, 12 a), b) f), 16 V, 46 EUV, 69, 126 II, 129 II, 137, 281 AEUV), jedoch bei weitem nicht auf alle den Verträgen beigefügten Protokolle. 314 ABl 2016 C 202/295. 315 ABl 2016 C 202/298. 316 Vgl Dörr/Schmalenbach/Hoffmeister Art 10 WVK Rn 7, 11. 317 Vgl etwa den Vorspruch der Schlussakte zum Vertrag von Lissabon: „Die Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten … hat folgende Texte angenommen: …“. 318 Anders nur im Fall der Schlussakte zu EWGV und EAGV (1957), wo sie – wenigstens in der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt (BGBl 1957 II 753) – den Auftakt der Verhandlungsdokumentation macht. Matthias Niedobitek

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träge bezieht, wie seinerzeit im Fall des EWGV und des EAGV. Die Schlussakte wird daher von den Bevollmächtigten der beteiligten Staaten genauso förmlich unterzeichnet wie der ausgehandelte Vertrag selbst. Neben ihrer dokumentarischen Funktion erfüllt die Schlussakte auch eine in71 haltliche Funktion in Bezug auf das Verhandlungsergebnis, da sie der Ort ist, die von den Vertragsstaaten gemeinsam (als Regierungskonferenz), in Gruppen oder einzeln abgegebenen „Erklärungen“ niederzulegen. Eine Bezugnahme auf die der Schlussakte beigefügten Erklärungen, zumal wenn sie von der Regierungskonferenz angenommen wurden, erfolgt weder im EUV noch im AEUV. Sie sind daher nicht Bestandteil der Verträge,319 allerdings sind sie gem Art 31 II WVK bei der Auslegung zu berücksichtigen.320 Dementsprechend zieht der EuGH Erklärungen zu den Verträgen in geeigneten Fällen heran, um seine Argumentation abzustützen.321 Ohne rechtliche Bedeutung sind solche Erklärungen jedoch, wenn sie im Wortlaut der Vertragsbestimmung, deren Interpretation sie dienen sollen, keinen Niederschlag gefunden haben.322 Gegenstand des parlamentarischen Zustimmungsverfahrens ist in Deutschland das gesamte in der Schlussakte aufgelistete Verhandlungsergebnis, einschließlich aller Erklärungen. Hierzu wird bspw im Gesetzgebungsentwurf der Bundesregierung zum Vertrag von Lissabon erläutert, die der Schlussakte beigefügten, von der Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten angenommenen Erklärungen entfalteten „rechtliche Wirkungen“ und stünden in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Vertrag von Lissabon, sodass sie in das Zustimmungsverfahren einzubeziehen seien.323

g) Ungeschriebene Bestandteile der Verträge 72 Der (geschriebene) Text der Verträge – ihr „Wortlaut“ – bildet zwar das rechtliche

Fundament der Unionsrechtsordnung und den Ausgangspunkt jeder Befassung mit dem Unionsrecht, jedoch umfasst die im Text der EU-Verträge verankerte Unionsrechtsordnung wie jede Rechtsordnung auch ungeschriebene Bestandteile.324 Die

_____ 319 Vgl Streinz/Kokott Art 51 EUV Rn 5. 320 Auf eine Unterscheidung zwischen Erklärungen der Regierungskonferenz und „einseitigen“ Erklärungen kommt es insoweit nicht an, da letztere durch Aufnahme in die Schlussakte von den Vertragsparteien gem Art 31 II lit b) WVK als „instrument related to the treaty“ angenommen wurden. 321 EuGH, Rs C-339/10 – Asparuhov Estov ua, Rn 12; Rs C-135/08 – Rottmann, Rn 40; Rs C-77/05 – Vereinigtes Königreich / Rat, Rn 67; Rs C 192/99 – Kaur, Rn 23 f. 322 EuGH, Rs C-233/97 – KappAhl, Rn 23. 323 BT-Drs 16/8300, Begründung zu Art 1 des Vertragsgesetzes. Der Gesetzentwurf zum EWG- und zum EAG-Vertrag, BT-Drs 2/340, kennzeichnet die Schlussakte jedoch als „nicht ratifizierungsbedürftig“. 324 Vgl Oppermann/Classen/Nettesheim § 9 Rn 26. Matthias Niedobitek

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auf den ersten Blick klare Unterscheidung zwischen geschriebenen und ungeschriebenen Bestandteilen der Unionsrechtsordnung ist allerdings bei näherem Hinsehen problematisch. Der Vertragswortlaut, zumal unter Berücksichtigung aller 24 Vertragssprachen, ist keineswegs immer „klar“ (vgl Rn 60).325 Jedes geschriebene Wort transportiert immer (auch) ungeschriebene Inhalte. Ist die grammatikalische Auslegung326 dem Wortlaut der Verträge noch am stärksten verhaftet, impliziert die systematische Auslegung bereits eine Ablösung vom „reinen“ Wortlaut einer Vertragsbestimmung und ein Übergang zu ihrem (zwar auch geschriebenen, aber bereits interpretativ aufgeladenen) Kontext. Noch weiter entfernt sich die Auslegung vom Wortlaut, wenn sie telelogische Aspekte bzw die „nützliche Wirkung“ (sog effet utile) einer Vertragsregelung einbezieht327 oder die Kompetenznormen der Verträge mithilfe der „implied powers“-Doktrin um ungeschriebene Zuständigkeiten anreichert.328 Mithilfe „klassischer“, wirkungsorientierter Auslegung begründete der 73 EuGH bspw ungeschriebene Rechte des Einzelnen, Rechte also, die nicht nur entstehen, „wenn der EWG-Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch aufgrund von eindeutigen Verpflichtungen, die der EWG-Vertrag dem einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt“.329 Ferner führt die Bildung „autonomer“, funktionaler Begriffe des Unionsrechts – wie etwa die Begriffe „Ware“,330 „Arbeitnehmer“,331 „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung“332 oder „Beihilfe“333 zeigen – zu einer „weiten“ Auslegung der Grundfreiheiten, deren Zuschnitt dem geschriebenen Vertragstext nicht mehr ohne weiteres „anzusehen“ ist. Im Ergebnis führt jede „Auslegung und Anwendung der Verträge“ (vgl Art 19 I UAbs 1 S 2 EUV) zur Aufdeckung ungeschriebener Bestandteile der Verträge, die ihre Existenz letztlich der Unterscheidung zwischen Wort und Sinn (oder Wort und Begriff) verdanken.

_____ 325 Dies beginnt schon bei scheinbar harmlosen Konjunktionen wie „und“ bzw „oder“, die mehrdeutig sein können. In Art 15 II EUV (deutsche Fassung) könnte sich die Frage stellen, ob tatsächlich Staats- und Regierungschefs (kumulativ verstanden) dem Europäischen Rat angehören (hierzu näher Rn 277). Ferner mag man sich fragen, ob die Konjunktion „oder“ in Art 83 I UAbs 1 bzw in Art 115 AEUV in einem ausschließenden Sinn („entweder-oder“) zu verstehen ist oder auch eine Kombination der durch die Konjunktion verbundenen Inhalte erlauben. 326 Überblick bei Oppermann/Classen/Nettesheim § 9 Rn 170 f. 327 In der Rs C-127/08 – Metock, Rn 93, hat der EuGH den klaren Wortlaut – nicht einer Vertragsbestimmung, jedoch – der RL 2004/38 unter Berufung auf ihren effet utile überspielt. Hierzu Tichý/Potacs/Dumbrovský/Niedobitek S 69, 70. 328 Hierzu vgl Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 180; HP Ipsen S 436 f. 329 EuGH, verb Rs C-6/90 und C-9/90 – Francovich, Rn 31. 330 EuGH, Rs 7/68 – Kommission / Italien, Slg 1968, 642. 331 EuGH, Rs 66/85 – Lawrie-Blum, Rn 16. 332 EuGH, Rs 66/85 – Lawrie-Blum, Rn 26 f. 333 EuGH, Rs C-239/08 – Seydaland Vereinigte Agrarbetriebe, Rn 30. Matthias Niedobitek

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Wählt man für die Bestimmung des Bereichs ungeschriebenen primären Unionsrechts einen weniger ausgreifenden Ansatz als eben skizziert (Rn 72, 73), dann kommen im Wesentlichen zwei Rechtsquellen ungeschriebenen primären Unionsrechts in Betracht:334 (a) Normen, die der Sicherung der Wirksamkeit der Unionsrechtsordnung dienen (Rn 75); (b) allgemeine Rechtsgrundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind (Rn 76–78). Während die erstgenannten Normen ihren Ursprung unmittelbar im primären Unionsrecht selbst haben, dessen Funktionsfähigkeit sie sichern sollen, speisen sich die allgemeinen Rechtsgrundsätze aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und begründen ihre Eigenschaft als Rechtsquelle des Unionsrechts va mit dessen Verwurzelung im Völkerrecht, welches neben den Verträgen und dem Völkergewohnheitsrecht gem Art 38 IGH-Statut auch „the general principles of law recognized by civilized nations“ als Rechtsquelle kennt.335 Dass das primäre Unionsrecht solche ungeschriebenen Bestandteile enthält, ergibt sich nicht nur aus den speziellen vertraglichen Bezugnahmen auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in Art 6 III EUV und 340 II AEUV, sondern allgemein aus Art 19 I UAbs 1 S 2 EUV, der zwischen den Verträgen und dem „Recht“, dessen Wahrung dem EuGH obliegt, unterscheidet.336 Diejenigen ungeschriebenen Normen des primären Unionsrechts, die der Siche75 rung der Wirksamkeit der Unionsrechtsordnung dienen, hat der EuGH va aus dem Wesen der Unionsrechtsordnung sowie ggf aus der Pflicht – der „Loyalitätspflicht“337 – der Mitgliedstaaten hergeleitet, „alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung“ ihrer Vertragspflichten zu ergreifen (vgl Art 4 III UAbs 2 EUV). Drei wichtige Beispiele mögen dies illustrieren. (1) Den Vorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht hat der EuGH aus der Eigenständigkeit, letztlich dem Wesen der Gemeinschaftsordnung entwickelt. Wegen dieser Eigenständigkeit, so der EuGH, könnten dem Gemeinschaftsrecht „keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen […], wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll“.338 Der Vorrang des Unionsrechts zählt

_____ 334 Für die Bildung von Gewohnheitsrecht im primären Unionsrecht wird, soweit ersichtlich, nur ein Beispiel gebracht: die Vertretung des Mitgliedstaats im Rat durch nicht der Regierung angehörende Staatssekretäre; vgl Calliess/Ruffert/Calliess Art 16 EUV Rn 10. Dass sich allerdings Gewohnheitsrecht gegen den Vertragswortlaut bilden kann, ist abzulehnen, da dies auf eine unzulässige (vgl oben Rn 62, und unten, Rn 94) Vertragsänderung außerhalb des Verfahrens von Art 48 EUV hinauslaufen würde; s a Oppermann/Classen/Nettesheim § 9 Rn 29. 335 Zum Zusammenhang zwischen den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts und den Rechtsquellen des Völkerrechts vgl HP Ipsen S 112–114. 336 Vgl auch Calliess Lissabon S 292. 337 Zum Begriff vgl etwa EuGH, Rs C-459/03 – Kommission / Irland, Rn 169. 338 EuGH, Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L., Slg 1964, 1270. Zum Vorrang näher Niedobitek/Zemánek/ Niedobitek S 63 ff. Matthias Niedobitek

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nach wie vor339 – ungeachtet der dem Vertrag von Lissabon beigefügten „Erklärung zum Vorrang“340 – zum ungeschriebenen primären Unionsrecht. (2) Die unmittelbare Wirkung von Richtlinienbestimmungen hat der EuGH va mit deren praktischer Wirksamkeit begründet. So entschied der EuGH, dass insbesondere in den Fällen, „in denen etwa die Gemeinschaftsbehörden die Mitgliedstaaten durch Richtlinie zu einem bestimmten Verhalten verpflichten, […] die praktische Wirksamkeit einer solchen Maßnahme abgeschwächt [würde], wenn die einzelnen sich vor Gericht hierauf nicht berufen und die staatlichen Gerichte sie nicht als Bestandteil des Gemeinschaftsrechts berücksichtigen könnten“.341 (3) Schließlich dient auch der Grundsatz der Staatshaftung bei Verletzung unionsrechtlich gewährter Rechte dem effet utile der Unionsrechtsordnung. In der ersten einschlägigen Entscheidung stellte der EuGH fest, dass „[d]ie volle Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen […] beeinträchtigt und der Schutz der durch sie begründeten Rechte gemindert [wäre], wenn der einzelne nicht die Möglichkeit hätte, für den Fall eine Entschädigung zu erlangen, daß seine Rechte durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht verletzt werden, der einem Mitgliedstaat zuzurechnen ist“.342 In diesem Fall stützte der EuGH seine Entscheidung ergänzend auf die Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten.343 Ebenso wichtig wie die zur Sicherung der Wirksamkeit der Unionsrechtsord- 76 nung entwickelten Normen des primären Unionsrecht sind die zahlreichen vom EuGH ermittelten allgemeinen Rechtsgrundätze des Unionsrechts, die – neben der „Rechtsstaatlichkeit“ der Union (vgl Art 2 S 1 EUV)344 – va den Grundrechtsschutz betreffen.345 Allerdings hatten die Grundrechte der Union zwischenzeitlich den Weg vom 77 Status als ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze hin zum Status geschriebenen primären Unionsrechts – verkörpert in einem Katalog von Grundrechten – angetreten, sind jedoch bei diesem Versuch auf halbem Weg stecken geblieben. Zwar existiert mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ein geschriebener Text,346 indes ist dieser für sich genommen nach wie vor unverbindlich. Die Rechtsverbindlichkeit der Charta folgt allein aus Art 6 I UAbs 1 EUV.347 Zum ge-

_____ 339 Bekanntlich sollte der Vorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht durch den Verfassungsvertrag (Art I-6 VVE) kodifiziert werden. 340 ABl 2016 C 202/344. 341 EuGH, Rs 8/81 – Becker, Rn 23. 342 EuGH, verb Rs C-6/90 und 9/90 – Francovich, Rn 31. 343 EuGH, verb Rs C-6/90 und 9/90 – Francovich, Rn 36. 344 Überblick bei Grabitz/Hilf/Nettesheim/Mayer nach Art 6 EUV Rn 388 ff; Streinz/Huber Art 19 EUV Rn 23. 345 Überblick bei Terhechte S 25 ff. 346 ABl 2016 C 202/389. 347 So auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 19 EUV Rn 21. Matthias Niedobitek

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schriebenen primären Unionsrecht zählt daher zwar die vertragliche Feststellung, dass die Charta verbindlich ist, nicht jedoch die Charta selbst (hierzu auch Rn 48, 49). Dass neben der Charta weiterhin – im Wege „wertender Rechtsvergleichung“348 zu entwickelnde – Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze Bestandteil des Unionsrechts sind, folgt aus Art 6 III EUV.349 Das ungeschriebene primäre Unionsrecht unterscheidet sich vom geschriebe78 nen Unionsrecht dadurch, dass es seine Existenz letztlich nicht den Mitgliedstaaten als den „geborenen“ Schöpfern primären Unionsrechts verdankt, sondern der rechtsfortbildenden Tätigkeit des EuGH.350 Die Tätigkeit des EuGH unterliegt ebenso wie die der anderen Organe dem Grundsatz begrenzter Einzelermächtigung. Mit der authentischen Feststellung ungeschriebenen primären Unionsrechts greift der EuGH jedoch gestaltend in die EU-Verträge ein, die zugleich die Grundlage seiner Tätigkeit sind. Diese scheinbar paradoxe, an Münchhausen erinnernde Situation351 ist allerdings keine unionsrechtliche Besonderheit, sondern Kennzeichen eines jeden Verfassungsgerichts, welches seine rechtliche Grundlage in der Verfassung findet und zugleich über diese „verfügt“. Angesichts dessen ist es verständlich, wenn das Bundesverfassungsgericht das Prinzip begrenzter Einzelermächtigung als eine „wesentliche Grenze richterlicher Rechtsfortbildung auf Unionsebene“ bezeichnet.352 Auch die in der EuGH-Rechtsprechung entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätze, insb die Unionsgrundrechte, sind auf die Verbandskompetenz der Union, genauer: auf den „Anwendungsbereich des Unionsrechts“,353 zugeschnitten,354 wie sich heute auch aus Art 51 I 1 GRCh ergibt.355 Aus alledem darf jedoch nicht geschlossen werden, dass das vom EuGH „erkannte“ ungeschriebene primäre Unionsrecht einen niedrigeren Rang hätte als das geschriebene356 (hierzu Rn 111).

_____ 348 Zur Methode vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Mayer nach Art 6 EUV Rn 20 f. 349 Zur Kritik an der Aufrechterhaltung dieser Grundrechtsquelle vgl Vedder/Heintschel vHeinegg/Folz Art 6 EUV Rn 21 f; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 6 EUV Rn 52 f. 350 Zu Recht wird in der Literatur allerdings darauf hingewiesen, dass der EuGH selbst nicht zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung unterscheidet; vgl Grosche S 1. 351 Nach einer der „Lügengeschichten“ hat Baron Münchhausen sich und sein Pferd am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen. 352 BVerfG, 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 (306) – Honeywell. 353 Vgl etwa EuGH, verb Rs C-473/17 und C-546/17 – Repsol Butano SA, DISA Gas SAU / Administración del Estado, Rn 39; Rs C-23/12 – Zakaria, Rn 41; C-27/11 – Vinkov, Rn 58 f.; aus der älteren Rechtsprechung vgl insb Rs C-112/00 – Schmidberger, Rn 75. 354 Etwas anderes gilt für die geschriebenen, in Art 2 S 1 EUV verankerten „Werte“ der Union. Diese formulieren die materielle Grundlage der (Mitgliedschaft in der) Union und binden die Mitgliedstaaten daher auch jenseits des „Anwendungsbereichs des Unionsrechts“; allgM, vgl etwa Grabitz/ Hilf/Nettesheim/Hilf/Schorkopf Art 2 EUV Rn 18; Calliess/Ruffert/Ruffert Art 7 EUV Rn 4; Neuss/ Niedobitek/Novotný/Rosůlek/Niedobitek S 211 f. 355 Vgl Merten/Papier/Niedobitek HGR VI/1 § 159 Rn 105–111. 356 So indes Oppermann/Classen/Nettesheim S 109. Matthias Niedobitek

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h) Besonderheiten von Beitrittsverträgen Was zunächst die Vertragsparteien angeht, unterscheiden sich Beitrittsverträge 79 von sonstigen Integrationsverträgen dadurch, dass die Vertragsparteien zwei einander gegenüberstehenden Seiten zuzuordnen sind, wobei auf der einen Seite die Gruppe der EU-Mitgliedstaaten steht und auf der anderen Seite der beitretende Staat.357 Zwar unterliegt ein Beitrittsvertrag der Ratifikation durch jeden einzelnen EU-Mitgliedstaat gemäß seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften (vgl Art 49 II 2 EUV), jedoch bedeutet dies nicht, dass der beitretende Staat mit jedem Mitgliedstaat einen Beitrittsvertrag schließt.358 Vielmehr setzt Art 49 II EUV voraus, dass die EU-Mitgliedstaaten und der beitretende Staat ein (bilaterales) Beitrittsabkommen schließen. Die EU-Mitgliedstaaten stellen somit als Gruppe eine Vertragspartei dar359 (was in dem spiegelbildlichen Fall eines Austrittsabkommens gem Art 50 II EUV offensichtlich wird, da dieses durch die Union selbst abgeschlossen wird). Dies kommt auch im Titel des Beitrittsvertrags zum Ausdruck, in dem zunächst alle EUMitgliedstaaten (nur durch Kommas getrennt) aufgeführt und mit einem Klammerzusatz als „Mitgliedstaaten der Europäischen Union“ gekennzeichnet werden, wonach – durch die Konjunktion „und“ als zweite Vertragspartei kenntlich gemacht – der Beitrittsstaat aufgeführt wird. Eine Auffächerung des als Einheit erscheinenden Beitrittsvertrags in eine rechtliche Vielzahl von Beitrittsverträgen, abgeschlossen zwischen dem beitretenden Mitgliedstaat und jedem einzelnen EU-Mitgliedstaat,360 ist nicht möglich, da die Mitgliedstaaten nur gemeinsam über den Beitritt befinden können. Somit stellt auch die kollektive Zustimmung der EU-Mitgliedstaaten zum Beitritt eines Drittstaates – analog zur Gründung der Gemeinschaften (Rn 8) – eine Art „Gesamtakt“ aller EU-Mitgliedstaaten dar. Art 49 I EUV geht von einer Situation aus, in der nur ein Staat der Union beitritt. 80 Die Vertragspraxis zeigt jedoch, dass nicht selten mehrere Staaten gleichzeitig der Union beitreten (vgl Rn 22). Ein solcher Beitritt vollzieht sich auf der Grundlage eines einzigen als „Vertrag“ bezeichneten Dokuments, das im Titel alle EUMitgliedstaaten einerseits und alle Beitrittsstaaten andererseits aufführt und von allen Vertragsstaaten unterzeichnet ist. Gleichwohl handelt es sich in diesem Fall nur dem äußeren Anschein nach um einen einzigen Vertrag (hierzu s Rn 4), vielmehr bündelt der Beitrittsvertrag Einzelbeitrittsverträge.361 Anders als die EU-Mit-

_____ 357 Zur Konstellation eines Vertrags mit einer Vielzahl von Unterzeichnerstaaten, der der Sache nach bilateralen Charakter trägt, vgl Dörr/Schmalenbach/Schmalenbach Art 2 WVK Rn 9. 358 Diese Sichtweise hält Dörr/Schmalenbach/Schmalenbach Art 2 WVK Rn 9 allgemein für denkbar. 359 Vgl Niedobitek JZ 2004, 369 iVm Fn 7. 360 Zu dieser Vorstellung aus Sicht der WVK Dörr/Schmalenbach/Schmalenbach Art 2 WVK Rn 9. 361 AA Merli Liber Amicorum Peter Hay, 2005, S 285 (287), dies obwohl er selbst darauf hinweist, dass das Europäische Parlament dem Beitritt jedes Beitrittsstaates einzeln zustimmt (für den Beitritt Bulgariens und Rumäniens vgl ABl 2005 L 157/5, 7). Matthias Niedobitek

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gliedstaaten (vgl Rn 79) bilden die Beitrittsstaaten nicht eine Gruppe von Staaten, die nur gemeinsam über den Beitritt aller Beitrittsstaaten verfügen könnten. Dem wird im Beitrittsvertrag Rechnung getragen. Zwar bestimmt der Vertrag, dass er der Ratifikation durch alle Hohen Vertragsparteien bedarf (Art 4 I, II UAbs 1 Beitrittsvertrag Bulgarien, Rumänien), jedoch trifft er zugleich Vorsorge für den Fall, dass ein Beitrittsstaat „seine Ratifikationsurkunde nicht rechtzeitig hinterlegt“. In diesem Fall tritt der Vertrag „für den anderen Staat in Kraft, der seine Urkunde hinterlegt hat“ (Art 4 II UAbs 2 Beitrittsvertrag Bulgarien, Rumänien). Die Durchführung der erforderlichen Anpassungen des Beitrittsvertrags wird dem Rat übertragen,362 was bisher nur im Fall Norwegens nötig war (Rn 24). Die Beitrittsverträge verfügen über eine einheitliche Struktur. Der eigentliche 81 Beitrittsvertrag umfasst nur wenige Artikel, die im Wesentlichen den Beitritt selbst, das Inkrafttreten und die Sprachfassungen betreffen.363 Die Beitrittsakte,364 die sich an den Beitrittsvertrag im engeren Sinn anschließt, bildet den materiellen Kern des Beitrittsvertrags. Sie beinhaltet die „Aufnahmebedingungen und die aufgrund der Aufnahme erforderlichen Anpassungen der […] Verträge“ und ist „Bestandteil“ des Beitrittsvertrags (vgl Art 1 III Beitrittsvertrag Kroatien). Die Beitrittsakte wiederum verweist auf Anhänge, Anlagen und Protokolle, die ihrerseits „Bestandteil“ der Beitrittsakte sind (vgl Art 53 Beitrittsakte Kroatien). Durch diese Verweisungstechnik wird der Vertragsstoff zugleich übersichtlich gestaltet und rechtlich auf dieselbe Stufe gestellt. Historischer Hintergrund365 der Beifügung einer „Beitrittsakte“ sind die ursprünglichen Unterschiede zwischen den Verfahren betreffend den Beitritt zur EGKS einerseits und zu EWG und EAG andererseits,366 die jedoch nicht die materiellen Beitrittsbedingungen berührten und daher in der Beitrittsakte zusammengefasst werden konnten. Dabei ist es bis heute geblieben. Beitrittsverträge enthalten zT unkonventionelle Regelungen, die – in einer Zu82 sammenschau – das Verhältnis zwischen primärem und sekundärem Unionsrecht gleichsam „auf den Kopf“ stellen. Dies betrifft zum Einen die Ermächtigung der Unionsorgane, den Beitrittsvertrag, va die Beitrittsakte, „anzupassen“, insb falls (bei mehreren Beitritten) ein Beitrittsstaat die Ratifikationsurkunde nicht hinterlegt

_____ 362 Hierbei handelt es sich somit um eine autonome Vertragsänderung; vgl Niedobitek JZ 2004, 369 (374). 363 Vgl auch Łazowski CYELP 8 (2012) 1 (3 f); Niedobitek JZ 2004, 369 (370 f). 364 Der Verfassungsvertrag sollte auf „Protokolle“ umgestellt werden, die dem Verfassungsvertrag beizufügen gewesen wären. Da es zur Zeit der Unterzeichnung des Beitrittsvertrags mit Bulgarien und Rumänien offen war, ob der Verfassungsvertrag in Kraft treten würde, wurden diesem sowohl eine Beitrittsakte als auch ein praktisch gleichlautendes Protokoll beigefügt; vgl Art 1, 2 Beitrittsvertrag Bulgarien, Rumänien. 365 Vgl Nass EuR 1972, 103 (107). 366 Diese Unterschiede wurden erst durch den Maastrichter Unionsvertrag beseitigt. Matthias Niedobitek

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(vgl Rn 80).367 Solche Ermächtigungen zur Vornahme „autonomer“ Vertragsänderungen waren allerdings im primären Unionsrecht schon früher nicht ungewöhnlich368 und sind seit Lissabon sogar weit verbreitet (vgl Rn 96–98). Interessanter ist der gleichsam umgekehrte Fall, in dem durch den Beitrittsvertrag sekundäres Unionsrecht geändert wird. Dies geschah im Beitrittsvertrag Kroatien bspw durch Art 15 iVm Anhang III. Auch wenn derartige Bestimmungen sekundäres Unionsrecht ändern, behalten sie nach der EuGH-Rechtsprechung, die von Teilen der Literatur kritisiert wird,369 ihren primärrechtlichen Charakter, da sie „Gegenstand des Abkommens zwischen den Mitgliedstaaten und dem antragstellenden Staat“ sind.370 Sie können daher nicht mit der Nichtigkeitsklage (Art 263 AEUV) angegriffen werden. Dies bedeutet im Ergebnis, dass die durch die Beitrittsakte geänderten Rechtsakte teils (und überwiegend) sekundärrechtlichen Charakter, teils primärrechtlichen Charakter haben. Die Rückkehr zu einem einheitlichen sekundärrechtlichen Rang kann bspw dadurch erreicht werden, dass die Unionsorgane – was die Beitrittsakte erlaubt371 – gem den vertraglichen Rechtsetzungsverfahren eine kodifizierte Fassung des Rechtsakts erlassen oder die in der Beitrittsakte enthaltenen Änderungen ihrerseits abändern.

5. Inkrafttreten und Publikation der Verträge Das Inkrafttreten der Integrationsverträge stand bisher stets unter Ratifikations- 83 vorbehalt. So bestimmt Art 6 des Vertrags von Lissabon:

_____ 367 Weiteres Beispiel: Art 17 Beitrittsakte Kroatien betr die Gemeinsame Agrarpolitik. 368 Bereits der EGKS-Vertrag sah in Art 95 III, IV die Möglichkeit vor, unter bestimmten Voraussetzungen eine autonome Anpassung der Vorschriften über die der Hohen Behörde übertragenen Befugnisse vorzunehmen. Hierzu hatten die Hohe Behörde und der (mit einer Mehrheit von fünf Sechsteln beschließende) Rat einvernehmlich Vorschläge aufstellen. Nach (tatsächlich und rechtlich unbeschränkter) Prüfung der Vorschläge durch den Gerichtshof oblag es der Versammlung, diese mit einer Mehrheit von drei Vierteln der abgegebenen Stimmen und zwei Dritteln seiner Mitglieder zu billigen. Hierzu vgl Lagrange ZHR 124 (1961), 88 (99). 369 Die Kritik stützt sich auf eine Bestimmung in der Beitrittsakte, wonach „[d]ie Bestimmungen dieser Akte, die eine Aufhebung oder Änderung von Rechtsakten der Organe zum Gegenstand haben oder bewirken, […] denselben Rechtscharakter wie die durch sie aufgehobenen oder geänderten Bestimmungen [haben] und denselben Regeln wie diese [unterliegen]“ (bspw Art 7 III Beitrittsakte Kroatien). Die Vertragsstaaten wollten, so wird argumentiert, solche Änderungen „jedenfalls mit dem Sekundärrecht gleichbehandelt sehen“; so Calliess/Ruffert/Cremer Art 49 EUV Rn 12. Die Gegenposition wird vertreten von Niedobitek JZ 2004, 369 (374 f). Heute zeigt die Einbettung der genannten Bestimmung in Art 7 Beitrittsakte Kroatien deutlicher als früher, dass sie lediglich eine Abweichung vom ordentlichen Vertragsänderungsverfahren erlauben sollte, wie dies der EuGH schon früher vertreten hat; vgl verb Rs 31 und 35/86 – LAISA, Rn 14. 370 EuGH, verb Rs 31 und 35/86 – LAISA, Rn 12; ähnlich Rs C-413/04 – Parlament / Rat, Rn 43; vgl ferner Rs C-445/00 – Österreich / Rat, Rn 62; C-313/98 – Kommission / Spanien, Rn 10; Rs C-259/95 – Parlament / Rat, Rn 9; allgemein zum EUV vgl Rs C-253/94 P – Roujanski / Rat, Rn 11. 371 Vgl bspw Art 7 III Beitrittsakte Kroatien. Matthias Niedobitek

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(1) Dieser Vertrag bedarf der Ratifikation durch die Hohen Vertragsparteien im Einklang mit ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften. Die Ratifikationsurkunden werden bei der Regierung der Italienischen Republik hinterlegt. (2) Dieser Vertrag tritt am 1. Januar 2009 in Kraft, sofern alle Ratifikationsurkunden hinterlegt worden sind, oder andernfalls am ersten Tag des auf die Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde folgenden Monats.

Ob ein Vertrag im zweistufigen Verfahren372 oder im vereinfachten Verfahren373 abgeschlossen wird, entscheiden die Vertragsparteien. Die Integrationsverträge konnten aufgrund ihrer (hoch-)politischen Bedeutung und ihres oft materiell verfassungsändernden Charakters 374 nicht im vereinfachten Verfahren abgeschlossen werden, sondern mussten einem innerstaatlichen Zustimmungsverfahren unterworfen werden.375 Ob ein Unterzeichnerstaat einen unter Ratifikationsvorbehalt stehenden Vertrag tatsächlich ratifiziert, unterliegt seinem freien Ermessen.376 Das Inkrafttreten eines völkerrechtlichen Vertrages markiert den Zeitpunkt, in 84 dem sein wesentlicher Inhalt, um dessentwillen der Vertrag geschlossen wurde, rechtliche Geltung erlangt. Einige Vertragsbestimmungen, etwa Vorschriften betreffend die Ratifikation, gelten jedoch gem Art 24 IV WVK bereits mit Vertragsunterzeichnung. Darüber hinaus enthalten va die Beitrittsverträge zahlreiche Bestimmungen, die vorwirkende Pflichten der Vertragsstaaten, insb der Beitrittsstaaten, sowie Befugnisse der Unionsorgane normieren, wobei das Inkrafttreten der von den Unionsorganen zu erlassenden Maßnahmen an das Inkrafttreten des Beitrittsvertrags gebunden ist.377 Bestimmungen zu ihrer Veröffentlichung sind in den Integrationsverträgen 85 nicht enthalten.378 Das Inkrafttreten der Integrationsverträge hängt somit völkerrechtlich nicht von ihrer Publikation ab.379 Soweit eine Publikation von Ver-

_____ 372 Vgl Dörr/Schmalenbach/Hoffmeister Art 14 WVK Rn 1: “… two-step procedure of treaty making, namely signature followed by ratification”. 373 Vgl Dörr/Schmalenbach/Hoffmeister Art 12 WVK Rn 3 (mit Kritik an der Begriffsbildung). 374 So nach hM in Deutschland im Fall der Übertragung von Hoheitsrechten; vgl etwa Sachs/Streinz Art 23 GG Rn 72, 82. 375 In Deutschland folgt das Erfordernis einer Beteiligung der gesetzgebenden Körperschaften allgemein aus Art 59 II 1 GG (politische Verträge) und ggf aus Art 23 I 2, 3 GG bei einer Übertragung von Hoheitsrechten; vgl Sachs/Streinz Art 23 GG Rn 62 ff. Dörr/Schmalenbach/Hoffmeister Art 14 WVK Rn 26, weist allerdings darauf hin, dass im völkerrechtlichen Verkehr der politische Charakter eines Abkommens nicht stets mit einem Ratifikationserfordernis einher geht. 376 Vgl Niedobitek JZ 2004, 369 (372 f); Dörr/Schmalenbach/Hoffmeister Art 14 WVK Rn 36. 377 Vgl Niedobitek JZ 2004, 369 (373 f). 378 Zutreffend Papenkort S 91 f. 379 Darin unterscheiden sich völkerrechtliche Verträge von den veröffentlichungsbedürftigen Rechtsakten des sekundären Unionsrechts (vgl Art 297 AEUV) und auch bspw von Bundesgesetzen (vgl Art 82 GG). Matthias Niedobitek

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trägen völkerrechtlich vorgesehen ist (vgl Art 102 UN-Charta, Art 80 WVK), wird deren Inkrafttreten vorausgesetzt; zudem obliegt die Veröffentlichung in diesem rechtlichen Kontext nicht den Vertragsstaaten, sondern dem UN-Sekretariat.380 Dies bedeutet, dass das rechtsstaatlich begründete381 Erfordernis einer Publikation der Verträge erst auf der Ebene der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen normativen Charakter erlangt. Wie alle völkerrechtlichen Verträge sind auch die Integrationsverträge zunächst eine Angelegenheit der Vertragsstaaten als den „Herren der Verträge“, die über die Veröffentlichung gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften zu entscheiden haben.382 Gleichwohl werden die Verträge im Amtsblatt der Europäischen Union ver- 86 öffentlicht. In den „Interinstitutionelle[n] Regeln für Veröffentlichungen 2011“ ist hierzu vermerkt, dass „[n]och nicht ratifizierte bzw konsolidierte Fassungen der Verträge im Amtsblatt C außerhalb der einzelnen Rubriken veröffentlicht“ werden.383 Die Veröffentlichungspraxis unterscheidet sich allerdings danach, ob es sich um Änderungsverträge oder um Beitrittsverträge handelt: Während Änderungsverträge tatsächlich regelmäßig – abgesehen von der EEA – im Amtsblatt C veröffentlicht werden, werden Beitrittsverträge regelmäßig – abgesehen vom Beitrittsvertrag 1994 – im Amtsblatt L veröffentlicht. Da die Publikation im Amtsblatt für das Inkrafttreten der Verträge keine Rolle spielt, sondern nur der Information dient, kommt es letztlich nicht darauf an, in welcher Reihe – C oder L – die Verträge veröffentlicht werden. Eine Pflicht der Union, nicht nur gem Art 297 AEUV sekundäres Unionsrecht, sondern auch konsolidierte Fassungen der Verträge zu veröffentlichen, die ihre Grundlage bilden, dürfte sich aus einer Zusammenschau der Vertragsvorschriften ergeben, die den Transparenzgrundsatz betreffen (insb Art 10 III EUV, 15 AEUV) ergeben.

6. Vertragsänderungen a) Allgemeines Vertragsänderungen384 können durch die Mitgliedstaaten im Vertragswege oder 87 durch die Union selbst im Wege eines Organbeschlusses, mit oder ohne Zustimmung der Mitgliedstaaten, erfolgen. Der Begriff der Vertragsänderung ist

_____ 380 Vgl Dörr/Schmalenbach/Tichy/Bittner Art 80 WVK Rn 10. 381 Hierzu vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Krajewski/Rösslein Art 297 AEUV Rn 4. 382 In Deutschland ist die Verkündung des Zustimmungsgesetzes zu einem völkerrechtlichen Vertrag (samt Vertragswortlaut) im Bundesgesetzblatt der letzte Schritt auf dem Weg zu dessen Existenz; vgl Sachs/Nierhaus/Mann Art 82 GG Rn 29. 383 Zugänglich auf der Website des Amts für Veröffentlichungen (http://publications.europa.eu), S 37. 384 Hier verstanden in einem engeren Sinn, dh ohne beitrittsbedingte Änderungen (vgl Rn 19). Matthias Niedobitek

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grundsätzlich weit zu verstehen und umfasst auch Vertragsergänzungen (wie bspw im Fall des Eigenmittelbeschlusses gem Art 311 III AEUV385), nicht jedoch eine ersatzlose Auflösung der Union (hierzu vgl Rn 100). Die Technik der Vertragsänderung hängt vom Änderungsverfahren ab. Er88 folgt eine Vertragsänderung durch „klassischen“ Änderungsvertrag der Mitgliedstaaten, so werden die vereinbarten Eingriffe in den Vertragstext mit gleichsam chirurgischer Präzision explizit angeordnet. Auf diese Weise hat der Vertrag von Lissabon die EG aufgelöst (vgl Rn 41). Bei vereinfachten Vertragsänderungen gem Art 48 VI AEUV kommt diese Technik ebenfalls zur Anwendung,386 denn auch hier geht es ausdrücklich um eine „Änderung [von] Bestimmungen“ des AEUV. Die Verträge können allerdings auch Änderungsverfahren zulassen, die den Text der Verträge unberührt lassen und daher zu diesem nur hinzutreten. Dies ist bspw bei Vertragsänderungen gem Art 48 VII EUV,387 gem Art 83 I UAbs 3 AEUV oder gem Art 252 I 2 AEUV der Fall. Auch neue Protokolle388 ändern den Vertragstext nicht, sondern werden den Verträgen beigefügt (vgl Art 51 EUV). Eine Vertragsänderung lässt die geänderten Verträge im Übrigen unberührt. 89 Dies versteht sich von selbst389 und wird in der Regel nicht ausdrücklich festgestellt. Im Fall der EEA (Art 32 EEA) und des Maastrichter Unionsvertrags (ex-Art 47 EUV), die neben einer Änderung der Gemeinschaftsverträge noch weitere völkerrechtliche Vereinbarungen umfassten, wurde dieser Umstand jedoch betont, um möglichen Einflüssen jener Vereinbarungen auf die Gemeinschaftsverträge vorzubeugen und diesen dadurch Bestandsschutz zu gewähren.390 Ein Änderungsvertrag ist mithin, jedenfalls ohne entsprechende Hinweise,391 nicht so zu verstehen, dass er die nicht geänderten Teile der betreffenden Verträge implizit bestätigt und damit alle Vertragsinhalte auf eine neue vertragliche Grundlage stellt. Vielmehr existieren die geänderten Verträge fort. Vor diesem Hintergrund ist die übliche Bezugnahme auf die Verträge „in der Fassung“ des jeweiligen Änderungsvertrags392 ungenau, gleichwohl

_____ 385 Hierzu vgl Streinz/Niedobitek Art 311 AEUV Rn 19 und § 3 I IntVG. 386 Vgl Beschluss 2011/199 zur Änderung des Artikels 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, ABl 2011 L 91/1. 387 Beispielgebend ist insofern, freilich aus der Zeit vor „Lissabon“, der Beschluss 2004/927 „über die Anwendung des Verfahrens des Artikels 251 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft auf bestimmte Bereiche, die unter Titel IV des Dritten Teils dieses Vertrags fallen“, ABl 2004 L 396/45. 388 Vgl etwa das „Protokoll zu den Anliegen der irischen Bevölkerung bezüglich des Vertrags von Lissabon“, ABl 2013 L 60/131. 389 Vgl Reuter Rn 204. 390 Hierzu vgl Streinz/Pechstein EUV/EGV Art 47 EUV Rn 1. 391 Vgl Reuter Rn 204. 392 So etwa Terhechte EuR 2008, 143 (vor Fn 1). Matthias Niedobitek

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sachlich gerechtfertigt und praktisch kaum vermeidbar.393 Eine verbindliche Konsolidierung der Vertragstexte, die letztlich auf eine Kodifikation (dh konstitutive Bestätigung) des jeweiligen Vertragsstands hinauslaufen würde, sehen die Integrationsverträge nicht vor, so dass zur Feststellung der geltenden Vertragslage immer der Gründungsvertrag und alle Änderungsverträge herangezogen werden müssten, würde die Union nicht unverbindlich konsolidierte Vertragsfassungen zur Verfügung stellen (zur Konsolidierung näher Rn 108). Die Frage, ob die Verträge nur in Anwendung der primärrechtlich vorgegebenen 90 Verfahren oder auch durch ein nicht-förmliches Übereinkommen der Mitgliedstaaten geändert werden können, ist heute kaum mehr umstrittten.394 Es dürfte – im Einklang mit der EuGH-Rechtsprechung395 – weitgehender Konsens bestehen, dass eine formlose Vertragsänderung außerhalb der vertraglichen Verfahren unionsrechtswidrig ist.396 Dies ist kein Hinweis darauf, dass die Unionsrechtsordnung als abgeschlossenes System zu verstehen ist397 (hierzu Rn 7), allerdings ist ein Rückgriff auf das Völkerrecht bei Vertragsänderungen ausgeschlossen, soweit Art 48 EUV reicht.398 Dafür spricht vor allem, dass das Unionsrecht „eine Rechtsordnung [ist], deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind“.399 Somit haben sich die Mitgliedstaaten nicht nur gegenseitig gebunden, sondern auch gegenüber den Einzelnen als Rechtssubjekten der Unionsrechtsordnung.400 Zudem könnten bei einer unionsrechtlichen Anerkennung eines formlosen Vertragsänderungsrechts die vertraglichen Mitwirkungsrechte der Organe ausgehöhlt werden.401 Dass ein nicht-förmliches Übereinkommen zur Änderung der EUVerträge gleichwohl völkerrechtlich wirksam wäre, wird zwar allenthalben betont,402 führt jedoch unionsrechtlich nicht weiter (hierzu vgl auch Rn 34).

_____ 393 Reuter Rn 204. 394 Zur früheren Literaturlage Schwarze/Herrnfeld Art 48 EUV Rn 24. 395 EuGH, Rs 43/75 – Defrenne / Sabena, Rn 56/58; Gutachten 1/92 – EWR II, Rn 32. 396 Vgl Schwarze/Herrnfeld Art 48 EUV Rn 25; Vedder/Heintschel vHeinegg/Heintschel vHeinegg Art 48 EUV Rn 3; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 48 EUV Rn 26; Streinz/Pechstein Art 48 EUV Rn 14. 397 So wohl Calliess/Ruffert/Cremer Art 48 EUV Rn 19 aE. 398 Biondi/Eeckhout/Ripley/De Witte S 109 gibt Beispiele für eine ergänzende Anwendung des völkerrechtlichen Rechts der Verträge. 399 EuGH, Rs 26/62 – Van Gend & Loos, Slg 1963, 25. 400 In diesem Sinn auch Calliess/Ruffert/Cremer Art 48 EUV Rn 20 aE, der allerdings einschränkend meint, Art 48 EUV würde die Unionsbürger nur mittelbar ansprechen. 401 Zutreffend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 48 EUV Rn 26. 402 AA wohl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 48 EUV Rn 26, wonach „[u]nter Berufung auf die Dispositionsfreiheit der Mitgliedstaaten als originäre Völkerrechtssubjekte […] eine Abweichung von Art. 48 EUV […] nicht in Betracht“ komme. Matthias Niedobitek

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b) Die Urheber von Vertragsänderungen aa) Die Mitgliedstaaten 91 Vertragsänderungen können von den Mitgliedstaaten auf vertraglichem Wege vereinbart werden. Hierbei handelt es sich um die hergebrachte, die „klassische“ Methode der Vertragsänderung,403 wie sie bspw bereits in ex-Art 236 EWGV vorgesehen war. Heute bezeichnet Art 48 II–V EUV dieses Verfahren als „ordentliches Änderungsverfahren“. Das ordentliche Änderungsverfahren bezieht sich auf „die Verträge“, dh auf die Verträge, die in Art 1 III 1 EUV und Art 1 II 2 AEUV als solche benannt werden: den EUV und den AEUV. Da auch die Charta der Grundrechte Bestandteil der Verträge ist (s Rn 50), findet das ordentliche Änderungsverfahren auch auf sie Anwendung.404 Eine direkte Änderung der Charta erscheint jedoch als ausgeschlossen, da die Charta als geschriebener – änderbarer – verbindlicher Grundrechte-Katalog nicht existiert (s Rn 49), während die Verfügungsgewalt über die proklamierte Charta nicht bei den Mitgliedstaaten, sondern bei Europäischem Parlament, Rat und Kommission liegt, die die Charta proklamiert haben. Eine Änderung der Charta müsste daher in der Weise erfolgen, dass zunächst die Charta revidiert und erneut proklamiert wird und anschließend die (statische) Verweisung in Art 6 I Halbs 1 EUV im Wege des ordentlichen Vertragsänderungsverfahrens angepasst (oder durch eine dynamische Verweisung ersetzt) wird.405 Die Initiative für eine Vertragsänderung kann wie bisher von den Regierun92 gen der Mitgliedstaaten sowie von der Kommission ausgehen, seit Lissabon jedoch auch vom Europäischen Parlament (Art 48 II 1 EUV), das damit ein rudimentäres Initiativrecht erhalten hat. Wie bisher (vgl ex-Art 236 EWGV) müssen die Entwürfe zunächst dem Rat zugeleitet werden, der seit Lissabon allerdings nur noch Botenfunktion hat: Seine Aufgabe ist es gem Art 48 II 3 EUV, die Entwürfe dem Europäischen Rat zu übermitteln und den nationalen Parlamenten zur Kenntnis zu bringen. War es früher seine Aufgabe, über den Fortgang des Verfahrens zu entscheiden und ggf den Zusammentritt einer Regierungskonferenz zu initiieren (vgl ex-Art 48 II EUV), obliegt diese Aufgabe seit Lissabon dem Europäischen Rat (Art 48 III 1 EUV). Eine „Prüfung“ der Änderungsentwürfe, dh die Fortsetzung des ordentlichen Änderungsverfahrens, erfolgt nur, wenn der Europäische Rat dies mit einfacher Mehrheit beschließt. Das ordentliche Änderungsverfahren sieht als Regelfall vor, dass Vertragsände93 rungen durch einen Konvent vorbereitet werden, der sich – nach dem Vorbild des

_____ 403 Vgl Biondi/Eeckhout/Ripley/De Witte S 107: “The main instrument of constitutional change in the European Union …”. 404 Ebenso bspw Schwarze/Hatje Art 6 EUV Rn 6; Terhechte S 66 f; aA Hummer/Obwexer/Obwexer Vertrag von Lissabon S 103. 405 Zutreffend Biondi/Eeckhout/Ripley/De Witte S 119 f. Matthias Niedobitek

I. Völkerrechtliche Verträge als Grundlage der Union | 61

Grundrechte-Konvents406 und des Europäischen Konvents407 – aus Vertretern der nationalen Parlamente, der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments und der Kommission zusammensetzt. Dieses Verfahren wurde bislang noch nicht wieder angewendet.408 Die Größe des Konvents und die Proportionen der einzelnen Gruppen legt Art 48 III EUV nicht fest, jedoch dürfte sich der Europäische Rat hierbei an den bisherigen beiden Konventen orientieren.409 Das Votum des Konvents hat nur empfehlenden Charakter. Letztlich ist es gem Art 48 IV 1 EUV Sache einer Regierungskonferenz, die Vertragsänderungen zu vereinbaren, worin die Vertragsherrschaft der Mitgliedstaaten ihren Ausdruck findet. Der Europäische Rat kann jedoch gem Art 48 III UAbs 2 EUV beschließen, kei- 94 nen Konvent einzuberufen, „wenn seine Einberufung aufgrund des Umfangs [extent / l’ampleur] der geplanten Änderungen nicht gerechtfertigt ist“.410 Es versteht sich, dass der Begriff des „Umfangs“ nicht auf die Anzahl der zu ändernden Artikel gemünzt ist, sondern die inhaltliche Tragweite der Änderungsentwürfe betrifft. Der dem Europäischen Rat insoweit zustehende Beurteilungsspielraum411 wird dadurch kontrolliert – und letztlich beschränkt –, dass er nur nach Zustimmung des Europäischen Parlaments als potenziellem Konventsmitglied beschließen kann, keinen Konvent einzuberufen. In allen bisherigen Fällen, in denen nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon das ordentliche Änderungsverfahren angewendet wurde, ist auf die Einberufung eines Konvents verzichtet worden.412 Eine weitere Vereinfachung bedeutet es, dass Regierungskonferenzen gem Art 48 IV 1 EUV nicht nur auf

_____ 406 Dieser wurde durch den Europäischen Rat von Köln am 3./4. Juni 1999 und durch den Europäischen Rat von Tampere am 15./16. Oktober 1999 eingesetzt; vgl die jew Schlussfolgerung der Vorsitze. Der Grundrechte-Konvent arbeitete die Charta der Grundrechte, ABl 2000 C 364, aus; hierzu vgl Merten/Papier/Niedobitek HGR VI/1 § 159 Rn 30–36. 407 Dieser wurde durch den Europäischen Rat von Laeken am 14./15. Dezember 2001 eingesetzt; vgl die „Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union“ als Anlage I der Schlussfolgerungen des Vorsitzes. Der Europäische Konvent arbeitete den Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa, ABl 2003 C 169, aus. 408 Zur Vereinbarung des „Protokoll[s] zu den Anliegen der irischen Bevölkerung bezüglich des Vertrags von Lissabon“, ABl 2013 L 60/131, hat der Europäische Rat auf die Einberufung eines Konvents verzichtet; vgl Beschluss 2013/106/EU, ABl 2013 L 60/129. Zu früheren Vertragsänderungen post „Lissabon“ vgl Eppler/Scheller/Niedobitek S 247 ff. 409 So bestand der Europäische Konvent neben dem Vorsitz aus je einem Vertreter der Staats- und Regierungschefs, je zwei Vertretern der nationalen Palramente, 16 Mitgliedern des Europäischen Parlaments und zwei Vertretern der Kommission; vgl die archivierte Website des Europäischen Konvents unter http://european-convention.europa.eu/. 410 Zuletzt vgl Beschluss 2013/106/EU, ABl 2013 L 60/129. 411 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 48 EUV Rn 37. 412 Vgl Eppler/Scheller/Niedobitek S 247 ff. Matthias Niedobitek

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Ministerebene, sondern bspw auch auf der Ebene der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten stattfinden können.413 Der Anwendungsbereich des ordentlichen Änderungsverfahrens ist nicht 95 beschränkt, wie bereits die Bezeichnung als „ordentliches“ (= allgemeines) Änderungsverfahren deutlich macht. Alle beabsichtigten Vertragsänderungen können in diesem Verfahren beschlossen werden, selbst wenn vereinfachte Änderungsverfahren (insb gem Art 48 VI, VII EUV) zur Verfügung stehen.414 Es handelt sich bei dem ordentlichen Änderungsverfahren somit nicht um ein subsidiäres, sondern um ein Regelverfahren.

bb) Die Union 96 Dass die Verträge auch durch die Union selbst, genauer durch den Rat bzw den Europäischen Rat, geändert oder ergänzt werden können, ist keine Neuerung des Vertrags von Lissabon,415 jedoch hat der Vertrag von Lissabon die Bedeutung solcher „halbautonomen“ bzw „autonomen“416 Vertragsänderungen nach Anzahl und Gewicht stark erhöht; dieser Bereich des Unionsrechts ist allerdings nicht immer leicht von der Befugnis zur sekundären Rechtsetzung abzugrenzen.417 Dadurch erlauben es die Verträge den Unionsorganen im großen Stil „auf den ‚konstitutionellen‘ Bereich mittels der für das ‚Tagesgeschäft‘ vorgesehenen Instrumente und Verfahren“ zuzugreifen.418 Das wäre an sich unproblematisch, wenn die zugelassenen Vertragsänderungen stets genau umschrieben wären und somit dem vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Erfordernis eines hinreichend bestimmt normierten Integrationsprogramms419 entsprächen. Obwohl dies offenkundig nicht stets der Fall ist – so spricht das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf Art 83 I UAbs 3 AEUV selbst von einer „dynamischen Blankettermächtigung“420 – und ob-

_____ 413 Vgl BT-Drs 17/11367, S 6; ferner Rats-Dok 13840/11. 414 AA wohl Streinz/Pechstein Art 48 EUV Rn 9 („Vorrang“ einfacher Verfahren); Biondi/ Eeckhout/Ripley/De Witte S 119; wie hier Calliess/Ruffert/Cremer Art 48 EUV Rn 3; wohl auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 48 EUV Rn 42 („Anstelle eines ordentlichen Änderungsverfahrens …“); unklar jedoch ders in Rn 52: Spezielle Änderungsregeln gingen Art 48 EUV vor, was nicht ausschließe, im Rahmen eines ordentlichen Änderungsverfahrens auch diese Bereiche zu regeln. 415 Zur diesbezüglichen Rechtslage vor Lissabon vgl Streinz/Pechstein EUV/EGV Art 48 EUV Rn 4. 416 Für die Begriffe vgl Streinz/Pechstein Art 48 EUV Rn 9. 417 So dürften Bestimmungen wie Art 42 I und 56 II AEUV nicht zur autonomen Vertragsergänzung, sondern zur sekundären Unionsrechtssetzung ermächtigen; vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Bast Art 5 EUV Rn 12. Zur umstrittenen Einordnung von ex-Art 269 II EGV (heute: Art 311 III AEUV) vgl Wölker EuR 2007, 32 (33); Wilms EuR 2007, 707 (710). 418 Abels/Eppler/Niedobitek S 160. 419 Vgl BVerfG, 2 BvE 2, 5/08, BVerfGE 123, 267 (351) – Vertrag von Lissabon; ferner Abels/Eppler/ Niedobitek S 162 f mwN aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 420 BVerfG, 2 BvE 2, 5/08, BVerfGE 123, 267 (412) – Vertrag von Lissabon. Matthias Niedobitek

I. Völkerrechtliche Verträge als Grundlage der Union | 63

wohl das den EU-Verträgen zugrunde liegende Integrationsprogramm insgesamt erheblich an Bestimmbarkeit eingebüßt hat,421 hat das Bundesverfassungsgericht den Vertrag von Lissabon gebilligt und als Kompensation eine parlamentarische Absicherung in der Begleitgesetzgebung verlangt. Diese erfolgte mit dem „Integrationsverantwortungsgesetz“,422 in dem nunmehr die wesentlichen – keineswegs alle423 – Fälle, in denen die Union, mit oder ohne Zustimmung der Mitgliedstaaten, die Verträge ändern kann, aufgeführt und einer parlamentarischen Zustimmung unterworfen werden.424 Dabei geht es zunächst um solche Vertragsänderungen (vielfach Vertragsergän- 97 zungen), die explizit einer „Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften“, zumindest aber einer Mitwirkung der nationalen Parlamente bedürfen, die mithin nur als „halbautonome“ Vertragsänderungen bezeichnet werden können. Die mitgliedstaatliche Rückbindung der Beschlussfassung ändert nicht deren rechtliche Einordnung als Organhandlung (zur Justiziabilität s Rn 104). Eine Zustimmung der Mitgliedstaaten erfordert insb das vereinfachte Änderungsverfahren gem Art 48 VI EUV, in dessen Rahmen der Europäische Rat ermächtigt ist, Änderungen am Dritten Teil des AEUV („Die internen Politiken und Maßnahmen der Union“) vorzunehmen, ferner Art 25 II AEUV (der es erlaubt, der Unionsbürgerschaft weitere Rechte hinzuzufügen425), Art 223 II AEUV (betr die Vereinheitlichung des Verfahrens der Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments) oder Art 262 AEUV (betr die Übertragung von Zuständigkeiten auf den EuGH im Zusammenhang mit europäischen Rechtstiteln für das geistige Eigentum). Ein Vetorecht der nationalen Parlamente (jedes einzelnen nationalen Parlaments) besteht im Rahmen des vereinfachten Änderungsverfahrens gem Art 48 VII EUV, welches den Europäischen Rat in weiten Bereichen des primären Unionsrechts ermächtigt zu beschließen, dass der Rat statt einstimmig mit qualifizierter Mehrheit beschließen kann bzw dass anstelle eines besonderen Gesetzgebungsverfahrens das ordentliche Gesetzgebungsverfahren zur Anwendung kommt. Ein Abrücken von der Einstimmigkeit ist jedoch ausgeschlossen, wenn es um Beschlüsse mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen geht (Art 48 VII UAbs 1 S 2 EUV), des Weiteren ist Art 48 VII EUV insgesamt nicht anwendbar in den in Art 353 AEUV genannten Fällen. Eine weitere sog „Brückenklausel“ mit Vetorecht der nationalen Parlamente, die diesmal dem Rat die Entscheidung des Übergangs („passe-

_____ 421 Zusammenfassend Abels/Eppler/Niedobitek S 168. 422 BGBl 2009 I 3022 mit späterer Änderung. 423 Bspw wird die in Art 355 VI AEUV vorgesehene Möglichkeit autonomer Vertragsänderung (Änderung des Status eines überseeischen Hoheitsgebiets) im Integrationsverantwortungsgesetz nicht erwähnt. 424 Kritisch hierzu aus europarechtlicher Perspektive Niedobitek GLJ 10 (2009) 8, 1267 f. 425 Vgl Streinz/Magiera Art 25 AEUV Rn 5. Matthias Niedobitek

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relle“) von einem besonderen zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren überträgt, enthält Art 81 III UAbs 2, 3 AEUV (betr Aspekte des Familienrechts mit grenzüberschreitendem Bezug). Daneben existiert eine Vielzahl von Vertragsbestimmungen, die der Union eine 98 „autonome“ Vertragsänderung erlauben. Einige Beispiele, die die verfahrensmäßige Vielfalt aufzeigen, mögen genügen: Gem Art 17 V UAbs 1 EUV (Änderung der Zahl der Mitglieder der Kommission), Art 31 III EUV („Brückenklausel“ betr die Beschlussfassung im Bereich der GASP), Art 312 II UAbs 2 AEUV („Brückenklausel“ betr die Beschlussfassung über den Mehrjährigen Finanzrahmen) sowie Art 355 VI AEUV (Änderung des Status überseeischer Hoheitsgebiete) entscheidet der Europäische Rat einstimmig. Gem Art 153 II UAbs 4 AEUV („Brückenklausel“ im Bereich der Sozialpolitik) und Art 192 II UAbs 2 AEUV („Brückenklausel“ im Bereich der Umweltpolitik) entscheidet der Rat einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments. Gem Art 83 I UAbs 3 AEUV (Klausel betr die Zuständigkeitserweiterung hinsichtlich Straftaten mit grenzüberschreitender Dimension) entscheidet der Rat einstimmig nach Zustimmung des Europäischen Parlaments. Die Erhöhung der vertraglich vorgesehenen Zahl der Generalanwälte kann gem Art 252 I 2 AEUV der Rat einstimmig auf Antrag des EuGH beschließen. Die EuGH-Satzung – als den Verträgen beigefügtes Protokoll deren Bestandteil (Art 51 EUV) – kann gem Art 281 II AEUV sogar weitgehend im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren, freilich mit Besonderheiten hinsichtlich des Initiativrechts, geändert werden. Schließlich kann der Rat (gem Art 16 III EUV mit qualifizierter Mehrheit) auf Vorschlag der Kommission fünf Jahre nach Inkrafttreten der Vertrags von Lissabon beschließen, Art 98 AEUV (betr die Vereinbarkeit teilungsbedingter Maßnahmen in Deutschland mit der Verkehrspolitik der Union) aufzuheben.

c) Rechtliche Grenzen von Vertragsänderungen 99 Lange Zeit war die Diskussion um Grenzen der Vertragsänderung theoretischer und

akademischer Natur und bezog sich allein auf mögliche ungeschriebene Änderungsgrenzen. Diese Diskussion, die andauert,426 dreht sich um die Frage, ob das primäre Unionsrecht – nach dem Vorbild von Art 79 III GG und zahlreicher weiterer europäischer Verfassungen427 – materielle Änderungsgrenzen enthält, die auch von den Mitgliedstaaten im Wege eines Änderungsvertrags nicht überschritten werden dürfen (dass sie völkerrechtlich überschritten werden können, ist klar, aber unionsrechtlich irrelevant; vgl Rn 34). Einen Ansatzpunkt für diese Diskussion hatte der EuGH mit seinem Gutachten 1/91 geboten, in dem er en passant festgestellt hatte, dass eine „Änderung dieser Bestimmung [gemeint war ex-Art 238 EWGV betr Assoziationen] in dem von der Kommission angesprochenen Sinne die Unvereinbarkeit

_____ 426 Vgl etwa Fontanelli/Martinico/Carrozza/Lavranos S 120 ff. 427 Rechtsvergleichend Steyns S 62–161; Sichert S 514 ff. Matthias Niedobitek

I. Völkerrechtliche Verträge als Grundlage der Union | 65

des Gerichtssystems des [ersten EWR-]Abkommens mit dem Gemeinschaftsrecht nicht beseitigen“ könne.428 Die Literatur war indessen stets skeptisch, ob der EuGH hier im Sinne materieller Änderungsschranken zu interpretieren wäre.429 Die Skepsis beruht va auf dem Umstand, dass die Mitgliedstaaten als die „Herren der Verträge“ solche Änderungsschranken ausdrücklich hätten normieren müssen.430 Zudem, so wird explizit oder implizit argumentiert, könnten die Mitgliedstaaten die Union ja auch auflösen (vgl Rn 27), was der Anerkennung materieller Änderungsgrenzen letztlich den Boden entziehe.431 Allerdings greift diese Argumentation zu kurz, weil die (ersatzlose) Auflösung 100 der Union von einer Vertragsänderung klar abzugrenzen ist und selbstverständlich keinerlei Änderungsgrenzen mehr zu beachten hat. Eine ersatzlose Auflösung der Union fällt nicht in den Anwendungsbereich des ordentlichen Änderungsverfahrens.432 Dies unterstreicht Art 48 II 2 EUV, der als Änderungsoptionen lediglich eine Ausdehnung oder Verringerung der Unionszuständigkeiten nennt. Bei einer ersatzlosen Auflösung der Union besinnen sich die Mitgliedstaaten (eigentlich: Vertragsstaaten) auf ihre Verfügungsmacht als „Herren der Verträge“, als pouvoir constituant. Dies bedeutet allerdings auch, dass jede „Vertragsänderung“, die das Wesen der Union (Rn 171–181) negiert, nicht mehr als Vertragsänderung gem den Verträgen zu betrachten ist, sondern als materielle Auflösung der Union. Sollten sich die Mitgliedstaaten bspw entschließen, in die Verträge eine Bestimmung einzufügen, wonach das Recht der Mitgliedstaaten Vorrang vor dem Recht der Union hat, so würde dies, materiell gesehen, eine Auflösung der Union bedeuten, da der Vorrang des Unionsrechts zum Wesen der Unionsrechtsordnung gehört.433 Während sich somit eine Vertragsänderung immer im Rahmen und auf der Grundlage der Verträge bewegt, vollzieht sich eine ersatzlose Auflösung der Union außerhalb der Verträge, nur noch in den allgemeinen völkerrechtlichen Bahnen.434 Da die Auflösung der Gemeinschaften durch den Verfassungsvertrag (Rn 26) und durch den Vertrag von Lissabon (Rn 41) lediglich den Weg für eine materiell konsolidierte Fortsetzung des Integrationsprozesses bereiten sollte und somit keine ersatzlose Auflösung der Gemeinschaften zum Ziel hatte, war es zulässig, hierfür das vertraglich vorgesehene Änderungsverfahren anzuwenden.435

_____ 428 EuGH, Gutachten 1/91 – EWR I, Rn 72. 429 Vgl Eppler/Scheller/Niedobitek S 242; vorsichtig auch Steyns S 37. 430 Vgl nur Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 48 EUV Rn 24. 431 In diese Richtung argumentiert etwa Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 48 EUV Rn 25. 432 AA Steyns S 200, der die Auflösung der Union nur bei Anwendung eines Vertragsänderungsverfahrens für akzeptabel hält; unentschlossen Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 48 EUV Rn 21. 433 Vgl EuGH, Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L., Slg 1964, 1270, wonach die Negierung des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts diesem seinen „Charakter als Gemeinschaftsrecht“ aberkennen würde. 434 So auch Vitzthum/Proelß/Klein/Schmahl 4. Abschn Rn 117 aE. 435 Zur Anwendung von ex-Art 48 EUV auf den Verfassungsvertrag vgl KOM(2003) 548. Matthias Niedobitek

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101

Ungeachtet der Einordnung des erwähnten EuGH-Gutachtens 1/91 und seiner fraglichen Relevanz für die Begründung eines änderungsfesten Kerns des Unionsrechts (vgl Rn 99) spricht jedoch vieles dafür, dass die Verträge – diesseits einer (materiellen) Auflösung der Union (vgl Rn 100) – nicht beliebig geändert werden können.436 Denn auch wenn (bspw) die Werte der Union (Art 2 EUV) nicht durch das primäre Unionsrecht gewährt, sondern durch dieses nur anerkannt werden,437 bedeutet dies nicht, dass sie nicht zum eigenen Fundament der Unionsrechtsordnung zählten und durch eine Vertragsänderung verletzt werden können438 (auch wenn damit notwendig eine Verletzung der entsprechenden Werte der mitgliedstaatlichen Verfassungen einher gehen würde). Die bisher abstrakt-akademische Debatte um ungeschriebene Änderungsgren102 zen des primären Unionsrechts wurde va durch den massiven Ausbau von Befugnissen der Union, die Verträge zu ändern (Rn 96–98), in konkret-praktische Bahnen gelenkt. Alle Bestimmungen, die den Europäischen Rat bzw den Rat zu „teilautonomen“ oder „autonomen“ Vertragsänderungen ermächtigen, wurden mit inhaltlichen und/oder prozeduralen Kautelen versehen, die als Grenzen der Vertragsänderung zu beachten sind. So darf das vereinfachte Änderungsverfahren gem Art 48 VI EUV nur angewendet werden, wenn es um Änderungen des Dritten Teils des AEUV geht und diese Änderungen nicht zu einer Ausdehnung der Zuständigkeiten der Union führen. Die Mitgliedstaaten unterliegen einer prozeduralen Änderungsgrenze, da sie die Verträge nicht außerhalb des ordentlichen Änderungsverfahrens (Art 48 II-V EUV) ändern dürfen (Rn 90). Auch das ordentliche Änderungsverfahren wurde im Hinblick auf das zu beachtende Verfahren durch den Vertrag von Lissabon stark verfeinert. Bspw darf auf die Einberufung eines Konvents nur unter den in Art 48 III UAbs 2 EUV vorgesehenen Bedingungen verzichtet werden. Die Klausel allerdings, wonach Vertragsänderungen „unter anderem eine Ausdehnung oder Verringerung der der Union in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten zum Ziel haben“ können (Art 48 II 2 EUV), schränkt die Änderungsfreiheit im Rahmen des ordentlichen Änderungsverfahrens nicht ein, weist aber darauf hin, dass Vertragsänderungen nicht stets mit einem Ausbau der Unionszuständigkeiten einher gehen müssen.

d) Justiziabilität 103 Bei der Frage nach der Justiziabilität von Vertragsänderungen ist nach den ver-

schiedenen Urhebern/Akteuren zu unterscheiden. Vertragsänderungen, die die

_____ 436 Im Ergebnis (freilich mit streitbarer Begründung) durchaus nachvollziehbar Steyns S 228 ff; umfassend Sichert S 511 ff. 437 So argumentiert bspw Schwarze/Herrnfeld Art 48 EUV 16. 438 Allerdings dürften die Mitgliedstaaten bei der vertraglichen Ausgestaltung der Werte der Union über einen sehr weiten Ermessensspielraum verfügen; zum Demokratieprinzip vgl etwa EuGH, Rs C-130/10 – Parlament / Rat, Rn 81 f. Matthias Niedobitek

I. Völkerrechtliche Verträge als Grundlage der Union | 67

Mitgliedstaaten im Vertragswege vornehmen, können nicht mit einer Nichtigkeitsklage angegriffen werden, da diese nicht zu den Organhandlungen gehören, die gem Art 263 AEUV der Rechtmäßigkeitskontrolle des EuGH unterliegen.439 Ein gegen alle Mitgliedstaaten gerichtetes Vertragsverletzungsverfahren gem Art 258 AEUV kommt in Betracht, wenn der Änderungsvertrag den ggf geschützten änderungsfesten Kern der Unionsrechtsordnung (vgl Rn 101) verletzt. Nicht hingegen könnte eine Vertragsverletzungsklage auf einen „Verstoß gegen zwingende Verfahrensregelungen des Art 48“ – etwa eine unterlassene Anhörung des Europäischen Parlaments – gestützt werden,440 da sich die Verfahrensregelungen des Art 48 III EUV an die Unionsorgane, nicht jedoch an die Mitgliedstaaten richten. Die im Rahmen des ordentlichen Änderungsverfahrens (Art 48 II–V AEUV) ggf zu fassenden Organbeschlüsse (insb Beschluss des Europäischen Rates, die vorgeschlagenen Änderungen zu prüfen; ggf Beschluss des Europäischen Rates, keinen Konvent einzuberufen) entfalten Rechtswirkung, auch wenn sie lediglich dem Änderungsvertrag vorgelagerte Verfahrensschritte darstellen, und können isoliert mit der Nichtigkeitsklage gem Art 263 AEUV angegriffen werden.441 Im Fall einer Nichtigerklärung eines vorgelagerten Verfahrensschritts durch den EuGH wären die Mitgliedstaaten unionsrechtlich gehindert, den Änderungsvertrag abzuschließen, da dieser gem Art 48 EUV die vorgelagerten Verfahrensschritte zwingend voraussetzt. Ein gleichwohl erfolgter Vertragsschluss könnte daher mit der Vertragsverletzungsklage angefochten werden. Nach erfolgter Vertragsänderung könnte natürlich auch im Wege des Vorabentscheidungsverfahren eine „Auslegung der Verträge“ gem Art 267 I lit a) AEUV beantragt werden. Vertragsänderungen, die von den Organen – mit oder ohne erforderliche 104 Zustimmung der Mitgliedstaaten – vorgenommen werden, können als Organhandlungen mit der Nichtigkeitsklage gem Art 263 AEUV angefochten werden. Ferner kann gem Art 267 I lit b) AEUV im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nicht nur die Auslegung, sondern auch die Gültigkeit einer (teil-)autonomen Vertragsänderung beantragt werden. Ungeachtet der Tatsache, dass bspw ein vereinfachtes Vertragsänderungsverfahren gem Art 48 VI EUV zur Schaffung primären Unionsrechts führt, beruht es nämlich auf einer Organhandlung. In der Rechtssache Pringle hat der EuGH dies bestätigt.442

_____ 439 Vgl EuGH, Rs C-253/94 P – Roujanski / Rat, Rn 11; Rs C-413/04 – Parlament / Rat, Rn 43. 440 So noch Schwarze/Herrnfeld 3. Aufl Art 48 EUV Rn 16. In der 4. Aufl – Schwarze/Herrnfeld Art 48 EUV Rn 18 – wird Art. 258 AEUV nicht mehr erwähnt. 441 Ebenso iErg Schwarze/Herrnfeld Art 48 EUV Rn 18; aA vArnauld EuR 2003, 191 (215). 442 EuGH, Rs C-370/12 – Pringle, Rn 35. Matthias Niedobitek

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7. Berichtigung und Konsolidierung der Vertragstexte 105 Gelegentlich ist es erforderlich, die Integrationsverträge zu berichtigen. Für Berich-

tigungen enthält das primäre Unionsrecht allerdings keine Vorgaben. Grundsätzlich sind daher die Regelungen der Wiener Vertragsrechtskonvention anzuwenden. Art 79 WVK unterscheidet zwischen Verträgen, für die kein Verwahrer bestimmt ist (Art 79 I WVK), und (idR multilateralen) Verträgen, die von einem bestimmten Vertragsstaat verwahrt werden (Art 79 II WVK). Da die Integrationsverträge von der Regierung der Italienischen Republik verwahrt werden (Rn 62), findet Art 79 II WVK Anwendung. Danach kommt dem verwahrenden Staat eine zentrale Rolle bei der Durchführung von Berichtigungen zu.443 Dieser hat den entdeckten oder mitgeteilten Fehler den Vertragsstaaten zu notifizieren, einen Berichtigungsvorschlag zu unterbreiten und eine Einspruchsfrist festzulegen. Sollte nach Ablauf der Frist kein Einspruch eingegangen sein, nimmt der Verwahrer die Berichtigung vor und übermittelt diese an die Vertragsstaaten. Die Unionspraxis entspricht offenkundig den Regeln der WVK. 444 Eine 106 Berichtigung erfolgt durch ein „Protokoll über die Berichtigung“ (früher „Berichtigungsprotokoll“), das im Amtsblatt der Union veröffentlicht wird und als einleitenden Satz folgenden Hinweis enthält:445 „Diese Berichtigung wurde mit Berichtigungsprotokoll vorgenommen, das am […] in Rom von der Regierung der Italienischen Republik als Verwahrer unterzeichnet wurde“. Unproblematisch sind solche Berichtigungen, sofern sie tatsächlich nur „physi107 cal errors in typing or printing, spelling, punctuation, numbering, crossreferencing“ betreffen,446 jedoch können bereits Ungereimtheiten zwischen den verschiedenen Sprachfassungen die Substanz der Verträge berühren. In solchen Fällen ist es den Vertragsstaaten unbenommen, evtl sogar geboten, die berichtigten Verträge erneut dem innerstaatlich geforderten Zustimmungsverfahren zu unterwerfen und sie neuerlich zu ratifizieren;447 dies ist jedoch, soweit ersichtlich, bei Berichtigungen der Integrationsverträge bislang noch nicht erfolgt.448 Vertragsänderungen und Berichtigungen greifen punktuell in den Text der In108 tegrationsverträge ein, ohne dass jedoch dafür Sorge getragen wäre, dass diese auch

_____ 443 Vgl Dörr/Schmalenbach/Tichy/Bittner Art 79 WVK Rn 8. 444 Eine recht ausführliche Darstellung des Verfahrens findet sich in dem „Berichtigungsprotokoll“ vom 26. Juli 1999, ABl 1999 C 323/1. 445 Vgl das bisher jüngste Beispiel in ABl 2016 L 150/1, in dem (was offenbar nur die deutsche Fassung betrifft) ua in einigen Bestimmungen betr Klagen vor den Unionsgerichten der „Gerichtshof der Europäischen Union“ durch „Gerichtshof“ ersetzt. 446 Vgl Dörr/Schmalenbach/Tichy/Bittner Art 79 WVK Rn 4. 447 Vgl den Hinweis bei Dörr/Schmalenbach/Tichy/Bittner Art 79 WVK Rn 4 iVm Fn 13. 448 Kritisch zur Berichtigungspraxis auch Eilmansberger/Griller/Obwexer/Obwexer S 92, wonach Berichtigungen, die materielle Änderungen des geltenden Primärrechts enthalten, „an die Grenzen des Zulässigen“ stoßen. Matthias Niedobitek

I. Völkerrechtliche Verträge als Grundlage der Union | 69

in die Verträge „eingearbeitet“ werden.449 Um eine „lesbare“ aktuelle Fassung der Verträge zu erhalten, ist es erforderlich, die Anweisungen der Änderungsverträge und Berichtigungen auch textlich umzusetzen, dh die Verträge zu konsolidieren. Diese anspruchsvolle Aufgabe450 erledigt das Generalsekretariat des Rates.451 Eine konsolidierte Fassung der Verträge wird zwar im Amtsblatt der Union veröffentlicht (vgl Rn 86), jedoch ist diese nicht verbindlich. Dies verdeutlicht Erklärung Nr 42 zum Amsterdamer Vertrag. Demnach sind die Vertragsstaaten übereingekommen, die Verträge zu konsolidieren; gleichzeitig haben sie erklärt, dass „die Endergebnisse dieser technischen Arbeit […] keine Rechtswirkung haben“. Zudem wurde der Schlussakte ein Satz angefügt, wonach die Regierungskonferenz übereingekommen ist, der Schlussakte „den Wortlaut des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in der Fassung der von der Konferenz vorgenommenen Änderungen als Illustration beizufügen“.452 Eine rechtsverbindliche Kodifizierung der Verträge, wie dies beim sekundären Unionsrecht üblich ist,453 ist im Fall des primären Unionsrechts nicht vorgesehen. Eine rechtsverbindliche Kodifizierung des primären Unionsrechts hätte allerdings der gescheiterte Verfassungsvertrag mit sich gebracht.

8. Zur Frage einer Normenhierarchie im primären Unionsrecht Das Verhältnis zwischen primärem und sekundärem Unionsrecht ist unstreitig hier- 109 archisch angelegt: Jeder Rechtsakt des sekundären Unionsrechts muss „mit der Gesamtheit der geltenden Vertragsbestimmungen im Einklang stehen sowie mit den ungeschriebenen Normen, die den Verträgen im Rang gleichstehen“.454 In regelmäßigen Abständen wird allerdings auch über die Frage einer möglichen Normenhierarchie innerhalb des primären Unionsrechts diskutiert. Bevor jedoch der Blick auf die Unionsrechtsordnung gerichtet wird, ist es erforderlich, die Kriterien, die nach

_____ 449 Nur im Fall des Vertrags von Lissabon wurde angeordnet, dass bestimmte frühere Änderungen des EGV und des EAGV in diese Verträge „eingearbeitet“ werden, um in den betreffenden Artikeln des EUV Platz für neue Inhalte zu schaffen. Vgl Art 1 Ziff 11), 21) Vertrag von Lissabon. 450 Dabei sind Fehler nicht immer zu vermeiden. So wurde bei der Umstellung der Artikel des EGV von „der Vertrag“ auf „die Verträge“ im AEUV die Anweisung des Vertrags von Lissabon, die entsprechenden grammatikalischen Anpassungen vorzunehmen (Art 2 Ziff 2 lit b Vertrag von Lissabon), in der deutschen Fassung von Art 263 II AEUV zunächst nicht korrekt umgesetzt (vgl die Fassung in ABl 2012 C 326: „… Verletzung der Verträge oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm …“); richtig nunmehr in der Fassung ABl 2016 C 202. 451 Genauer: der Juristische Dienst. Demgegenüber werden konsolidierte Fassungen der Rechtsakte des sekundären Unionsrechts durch das interinstitutionelle „Amt für Veröffentlichungen“ erledigt. 452 Hervorhebung hinzugefügt. 453 Vgl etwa VO 2015/1843, ABl 2015 L 272/1. 454 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Bast Art 5 EUV Rn 10. Matthias Niedobitek

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hM bei der Feststellung einer Hierarchie (eines „Stufenbaus“) innerhalb einer Rechtsordnung entscheidend sind, zu nennen: (a) der Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit; (b) der Stufenbau nach der derogatorischen Kraft.455 Die Frage nach der rechtlichen Bedingtheit von Normen innerhalb einer Rechtsordnung geht dahin, wie viele Ermächtigungsstufen zwischen einer abgeleiteten Norm und der höchsten Norm, der „Verfassung“, liegen.456 Auf diese Weise lassen sich normhierarchische Schichten oder „Stufen“ bilden. Die Frage nach der rechtlichen Bedingtheit von Normen ist formal-deskriptiver Art. Demgegenüber ist die Frage nach der zwischen Normen bestehenden derogatorischen Kraft materiell-interpretativer Art, denn sie erfordert eine Auslegung und Zuordnung von Normen (vorliegend innerhalb der „Verfassung“) und ist daher wesentlich schwieriger zu beantworten als die Frage nach der rechtlichen Bedingtheit. Dennoch geht es bei der Frage nach einer Normenhierarchie letztlich immer um die derogatorische Kraft, dh um die Frage, welche Norm an welcher Norm zu messen ist, welche Norm welcher Norm zu genügen hat. Das Verhältnis zwischen den beiden Kriterien ist somit nicht ausgewogen: Die Frage nach der rechtlichen Bedingtheit hat nur vorläufigen, grob sortierenden Charakter, sie kann durch die zweite Frage nach der derogatorischen Kraft stets widerlegt werden. Dabei kann die derogatorische Kraft, gleichsam punktuell, zwischen einzelnen Normen bestehen, sie kann aber auch – was mit der Bildung von „Stufen“ assoziiert wird – das Verhältnis ganzer Normenkomplexe zueinander (wie das Verhältnis zwischen primärem und sekundärem Unionsrecht) betreffen. Das primäre Unionsrecht enthielt bis zum Vertrag von Lissabon nur mittelbare – 110 und negative – Aussagen zur Möglichkeit einer Hierarchie im primären Gemeinschaftsrecht. So bestimmte ex-Art 311 EGV, dass die dem Vertrag beigefügten Protokolle Bestandteile des EG-Vertrages sind und somit den gleichen Rang wie dieser genießen.457 Der Vertrag von Lissabon hat diesen Befund bestätigt, verstärkt und verdeutlicht. Die Eingangsartikel des EUV und des AEUV weisen frühere Ideen zurück, die Verträge hierarchisch aufzuteilen.458 Sowohl Art 1 III 2 EUV als auch Art 1 II 2 AEUV betonen, dass beide Verträge „rechtlich gleichrangig“ sind. Damit ist nicht nur das Verhältnis zwischen den Verträgen angesprochen, sondern zugleich auch festgestellt, dass jeder Vertrag in sich „gleichrangig“ ist. Des Weiteren erstreckt Art 6 I UAbs 1 Halbs 2 EUV die Gleichrangigkeit auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. In den Gleichrang sind durch den Vertrag von Lissabon neben den Protokollen auch die Anhänge einbezogen worden (vgl Art 51 EUV).

_____ 455 Vgl Meurs S 7–11. 456 T Schilling S 163 f; Meurs S 8 f. 457 Vgl vArnauld EuR 2003, 191 (195 f). 458 Vgl die „Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union“ als Anlage I der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates von Laeken am 14./15. Dezember 2001. Matthias Niedobitek

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Die Gleichrangigkeit bezieht sich nicht nur auf die Text gewordenen Verträ- 111 ge, sondern auch auf ihre ungeschriebenen Bestandteile459 (hierzu Rn 72–78). Dass bspw die „in Form allgemeiner Rechtsgrundsätze geltenden Grundrechte des EU-Rechts dem Primärrecht zuzurechnen sind, in ihrem Geltungsanspruch aber zwischen dem Vertrags- und dem Sekundärrecht stehen“,460 ist zumindest missverständlich. Normhierarchisch ist der Fall eindeutig. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts sind Bestandteil des primären Unionsrechts. Ein etwaiger Konflikt zwischen geschriebenem und ungeschriebenem primärem Unionsrecht461 ist nicht hierarchischer, sondern inhaltlicher Natur. Während eine gleichsam statische Betrachtung der Verträge eine hierarchische 112 Stufung nicht erkennen lässt, ändert sich diese Sichtweise, soweit es um den dynamischen, zeitlich begrenzten Prozess der Vertragsänderung geht. Hier ist wieder zwischen Vertragsänderungen durch die Mitgliedstaaten und Vertragsänderungen durch die Unionsorgane zu unterscheiden. Was den Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit angeht, befinden sich die Mitgliedstaaten – als „Herren der Verträge“ – in keinerlei Ableitungszusammenhang zu den Verträgen, auch wenn sie die Verfahrensvorschriften von Art 48 EUV zu beachten haben. Demgegenüber handelt es sich bei den Vertragsänderungen, die von den Organen durchgeführt werden, um Handlungen, die, was die rechtliche Bedingtheit angeht, eine Stufe niedriger als die Verträge anzusiedeln sind, da sie auf einer vertraglichen Ermächtigung beruhen. Solche Vertragsänderungen müssen die inhaltlichen und prozeduralen Vorgaben der ermächtigenden Vertragsnorm beachten.462 Dennoch – dies macht den „hybriden“ Charakter der organgesetzten Vertragsänderungen aus – erschaffen die Organe primäres Unionsrecht, das kraft vertraglicher Anordnung denselben Rang wie die sonstigen Vertragsbestimmungen hat und daher in der Lage ist, von den Mitgliedstaaten geschaffenes Primärrecht zu derogieren.463 Die Frage einer Normenhierarchie im primären Unionsrecht ist von der 113 Frage nach möglichen Änderungsgrenzen (Rn 99–102) zu trennen, auch wenn beide Fragen Berührungspunkte und Überschneidungsbereiche aufweisen: Weder würde die Feststellung einer Normenhierarchie innerhalb des Primärrechts die Änderungsfestigkeit der höherrangigen Normen bedingen, noch impliziert die Feststellung eines änderungsfesten Kerns vertraglicher Bestimmungen oder Grundsätze deren Höherrangigkeit gegenüber sonstigem Primärrecht.464 Eine andere Beurteilung ist allerdings dann erforderlich, wenn es um Vertragsänderungen und deren

_____ 459 460 461 462 463 464

Vgl vArnauld EuR 2003, 191 (208 f); Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 6 EUV Rn 29. Oppermann/Classen/Nettesheim § 9 Rn 20. Hierauf stellen Oppermann/Classen/Nettesheim § 9 Rn 20 ab. Vgl EuGH, Rs C-370/12 – Pringle, Rn 35 f. Zutreffend Nettesheim EuR 2006, 737 (742). Zutreffend vArnauld EuR 2003, 191 (210 ff); ebenso für Art 79 III GG BK/Ewers Art 79 III Rn 90.

Matthias Niedobitek

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Vereinbarkeit mit änderungsfesten Normen der Verträge geht: In dieser Situation erweist sich die änderungsfeste Norm als Rechtmäßigkeitsmaßstab für die Vertragsänderung und ist dieser hierarchisch übergeordnet. Dies gilt ebenfalls, soweit es um die Beachtung der den Unionsorganen und den Mitgliedstaaten gesetzten inhaltlichen und prozeduralen Grenzen für Vertragsänderungen geht (vgl Rn 102). Kollisionsregeln wie die lex specialis- oder die lex posterior-Regel haben mit der 114 Hierarchiefrage nichts zu tun.465 Sie kommen erst innerhalb eines norm­hierarchisch homogenen Rechtssystems zum Zuge.466 II. Die rechtliche Gestalt der Union II. Die rechtliche Gestalt der Union 115 Als Geschöpf des Rechts, genauer: des Völkerrechts, verfügt die Union zwar nicht

über eine sinnlich wahrnehmbare „natürliche Gestalt“, jedoch lassen die Integrationsverträge die rechtliche Gestalt der Union, dh ihre individuelle rechtliche Erscheinungsform, erkennen. Ein erster Blick auf die Union – gleichsam aus der Vogelperspektive – zeigt, dass sie Rechtspersönlichkeit besitzt (Rn 116–123). Dabei handelt es sich jedoch um eine Eigenschaft, die die Union mit vielen Internationalen Organisationen teilt und sie noch kaum individualisiert. Um die rechtliche Gestalt der Union genauer zu beschreiben, ist es daher erforderlich, charakteristische Merkmale der Unionsrechtsordnung in den Blick zu nehmen (Rn 124–170). Auf dieser Grundlage kann schließlich die Frage nach dem „Wesen“ der Union gestellt werden (Rn 171–181), die letztlich nicht mehr durch schlichte Deskription beantwortet werden kann, sondern einer Deutung des rechtlichen Befunds bedarf.

1. Rechtspersönlichkeit der Union a) Die Union als neue Rechtspersönlichkeit 116 Art 47 EUV bestimmt: „Die Union besitzt Rechtspersönlichkeit“. Mit der Verleihung von Rechtspersönlichkeit an die Union etabliert der Vertrag von Lissabon diese als (potenzielle) Trägerin, dh als Zurechnungsendpunkt,467 von Rechten und Pflichten. Art 47 EUV wurde durch den Vertrag von Lissabon neu in den EUV eingefügt. Vor Lissabon besaßen die EG und die – bis heute fortexistierende – Euratom (sowie bis zu ihrer Auflösung die EGKS) kraft ausdrücklicher vertraglicher Regelung Rechtspersönlichkeit, während es bis zum Schluss umstritten war, ob (und ggf in welchem Umfang) die „alte“ Union Rechtspersönlichkeit besaß. Unabhängig von dieser Frage

_____ 465 AA insoweit wohl Nettesheim EuR 2006, 737 (738), der die Regel „lex posterior derogat legi priori“ hierarchisch deutet; anders dann ders EuR 2006, 737 (745 ff). 466 Meurs S 14; Niedobitek/Zemánek/Niedobitek S 73. 467 Vgl HJ Wolff Staatsperson S 198, 229 f. Matthias Niedobitek

II. Die rechtliche Gestalt der Union | 73

hat der Vertrag von Lissabon die Union als neue Rechtspersönlichkeit erschaffen: Art 47 EUV ist konstitutiver Natur. Selbst wenn die Union bereits vor Lissabon über Rechtspersönlichkeit verfügt haben sollte (was zweifelhaft ist), wurde diese durch den Vertrag von Lissabon nicht (deklaratorisch) fortgesetzt und ausgeweitet,468 sondern, wenn auch nicht ausdrücklich, aufgehoben (näher Rn 42). Dass die neue Union ausdrücklich nur die Rechtsnachfolge der EG antritt (Art 1 III 2 EUV) und nicht auch der Maastrichter Europäischen Union (deren frühere Rechtspersönlichkeit vorausgesetzt), wird dadurch kompensiert, dass das „Protokoll über die Übergangsbestimmungen“ in seinem Art 9 die Fortgeltung der Rechtsakte anordnet, die vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auf der Grundlage des bisherigen EUV angenommen wurden. Damit bedient sich das Protokoll im Hinblick auf das frühere sekundäre Unionsrecht derselben Technik, die im Verfassungsvertrag in Art IV-438 auf das gesamte bis dahin erlassene sekundäre Gemeinschafts-/Unionsrecht angewandt wurde. Letztlich bestätigt Art 9 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen auch, dass die Union vor Lissabon nicht über Rechtspersönlichkeit verfügte, da der Vertrag von Lissabon andernfalls auch die Rechtsnachfolge nach der Union hätte anordnen können, wenigstens soweit die vermeintliche Rechtspersönlichkeit der früheren Union reichte.

b) Die rechtlichen Dimensionen der Rechtspersönlichkeit der Union Zur rechtlichen Verortung der Rechtsfähigkeit trifft Art 47 EUV keine Aussage. Die 117 herrschende Lehre fokussiert Art 47 EUV auf die allgemeine völkerrechtliche Rechtsstellung der Union469 und beschränkt Art 47 EUV vielfach auf diese, wobei als Argument auf die komplementäre Bestimmung des Art 335 AEUV hingewiesen wird, der die innerstaatliche Rechtsfähigkeit der Union betreffe.470 Das ist jedoch nicht gerechtfertigt.471 Art 47 EUV ist nicht Bestandteil der Bestimmungen über das auswärtige Handeln der Union, sondern – ähnlich wie früher ex-Art 281 EGV – Teil der Schlussbestimmungen, er trägt somit allgemeinen und umfassenden Charakter. Art 47 EUV verleiht der Union ganz allgemein Rechtspersönlichkeit, die einheitlicher Natur ist472 und nicht in eine völkerrechtliche, eine innerstaatliche (evtl sogar multiple innerstaatliche) und eine unionsrechtliche Rechtspersönlichkeit aufgespalten werden

_____ 468 So jedoch bspw Schroeder EuR 2012, Beiheft 2, 9 (17); Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 1 EUV Rn 54; Fischoeder S 119, 121 f. 469 Vgl etwa Calliess/Ruffert/Ruffert Art 47 EUV Rn 5. 470 So etwa Streinz/Kokott Art 47 EUV Rn 1. 471 So auch Geiger/Khan/Kotzur/Geiger Art 47 EUV Rn 1. 472 So bereits HP Ipsen S 202, 203; ihm folgend vdGroeben/Schwarze/Hatje/Hatje Art 335 AEUV Rn 1; ebenso wohl auch Schwarze/Terhechte Art 47 EUV Rn 1 aE. Zu Recht betonen Bieber/Epiney/ Haag/Kotzur § 3 Rn 49 unter Bezugnahme auf Art 47 EUV, dass die Rechtssubjektivität einer Organisation „eine externe und eine interne Dimension“ umfasst. Matthias Niedobitek

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kann. Das ist zwar rechtlich nicht ausgeschlossen – grundsätzlich entscheidet jede Rechtsordnung selbst über die Voraussetzungen der Verleihung von Rechtspersönlichkeit473 –, jedoch hat die Rechtspersönlichkeit der Union Anteil am supranationalen Charakter des Unionsrechts, der die unmittelbare Geltung in den Mitgliedstaaten umfasst.474 Art 335 AEUV erwähnt den Begriff der „Rechtspersönlichkeit“ der Union auch mit keinem Wort, sondern setzt diese offenkundig voraus, indem er bestimmt, dass die Union in jedem Mitgliedstaat „die weitestgehende Rechts- und Geschäftsfähigkeit [besitzt], die juristischen Personen nach dessen Rechtsvorschriften zuerkannt ist“. Somit regelt Art 47 EUV die Verleihung von Rechtspersönlichkeit an die Union – wovon auch deren völkerrechtliche Seite erfasst ist –, während Art 335 AEUV die innerstaatliche Reichweite der Rechtspersönlichkeit definiert. Die Rechtspersönlichkeit der Union umfasst drei Dimensionen: eine völker118 rechtliche, eine innerstaatliche sowie eine – allgemein vernachlässigte – unionsrechtliche Dimension. Unter allen diesen Dimensionen ist die unionsrechtliche allerdings die wichtigste. Was die völkerrechtliche Dimension der Rechtspersönlichkeit der Union an119 geht, besteht Konsens, dass diese – nicht anders als bei anderen Internationalen Organisationen475 – keine umfassende ist, sondern ihre Grenzen in den der Union zugewiesenen Zuständigkeiten (Art 5 I, II EUV) findet.476 Dies hat die Regierungskonferenz, die den Vertrag von Lissabon erarbeitete, in der „24. Erklärung zur Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union“477 noch einmal ausdrücklich betont. Während die völkerrechtliche Rechtsfähigkeit der Union im Verhältnis zu den EUMitgliedstaaten kraft Art 47 EUV feststeht, bedarf sie im Verhältnis zu Drittstaaten und anderen Internationalen Organisationen der Anerkennung, was jedoch in der völkerrechtlichen Praxis durchgängig erfolgt ist.478 Wichtigste Ausprägung der völkerrechtlichen Rechtsfähigkeit ist die Möglichkeit, völkerrechtliche Verträge zu schließen.479 Die völkerrechtliche Vertretung der Union ist zwar nicht einheitlich geregelt – Besonderheiten bestehen insb beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge und im Rahmen der GASP480 –, jedoch bestätigt Art 17 I 6 EUV die grundsätzliche Zuständigkeit der Kommission.481

_____ 473 Vgl Klabbers S 43. 474 Demgegenüber begründet B Fassbender AVR 2004, 26 (29), die Einheitlichkeit der Rechtspersönlichkeit der Union mit dem (angeblichen) „Rechtsmonismus“ der Unionsrechtsordnung. 475 Vgl Schermers/Blokker § 209. 476 Vgl Vitzthum/Proelß/Klein/Schmahl Abschn 4 Rn 189 ff. 477 ABl 2016 C 202/346. 478 Vgl Streinz/Kokott Art 47 EUV Rn 6, die der Union eine „quasi universelle Völkerrechtspersönlichkeit“ attestiert. 479 Vgl EuGH, Rs 22/70 – AETR, Rn 13/14. Näher hierzu Cremer § 22 (in diesem Band) Rn 55 ff. 480 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 47 EUV Rn 34–38. 481 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Martenczuk Art 17 EUV Rn 40–46. Matthias Niedobitek

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Art 335 AEUV regelt ausdrücklich die Rechtsfähigkeit der Union in den Rechts- 120 ordnungen der Mitgliedstaaten. Auch wenn in der deutschen Fassung von Art 335 AEUV neben der Rechtsfähigkeit zusätzlich die (zivilrechtliche482) Geschäftsfähigkeit erwähnt wird483 und auch die in Art 335 S 1 Halbs 2 AEUV erwähnten Beispiele die „Privatrechtsfähigkeit“ der Union betreffen, ist die Vorschrift hierauf nicht beschränkt.484 Vielmehr umfasst die Rechtsfähigkeit der Union auch ein Handeln im Rahmen und auf der Grundlage öffentlich-rechtlicher Bestimmungen des nationalen Rechts der Mitgliedstaaten, insb die Möglichkeit, als öffentlich-rechtlich zu qualifizierende Verträge zu schließen.485 Darüber hinaus hat der EuGH festgestellt, dass „Art. 335 AEUV, obwohl er seinem Wortlaut nach auf die Mitgliedstaaten beschränkt ist, Ausdruck eines allgemeinen Grundsatzes [ist], dass die Union Rechts- und Geschäftsfähigkeit besitzt und zu diesem Zweck von der Kommission vertreten wird“.486 Was die

Reichweite der Rechtsfähigkeit der Union im innerstaatlichen Bereich der Mitgliedstaaten angeht, wird in der Literatur zT die Auffassung vertreten, diese unterliege – anders als die völkerrechtliche Rechtsfähigkeit – nicht den Kompetenzgrenzen der Union.487 Einzuräumen ist zwar, dass Art 335 AEUV keine entsprechenden Hinweise enthält, jedoch gilt für Art 47 EUV nichts anderes.488 Wenn Art 335 AEUV davon spricht, die Union besitze in jedem Mitgliedstaat die „weitestgehende“ Rechts- und Geschäftsfähigkeit, die juristischen Personen nach dessen Rechtsvorschriften zuerkannt sei,489 so wird der Union dadurch keine über ihre Verbandskompetenz hinausreichende Rechtsfähigkeit zuerkannt;490 vielmehr betrifft dieser Passus nur die Ausgestaltung der Rechtsfähigkeit491 und hat insoweit lediglich instrumentellen Charakter. Die „Erklärung zur Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union“ bestätigt dies auch für die nationalrechtliche Dimension der Rechtspersönlichkeit. Die Vertretung der Union obliegt gem Art 335 S 2 AEUV grundsätzlich der Kommission, allerdings sind gem Art 335 S 3 AEUV die einzelnen Organe befugt, die Union zu ver-

_____ 482 Vgl §§ 104 ff BGB. 483 In den meisten anderen Sprachfassungen, außer wohl der dänischen, ist nur von Rechtsfähigkeit die Rede. 484 Das wird in der Literatur nicht immer hinreichend deutlich gemacht; vgl etwa Grabitz/Hilf/ Nettesheim/Dörr Art 47 EUV Rn 15; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Athen/Dörr Art 335 AEUV Rn 1; richtig dagegen in Rn 35. 485 Zutreffend insoweit Grabitz/Hilf/Nettesheim/Athen/Dörr Art 335 AEUV Rn 35. 486 EuGH, Rs C-73/14 – Rat / Kommission, Rn 58. 487 So etwa Streinz/Kokott Art 335 AEUV Rn 5; Calliess/Ruffert/Ruffert Art 335 AEUV Rn 2. 488 Anders noch ex-Art 6 II EGKSV. 489 Darauf beziehen sich Streinz/Kokott Art 335 AEUV Rn 5; Calliess/Ruffert/Ruffert Art 335 AEUV Rn 2. 490 Ebenso bereits HP Ipsen S 203 f. 491 Zutreffend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Athen/Dörr Art 335 AEUV Rn 29. Matthias Niedobitek

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treten,492 soweit es um deren „Funktionieren“ geht (in matters relating to their respective operation / pour les questions liées à leur fonctionnement respectif), dh in Selbstverwaltungsangelegenheiten.493 Dass die Rechtspersönlichkeit der Union neben einer völkerrechtlichen und ei121 ner nationalen/innerstaatlichen Dimension auch über eine unionsrechtliche Dimension verfügt,494 folgt aus der Anerkennung der Unionsrechtsordnung als autonome Rechtsordnung (vgl Rn 11, 12), wobei natürlich auch die unionsrechtliche Seite der Rechtspersönlichkeit der Union letztlich völkerrechtlichen Ursprungs ist. Die unionsrechtliche Seite ihrer Rechtspersönlichkeit betrifft die Union umfassend als Inhaberin der von den Mitgliedstaaten übertragenen Zuständigkeiten (vgl Art 4 I, 5 II 2 EUV) und als Trägerin der von ihren Organen erlassenen Rechtsakte, die neu erlassen wurden oder – was die früher erlassenen Rechtsakte der EG angeht495 – im Wege der Rechtsnachfolge auf die Union übergegangen sind.496 Die Rechtspersönlichkeit der Union, zumindest ihre Rechtsfähigkeit, und die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Union hängen zwingend miteinander zusammen, 497 sind gleichsam zwei Seiten derselben Medaille. Die unionsrechtliche Seite der Rechtspersönlichkeit der Union bildet somit ihren eigentlichen rechtlichen Kern, während die völkerrechtliche und die innerstaatliche Dimension der Rechtspersönlichkeit eher flankierenden Charakter haben. Die unionsrechtliche Vertretung der Union obliegt den Organen in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich (vgl Art 13 II EUV).

c) Rechtspersönlichkeit und Organ 122 Anders als eine natürliche Person ist die Union als Rechtsperson nicht ohne

weiteres rechtlich handlungsfähig. Hierzu benötigt sie „Organe“, die ihrerseits der Handlungen natürlicher Personen (der Organwalter498) bedürfen. Die Organe sind integraler Teil der selbst rechtsfähigen Organisation,499 dh sie selbst bilden und verwirklichen den „Willen“ der Organisation unmittelbar. Die Zurechnung einer Entscheidung zur juristischen Person wird maW „durch das Dazwischentreten eines Organs nicht unterbrochen“.500 Organhandeln wird der juristischen Person nicht als

_____ 492 Hierzu vgl EuGH, Rs C-137/10 – Région de Bruxelles-Capitale, Rn 16 ff; Rs C-199/11 – Otis ua, Rn 27 ff. 493 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Athen/Dörr Art 335 AEUV Rn 48 f. 494 In diese Richtung auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 1 EUV Rn 52. 495 Die im Rahmen der GASP und der ZBJI/PJZS erlassenen intergouvernementalen Rechtsakte gelten gem Art 9 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen weiter. 496 Vgl Eilmansberger/Griller/Obwexer/Obwexer S 88. 497 Vgl Niedobitek Recht der grenzüberschreitenden Verträge S 435. 498 Zum Begriff vgl HJ Wolff Vertretung, S 229, 235. 499 Vgl HJ Wolff Vertretung, S 297. 500 Schröder S 240. Matthias Niedobitek

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fremde Handlung zugerechnet, sondern es verwirklicht das eigene Verhalten der juristischen Person.501 Auch das Organ ist noch nicht rechtlich willens- und handlungsfähig, da es hierzu natürlicher Personen, sog Organwalter, bedarf. 502 Als Rechtsperson verfügt auch die Union über „Organe“ (vgl Art 13 EUV), auf die jedoch später noch genauer eingegangen wird. Soweit etwaige Klagen nicht gegen die Union, sondern gegen die Organe zu erheben sind – etwa im Rahmen einer Nichtigkeitsklage gem Art 263 AEUV, in Beamtensachen gem Art 270 AEUV503 oder bei Schadensersatzklagen gem Art 268, 340 AEUV504 –, handeln diese Organe nicht als selbständige Rechtsträger, sondern stets für die Union.505

d) Das Verhältnis der Union zu weiteren primärrechtlichen Rechtspersönlichkeiten Die EU-Verträge (EUV, AEUV) bilden nicht nur die Rechtsgrundlage für die Union 123 selbst, sondern auch für die EZB und die EIB, die beide ebenfalls über eine selbständige, von der Union geschiedene primärrechtliche Rechtspersönlichkeit verfügen (vgl Art 282 III 1, 308 I AEUV); dass die EZB in Art 13 II EUV gleichzeitig unter den „Organen“ der Union genannt wird, verursacht Deutungsprobleme, die später behandelt werden (Rn 188 ff). Aus der Zuerkennung separater Rechtspersönlichkeit an die EZB und die EIB darf jedoch nicht geschlossen werden, diese Institutionen stünden der Union gleichsam „auf Augenhöhe“ gegenüber.506 Die rechtliche Verselbständigung soll EZB und EIB die unabhängige Erledigung ihrer Aufgaben ermöglichen, ändert aber nichts daran, dass beide Einrichtungen der Verwirklichung der Politik der Union zu dienen haben507 und der Union somit – in einem „Integrationsverband“508 – zugeordnet sind. Die Rechtspersönlichkeit der Euratom beruht nicht auf den EU-Verträgen, sondern auf dem EAGV. Sie ist daher insoweit

_____ 501 Vgl HJ Wolff Vertretung, S 297. 502 Vgl HJ Wolff Vertretung, S 235. 503 Klagen sind, anders als der Wortlaut von Art 270 AEUV nahelegt, nicht gegen die Union selbst, sondern gegen die Anstellungsbehörde zu richten. Vgl nur Lenz/Borchardt/Borchardt Art 270 AEUV Rn 11. 504 Hierzu vgl Streinz/Gellermann Art 340 AEUV Rn 10. 505 Zutreffend Streinz/Gellermann Art 340 AEUV Rn 10. 506 Mit dieser Tendenz jedoch Streinz/Ohler Art 308 AEUV Rn 5 ff. 507 Vgl EuGH, Rs C-11/00 – Kommission / EZB, Rn 135; Rs C-15/00 – Kommission / EIB, Rn 102; vgl ferner den entsprechenden Hinweis des EuGH in Rs 110/75 (Zwischenurteil) – Mills / EIB, Rn 7/10. Seinerzeit war die EIB tatsächlich im Teil „Die Politik der Gemeinschaft“ des EWGV angesiedelt. Der Maastrichter Unionsvertrag änderte dies und verankerte die EIB in den institutionellen Bestimmungen (heute Art 308 AEUV). Auch die (institutionellen) Bestimmungen über die EZB wurden durch den Vertrag von Lissabon in die institutionellen Bestimmungen des AEUV verlagert. 508 So die treffende Charakterisierung von Grabitz/Hilf/Nettesheim/Athen/Dörr Art 335 AEUV Rn 13. Matthias Niedobitek

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rechtlich weniger eng mit der Union verbunden als EZB und EIB. Allerdings ist die Rechtspersönlichkeit der Euratom infolge ihrer engen, praktisch unlösbaren rechtlich-institutionellen Verbindung mit der Union nur noch gleichsam „virtueller“ Natur ist (hierzu näher Rn 51–54).

2. Merkmale der Unionsrechtsordnung a) Der supranationale Charakter der Unionsrechtsordnung 124 Zu den charakteristischen Merkmalen der Unionsrechtsordnung zählt in erster Linie ihr supranationaler Charakter. Supranationalität ist kein fest definierter unionsrechtlicher Begriff. In den Verträgen findet er als solcher keine Verwendung.509 Der EuGH meidet den Begriff sorgsam, selbst wenn ein Vorabentscheidungsersuchen dafür Anlass geben könnte,510 das Bundesverfassungsgericht zögert allerdings nicht, die Union als supranationale Organisation zu kennzeichnen.511 Ungeachtet der Unschärfe des Begriffs, die sich noch steigert, wenn der Begriff der Supranationalität mit dem Verfassungsbegriff vermengt wird,512 lässt sich indes ein rechtlicher Kerngehalt feststellen, ohne den heute – anders noch zur Gründungszeit der Europäischen Gemeinschaften513 – die Rechtsordnung einer Internationaler Organisation nicht als supranational gekennzeichnet werden könnte: (1) ihre unmittelbare Geltung innerhalb der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und (2) ihr Vorrang vor nationalem Recht.514 Dementsprechend hat der EuGH in seinem Gutachten 1/91 festgestellt, die wesentlichen Merkmale der Rechtsordnung der Gemeinschaft seien „ihr Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten und die unmittelbare Wirkung zahlreicher für ihre Staatsangehörigen und für sie selbst geltender Bestimmungen“.515 Erst jüngst hat der EuGH dies bestätigt: Das Unionsrecht sei „dadurch gekennzeichnet, dass es einer autonomen Quelle, den Verträgen, entspringt und Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten hat, sowie durch die unmittelbare Wirkung einer ganzen Reihe für ihre Staatsangehörigen und für sie selbst geltender Bestimmungen“. Sol-

_____ 509 Allerdings erwähnte Art 9 des ursprünglichen EGKSV den übernationalen Charakter („charactère supranational“) der Kommission. 510 Vgl etwa EuGH, Rs C-62/11 – Feyerbacher, Rn 26. 511 Vgl nur BVerfG, 2 BvR 987/10, BVerfGE 129, 124 (168) – Griechenland-Hilfe; ferner bspw 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (LS 2, 5, 7 uam) – Maastricht. 512 So etwa von HP Ipsen S 67; Hertel Supranationalität als Verfassungsprinzip. 513 Seinerzeit – noch vor der EuGH-Rechtsprechung zu unmittelbarer Geltung und Vorrang – wurde hauptsächlich darauf abgestellt, inwieweit die Organe der Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten selbständig waren und einen eigenen Willen bilden konnten. Vgl hierzu va Jaenicke ZaöRV 19 (1958), 153 ff. 514 In diesem Sinn bereits HP Ipsen S 67 ff; zum Anwendungsvorrang aus neuerer Zeit umfassend Kruis passim. 515 EuGH, Gutachten 1/91 – EWR I, Rn 21. Matthias Niedobitek

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che Merkmale hätten „zu einem strukturierten Netz miteinander verflochtener Grundätze, Regeln und Rechtsbeziehungen geführt, das die Union selbst und ihre Mitgliedstaaten wechselseitig sowie die Mitgliedstaaten untereinander bindet“.516 Dabei setzt die Möglichkeit eines effektiven Vorrangs unionsrechtlicher Bestimmungen vor Bestimmungen des nationalen Rechts („Anwendungsvorrang“)517 ihre innerstaatliche Geltung als Unionsrecht voraus. Beide Aspekte von Supranationalität hängen somit zwingend zusammen,518 die unmittelbare Geltung ist aber der wichtigere von beiden. Nicht von ungefähr519 hat der EuGH die unmittelbare Geltung des Gemeinschafts-/Unionsrechts als erstes entwickelt.520 Die Rechtssubjektivität des Individuums ist sicher ein prägnantes Merkmal von Supranationalität, aber, wie das Gutachten 1/91 auch andeutet, betrifft die innerstaatliche Geltung des Unionsrechts auch die Mitgliedstaaten selbst, dh alle innerstaatlichen Behörden und öffentlichen Körperschaften.521 Auf der Ebene der Mitgliedstaaten findet die Supranationalität der Union ihren 125 Ausgangspunkt und ihre verfassungsrechtliche Entsprechung in der Möglichkeit (wie in Art 23, 24 GG vorgesehen), Hoheitsrechte auf die Union (bzw auf zwischenstaatliche Einrichtungen) zu übertragen. Die Übertragung von Hoheitsrechten setzt mithin die Errichtung einer zur Ausübung von Hoheitsrechten befähigten Organisation voraus bzw hat dies zur Folge. Beide Vorgänge sind zwei Seiten derselben Medaille. Als zur Ausübung von Hoheitsrechten befähigte Internationale Organisation ist die Union zwar nicht einzigartig,522 allerdings wird die Union aufgrund der Fülle ihrer Hoheitsrechte und der Intensität ihrer Rechtsetzung als „präzedenzlos“ betrachtet.523 In diesem Sinne wird Supranationalität nicht nur mit den erwähnten rechtlichen Kernattributen (Rn 124) beschrieben, sondern darüber hinaus durch zahlreiche weitere Merkmale, bspw durch die Breite ihres Aufgabenbereichs, das Mehrheitsprinzip, die institutionelle Selbständigkeit von Organen, ihre finanzielle Selbständigkeit oder die Existenz einer autonomen Gerichtsbarkeit.524 Die Hinzufügung dieser Attribute kennzeichnet zwar die Union als besonders stark integrierte Organisation, beschränkt den Kreis supranationaler Organisationen unter den heutigen Internationalen Organisationen525 letztlich aber auch auf die Union. Zudem

_____ 516 EuGH, Rs C-621/18 – Wightman, Rn 45. 517 Zu weiteren Aspekten des Vorrangprinzips vgl Niedobitek/Zemánek/Niedobitek S 94 ff. 518 Vgl hierzu Weiler YEL 1 (1981), 267 (276). 519 Vgl Weiler YEL 1 (1981), 267 (274). 520 EuGH, Rs 26/62 – Van Gend & Loos, Slg 1963, 25. 521 Vgl etwa – am Beispiel der Direktwirkung von Richtlinien – EuGH, Rs 103/88 – Fratelli Costanzo, Rn 28 ff; deutlich bereits EuGH, Rs 106/77 – Simmenthal, Rn 14/16. 522 Vgl nur die Beispiele bei Sachs/Streinz Art 24 GG Rn 30. 523 Vitzthum/Proelß/Klein/Schmahl 4. Abschn § 250. 524 Seidl-Hohenveldern/Loibl Rn 0113. 525 Historische Beispiele bei Schermers/Blokker § 31. Matthias Niedobitek

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verwässern die genannten zusätzlichen Kriterien den rechtlichen Kern von Supranationalität, da sie kaum einen genauen Maßstab liefern und zudem auch nicht stets rechtlicher Natur sind. Als supranational sind daher Internationale Organisationen zu bezeichnen, wenn ihre Rechtsordnung über die genannten rechtlichen Kernattribute (unmittelbare Geltung, Vorrang) verfügt,526 wenn ihnen maW Hoheitsrechte übertragen wurden.527 Die rechtliche Qualität der Unionsrechtsordnung ist von einheitlicher Natur. 126 Sie kann nicht in einen (im AEUV enthaltenen) supranationalen und einen (im EUV enthaltenen) intergouvernementalen Teil aufgespalten werden. Die hauptsächlich528 im EUV geregelte GASP wird jedoch verbreitet529 nach wie vor als intergouvernemental eingeordnet.530 Dafür werden verschiedene Gründe vorgebracht, die letztlich alle darauf hinauslaufen, dass die GASP, was insb Instrumente, Verfahren und Akteure angeht, durch den Vertrag von Lissabon praktisch nicht geändert wurde und letztlich weiterhin von den Mitgliedstaaten dominiert wird.531 Das ist unbestritten, allerdings hat der Vertrag von Lissabon die GASP zu einem Politikfeld der neuen Union gemacht und sie damit dem unmittelbaren Zugriff der Mitgliedstaaten, wie er nach hM vor Lissabon noch bestand, entzogen.532 Darüber hinaus beziehen sich alle für eine fortbestehende Intergouvernementalität der GASP vorgebrachten Argumente nicht auf eine mögliche Rechtswirkung des sekundären GASP-Rechts, sondern auf eine weniger rechts-, als politikwissenschaftliche Deutung des Einflusses der Mitgliedstaaten. Die Vermischung rechts- und politikwissenschaftlicher Kriterien, dh die Einbeziehung politikwissenschaftlicher Ansätze in den rechtswissenschaftlichen Diskurs,533 erweist sich hier als besonders problematisch. Dabei wird vielfach mit nicht bewiesenen Behauptungen operiert, wonach etwa die rechtlichen Strukturelemente der GASP völkerrechtlicher, nicht unionsrechtlicher Natur seien und das sekundäre GASP-Recht nicht über unmittelbare Anwendbarkeit (als Voraussetzung des Anwendungsvorrangs) verfüge. Eine Sichtung des sekundären GASP-Rechts zeigt allerdings, dass es durchaus Rechtsakte (Beschlüsse) gibt, die unmittelbar das Individuum betreffen (dh ihm Verbote auferlegen) und von den Mitgliedstaaten

_____ 526 Ebenso etwa Oppermann/Classen/Nettesheim § 9 Rn 12; Vitzthum/Proelß/Klein/Schmahl 4. Abschn Rn 14. 527 So auch Lorz/Sauer DÖV 2012, 573 (574). 528 Vgl jedoch Art 2 IV AEUV. 529 Keinesfalls „einhellig“, wie Pechstein JZ 2010, 425 (427), meint. 530 So bspw Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 58 ff; Streinz/Ohler/Herrmann S 141 f; Grabitz/Hilf/ Nettesheim/Kaufmann-Bühler Art 23 EUV Rn 33; wohl auch Calliess/Ruffert/Cremer Art 24 AEUV Rn 8 ff; ebenso BVerfG, 2 BvE 2, 5/08, BVerfGE 123, 267 (425 f) – Vertrag von Lissabon. 531 Zusammenfassend zu den besonderen Merkmalen der GASP Schwarze/Terhechte Art 24 EUV Rn 9. 532 Deutlich betont von Pechstein JZ 2010, 425 (426 ff); so wohl auch Kruis S 89 ff. 533 Zur politikwissenschaftlichen Deutung von Supranationalität s Weiler YEL 1 (1981), 267 (272). Matthias Niedobitek

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nicht, wie dies der intergouvernementalen Sichtweise entsprechen würde, umzusetzen (möglicherweise aber durchzuführen) sind.534 Anders wäre auch Art 275 II AEUV nicht zu erklären, wonach der EuGH für Nichtigkeitsklagen betr restriktive Maßnahmen gegenüber natürlichen oder juristischen Personen zuständig ist, die der Rat auf der Grundlage von Titel V Kap 2 EUV erlassen hat. Hierdurch werden die statthaften Klagegegenstände einer Nichtigkeitsklage auf GASP-Sekundärrechtsakte erstreckt.535 Im Vordringen befindet sich die – auch hier vertretene – Auffassung, dass die 127 GASP unbeschadet ihrer Sonderrolle, die sie unter den Politikfeldern der Union spielt, Anteil am supranationalen Charakter des Unionsrechts hat.536 Bereits der Verfassungsvertrag enthielt mit Art I-6 eine Bestimmung, wonach das Unionsrecht Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten hat. Eine Unterscheidung unterschiedlicher Qualität des Unionsrechts war hier nicht vorgesehen. Dass der Vertrag von Lissabon nur aus Gründen der Akzeptanz – es ging allein um die Bereinigung des Verfassungsvertrags um Elemente, die „Verfassungscharakter“ haben könnten537 – auf eine ausdrückliche Formulierung einer solchen Vorrang-Bestimmung verzichtete, wird durch die der Schlussakte beigefügte „Erklärung zum Vorrang“ bestätigt. Danach haben „die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten“. Dass GASP-Beschlüsse durchaus unmittelbarer Geltung und Anwendung fähig sind, wurde bereits gezeigt (Rn 126). Die These von der Einheitlichkeit der Rechtsnatur des Unionsrechts darf nicht 128 dahin missverstanden werden, dass alle Rechtsakte der Union dieselbe Wirkung hätten.538 Jedoch eint sie die unmittelbare innerstaatliche Geltung und die Eignung zu unmittelbarer, vorrangiger Anwendung, die sich abhängig von der konkreten Form des Rechtsakts und seines Inhalts verwirklicht. Der Rechtsbegriff der Supranationalität bezieht sich allein auf die Charakterisie- 129 rung der Unionsrechtsordnung an sich. Wenn in der Literatur auch die Organe der

_____ 534 Vgl bspw den Beschluss 2013/255/GASP über restriktive Maßnahmen gegen Syrien, ABl 2013 L 147/14. Zur Bindungswirkung von GASP-Beschlüssen vgl Calliess Lissabon S 391 f. 535 Vgl EuGH, Rs C-72/15 – Rosneft, Rn 58 ff, in der der EuGH den GASP-Beschluss 2014/512 überprüft und zugleich erklärt, er könne dies auch im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens gem Art 267 AEUV tun, sofern es um die Einhaltung von Art 40 EUV gehe. 536 Vgl bspw Schroeder EuR 2012, Beiheft 2, 18; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 40 EUV Rn 21 ff; Oppermann/Classen/Nettesheim § 9 Rn 138–140 (wenn auch mit Einschränkungen); allgemein zum Unionsrecht vgl Eilmansberger/Griller/Obwexer/Obwexer S 89 f; hierzu näher Weiß § 5 (in diesem Band) Rn 135 ff. 537 Vgl das Mandat für die Regierungskonferenz, Rats-Dok 11177/1/07 REV 1, Anlage I, Ziff 3. 538 Zu den Rechtsakten der Union umfassend Magiera § 7 (in diesem Band) Rn 14 ff; Becker/ Lippert/Niedobitek Rechtsakte Abschn 2. Matthias Niedobitek

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Union als mehr oder weniger supranational bzw intergouvernemental eingeordnet werden,539 stehen dahinter letztlich wieder politikwissenschaftliche Kriterien, die maßgeblich auf den (verbliebenen) Einfluss der Mitgliedstaaten abstellen. Demgegenüber ist festzustellen, dass alle Organe der Union, unabhängig davon, wie sie zusammengesetzt sind und welchen unionsrechtlichen Pflichten und Beschlussfassungsverfahren sie unterliegen, kraft ihrer Befähigung, an der Schaffung supranationalen Unionsrechts mitzuwirken, supranationale Organe sind; der Rat bspw ist selbst dann ein supranationales Organ, wenn er dem Einstimmigkeitsprinzip unterliegt. Im Kontext der „Supranationalität“ des Unionsrechts taucht häufig der Begriff 130 der Gemeinschaftsmethode auf.540 Das Konzept der Gemeinschaftsmethode (oder Integrationsmethode541) ist alles andere als klar umrissen und in seiner disziplinären Zuordnung vage, der Begriff selbst ist jedoch schon alt.542 Die Kommission hat im Zuge der Debatte um die „Zukunft Europas“, die um die Jahrtausendwende begann, versucht, die Deutungshoheit über diesen Begriff zu erringen.543 In ihrem Weißbuch „Europäisches Regieren“ vom Juli 2001544 erläuterte sie ihr Verständnis der Gemeinschaftsmethode, die „der Europäischen Union nun seit fast einem halben Jahrhundert gute Dienste geleistet“ habe.545 Wenig später konkretisierte die Kommission ihre Vorstellungen in einer Mitteilung betreffend die „Erneuerung der Gemeinschaftsme-

_____ 539 Vgl nur Weiler YEL 1 (1981), 267 (271), der va das Parlament und den Gerichtshof als „supranational institutions“ bezeichnet. Gleichsam umgekehrt kennzeichnen Schermers/Blokker § 162 das Parlament und die Kommission als „non-governmental organs“. Zur intergouvernementalen Deutung des Europäischen Rates vgl etwa Streinz Rn 133; zur intergouvernementalen Deutung des Rates vgl etwa Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ziegenhorn Art 16 EUV Rn 4. Zur Zeit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften wurde die „Überstaatlichkeit“ der Gemeinschaften – noch vor der EuGHRechtsprechung zu unmittelbarer Geltung und Vorrang – insb mit der Unabhängigkeit der Organe von den Mitgliedstaaten begründet. Insoweit wurden supranationale und internationale Organe unterschieden, wobei va die Kommission als „überstaatlich“ eingestuft wurde. Hierzu vgl Jaenicke ZaöRV 19 (1958), 153 ff. 540 So spricht Thym S 103 von der „supranationalen Gemeinschaftsmethode“. Hierzu vgl auch GA Trstenjak, Rs C-137/05 – Vereinigtes Königreich / Rat, Nr 85. Näher Hölscheidt EuR 2013 Beiheft 2, 61 (66 f). 541 Vgl Thym S 103, 105. In diesem Sinn bereits H Berg Integration – Berichte zur Europaforschung 1971, 202 (218), wonach sich die Gemeinschaftsmethode dadurch auszeichnet, dass sie „die für das Fortschreiten des Integrationsprozesses erforderlichen Entscheidungen genügend rasch und in erforderlicher Zahl hervorzubringen imstande ist“. 542 Schon 1971 behandelt H Berg Integration – Berichte zur Europaforschung 1971, 202 (203), das „gemeinhin als ‚Gemeinschaftsmethode‘ bezeichnete Zusammenwirken von Kommission und Rat“. 543 Zu weit geht es, wenn Y Becker et al/Bast S 52, feststellt, die Kommission könne „[d]ie Autorenschaft für diesen Begriff in seiner heutigen Bedeutung […] beanspruchen“. 544 ABl 2001 C 287/1. 545 ABl 2001 C 287/29. Hierzu kritisch Y Becker et al/Bast S 52 ff. Matthias Niedobitek

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thode“.546 Im Weißbuch taucht der Begriff der Supranationalität (bzw Überstaatlichkeit) nicht auf, in der genannten Mitteilung nur andeutungshaft an einer Stelle.547 Auch die „Definition“ der Gemeinschaftsmethode in dem erwähnten Weißbuch („Was ist die Gemeinschaftsmethode“548) bleibt insoweit zurückhaltend. Es scheint, dass der Vorstoß der Kommission va darauf abzielte, ihre eigene Rolle im institutionellen System der Gemeinschaften/Union, die auch im Zuge der seinerzeit bevorstehenden Verfassungsdiskussion auf den Prüfstand kommen konnte, zu schützen.549 Dementsprechend definiert die Kommission die Gemeinschaftsmethode als einen Ausgleich zwischen dem von ihr selbst zu wahrenden Allgemeininteresse der Union und der Souveränität der Mitgliedstaaten.550 Gleichwohl ist klar, dass die Supranationalität der Unionsrechtsordnung, wenn auch unausgesprochen, eine wesentliche Grundlage der Gemeinschaftsmethode bildet,551 ergänzt durch weitere Merkmale wie eine starke Kommission, die Betonung des Unionsinteresses552 und das Mehrheitsprinzip. Während alle Merkmale der Gemeinschaftsmethode eine rechtliche Basis haben, erscheint ihre zusammenfassende Kennzeichnung als Gemeinschaftsmethode politikwissenschaftlich geprägt.553 Mit dem Begriff der Gemeinschaftsmethode korrespondiert der Begriff der „Vergemeinschaftung“ („Communitarization“554), der die Unterwerfung vormals intergouvernementaler Bereiche des Unionsrechts unter die Gemeinschaftsmethode, letztlich deren „Supranationalisierung“, bezeichnet. Als Alternative zur Gemeinschaftsmethode555 wurde im Zuge der Wirtschafts- 131 und Finanzkrise seitens der Politik, von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sog „Unionsmethode“ in die Diskussion eingebracht,556 dies – obwohl

_____ 546 KOM(2001) 727. 547 KOM(2001) 727, S 3. In der englischen und der französischen Fassung der Mitteilung findet das Wort „supranational“ Verwendung. 548 ABl 2001 C 287/6. 549 Dementsprechend wollte bereits H Berg Integration – Berichte zur Europaforschung 1971, 202 (209) den Begriff des „Gemeinschaftsinteresses“ durch die Vorstellung ersetzen, dass die Kommission „primär danach strebt, ihre Befugnisse zu erweitern, ihre Autorität zu vergrößern“. 550 In diesem Sinne bereits H Berg Integration – Berichte zur Europaforschung 1971, 202 (204). 551 Vgl nur Calliess/Ruffert/Calliess Art 1 EUV Rn 13. 552 Kritisch zum Gemeinschaftsinteresse bereits H Berg Integration – Berichte zur Europaforschung 1971, 202 (208 ff). 553 Zur politikwissenschaftlichen Deutung vgl H Berg Integration – Berichte zur Europaforschung 1971, 202 ff. 554 Zu diesem Begriff vgl etwa Fernández Journal of European Integration 30 (2008) 5, 617 ff. 555 Anders Grabitz/Hilf/Nettesheim/Kumin Art 15 EUV Rn 69, der von der „klassischen supranationalen ‚Unionsmethode‘“ spricht. 556 Vgl die Rede der deutschen Bundeskanzlerin zur Eröffnung des 61. akademischen Jahres des Europakollegs Brügge am 2. November 2010, im Internet zugänglich auf der Website der Bundeskanzlerin, https://m.bundeskanzlerin.de/. Matthias Niedobitek

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die „Unionsmethode“ als „eine Mischung aus Gemeinschaftsmethode und koordinierendem Handeln der Mitgliedstaaten“ bezeichnet wird – erkennbar mit dem Ziel, neben der Gemeinschaftsmethode ein Handeln der Mitgliedstaaten als solcher zu legitimieren,557 Unter rechtlichem Gesichtspunkt ist das solange unbedenklich, wie das Unionsrecht dadurch nicht verletzt wird. Die Unionsmethode ist – was paradox klingen mag – nicht Bestandteil des Unionsrechts, sondern sie bewegt im völkerrechtlichen Bereich. Zu Recht weist Kanzlerin Merkel darauf hin, dass die Gemeinschaftsmethode nur dort Anwendung finden könne, wo die Union Kompetenzen hat. In der Rechtssache Pringle hat der EuGH ein außervertragliches Handeln bei der Schaffung des ESM der Mitgliedstaaten nicht moniert.558 Gleichwohl erscheint die „Erfindung“ einer Unionsmethode als ein euphemistisch verbrämter frontaler Angriff auf die Gemeinschaftsmethode,559 indem sie eine „ideologische Grundlage für eine Verschiebung der Entscheidungsstrukturen und Machtzentren in der europäischen Einigung“ einführt.560

b) Der „Verfassungscharakter“ der Unionsrechtsordnung 132 Soweit es um das primäre Unionsrecht, wenigstens um seine wesentlichen Bestand-

teile, geht, wird diesem „Verfassungscharakter“ entweder attestiert oder abgesprochen. Seit Jahrzehnten – genau genommen seit der Begründung des Integrationsprozesses nach dem 2. Weltkrieg561 – dauert die Diskussion an, immer wieder in Gang gehalten durch neue „Verfassungsprojekte“,562 die das Thema auf der Tagesordnung halten, zuletzt durch den Verfassungsvertrag und durch anschließende Initiativen im Gefolge der Wirtschafts- und Finanzkrise.563 Befeuert wurde und wird

_____ 557 Hölscheidt EuR 2013 Beiheft 2, 61 (67 f). 558 EuGH, Rs C-370/12 – Pringle, Rn 184. 559 Vgl insoweit auch Nettesheim EuR 2013 Beiheft 2, 7, der die Gemeinschaftsmethode einer „Zerfaserung“ der Union, wie sie insb in der Euro-Krise sichtbar geworden sei, entgegenstellt. 560 Zu Recht kritisch M Sarrazin/Kindler integration 2012, 213 ff. Positiv hingegen die Würdigung von WTE/JHR (Mitherausgeber des European Constitutional Law Review) in ihrem Editorial, EuConst 11 (2015) 3, 425 ff. 561 Vgl bereits Ophüls NJW 1951, 289 ff, der den Verfassungs- und den Bundesstaatsbegriff wie selbstverständlich auf die EGKS angewandt hat. Vgl insoweit auch die Erläuterungen in dem Gesetzentwurf zum EWG- und zum EAG-Vertrag, BT-Drs 3440 (2. WP), S 108. Dass dies allerdings va die deutsche Position in den Vertragsverhandlungen gewesen war, betont Hummer/Obwexer/ Hummer Vertrag von Lissabon S 43. 562 Etwa durch den „Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union“ des Europäischen Parlaments, ABl 1984 C 77/33: den „Entwurf einer Verfassung der Europäischen Union“ des institutionellen Ausschusses des Europäischen Parlaments, ABl 1994 C 61/155. 563 Vgl etwa den Abschlussbericht der vom deutschen Außenminister einberufenen „Zukunftsgruppe“ v 17. September 2012 (http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Europa/zukunft.pdf); die „Erklärung von Mallorca“ v 19. Juli 2013, zugänglich auf der Website des Auswärtigen Amtes. Matthias Niedobitek

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die Diskussion durch den EuGH, der in seinen Urteilen und Gutachten der Unionsrechtsordnung Verfassungscharakter attestiert hat.564 Als Schnittgebiet zwischen Recht und Politik zieht die Verfassungsdebatte Juristen wie Politikwissenschaftler565 gleichermaßen an und wird interdisziplinär geführt, was der begrifflichen Klarheit nicht immer dienlich ist. Va ist es zuweilen nicht leicht, die spezifisch juristische Substanz der jeweiligen Argumentation zu erkennen.566 Dabei geht es im Kern um den Verfassungsbegriff, die Verfassungsfähigkeit der Union und den aktuellen Verfassungscharakter der Unionsrechtsordnung.567 Das Problem der Verfassungsdebatte ist der schillernde Verfassungsbegriff 133 selbst und die damit verbundenen, selten offen gelegten Konnotationen. Bei aller gebotenen Differenzierung im Einzelnen lassen sich zunächst ein deskriptiver und ein normativer Verfassungsbegriff unterscheiden.568 Dass die Union in einem deskriptiv-technischen Sinn über eine Verfassung verfügt – und immer verfügt hat –, wurde bereits oben (Rn 11) dargelegt. Darüber besteht auch kein Streit. Ob allerdings die Union auch in einem normativen Sinn über eine Verfassung verfügt bzw verfügen kann, ist umstritten. Während einerseits gesagt wird, nur ein Staat könne über eine Verfassung in diesem Sinn verfügen569 – wobei als unstreitig angenommen wird, dass die Union kein (Bundes-)Staat ist570 –, propagieren andere den „postnationalen“ Verfassungsbegriff, der sich vom Staat gelöst habe.571 Da beim „postnationalen“ Verfassungsbegriff Kriterien formeller Staatlichkeit keine Rolle mehr spielen, werden materielle Verfassungsfunktionen und Verfassungselemente identifiziert und auf die Union übertragen bzw bei dieser wiedergefunden.572 Tatsächlich ist nicht zu bestreiten, dass die EU-Verträge „die wesentlichen 134 Funktionen [erfüllen], die einer Verfassung zukommen: Sie konstituieren, legitimieren, organisieren und begrenzen öffentliche Gewalt im Verhältnis der Organe

_____ 564 In diesem Zusammenhang betont der EuGH stets den Rechtscharakter der Unionsrechtsordnung; vgl insb EuGH, Rs C-584/10 P – Kommission / Kadi, Rn 22, 66; EuGH, Gutachten 1/91 – EWR I, Rn 21; Rs 294/83 – Les Verts, Rn 23. 565 Überblick über die bis dahin geführte Debatte aus Sicht der Politikwissenschaft bei Asbach Leviathan 30 (2002), 267–297. 566 Vgl insoweit va Pernice VVDStRL 60 (2001), 148 ff. 567 Eine bündige Zusammenfassung der Diskussion aus rechtlicher Sicht liefert Thym S 323– 340. 568 Vgl Hertel S 29 ff, 43. 569 So bspw Grimm JZ 1995, 581 ff. Seitdem ist die seinerzeit noch schwache Position des Europäischen Parlaments, auf die sich Grimm ua bezieht (S 587), deutlich gestärkt worden. Vgl ferner Pernice VVDStRL 60 (2001), 148 (149); Huber VVDStRL 60 (2001), 194 (197), jew mwN. 570 Grimm JZ 1995, 581 (584 f). 571 S va Pernice VVDStRL 60 (2001), 148 (155 ff); Thym S 329 ff. 572 Vgl etwa vBogdandy/Bast/Haltern S 293; zusammenfassend – kritisch – vBogdandy/Bast/ Möllers S 240 ff. Matthias Niedobitek

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zueinander und auch unmittelbar gegenüber dem einzelnen“.573 Auch an typischen Verfassungselementen mangelt es nicht, angefangen bei der Werte-Bestimmung des Art 2 EUV über die Charta der Grundrechte, die demokratischen Grundsätze (Art 9 ff EUV), die Normierung einer Unionsbürgerschaft (Art 20 ff AEUV) bis hin zu detaillierten Regelungen der Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten und der Organisation der Union als Rechtspersönlichkeit. Zu Recht ist jedoch darauf hingewiesen worden, dass ein Gegenstand einerseits und seine Funktionen bzw Elemente andererseits nicht dasselbe sind.574 Ebenso wenig wie eine „echte“ Verfassung stets und zwingend alle Verfassungsfunktionen erfüllen bzw -elemente enthalten muss,575 kann umgekehrt von der Erfüllung einzelner oder gar aller Verfassungsfunktionen durch die EU-Verträge darauf geschlossen werden, sie seien eine Verfassung. Da hilft es auch nicht, auf die wechselseitige Abhängigkeit und Beeinflussung der Unionsrechtsordnung und der nationalen Verfassungen abzustellen und diese – gefährlich nahe einem begriffsjurisprudentiellen Ansatz – zusammen genommen als „Europäischen Verfassungsverbund“ zu bezeichnen.576 Dadurch wird mehr verschleiert als geklärt. Über ein wesentliches Verfassungsmerkmal verfügen die EU-Verträge allerdings 135 nicht: Da die Unionsrechtsordnung und die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten getrennte Rechtsordnungen sind,577 hat das Unionsrecht keinen normhierarchischen Höchstrang,578 sondern lediglich einen wirkungsorientierten Vorrang vor nationalem Recht. Aus diesem Grund lassen sich auch die EU-Verträge nicht mit dem Begriff des Mehrebenenverfassungssystems erfassen, welcher eine hierarchische Stufung impliziert.579 Nicht zu übersehen ist zudem, dass auch ein materieller, an Funktionen und 136 Elementen ausgerichteter Verfassungsbegriff letztlich nicht ohne das Vorbild des traditionellen staatlichen Verfassungsbegriffs auskommt, auf den er sich stützt und aus dem er seine Maßstäbe gewinnt. Daher hat die Verwendung des Verfassungsbegriffs im Zusammenhang mit dem Unionsrecht immer – ausgesprochen

_____ 573 Pernice VVDStRL 60 (2001), 148 (163 f). Für einen Überblick über die Verfassungsfunktionen vgl Huber VVDStRL 60 (2001), 194 (199 ff). 574 vBogdandy/Bast/Möllers S 245. 575 Als – im Landesverfassungsrecht singuläres – Beispiel für ein praktisch reines Organisationsstatut vgl die Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg. 576 So insb Pernice VVDStRL 60 (2001), 148 (163 ff). 577 Zu Unrecht in Zweifel gezogen von Huber VVDStRL 60 (2001), 194 (211 f). 578 Zutreffend Pernice VVDStRL 60 (2001), 148 (185); Thym S 333–335. 579 Insoweit widersprüchlich Pernice VVDStRL 60 (2001), 148 (185), der einerseits (zu Recht) ein normhierarchisches Verhältnis zwischen Unionsrecht und nationalem Recht ablehnt, gleichwohl aber am Mehrebenenbegriff festhält (ebd, S 173, 185). Zur Verwendung des Mehrebenenbildes vgl allg Härtel/Härtel Hdb Föderalismus Bd IV S 79. Matthias Niedobitek

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oder nicht – eine Tendenz zur Staatlichkeit.580 Nicht von ungefähr war der Verfassungsvertrag mit staatsähnlicher Terminologie aufgeladen (zB „Außenminister“, „Gesetz“, „Europäische Staatsanwaltschaft“, Symbole wie Flagge und Hymne), die später für sein Scheitern mitverantwortlich gemacht wurde (vgl Rn 36) und die für die Zwecke des Lissabonner Reformvertrags wieder (wenn auch unvollständig) entfernt wurde.581 Das Schicksal des Verfassungsvertrags zeigt zugleich, wie gefährlich es ist, mit 137 der Verfassungsrhetorik zu hantieren, ohne damit konkrete rechtliche Konsequenzen zu verbinden. Genau dies ist jedoch der Fall: Die Kennzeichnung des primären Unionsrechts als Recht verfassungsrechtlicher Natur, als Teil eines Europäischen Verfassungsverbunds, bleibt rechtlich ohne Belang. Im jeweiligen Kontext könnte ohne jede rechtliche Einbuße auf diese Kennzeichnung verzichtet werden. Auch der EuGH verwendet den Verfassungsbegriff nicht zur Herleitung selbständiger rechtlicher Konsequenzen, sondern allenfalls zur Abstützung seiner Argumentation.582 Ungeachtet einiger aufgezeigter Bedenken hinsichtlich der Verfassungsdebatte 138 ist der „Verfassungscharakter“ des Unionsrechts nicht zu bestreiten, wenn man, wie gezeigt, dafür ausreichen lässt, dass das primäre Unionsrecht Verfassungsfunktionen erfüllt und „Verfassungselemente“ enthält. Insofern ist es auch nicht überraschend, dass der Verfassungsbegriff von vielen „bei der Bezeichnung des EUPrimärrechts inzwischen routinemäßig verwandt“583 und nicht hinterfragt wird. Allerdings vermag der „Verfassungscharakter“ des Unionsrechts nicht mehr, als eben dies zusammenzufassend zu kennzeichnen: dass die EU-Verträge Verfassungsfunktionen erfüllen und Verfassungselemente enthalten. Jede darüber hinausgehende Tendenz ist rechtlich nicht begründbar und dem Bereich der „Verfassungspolitik“ (oder Verfassungsphantasie) zuzuordnen. Das primäre Unionsrecht hat somit „Verfassungscharakter“, eine „Verfassung der Union“ stellt es nicht dar.

c) Geltungsdimensionen der Unionsrechtsordnung aa) Allgemeines Die Unionsrechtsordnung weist unter dem Gesichtspunkt ihrer Geltung vier Di- 139 mensionen auf: ihre Geltung (a) in persönlicher Hinsicht („ratione personae“), (b) in räumlicher Hinsicht („ratione territorii“), (c) in sachlicher Hinsicht („ratione ma-

_____ 580 Dies hat Hummer/Obwexer/Hummer Vertrag von Lissabon S 40 ff mit der nötigen Klarheit dargelegt. 581 Vgl Somek GLJ 8 (2007) 12, 1121 (1125): “A Treaty stripped of ornamentation”. 582 Zur Funktion des Verfassungstopos in der EuGH-Rechtsprechung s Hertel S 72 f; ferner Hummer/Obwexer/Hummer Vertrag von Lissabon S 43 f (44: „obiter dicta“). 583 Zutreffend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 1 EUV Rn 76. Matthias Niedobitek

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teriae“) und (d) in zeitlicher Hinsicht („ratione temporis“). Insoweit unterscheidet sich die Unionsrechtsordnung nicht von jeder anderen Rechtsordnung. Allerdings weisen alle vier Geltungsdimensionen in Bezug auf die Unionsrechtsordnung Besonderheiten auf, die ihren spezifischen Charakter begründen. Die gedankliche Aufspaltung der Unionsrechtsordnung in unterschiedliche Gel140 tungsdimensionen darf nicht zu der Annahme verleiten, ein Sachverhalt könne nur im Hinblick auf die eine oder die andere Geltungsdimension dem Unionsrecht unterfallen. Vielmehr unterfällt ein Sachverhalt nur dann der Unionsrechtsordnung, wenn er – kumulativ – allen vier Geltungsdimensionen genügt.584 Wenn bspw ein Sachverhalt in Hinsicht auf alle Geltungsdimensionen dem Unionsrecht unterfällt, nur nicht ratione temporis, dann handelt es sich um einen Sachverhalt, der entweder nicht mehr oder noch nicht dem Unionsrecht unterliegt. Der Begriff der Geltung kann maW nur zu analytischen Zwecken in unterschiedliche Geltungsdimensionen aufgespalten werden. Er vereint jedoch alle Geltungsdimensionen in sich, die erst in ihrer unteilbaren Gesamtheit über die Geltung einer unionsrechtlichen Norm für einen Sachverhalt Auskunft geben. Der (normative) Begriff der Geltung gibt Auskunft darüber, ob eine Norm oder 141 ein Einzelakt existiert, ob sie/er Bestandteil einer bestimmten Rechtsordnung ist585 und damit die von ihr/ihm erfassten Sachverhalte unmittelbar und autoritativ regelt. Die Summe aller – personell, territorial, sachlich und temporal beschriebenen – Sachverhalte, die in diesem Sinn von einer Rechtsordnung erfasst werden, bestimmt ihren Geltungsbereich.586 Eine geltende Norm bzw ein geltender Einzelakt kann sich jedoch auch auf Sachverhalte beziehen, die nicht dem ureigenen Geltungsbereich der betreffenden Rechtsordnung unterliegen, sondern primär einer anderen Rechtsordnung, die jedoch wegen ihrer Wirkungen von der Rechtsordnung erfasst werden. In solchen Fällen – etwa bei der extraterritorialen Anwendung des EU-Wettbewerbsrecht587 – ist nicht der Geltungsbereich der Unionsrechtsordnung betroffen, sondern ihr (territorial darüber hinausgehender) Anwendungsbereich. Umgekehrt kann der Anwendungsbereich der Unionsrechtsordnung auch hinter ihrem Geltungsbereich zurückbleiben, wie dies bei den vertraglichen Formen differenzierter Integration (etwa der Währungsunion) oder bei der Aussetzung des acquis communautaire auf dem Gebiet der TRNZ588 der Fall ist.589

_____ 584 Zutreffend Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy Art 18 AEUV Rn 24. 585 Vgl T Schilling S 159 f. 586 Ebenso Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy Art 18 AEUV Rn 24. 587 Vgl Oppermann/Classen/Nettesheim § 20 Rn 40–42. 588 Vgl das Protokoll Nr 10 über Zypern zum Beitrittsvertrag 2003, ABl 2003 L 236/955. 589 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 52 EUV Rn 13; aA wohl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Jaeckel Art 355 AEUV Rn 3, wonach die Einschränkung des räumlichen Anwendungsbereichs der Währungsunion eine Ausnahme zu Art 355 AEUV (räumlicher Geltungsbereich) darstellt. Matthias Niedobitek

II. Die rechtliche Gestalt der Union | 89

Das primäre Unionsrecht verwendet die Begriffe „Geltungsbereich“ und 142 „Anwendungsbereich“ in der deutschen Sprachfassung nicht stets in dem (in Rn 141 genannten) rechtlich-technischen Sinn. Zwar sprechen Art 52 II EUV und Art 355 AEUV zutreffend vom „räumlichen Geltungsbereich“, jedoch ist in Art 18 AEUV vom Anwendungsbereich der Verträge die Rede, während in Art 33 AEUV und Art 51 II GRCh wieder vom Geltungsbereich der Verträge gesprochen wird, dies obwohl andere Sprachfassungen zeigen, dass es in allen Fällen stets um den (sachlichen) Geltungsbereich geht.590 Schließlich versteht sich, dass die erwähnten Geltungsdimensionen sämtliche 143 Bestandteile des Unionsrechts, dh das primäre Unionsrecht ebenso wie das sekundäre/tertiäre Unionsrecht, betreffen.

bb) Der persönliche Geltungsbereich der Unionsrechtsordnung Die EU-Verträge treffen nur wenige Aussagen zu ihrem Geltungsbereich. Prominent 144 ist insofern Art 52 EUV, der bestimmt, dass die Verträge „für“ die (im Einzelnen aufgelisteten) Vertragsparteien gelten. Es scheint somit, dass Art 52 EUV vor allem eine Aussage zum persönlichen Geltungsbereich der Verträge trifft. Der Schwerpunkt der Bestimmung liegt jedoch auf dem räumlichen Geltungsbereich.591 Dessen ungeachtet benennt Art 52 EUV diejenigen Völkerrechtssubjekte (juristische Personen), die die Verträge abgeschlossen haben und für die die Verträge gelten. Dass völkerrechtliche Verträge für die Vertragsparteien gelten, ist allerdings 145 eine Selbstverständlichkeit. „Klassische“ völkerrechtliche Verträge beschränken sich auch darauf, allein die Vertragsparteien zu binden, denen es grundsätzlich obliegt, über die Art und Weise der Vertragserfüllung selbst zu entscheiden.592 Das Besondere an der Unionsrechtsordnung ist jedoch, dass ihre Rechtssubjekte nicht nur die Staaten, sondern auch die Einzelnen sind. Anders als bei sonstigen dem Einzelnen eingeräumten völkerrechtlichen 146 Rechtspositionen wird dieser jedoch nicht aus der nationalen Rechtsordnung gleichsam „herausgehoben“, wie dies etwa im Rahmen der EMRK der Fall ist.593 Vielmehr gilt umgekehrt, dass die Unionsrechtsordnung „in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen“ wurde,594 so dass der Einzelne seine unions-

_____ 590 Vgl bspw die englische und die französische Sprachfassung, wo in Art 18 AEUV von „scope of application of the Treaties / domaine d’application des traités“ bzw in Art 33 AEUV von „scope of application of the Treaties / champ d’application des traités“ die Rede ist. 591 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 52 EUV Rn 12. 592 Vgl Dörr/Schmalenbach/Schmalenbach Art 26 WVK Rn 47. 593 Hierzu Grabenwarter/Pabel § 9 Rn 1: Sie sprechen von der „Möglichkeit, dass ein Einzelner auf völkerrechtlicher Ebene gegen den Staat einklagen“ könne (Hervorhebung hinzugefügt). 594 Grundlegend EuGH, Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L., Slg 1964, 1269. Matthias Niedobitek

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rechtlichen Rechte im nationalen Kontext – insb vor den nationalen Gerichten – durchsetzen kann. Unter den Einzelnen, die als Begünstige der Unionsrechtsordnung in Betracht 147 kommen,595 stellen die Unionsbürger gewissermaßen die „geborenen“ Rechtssubjekte des Unionsrechts dar.596 Dies bestätigt Art 20 II UAbs 1 S 1 AEUV, wonach die Unionsbürger „die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten“ haben. Der Status als Unionsbürger ist akzessorischer Natur: Er setzt die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats voraus. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH fällt „die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit nach dem Völkerrecht in die Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten“,597 jedoch haben die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit das Unionsrecht, insb den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zu beachten.598 Sofern eine natürliche Person die – ggf für die Zwecke des Unionsrechts definierte599 – Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, spielt es keine Rolle, ob sie im räumlichen Geltungsbereich des Unionsrechts ihren Wohnsitz hat.600 Neben den Unionsbürgern als natürlichen Personen sind auch juristische Personen, die den Mitgliedstaaten gem Art 54, 62 AEUV „angehören“, in den Kreis der Individualbegünstigten der Unionsrechtsordnung einbezogen.601 Nicht nur Unionsbürger, auch Angehörige von Drittstaaten können unmittel148 bar oder mittelbar Adressaten der Unionsrechtsordnung, insb Inhaber von durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechten, sein.602 Dies hängt freilich vom sachlichen Geltungsbereich des Unionsrechts ab. Was das primäre Unionsrecht angeht, kommt insoweit eine Anwendung des Diskriminierungsverbots aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art 18 AEUV) auch auf Drittstaatsangehörige in Betracht.603 Ferner kann die Dienstleistungsfreiheit gem Art 56 II AEUV durch sekundäres Unionsrecht auf in der Union ansässige Drittstaatsangehörige ausgeweitet werden. Dies

_____ 595 Zu den Verpflichteten vgl – am Beispiel des Diskriminierungsverbots gem Art 18 AEUV – Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy Art 18 AEUV Rn 25–28. 596 Auch wenn der EuGH in der Rs C-145/04 – Spanien / Vereinigtes Königreich, Rn 72 festgestellt hat, dass sich aus den Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft „kein Grundsatz ableiten [lasse], wonach alle anderen Vorschriften des Vertrages ausschließlich für Unionsbürger Geltung hätten“. 597 EuGH, Rs C-221/17 – Tjebbes, Rn 30; Rs C-135/08 – Rottmann, Rn 39. 598 EuGH, Rs C-221/17 – Tjebbes, Rn 40; Rs C-135/08 – Rottmann, Rn 41, 55. 599 Hierzu vgl Schönberger S 276 ff. 600 So ausdrücklich EuGH, Rs C-300/04 – Eman und Sevinger, Rn 27; anders noch Schönberger S 279. 601 Näher Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy Art 18 AEUV Rn 29. 602 Zu Recht hat der EuGH in der Rs C-145/04 – Spanien / Vereinigtes Königreich, Rn 72 festgestellt, dass sich aus den Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft „kein Grundsatz ableiten [lasse], wonach alle anderen Vorschriften des Vertrages ausschließlich für Unionsbürger Geltung hätten“. 603 Hierzu vgl etwa Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy Art 18 AEUV 32; Streinz/Streinz Art 18 AEUV Rn 39 ff. Matthias Niedobitek

II. Die rechtliche Gestalt der Union | 91

ist jedoch, soweit ersichtlich, noch nicht erfolgt. Was das sekundäre Unionsrecht angeht, sind etwa Familienangehörige von Unionsbürgern in den Anwendungsbereich der RL 2004/38604 einbezogen. Insgesamt zeigt sich, dass es sich bei den von der Unionsrechtsordnung be- 149 günstigten (und ggf verpflichteten) Individuen überwiegend um Unionsbürger handelt, dass jedoch – abhängig vom sachlichen Anwendungsbereich des primären und sekundären Unionsrechts – auch Drittstaatsangehörige Rechtssubjekte der Unionsrechtsordnung sind und sein können.

cc) Der räumliche Geltungsbereich der Unionsrechtsordnung Der räumliche Geltungsbereich der EU-Verträge wird in Art 52 EUV und in Art 355 150 AEUV geregelt. Während Art 52 EUV – in Anknüpfung an die Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten – den räumlichen Geltungsbereich grundlegend festlegt, enthält Art 355 AEUV hierzu Konkretisierungen, Einschränkungen und Ergänzungen. Indem die genannten Vorschriften den räumlichen Geltungsbereich „der Verträge“ bestimmen, definieren sie grundsätzlich605 zugleich auch den räumlichen Geltungsbereich des abgeleiteten Unionsrechts.606 Art 52 EUV knüpft für die Festlegung des räumlichen Geltungsbereichs des Uni- 151 onsrechts an die Mitgliedstaaten der Union und damit an deren Hoheitsgebiete an. Daraus wird deutlich, dass die Union nicht über ein eigenes Gebiet, ein „Unionsgebiet“, verfügt,607 sondern über einen von den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten abgeleiteten räumlichen Geltungsbereich.608 Daran ändert es nichts, wenn der EuGH zuweilen – gewiss in einem untechnischen Sinn – vom „Unionsgebiet“ spricht.609 Hätte die Union ein eigenes Gebiet, wäre sie ein Staat. Da die Union nicht über ein Unionsgebiet verfügt, kann sie auch keine eigene Außengrenze haben, wie Art 6 des Protokolls (Nr 22) über die Position Dänemarks610 und das Protokoll (Nr 23) über die Außenbeziehungen der Mitgliedstaaten hinsichtlich des Überschreitens der Außengrenzen611 deutlich machen.

_____ 604 Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates v 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten […], ABl 2004 L 229/35 (korrigierte Fassung). 605 Vorbehaltlich im Einzelnen festgelegter Abweichungen; vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 52 EUV Rn 3. 606 EuGH, Rs C-214/95 – Boukhalfa, Rn 13. 607 AA Streinz/Herrmann Art 341 AEUV Rn 9. 608 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 52 EUV Rn 14, 17. 609 Vgl nur EuGH, Rs C-614/17 – Fundación Consejo Regulador de la Denominación de Origen Protegida Queso Manchego, Rn 46 f; Rs C-291/12 – Schwarz, Rn 37, 40, 44, 45, 61. 610 ABl 2016 C 202/298. 611 ABl 2016 C 202/303. Matthias Niedobitek

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Art 52 EUV bezieht sich, was den persönlichen und – hier relevant – den räumlichen Geltungsbereich des Unionsrechts angeht, auf die einzelnen Mitgliedstaaten. Dies könnte bedeuten, dass das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ohne Rücksicht auf seine Belegenheit (in Europa oder außerhalb) den räumlichen Geltungsbereich des Unionsrechts bestimmt. In diesem Fall wären jedoch die Regelung des Art 355 AEUV nicht verständlich. Daher wird zu Recht angenommen, dass das Unionsrecht einen ungeschriebenen Grundsatz enthält, wonach der räumliche Geltungsbereich des Unionsrechts auf das europäische Territorium der Mitgliedstaaten beschränkt ist.612 Folge davon ist insb, dass die mit der Union konstitutionell (gem Art 198 ff AEUV) assoziierten überseeischen Länder und Hoheitsgebiete nicht in den räumlichen Geltungsbereich des Unionsrechts fallen (vgl Art 355 II AEUV), sondern in der Position von Drittländern sind.613 Umgekehrt war es erforderlich, die Geltung des Unionsrechts für bestimmte außereuropäische Teile des französischen, des portugiesischen und des spanischen Hoheitsgebiets anzuordnen, wie es durch Art 355 I AEUV geschehen ist (und durch Art 349 AEUV zugleich mit einer Sonderregelung verbunden wurde). Ferner folgt aus der Bezugnahme auf die Mitgliedstaaten als Vertragsparteien, 153 dass diese mit ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet, welches auch territorialen Änderungen unterliegen kann, der Union angehört. Insoweit gilt der „Grundsatz der beweglichen Vertragsgrenzen“.614 Der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes615 vollzog sich daher durch eine Erweiterung der Vertragsgrenzen des Mitgliedstaats Bundesrepublik Deutschland,616 nicht jedoch durch einen förmlichen Beitritt gem Art 49 EUV. Die mit einzelnen EU-Mitgliedstaaten eng verbundenen europäischen Mikro154 staaten Andorra, San Marino, Monaco und Vatikanstaat617 sind ungeachtet ihrer Beziehungen zur Union und ihrer Abhängigkeit von den jeweils benachbarten EUMitgliedstaaten völkerrechtlich selbständig. Sie fallen daher nicht unter Art 355 III AEUV, wonach die Verträge auf die europäischen Hoheitsgebiete Anwendung finden, deren auswärtige Beziehungen ein Mitgliedstaat wahrnimmt. Einziger Anwendungsfall dieser Bestimmung ist ggw Gibraltar,618 dessen auswärtige Beziehungen

_____ 612 Schwarze/Becker Art 355 AEUV Rn 7; Streinz/Kokott Art 355 AEUV Rn 6. 613 EuGH, Gutachten 1/78 – Naturkautschukabkommen, Rn 62. 614 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 52 EUV Rn 20. 615 Hierzu vgl Niedobitek Neuere Entwicklungen S 5. 616 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 52 EUV Rn 22. 617 Als fünfter europäischer Mikrostaat gilt das Fürstentum Liechtenstein, das jedoch engste Beziehungen nicht zu einem EU-Mitgliedstaat, sondern zur Schweiz pflegt; näher zu den europäischen Mikrostaaten Friese passim. 618 Calliess/Ruffert/Schmalenbach Art 355 AEUV Rn 9; Erklärung Nr 55 zum Vertrag von Lissabon, ABl 2016 C 202/356. Matthias Niedobitek

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vom Vereinigten Königreich wahrgenommen werden.619 Spezielle Bestimmungen zu nicht-souveränen europäischen Hoheitsgebieten enthält Art 355 V AEUV. Den Status der in Art 355 I und II AEUV aufgeführten Gebiete kann der Europäi- 155 sche Rat gem Art 355 VI AEUV ändern. Hierbei handelt es sich um eine autonome Vertragsänderung, über die der Europäische Rat einstimmig nach Anhörung der Kommission beschließt. Die Ausschaltung der Mitgliedstaaten von der Beschlussfassung ist dadurch gerechtfertigt, dass eine Statusänderung nur auf Initiative des betroffenen Mitgliedstaats erfolgen kann und zudem ggf nur eine innerstaatliche Statusänderung bestätigt.620

dd) Der sachliche Geltungsbereich der Unionsrechtsordnung Die Bestimmung des sachlichen Geltungsbereichs des Unionsrechts kann pauschal 156 oder differenziert erfolgen. Pauschal lässt sich sagen, dass der sachliche Geltungsbereich alle Sachverhalte umfasst, die in irgendeiner Weise – umfassend oder nur in einzelnen Aspekten, unmittelbar oder mittelbar – von den Verträgen oder vom abgeleiteten Unionsrecht geregelt werden.621 Dabei bilden die materiellen Regelungen des primären Unionsrechts sowie – wie auch Art 51 II GRCh deutlich macht – die Zuständigkeiten der Union den äußersten Rahmen des (potenziellen) sachlichen Geltungsbereichs des Unionsrechts. Bei einer differenzierten Betrachtung des sachlichen Geltungsbereichs des Unionsrechts müsste die materielle Reichweite jeder einzelnen unionsrechtlichen Norm ausgelotet und alle Einzelergebnisse müssten aufsummiert werden. Eine Einzelbetrachtung aller unionsrechtlichen Normen ist hier weder 157 möglich noch nötig. Der sachliche Geltungsbereich ist bei den meisten Normen des Unionsrechts ohne weiteres aus dem Normtext abzuleiten. Die Reichweite des abgeleiteten Unionsrechts ist, was seine Zielsetzung angeht, unter Berücksichtigung der Erwägungsgründe des jeweiligen Rechtsakts zu ermitteln.622 Allerdings gibt es einige Normen des Unionsrechts, deren Geltungsbereich sich nicht von selbst erschließt. Dabei handelt es sich insb (a) um das Verbot von Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art 18 AEUV), (b) um den Anwendungsbereich der Charta der Grundrechte und (c) um die Reichweite von Art 7 EUV.

_____ 619 Zur im 1. ZP zur EMRK begründeten Pflicht des Vereinigten Königreichs, auf Gibraltar Wahlen zum Europäischen Parlament durchzuführen, vgl EGMR, Matthews v The United Kingdom – 24833/94 (Große Kammer); hierzu in der Folge EuGH, Rs C-145/04 – Spanien / Vereinigtes Königreich. 620 Wie dies beim Wechsel des Status von Mayotte der Fall war, das zu einem französischen Departement umgewandelt wurde und durch Beschluss des Europäischen Rates 2012/419, ABl 2012 L 204/131, in Art 349, 355 I AEUV aufgenommen wurde. 621 Ähnlich – im Kontext von Art 18 AEUV – Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy Art 18 AEUV Rn 24, 33. 622 Vgl etwa EuGH, Rs C-411/06 – Kommission / Parlament und Rat, Rn 51 ff. Matthias Niedobitek

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Das in Art 18 AEUV normierte Verbot jeder Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit – ein „Leitmotiv“ der Verträge623 – bezieht sich in der deutschen Vertragsfassung seinerseits auf den „Anwendungsbereich“ der Verträge, worunter nichts anderes als ihr Geltungsbereich zu verstehen ist (vgl Rn 142). Dabei bezieht sich das Verbot des Art 18 AEUV nicht nur auf den sachlichen Geltungsbereich des Unionsrechts,624 sondern auf alle denkbaren Geltungsdimensionen, die stets in einer Zusammenschau – kumulativ – zu betrachten sind (vgl Rn 140).625 Das logische Problem, das darin besteht, dass Art 18 AEUV auf den Geltungsbereich der Verträge verweist, den er selbst mitkonstituiert, löst sich dadurch auf, dass Art 18 AEUV auf den „Anwendungsbereich“ der Verträge nur für die Zwecke des in Art 18 AEUV geregelten Diskriminierungsverbots verweist. Indem das Diskriminierungsverbot auf den (sonstigen) „Anwendungsbereich“ der Verträge bezogen wird, bildet es einen (insoweit sachlich beschränkten) Bestandteil des sachlichen Geltungsbereichs des Unionsrechts. Die Reichweite des „Anwendungsbereichs“ der Verträge iSv Art 18 AEUV ist 159 zwar nicht im Kern, aber an den Rändern unklar und umstritten.626 Dass zum „Anwendungsbereich“ der Verträge der ureigene Regelungsbereich einer unionsrechtlichen Norm zählt, dürfte klar sein. Insoweit spricht der EuGH von „unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen“.627 Zu Unrecht wird dieser Fall in der Literatur als „Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Art 18 AEUV über denjenigen der materiellen Regelungen und Kompetenzbestimmungen hinaus“ eingeordnet.628 Zudem hat der EuGH festgestellt, dass Art 18 AEUV „eigenständig nur bei unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen zur Anwendung kommt, für die der AEU-Vertrag keine besonderen Diskriminierungsverbote vorsieht“.629 Dass allerdings auch die Kompetenzbestimmungen des Unionsrechts für sich genommen – auch ohne eine Ausübung der Kompetenzen – den „Anwendungsbereich“ der Verträge iSv Art 18 AEUV konstituieren, 630 ist zweifelhaft. 631 Allerdings liegt den Kompetenzbestimmungen häufig bereits eine materielle Regelung des primären Unionsrechts zu Grunde, welche ohne weiteres als Ansatzpunkt für die Anwendung des Diskriminierungsverbots

158

_____ 623 So bereits – zum EWGV – Wohlfarth/Everling/Glaesner/Sprung/Wohlfarth Art 7 EWGV Nr 1. 624 So indes seinerzeit Wohlfarth/Everling/Glaesner/Sprung/Wohlfarth Art 7 EWGV Nr 10. 625 Daher behandelt die Kommentarliteratur zu Art 18 AEUV stets neben dem sachlichen Geltungsbereich auch die weiteren Geltungsdimensionen. Vgl nur Schwarze/Holoubek Art 18 AEUV Rn 25–47; Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy Art 18 AEUV Rn 24 ff. 626 Hierzu näher Hilpold § 12 (in diesem Band) Rn 20 ff. 627 Vgl EuGH, Rs C-195/16 – I, Rn 70. 628 So Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy Art 18 AEUV Rn 42. 629 EuGH, Rs C-195/16 – I, Rn 70. 630 So Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy Art 18 AEUV Rn 34. 631 Zweifelnd auch Streinz/Streinz Art 18 AEUV Rn 24. Matthias Niedobitek

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dienen kann. 632 Insgesamt zeigt sich, dass die Auslegung des „Anwendungsbereichs“ der Verträge iSv Art 18 AEUV darüber entscheidet, ob das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit einen äußerst weiten sachlichen Geltungsbereich hat oder einen am Grundsatz begrenzter Einzelermächtigung ausgerichteten engeren Geltungsbereich. Die Charta der Grundrechte gilt gem ihrem Art 51 I nicht nur für die Unionsinsti- 160 tutionen, sondern auch für die Mitgliedstaaten, jedoch „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“. Ähnlich wie beim Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gem Art 18 AEUV ist auch hier unklar und umstritten, wie stark der Bezug einer mitgliedstaatlichen Maßnahme zum Unionsrecht sein muss, um in den sachlichen Geltungsbereich der Charta zu fallen.633 Demgegenüber kommt es für Art 19 I UAbs 2 EUV, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, einen wirksamen Rechtsschutz „in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ zu gewährleisten, nicht darauf an, ob die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art 51 I GRCh durchführen.634 Unter dem Blickwinkel des sachlichen Geltungsbereichs des Unionsrechts ist 161 schließlich Art 7 EUV zu untersuchen.635 Diese Bestimmung regelt ein Sanktionsverfahren gegen Mitgliedstaaten, die die Werte der Union verletzen oder zu verletzen drohen. Es besteht in der Literatur Einigkeit darüber, dass die Mitgliedstaaten die Werte der Union nicht nur im Kontext der EU-Verbandskompetenz zu achten haben, sondern allgemein, da diese gleichsam die „Geschäftsgrundlage“ der Mitgliedschaft in der Union darstellen.636 Somit kommen auch Werteverletzungen jenseits der (engeren) EU-Zuständigkeiten als Anlass für eine Anwendung von Art 7 EUV in Betracht. Gleichzeitig stellt Art 7 EUV selbst auch eine EU-Zuständigkeit dar, deren sachlicher Geltungsbereich jedoch über die (insoweit engere) Verbandskompetenz der Union hinausreicht.

_____ 632 Die von Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy Art 18 AEUV Rn 34 genannten Beispiele (Art 114, 121 II AEUV) lassen sich jeweils auf eine materielle Regelung des primären Unionsrechts zurückführen. 633 Hierzu allg Merten/Papier/Niedobitek HGR VI/1 § 159 Rn 105 ff. Der EuGH hat dazu bspw in der Rs C-370/12 – Pringle, Rn 179 f Stellung genommen, ferner jüngst in den verb Rs C-177/17 und C178/18 – Demarchi Gino Sas, Graziano Garavaldi / Ministero della Giustizia, Rn 16 ff, in der sich der EuGH für unzuständig erklärte, weil es beim Ausgangssachverhalt nicht eine „Durchführung des Rechts der Union“ iSv Art 51 I 1 GRCh ging. 634 EuGH, Rs C-64/16 – Associação Sindical dos Juízes Portugueses/Tribunal de Contas, Rn 29. Die deutsche Fassung des Urteils, wonach es nicht darauf ankommt, „in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen“ (Hervorhebung hinzugefügt), ist allerdings missverständlich. 635 Hierzu, namentlich zur jüngsten Anwendung von Art 7 EUV in Bezug auf Polen und Ungarn, vgl Lehner § 2 (in diesem Band) Rn 53 ff und Sommermann § 3 (in diesem Band) Rn 58 ff. 636 Hierzu näher Neuss/Niedobitek/Novotný/Rosůlek/Niedobitek S 211 f. Matthias Niedobitek

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ee) Der zeitliche Geltungsbereich der Unionsrechtsordnung 162 Der zeitliche Geltungsbereich der EU-Verträge ist in Art 53 EUV, 356 AEUV geregelt.

Beide Vorschriften bestimmen übereinstimmend: „Dieser Vertrag gilt auf unbegrenzte Zeit“. Derselbe Wortlaut findet sich auch in Art 208 EAGV. Dass EUV und AEUV jeweils eigene Regelungen betr die Geltungsdauer haben, ist zwar Ausdruck ihrer formalen Selbständigkeit, in der Sache jedoch eine unnötige Doppelung, weil beide Verträge nur zusammen stehen und fallen637 und somit – wie bereits dargelegt (Rn 45) – materiell als ein Vertrag, verteilt auf zwei Texte, zu betrachten sind. Die Bestimmungen über den zeitlichen Geltungsbereich der Verträge sind zusammen mit den Artikeln über das Inkrafttreten (Art 54 II EUV, 357 II AEUV) zu lesen, die den zeitlichen Geltungsbeginn der Verträge festlegen (vgl Rn 84). Dass die EUVerträge kein Geltungsende festlegen (anders der 2002 ausgelaufene EGKS-Vertrag), hätte allerdings keiner besonderen Feststellung bedurft.638 Die Festlegung einer unbegrenzten Geltungsdauer der Verträge bedeutet nicht, 163 dass diese nicht ersatzlos aufgehoben werden könnten (vgl Rn 27). Art 53 EUV, 356 AEUV beschränken sich auf die – deklaratorische – Aussage, dass die Verträge nicht befristet sind.639 Das mit dem Vertrag von Lissabon neu in die Verträge eingefügte Austritts164 recht (Art 50 EUV) tangiert grundsätzlich nicht die Geltungsdauer der Verträge, sondern nur den Kreis der Vertragsparteien. Erst wenn infolge einer Ausübung des Austrittsrechts nur noch ein Mitgliedstaat übrig bliebe, würden die Verträge begriffsnotwendig erlöschen. Ebenso wie die Vertragsvorschriften über den räumlichen Geltungsbereich 165 (Rn 150) haben auch die Vorschriften über den zeitlichen Geltungsbereich der Verträge Bedeutung für den zeitlichen Geltungsbereich des abgeleiteten Unionsrechts. Mit ihrem Inkrafttreten640 sind die Rechtsakte des abgeleiteten Unionsrechts Bestandteil der Unionsrechtsordnung; gleichzeitig markiert das Inkrafttreten idR auch den Geltungsbeginn der Vorschriften der Rechtsakte.641 Soweit sie keine Beschränkung ihrer Geltungsdauer vorsehen,642 gelten auch sie, ggf bis zu ihrer Auf-

_____ 637 Zutreffend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 53 EUV Rn 2. 638 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 53 EUV Rn 4. 639 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 53 EUV Rn 4. 640 Zum Inkrafttreten des abgeleiteten Unionsrechts näher Streinz/Gellermann Art 297 AEUV Rn 7. 641 Ausnahme bspw: VO 1082/2006 über den EVTZ, ABl 2006 L 210/19, mit deren Inkrafttreten zunächst nur derjenige Artikel galt, der die nationalen Stellen verpflichtete, gewisse Vorkehrungen für die wirksame Anwendung der Verordnung zu treffen. Die operativen Bestimmungen der VO galten ein Jahr später. 642 Bspw werden die sog Exekutivagenturen nur für einen begrenzten Zeitraum errichtet (vgl Art 3 I VO 58/2003, ABl 2003 L 11/1); die Geltungsdauer der jeweils zugrunde liegenden Verordnungen ist allerdings nicht förmlich begrenzt. Zahlreiche weitere Rechtsakte haben explizit eine begrenzte Matthias Niedobitek

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hebung, „auf unbegrenzte Zeit“. Mit einer Aufhebung der EU-Verträge würde allerdings auch das gesamte abgeleitete Unionsrecht erlöschen,643 es sei denn, es wird von einer Nachfolgeorganisation im Wege der Rechtsnachfolge übernommen, wie dies zuletzt beim Übergang von der EG zur neuen Union der Fall war. Die Frage der zeitlichen Geltung hatte sich konkret nach dem Auslaufen des 166 EGKS-Vertrages am 23. Juli 2002 der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit in meheren Verfahren gestellt.644 Die Kommission war der Meinung gewesen, sie habe trotz Auslaufens des EGKS-Vertrages noch Entscheidungen auf diesen Vertrag, konkret Art 65 §§ 4 und 5 EGKSV, stützen können, wobei sie sich insb darauf berief, dass der EGKSVertrag und der EG-Vertrag eine einheitliche Rechtsordnung, die „Gemeinschaftsrechtsordnung“ bildeten und der EG-Vertrag im Verhältnis zum EGKS-Vertrag lex generalis sei. Das EuG stellte indessen fest, „dass die Bestimmung, die die Rechtsgrundlage für einen Rechtsakt bildet und das Gemeinschaftsorgan zum Erlass des betreffenden Akts ermächtigt, bei dessen Erlass in Kraft sein muss“. Da Art 65 §§ 4 und 5 EGKSV zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung nicht mehr existierten, erklärte das EuG die Entscheidung der Kommission für nichtig. Die Anträge auf Feststellung der – eigentlich auf der Hand liegenden – Inexistenz der fraglichen Entscheidung wies das EuG mit der Begründung zurück, dass die „Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung […] nicht so offensichtlich schwerwiegend“ erscheine.645 Während der ausgelaufene EGKS-Vertrag somit nicht mehr als Rechtsgrundlage 167 für Rechtsakte herangezogen werden konnte, stellt sich die Frage, ob – mithilfe der EG-VO 1/2003646 – das materielle EGKS-Recht auf Verstöße gegen dessen Kartellvorschriften angewendet werden kann, sofern sich diese Verstöße vor dem Auslaufen des EGKS-Vertrages ereignet haben. Dafür spricht der Grundsatz tempus regit actum, wonach „Sachverhalte im Lichte der jeweils gleichzeitig geltenden Rechtsvorschriften zu würdigen sind“.647 Allerdings besteht hier die Besonderheit, dass es nicht nur um die Frage der Anwendung von „zeitlich aufeinanderfolgenden Rechtsnormen“648 ein und desselben Rechtsträgers geht, sondern um den Untergang der EGKS als

_____ Geltungsdauer, etwa VO 1273/2012, ABl 2012 L 359/32; Beschluss 2012/389, ABl 2012 L 187/40; Durchführungsbeschluss der KOM 2013/649, ABl 2013 L 302/44. 643 Vgl Schermers/Blokker § 910, 1648; Niedobitek/Ruth/Niedobitek S 140. 644 EuG, verb Rs T-27/03 ua – Bewehrungsrundstahl. 645 EuG, verb Rs T-27/03 ua – Bewehrungsrundstahl, Rn 122; zu den äußerst engen Voraussetzungen der Inexistenz eines Rechtsakts des abgeleiteten Gemeinschafts-/Unionsrechts vgl EuGH, Rs C27/11 – Kommission / Tschechische Republik, Rn 49 ff; Rs C-475/01 – Kommission / Griechenland, Rn 18–20. 646 VO des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl 2003 L 1/1. 647 Heukels S 48; so auch etwa EuGH, Rs C-17/10 – Toshiba Corporation ua, Rn 50. 648 Heukels S 46. Matthias Niedobitek

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Rechtsträgerin und die Aktivierung der – als Trägerin der lex generalis – seinerzeit fortexistierenden EG. Wie in jeder Rechtsordnung stellt sich auch in der Unionsrechtsordnung die 168 Problematik der Rückwirkung einer neuen Rechtslage auf in der Vergangenheit begründete und ggf bereits abgeschlossene Sachverhalte. Insoweit sind zwei Konstellationen zu unterscheiden: (a) die „klassischen“ Fälle der Rückwirkung; (b) die Rückwirkung von Auslegungsentscheidungen des EuGH. Was die klassische Rückwirkungsproblematik angeht, ist zwar ein rückwir169 kendes Inkrafttreten eines Rechtsakts (logisch) ausgeschlossen,649 allerdings kann ein Rechtsakt ab seinem Inkrafttreten Wirkungen für die Vergangenheit entfalten. Insoweit ist zwischen materiell-rechtlichen Vorschriften und Verfahrensvorschriften zu unterscheiden. Im Hinblick auf materiell-rechtliche Bestimmungen des Unionsrechts geht der EuGH davon aus, dass diese „grundsätzlich nicht rückwirkend angewandt werden [können], unabhängig davon, ob sich eine solche Anwendung für die Betroffenen günstig oder ungünstig auswirkt. Der Grundsatz der Rechtssicherheit verlangt nämlich, dass jeder Sachverhalt normalerweise, soweit nicht ausdrücklich etwas Gegenteiliges bestimmt ist, anhand der seinerzeit geltenden Rechtsvorschriften beurteilt wird“.650 Der EuGH fährt fort, dass „[n]ach ständiger Rechtsprechung […] die materiellen Vorschriften des Unionsrechts im Interesse der Beachtung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes so auszulegen [sind], dass sie für vor ihrem Inkrafttreten abgeschlossene Sachverhalte nur gelten, soweit aus ihrem Wortlaut, ihrer Zielsetzung oder ihrem Aufbau klar hervorgeht, dass ihnen eine solche Wirkung beizumessen ist“.651 Allerdings kann eine den Einzelnen belastende Rückwirkung zulässig sein, „wenn das angestrebte Ziel es verlangt und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet ist“.652 Demgegenüber sind „Verfahrensvorschriften im Allgemeinen auf alle bei ihrem Inkrafttreten anhängigen Rechtsstreitigkeiten anwendbar“.653 Insoweit gilt der Grundsatz der „Sofortwirkung“.654 Eine gleichsam „unechte“ Rückwirkungsproblematik kann sich bei Vorab170 entscheidungsurteilen des EuGH stellen. Mit solchen Urteilen interpretiert der EuGH das primäre oder sekundäre Unionsrecht, ohne es – streng genommen – zu modifi-

_____ 649 Calliess/Ruffert/Ruffert Art 297 AEUV Rn 8. 650 EuGH, Rs C-17/10 – Toshiba Corporation ua, Rn 50; jüngst Rs C-239/17 – Gert Teglgaard, Fløjstrupgård I/S / Fødevareministeriets Klagecenter, Rn 61. 651 EuGH, Rs C-17/10 – Toshiba Corporation ua, Rn 51; jüngst Rs C-303/13 P – Kommission / Andersen, Rn 50. 652 EuGH, verb Rs C-4/10 und C-27/10 – Bureau national interprofessionnel du Cognac, Rn 25; jüngst Rs C-611/17 – Italien / Rat, Rn 106; vgl auch Streinz/Gellermann Art 297 AEUV Rn 7; Streinz/ Schroeder Art 288 AEUV Rn 75 (zur rückwirkenden Richtlinienumsetzung). 653 EuGH, Rs C-17/10 – Toshiba Corporation ua, Rn 47; zusammenfassend GA Bot, Rs C-352/09 P – ThyssenKrupp Nirosta / Kommission, Nr 87–89. 654 Niedobitek/Ruth/Niedobitek S 152 f; allgemein und grundlegend Heukels S 93 ff. Matthias Niedobitek

II. Die rechtliche Gestalt der Union | 99

zieren oder neu zu schaffen, auch mit Wirkung für die Vergangenheit. Der EuGH stellt selbst fest, dass er „durch die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art 267 AEUV vornimmt, erläutert und verdeutlicht, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre“. Daraus folgt, „dass die Gerichte die Vorschriften in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, anwenden können und müssen, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser Vorschriften betreffenden Streit vorliegen“.655 Allerdings geschieht es gar nicht selten, dass der EuGH das Unionsrecht in einer Art und Weise interpretiert und fortbildet, die weder erwartet werden konnte noch musste, sondern sich als Folge einer – dem Integrationsprozess inhärenten – schrittweisen Entwicklung des Unionsrechts darstellt. In solchen Fällen sieht sich der EuGH zuweilen – ausnahmsweise – aus Gründen der Rechtssicherheit verpflichtet, die zeitliche (Rück-)Wirkung seiner Auslegungsurteile zu beschränken.656 So stellte der EuGH in der Rs Blaizot657 fest, dass „das vorliegende Urteil zum ersten Mal die Frage entscheidet, ob der Universitätsunterricht als Berufsausbildung im Sinne des Artikels 128 EWGVertrag [heute ersetzt durch Art 165, 166 AEUV] angesehen werden kann“. Daher erkannte der EuGH – mit Blick auf die Auswirkungen auf das einschlägige Verbot von Diskriminierungen aus Gründen der Staatenangehörigkeit (Art 7 EWGV, jetzt Art 18 AEUV) – „zwingende Erwägungen der Rechtssicherheit“ an, die es ausschlössen, „eine erneute Sachentscheidung über Rechtsverhältnisse herbeizuführen, deren Wirkungen bereits erschöpft sind, da diese erneute Sachentscheidung das System der Finanzierung des Hochschulunterrichts rückwirkend erschüttern würde und unvorhersehbare Folgen für den ordnungsgemäßen Betrieb der Hochschuleinrichtungen haben könnte“.658

3. Das Wesen der Union Das Wesen der Union659 ist maßgeblich durch die charakteristischen Merkmale ihrer 171 Rechtsordnung geprägt, wie sie bereits dargelegt wurden (insb Rn 124–138). Darin

_____ 655 Vgl nur EuGH, Rs C-242/09 – Albron Catering, Rn 35; jüngst Rs C-385/17 – Torsten Hein / Albert Holzkamm GmbH & Co. KG, Rn 56. 656 Hierzu grundlegend Ludewig passim. 657 EuGH, Rs 24/86 – Blaizot. 658 EuGH, Rs 24/86 – Blaizot, Rn 34. 659 Vom „Wesen der Union“ spricht der EuGH in Gutachten 2/13 – Beitritt zur EMRK, Rn 193. Alternativ könnte auch von der „Natur“, dem „Spezifischen“, dem „Eigenen“ oder – wie dies Oppermann/Classen/Nettesheim § 4 Rn 23 tun – vom „Selbststand der Union“ die Rede sein. Matthias Niedobitek

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erweist sich die Union primär als Rechtsunion.660 Nicht umsonst zählt der EuGH die Sicherung der Rechte des Einzelnen zum „Wesen der mit [den Verträgen] geschaffenen Rechtsordnung“.661 Zudem hat der EuGH festgestellt, dass der Vorrang des Unionsrechts den Charakter des Unionsrechts ausmacht662 und zu den „Grundlagen der Gemeinschaft“ zählt.663 Der Vorrang des Unionsrechts ist daher weit mehr als nur eine von Fall zu Fall heranzuziehende Kollisionsnorm, er ist eine Eigenschaft der Unionsrechtsordnung selbst.664 Im Kern des Wesens der Union steht daher die Supranationalität der Union (Rn 124–131). Allerdings ist der Begriff der Supranationalität zu spröde, um das Wesen der Union treffend zu beschreiben. Er wird heute auch nicht mehr mit „partieller Bundesstaatlichkeit“ gleichgesetzt.665 Vielmehr erscheint die Union in erster Linie als rechtlich verfasste Integrationsgemeinschaft (a), die sich den gängigen völker- und staatsrechtlichen Kategorien entzieht (b).

a) Die Union als Integrationsgemeinschaft – Ziele der Union 172 Der Begriff der „Integration“ ist aus dem europawissenschaftlichen Diskurs nicht wegzudenken. Er kann als Zustand, als Prozess und als Ziel verstanden werden. Die europäische Integration als Zustand zu begreifen, erscheint heute kaum noch vertretbar,666 zumal eine solche Sichtweise auch nicht mit dem Vertragsrecht vereinbar wäre. Schon der erste Erwägungsgrund der Präambel des EUV spricht davon, „den mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften eingeleiteten Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben“. Der 13. Erwägungsgrund kennzeichnet diesen Vorgang als „Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas“, und der 14. Erwägungsgrund formuliert die Aufgabe, „die europäische Integration voranzutreiben“. Dementsprechend ist es gem Art 15 I 1 EUV Sache des Europäischen Rates, der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse“ zu geben. Schließlich wird der Begriff des „Integrationsprozesses“, um dessen Stärkung es geht, auch in den Bestimmungen über die Verstärkte Zusammenarbeit (in Art 20 I UAbs 2 EUV) erwähnt. Es kann somit kein Zweifel daran bestehen, dass die EU-Verträge die Integration als Prozess verstehen. Dabei ist die europäische Integration nach wie vor als ein primär politischer Prozess zu be-

_____ 660 Zum Begriff vgl Rn 230. 661 EuGH, Rs verb Rs C-6/90 und C-9/90 – Francovich, Rn 35. 662 Vgl EuGH, Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L., Slg 1964, 1270. 663 EuGH, Rs 106/77 – Simmenthal, Rn 17/18. 664 Näher Niedobitek/Zemánek/Niedobitek S 73 f. 665 Für die Frühphase der europäischen Integration vgl Ophüls NJW 1951, 289; hierzu näher Kristoferitsch S 329 f. 666 Zutreffend Eppler/Scheller/Eppler/Scheller S 23. Matthias Niedobitek

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greifen, der mit den Mitteln des Rechts verwirklicht wird („Integration durch Recht“).667 Der Begriff der Integration, verstanden in einem prozesshaften Sinn, ist aller- 173 dings nicht unproblematisch. Denn er impliziert die Vorstellung von einer geordneten, zielorientierten Abfolge von Schritten. Über das „Endziel“ („Finalität“) der Integration – die Frage, „wohin die Reise geht“668 – schweigen sich die Verträge jedoch aus.669 Die einzige Orientierung, die die EU-Verträge insoweit geben – und die zugleich über die bestehenden Verträge hinausweist –, ist die Perspektive der „Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ (Art 1 II EUV). Allerdings sah sich das Vereinigte Königreich durch diese Formulierung zu stark in seiner Souveränität beschränkt und handelte mit den im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs im Vorfeld des Brexit-Referendums insoweit ein opt-out aus, das später in die Verträge übernommen werden sollte.670 Nachdem das Referendum allerdings den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union ergab, war diese Vereinbarung hinfällig.671 Um der Unklarheit des Ziels des Integrationsprozesses zu begegnen, ist vorge- 174 schlagen worden, den Integrationsprozess selbst als Ziel anzusehen („der Weg ist das Ziel“) bzw das Ziel des Integrationsprozesses offen zu halten.672 Die Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit des Endziels des europäischen Integrationsprozesses673 erlaubt es, die unterschiedlichsten Entwicklungen, sogar „Rückschläge“ und Desintegrationsbewegungen,674 unter den weit verstandenen Integrationsbegriff zu fassen. Die Ungewissheit hinsichtlich der Zielsetzung des Integrationsprozesses hat HP Ipsen lakonisch mit den Worten beschrieben: „Integration prozediert“.675 Nicht stimmig ist diese Feststellung allerdings insoweit, als sie unterstellt (bzw so verstanden werden könnte), Integration sei ein sich selbst steuernder Prozess. Abgesehen von der Unklarheit über das Endziel des europäischen Integrations- 175 prozesses enthalten die Verträge zahlreiche Zielbestimmungen abstrakter oder konkreter Natur, die den Organen als verbindliche Leitlinie dienen und den Prozesscharakter der Integration bestätigen. Gegenstand des Integrationsprozesses ist daher „die Ausgestaltung der in den Verträgen enthaltenen Aktionsanweisungen und -ermächtigungen mit dem Ziel des fortschreitenden Ausbaus der mitgliedstaat-

_____ 667 Vgl Kristoferitsch S 228 ff; Bleckmann EuR Rn 33. 668 Oppermann FS Hans Peter Ipsen, 1977, S 685. 669 Einen „Endzielbedarf“ verneinte HP Ipsen S 995 f. 670 Vgl „Eine neue Regelung für das Vereinigte Königreich innerhalb der Europäischen Union“, ABl 2016 C 69 I/1, Anlage I Abschnitt C Ziff 1. 671 Vgl den Auszug aus den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, ebd, Ziff 3 iv), 4. 672 Vgl Blanke DÖV 1993, 412 (413), mwN. 673 Hierzu vgl auch Oppermann/Classen/Nettesheim § 4 Rn 3 ff. 674 Näher Eppler/Scheller (Hrsg) passim. 675 HP Ipsen S 997. Matthias Niedobitek

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lichen Verflechtung“.676 Allgemeine Ziele, die den Integrationsprozess steuern, sind insb in den Präambeln des EUV und des AEUV enthalten. Schon konkreter – wenn auch von unterschiedlichem Konkretisierungsgrad – und rechtlich bindend677 sind die in Art 3 EUV normierten Ziele der Union. Als eine der „Kernbestimmungen“ der Verträge678 und „Grundnorm des Integrationsprogramms“679 ist Art 3 EUV zentraler Ausdruck der „gemeinsamen Ziele“ der Mitgliedstaaten, deren angestrebte Verwirklichung die Existenz der Union legitimiert,680 allen voran das in Abs 1 genannte Ziel der Union, „den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern“.681 Eine Zusammenschau aller Absätze von Art 3 EUV gibt nicht nur Auskunft über die wesentlichen Ziele der Union, sondern zugleich einen Überblick über ihre Politikfelder; allerdings vermittelt Art 3 EUV selbst keine Zuständigkeiten, wie Art 3 VI EUV bestätigt.682 Ein Blick in die Kompetenznormen des Unionsrechts offenbart des Weiteren, dass auch zahlreiche Zuständigkeiten der Union zielorientiert formuliert sind, etwa Art 114 I AEUV, der der „Verwirklichung der Ziele des Artikels 26“ AEUV dient, oder Art 352 AEUV, der ein Tätigwerden der Union erlaubt, „um eines der Ziele der Verträge zu verwirklichen“. Zudem haben die geteilten Zuständigkeiten der Union eine Tendenz zur Ausschließlichkeit.683 Ferner sieht das primäre Unionsrecht – im Sinne eines „Europas der mehreren Geschwindigkeiten“ – im RFSR an einigen Stellen den Übergang zu einer Verstärkten Zusammenarbeit vor, wenn die Wahrnehmung der regulären Kompetenzen scheitert (Art 82 III, 83 III, 86 I UAbs 3, 87 III UAbs 3 AEUV). Auch die Interpretation des Unionsrechts trägt dieser Tendenz durch eine „dynamische“ Auslegungsmethode Rechnung.684 Insgesamt ist die europäische Integration seit ihrer Begründung durch eine – im Tempo variierende – Dynamik gekennzeichnet, die die Unionsrechtsordnung immer noch qualitativ von der grundsätzlichen Statik staatlicher Verfassungen unterscheidet.685

_____ 676 Blanke DÖV 1993, 412 (414). 677 Calliess/Ruffert/Ruffert Art 3 EUV Rn 5; näher Blanke/Mangiameli/Sommermann Art 3 TEU Rn 5 ff. 678 So Blanke/Mangiameli/Sommermann Art 3 TEU Rn 1. 679 So Calliess/Ruffert/Ruffert Art 3 EUV Rn 1. 680 Vgl Blanke/Mangiameli/Sommermann Art 3 TEU Rn 1 f. 681 Hierbei handelt es sich um die „klassischen“ Ziele eines politischen Gemeinwesens; vgl Blanke/Mangiameli/Sommermann Art 3 TEU Rn 20. 682 Zutreffend Blanke/Mangiameli/Sommermann Art 3 TEU Rn 12; Calliess/Ruffert/Ruffert Art 3 EUV Rn 12. 683 Vgl Oppermann/Classen/Nettesheim § 11 Rn 15, die auf die Sperrwirkung der Ausübung der geteilten Zuständigkeiten hinweisen. Vgl insoweit bereits Ophüls NJW 1963, 1697 (1701): Die „konkurrierende“ Kompetenz der Gemeinschaft sei „ihrer Tendenz nach eine ausschließliche“. 684 Vgl Niedobitek Kultur S 202 ff; zu dieser Auslegungsmethode vgl bereits Ophüls NJW 1963, 1697 (1699). 685 Vgl – mN und insoweit ablehnender Stellungnahme – Kristoferitsch S 330 f. Matthias Niedobitek

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Allerdings ist nicht zu übersehen, dass sich der Integrationsprozess, nicht 176 zuletzt als Folge der Rechtsetzungstätigkeit der Organe, auf vielen Gebieten verlangsamt hat. Es ist maW eine Verdichtung der Integration eingetreten. Dies schlägt sich auch im Text der Verträge nieder. Bspw formulierte ex-Art 14 I EGV bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon die Aufgabe, „den Binnenmarkt schrittweise zu verwirklichen“, während Art 26 I AEUV, in Anerkennung des bereits Erreichten, nicht nur die Verwirklichung des Binnenmarktes, sondern auch die Gewährleistung seines Funktionierens als Aufgabe beschreibt. Das ändert jedoch nichts daran, dass die „Binnenmarktrealisierung [ein] dauernder Prozess“ ist,686 was durch die Streichung des Zieldatums 31. Dezember 1992 unterstrichen wurde.687 Die eben erwähnte Verdichtung der europäischen Integration ist allerdings 177 nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet (weiteres Bsp: Währungsunion), sondern auch auf politischem Gebiet erfolgt. Die Union weist bereits Elemente einer politischen Union auf, die sie von den ursprünglichen Gemeinschaften deutlich unterscheiden (insb die Unionsbürgerschaft und die damit verbundenen politischen Rechte; die „Werte“-Bestimmung des Art 2 EUV; die Verrechtlichung der Charta der Grundrechte; die Formulierung demokratischer Grundsätze in Art 9 ff EUV uam). Der „politische“ Charakter der Union spielt auch bei der Deutung der heutigen Gestalt der Union eine wichtige Rolle (Rn 178–181). Indessen können die Bemühungen um eine „Konstitutionalisierung“688 der Unionsrechtsordnung, die zudem in erster Linie oberflächlich-terminologischer Art waren, nicht darüber hinweg täuschen, dass der Unionsrechtsordnung das Dynamisch-Prozesshafte nach wie vor eigen ist.689 Art 1 II EUV („Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“) und die Beitrittsofferte des Art 49 EUV690 sprechen insoweit eine deutliche Sprache. Dass dies auch in Zukunft so bleibe und bleiben müsse („unumkehrbarer Integrationsprozess“), soll sich aus Art 53 EUV, 356 AEUV – der Festlegung unbegrenzter Geltungsdauer der Verträge – ergeben,691 was allerdings angesichts des nur deklaratorischen Charakters dieser Bestimmungen (vgl Rn 162) nicht überzeugt und auch durch Art 50 EUV (Austrittsoption) widerlegt wird.

_____ 686 Streinz/Schröder Art 26 AEUV Rn 9. 687 Streinz/Schröder Art 26 AEUV Rn 9. 688 Zum Begriff näher vBogdandy/Bast/Möllers S 265. 689 Zur „Integrationsdynamik“ vgl etwa Vitzthum/Proelß/Kunig 2. Abschn Rn 122; aA Kristoferitsch S 330 f. 690 Vgl auch den 8. Erwägungsgrund der Präambel des AEUV. 691 So Schwarze/Herrnfeld Art 53 EUV Rn 1. Matthias Niedobitek

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b) Die Union als „Union“ 178 Über die Einordnung der Union (bzw früher der Europäischen Gemeinschaften) in

die bekannten völker- und staatsrechtlichen Kategorien wird seit der Begründung des Integrationsprozesses nachgedacht und diskutiert. Ist die Union ein Staat? Ist sie eine Internationale Organisation? Ist sie etwas „dazwischen“? Ist sie etwa etwas bislang völlig unbekanntes „Drittes“? Insoweit sind zwei Aspekte auseinander zu halten: die (externe) völkerrechtliche Betrachtung und die (interne) unionsrechtliche Betrachtung. Das ist ähnlich wie bei den deutschen Ländern, die Staaten nur im Sinne des Grundgesetzes, jedoch nicht im Sinne des Völkerrechts sind.692 Unionsrechtlich könnte man sich daher auf einen Staatscharakter der Union verständigen, völkerrechtlich verfügt sie nach absolut hM,693 unter Einschluss der Rechtsprechung des BVerfG,694 nicht über Staatscharakter.695 Ist sie aber deshalb notwendigerweise eine Internationale Organisation? Wenn man von einem grundsätzlichen Dualismus der (Haupt-)Völker179 rechtssubjekte (Staat – Internationale Organisation)696 ausgeht, dann ist die Union eine Internationale Organisation mit Völkerrechtspersönlichkeit (oder – in föderalistischer Perspektive – ein Staatenbund697). Die Einordnung der Union als Internationale Organisation steht einer näheren Qualifizierung, einer Abgrenzung der Union von „herkömmlichen“698 Internationalen Organisationen, nicht entgegen, auch wenn die Unterscheidung zwischen „gewöhnlichen“ Internationalen Organisationen und der Union als supranationaler Organisation nur empirisch, nicht rechtlich vorgegeben ist (zum Begriff der Internationalen Organisation vgl Rn 2). Es erscheint daher nicht als zutreffend, dass die Union sich „nicht mehr angemessen mit der Kategorie der internationalen Organisation erfassen lässt“.699 Vielmehr ist der Begriff der Internationalen Organisation insoweit offen.

_____ 692 Vgl Niedobitek Germany No 2, 19. 693 Nachweise zur Gegenmeinung bei Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 1 EUV Rn 66. 694 BVerfG, 2 BvE 2, 5/08, BVerfGE 123, 267 (370 f) – Lissabon. 695 EuGH, Gutachten 2/13 – EMRK-Beitritt, Rn 156; vgl ferner Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 57; Vitzthum/Proelß/Klein/Schmahl 4. Abschn Rn 250; Härtel/Härtel Hdb Föderalismus Bd IV S 79; Blanke DÖV 1993, 412 ff. Fassbender AVR 42 (2004), 26 (29 f) schließt das Fehlen der Staatsqualität der Union aus dem Umstand, dass ihr explizit Rechtspersönlichkeit verliehen wurde (bzw durch den VVE verliehen werden sollte). Die in diesem Zusammenhang stets aufkommende Souveränitätsdiskussion hielt bereits HP Ipsen S 1053, für „gemeinschafts- und staatsrechtlich schlechthin uninteressant“ (Hervorhebung im Original). 696 Vgl etwa Vitzthum/Proelß/Kunig 2. Abschn Rn 150; Vitzthum/Proelß/Kau 3. Abschn Rn 4 f. 697 Zum Verhältnis der Begriffe Internationale Organisation und Staatenbund vgl Vitzthum/ Proelß/Klein/Schmahl 4. Abschn Rn 17. 698 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 1 EUV Rn 65. 699 So indes Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 1 EUV Rn 65. Matthias Niedobitek

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Allerdings versuchen Literatur und Verfassungsrechtsprechung, dem spezifi- 180 schen, dem „einzigartigen“700 Charakter der Union begrifflich Rechnung zu tragen. Diesen Begriffsbildungen liegt vielfach offensichtlich die Vorstellung zugrunde, dass zwischen den Polen Staat und Internationale Organisation eine Art Kontinuum unterschiedlich verdichteter Verbände besteht, die bald mehr einer Internationalen Organisation, bald mehr einem Staat ähneln, und dass der Übergang zwischen der einen Organisationsform zur anderen „gleitend“ erfolgen könne.701 Der Wortschöpfungen sind viele,702 angefangen beim „unvollendeten Bundestaat“ (Hallstein703) und dem „Zweckverband funktioneller Integration“ (Ipsen704) über die „parastaatliche Superstruktur“ (Oppermann705), die „Föderation“ (Nettesheim706) oder den „Staatenverbund“ (BVerfG707) bis hin zur verbreiteten Kennzeichnung als Gebilde „sui generis“.708 Solange mit derartigen Begriffsbildungen nicht die „Absicht einer definitorischen Bemühung im engeren wortprägenden Sinne“ verbunden ist,709 bestehen dagegen keine Einwände; allerdings führen diese Begriffe rechtlich gesehen auch nicht weiter. Sie helfen lediglich, mehr schlecht als recht, der allgemeinen Sprachlosigkeit ab, die im Begriff der „Organisation sui generis“ am stärksten hervor tritt.710 Allen Begriffen gemeinsam ist, dass sie es nicht vermögen, die These von einem – gewissermaßen stufenlosen – Verbands-Kontinuum zwischen Staat und Internationaler Organisation zu bestätigen. Beide Ankerbegriffe – Staat und Internationale Organisation – sind klar (genug) definiert und deutlich (genug) voneinander abge-

_____ 700 Relativierend Curtin S 35: “The EU is in any event no longer the only (regional) international organization with such competences: NAFTA, Mercosur, and the WTO can all be placed along a continuum with the EU with regard to the level of integration aimed at, with the EU still in the vanguard”. 701 So Blanke DÖV 1993, 412 (419); ähnlich Kristoferitsch S 332, der die Union „an der Schwelle zum Bundesstaat“ sieht; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 1 EUV Rn 74. 702 Eine Auswahl bietet Kristoferitsch S 323 f. 703 So der Titel der ersten Auflage des Werkes von Hallstein (1969). 704 HP Ipsen S 196 ff. 705 Oppermann FS Hans Peter Ipsen, 1977, S 685 ff. 706 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 1 EUV Rn 61. Dass die Union „föderativen Grundsätzen“ entsprechen muss, verlangt Art 23 I 1 GG. 707 Das BVerfG, 2 BvE 2, 5/08, BVerfGE 123, 267 (348) – Lissabon, gibt in seinem Lissabon-Urteil gewissermaßen eine „Legaldefinition“ des Begriffs Staatenverbund. Danach erfasst der Begriff des Verbundes „eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben“. 708 Vgl nur Härtel/vBogdandy Hdb Föderalismus Bd IV S 38; Härtel/Härtel Hdb Föderalismus Bd IV S 79 ff; Blanke DÖV 1993, 412 (423). 709 Oppermann FS Hans Peter Ipsen, 1977, S 685 (698 f), betont, dass seinen Überlegungen zur „parastaatlichen Superstruktur“ eine solche Absicht fehlt. 710 Aus verschiedenen Gründen ablehnend zur sui generis-These Kristoferitsch S 325. Matthias Niedobitek

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grenzt.711 Es ist bis heute nicht gelungen, zwischen Staat und Internationaler Organisation neue Organisationsformen zu identifizieren, die sich nicht nur inhaltlichgraduell,712 sondern formal-kategorisch von jenen beiden Begriffen absetzen. Es gibt keinen fließenden Übergang zwischen Internationaler Organisation und Staat. Jenseits des Staates gibt es nur die Internationale Organisation (auch in der Form des Staatenbundes), jenseits der Internationalen Organisation gibt es nur den Staat (auch in der Form des Bundesstaates). Dies schließt allerdings nicht aus, Internationale Organisationen, die – wie die Union – über spezifische Merkmale verfügen, besonders zu bezeichnen und von den herkömmlichen Internationalen Organisationen zu unterscheiden. Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass die Union eine Internationa181 le Organisation in der Form einer Supranationalen Organisation ist, die sich zwar durch zahlreiche Merkmale von herkömmlichen Internationalen Organisation unterscheidet, aber nicht eine dritte Kategorie von Völkerrechtssubjekten bildet. Was die Sprachregelung (die Bezeichnung) angeht, ist Oppermann zuzustimmen, wonach die Europäische Gemeinschaft seinerzeit durch den Begriff „Gemeinschaft“ glücklich umschrieben war.713 Dementsprechend ist die Europäische Union am besten als „Union“ zu bezeichnen (was die Verträge auch durchgehend tun). III. Die Institutionen der Union III. Die Institutionen der Union 1. Begriff der Institution – Kategorien von Institutionen 182 Der Begriff der Institution ist den EU-Verträgen nicht fremd, auch wenn in der deutschen Fassung für bestimmte wichtige Institutionen der Begriff „Organ“ verwendet wird. Gem Art 13 I EUV verfügt die Union über einen „institutionellen Rahmen“,714 in den die sodann aufgezählten Organe eingebettet sind. Die Präambel des EUV spricht gar noch, wie vor Lissabon Art 3 I EUV, von „einem einheitlichen institutionellen Rahmen“.715 Der Sechste Teil des AEUV fasst „Institutionelle Bestimmungen“ und Finanzvorschriften zusammen. Dieser Teil umfasst nicht nur Bestimmungen über die Organe, sondern auch über die beratenden Einrichtungen der Union. Dies alles bestätigt, dass der Begriff der Institution in einem weiten Sinn zu ver-

_____ 711 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 1 EUV Rn 67, meint allerdings, der Staatsbegriff sei unscharf. 712 So, wenn Grabitz Gemeinschaftsrecht S 21 ff anhand der seinerzeit vorliegenden Literatur erörtert, ob die Gemeinschaften „bundesstaatsähnliche Gebilde“ seien. 713 Oppermann FS Hans Peter Ipsen, 1977, S 685 (699). 714 Hierzu näher Blanke/Mangiameli/Chevallier-Govers Art 13 TEU Rn 6 ff. 715 Vgl den 7. Erwägungsgrund; Hervorhebung hinzugefügt. Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 107

stehen ist. Als Institution ist daher jede Substruktur der Union zu verstehen, die es ihr ermöglicht, ihre Zuständigkeiten auszuüben. Einen detaillierten Überblick über alle EU-Institutionen, deren Strukturen und ggw Amtsinhaber bietet das „Amtliche Verzeichnis der Europäischen Union“.716 Die Union verfügt über Institutionen, die (a) unmittelbar durch die Verträge 183 errichtet wurden, (b) in ihnen ausdrücklich vorgesehen bzw vorausgesetzt sind oder (c) im Wege primärrechtlich nicht vorgezeichneter Rechtsakte geschaffen wurden.717 Im weitesten Sinn können natürlich auch alle Stellen der Mitgliedstaaten, die, im Wege eines „dédoublement fonctionnel“,718 mit der Anwendung oder Durchführung von Unionsrecht befasst sind, als „Unionsinstitutionen“ bezeichnet werden, allerdings wird hier ein engerer Begriff zugrunde gelegt. Zur ersten Gruppe, den durch die Verträge errichteten Institutionen, zählen zunächst die in Art 13 I EUV aufgelisteten Organe der Union, ferner bspw der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik (Art 18 EUV), der Europäische Auswärtige Dienst (Art 27 III EUV) 719 und das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (Art 38 EUV), das ESZB (Art 127 ff, 282 AEUV),720 des Weiteren die beratenden Einrichtungen WSA und AdR (Art 13 IV EUV; Art 300–307 AEUV), der Europäische Bürgerbeauftragte (Art 228 AEUV), die Europäische Investitionsbank (Art 308 f AEUV), der Ausschuss gem Art 71 AEUV, der Ausschuss der Ständigen Vertreter (Art 16 VII EUV; Art 240 AEUV), der Wirtschafts- und Finanzausschuss (Art 134 AEUV), der Europäische Sozialfonds (Art 162–164 AEUV), der Sonderausschuss gem Art 207 AEUV und die – nur schwach institutionalisierte – Euro-Gruppe (Art 137 AEUV iVm dem Protokoll [Nr 14] betreffend die Euro-Gruppe). Zur zweiten Gruppe, den in den Verträgen vorgesehenen bzw vorausgesetzten Institutionen, zählen bspw die GASP-Sonderbeauftragten (Art 33 EUV), die Europäische Verteidigungsagentur

_____ 716 Das Verzeichnis ist online einsehbar und recherchierbar unter https://publications.europa.eu/ de/web/who-is-who sowie dort auch als PDF verfügbar. 717 Für einen Überblick über mögliche Kategorisierungen der EU-Institutionen vgl Blanke/Mangiameli/Chevallier-Govers Art 13 TEU Rn 9. 718 Vgl Ophüls NJW 1963, 1697 (1699). 719 Der EAD wird durch Art 27 III EUV errichtet. Der dort vorgesehene Beschluss des Rates regelt lediglich die Organisation und Arbeitsweise des EAD. Dies bestätigt der erste Erwägungsgrund des EAD-Beschlusses 2010/427 (ABl 2010 L 201/30), wobei die deutsche Fassung insoweit nicht ganz eindeutig ist („… Einrichtung der Union, die nach Artikel 27 Absatz 3 des Vertrags über die Europäische Union […] in der durch den Vertrag von Lissabon geänderten Fassung errichtet wird“); deutlicher sind andere Sprachfassungen, etwa die englische („… body of the Union […] set up by Article 27(3) of the Treaty on European Union“). 720 Hierzu bemerkt Schwarze/Hatje Art 13 EUV Rn 20 richtig, im ESZB bildeten „erstmalig eine europäische Behörde (EZB) und nationale Behörden (Zentralbanken der Mitgliedstaaten) eine hierarchisch organisierte Einheit“. Matthias Niedobitek

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(Art 42 III UAbs 2, 45 EUV),721 Eurojust (Art 85 AEUV),722 Europol (Art 88 AEUV),723 der Beschäftigungsausschuss (Art 150 AEUV), der Ausschuss für Sozialschutz (Art 160 AEUV), der Kohäsionsfonds (Art 177 II AEUV) oder Sonderausschüsse gem Art 218 IV AEUV. Zur dritten Gruppe, den sekundärrechtlich geschaffenen Institutionen, zählen insb die zahlreichen Agenturen der Union (hierzu vgl Rn 344 ff), aber auch diverse interinstitutionelle Einrichtungen (etwa das Amt für Veröffentlichungen724 oder das Amt für Personalauswahl725), ganz zu schweigen von den zahlreichen durch die Organe eingerichteten Expertengruppen, Ausschüssen und sonstigen Arbeitsgruppen.726 Der vorstehende Überblick727 gibt nur einen recht oberflächlichen Eindruck von 184 der Vielfalt des institutionellen Systems der Union, das, nicht weniger als der Unionshaushalt, die Kompetenzfülle der Union und die damit verbundenen institutionellen Anforderungen und Bedürfnisse widerspiegelt. Bei aller notwendigen Differenzierung des institutionellen Systems können aber 185 primärrechtlich zwei Gruppen von Instititutionen kategorisch unterschieden werden: die Organe und die sonstigen Institutionen.728 Die Verträge sprechen grundsätzlich nur bestimmte Institutionen der Union als „Organe“ an 729 (Ausnahme:

_____ 721 Die Verteidigungsagentur war bereits 2004 geschaffen worden; vgl Gemeinsame Aktion 2004/551, ABl 2004 L 245/17; die Gemeinsame Aktion wurde ersetzt durch Beschluss 2011/411/GASP, ABl 2011 L 183/16. Durch Beschluss (GASP) 2015/1835, ABl 2015 L 266/55, wurde die Verteidigungsagentur auf eine neue Rechtsgrundlage gestellt. 722 Art 85 AEUV knüpft – ähnlich wie Art 42 III UAbs 2 EUV betr die Verteidigungsagentur – an die bereits vor Lissabon geschaffene PJZS-Agentur an; hier vgl Streinz/Dannecker Art 85 AEUV Rn 1. 723 Hier gelten die Ausführungen zu Eurojust (ebd) analog. 724 Beschluss 2009/496, ABl 2009 L 168/41 (mit späterer Änderung). 725 Beschluss 2002/620, ABl 2002 L 197/53. 726 Eine aktuelle Zusammenstellung der Vorbereitungsgremien des Rates findet sich in Rats-Dok 5312/14. Über die im Rahmen der „Komitologie“ geschaffenen Ausschüsse gibt Dok COM(2018) 675 Auskunft; einzelne Ausschüsse können über ein „Comitology Register“ recherchiert werden (http://ec.europa.eu/trans parency/regcomitology/). Auch die Expertengruppen sind über ein Register recherchierbar (http://ec.europa. eu/transparency/regexpert/). Hierzu näher Dankowski passim. 727 Vgl auch den Überblick über die „Verwaltungsstruktur der Europäischen Union“ in den „Interinstitutionellen Regeln für Veröffentlichungen“, S 140 ff (Zugänglich auf der Website des Amts fürVeröffentlichungen, http://publications.europa.eu). 728 Demgegenüber scheint Blanke/Mangiameli/Chevallier-Govers Art 13 TEU Rn 3 die Begriffe „Organ“ und „Institution“ randscharf voneinander abgrenzen zu wollen. 729 So auch EuGH, Rs 828/79 – Adam / Kommission, Rn 26: „Was das Vorbringen des Klägers angeht, der Wirtschafts- und Sozialausschuß sowie der Rechnungshof seien Organe im Sinne des Artikels 24 Fusionsvertrag, deren vorherige Anhörung für den Erlaß einer Verordnung zur Änderung des Beamtenstatuts unabdingbar sei, ist darauf hinzuweisen, daß in den Verträgen zur Gründung Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 109

Art 340 II AEUV730); die Auffassung, wonach der Organbegriff „ungeachtet der Vorschrift des Art. 13 in jeder Vertragsbestimmung gesondert ausgelegt werden“ muss,731 geht zu weit. Wäre das richtig, dann wäre es kaum noch sinnvoll, von einem numerus clausus der Organe zu sprechen.732 Allerdings statuiert Art 13 I EUV tatsächlich einen solchen numerus clausus der „Organe“. Unmissverständlich heißt es dort (mit bestimmtem Artikel): „Die Organe der Union sind …“.733 Art 13 I EUV begründet damit zwar keine Legaldefinition im strengen Sinn,734 jedoch enthält er eine abschließende Aufzählung der „Organe“ der Union. Auch im Übrigen unterscheiden die Verträge grundsätzlich zwischen Organen und anderen Einrichtungen. So bezieht sich Art 9 EUV auf die „Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union“. Durch einen Vergleich mit anderen Sprachfassungen darf man sich nicht verwirren lassen: Art 9 EUV spricht in der englischen Fassung von „institutions, bodies, offices and agencies“, die französische Fassung von „institutions, organes et organismes“,735 wobei hier der Begriff „organe“ offensichtlich für den englischen Begriff „body“ steht, bei dem es sich um einen „secondary level of organisational structure“ handeln soll.736 Viel ist damit nicht gewonnen, abgesehen von der Erkenntnis, dass sich der in der deutschen Fassung der Verträge verwendete Begriff „Organ“ und der in anderen Fassungen verwendete Begriff „institution“ (oä) entsprechen. Das sekundäre Unionsrecht kann eine abweichende Begriffsbildung vorsehen.737 Dass die Unterscheidung zwischen „Organen“ und „sonstigen Institutionen“ 186 kategorischer Art ist (Rn 185), wird vielfach bestritten. Unter Hinweis auf andere Sprachfassungen, die den Begriff „institution“ (oä) verwenden, und die unklare Po-

_____ der Gemeinschaften festgelegt ist, welches die Organe der drei Gemeinschaften sind. Der Wirtschafts- und Sozialausschuß sowie der Rechnungshof gehören nicht zu diesen Organen. Daraus folgt, daß die Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses und des Rechnungshofes nicht obligatorisch war.“ 730 Vgl Streinz/Gellermann Art 340 AEUV Rn 12. 731 So Lenz/Borchardt/Lenski Art 13 EUV Rn 3; ihm folgend Streinz/Streinz Art 13 EUV Rn 3; Frenz Hdb 6 Rn 452. 732 So Streinz/Streinz Art 13 EUV Rn 5; idS auch Lenz/Borchardt/Lenski Art 13 EUV Rn 2. 733 Ebenso die englische Fassung: „The Union’s institutions shall be …“ oder die französische Fassung: „Les institutions de l‘Union sont …“. 734 So jedoch Streinz/Streinz Art 13 EUV Rn 3, 5. 735 Ähnlich andere romanische Sprachen. 736 So Blanke/Mangiameli/Burr Art 55 TEU Rn 100 aE. 737 So definiert Art 2 Ziff 67 der Haushaltsordnung (VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1) als „Unionsorgan“ nicht nur das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, die Europäische Kommission, den Gerichtshof der Europäischen Union und den Rechnungshof, sondern darüber hinaus den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen, den Europäischen Bürgerbeauftragten, den Europäischen Datenschutzbeauftragten und den Europäischen Auswärtigen Dienst; demgegenüber gilt die Europäische Zentralbank für die Zwecke der Haushaltsordnung nicht als Organ der Union. Matthias Niedobitek

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sition der EZB wird behauptet, in der deutschen Fassung des EUV werde der Organbegriff „untechnisch“ verwendet.738 Die Frage allerdings, wie es sein kann, dass die Verträge in Art 13 EUV den Organbegriff (angeblich) untechnisch (dh wohl weit) verwenden, andererseits aber einen numerus clausus statuieren (vgl Rn 185), bleibt unbeantwortet. Auch wird das „technische“ am Organbegriff nicht erläutert. Schließlich wird dann doch ein „technischer“ Organbegriff zugrunde gelegt.739 Damit ist es unausweichlich, das „Technische“ des Organbegriffs darzulegen und zu begründen, weshalb die in Art 13 EUV aufgelisteten Organe in einem technischen Sinn „Organe“ der Union sind. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Union als Rechtsperson selbst 187 nicht ohne weiteres rechtlich handlungsfähig ist (Rn 122). Sie ist letztlich auf (gemäß deutscher Rechtstradition als „Organwalter“ bezeichnete740) natürliche Personen angewiesen, die ihrerseits für Untergliederungen der juristischen Personen, die Organe, tätig werden.741 Man mag diesen Organbegriff für „technisch“ halten, letztlich ist er apriorisch. Die Unionsverträge kommen auch in anderen Sprachfassungen nicht umhin, diejenigen Stellen zu bezeichnen, die für die Union und nicht nur für sich selbst handeln. Dass diese Stellen in anderen Sprachfassungen mit dem schillernden – uU auch weit zu verstehenden – Begriff „institution“ bezeichnet werden, ändert nichts an ihrem für die Rechtspersönlichkeit der Union „technischen“ Charakter. Vielmehr wird hier der Begriff „institution“, dem deutschen Organbegriff vergleichbar, auch in einem technischen Sinn verwendet.742 Damit ergibt sich grundsätzlich, dass die in Art 13 EUV genannten Organe tatsächlich Organe im „technischen“ Sinn sind,743 weil es ihnen obliegt, die Union rechtlich handlungsfähig zu machen.744 Wenn neben den in Art 13 I EUV genannten „Organen“ noch

_____ 738 Ein wichiger Vertreter dieser Behauptung ist Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 13 EUV Rn 7, 8, dem zahlreiche Autoren folgen, etwa Streinz/Streinz Art 13 EUV Rn 3; Grabitz/Hilf/ Nettesheim/Palm Art 282 AEUV Rn 37; Blanke/Mangiameli/Chevallier-Govers Art 13 TEU Rn 3; Blanke/Mangiameli/Burr Art 55 TEU Rn 100. Auch bspw Häde EuR 2009, 200 (211) geht offenbar von einem untechnischen Organbegriff aus, wenn er die EZB (vor Lissabon) als Organ der EG einordnet. 739 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 13 EUV Rn 5: Die Entscheidungen der in Art 13 EUV aufgeführten Organe würden „dem Verband zugerechnet“. 740 Vgl HJ Wolff, Vertretung S 230 ff; ders Staatsperson S 190. 741 Eingehend Schröder S 238 ff. 742 Zur Begriffsgeschichte s Hilf S 14. 743 So auch – noch für die ursprünglichen Gemeinschaften – Hilf S 14 f. Indem Grabitz/ Hilf/Nettesheim/Dörr Art 47 EUV Rn 8 feststellt, die durch Art 13 I EUV behauptete Organstellung der EZB sei „eine schlichte falsa demonstratio“, geht auch er von einem technischen Verständnis des Organbegriffs in Art 13 I EUV aus. 744 So auch Oppermann/Classen/Nettesheim § 5 Rn 3 im Hinblick auf alle Organe (somit unter Einschluss der EZB). Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 111

andere Institutionen Organfunktion haben745 – insoweit mag man die Organe gem Art 13 EUV als „Hauptorgane“, die sonstigen organschaftlich handelnden Einrichtungen als „Nebenorgane“ bezeichnen746 –, so ändert das nichts am technischen Charakter des in Art 13 I EUV verwendeten Organbegriffs.747 Verbleibende Zweifel am „technischen“ Charakter des in Art 13 I EUV verwende- 188 ten Organbegriffs weckt jedoch die eigentümliche Stellung der EZB, die seit Lissabon sowohl Organ als auch (wie schon vorher) selbst Rechtsperson ist (vgl Art 282 III 1 AEUV), mithin einen dualen Charakter aufweist. Nach herkömmlicher Doktrin zeichnen sich Organe jedoch typischerweise gerade dadurch aus, dass sie selbst nicht über Rechtspersönlichkeit verfügen,748 sondern der Rechtsperson, der sie zugeordnet sind, im wahrsten Sinn des Wortes „selbstlos“ dienen (was nicht ausschließt, dass sie im Binnenbereich der Organisation über eine partielle Rechtsfähigkeit verfügen; vgl hierzu Rn 216). Die EZB, so wird gesagt, sei indes in Wahrheit kein Organ, sondern ein „Glied“, da sie selbst über Rechtspersönlichkeit verfüge,749 da somit die EZB insoweit selbst bereits Zurechnungsendpunkt sei, weshalb der Organbegriff in Art 13 I EUV untechnisch zu verstehen sei. Bevor aber vorschnell Zuflucht zu einem untechnischen Organbegriff ge- 189 sucht wird, ist zu prüfen, ob und ggf wie ein – hier befürworteter – technischer Organbegriff mit der speziellen Rechtsstellung der EZB in Einklang zu bringen ist. Denn es ist im Ausgangspunkt nicht zu bestreiten, dass die Union als juristische Person durchaus Organe im technischen Sinne braucht, um rechtlich handlungsfähig zu sein. Hinsichtlich des dualen Charakters der Rechtstellung der EZB (Rn 188) ist zunächst festzustellen, dass sich Organstellung und Rechtspersönlichkeit grund-

_____ 745 Darauf weist Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 13 EUV Rn 8 hin, um seine Annahme eines untechnischen Organbegriffs zu stützen. 746 So bspw Hilf S 14, 17; HP Ipsen S 316. Kritisch zu einer solchen Begriffsbildung Frenz Hdb 6 Rn 452. 747 Ebenso Hilf S 14 f. Demgegenüber möchte Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 13 EUV Rn 7 einen Gegenschluss ziehen, wonach bei einem technischen Organbegriff andere als in Art 13 I EUV genannte Institutionen nicht für die Union rechtlich handeln können dürften, was jedoch nicht der Fall sei; ihm folgend etwa Grabitz/Hilf/Nettesheim/Palm Art 282 AEUV Rn 37. Ein solcher Gegenschluss ist allerdings nicht angezeigt, geschweige denn zwingend. 748 Vgl EuGH, Rs C-137/10 – Région de Bruxelles-Capitale, Rn 18, der im Hinblick auf die EG feststellt, dass „nur die Gemeinschaften und nicht ihre Organe Rechtspersönlichkeit als juristische Personen des öffentlichen Rechts besaßen“. Dies gelte „gemäß Art 47 EUV auch jetzt in Bezug auf die Union“ (wobei sich der EuGH sich hier nicht zur Sonderrolle der EZB äußert). Aus der Literatur vgl Streinz/Kempen Art 282 AEUV Rn 7; Streinz/Ohler/Herrmann S 84; zu weit gehend Grabitz/Hilf/ Nettesheim/Dörr Art 47 EUV Rn 8, wonach die eigene Rechtsfähigkeit der EZB „eine Organstellung ausschließt“. 749 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 13 EUV Rn 7. Oppermann/Classen/Nettesheim § 5 Rn 3 unterschlagen die EZB bei der Aufzählung der Organe und bezeichnen sie später (§ 19 Rn 15) ebenfalls als „Glied“. Matthias Niedobitek

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sätzlich nicht gegenseitig ausschließen.750 Eine juristische Person kann somit Organfunktion für eine andere juristische Person übernehmen. Insoweit tritt zu ihrer Befähigung, selbst Zurechnungsendpunkt von Rechten und Pflichten zu sein, ihre gleichsam dienende Eigenschaft als Organ einer anderen juristischen Person hinzu. Die mögliche Organstellung einer juristischen Person (Rn 189) hat, hier ge190 münzt auf die EZB, durchaus technischen Charakter, dh die Rechtshandlungen der EZB gelten grundsätzlich als Rechtshandlungen der Union. Es kann allerdings sein, dass die Eigenschaft als Rechtspersönlichkeit die Organstellung überlagert. So bestimmt Art 340 III AEUV, dass für die durch die EZB verursachten Schäden nicht die Union selbst, sondern die EZB selbst einzustehen hat. Damit weicht Art 340 III AEUV ausdrücklich zugunsten der EZB von der in Abs 2 allgemein statuierten Regel ab, wonach die Union für derartige Schäden einzustehen hat.751 Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass die Handlungen der EZB (schadensstiftend oder nicht) grundsätzlich (vorbehaltlich von Regelungen wie Art 340 III AEUV) der Union zuzurechnen sind. Dies ist die Konsequenz aus der Verleihung der Organstellung an die EZB und bestätigt zugleich den technischen Charakter dieser Organstellung.752 Letztlich verfolgt Art 340 III AEUV offensichtlich den Zweck, die unterschiedlichen Eigenschaften der EZB – als Organ der Union und als Rechtspersönlichkeit – auszutarieren. Im Ergebnis wird in Art 340 III AEUV die Organstellung der EZB zugunsten ihrer Rechtspersönlichkeit zurückgestellt, um ihre Unabhängigkeit und Eigenverantwortlichkeit zu sichern.753 Keine Rolle spielt die Rechtspersönlichkeit der EZB indessen innerhalb der Unionsrechtsordnung, dh im Interorganverhältnis sowie im hoheitlichen Verhältnis zu den EU-Mitgliedstaaten und den sonstigen Rechtssubjekten des Unionsrechts (vgl Rn 260).754 Wiederum anderes gilt für die Tätigkeit der EZB auf der Grundlage der innerstaatlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten sowie im völkerrechtlichen Verkehr:755 Hier tritt die EZB nicht als Unionsorgan, sondern als Rechtspersönlichkeit auf (vgl Rn 258, 259).

_____ 750 Zutreffend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Palm Art 282 AEUV Rn 37 unter Hinweis auf die Relativität der Rechtssubjektivität; ferner Häde EuR 2009, 200 (211). 751 Diese Regelung weicht von der vor Lissabon geltenden ab, wonach die Gemeinschaft auch für den durch die EZB und ihre Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden aufzukommen hatte (vgl ex-Art 288 III EGV). 752 Eine Erweiterung des Organbegriffs in Art 340 II AEUV (bzw ex-Art 288 II EGV) hat der EuGH damit begründet, dass die betreffende Stelle (vorliegend die EIB) „berechtigt ist, im Namen und für Rechnung der Gmeinschaft zu handeln“ (vgl EuGH, Rs C-370/89 – SGEEM und Etroy / EIB, Rn 15). Mithin erfüllte die EIB in diesem Fall aufgrund der Bestimmungen eines Internen Abkommens der Mitgliedstaaten eine Organfunktion für die EG. 753 Zum Aspekt der fortbestehenden Unabhängigkeit der EZB vgl etwa Blanke/Mangiameli/ Chevallier-Govers Art 13 TEU Rn 63. 754 Überzeugend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Palm Art 282 AEUV Rn 42 ff. 755 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Palm Art 282 AEUV Rn 45 f. Matthias Niedobitek

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2. Entwicklung des institutionellen Gefüges Das den europäischen Integrationsprozess umsetzende institutionelle Gefüge hat 191 sich gemäß dessen Fortschritten entwickelt. Stets strebte es nach Vereinheitlichung, um dem rechtlichen Zusammenhang der Integrationsverträge756 – der durch diese konstituierten einheitlichen Rechtsordnung757 – Rechnung zu tragen. Eine rechtliche Einheitsbildung konnte jedoch erst durch den Vertrag von Lissabon vollendet werden, der, mit der Rechtspersönlichkeit der Union, der schon vorher vereinheitlichten institutionellen Struktur eine rechtliche Heimstatt gab. Zunächst existierte jedoch nur eine Gemeinschaft, die EGKS,758 mit vier Organen 192 (Art 7 EGKSV), nämlich der Hohen Behörde, der Gemeinsamen Versammlung, dem Besonderen Ministerrat und dem Gerichtshof, und einem bei der Hohen Behörde gebildeten, dem späteren WSA von EG und EAG ähnelnden, Beratenden Ausschuss (Art 18 EGKSV). Mit dem Hinzutreten der EWG759 und der EAG760 ergab sich jedoch bereits das Bedürfnis, „die Zahl der Organe zu beschränken, die […] ähnliche Aufgaben zu erfüllen haben“,761 so dass durch das Abkommen über gemeinsame Organe der europäischen Gemeinschaften (Fusionsvertrag 1957) uno actu mit Inkrafttreten von EWGV und EAGV762 die Versammlungen und die Gerichtshöfe sowie die beiden Wirtschafts- und Sozialausschüsse von EWG und EAG „fusioniert“763 wurden. Die Hohe Behörde/Kommissionen und die Räte der Gemeinschaften blieben 193 einstweilen selbständig.764 Dies änderte sich mit Inkrafttreten des Vertrags zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der europäischen Gemeinschaften (Fusionsvertrag 1965).765 In der Präambel dieses Vertrags zeigten sich die Vertragsparteien entschlossen, „die drei Gemeinschaften zu vereinheitlichen“.766 In Art 32 Fusionsvertrag 1965 wurde gar – im Zusammen-

_____ 756 Bereits in den verb Rs 27/59 und 39/59 – Campolongo, Slg 1960, 849, hat der EuGH die Existenz einer „funktionellen Einheit“ der seinerzeit drei Gemeinschaften festgestellt. Hierzu vgl auch GA Bot, Rs C-352/09 P – ThyssenKrupp Nirosta / Kommission, Nr 80. 757 In seinem Gutachten 1/91 – EWR I, Rn 21, hat der EuGH „die Gemeinschaftsverträge [als] eine neue Rechtsordnung“ bezeichnet. 758 EGKS-Vertrag v 18. April 1951, BGBl 1952 II 447. 759 EWG-Vertrag v 25. März 1957, BGBl 1957 II 766. 760 EAG-Vertrag v 25. März 1957, BGBl 1957 II 1014. 761 Präambel des Abkommens über gemeinsame Organe der europäischen Gemeinschaften v 25. März 1957 (Fusionsvertrag 1957), BGBl 1957 II 1156. 762 Vgl Art 7 II Fusionsvertrag 1957, ebd. 763 Der Begriff btw das Bild der Fusion mag für das Ergebnis zutreffen, trifft jedoch den rechtlichen Vorgang nur ungenau: Es geht um die Ersetzung der durch die Verträge geschaffenen Organe durch neu geschaffene einheitliche Organe. Näher Niedobitek FS Heinrich Siedentopf, 2008, S 90. 764 Eine zeitgenössische Übersicht über das institutionelle System der drei Gemeinschaften findet sich bei Ophüls NJW 1963, 1697 (1698). 765 BGBl 1965 II 1454. 766 Ebd, 5. Erwägungsgrund der Präambel. Matthias Niedobitek

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hang mit der Anzahl der Mitglieder der ersten fusionierten Kommission – auf das „Inkrafttreten des Vertrags zur Gründung einer einzigen Europäischen Gemeinschaft“, das binnen drei Jahren ab Ernennung der Mitglieder der ersten gemeinsamen Kommission erwartet wurde,767 Bezug genommen, ein Projekt, das jedoch bekanntlich nicht realisiert wurde. Mit Inkrafttreten des Fusionsvertrags 1965 war die Zusammenlegung der bis dahin existieren Organe der Gemeinschaften 768 abgeschlossen. Im Zuge der zunehmenden Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten 194 durch Eigenmittel der Gemeinschaften769 hielten die Vertragsstaaten eine Verstärkung der Kontrolle der Ausführung des Haushaltsplans für geboten und ersetzten im sog „2. Haushaltsvertrag“ von 1975770 die bisherigen Kontrollausschüsse durch einen Rechnungshof.771 Im gleichen Atemzug wurden die neuen Rechnungshöfe der drei Gemeinschaften durch eine Änderung des Fusionsvertrags 1965 durch einen gemeinsamen Rechnungshof der Europäischen Gemeinschaften ersetzt (vgl Art 27 des 2. Haushaltsvertrags). Der Status eines Organs wurde dem Rechnungshof allerdings seinerzeit noch nicht verliehen. Die bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon bestehende institutio195 nelle Struktur war durch den Maastrichter Unionsvertrag vorgegeben, der insoweit zu einer erheblichen Verkomplizierung geführt hatte. Nicht nur mussten die fusionierten Organe für die drei Gemeinschaften tätig werden (was ihre ureigene Bestimmung war), sie wurden darüber hinaus auch an die EU – verstanden als die Summe der seinerzeit im Rahmen von GASP und ZBJI bzw PJZS handelnden Mitgliedstaaten – „ausgeliehen“ (sog „Organleihe“).772 Manche waren bzw sind sogar der Meinung, dass die seinerzeit bestehenden Organe der Europäischen Gemeinschaften für die EU als Rechtspersönlichkeit handelten.773 Doch wie auch immer die Rechtsnatur der seinerzeitigen EU zu verstehen war – als Chiffre für die gemeinsam handelnden Mitgliedstaaten oder als partiell rechtsfähige Internationale Organisation –, jedenfalls verfügte die seinerzeitige EU nicht über eigene Organe. Der EUV vor Lissabon enthielt keine ex-Art 7 EGV vergleichbare Auflistung von Organen, sondern nahm in ex-Art 5 EUV lediglich auf die – fusionierten – Organe der

_____ 767 Hierzu HP Ipsen S 160; Niedobitek FS Heinrich Siedentopf, 2008, S 87 f. 768 Der Fusionsvertrag 1965 erstreckte sich darüber hinaus auf die Vereinheitlichung der Finanzvorschriften, die Errichtung einer „einzigen Verwaltung“ der Gemeinschaften und die Schaffung eines für alle drei Gemeinschaften einheitlichen „Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften“. 769 Zur Entwicklung vgl Streinz/Niedobitek Art 311 AEUV Rn 6. 770 BGBl 1975 II 1327. 771 Vgl Streinz/Niedobitek Art 285 AEUV Rn 4. 772 Vgl Pechstein/Koenig Rn 184–192 (allerdings differenzierend zwischen dem Rat und den sonstigen in ex-Art 5 EUV genannten Organen); Niedobitek FS Heinrich Siedentopf, 2008, S 89 ff. 773 Vgl nur Schroeder EuR 2012, Beiheft 2, 9 (16 f). Matthias Niedobitek

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Europäischen Gemeinschaften Bezug.774 Durch den Vertrag von Amsterdam wurden zwar die beiden Fusionsverträge aufgehoben, dies jedoch unter Beibehaltung der wesentlichen Elemente ihrer Bestimmungen (vgl Art 9 I Vertrag von Amsterdam). Die Fusion der Gemeinschaftsorgane wurde somit lediglich auf eine neue Rechtsgrundlage gestellt. Allerdings wurde in ex-Art E des Maastrichter Unionsvertrags (nach Amsterdam ex-Art 5 EUV) bei der Auflistung der an die EU ausgeliehenen Organe der Rechnungshof eingefügt, der bei der Ausarbeitung des Maastrichter Unionsvertrags offensichtlich vergessen worden war.

3. Neue Union, neue Organe Als eine gegenüber den früheren Gemeinschaften und der früheren Union neue 196 Rechtspersönlichkeit (vgl Rn 39 ff) verfügt die Union auch über neue Organe.775 Dies gilt nicht nur für diejenigen Organe, die vor Lissabon keinen Organstatus hatten (Europäischer Rat, EZB), sondern für alle Organe, letztlich für die institutionelle Struktur der Union insgesamt. Die Auflösung der EG hatte zusammen mit der Streichung der EAGV-Bestimmungen über die Euratom-Organe zur Folge, dass die durch Art 9 II Amsterdamer Vertrag fusionierten Gemeinschaftsorgane untergingen; der Amsterdamer Vertrag wurde insoweit obsolet.776 Allerdings haben die Vertragsparteien des Vertrags von Lissabon durch – zT implizite – Übergangsregelungen Vorsorge dafür getroffen, ein institutionelles Vakuum zu vermeiden (sie hätten sogar vereinbaren können, die bisherigen Institutionen der Gemeinschaften dauerhaft auf die neue Union zu übertragen777). Während der Verfassungsvertrag versucht hatte, ein institutionelles Vakuum durch eine detaillierte – und damit transparente – Übergangsregelung zu vermeiden (Art IV-438 VVE),778 beschränkt sich der Vertrag von Lissabon im Wesentlichen auf die Anordnung der Rechtsnachfolge („Gesamt-

_____ 774 Vgl Niedobitek FS Heinrich Siedentopf, 2008, S 89 f. 775 Anders wohl Eilmansberger/Griller/Obwexer/Beaucillon/Erlbacher S 111: „Viertens bestehen die bisherigen Organe der Gemeinschaft weiter“. 776 Art 9 II des Amsterdamer Vertrags bestimmte nämlich ua, dass die durch den EAG-Vertrag den Organen übertragenen Zuständigkeiten durch gemeinsame Organe ausgeübt wurden. An die Stelle der im EAG-Vertragstext bislang vorgesehenen EAG-Organe, die Gegenstand einer Fusion sein konnten, sind jedoch mit dem Vertrag von Lissabon gem Art 106a EAGV die Unionsorgane getreten (vgl Rn 54–56). 777 Deutlich insoweit die „Quintessenz“ der Arbeit von Fischoeder S 186 f: „Die Rechtsfolgen einer Sukzession bei Internationalen Organsationen bestimmen sich nach den Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten“. Jede Einzelheit „wurde […] vorher so vereinbart“. Dass die bisherigen EGInstitutionen tatsächlich auf die Union übertragen worden seien, schließt Streinz/Streinz Art 13 EUV Rn 12 aus der Anordnung der Rechtsnachfolge. Nicht konsistent erscheint diese Auffassung zumindest im Hinblick auf den von Streinz besonders erwähnten Europäischen Rat, dessen Status (ebenso wie der der EZB) durch den Vertrag von Lissabon geändert wurde. 778 Hierzu näher Niedobitek/Ruth/Niedobitek S 154 f. Matthias Niedobitek

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rechtsnachfolge“779) zwischen Union und EG (Art 1 III 3 EUV) und thematisiert die Problematik des institutionellen Übergangs von EG/EAG zur neuen Union lediglich andeutungsweise im Protokoll (Nr 36) über die Übergangsbestimmungen. Danach waren sich die Vertragsstaaten darüber bewusst, dass der „Übergang [...] von den institutionellen Bestimmungen der Verträge, die vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon anwendbar sind, zu den Bestimmungen des genannten Vertrags“ regelungsbedürftig war (1. Erwägungsgrund des Protokolls). Eine ausdrückliche Regelung findet sich jedoch in Art 5 S 1 des genannten Protokolls für die Kommission, in dem ausdrücklich festgestellt wird, dass „[d]ie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon amtierenden Mitglieder der Kommission […] bis zum Ende ihrer Amtszeit im Amt [bleiben]“.780 Ferner bestimmen Art 7 und 8 des Protokolls hinsichtlich WSA und AdR, dass bis zum Inkrafttreten der nach Art 301 bzw 305 AEUV zu fassenden Beschlüsse über die Zusammensetzung der beiden Ausschüsse dessen Mitglieder weiterhin wie in der zuletzt gültigen Fassung des Beitrittsvertrags 2005 auf die Mitgliedstaaten verteilt bleiben. Die genannten Bestimmungen – sowohl diejenige betr die Mitglieder der Kommission als diejenigen betr die Verteilung der Ausschusssitze in WSA und AdR – wären (weil selbstverständlich) entbehrlich gewesen,781 hätte der Vertrag von Lissabon keine neuen Institutionen geschaffen, sondern die bis dahin existierenden fusionierten Gemeinschaftsorgane und -institutionen übernommen. Für eine Schaffung neuer Organe spricht nicht zuletzt auch die umfassende Neuformulierung aller die Organe betreffenden Bestimmungen durch den Vertrag von Lissabon (hierzu vgl Rn 43). Neben diesen expliziten Regelungen lassen die Bestimmungen des Protokolls über die Übergangsbestimmungen auch im Übrigen keinen Zweifel daran, dass der Übergang von den bisherigen Gemeinschaften zur neuen Union von institutioneller Kontinuität begleitet sein sollte (eine Ausnahme betrifft die Ernennung des neuen Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik; vgl Art 5 S 2 des Protokolls). Diese (zT implizite) Regelung bestätigt einen vom EuGH auf das römische Recht zurückverfolgten Grundsatz, wonach (in Ermangelung eines entgegen stehenden Willens) „die Kontinuität der Rechtsstrukturen zu gewährleisten ist“; dieser Grundsatz gelte auch für Änderungen des Primärrechts der Union.782 Somit ist der Vertrag von Lissabon dahin zu verstehen, dass die bisherigen Gemeinschaftsorgane

_____ 779 Vgl Eilmansberger/Griller/Obwexer/Beaucillon/Erlbacher S 110; detailliert Eilmansberger/ Griller/Obwexer/Obwexer S 88. 780 Art 5 S 2 des Protokolls fährt fort: „Am Tag der Ernennung des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik endet jedoch die Amtszeit des Mitglieds, das die gleiche Staatsangehörigkeit wie dieser besitzt“. 781 Wäre es Art 5 des Protokolls nur darum gegangen, die Amtszeit eines Kommissionsmitglieds im Hinblick auf die Ernennung des neuen Hohen Vertreters zu begrenzen (ebd), wäre der erste Satz von Art 5 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen entbehrlich gewesen. 782 EuGH, Rs C-352/09 P – ThyssenKrupp Nirosta, Rn 73. Matthias Niedobitek

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bis zur erstmaligen Besetzung der neuen Unionsorgane einstweilen als Unionsorgane fortexistieren. Alle Organe der Union werden auch für die Euratom tätig783 (hierzu ausf Rn 51 ff). Wer – unter Hinweis auf eine angeblich bereits vor Lissabon bestehende 197 Rechtspersönlichkeit der Union – der heutigen Union keine neue Rechtspersönlichkeit attestiert (Rn 39, 42), wird ebenfalls nicht umhin kommen, die Neuartigkeit der Unionsorgane anzuerkennen. Denn die „alte“ Union verfügte zweifellos nicht über eigene Organe (vgl Rn 195), so dass ihr durch den Vertrag von Lissabon erstmals eigene Organe zugeordnet werden mussten. Diese Tatsache ist allerdings mit der Annahme einer neuen Rechtspersönlichkeit besser zu vereinbaren, als mit der These einer Fortführung einer bereits bestehenden Rechtspersönlichkeit der Union (vgl Rn 42).

4. Interinstitutionelle Beziehungen a) Allgemeines Die Organe der Union verfügen, je für sich, über autonome Entscheidungskompe- 198 tenzen, die ihnen in den Verträgen zugewiesen sind (vgl Art 13 II EUV). Jedes Organ muss daher im Einzelfall eine eigene Entscheidung bezüglich der Art und Weise der vertragsgemäßen Ausübung seiner Kompetenzen treffen. Gleichwohl besteht die letzte Bestimmung der Organe in der Regel nicht darin, autonome Entscheidungen zu treffen, sondern darin, mit den anderen Organen bei der Beschlussfassung der Union zusammenzuwirken.784 Im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art 294 AEUV) bspw fügen sich zahlreiche Einzelentscheidungen der Organe zu einem von den beteiligten Organen gemeinsamen vertretenen und verantworteten Ergebnis zusammen. In seltenen Fällen – wie im Fall der Geschäftsordnungsbefugnis (bspw der KOM gem Art 249 I 1 AEUV) oder im Rahmen der GASP (betr den Europäichen Rat; s Art 26 I UAbs 1 EUV) oder des Wettbewerbsrechts (betr die KOM; s Art 106 III AEUV) – sind die Organe tatsächlich nicht auf die Mitwirkung anderer Organe angewiesen. Andererseits ist ein echtes Zusammenwirken der Organe – über eine bloße Addition autonomer Einzelentscheidungen hinaus – in den Verträgen nur in wenigen Fällen vorgesehen, etwa im Rahmen eines Konvents zur Vertragsänderung (Art 48 III EUV) oder eines Vermittlungsausschusses (Art 294 X, 314 V AEUV).785 Es zeigt sich, dass die Organe – jenseits des spröden Vertragswortlauts,

_____ 783 Das folgt aber nicht bereits aus Art 13 EUV, wie Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 13 EUV Rn 24 meint. 784 Zu Recht kennzeichnet Kietz/Slominski/Maurer/Puntscher Riekmann/vAlemann S 129 das institutionelle System der Union als System, „das auf der Zusammenarbeit mehrerer gleichrangiger Organe beruht“. 785 Zum Vermittlungsausschuss s EuGH Rs C-344/04 – IATA und ELFAA, Rn 49 ff. Matthias Niedobitek

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aber doch in dessen Rahmen – Regelungen und Vereinbarungen für ihr Zusammenwirken treffen müssen. Dies bestätigt seit dem Vertrag von Lissabon Art 295 S 1 AEUV, wonach die drei dort genannten Organe (Parlament, Rat, Kommission) sich beraten und einvernehmlich die Einzelheiten ihrer Zusammenarbeit regeln müssen.786

b) Gleichheit der Organe, Grundsätze ihres Zusammenwirkens 199 Das grundsätzliche Erfordernis eines Zusammenwirkens – eines „Dialogs“787 – der Organe bei der Beschlussfassung der Union setzt ihre rechtliche Gleichrangigkeit bzw Gleichheit voraus.788 Kein Organ ist dem anderen – rechtlich gesehen, nicht unbedingt auch politisch – übergeordnet. Jedes Organ darf gem Art 13 II EUV nur „nach Maßgabe der ihm in den Verträgen zugewiesenen Befugnisse nach den Verfahren, Bedingungen und Zielen, die in den Verträgen festgelegt sind“, handeln. Die Reihenfolge der Organe, wie sie sich aus Art 13 I UAbs 2 EUV ergibt, impliziert keine rechtlich relevante Aussage über die (höhere oder mindere) Wertigkeit des jeweiligen Organs, auch wenn die Einreihung des Europäischen Rates vor dem Rat und der EZB vor dem Rechnungshof nicht ohne politische Bedeutung sein dürfte. Alle Organe sind, als Teile des institutionellen Rahmens der Union, gleichermaßen darauf festgelegt, den „Werten [der Union] Geltung zu verschaffen, ihre Ziele zu verfolgen, ihren Interessen, denen ihrer Bürgerinnen und Bürger und denen der Mitgliedstaaten zu dienen sowie die Kohärenz, Effizienz und Kontinuität ihrer Politik und ihrer Maßnahmen sicherzustellen“ (Art 13 I UAbs 1 EUV). Die Gleichheit der Organe ist nicht zuletzt Voraussetzung für die – in Art 295 AEUV für Parlament, Rat und Kommission allgemein vorgesehene – Möglichkeit der Organe, 789 interinstitutionelle Vereinbarungen zu schließen. Art 13 II 2 EUV bestimmt, dass „[d]ie Organe […] loyal zusammen [arbeiten]“. Die Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit der Organe ist erst seit dem Vertrag von Lissabon in den Verträgen verankert,790 wurde jedoch vom

_____ 786 Zur Praxis der „Triloge“ s nur Giersdorf passim; vAchenbach Der Staat 55 (2016) 1 ff. 787 EuGH, Rs C-65/93 – Parlament / Rat, Rn 23. 788 Zur Gleichrangigkeit der Organe vgl etwa Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 13 EUV Rn 5; Schwarze/Hatje Art 13 EUV Rn 9. 789 Art 295 AEUV schließt nicht aus, dass auch andere Organe und Institutionen interinstitutionelle Vereinbarungen mit bindendem oder ohne bindenden Charakter schließen können. Solche Vereinbarungen sind zT in den Verträgen vorgesehen (vgl Art 287 III UAbs 3 AEUV), sie können sich im Übrigen auf die Organisationsgewalt und den Loyalitätsgrundsatz stützen. Ebenso iErg Grabitz/ Hilf/Nettesheim/Krajewski/Rösslein Art 295 AEUV Rn 14; gegen die Möglichkeit rechtlich bindender institutioneller Vereinbarungen anderer Institutionen als der in Art 295 AEUV genannten Organe Geiger/Khan/Kotzur/Kotzur Art 295 AEUV Rn 2. 790 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 13 EUV Rn 79. Matthias Niedobitek

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EuGH bereits früher entwickelt.791 Allgemein bedeutet diese Pflicht, dass die Organe sich nicht gegenseitig behindern dürfen und auf einander Rücksicht nehmen müssen (sog „Organtreue“).792 Art 295 AEUV ergänzt und konkretisiert diese Pflicht.

c) Institutionelles Gleichgewicht Die rechtlich-institutionelle Gleichheit der Unionsorgane (Rn 199) spiegelt sich letzt- 200 lich auch in dem vom EuGH geprägten Begriff des institutionellen Gleichgewichts.793 Ähnlich seiner – späteren – Verfassungsrhetorik (vgl Rn 11, 132) hatte der EuGH in seiner frühen Rechtsprechung insoweit zunächst eine staatsanaloge Formulierung gewählt, indem er vom „Gleichgewicht der Gewalten“ (balance of powers) sprach, welches die Gemeinschaft (damals die EGKS) kennzeichne.794 Später hat der EuGH dann überwiegend795 den Begriff des institutionellen Gleichgewichts verwendet,796 auch wenn er damit zweifellos stets die unionsrechtliche Variante des Gewaltenteilungsgrundsatzes meinte (wie nicht zuletzt auch die sprachliche Parallele zwischen der englischen Fassung „institutional balance“ und der auf die amerikanische Verfassungsentwicklung zurückgehenden Kennzeichnung des Grundsatzes der Gewaltenteilung als „checks and balances“797 nahe legt). Der verfassungsrhetorische Kreis schließt sich, wenn heute dem Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts „Verfassungsqualität“ attestiert wird,798 auch wenn der Grundsatz nicht durch den Vertrag von Lissabon im Text der EU-Verträge verankert wurde.799 Die Notwendigkeit, ein institutionelles System mit einer Vielzahl von Organen, 201 unter Einschluss eines Gerichtshofs, zu schaffen, in dem sich die verschiedenen Organe gegenseitig kontrollieren, hemmen und mäßigen800 (worin der primäre Sinn von Gewaltenteilung zu sehen ist801), war schon den Urhebern des EGKSVertrags bewusst, ebenso wie diesen seinerzeit auch bewusst war, dass „der noch unentwickelte Zustand der Gemeinschaft“ Abweichungen von einem an einem

_____ 791 Vgl EuGH, Rs C-65/93 – Parlament / Rat, Rn 23; vgl auch Schlussanträge GA Léger, Rs C-317/ 04 – Parlament / Rat, Nr 272. Auf seine frühere Rechtsprechung zur Loyalitätspflicht bezieht sich der EuGH in Rs C-40/10 – Kommission / Rat, Rn 80. 792 Vgl nur Schwarze/Hatje Art 13 EUV Rn 34; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 13 EUV Rn 79; Streinz/Streinz Art 13 EUV Rn 25; Streinz/Gellermann Art 295 AEUV Rn 1. 793 Hierzu etwa Yuratich GLJ 18 (2017) 1, 99 ff. 794 EuGH, Rs 9/56 – Meroni, Slg 1958, 44. 795 Vgl jedoch EuGH, Rs 149/85 – Wybot / Faure, Rn 23: „Gewaltengleichgewicht“. 796 Aus neuester Zeit vgl EuGH, Rs C-244/17 – Kommission / Rat, Rn 24. 797 Hierzu näher vMangoldt/Klein/Starck/Sommermann Art 20 GG Rn 212. 798 So Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 13 EUV Rn 31 aE. 799 Darauf weist etwa Blanke/Mangiameli/Chevallier-Govers Art 13 TEU Rn 39. 800 Für Deutschland vgl nur BVerfG, 2 BvF 2/93, BVerfGE 95, 1 (15) – Südumfahrung Stendal. 801 Zu den Funktionen von Gewaltenteilung ausführlich Goeters S 62 ff und zu analogen Funktionen des Grundsatzes des institutionellen Gleichgewichts ebd S 248 ff. Matthias Niedobitek

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Bundesstaat orientierten Gewaltenteilungsmodell erforderte.802 Neben der Gewährleistung einer wechselseitigen Kontrolle der Organe ging es allerdings zunächst auch, wenn nicht vorrangig, darum, eine Funktionenordnung zu etablieren, die die „effektive Verwirklichung der Verbandsziele“ gewährleisten könnte.803 Es ging also auch um die Schaffung von Organen, die „in Zusammensetzung, Organisation und Kompetenzen auf die besondere Struktur der Union und ihrer Bedürfnisse zugeschnitten“ sind.804 Dem „institutionellen Gleichgewicht“ wurde früher auch eine organinterne 202 Dimension beigemessen, die im Wesentlichen auf den Schutz des Kollegialitätsprinzips gemünzt war,805 jedoch hat sich diese Interpretation, soweit ersichtlich, nicht durchgesetzt. Die Literatur beschränkt den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts vielmehr einhellig auf das Interorganverhältnis. Dafür spricht auch die Rechtsprechung des EuGH, der im Hinblick auf den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts betont hat, „dass dieser Grundsatz nur im Verhältnis zwischen Organen und Einrichtungen der Gemeinschaft Anwendung findet“, um zu begründen, dass die Übertragung von Befugnissen im Personalbereich innerhalb der EZB das institutionelle Gleichgewicht nicht tangiert.806 Ferner hat der Begriff des institutionellen Gleichgewichts auch keine unionsexterne Dimension. Dass der Integrationsprozess von Anfang an „vor allem die Regierungen und Verwaltungen der Mitgliedstaaten“ zu Lasten der nationalen Parlamente stärkte,807 war bis zum Vertrag von Lissabon kein Thema des „institutionellen Gleichgewichts“. Dies änderte sich allerdings durch Art 12 EUV und die Protokolle Nr 1 und 2, durch die die nationalen Parlamente, freilich ohne sie zu Unionsorganen zu machen, „[were] introduced into the body of the TEU as new players in the institutional balance“.808 Allgemein bedeutet der Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts, dass die 203 Organe – in den Worten des EuGH – ihre „Befugnisse unter Beachtung der Befugnisse der anderen Organe“ ausüben müssen.809 In der Literatur wird dem Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts zuweilen eine normative Bedeutung abgesprochen. Der Grundsatz eigne sich „eigentlich nur zur formelartigen Beschreibung der Kompetenz- und Verfahrensordnung“,810 letztlich sei er mit dem organbezogenen

_____ 802 Vgl Ophüls NJW 1951, 289 (290). 803 Hummer/Obwexer/Hummer Vertrag von Lissabon S 46. 804 Treffend Frenz Hdb 6 Rn 363. 805 Vgl Hilf S 312 ff. 806 EuGH, Rs C-301/02 P – Tralli, Rn 46. 807 So zu Recht Abels/Eppler/Große Hüttmann/Knodt S 134. 808 So treffend Blanke/Mangiameli/Chevallier-Govers Art 13 TEU Rn 36. 809 EuGH, Rs C-687/15 – Kommission / Rat, Rn 40; Rs C-73/14 – Rat / Kommission, Rn 61; Rs C133/06 – Parlament / Rat, Rn 57. 810 So Bieber S 102; Bieber/Epiney/Haag/Kotzur § 4 Rn 16; ähnlich Grabitz/Hilf/Nettesheim/ Nettesheim Art 13 EUV Rn 33; Frenz Hdb 6 Rn 379. Matthias Niedobitek

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Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gleichzusetzen.811 Das mag, durchmustert man die EuGH-Rechtsprechung, auch vielfach zutreffend sein. So verwendet der EuGH den Topos „institutionelles Gleichgewicht“ häufig, um auf die jeweils aktuelle vertragliche Zuständigkeitsverteilung Bezug zu nehmen.812 Insoweit erscheint der Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts als ein deskriptives Prinzip, das den jeweiligen Stand der interorganschaftlichen Zuständigkeitsverteilung beschreibt. Losgelöst von den Verträgen lassen sich dem Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts auch fraglos „keine Aussagen über eine richtige horizontale Kompetenzverteilung“ entnehmen.813 Dementsprechend wurde mit jeder Vertragsänderung das „institutionelle Gleichgewicht“ neu justiert, zuletzt durch den Vertrag von Lissabon (Rn 217 ff). Jedoch ist nicht zu verkennen, dass der Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts vom EuGH für Interpretationen der Verträge fruchtbar gemacht worden ist, die über eine bloße Bekräftigung der vertraglichen Zuständigkeitsverteilung hinausgehen – bis hin zur Korrektur des Vertragswortlauts (vgl Rn 204) –, so dass der Grundsatz eindeutig einen normativen Grundzug aufweist.814 Der normative Grundzug des Grundsatzes des institutionellen Gleichgewichts 204 kommt in einigen Entscheidungen des EuGH zum Ausdruck. In der Rechtssache 70/88815 hatte das Europäische Parlament eine Nichtigkeitsklage gegen eine EAGVerordnung erhoben. Zu jenem Zeitpunkt (im Jahr 1988) zählte das Parlament noch nicht zu denjenigen Organen, die eine Nichtigkeitsklage gem ex-Art 177 EWGV (und der entsprechenden Bestimmung des EAGV) erheben konnten. Gleichwohl erweiterte der EuGH unter Hinweis auf das von den Verträgen gewollte institutionelle Gleichgewicht die Klagebefugnis des Parlaments. Ferner hat der EuGH in der Rs C409/13816 den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts fruchtbar gemacht, um die in den EU-Verträgen nicht geregelte Frage zu klären, ob und ggf unter welchen Umständen die Kommission einen von ihr vorgelegten Vorschlag wieder zurückziehen kann. Grundsätzlich befand der EuGH, dass das Initiativrecht die Möglichkeit einschließt, einen Vorschlag „bei Bedarf“ auch wieder zurückzunehmen.817 Diese Rücknahmebefugnis könne – so das EuGH – der Kommission jedoch kein

_____ 811 So Frenz Hdb 6 Rn 372. 812 Vgl etwa EuGH, Rs C-233/02 – Frankreich / Kommission, Rn 40 (Bezugnahme auf „die Zuständigkeitsverteilung und das institutionelle Gleichgewicht, die durch den Vertrag auf dem Gebiet der gemeinsamen Handelspolitik festgelegt worden sind“; Rs C-344/04 – International Air Transport Association and Others, Rn 61 (Bezugnahme auf die „Beteiligung des Parlaments am Gesetzgebungsverfahren der Gemeinschaft nach den im EG-Vertrag vorgesehenen Verfahren“); Hervorhebungen jeweils hinzugefügt. 813 Zutreffend Y Becker et al/Bast S 51 (Hervorhebung im Original). 814 Ebenso Streinz/Streinz Art 13 EUV Rn 23; Calliess/Ruffert/Calliess Art 13 EUV Rn 10. 815 EuGH, Rs 70/88 – Parlament / Rat (Unzulässigkeitseinrede), Rn 21. 816 EuGH, Rs C-409/13 – Rat / Kommission. 817 EuGH, Rs C-409/13 – Rat / Kommission, Rn 74. Matthias Niedobitek

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Vetorecht im Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens verleihen, das gegen die Grundsätze der begrenzten Einzelermächtigung und des institutionellen Gleichgewichts verstoßen würde.818 Ein solcher Verstoß liegt jedoch nicht vor, wenn Rat und Parlament (wie in Rs C-409/13 der Fall) im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens den Kommissionsvorschlag in einer Weise „verfälscht“ haben, dass dem Vorschlag seine Daseinberechtigung genommen worden wäre. Somit hat der EuGH das Vorschlagsrecht der Kommission und die Befugnis des Rates, gem Art 293 I AEUV den Vorschlag einstimmig zu ändern, in einer Weise austariert, die den institutionellen Anliegen beider Organe Rechnung trägt. Schließlich dient der Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts bspw819 auch 205 – und in der Chronologie der einschlägigen EuGH-Entscheidungen zuerst – als Maßstab für die Zulässigkeit der Delegation von Entscheidungsbefugnissen der Organe auf dritte Stellen, etwa Agenturen.820 Zwar ist einzuräumen, dass dieser Maßstab nicht sehr präzise ist, jedoch bietet er weit mehr als die kaum konturierte Feststellung, dass „die hinter der vertraglichen Zuordnung stehenden Effektivitätsund Legitimitätserwägungen nicht zur freien politischen Disposition stehen dürfen“.821

d) Formalisierung interinstitutioneller Beziehungen 206 Die Integrationsverträge haben den Organen seit jeher ungezählte Anlässe für ein Zusammenwirken gegeben. Das ist nicht überraschend, verwirklicht sich doch der Vertragszweck va in sich ergänzenden bzw aufeinander bezogenen Handlungen der Organe (vgl Rn 198). Die Notwendigkeit eines interorganschaftlichen Zusammenwirkens hat stets auch Ausdruck im Primärrecht gefunden. Der ursprüngliche EWG-Vertrag enthielt zwar noch kein typisiertes Rechtsetzungsverfahren, vergleichbar dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art 294 AEUV), das das Zusammenspiel der Organe allgemein regelte,822 vielmehr legte er das anzuwendende Verfahren in den einzelnen Ermächtigungsnormen fest. Zudem verpflichtete er Rat und Kom-

_____ 818 EuGH, Rs C-409/13 – Rat / Kommission, Rn 75. 819 Auch die Stärkung des Anhörungsrechts des Europäischen Parlaments in der Rs 138/79 – Roquette Frères / Rat, Rn 33, ist Ausdruck des normativen Charakters des Grundsatzes des institutionellen Gleichgewichts. 820 Hierzu vgl va Calliess/Ruffert/Calliess Art 13 EUV Rn 47 ff; ferner bereit Hilf S 316 ff. Ausgangspunkt der EuGH-Rechtsprechung ist Rs 9/56 – Meroni; hierzu vgl auch Schermers/Blokker § 226. Auf diese Rechtsprechung bezieht sich der EuGH noch heute, um die Übertragung von Entscheidungsbefugnissen zu rechtfertigen und deren Grenzen aufzuzeigen; vgl etwa Rs C-147/13 – Spanien / Rat, Rn 56 ff; verb Rs C-154/04 und C-155/04 – Alliance for Natural Health ua, Rn 90; Rs C-301/02 P – Tralli, Rn 41. 821 So jedoch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 13 EUV Rn 31. 822 Näher Becker/Lippert/Niedobitek Rechtsakte Abschn 3.1.1. Matthias Niedobitek

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mission bereits in Art 162 I, einander zu Rate zu ziehen und einvernehmlich die Art und Weise ihrer Zusammenarbeit zu regeln (heute vgl Art 295 S 1 AEUV). Im Zuge der Fortentwicklung des Integrationsprozesses – nicht zuletzt infolge des zunehmenden Einflusses des Europäischen Parlaments im Haushalts- und im Rechtsetzungsverfahren (beginnend mit dem ersten Haushaltsvertrag von 1970823 bzw der EEA von 1986) – ergaben sich komplexere, meist trilaterale Abstimmungserfordernisse,824 die sich va im Abschluss interinstitutioneller Vereinbarungen niederschlugen. Interinstitutionelle Vereinbarungen sind kein neues Phänomen, auch 207 wenn sich in der Frühphase des europäischen Integrationsprozesses nur wenige interinstitutionelle Vereinbarungen nachweisen lassen und von diesem Instrument erst mit Voranschreiten des Integrationsprozesses zunehmend Gebrauch gemacht wurde.825 Da der Begriff der interinstitutionellen Vereinbarung nicht definiert ist (auch nicht in Art 17 I 7 EUV, Art 295 S 2 AEUV), besteht Unsicherheit über dessen Abgrenzung. Einigkeit besteht jedoch insoweit, dass sich die Bezeichung als „interinstitutionelle Vereinbarung“ erst in neuerer Zeit etabliert hat und für die Beschreibung des Phänomens selbst nicht hinreichend ist. Vielmehr existiert eine große Vielfalt der Bezeichnungen.826 Auf der anderen Seite sind interinstitutionelle Vereinbarungen von Rechtsakten abzugrenzen, die in einem vertraglich geregelten Verfahren zustandekommen. In einem weitesten Sinn könnten nämlich alle vertraglich geregelten Rechtsetzungsverfahren als Ausdruck einer interinstitutionellen Vereinbarung der beteiligten Organe angesehen werden,827 wodurch der Begriff jedoch seiner (ohnehin schwachen) Konturen beraubt würde. So bildet Art 226 III AEUV heute nicht mehr eine Rechtsgrundlage für interinstitutionelle Vereinbarungen,828 sondern für Verordnungen, die gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren zu erlassen sind, während die Vorläuferbestimmung des ex-Art 193 III EGV – mit dem Hinweis auf ein gegenseitiges Einvernehmen von Parlament, Rat und Kommission – als Rechtsgrundlage für eine interinstitutionelle Vereinbarung gedeutet werden konnte.829 Die bis heute geschlossenen interinstitutionellen Vereinbarungen weisen nicht 208 nur nach ihrer Bezeichung (Rn 207), sondern auch unter gegenständlich-inhalt-

_____ 823 Hierzu vgl Streinz/Niedobitek Art 314 AEUV Rn 17 f. 824 Zum heutigen Phänomen von „Verhandlungen“ im EU-Gesetzgebungsverfahren vgl Brandt/ Schiffauer passim; Bultena, Essays in Honour of Jaap W de Zwaan, 2016, S 93 ff. 825 Vgl die Erhebung von Kietz/Slominski/Maurer/Puntscher Riekmann/Hummer S 62 ff. 826 Vgl Kietz/Slominski/Maurer/Puntscher Riekmann/Hummer S 67 f; Härtel 302 f. 827 Zu weitgehend Kietz/Slominski/Maurer/Puntscher Riekmann/Hummer S 80 ff, der bspw exArt 195 IV EGV als Rechtsgrundlage für eine interinstitutionelle Vereinbarung ansieht, obwohl hier ein spezielles Rechtsetzungsverfahren geregelt ist. Zu Recht kritisch Kietz/Slominski/Maurer/ Puntscher Riekmann/vAlemann S 128 f. 828 Zur früheren Rechtslage vgl Streinz/Huber EUV/EGV Art 193 EGV Rn 18. 829 Calliess/Ruffert/Kluth Art 227 AEUV Rn 1. Matthias Niedobitek

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lichem Blickwinkel eine große Bandbreite auf, die der Vielfalt der interinstitutionellen Abstimmungsnotwendigkeiten entspricht.830 Drei wichtige Vereinbarungen bzw Typen von Vereinbarungen mögen dies illustrieren (Rn 209–211). Für das Haushaltsverfahren ist die – ursprünglich so bezeichnete und bis heu209 te förmlich fortgeschriebene831 – interinstitutionelle Vereinbarung „über die Haushaltsdisziplin und die Verbesserung des Haushaltsverfahrens“ von nicht zu überschätzender Bedeutung. Sie wurde erstmals 1988 abgeschlossen832 und hat die Bezeichnung derartiger Übereinkünfte als „interinstitutionelle Vereinbarung“ begründet.833 Zeitweise, in ex-Art 161 III EGV, wurde sie sogar im primären Gemeinschaftsrecht erwähnt. Zudem hatte der EuGH der Vereinbarung834 rechtliche Bindungswirkung attestiert.835 Während zahlreiche interinstitutionelle Vereinbarungen spezifischer Natur 210 sind,836 zielt die „Rahmenvereinbarung über die Beziehungen zwischen dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission“837 darauf ab, das Verhältnis zwischen Parlament und Kommission allgemein und umfassend zu regeln. Brisant ist die Rahmenvereinbarung mindestens aus zwei Gründen: Erstens wurde sie unter Ausschluss des Rates ausgehandelt und abgeschlossen, obwohl Art 295 S 1 AEUV auch den Rat zu den potenziellen Parteien einer interinstitutionellen Vereinbarung zählt.838 Hierüber beklagt sich der Rat in einer Erklärung zur Rah-

_____ 830 Thematische Übersicht bei Kietz/Slominski/Maurer/Puntscher Riekmann/Hummer S 69. 831 Die Bezeichung variiert leicht. Die noch gültige Vereinbarung trägt den Titel „Interinstitutionelle Vereinbarung vom 2. Dezember 2013 zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission über die Haushaltsdisziplin, die Zusammenarbeit im Haushaltsbereich und die wirtschaftliche Haushaltsführung“, ABl 2013 C 373/1. Der Vertrag von Lissabon hat ihre Bedeutung jedoch geändert, da die mittelfristige Finanzplanung (bisher „finanzielle Vorausschau“) nicht mehr in der Vereinbarung, sondern in einer gesonderten, auf Art 312 AEUV gestützten Verordnung geregelt ist (VO 1311/2013, ABl 2013 L 347/884). 832 ABl 1988 L 185/33. Überblick über die Entwicklung bei Streinz/Niedobitek Art 312 AEUV Rn 5 ff. 833 Kietz/Slominski/Maurer/Puntscher Riekmann/Hummer S 52. 834 Konkret der Vereinbarung in der Fassung von 1993. 835 EuGH, Rs C-106/96 – Vereinigtes Königreich / Kommission, Rn 25 f. Zur Möglichkeit, die (heute nicht mehr relevante) Unterscheidung zwischen obligatorischen und nichtobligatorischen Ausgaben (ex-Art 272 IV, IX EGV) mit Bindungswirkung im Rahmen eines „interinstitutionellen Schlichtungsverfahrens“ zu regeln, vgl EuGH, Rs 204/86 – Griechenland / Rat, Rn 16 ff. 836 Aus neuerer Zeit vgl bspw die „Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission über das Transparenz-Register für Organisationen und selbstständige Einzelpersonen, die sich mit der Gestaltung und Umsetzung von EU-Politik befassen“, ABl 2014 L 277/11. 837 ABl 2010 L 304/47; geändert durch Interinstitutionelle Vereinbarung vom 7. Februar 2018, ABl 2018 L 45/46. 838 Laut Kietz/Slominski/Maurer/Puntscher Riekmann/Hummer S 73 befürchten die Mitgliedstaaten, der Rat als Wahrer mitgliedstaatlicher Interessen könnte durch bilaterale Vereinbarung von Parlament und Kommission geschwächt werden. Matthias Niedobitek

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menvereinbarung,839 in der er – zweitens – auch seiner Befürchtung Ausdruck verleiht, das institutionelle Gleichgewicht zwischen den Organen könnte verändert werden, indem dem Europäischen Parlament Befugnisse eingeräumt würden, die in den Verträgen nicht vorgesehen seien und die die Autonomie des Kommissionspräsidenten einschränken könnten. Damit dürfte der Rat va auf Ziff 5 der Rahmenvereinbarung anspielen, die folgenden Wortlaut hat: „Fordert das Parlament den Präsidenten der Kommission auf, einem Mitglied der Kommission das Vertrauen zu entziehen, so prüft dieser sorgfältig, ob er dieses Mitglied gemäß Artikel 17 Absatz 6 EUV auffordern sollte, sein Amt niederzulegen. Entweder fordert der Präsident dieses Mitglied zur Niederlegung des Amtes auf, oder er erklärt in der nächsten Tagung vor dem Parlament, warum er dies ablehnt“.

Ferner hat die Rahmenvereinbarung mittelbare Auswirkungen auf das Initiativrecht der Kommission bzw auf das Recht des Parlaments, die Kommisson entsprechend aufzufordern, wie Ziff 16 Abs 3 zeigt: „Die Kommission verpflichtet sich, über die konkrete Weiterbehandlung einer Aufforderung zur Vorlage eines Vorschlags gemäß Artikel 225 AEUV (legislativer Initiativbericht) innerhalb von drei Monaten nach Annahme der entsprechenden Entschließung im Plenum zu berichten. Die Kommission legt spätestens nach einem Jahr einen Gesetzgebungsvorschlag vor oder nimmt den Vorschlag in das jährliche Arbeitsprogramm des Folgejahres auf. Legt die Kommission keinen Vorschlag vor, so teilt sie dem Europäischen Parlament die Gründe dafür mit.

Schließlich stechen solche interinstitutionellen Vereinbarungen heraus, die nicht 211 nur Verpflichtungen der beteiligten Organe regeln, sondern interinstitutionelle Ämter errichten. Beispielhaft seien hier das Amt für Veröffentlichungen840 und das Europäische Amt für Personalauswahl (EPSO)841 genannt. Das Bedürfnis nach einer Formalisierung der interinstitutionellen Bezie- 212 hungen durch interinstitutionelle Vereinbarungen und die bisherige einschlägige Praxis der Institutionen hat der Vertrag von Lissabon in Art 295 S 2 AEUV allgemein – deklaratorisch842 – anerkannt. Auch Art 17 I 7 EUV erwähnt – im Hinblick auf die jährliche und mehrjährige Programmplanung – wie selbstverständlich das Instrument der interinstitutionellen Vereinbarung; weitere spezielle Rechtsgrundlagen für interinstitutionelle Vereinbarungen finden sich im AEU-Vertrag – insb in Art 287

_____ 839 ABl 2010 C 287/1. 840 Beschluss 2009/496, ABl 2009 L 168/41. 841 Beschluss 2002/620, ABl 2002 L 197/53. 842 Zutreffend Härtel S 310; Streinz/Gellermann Art 295 AEUV Rn 4; aA Grabitz/Hilf/Nettesheim/ Krajewski/Rösslein Art 295 AEUV Rn 11. Matthias Niedobitek

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III UAbs 3 und 324 AEUV.843 Abgesehen von der grundsätzlichen Zulässigkeit institutioneller Vereinbarungen (stets „unter Wahrung der Verträge“) und der nunmehr geklärten Möglichkeit, diesen auch bindenden Charakter zu verleihen, lässt Art 295 AEUV die bisher diskutierten Fragen – insb betr den Begriff und die Parteien interinstitutioneller Vereinbarungen sowie die Ursache einer etwaigen rechtlichen Bindungswirkung – weiterhin im Unklaren, so dass die hierzu vorliegende Literatur weiterhin heranzuziehen ist. Was den möglichen Inhalt bzw Gegenstand institutioneller Vereinbarungen 213 angeht, lässt Art 295 AEUV keine Einschränkung erkennen. Nicht ersichtlich ist insb, dass interinstitutionelle Vereinbarungen auf das Rechtsetzungsverfahren beschränkt wären.844 Das hierfür vorgebrachte Argument, Art 295 AEUV sei in das „Kapitel über die Annahmeverfahren“ eingeordnet,845 geht fehl. Der betreffende Abschnitt trägt den Titel „Annahmeverfahren und sonstige Vorschriften“, so dass Art 295 AEUV zwanglos unter den „sonstigen Vorschriften“ eingeordnet werden kann – ebenso wie übrigens auch Art 298 AEUV betr die europäische Verwaltung, die hier kaum nur im Hinblick auf ihre Bedeutung für Rechtsetzungsverfahren angesprochen ist. Was die möglichen Parteien interinstitutioneller Vereinbarungen angeht, 214 scheint Art 295 S 2 AEUV das Instrument der interinstitutionellen Vereinbarung auf die drei genannten Organe zu beschränken. Jedoch kann S 2 von Art 295 AEUV nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss im Zusammenhang mit S 1 gelesen werden. Dieser begründet va eine Pflicht der genannten Organe, sich gegenseitig zu beraten und die Einzelheiten ihrer Zusammenarbeit zu regeln, ohne damit andere Organe oder Institutionen der Union von dieser Möglichkeit auszuschließen. Art 295 S 2 AEUV benennt daher lediglich ein bestimmtes Instrument, dessen sich die genannten Organe zur Erfüllung ihrer in S 1 ausgesprochenen Pflicht bedienen können.846 Bei dieser Lesart stellt Art 295 S 2 AEUV auch keine Ermächtigungsgrundlage für Parlament, Rat und Kommission dar, interinstitutionelle Vereinbarungen zu schließen.847 Vielmehr wird die Befugnis von Parlament, Rat und Kom-

_____ 843 Vgl auch Lenz/Borchardt/Hetmeier Art 295 AEUV Rn 3. 844 So indes Lenz/Borchardt/Hetmeier Art 295 AEUV Rn 3; aA Grabitz/Hilf/Nettesheim/Krajewski/ Rösslein Art 295 AEUV Rn 16. 845 Lenz/Borchardt/Hetmeier Art 295 AEUV Rn 3. 846 Dass dies in der Praxis auch vorkommt, zeigt Kietz/Slominski/Maurer/Puntscher Riekmann/ Hummer S 73, der auf das Kooperationsabkommen zwischen WSA und AdR hinweist. Das Abkommen wurde zuletzt mit Wirkung vom 1. Januar 2016 erneut für eine Dauer von vier Jahren abgeschlossen; vgl die Website des WSA: https://www.eesc.europa.eu/en/documents/cooperationagreement-between-eesc-and-cor. 847 So jedoch bspw Streinz/Gellermann Art 295 AEUV Rn 4; ähnlich Schwarze/Schoo/Görlitz Art 295 AEUV Rn 16. Matthias Niedobitek

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mission zum Abschluss interinstitutioneller Vereinbarungen in Art 295 S 2 AEUV vorausgesetzt; sie ist – ebenso wie für alle anderen Organe und Institutionen – weiterhin dem Selbstorganisationsrecht der EU-Institutionen848 zu entnehmen. Dass interinstitutionelle Vereinbarungen gem Art 295 S 2 AEUV stets unter Beteiligung aller drei genannten Organe abzuschließen wären – dies entspräche der Erklärung Nr 3 zum Vertrag von Nizza,849 wonach interinstitutionelle Vereinbarungen „nur mit Zustimmung dieser drei Organe geschlossen werden [dürfen]“850 – lässt sich der Bestimmung nicht entnehmen.851 Da Art 295 S 2 AEUV die Möglichkeit einer rechtlichen Bindung interinstitu- 215 tioneller Vereinbarungen voraussetzt, stellt sich die Frage nach der Ursache der rechtlichen Bindungswirkung – und zugleich nach der Unterscheidung zwischen rechtlich bindenden und unverbindlichen interinstitutionellen Vereinbarungen. Richtigerweise entscheidet der Rechtsbindungswille der Organe, wie er in der Vereinbarung – gleichsam „objektiviert“ – zum Ausdruck kommt.852 So hat das auch der EuGH in der Rs C-25/94 gesehen.853 Diese Auffassung muss jedoch zwei – miteinander zusammenhängenden – Ein- 216 wänden begegnen: (a) Die Organe verfügten nicht über die erforderliche Rechtsfähigkeit;854 (b) der Rechtsbindungswille könne nicht wie im Privatrecht, welches vom Gedanken der Privatautonomie dominiert sei, über das Entstehen einer Rechtsbindung entscheiden.855 Was den ersten Punkt betrifft, so wird im Binnenbereich der Union eine partielle Rechtsfähigkeit der Organe durchweg vorausgesetzt, wie nicht zuletzt die Klagerechte der Organe vor dem EuGH zeigen. Dies ist nicht anders als bspw im deutschen Verwaltungsrecht, das für diese Konstellation den Begriff des „Innenrechtsstreits“ vorsieht.856 Die „Innenrechtsfähigkeit“857 der Organe ist somit nichts Besonderes. Was den zweiten Punkt angeht, so beruht die Idee, die Privatautonomie könne Ursache der Bindungswirkung eines Vertrages sein,858 auf einem Missverständnis. Die Bindungswirkung eines jeden Vertrages –

_____ 848 Vgl Schwarze/Schoo/Görlitz Art 295 AEUV Rn 15. 849 ABl 2001 C 80/77. 850 Hierzu – auch sprachvergleichend – näher Kietz/Slominski/Maurer/Puntscher Riekmann/Hummer S 73. 851 Zutreffend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Krajewski/Rösslein Art 295 AEUV Rn 13; Schwarze/Schoo/ Görlitz Art 295 AEUV Rn 5. 852 Ebenso Schwarze/Schoo/Görlitz Art 295 AEUV Rn 21. 853 EuGH, Rs C-25/94 – Kommission / Rat. 854 So insb Kietz/Slominski/Maurer/Puntscher Riekmann/vAlemann S 132 f. 855 So Schwarze/Schoo/Görlitz Art 295 AEUV Rn 21. 856 Vgl Ehlers/Pünder/Burgi § 8 Rn 52 ff. 857 Vgl Wolff/Bachof/Stober/Kluth/Korte/Eisenmenger/Stober § 32 Rn 11. 858 So wohl Schwarze/Schoo/Görlitz Art 295 AEUV Rn 21. Matthias Niedobitek

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auch einer interinstitutionellen Vereinbarung – kann stets nur auf der Anordnung einer (bestimmten) Rechtsordnung beruhen;859 der Rechtsbindungswille ist insoweit nur ein tatsächliches Moment, an das das Unionsrecht die Rechtsfolge der Verbindlichkeit knüpft. Insoweit unerscheidet sich eine interinstitutionelle Vereinbarung nicht von einem privatrechtlichen oder sonstigen Vertrag. Alles in allem beruht die rechtliche Bindungswirkung interinstitutioneller Vereinbarungen nicht auf dem rechtlichen Bindungswillen der beteiligten Organe an sich, sondern auf einer – dem Selbstorganisationsrecht der EU-Institutionenen innewohnenden – Anordnung der Unionsrechtsordnung.

5. Die Organe der Union a) Neujustierungen des institutionellen Gleichgewichts 217 Im Zuge der Vertragsentwicklung wurde das institutionelle Gleichgewicht, hier als deskriptives Prinzip verstanden, das den jeweiligen Stand der interorganschaftlichen Zuständigkeitsverteilung widerspiegelt (für eine normative Deutung vgl Rn 203), stets neu justiert, im Detail oder in größerem Stil. Die Detailänderungen können hier nicht nachgezeichnet werden, es geht lediglich um die groben Linien, wie sie letztlich in das seit Lissabon bestehende „institutionelle Gleichgewicht“ mündeten. Mit dem Europäischen Parlament zu beginnen, legt nicht nur die Reihenfolge 218 in Art 13 I EUV nahe, das Parlament ist auch fraglos dasjenige Organ, das im Laufe der Integrationsgeschichte, hierzu besonders legitimiert mit der Direktwahl seiner Mitglieder,860 die stärksten Kompetenzzuwächse zu verzeichnen hatte und daher auch als „der große ‚Gewinner‘ sämtlicher Vertragsrevisionen“ bezeichnet wird.861 Nachdem mit Blick auf die EGKS im Jahr 1951 noch konstatiert werden musste, dass „zwar die parlamentarische Kontrolle selbstverständlich als ein unerläßliches Element in die Verfassung der Gemeinschaft eingebaut, aber die Entwicklung eines eigentlichen parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens […] vorerst nicht möglich gewesen [sei]“,862 wird das Parlament heute in Art 14 und 16 EUV (zusammen mit dem Rat) als „Gesetzgeber“ der Union bezeichnet; ferner übt es mit diesem zusammen (ohne insoweit noch nach verschiedenen Arten von Ausgaben zu unterscheiden863) die Haushaltsbefugnisse aus. Eine weitere Stärkung des Europäischen Par-

_____ 859 Näher Niedobitek Recht der grenzüberschreitenden Verträge S 127 ff; ders JöR 62 (2014), 61 (64 ff). 860 Auf diesen Zusammenhang weist Grabitz/Hilf/Nettesheim/Hölscheidt Art 14 EUV Rn 5 hin. 861 Vgl Streinz/Huber Art 14 EUV Rn 5. 862 Ophüls NJW 1951, 289 (290); zur damaligen „Schwäche des Europäischen Parlaments“ vgl auch Constantinesco JuS 1965, 289 (292). 863 Zur vor dem Vertrag von Lissabon relevanten Unterscheidung zwischen obligatorischen und nichtobligatorischen Ausgaben vgl ex-Art 272 IV, IX EGV; Streinz/Niedobitek Art 314 AEUV Rn 18 ff. Matthias Niedobitek

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laments, gar mit dem Ziel, eine „vollständige Parlamentarisierung des unionalen Regierungssystems“ zu bewirken,864 die bundesstaatliche Implikationen hätte, dürfte jedoch, wenigstens in Deutschland, auf verfassungsrechtliche Hindernisse stoßen.865 Der Europäische Rat, nicht zufällig das zweite in Art 13 I EUV genannte Organ, 219 steht dem Europäischen Parlament, was die Entwicklungsdramatik und -dynamik angeht, kaum nach. Entstanden 1961 als Gipelkonferenz der Staats- und Regierungschefs, erfolgte über mehrere Stufen eine Institutionalisierung und sukzessive Annäherung des Gremiums an die Europäischen Gemeinschaften.866 Der Maastrichter Unionsvertrag beließ den Europäischen Rat zwar noch außerhalb des institutionellen Systems der Gemeinschaften (vgl Art E EUV-Maastricht), übertrug ihm jedoch bereits konkrete Aufgaben im EG-Zuständigkeitsbereich (zunächst im Rahmen der Koordinierung der Wirtschaftspolitik, später – durch den Vertrag von Amsterdam – auch im Rahmen der Beschäftigungspolitik und der Bestimmungen über die Verstärkte Zusammenarbeit). Die Neugründung der Union als Rechtspersönlichkeit durch den Vertrag von Lissabon (Art 47 EUV) erlaubte es den Vertragsstaaten, den Europäischen Rat auf „organische“ Weise als Organ in das institutionelle System der Union zu integrieren. Diese formale Anerkennung der Rolle des Europäischen Rates wurde begleitet durch eine Aufwertung seiner Rolle im institutionellen System der Union. Es spricht Bände, dass Art 15 I 2 EUV die Rolle des Europäischen Rates nur noch dahin eingrenzt, dass dieser „nicht gesetzgeberisch tätig“ wird. Dass diese Aufwertung vor allem zu Lasten des Rates geht,867 liegt auf der Hand, wobei der Europäische Rat nun auch in den organinternen Bereich des Rates eingreifen kann.868 Das gewachsene institutionelle Gewicht des Europäischen Rates im Verhältnis zum Rat, wie es allgemein auch in Art 15, 16 EUV sichtbar wird, schlägt sich auch in konkreten Bestimmungen nieder, in denen dem Europäischen Rat im jeweiligen Kontext die politisch gewichtigere Entscheidung zukommt, während der Rat vorbereitend bzw ausführend tätig wird, insb im Rahmen des Sanktionsverfahrens gem Art 7 EUV oder bei der Ernennung der Kommission gem Art 17 VII EUV. Weiter gestärkt wird die Stellung des Europäischen Rates durch die Schaffung eines ständigen Präsidenten (Art 15 V, VI EUV).869 Konsequenterweise wurde die vor Lissabon in verschiedenen Vertragsbestimmungen vorgesehene870

_____ 864 Streinz/Huber Art 10 EUV Rn 43. 865 Zur Diskussion näher Streinz/Huber Art 10 EUV Rn 42 ff. 866 Überblick bei Grabitz/Hilf/Nettesheim/Kumin Art 15 EUV Rn 3. 867 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Kumin Art 15 EUV Rn 49. 868 Vgl nur Art 236 AEUV. 869 Abels/Eppler/Große Hüttmann/Knodt S 144 sprechen insoweit von einer „,Präsidialisierung‘ der EU-Politik“, zu der das Amt des ständigen Präsidenten des Europäischen Rates beigetragen habe. 870 Bspw in ex-Art 7 II EUV (Sanktionsverfahren); ex-Art 121 II-IV (Einführung des Euro), 214 II EGV (Benennung des designierten Kommissionspräsidenten). Matthias Niedobitek

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Konstellation des Rates „in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs“871 gestrichen. Nach der „Stärkung“ des Rates durch die Römischen Verträge von 1957, speziell 220 durch den EWG-Vertrag, der – anders als noch der EGKS-Vertrag – „die wesentlichen Entscheidungsbefugnisse nicht in der übernationalen Kommission, sondern in dem die nationalen Regierungen repräsentierenden Ministerrat konzentriert“ hatte,872 wurde das institutionelle Gewicht des Rates in der Folgezeit vor allem durch die wachsende Bedeutung des Europäischen Parlaments beeinflusst, mit dem sich der Rat zunehmend Haushalts- und Rechtsetzungsbefugnisse teilen musste. Auch das jüngste Hinzutreten des Europäischen Rates als Unionsorgan blieb auf die Stellung des Rates nicht ohne Wirkung (Rn 219). Letztlich ist der Rat aber weiterhin das zentrale Entscheidungsorgan der Union,873 das zusammen mit dem Europäischen Rat „das politische und rechtliche Gravitationszentrum der EU“ bildet.874 Implizierten die Römischen Verträge, gemessen am EGKS-Vertrag, eine „Stär221 kung“ des Rates (Rn 220), so bedeutete diese Stärkung umgekehrt, verglichen mit der bisherigen Hohen Behörde der Montanunion, eine institutionelle „Schwächung“ der Kommission,875 die bei der Ausübung ihrer Befugnisse nunmehr auf ein Zusammenwirken mit dem Rat angewiesen war und die zusammen mit diesem – aus heutiger Sicht fälschlich, zumindest verkürzend (vgl Rn 243) – als die „Exekutive“ der EWG angesehen wurde.876 Die Unabhängigkeit der Kommission ist jedoch bei keiner Vertragsänderung in Frage gestellt worden. Als dem allgemeinen Wohl der Union877 in spezifischer Weise verpflichtetes878 und in vielen Bereichen des Unionsrechts mit einem Intiativmonopol ausgestattetes Organ hat die Kommission ihre Stellung im institutionellen Gefüge behaupten können. Die Vertragsentwicklung brachte sogar eine Stärkung der Kommission mit sich, da diese von der zunehmenden Vergemeinschaftung verschiedener Politikbereiche profitierte, die bis heute – insb durch die Einbeziehung aller Bereiche des RFSR in das Unionsrecht – den

_____ 871 Hierbei handelte es sich nicht um eine der seinerzeit in der GO des Rates geregelten „Ratsformationen“. 872 Vgl Jaenicke ZaöRV 19 (1958), 153 (155). 873 Streinz/Obwexer Art 16 EUV Rn 5. 874 So Streinz/Huber Art 14 EUV Rn 5. 875 Hierzu vergleichend Lagrange ZHR 124 (1961), 88 (93 f). 876 So bspw von Lagrange ZHR 124 (1961), 88 (93). 877 Zwar spricht die deutsche Fassung von Art 17 I EUV von den „allgemeinen Interessen der Union“ (anders bspw Art 285 II 2 AEUV: „zum allgemeinen Wohl der Union“) und weicht insofern von ex-Art 213 II UAbs 1 EGV ab, jedoch machen andere Sprachfassungen insoweit keinen Unterschied, weder was das geltende Unionsrecht angeht, noch im Hinblick auf den bisherigen EG-Vertrag (bspw ist im Englischen stets von „the general interest of the Union“ die Rede, analog die französische Fassung). 878 Möllers/Zeitler/Kotzur S 54 weist zu Recht darauf hin, dass letztlich „alle Unionsorgane auf das bonum commune Europaeum“ verpflichtet sind. Matthias Niedobitek

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Anwendungsbereich ihrer Initiativbefugnis erweiterte.879 Zudem ging die Organstellung des Europäischen Rates nicht nennenswert zu Lasten der – einmal ernannten880 – Kommission.881 Allerdings trägt der Hohe Vertreter der Union für Außenund Sicherheitspolitik, der im Rahmen der GASP als Beauftragter des Rates handelt, ein der Unabhängigkeit der Kommission konträres Element in das Organ hinein,882 das sich in Art 17 III UAbs 3 S 2 EUV niederschlägt. Ähnlich wie die Kommission hat sich der EuGH seine von Anfang an starke Stel- 222 lung, die va auf der richterlichen Unabhängigkeit seiner Mitglieder883 und der ausschließlichen Maßstäblichkeit des „Rechts“884 (vgl Art 19 I UAbs 1 S 2 EUV) für seine Tätigkeit beruht, im Laufe des Integrationsprozesses bewahren können. Auch wenn einer der Gründe für seine starke Stellung, nämlich die Kompensation der ursprünglichen Schwäche des Europäischen Parlaments,885 durch die Aufwertung des Parlaments nach und nach an Substanz verlor, wurde seine institutionelle Position nicht angetastet. EZB und Rechnungshof zählen zwar nicht zu den „klassischen“ Organen, 223 weshalb sie im Verfassungsvertrag von 2004 auch nicht in den „institutionellen Rahmen“ der Union eingeordnet wurden (vgl Art I-19 VVE), gleichwohl sind sie, wenigstens der rechtlichen Form nach, „Hauptorgane“ 886 der Union.887 Beide – ebenfalls „unabhängigen“ (Art 282 III, 285 II AEUV) – Organe traten als Institutionen im Integrationsprozess erst später hervor, der Rechnungshof, was sowohl seine Einrichtung als auch seine Anerkennung als Organ betrifft, früher als die EZB.888 Der

_____ 879 Vgl den Hinweis bei Grabitz/Hilf/Nettesheim/Martenczuk Art 17 EUV Rn 3. 880 Bei der Ernennung der Kommission hat der Europäische Rat allerdings an Einfluss gewonnen; vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Kumin Art 15 EUV Rn 60. 881 Umfassend zum Verhältnis zwischen Kommission und Europäischem Rat Grabitz/Hilf/ Nettesheim/Kumin Art 15 EUV Rn 59 ff. 882 Hierzu vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Martenczuk Art 17 EUV Rn 75. Im Ergebnis hält Petersen S 190 die Verantwortungsbereiche jedoch für klar genug abgeschichtet, so dass er keine Gefährdung der Unabhängigkeit der Kommission sieht. 883 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Karpenstein Art 253 AEUV Rn 15 ff. 884 Das hat der EuGH in der Rs C-34/10 – Brüstle, Rn 30, betont. Bei der Definition des menschlichen Embryos handele es sich zwar um ein Thema, das in vielen Mitgliedstaaten gesellschaftspolitisch sehr sensibel und von deren unterschiedlichen Traditionen und Werthaltungen geprägt sei, der Gerichtshof sei aber „nicht dazu aufgerufen […], auf Fragen medizinischer oder ethischer Natur einzugehen, sondern [habe] sich darauf zu beschränken […], die einschlägigen Vorschriften der Richtlinie juristisch auszulegen“ (Hervorhebung hinzugefügt). 885 Vgl Constantinesco JuS 1965, 289 (292). 886 Zu dieser Begrifflichkeit vgl Rn 193. 887 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Hölscheidt Art 14 EUV Rn 1 zählt EZB und Rechnungshof demgegenüber offensichtlich nicht zu den „Hauptorganen“. 888 Zur Entwicklung des Rechnungshofs vgl Streinz/Niedobitek Art 285 AEUV Rn 3 ff. Die EZB wurde durch den Maastrichter Unionsvertrag im Zusammenhang mit der Einführung des Euro begründet. Matthias Niedobitek

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Einfluss des Rechnungshofs auf das institutionelle Gleichgewicht blieb begrenzt.889 Demgegenüber ist die Rolle der EZB im institutionellen System der Union noch nicht abschließend geklärt. Als institutioneller Kern des ESZB (vgl Art 282 AEUV) hat die EZB zwar, technisch gesehen, eine begrenzte, gleichwohl wichtige Aufgabe, nämlich die Sicherung der Preisstabilität im Rahmen der Währungspolitik der Union (vgl Art 127 I AEUV), jedoch ist die Reichweite der Kompetenzen der EZB, va ihr Handeln in der Wirtschafts- und Finanzkrise, heftig umstritten und Gegenstand von Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht.890

b) Die Funktion der Organe 224 Die Begriffe „Funktion“ und „Aufgabe“ werden häufig synonym verwendet,891

auch im primären Unionsrecht, das bspw in Art 14 I EUV „Aufgaben“ und „Funktionen“, wie auch „Befugnisse“, des Europäischen Parlaments beschreibt und für alle drei Begriffe im Englischen das Wort „functions“ verwendet. Im vorliegenden Zusammenhang geht es jedoch nicht um Funktionen eines Organs in einem umspezifischen, Aufgaben zusammenfassenden Sinn, sondern um die Funktion des jeweiligen Organs, um seine raison d’être, seine Daseinsberechtigung, mithin, im weitesten Sinn, um seine allgemeine Rolle und Bedeutung für den Integrationsprozess. Die Aufgaben eines Organs konkretisieren diese Rolle in unterschiedlichem Abstraktionsgrad. Die Funktion der einzelnen Organe, ihre Daseinsberechtigung, kann nicht abs225 trakt-organisationstheoretisch bestimmt werden, sie muss aus der Funktion der Union selbst abgeleitet werden. Es stellt sich damit die Frage nach der Daseinsberechtigung der Union. Hierzu bestimmt Art 1 II EUV, der neben den Erwägungsgründen der Präambel die insoweit allgemeinste Vertragsbestimmung ist, dass die Union „eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ darstellt. Dieses Ziel – die voranschreitende Integration der Völker Europas –, das im Rahmen des Brexit in Frage gestellt worden ist (vgl Rn 173), wird durch konkretere Ziele präzisiert. Insoweit rückt zunächst Art 3 I EUV in den Blick, der mit einer – noch immer recht allgemeinen, aber doch schon präziseren – Bestimmung das Ziel der Union dahin formuliert, es gehe darum, „den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern“. Die Bezugnahme auf die Werte der Union verweist auf Art 2 S 1 EUV. In dieser Bestimmung finden sich die wichtigsten Werte der Union, die zugleich gemeinsame Werte der Mitgliedstaaten

_____ 889 Zur Organstellung des Rechnungshofs näher Streinz/Niedobitek Art 285 AEUV Rn 8 f. 890 Zuletzt vgl BVerfG, 2 BvR 859/15 ua, BVerfGE 146, 261 – PSPP, und die Antwort des EuGH auf das Vorabentscheidungsersuchen, Rs C-493/17 – PSPP. 891 Etwa von Grabitz/Hilf/Nettesheim/Martenczuk Art 17 EUV Rn 6. Matthias Niedobitek

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sind. Die Homogenität der Werte der Mitgliedstaaten und der Union (vgl insoweit die komplementäre Bestimmung des Art 23 I 1 GG) spiegelt sich in einer an diesen Werten orientierten Organstruktur. Dies bestätigt Art 13 I EUV, der es als einen Zweck des institutionellen Rahmens der Union bezeichnet, „ihren Werten Geltung zu verschaffen“. Zusammengefasst müssen die Funktionen der Organe aus den Werten der Union abgeleitet, auf diese zurückgeführt und zu ihnen in Relation gesetzt werden. Alle Organe sind in ihrer Gesamtheit und in ihrem Zusammenwirken im 226 Wert der Rechtsstaatlichkeit, genauer im unionsspezifisch ausgeformten Grundsatz der Gewaltenteilung, dem institutionellen Gleichgewicht (hierzu näher Rn 200 ff), verwurzelt. Durch eine Mehrzahl von Organen, ihre rechtliche Gleichstellung (Rn 199) und ihre wechselseitigen rechtlichen oder politischen Kontrollbefugnisse sichert das Organgefüge der Union das allgemeine Ziel von Gewaltenteilung, wonach sich die verschiedenen Organe gegenseitig kontrollieren, hemmen und mäßigen sollen (vgl Rn 201). Mit dieser Zielrichtung dient der Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts zugleich weiteren Werten wie der Menschenwürde, der Freiheit und der Wahrung der Menschenrechte.892 Neben dieser für alle Organe – genauer: für das Organgefüge an sich – gültigen Wertebeziehung haben einige Organe (Europäisches Parlament, Europäischer Rat, Rat, Kommission, Gerichtshof) eine stärkere Verbindung mit bestimmten in Art 2 S 1 EUV genannten Werten. Mit dem Demokratieprinzip ist zuerst und vor allem das Europäische Parla- 227 ment verbunden.893 Art 10 II UAbs 1 EUV bestimmt, dass die „Bürgerinnen und Bürger […] auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten“ sind. Diese neue Formulierung ist an die Stelle von ex-Art 189 I Halbs 1 EGV, wonach das Parlament „aus Vertretern der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“ besteht. Sie verschleiert, dass die Wahl zum EP nach wie vor in nationalen Kontingenten erfolgt;894 die Abgeordneten werden weiterhin „je Mitgliedstaat“ gewählt (Art 14 II UAbs 1 S 3 EUV). Zudem suggeriert sie, es gebe ein aus Bürgerinnen und Bürgern bestehendes europäisches Volk.895 Schließlich greift sie zu kurz bzw ist missverständlich, weil nach der – durch den Vertrag von Lissabon nicht überholten896 – Rechtsprechung des EuGH der Kreis der zum Europäischen Parlament Wahlberechtigten nicht auf Unionsbürger beschränkt ist.897 Unabhängig

_____ 892 Vgl hierzu Calliess/Ruffert/Calliess Art 2 EUV Rn 19, der die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte als Ausprägungen des Freiheitsprinzips betrachtet. 893 Vgl Schwarze/Hatje Art 13 EUV Rn 10. 894 Streinz/Huber Art 14 EUV Rn 46 hält die neue Formulierung hingegen für angemessen. 895 In diese Richtung auch Schwarze/Kröll/Lienbacher Art 10 EUV Rn 6. Genau umgekehr deutet Streinz/Huber Art 14 EUV Rn 46 die neue Formulierung. 896 Anders wohl Streinz/Huber Art 14 EUV Rn 46 iVm Fn 71, der der Erklärung Nr 64 des Vereinigten Königreichs insoweit (zu Unrecht) keine Bedeutung zumisst. 897 EuGH, Rs C-145/04 – Spanien / Vereinigtes Königreich, Rn 70 ff. Matthias Niedobitek

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von der Formulierungsfrage ergibt sich jedoch aus einer Zusammenschau der das demokratische Prinzip ausformenden Bestimmungen der EU-Verträge, dass es (weiterhin) die demokratische Funktion der Mitglieder des Europäischen Parlaments ist, die Völker der Mitgliedstaaten zu repräsentieren.898 Dass sich auch der Europäische Rat und der Rat auf den Unionswert der De228 mokratie zurückführen lassen, zeigt Art 10 II UAbs 2 EUV. In beiden gouvernementalen Organen sind die Mitgliedstaaten vertreten, wobei die Vertreter der Mitgliedstaaten – die Staats- oder Regierungschefs bzw die Regierungen – „ihrerseits in demokratischer Weise gegenüber ihrem nationalen Parlament oder gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern Rechenschaft ablegen müssen“. Die Funktion von Europäischem Rat und Rat besteht daher in der demokratisch legimierten Vertretung der Mitgliedstaaten. Die Kommission hat, obschon ihre Mitglieder zweifellos demokratisch legiti229 miert sind, keine spezifische Verbindung zum Demokratieprinzip. Allerdings impliziert ihre Ausrichtung auf „die allgemeinen Interessen der Union“ (Art 17 I 1 EUV), gepaart mit der Unabhängigkeit ihrer Mitglieder, letztlich eine Verbindung mit allen Werten der Union, insb jedoch mit dem Wert der Gleichheit, soweit dieser die Gleichheit der Mitgliedstaaten betrifft899 und dadurch ein Gegengewicht zu den in Europäischem Rat und Rat zur Geltung kommenden Partikularinteressen der Mitgliedstaaten bildet. Der Unionswert der Rechtsstaatlichkeit (rule of law, État de droit900) ist in spe230 zifischer Weise mit dem Gerichtshof der EU verbunden. In ständiger Rechtsprechung stellt der EuGH nämlich fest, dass die Gemeinschaft (bzw Union) eine (dem Begriff des Rechtsstaats entsprechende901) „Rechtsgemeinschaft“ bzw „Rechtsunion“902 ist, „in der weder ihre Mitgliedstaaten noch ihre Organe der Kontrolle daraufhin, ob ihre Handlungen mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag, im Einklang stehen, entzogen sind, und dass mit diesem Vertrag ein umfas-

_____ 898 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 10 EUV Rn 57 meint jedoch, der EUV habe wohl bewusst offen gelassen, „welches Subjekt von den repräsentierenden Organen der EU ‚vergegenwärtigt‘ werden soll“. 899 Hierzu Grabitz/Hilf/Nettesheim/Hilf/Schorkopf Art 2 EUV Rn 33. 900 Zur „Internationalisierung“ der Rechtsstaatlichkeit näher Magiera/Sommermann/Sommermann S 75 ff. 901 Vgl nur Calliess/Ruffert/Calliess Art 2 EUV Rn 25. 902 Der Begriff „Rechtsunion“ wurde, soweit ersichtlich, zuerst von dem portugiesischen GA Poiares Maduro in der Rs C-160/03 – Spanien / Eurojust, Nr 17, 19, 21 verwendet: Die Union sei (kursiv im Original) eine União de direito. Der EuGH wechselte von „Rechtsgemeinschaft“ zu „Rechtsunion“ in seinen Urteilen in den Rs C-335/09 P – Polen / Kommission und Rs C-336/09 P – Polen / Kommission, in denen er begrifflich das Parteivorbringen, die Union sei eine „Rechtsgemeinschaft“, nicht mehr aufgriff, sondern die Union als „Rechtsunion“ (Union based on the rule of law, union de droit) bezeichnete. Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 135

sendes System von Rechtsbehelfen und Verfahren geschaffen worden ist, das dem Gerichtshof die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe zuweist“.903 Die Funktion des Gerichtshof der EU besteht somit, zusammen mit den Gerichten der Mitgliedstaaten (vgl Art 19 I UAbs 2 EUV), in der Sicherung der Rechtsstaatlichkeit der Union, va soweit diese als „Rechtsschutzstaatlichkeit“ zu verstehen ist.904

c) Die Aufgaben der Organe aa) Allgemeines Die Aufgaben der Organe ergeben sich nicht nur – gemäß dem organspezifischen 231 Grundsatz begrenzter Ermächtigung (Art 13 II 1 EUV)905 – aus einer Zusammenschau aller über die Verträge verteilten Einzelbefugnisse der Organe, sie werden seit dem Vertrag von Lissabon auch allgemein, wenn auch nicht abschließend,906 in zentralen Vertragsbestimmungen benannt. Im Einzelnen geht es um Art 14 I EUV (EP), Art 15 I EUV (Europäischer Rat), Art 16 I EUV (Rat), Art 17 I EUV (Kommission), Art 19 I UAbs 1 EUV (EuGH), Art 127 I AEUV (EZB) und Art 285 I AEUV (Rechnungshof). Die primärrechtliche Betrauung der Organe mit bestimmten Aufgaben impliziert, dass diese ihre Aufgaben grundsätzlich – vorbehaltlich einer entsprechenden vertraglichen Ermächtigung – selbst zu erledigen haben907 (zur Praxis der Organe, in großem Stil Agenturen zu gründen, die zT über echte Entscheidungsbefugnisse verfügen, näher Rn 344 ff). Schließlich ist eine den Organen übertragene Aufgabe nicht nur als Befugnis zu verstehen, sondern grundsätzlich auch als Pflicht. 908 Dies bedeutet indes nicht, dass eine entsprechende „Pflichterfüllung“ stets im Wege der Untätigkeitsklage (Art 265 AEUV) eingefordert werden könnte. Vielmehr verfügen die Organe insoweit grundsätzlich über ein weites Ermessen.909 Die Aufgaben der Organe für jedes Organ getrennt zu betrachten, würde dem 232 Umstand nicht gerecht, dass die Organe bei der Erledigung zahlreicher Aufgaben zusammenwirken (müssen) (vgl Rn 198) bzw je für sich bei der Aufgabenerfüllung

_____ 903 EuGH, Rs C-415/05 P – Al Barakaat International Foundation / Rat und Kommission, Rn 281. (Hervorhebungen hinzugefügt). Zur Union als Rechtsgemeinschaft näher Magiera § 7 (in diesem Band) Rn 9 ff. 904 Der Rechtsstaat ist auch und vor allem „Rechtsschutzstaat‟; hierzu Magiera/Sommermann/ Schäffer S 20 f. 905 Vgl Calliess/Ruffert/Calliess Art 13 EUV Rn 20; Vedder/Heintschel vHeinegg/Epping Art 13 EUV Rn 8. 906 So zutreffend (betr den Rat) Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ziegenhorn Art 16 EUV Rn 24. 907 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 13 EUV Rn 62. 908 Zutreffend Schermers/Blokker § 231. 909 Vgl EuGH, Rs 13/83 – Gemeinsame Verkehrspolitik, Rn 49 ff. Matthias Niedobitek

136 | § 1 Vertragliche Grundlagen, rechtliche Gestalt, Institutionen der Union

mitwirken. Daher erscheint es sinnvoll, die Aufgaben als solche – verstanden als Synthese der Einzelaufgaben der Organe – in den Vordergrund zu rücken. Die wichtigsten Aufgaben der Organe werden im Folgenden dargestellt. Im Einzelnen geht es um (1) politische Leitung und politische Planung, (2) Rechtsetzung/Gesetzgebung, (3) Finanz- und Haushaltsplanung, (4) Verwaltung, (5) Kontrolle, (6) Rechtsprechung, (7) Besetzung von Organen, (8) Vertretung der Union. Diese Aufgaben könnten gewiss noch systematischer zusammengefasst und – angelehnt an die mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung verbundenen Funktionsbereiche – stärker an den Bereichen Gesetzgebung, Regierung/Verwaltung und Rechtsprechung orientiert werden,910 jedoch wird die Einzeldarstellung der genannten Aufgaben besser den Besonderheiten einer Internationalen Organisation gerecht.

bb) Politische Leitung und politische Planung 233 Die Aufgabe der politischen Leitung und politischen Planung, die „Regierung“,

obliegt drei Organen: dem Europäischen Rat, dem Rat und der Kommission. Die Rollenverteilung ist recht klar abgeschichtet. Das Europäische Parlament zählt nach den Verträgen nicht zu den politischen Leitungsorganen der Union. Gleichwohl versucht es, insb durch Initiativberichte (gem Art 54 GO EP) und über seine Haushaltsbefugnisse911 auf die Politik der Union Einfluss zu nehmen. Zur politischen Leitung der Union ist in erster Linie der Europäische Rat beru234 fen. Er übt vor allem „Regierungsfunktionen“ aus,912 ist „the EU’s Ultimate Political Authority“.913 Gem Art 15 EUV gibt der Europäische Rat „der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten hierfür fest“. Allerdings verfügt der Europäische Rat nicht, wie jedoch die Kommission, über ein förmliches Initiativrecht für den Erlass von Rechtsakten. Auch kann der Europäische Rat, anders als der Rat (Art 135, 241 AEUV),914 die Kommission nicht zu einer Initiative auffordern. Seine allgemeine Initiative verbleibt daher (abweichend vgl für die GASP Art 26 I EUV) im Bereich des „Politischen“, des rechtlich Unverbindlichen. Die Feststellung, dass der Europäische Rat gem Art 15 I 2 EUV „nicht gesetzgeberisch“ tätig wird, ist zwar nur deklaratorischer Natur, untermauert jedoch seine primär politische Funktion.915

_____ 910 So meint Grabitz/Hilf/Nettesheim/Martenczuk Art 17 EUV Rn 9, die Funktionen der Kommission könnten „insgesamt im Wesentlichen den Exekutiv- und Regierungsfunktionen zugeordnet werden“. 911 Vgl Blanke/Mangiameli/Mangiameli Art 14 TEU Rn 31; näher Storr EuR 1 § 9 Rn 75, 105, 206. 912 Schwarze/Hatje Art 298 AEUV Rn 8. 913 Jones/Menon/Weatherill/Lewis S 327. 914 Zum Europäischen Parlament s Art 225 AEUV. 915 Hierzu vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Kumin Art 15 EUV Rn 71. Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 137

Dem Rat kommt verglichen mit dem Europäischen Rat eine „fachspezifische 235 Leitungsfunktion“ zu.916 Art 16 I 2 EUV bestimmt, dass zu den Aufgaben des Rates „die Festlegung der Politik“ gehört. Während somit der Europäische Rat für die „Zielvorstellungen“ (political directions) zuständig ist, ist es Sache des Rates, die Politik festzulegen (carry out policy-making). Der Rat ist also, was die Politik der Union angeht, gewissermaßen auf der operativen Ebene tätig. Die Kommission fügt sich in dieses hierarchische Verhältnis zwischen Europäi- 236 schem Rat und Rat nicht ein. Sie verfügt, bestärkt durch die Unabhängigkeit ihrer Mitglieder, über ein autonomes Initiativrecht, welches ohne politische Planung kaum sinnvoll ausgeübt werden könnte. Daher bestimmt Art 17 I 7 EUV, dass die Kommission eine jährliche917 und eine mehrjährige Programmplanung vorzunehmen hat. Der politische Charakter dieser Planungsaufgabe kam in ex-Art 217 I Halbs 1 EGV noch deutlicher zum Ausdruck als in Art 17 VI UAbs 1 lit a) EUV. Jene Bestimmung sah vor, dass die Kommission „ihre Tätigkeit unter der politischen Führung ihres Präsidenten“ ausübt. Nunmehr ist nur noch davon die Rede, dass der Präsident der Kommission Leitlinien festlegt,918 nach denen die Kommission ihre Aufgaben ausübt.919 Ziel der Programmplanung soll gem Art 17 I 7 EUV – in Anbetracht des Erfordernisses eines Zusammenwirkens der Organe – der Abschluss interinstitutioneller Vereinbarungen sein. Dass der Europäische Rat an solchen interinstitutionellen Vereinbarungen beteiligt ist, ist zwar rechtlich nicht ausgeschlossen (auch nicht durch Art 295 AEUV), jedoch angesichts seiner auf das Politische konzentierten Leitungsfunktion sowie aus organ-hierarchischen Gründen nicht wahrscheinlich.

cc) Rechtsetzung/Gesetzgebung Zur Rechtsetzung sind in gewissem Umfang letztlich alle Organe – und selbst 237 nicht nur diese – berufen. Dies hängt mit dem weiten Begriff der Rechtsetzung zusammen, der nicht nur den Erlass außenwirksamer Rechtsakte (Norm oder Einzelakt) umfasst,920 sondern auch den Erlass von (regelmäßig) nur organintern wirksa-

_____ 916 Zutreffend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ziegenhorn Art 16 EUV Rn 5. 917 Für das Jahr 2019 vgl COM(2018) 800. 918 Vgl insoweit die „Politische[n] Leitlinien für die nächste Europäische Kommission“ des Kommissionspräsidenten Juncker (2014–2019) mit dem Titel „Ein neuer Start für Europa: Meine Agenda für Jobs, Wachstum, Fairness und demokratischen Wandel", https://ec.europa.eu/commission/ sites/beta-political/files/juncker-political-guidelines-speech_de_1.pdf. 919 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Martenczuk Art 17 EUV Rn 92 sieht in der neuen Formulierung gleichwohl eine Stärkung des Kommissionspräsidenten, „da die Festlegung von Leitlinien eine stärkere operationelle Leitungsbefugnis beinhaltet“. 920 Vgl insoweit Art 2 I, II AEUV, wonach die Union im Rahmen ihrer ausschließlichen bzw geteilten Zuständigkeit „gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen“ kann. Matthias Niedobitek

138 | § 1 Vertragliche Grundlagen, rechtliche Gestalt, Institutionen der Union

men Organisationsrechtsakten (insb Geschäftsordnungen; hierzu Rn 309–311) sowie den Abschluss interinstitutioneller Vereinbarungen, die definitionsgemäß 921 nur zwischen den Partnern der Vereinbarungen wirken können. Aber auch wenn man aus dem Bereich der Rechtsetzung die außenwirksamen 238 Rechtsakte in den Mittelpunkt rückt, kommen zahlreiche Akteure in Betracht. Dabei handelt es sich nicht nur um den Rat und das Europäische Parlament, die va – aber nicht nur (vgl etwa Rn 240) – für die Gesetzgebung (Rn 239) zuständig sind, sondern auch um den Europäischen Rat, die Kommission und die EZB. Der Europäische Rat ist nur in vergleichsweise wenigen Fällen für den Erlass von Rechtsakten zuständig; gänzlich versperrt ist ihm der Bereich der Gesetzgebung (Art 15 I 2 EUV). Zunächst verfügt er, gleichsam traditionell, über Rechtsetzungsbefugnisse im Bereich des auswärtigen Handelns der Union (Art 22 EUV) und der GASP (insb Art 18, 26, 42 II EUV). Darüber hinaus stehen ihm, über die Verträge vertreut, weitere Rechtsetzungsbefugnisse zu, bspw im Rahmen des in Art 7 EUV geregelten Sanktionsverfahrens, im ordentlichen Vertragsänderungsverfahren (Art 48 III EUV) sowie bei autonomen oder halbautonomen Vertragsänderungen (vgl Rn 96 ff), im Rahmen des RFSR (insb Art 68 AEUV) und nicht zuletzt im Hinblick auf die Zusammensetzung des EP (Art 14 II UAbs 2 EUV) und der Kommission (Art 17 V UAbs 1 EUV) und auf die Ratsorganisation (Art 236 AEUV). Was die Kommission angeht, verfügt diese (immerhin) über punktuelle Rechtsetzungsbefugnisse, die ihr unmittelbar aufgrund des AEUV zustehen (Art 105 II, 106 III, 108 IV AEUV). Im Übrigen hat die Kommission weitreichende Rechtsetzungsbefugnisse zum Erlass „tertiären“ Unionsrechts,922 va gestützt auf sog „Basisrechtsakte“,923 dh auf Rechtsakte, die idR von Parlament und Rat als Gesetzgebungsakt erlassen werden. Auch die EZB ist gem Art 132 AEUV insb924 befugt, Verordnungen und Beschlüsse zu erlassen sowie Empfehlungen und Stellungnahmen (jeweils gem Art 288 AEUV) abzugeben. Die Aufgabe der Gesetzgebung925 obliegt dem Europäischen Parlament und 239 dem Rat – diese Organe werden in der deutschen Fassung von Art 14 I 1, 16 I 1 EUV als „Gesetzgeber“,926 in Protokoll Nr 2 (Art 4 I, 7 III) als „Unionsgesetzgeber“ (Union

_____ 921 Demgegenüber wird in der Literatur zumindest erwogen, auch Dritten solche Vereinbarungen entgegenzuhalten, so etwa Lenz/Borchardt/Hetmeier Art 295 AEUV Rn 5; Grabitz/Hilf/Nettesheim/ Krajewski/Rösslein Art 295 AEUV Rn 21. Jedoch binden „Verträge“ nur die Vertragsparteien. 922 Näher Magiera § 7 (in diesem Band) Rn 1, 3, 47, 96.; Becker/Lippert/Niedobitek Rechtsakte Abschn 2.1.2. 923 Zum Begriff näher Becker/Lippert/Niedobitek Rechtsakte Abschn 2.1.1. 924 Art 132 AEUV ist nicht abschließend; vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Griller Art 132 AEUV Rn 2. 925 Hierzu näher Magiera § 7 (in diesem Band) Rn 73 ff, 82 ff. 926 Anders als die deutsche Fassung trennen die englische und die französische Fassung Gesetzgebungs- und Haushaltsbefugnisse begrifflich nicht, sondern sprechen zusammenfassend von legislative and budgetary functions bzw fonctions législative et budgétaire. Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 139

legislator, législateur de l‘Union) bezeichnet – sowie der Kommission.927 Sowohl im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens (Art 294 AEUV) als auch im Rahmen der über den AEUV verstreuten besonderen Gesetzgebungsverfahren (vgl bspw Art 22 II 2, 64 III, 77 III, 86 I, 314 AEUV) wirken Parlament und Rat zusammen, im ersten Fall auf Augenhöhe (Art 289 I, 294 AEUV), im zweiten Fall mit variierender Rollenverteilung (vgl Art 289 II AEUV); grundsätzlich ist ein Vorschlag der Kommission erforderlich (Art 17 II 1 EUV).928

dd) Finanz- und Haushaltsplanung Das Europäische Parlament und der Rat sind nicht nur der „Gesetzgeber“ der Union, 240 sie üben gem Art 14 I 1, 16 I 1 EUV auch gemeinsam die Haushaltsbefugnisse aus. Der Begriff der Haushaltsbefugnisse ist nicht eng, auf das Verfahren zur Annahme und zur Überwachung der Ausführung des Haushaltsplans beschränkt, zu verstehen. Auch andere Sprachfassungen (bspw budgetary functions bzw fonctions budgétaire) legen ein weites Verständnis des Begriffs der Haushaltsbefugnisse nahe, so dass neben dem eigentlichen Haushaltsverfahren (Art 314, 318, 319 AEUV) auch das Zusammenwirken von Rat und Parlament bei der Festlegung der Eigenmittel der Union (Art 311 III, IV AEUV) sowie bei der mehrjährigen Finanzplanung (Art 312 AEUV) umfasst sind.929 Unschädlich ist dabei, dass va die beiden zuletzt genannten Instrumente kein gleichberechtigtes Zusammenwirken von Parlament und Rat vorsehen, sondern den Rat in der Vorhand sehen. Wenn die Art 14 I 1, 16 I 1 EUV davon sprechen, Parlament und Rat übten „gemeinsam“ (jointly, conjointement) die Haushaltsbefugnisse aus, ist damit nämlich – wie auch die besonderen Gesetzgebungsverfahren zeigen (Rn 239) – nicht gesagt, dass beide Organe stets mit gleichem Gewicht zusammenwirken müssen.

ee) Verwaltung Der Begriff der „Verwaltung“, verstanden als Aufgabe der Organe, knüpft an die 241 Gewaltenteilungslehre an, wie sie im deutschen Grundgesetz in Art 1 III und Art 20 II 2 GG angesprochen wird („vollziehende Gewalt“). Er erscheint – immer noch – als eine Art Residualbegriff, der all jene Aufgaben und Tätigkeiten der Organe umfasst, die nicht der Gesetzgebung, der Rechtsprechung oder der „Regierung“ (verstanden nicht im organisatorischen Sinn, sondern als materielle Aufgabe – hierzu vgl

_____ 927 Überblick – auch über die anderen am Gesetzgebungsverfahren ggf beteiligten Institutionen – bei Schulze/Zuleeg/Kadelbach/König § 2 Rn 75 ff. 928 Zum „Vorschlagsmonopol“ der Kommission umfassend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Martenczuk Art 17 EUV Rn 50–65a. 929 So auch Blanke/Mangiameli/Mangiameli Art 14 TEU Rn 29 f. Matthias Niedobitek

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Rn 233 ff) zugeordnet werden können.930 Das ist im deutschen Verfassungs- und Verwaltungsrecht so,931 und das ist im Unionsrecht nicht anders.932 „Verwaltung“ in diesem Sinn wird va von der Kommission, ferner vom Rat sowie von der EZB und dem Rechnungshof ausgeübt.933 Diese Organe sind für die außenwirksame Verwaltung zuständig. Eine negative Begriffsbestimmung von „Verwaltung“ (= alles, was nicht den Bereichen Gesetzgebung, Regierung und Rechtsprechung zuzurechnen ist) ist zwar unbefriedigend, jedoch sind, wenigstens im deutschen Verwaltungsrecht, alle Versuche, Verwaltung positiv zu beschreiben, letztlich gescheitert.934 Immerhin lässt sich aber sagen, dass Verwaltung die „Wahrnehmung europäischer Zuständigkeiten und die Ausführung europäischen Rechts im Einzelfall oder in konkreten Situationen“ betrifft.935 Bezöge man die binnenwirksamen Verwaltungsaufgaben mit ein (vgl bspw 242 Art 15 III UAbs 4 AEUV: Verwaltungsaufgaben [administrative tasks] des Gerichtshofs, der EZB und der EIB), wären insoweit alle Organe und sonstigen Institutionen in gewissem Grad für „Verwaltung“ zuständig. Gleichwohl ist die Aufgabe „Verwaltung“ im vorliegenden Zusammenhang nur sinnvoll im Sinne außenwirksamer Verwaltung zu verstehen. Wenn in der älteren Literatur zum Gemeinschaftsrecht Kommission und Rat 243 zusammen oft als „Exekutive“ der Gemeinschaften bezeichnet wurden,936 so beruht dies aus heutiger Sicht auf einer unzutreffenden Einordnung des Rates, dessen legislatives Potenzial verkannt wurde, dies vermutlich wegen der „exekutiven“ Zusammensetzung des Rates. Richtig ist allerdings, dass die Kommission unter allen Organen als dasjenige 244 Organ bezeichnet werden kann, das primär mit „Verwaltung“ befasst ist. In der heutigen Kommentarliteratur wird die Kommission, unter Hinweis auf ihre Vewaltungsaufgaben, deshalb als „Hauptverwaltungsorgan“ bezeichnet.937 So ist die Kommission nicht nur für die (Überwachung der) Anwendung des EU-Wettbewerbsrechts zuständig (Art 101 ff AEUV), sondern bspw auch für die Verwaltung von Uni-

_____ 930 Allerdings ist der Begriff der „Gesetzgebung“ selbst unklar, da er die förmliche Gesetzgebung durch Gesetzgebungsorgane oder (auch) die materielle Gesetzgebung (generell-abstrakte Vorschriften, die auch von der Kommission erlassen werden können) umfassen kann. 931 Vgl nur Sachs/Sachs Art 20 GG Rn 83. 932 Vgl Schwarze/Hatje Art 298 AEUV Rn 3. 933 Zu den Verwaltungaufgaben der genannten Organe vgl Schwarze/Hatje Art 298 AEUV Rn 8. 934 Überblick bei Ehlers/Pünder/Ehlers § 1 Rn 6. 935 Schwarze/Hatje Art 298 AEUV Rn 3. 936 So von bspw Lagrange ZHR 124 (1961), 88 (93); vgl ferner HP Ipsen S 160 (zur Fusion der „Gemeinschaftsexekutiven“). 937 So von Schwarze/Hatje Art 298 AEUV Rn 8; Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Gundel § 3 Rn 12; ähnlich wohl Calliess/Ruffert/Ruffert Art 298 AEUV Rn 2; Curtin S 91 („core executive“); kritisch zur Kennzeichnung der Kommission als „Verwaltungsbehörde“ Schroeder Grundkurs § 3 Rn 53. Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 141

onsprogrammen (Art 17 I 4 EUV, Art 163 AEUV), die Ausführung des EU-Haushalts (Art 17 I 4 EUV, Art 317 AEUV) und die Vertretung der Union (hierzu näher Rn 257 ff). Allgemein übt die Kommission gem Art 17 I 5 EUV nach Maßgabe der Verträge „Exekutiv- und Verwaltungsfunktionen“ aus (executive and management functions; des fonctions […] d’exécution et de gestion). Der Begriff der Verwaltung, verstanden als Aufgabe, ist von der europäischen 245 Verwaltung im organisatorischen Sinn, dem Verwaltungsunterbau938 der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union zu unterscheiden. Nur um den zuletzt genannten Verwaltungsbegriff geht es in Art 298 AEUV. Gleichwohl wird in der Kommentarliteratur Art 298 AEUV zuweilen zum Anlass genommen, das System der mit Verwaltung im materiellen Sinn befassten Organe und sonstigen EUInstitutionen zu entfalten.939 Dies ist irreführend. Art 298 AEUV grenzt den Begriff der europäischen Verwaltung gerade von den „Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen“ ab,940 die sich auf die europäische Verwaltung stützen können sollen. Der Begriff der europäischen Verwaltung in Art 298 I AEUV knüpft an Art 9 III des Amsterdamer Vertrags an, wonach „[d]ie Beamten und sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften der einzigen Verwaltung [single administration, administration unique] dieser Gemeinschaften [angehören]“.941 In Art 298 AEUV geht es somit nicht um die mit der Unionsaufgabe „Verwaltung“ befassten Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen, sondern um die diesen Stellen zuarbeitende „Administration“,942 denn, wie in der Literatur lapidar festgestellt wurde: „Jede Organisation bedarf einer Verwaltung“.943 Dies bestätigt Art 298 II AEUV mit seiner Bezugnahme auf das Statut der Beamten und die Beschäftigungsbedingungen der sonstigen Bediensteten der Union. Dass auch die Union „einer Verwaltung bedarf“, spiegelt sich nicht zuletzt944 in Personalzahlen wieder: Für das Jahr 2019 verfügen

_____ 938 Vedder/Heintschel vHeinegg/Epping Art 298 AEUV Rn 2; hierzu näher Schulze/Zuleeg/ Kadelbach/Gundel § 3 Rn 16 ff. 939 So etwa von Calliess/Ruffert/Ruffert Art 298 AEUV passim; Schwarze/Hatje Art 298 AEUV Rn 8 ff. 940 Vgl demgegenüber Schwarze/Hatje Art 298 AEUV Rn 5: „Die europäische Verwaltung im engeren Sinn bezeichnet die mit Verwaltungsaufgaben betrauten Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union“. 941 Hierzu näher Niedobitek FS Heinrich Siedentopf, 2008, S 89 ff. 942 Treffend weist Geiger/Khan/Kotzur/Kotzur Art 298 AEUV Rn 3 darauf hin, dass die rechtsstaatliche Funktionengliederung nicht nur eine Trennung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative verlangt, sondern, was in Art 298 I AEUV zum Ausdruck komme, „auch von Exekutive und Administrative“ (Hervorhebung hinzugefügt). Der Begriff der Administrative (oder Administration) korrespondiert mit der englischen und der französischen Fassung von Art 298 I AEUV, die für Verwaltung den Begriff „administration“ verwenden. 943 Ehlers/Pünder/Ehlers § 1 Rn 4. 944 Näher zur EU-Administration, speziell zum EU-Dienstrecht Oppermann/Classen/Nettesheim § 7 passim; Frenz Hdb 6 Rn 1681 ff. Matthias Niedobitek

142 | § 1 Vertragliche Grundlagen, rechtliche Gestalt, Institutionen der Union

alle EU-Institutionen (ohne die Agenturen) zusammengenommen über rund 39.130 Planstellen.945

ff) Kontrolle 246 Der Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts erfordert ua, dass sich die Or-

gane gegenseitig kontrollieren (Rn 201). Es ist daher folgerichtig, dass den Organen, freilich in unterschiedlichem Umfang und mit unterschiedlichem Gewicht, Kontrollaufgaben in Bezug auf die jeweils anderen Organe obliegen. Die Kontrollaufgaben der Organe sind allerdings nicht auf die gegenseitige Kontrolle beschränkt, sie erstrecken sich auch auf die Mitgliedstaaten und deren Wirtschaftssubjekte. Im Einzelnen lassen sich drei Arten von Kontrolle unterscheiden: politische 247 Kontrolle, rechtliche Kontrolle, wirtschaftliche Kontrolle. Welcher Art von Kontrolle eine Maßnahme zuzuordnen ist, ergibt sich richtigerweise nicht aus den maßgeblichen Verfahren oder den erzeugten Wirkungen, sondern aus dem anzuwendenden Kontrollmaßstab, der politischer, rechtlicher oder wirtschaftlicher Natur sein kann. Die zutreffende Einordnung mag am Beispiel des Misstrauensvotums des Europäischen Parlaments gegenüber der Kommission verdeutlicht werden: Aufgrund eines erfolgreichen Misstrauensvotums ist die Kommission gem Art 234 II AEUV rechtlich verpflichtet, geschlossen ihr Amt niederzulegen. Die Wirkung ist daher rechtlicher Art. Gleichwohl handelt es sich um ein politisches Kontrollinstrument,946 weil dem Misstrauensvotum kein rechtlicher, sondern ein politischer Maßstab zugrunde liegt. Nichts anderes gilt für die an ein Mitglied der Kommission gerichtete Aufforderung des Kommissionspräsidenten, sein Amt niederzulegen (Art 17 VI UAbs 2 EUV). Nachfolgend werden für alle drei Arten von Kontrolle – die politische, die rechtliche und die wirtschaftliche Kontrolle – wichtige Beispiele genannt. Die politische Kontrolle ist in erster Linie, wenn auch nicht ausschließlich,947 248 Sache des Europäischen Parlaments. Dabei obliegt dem Parlament va948 die Kon-

_____ 945 Vgl den Stellenplan für das Haushaltsjahr 2019 im Gesamthaushaltsplan 2019, ABl 2019 L 67/3 (167). 946 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Martenczuk Art 17 EUV Rn 113. 947 Eine politische Kontrolle kann auch vom Europäischen Rat auf der Grundlage seiner „Schlussfolgerungen“, vom Rat im Rahmen seiner „Entschließungen“ oder „Schlussfolgerungen“ sowie allg im Rahmen der sog offenen Methode der Koordinierung ausgeübt werden. Zur OMK vgl nur Odendahl/Odendahl S 373 ff. Bspw ersuchten der Rat und die im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten in Nr 21 ihrer Schlussfolgerungen „zur bestmöglichen Nutzung des Potenzials der Jugendpolitik im Hinblick auf die Ziele der Strategie Europa 2020“, ABl 2013 C 224/2, ua die Kommission, „den Beitrag jugendpolitischer Maßnahmen als Teil der übergeordneten politischen Strategien in den Bereichen allgemeine und berufliche Bildung, Beschäftigung und soziale Inklusion zum Erreichen der Ziele der Strategie Europa 2020 zu fördern“. 948 Das Europäische Parlament verfügt über zahlreiche Kontrollinstrumente, nicht nur gegenüber der Kommission; Überblick bei Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Bieber § 1 Rn 31. Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 143

trolle der Kommission. Nach Art 17 VIII 1 EUV ist die Kommission als Kollegium dem Europäischen Parlament verantwortlich. In dieser in das Primärrecht erst durch den Vertrag von Lissabon eingefügten Formulierung (ebenso bereits Art I-28 VIII 1 VVE) kommt das offenkundige Bestreben der Vertragsstaaten zum Ausdruck, eine Art „parlamentarisches Regierungssystem“, mit der Kommission als „Regierung“, zu etablieren oder besser: zu imitieren.949 Wichtigstes950 politisches Kontrollinstrument des Parlaments gegenüber der Kommission ist das Misstrauensvotum (Art 17 VIII EUV; 234 AEUV). Um die parlamentarische Kontrolle der Kommission zu effektivieren, hat das Parlament mit der Kommission eine interinstitutionelle Vereinbarung geschlossen – die „Rahmenvereinbarung über die Beziehungen zwischen dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission“951 –, die dem Parlament über den Vertragswortlaut hinaus gehende Positionen einräumt952 (vgl auch Rn 210). Das Instrument des Untersuchungsausschusses (Art 226 AEUV) ist sowohl der politischen Kontrolle953 als auch der rechtlichen Kontrolle (s Rn 252) zuzurechnen. Die Entlastung der Kommission „zur Ausführung des Haushaltsplans“, die gem Art 319 I 1 AEUV das Europäische Parlament auf Empfehlung des Rates erteilt, erfordert zwar eine Beurteilung der Einhaltung der (haushalts-)rechtlichen Bindungen der Kommission,954 ist jedoch letztlich auch und vor allem eine politische Entscheidung,955 die, was jedoch nur die politische, nicht die rechtlichrechnerische Funktion der Entlastung betrifft, bis hin zu in einer endgültigen Verweigerung der Entlastung gehen kann.956 Die insoweit dem Bürgerbeauftragten zu Gebote stehenden Instrumente der 249 Kontrolle – mögen sie politischer oder auch rechtlicher Natur sein957 – können dem Parlament nicht zugerechnet werden.958 Daher erscheint es als unzutreffend, zumindest missverständlich, den Bürgerbeauftragten als „Behörde“ des Europäischen Parlaments zu qualifizieren.959

_____ 949 Zum Begriff des parlamentarischen Regierungssystems Niedobitek FS Klaus König, 2004, S 356 f. 950 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Martenczuk Art 17 EUV Rn 113. Dass bisher kein Misstrauensantrag erfolgreich gewesen ist, worauf Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Bieber § 1 Rn 32 hinweist, spricht nicht gegen dessen „Praktikabilität“ (ebd). 951 ABl 2010 L 304/47. 952 Zur Rahmenvereinbarung vgl auch Schwarze/Nemitz Art 17 EUV Rn 76. 953 Auf diesen Aspekt beschränkt Grabitz/Hilf/Nettesheim/Hölscheidt Art 226 AEUV Rn 4, das Ziel von Art 226 AEUV; ebenso Streinz/Huber Art 226 AEUV Rn 1. 954 Streinz/Niedobitek Art 319 AEUV Rn 4. 955 Vgl etwa Calliess/Ruffert/Waldhoff Art 319 AEUV Rn 1; Vedder/Heintschel vHeinegg/Rossi Art 219 AEUV Rn 3. 956 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Magiera Art 319 AEUV Rn 8; Streinz/Niedobitek Art 319 AEUV Rn 16. 957 Zur Einordnung des Begriffs „Missstände“ iSv Art 228 I AEUV vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/ Hölscheidt Art 228 AEUV Rn 14. 958 Vgl EuG, Rs T-209/00 (Beschluss) – Lamberts. 959 So Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 13 EUV Rn 22. Matthias Niedobitek

144 | § 1 Vertragliche Grundlagen, rechtliche Gestalt, Institutionen der Union

250

Die wechselseitige Kontrolle der Unionsorgane sowie anderer EU-Institutionen und der Mitgliedstaaten untereinander am Maßstab des Unionsrechts – die rechtliche Kontrolle – obliegt, wenn auch in unterschiedlichem Umfang und mit unterschiedlicher, mehr aktiver oder mehr passiver, Rollenzuschreibung, allen Organen. Diese Kontrolle kann in Verfahren vor dem Gerichtshof der EU (Art 19 I UAbs 1 S 1 EUV) münden (vgl nur Art 263, 265 AEUV), der verbindlich über eine bestrittene Vereinbarkeit rechtlich relevanten Verhaltens der Organe und Institutionen der Union sowie der Mitgliedstaaten und sonstiger EU-Rechtssubjekte mit dem Unionsrecht zu entscheiden hat und damit zweifellos ein Eckpfeiler der rechtlichen Kontrolle ist. Jedoch ist der Gerichtshof der EU wie jede Gerichtsbarkeit kein aktives Organ der Rechtskontrolle, sondern wird nur tätig, wenn er von dritter Seite „angerufen“960 wird. Im Rahmen der Funktionenteilung der Union ist die gerichtliche Rechtskontrolle als eine von der aktiven Rechtskontrolle zu trennende Aufgabe ausgewiesen (s Art 19 I UAbs 1 S 2 EUV), die daher noch einmal gesondert aufgegriffen wird (s Rn 255). Unter denjenigen Organen, die zu einer „aktiven“ Rechtskontrolle aufgerufen 251 sind, spielt die Kommission zweifellos die wichtigste Rolle. In der durch den Vertrag von Lissabon in Art 17 I EUV formulierten Beschreibung der Aufgaben der Kommission kennzeichnen zwei Sätze die Kommission als „Hüterin des Unionsrechts“: Zum einen hat die Kommission (S 2) „für die Anwendung der Verträge sowie der von den Organen kraft der Verträge erlassenen Maßnahmen“ zu sorgen. Zum anderen (S 3) „überwacht [sie] die Anwendung des Unionsrechts unter der Kontrolle des Gerichtshofs der Europäischen Union“. Soweit die erstgenannte Aufgabe nicht lediglich eine Aufsichtsfunktion beschreibt, sondern auch eigene Entscheidungsbefugnisse der Kommission umfasst,961 überschneidet sie sich mit der Verwaltungsaufgabe der Kommission (vgl Rn 244); die letztgenannte Aufgabe betrifft demgegenüber allein die Rechtskontrolle. Die Rolle der Kommission als „Hüterin des Unionsrechts“ schlägt sich in Personalzahlen nieder: Mit 23.613 Planstellen (2019) verfügt die Kommission unter allen EU-Institutionen mit Abstand über den höchsten Bestand an Planstellen, gefolgt vom Europäischen Parlament mit nur noch 6.633 Planstellen. Insgesamt, unter Berücksichtigung des der Kommission zur Verfügung stehenden externen Personals, summieren sich die „Humanressourcen“ der Kommission auf 31.030 Planstellen (2019).962

_____ 960 Zum Begriff vgl bspw Art 258 II AEUV. 961 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Martenczuk Art 17 EUV Rn 23 behandelt daher unter der Kapitelüberschrift „Hüterin des Unionsrechts“ auch die Aufgaben der Kommission im Rahmen der Wettbewerbsregeln des Unionsrechts. 962 Vgl den Stellenplan für das Haushaltsjahr 2019 im Gesamthaushaltsplan 2019, ABl 2019 L 67/3 (167). Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 145

Das Recht des Europäischen Parlaments, Untersuchungsausschüsse einzu- 252 richten (Art 226 AEUV) ist zwar gewiss der politischen Kontrolle zuzurechnen (vgl Rn 248 aE), jedoch auch – und va – der rechtlichen Kontrolle. Nach Art 226 I Halbs 1 AEUV kann das Europäische Parlament die Einsetzung eines nichtständigen Untersuchungsausschusses beschließen, der „behauptete Verstöße gegen das Unionsrecht […] prüft“. Der primär rechtliche Kontrollcharakter des in Art 226 AEUV verbrieften Rechts963 wird durch Art 226 I Halbs 2 AEUV bestätigt, wonach die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses so lange unzulässig ist, wie ein Gerichtsverfahren 964 über denselben Sachverhalt anhängig ist. Die Entlastung der Kommission zur Ausführung des Haushaltsplans trägt, obschon sie auch eine (haushalts-)rechtliche Bewertung erfordert, primär politischen Charakter (s Rn 248). Eine wirtschaftliche Kontrolle erfolgt sowohl gegenüber den Unionsorganen 253 als auch gegenüber den Mitgliedstaaten und den mitgliedstaatlichen Unternehmen. Allerdings ist eine solche ökonomische Kontrolle stets auch rechtlich determiniert, so dass ökonomische und rechtliche Kontrolle ineinander greifen. Entscheidend für die Zuordnung zum Bereich der wirtschaftlichen Kontrolle ist jedoch, dass die Unionsrechtsordnung auf ökonomische Sachverhalte und Wirkungen Bezug nimmt, auch wenn sie diese gleichsam „verrechtlicht“. Was zunächt die wirtschaftliche Kontrolle der Union, speziell der Kommissi- 254 on, angeht, ist primär die Tätigkeit des Rechnungshofs angesprochen. Der Rechnungshof hat gem Art 287 II UAbs 1 AEUV nicht nur die Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit der Einnahmen und Ausgaben der Union (ein Aspekt der rechtlichen Kontrolle), sondern auch und vor allem die Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung zu prüfen. Wichtigstes Kontrollinstrument des Rechnungshofs ist dabei sein Jahresbericht über die Ausführung des Haushaltsplans, der die Antworten der Kommission zu den Bemerkungen des Rechnungshofs enthält; der Bericht wird im Amtsblatt der Union veröffentlicht.965 Auch die Entlastung der Kommission zur Ausführung des Haushaltsplans (Art 319 AEUV) erfordert neben (haushalts-)rechtlichen (Rn 252) wirtschaftliche Erwägungen, va soweit der Rat im Rahmen seiner Entlastungsempfehlung die Berichte des Rechnungshofs zu prüfen hat. Die wirtschaftliche Kontrolle der Mitgliedstaaten findet va im Rahmen der wirtschaftspolitischen Koordinierung gem Art 121, 126 AEUV iVm dem Stabilitätsund Wachstumspakt sowie der Beschäftigungspolitik statt, ferner in den (sonsti-

_____ 963 Anders Art 44 GG, der keine derartige Fokussierung kennt. 964 Der Begriff des Gerichts ist hier weit zu verstehen und umfasst europäische, nationale und internationale Gerichte; vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Hölscheidt Art 226 AEUV Rn 15. 965 Für das Jahr 2017 vgl ABl 2018 C 357/1. Matthias Niedobitek

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gen966) Bereichen der offenen Methode der Koordinierung.967 Im Rahmen der wirtschaftlichen Kontrolle der Mitgliedstaaten wirken verschiedene Organe zusammen,968 va der Rat und die Kommission, jedoch kommt der Kommission hier fraglos eine Schlüsselrolle zu, insb ist sie „Hüterin der Haushaltsdisziplin“.969 Als solche trat sie in dem jüngsten Konflikt mit Italien hervor, in dem sie dessen Haushaltsplanung (zuletzt für 2019) monierte.970 Ferner erfolgt eine wirtschaftliche Kontrolle der Mitgliedstaaten im Rahmen der Beihilfenaufsicht, die allein der Kommission obliegt.971 Was schließlich die wirtschaftliche Kontrolle der Unternehmen betrifft, vollzieht sich diese im Rahmen der Wettbewerbsregeln des Unionsrechts (Art 101–106 AEUV), deren Anwendung, was die Unionsebene betrifft, ebenfalls Sache der Kommission ist.972 Die vorstehende Darstellung der wirtschaftlichen Kontrolle bestätigt, worauf bereits hingewiesen wurde (Rn 253), dass die wirtschaftliche Kontrolle stets in einen rechtlichen Rahmen eingebettet ist, der diese effektiviert, ggf auch sanktioniert.

gg) Rechtsprechung 255 Die Aufgabe der Rechtsprechung ist – in Deutschland wie in der Union973 – Sache

der Gerichte.974 Dementsprechend ist die Rechtsprechung gem Art 19 I UAbs 1 S 2 EUV dem Unionsorgan „Gerichtshof der Europäischen Union“ – ggw bestehend aus zwei Gerichten, dem Gerichtshof975 und dem Gericht976 – überantwortet worden,

_____ 966 Insb die wirtschaftspolitische und die beschäftigungspolitische Koordinierung kann als Kodifizierung der OMK angesehen werden; für die Beschäftigungspolitik vgl Streinz/Niedobitek Art 148 AEUV Rn 21. 967 Hierzu zusammenfassend Oppermann/Classen/Nettesheim § 9 Rn 134 f. 968 Überblick zu den im Rahmen der wirtschaftspolitischen Koordinierung eingebundenen Organen bei Gramlich § 15 (in diesem Band) Rn 57 ff. 969 So Gramlich § 15 (in diesem Band) Rn 70. 970 Vgl EU Kommission „Italien – Bericht nach Artikel 126 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union“, COM(2018) 809. 971 Näher hierzu Jungheim-Hertwig/Weiß § 14 (in diesem Band) Rn 329. 972 Daneben sind auch die mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden zuständig; vgl JungheimHertwig/Weiß § 14 (in diesem Band) Rn 13 ff. 973 Zu Besonderheiten im französischen Rechtssystem vgl Pechstein Prozessrecht Rn 83. 974 Für Deutschland vgl Art 92 GG: „Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut; sie wird durch das Bundesverfassungsgericht, durch die in diesem Grundgesetze vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt“. Zu den Bedeutungsvarianten des Begriffs der „rechtsprechenden Gewalt“ iSv Art 92 GG vgl Sachs/Detterbeck Art 92 GG Rn 4 ff. 975 Zur Doppeldeutigkeit der Bezeichnung „Gerichtshof“ vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Mayer Art 19 EUV Rn 16; Blanke/Mangiameli/Arnull Art 19 TEU Rn 11. 976 Zur Auflösung des bis 2016 bestehenden „Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union“, dem bis dahin einzigen „Fachgericht“, vgl Becker/Lippert/Niedobitek Gerichtshof Abschn 2. Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 147

das „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“ zu sichern hat. Unter allen Organen der Union ist der Gerichtshof der EU dasjenige Organ, „das eine der Funktionen der Gewaltenteilung exklusiv auf sich vereint“.977 Da der Gerichtshof nur auf Antrag tätig wird, ist seine Tätigkeit zur „passiven Rechtskontrolle“ zu zählen (hierzu vgl Rn 250).

hh) Besetzung von Organen Als „Kreationsfunktion“ wird in der Literatur die Aufgabe bezeichnet, durch Aus- 256 wahlentscheidung Organe zu besetzen,978 dh Organwalter zu bestimmen.979 Unter den sieben EU-Organen (Art 13 I EUV) bedürfen nur die Organwalter von fünf Organen einer besonderen Auswahlentscheidung: die Organwalter des Europäischen Parlaments, der Kommission, des Gerichtshofs der EU, der EZB und des Rechnungshofs. Die Mitglieder des Europäischen Rates (abgesehen von den Präsidenten von Europäischem Rat und Kommission) und des Rates sind kraft nationalen Amtes die jeweiligen Staats- oder Regierungschefs bzw (nationale oder subnationale) Minister. Nur bei der Besetzung von vier EU-Organen sind andere EU-Organe beteiligt, nämlich bei der Besetzung der Kommission, partiell bei der Besetzung des Gerichtshofs der EU sowie bei der Besetzung des EZB-Direktoriums und des Rechnungshofs; demgegenüber werden die Mitglieder des Europäischen Parlaments von den Wahlberechtigten in den Mitgliedstaaten direkt gewählt. Was die Mitglieder der Kommission angeht, wirken gem Art 17 VII EUV das Europäische Parlament,980 der Rat sowie – in erster (vgl Art 17 VII UAbs 1 S 1 EUV) und letzter Instanz (vgl Art 17 VII UAbs 3 S 2 EUV) – der Europäische Rat zusammen. Die Mitglieder von EuGH und EuG werden zwar von den Regierungen der Mitgliedstaaten ernannt (vgl Art 253 I Halbs 2, 254 II 2 AEUV), jedoch werden die Mitglieder der Fachgerichte gem Art 257 IV 2 AEUV vom Rat ernannt. Für die Ernennung der Mitglieder des Direktoriums der EZB ist gem Art 283 II UAbs 2 AEUV primär der Europäische Rat zuständig. Die Mitglieder des Rechnungshofs schließlich werden vom Rat ernannt.981

_____ 977 So treffend S vAlemann S 88. 978 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Hölscheidt Art 14 EUV Rn 42 ff. Das Wort ist abgeleitet vom lateinischen creare, was ua auswählen bedeutet. 979 Zum Begriff des Organwalters vgl Rn 122, 187. 980 Zur „Anhörung“ der designierten Kommissionsmitglieder vgl Ziff 2 ff der Rahmenvereinbarung über die Beziehungen zwischen dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission, ABl 2010 L 304/47 sowie Anlage VII GO-EP. 981 Zur insoweit reduzierten Bedeutung der Organstellung des Rechnungshofs vgl Streinz/ Niedobitek Art 285 AEUV Rn 9. Matthias Niedobitek

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ii) Vertretung der Union 257 Die Aufgabe der Vertretung der Union als juristische Person ist zwar, legt man

die hergebrachte Gewalten- bzw Funktionenteilung zugrunde, dem Bereich der „Verwaltung“ zuzurechnen982 (hierzu Rn 241 ff), gleichwohl handelt es sich um eine spezielle Aufgabe mit durchaus politischen Implikationen, die auch im Primärrecht der Union herausgehoben und daher auch hier gesondert behandelt wird. Dabei sind, analog zu den drei Dimensionen der Rechtspersönlichkeit der Union, drei Dimensionen der Vertretung der Union zu unterscheiden: die Vertretung auf völkerrechtlicher Ebene, die Vertretung im Bereich der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen sowie die Vertretung im Bereich der Unionsrechtsordnung. Was zunächt die Vertretung der Union auf völkerrechtlicher Ebene angeht,983 258 bestimmt Art 17 I 6 EUV, dass grundsätzlich die Kommission die Vertretung nach außen (external representation, représentation extérieure) wahrnimmt, dies jedoch „[a]ußer in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und den übrigen in den Verträgen vorgesehenen Fällen“. Mit dieser Einschränkung bezieht sich Art 17 EUV auf die auswärtigen Zuständigkeiten des Hohen Vertreters der Union für Außenund Sicherheitspolitik (Art 27 II EUV) und des Präsidenten des Europäischen Rates (Art 15 VI UAbs 2 EUV). Besondere Regeln betreffen darüber hinaus den Abschluss völkerrechtlicher Verträge allgemein (Art 218 AEUV) sowie von Wechselkursabkommen (Art 219 AEUV) und von Handelsabkommen (Art 207 III–V AEUV). Die EZB handelt auf der völkerrechtlichen Ebene nicht für die Union, sondern rechtlich autonom984 (vgl Rn 190). Die Außenvertretung der Union muss somit für Außenstehende nach wie vor verworren wirken. Die Vertretung der Union im Bereich der mitgliedstaatlichen Rechtsordnun259 gen ist klarer geregelt als die völkerrechtliche Vertretung der Union. Art 335 AEUV bestimmt, dass die Union „[z]u diesem Zweck“ – dh zur Wahrnehmung ihrer innerstaatlichen Rechts- und Geschäftsfähigkeit, insb beim Erwerb von Vermögen und in Gerichtsverfahren – grundsätzlich von der Kommission vertreten wird. Allerdings wird die Union, wie es schon bisher „gängige Praxis“ ist,985 gem dem durch den Vertrag von Lissabon neu eingefügten Art 335 S 3 AEUV von dem jeweiligen Organ vertreten, soweit es um dessen „Funktionieren“ geht (hierzu vgl bereits Rn 120). Im Bereich der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen handelt die EZB nicht für die Union, sondern rechtlich autonom986 (vgl Rn 190).

_____ 982 In diesem Sinn Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Bieber § 1 Rn 75; iErg ebenso Grabitz/Hilf/ Nettesheim/Kumin Art 15 EUV Rn 58: „exekutive Gewalt“. 983 Hierzu umfassend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Martenczuk Art 17 EUV Rn 40 ff. 984 Vgl Streinz/Kempen Art 282 AEUV Rn 8. 985 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Athen/Dörr Art 335 AEUV Rn 48. 986 Vgl Streinz/Kempen Art 282 AEUV Rn 9 f. Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 149

Im „inneren“ Bereich der Unionsrechtsordnung, dh im Interorganverhält- 260 nis sowie im hoheitlichen Verhältnis zu den Mitgliedstaaten sowie den sonstigen Rechtssubjekten des Unionsrechts, obliegt die Vertretung der Union den Organen der Union in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich (vgl Rn 121 aE). Hier spielt insb die Rechtspersönlichkeit der EZB keine Rolle,987 die EZB ist nun „ganz Organ“. Dies zeigt bspw das Vorabentscheidungsverfahren gem Art 267 I lit b) AEUV, das als „Handlungen der Organe“ auch Handlungen der EZB gem Art 132 AEUV erfasst.988

d) Die Zusammensetzung der Organe Die Zusammensetzung der Organe der Union, einschließlich der Bestimmung ihrer 261 Organwalter („Kreation“), ist für jedes Organ getrennt zu erörtern. Es empfiehlt sich, die in Art 13 I EUV vorgegebene Reihenfolge einzuhalten.

aa) Europäisches Parlament Gem Art 14 II UAbs 1 S 1 EUV setzt sich das Europäische Parlament „aus Vertetern 262 der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger“ zusammen. Dass diese Beschreibung, was die Wahlberechtigung angeht, nicht ganz zutreffend ist, wurde bereits festgestellt (Rn 227). Gem Art 14 II UAbs 1 S 2 EUV umfasst das degressiv proportional zusammengesetzte Parlament 751 Abgeordnete.989 Diese Mitgliederzahl hatte das Parlament erstmals in der Wahlperiode 2014–2019; zuvor galten Übergangsbestimmungen, die zuletzt zu einer – im zuvor geänderten990 Protokoll über die Übergangsbestimmungen und im Beitrittsvertrag Kroatien sanktionierten – vorübergehenden Überschreitung der in Art 14 EUV vorgesehenen Mitgliederzahl geführt hatten. Für die Wahlperiode 2019–2024 wurde (einstweilen) dieselbe Zahl von Mitgliedern des EP gewählt, da im Zeitraum der Wahl (23.–26. Mai 2019)991 das Vereinigte Königreich trotz seines Beschlusses, die Union zu verlassen (vgl Rn 29, 173), noch Mitglied der Union war. Mit dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der Union verkleinert sich das Europäische Parlament auf 705 Mitglieder. Dies hat der Europäische Rat in seinem Beschluss über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments so festgelegt.992

_____ 987 Ebenso Grabitz/Hilf/Nettesheim/Palm Art 282 AEUV Rn 42 f. 988 Streinz/Ehricke Art 267 AEUV Rn 19. 989 Zur Ursache für diese „etwas holprige Regelung“ (der Verfassungsvertrag sah noch die „runde“ Summe von 750 Abgeordneten vor) vgl Streinz/Huber Art 14 EUV Rn 54. 990 Vgl das Änderungsprotokoll, ABl 2010 C 263/1. 991 Beschluss 2018/767 des Rates, ABl 2018 L 129/76. 992 Beschluss 2018/937, ABl 2018 L 165 I/1. Matthias Niedobitek

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Maßstab für die Verteilung der Abgeordneten auf die Mitgliedstaaten ist nicht etwa die Zahl der jeweiligen Staatsangehörigen, sondern die Zahl der – von Eurostat zu ermittelnden – „Einwohner“, mithin die „Größe der jeweiligen Bevölkerung“ (vgl Art 1 Spstr 1 Beschluss 2018/937), ohne dass insoweit zwischen Angehörigen von EU-Mitgliedstaaten und Angehörigen von Drittstaaten unterschieden würde. Auch wenn Drittstaatsanhörige regelmäßig nicht an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen können,993 bedeutet die Bezugnahme auf die „Bevölkerung“ der Mitgliedstaaten, dass auch drittstaatsangehörige Einwohner der Mitgliedstaaten im Europäischen Parlament repräsentiert werden. Die Bezugnahme in Art 14 II UAbs 1 S 1 EUV auf die „Unionsbürgerinnen und Uni264 onsbürger“ verschleiert, dass das Europäische Parlament – wie dies ex-Art 189 EGV deutlicher zum Ausdruck brachte – nach wie vor „aus Vertretern der Völker der in der Gemeinschaft [Union] zusammengeschlossenen Staaten“ besteht (hierzu vgl Rn 227). Dies schlägt sich va in der nach wie vor bestehenden „Kontingentierung“ der in jedem Mitgliedstaat zu wählenden EP-Abgeordneten nieder, die früher (ex-Art 190 EGV) unmittelbar im Primärrecht verankert war und seit Lissabon vom Europäischen Rat festzulegen ist. An der grundsätzlichen Segmentierung der Abgeordneten nach Mitgliedstaaten ändert sich nichts dadurch, dass die Unionsbürger gem Art 20 II UAbs 1 S 2 lit b) AEUV an ihrem Wohnsitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat das aktive und das passive Wahlrecht zum Europäischen Parlament haben, auch wenn hierdurch partiell die „Staatsangehörigkeit transzendier[t]“ wird.994 Das Wahlrecht zum Europäischen Parlament besteht aus mehreren Schich265 ten:995 Die Wahlrechtsgrundsätze sind in Art 14 III EUV festgelegt, in dem auch die Dauer der Amtszeit (fünf Jahre) bestimmt ist. Die umfangreichsten europarechtlichen Wahlvorgaben enthält der sog Direktwahlakt (DWA) von 1976996 in seiner 2002 geänderten997 Fassung.998 Die jüngste Änderung des Direktwahlakts vom 13. Juli 2018999 wurde in die konsolidierte Fassung des DWA noch nicht eingearbeitet, vermutlich weil die darin festgelegte Regelung – im Kern geht es um die unionsrechtliche Einführung einer Sperrklausel (für Mitgliedstaaten bestimmter Größe), wie sie das BVerfG für Deutschland für verfassungswidrig erklärt hatte1000 – zur Direktwahl 2019 263

_____ 993 So implizit Streinz/Huber Art 14 EUV Rn 47. Dass dies jedoch durch die Verträge so nicht vorgegeben ist, hat der EuGH festgestellt (näher in diesem Beitrag, Rn 235). 994 Zutreffend Streinz/Huber Art 14 EUV Rn 47, 50. 995 Überblick zum EP-Wahlrecht bspw bei Preda/Pasquinucci/Raspadori The Road S 241 ff; detailliert Grabitz/Hilf/Nettesheim/Hölscheidt Art 223 AEUV Rn 18 ff. 996 ABl 1976 L 278/5. 997 ABl 2002 L 283/1. 998 Eine konsolidierte Fassung ist auf EUR-Lex verfügbar. 999 Beschluss (EU, Euratom) 2018/994, ABl 2018 L 178/1. 1000 BVerfGE 2 BvE 2/13 ua, BVerfGE 135, 259 – Drei-Prozent-Sperrklausel. Zuvor hatte das BVerfG bereits die frühere 5%-Sperrklausel des § 2 VII des deutschen Europawahlgesetzes (EuWG) für nichMatthias Niedobitek

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noch keine Anwendung fand.1001 Daneben ist auch RL 93/1091002 (in der durch RL 2013/1 geänderten Fassung1003) betreffend die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts in einem anderen Mitgliedstaat von Bedeutung. Im Übrigen ist es gem Art 8 DWA Sache der Mitgliedstaaten, das Wahlverfahren festzulegen. Insgesamt hat gewiss eine Harmonisierung der in den Mitgliedstaaten anzuwendenden Wahlverfahren stattgefunden, von einem „einheitlichenVerfahren in allen Mitgliedstaaten“ (eine Option des Art 223 I UAbs 1 AEUV) sind die Wahlen zum EP jedoch noch weit entfernt.1004 Immerhin schreibt Art 1 DWA für alle Mitgliedstaaten das Verhältniswahlsystem vor. Auch ein Doppelmandat (gleichzeitige Mitgliedschaft in einem nationalen1005 Parlament) ist, anders als früher, gem Art 7 II DWA ausgeschlossen. Die Wahlen zum Europäischen Parlament finden in den einzelnen Mitglied- 266 staaten gem (auch) nationalen Verfahren statt (Rn 264, 265), auch die Wahlkampfthemen waren bisher überwiegend auf den jeweiligen nationalen Raum bezogen. 1006 Daher spielten die „politischen Parteien auf europäischer Ebene“ gem Art 10 IV EUV, Art 224 AEUV (die europäischen Parteienbünde) bislang keine sichtbare Rolle bei den EP-Wahlen.1007 Dies trug den EP-Wahlen die Kennzeichnung als „Sekundär- oder Nebenwahlen“ ein.1008 Allerdings bestimmt Art 17 VII UAbs 1 S 1 Halbs 2 EUV, dass der Europäische Rat bei seinem Vorschlag eines Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten „das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament [berücksichtigt]“. Daraus könnte sich ein Impuls ergeben, die EPWahlen von Sekundärwahlen zu „europäisierten Wahlen“1009 zu entwickeln. Insb wird aus dem neuen (auf dem Vertrag von Lissabon beruhenden) Stellenwert der EP-Wahlen für die Wahl des Kommissionspräsidenten die Aufforderung an die Parteien auf europäischer und nationaler Ebene abgeleitet, im Wahlkampf zu den EPWahlen einen Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten zu

_____ tig erklärt; vgl BVerfG, 2 BvC 4, 6, 8/10, BVerfGE 129, 300 – Fünf-Prozent-Sperrklausel; hierzu vgl aus der Literatur bspw Grzeszick EuR 2012, 667 ff; Geerlings/Hamacher DÖV 2012, 671 ff. 1001 Vgl die FAZ : https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europawahl-2019-keine-sperrklau sel-in-deutschland-16055942.html. 1002 ABl 1993 L 329/34. 1003 ABl 2013 L 26/27. Im Titel dieser RL wird der Titel der RL 93/103 zu Unrecht auf das passive Wahlrecht beschränkt, vermutlich weil RL 2013/1 sich nur auf das passive Wahlrecht bezieht. 1004 Vgl Mittag/Hülsken integration 2009, 105 (114). 1005 Nicht ausgeschlossen ist die gleichzeitige Mitgliedschaft in einem regionalen Parlament, etwa einem deutschen Landesparlament; vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Hölscheidt Art 223 AEUV Rn 69. 1006 Mittag/Hülsken integration 2009, 105 (108 f). 1007 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 10 EUV Rn 114. 1008 Mittag/Hülsken integration 2009, 105 (107). 1009 Begriff bei Mittag/Hülsken integration 2009, 105. Matthias Niedobitek

152 | § 1 Vertragliche Grundlagen, rechtliche Gestalt, Institutionen der Union

benennen.1010 Des Weiteren hatte die Kommission – im Vorfeld der 2019 abgehaltenen Wahlen – in ihrer Empfehlung 2018/234,1011 bei der Wahl zum Europäischen Parlament die Verbindung der zu wählenden nationalen Parteien mit den europäischen politischen Parteien stärker sichtbar zu machen. Dies wurde durch die jüngste Änderung des DWA aufgegriffen. Danach sollten die Unionsbürgerinnen und -bürger „über die Zugehörigkeit von nationalen politischen Parteien zu einer europäischen politischen Partei informiert werden."1012 Der rechtliche Status der Mitglieder des Europäischen Parlaments ergibt 267 sich aus einer Zusammenschau aller einschlägigen Bestimmungen der Verträge (Art 14 EUV, Art 223 AEUV), des DWA, der Geschäftsordnung des EP, des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der EU (Kap III) sowie auch – und vor allem – aus dem Abgeordnetenstatut (einschl Durchführungsbestimmungen 1013 ), ferner schließlich auch aus Bestimmungen des nationalen Rechts (in Deutschland insb aus dem Europaabgeordnetengesetz v 6. April 19791014). Eine wichtige Errungenschaft des Abgeordnetenstatuts, welches das Europäische Parlament nach langen und schwierigen Vorarbeiten1015 am 28. September 2005 auf der Grundlage von ex-Art 190 V EGV beschließen konnte1016 und welches mit der Wahlperiode 2009–2014 in Kraft trat, ist die einheitliche Regelung der wirtschaftlichen Absicherung aller Abgeordneten, insb die Festlegung einer einheitlichen Entschädigung aller EP-Abgeordneten, die bis dahin nicht gegeben war.1017 Die Entschädigung beläuft sich gem Art 10 des Abgeordnetenstatuts auf „jeweils 38,5% der Grundbezüge eines Richters am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften“. Diese und alle weiteren Zahlungen gehen (vorbehaltlich der Übergangsbestimmungen in Art 25 ff des Abgeordnetenstatuts) nicht mehr, wie zuvor, zu Lasten der nationalen Haushalte der Mitgliedstaaten (vgl insoweit Art 25 II des Abgeordnetenstatuts), sondern werden gem Art 23 I des Abgeordnetenstatuts aus dem Haushalt der Europäischen Union geleistet.

_____ 1010 Vgl die Empfehlung (EU) 2018/234 der Kommission v 14. Februar 2018, ABl 2018 L 45/40; hierzu auch Streinz/Kugelmann Art 17 EUV Rn 112. 1011 ABl 2018 L 45/40. 1012 Beschluss (EU, Euratom) 2018/994, ABl 2018 L 178/1, 4. Erwgr. 1013 Vgl insoweit den Beschluss des EP-Präsidiums, ABl 2009 C 159/1, mit späteren Änderungen. 1014 BGBl 1979 I 413; zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 23. Oktober 2008, BGBl 2008 I 2020. 1015 Zur Genese vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Hölscheidt Art 223 AEUV Rn 61 f; für die damalige Diskussion vgl etwa vArnim passim. 1016 Beschluss 2005/684, ABl 2005 L 262/1. 1017 Vor Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts richteten sich die Diäten der EP-Abgreordneten nach nationalem Recht, was gravierende Einkommensunterschiede zur Folge hatte; hierzu vgl Streinz/Huber Art 223 AEUV Rn 22. Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 153

bb) Europäischer Rat und Rat Es bietet sich an, den Europäischen Rat und den Rat, was die Zusammensetzung 268 angeht, gemeinsam zu betrachten, da beide Organe die Mitgliedstaaten vertreten, wie sich allgemein aus Art 10 II UAbs 2 EUV ergibt. Danach werden die Mitgliedstaaten „im Europäischen Rat von ihrem jeweiligen Staats- oder Regierungschef und im Rat von ihrer jeweiligen Regierung vertreten“. Beide Organe sind somit, soweit es um die nationalen Vertreter geht, 1018 kraft nationalen Amtes besetzt. Die anderen Organe sind zwar infolge der Regelungen betreffend ihre Auswahl mehr oder weniger stark an die Mitgliedstaaten rückgebunden (EP: Art 14 II UAbs 1 EUV; KOM: Art 17 V, VII EUV; Gerichtshof der EU: Art 253 I Halbs 2 AEUV; Art 254 II 2 AEUV; EZB: Art 283 AEUV; RH: Art 285 II 1 AEUV), jedoch obliegt keinem dieser Organe die Vertretung der (Interessen der) Mitgliedstaaten, vielmehr sind sie, was in den Verträgen zumeist ausdrücklich festgestellt wird, „unabhängig“. Was zunächst den Europäischen Rat angeht, besteht dieser gem Art 15 II 1 EUV 269 „aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie dem Präsidenten des Europäischen Rates und dem Präsidenten der Kommission“. Dass der Präsident des Europäischen Rates und der Präsident der Kommission „echte“ Mitglieder des Europäischen Rates sind, belegt Art 235 II 2 AEUV, der (was andernfalls nicht nötig gewesen wäre) beiden Präsidenten ausdrücklich das Stimmrecht im Europäischen Rat abspricht. Der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik ist kein Mitglied des Europäischen Rates, er nimmt gem Art 15 II 2 EUV an dessen Arbeiten nur teil. Die – aus dem früheren Art 4 EUV praktisch übernommene – missverständliche Formulierung des Art 15 II 1 EUV, wonach sich der Europäische Rat aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten zusammensetzt, wird nicht nur durch andere Sprachfassungen desselben Artikels widerlegt (Heads of State or Government, chefs d’État ou de gouvernement), sondern auch durch die deutsche Fassung von Art 10 II UAbs 2 EUV, wonach die Mitgliedstaaten im Europäischen Rat „von ihrem jeweiligen Staats- oder Regierungschef“ vertreten werden. Eine gleichzeitige, zumal stimmberechtigte, Teilnahme sowohl des Staats- als auch des Regierungschefs eines Mitgliedstaats ist daher ausgeschlossen.1019 Wer den Mitgliedstaat im Europäischen Rat vertritt, der Staats- oder der Regierungschef, richtet sich nach dem jeweiligen nationalen Verfassungsrecht; hier gab es bereits

_____ 1018 Dem Europäischen Rat gehören auch die Präsidenten von Europäischen Rat und Kommission an, die nicht national verankert sind. 1019 Hierzu vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Kumin Art 15 EUV Rn 6, wobei es jedoch kaum eine Rolle spielen dürfte, dass „die Anzahl der jeder Delegation im Saal zustehenden Sitze auf einen einzigen reduziert worden“ ist (ebd). Matthias Niedobitek

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innerstaatliche Konflike.1020 Ein Staats- oder Regierungschefs eines Mitgliedstaats gehört dem Europäischen Rat in gleichsam persönlicher Eigenschaft an, er kann nicht durch ein (anderes) Regierungsmitglied vertreten werden; vielmehr erlaubt Art 235 I UAbs 1 AEUV lediglich, das Stimmrecht auf einen anderen Staats- oder Regierungschef zu übertragen.1021 Der Rat besteht gem einer recht gewunden wirkenden Formulierung des Art 16 270 II EUV „aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaats auf Ministerebene, der befugt ist, für die Regierung des von ihm vertretenen Mitgliedstaats verbindlich zu handeln und das Stimmrecht auszuüben“. Wesentlich einfacher – und sicher besser verständlich – war die vor Maastricht geltende Feststellung in Art 2 Fusionsvertrag 1965, wonach der Rat „aus Vertretern der Mitgliedstaaten“ besteht und „[j]ede Regierung […] eines ihrer Mitglieder [entsendet]“. Die neue, mit dem Maastrichter Unionsvertrag eingeführte Formulierung geht auf die Bestrebung subnationaler Körperschaften, insb der deutschen Länder,1022 zurück, ihre innerstaatlich bestehenden Kompetenzen auf Unionsebene zur Geltung zu bringen. Von der primärrechtlich vorgesehenen – und, was Deutschland angeht, verfassungsrechtlich in Art 23 VI GG geregelten – Möglichkeit, Minister subnationaler Körperschaften in den Rat zu entsenden, macht nicht nur Deutschland Gebrauch,1023 sondern auch eine Reihe weiterer Mitgliedstaaten (Österreich, Belgien, das Vereinigte Königreich, Spanien, Italien).1024 Soweit subnationale Minister in den Rat entsandt werden, vertreten sie jedoch stets allein den Mitgliedstaat, nicht die Gesamtheit der subnationalen Körperschaften oder gar die jeweilige subnationale Körperschaft, der der subnationale Minister angehört. Dass auch die Staats- und Regierungschefs als Rat zusammentreten können, wird in der Literatur bezweifelt. Diese vor Lissabon existierende Konstellation des Rates (vgl bspw ex-Art 7 II EUV) wurde zugunsten des Europäischen Rates abgeschafft. Gleichwohl zeigt diese Konstellation, dass die Staats- und Regierungschefs durchaus iSv ex-Art 203 I EGV bzw jetzt Art 16 II EUV als „Vertreter jedes Mitgliedstaats auf Ministerebene“ angesehen werden konnten und können.1025

_____ 1020 Vgl Blanke/Mangiameli/Edjaharian Art 15 TEU Rn 35 f.; ferner den „euobserver“, https://euob server.com/political/26658. 1021 Überzeugend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Kumin Art 15 EUV Rn 7. 1022 Vgl den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Maastrichter Unionsvertrag, BT-Drs 12/3334, zu ex-Art 146 EWGV, S 104: „Die Neufassung [des Art 146 EWGV] kommt den Wünschen der Länder entgegen“. 1023 Vgl bspw BR-Drs 574/13 (Beschuss) betreffend die Benennung der hessischen Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst als Beauftragte des Bundesrates für den Rat Wettbewerbsfähigkeit (Binnenmarkt, Industrie, Forschung und Raumfahrt; einschl Tourismus) für den Bereich Forschung. 1024 Vgl d’Atena FS Christian Starck, 2007, S 523 (527). 1025 AA Streinz/Obwexer Art 16 EUV Rn 33; Schwarze/Hix 2. Aufl Art 203 EGV Rn 8. Beide Autoren gehen davon aus, dass die Staats- und Regierungschefs nicht zur Ministerebene zählen und dass die Matthias Niedobitek

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Dabei wird der – insoweit unionsrechtlich bestimmte – Begriff der „Ministerebene“ als hierarchische Untergrenze, als Minimumvoraussetzung, verstanden, so dass sich der Begriff notfalls auch auf den französischen Staatspräsidenten ersteckt.1026 Vom Europäischen Rat und vom Rat zu unterscheiden ist ein Zusammentreten 271 der nationalen Mitglieder dieser Organe als im Europäischen Rat bzw im Rat vereinigte Staats- und Regierungschefs bzw Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten. Der AEUV sieht in wenigen Fällen ausdrücklich ein Handeln (ggf auch eine „Konferenz“) der Regierungen der Mitgliedstaaten vor (insb Art 48 IV EUV, Art 253 I, 254 II, 341 AEUV). Durch wen die jeweilige Regierung vertreten wird, unterliegt nationalem (Verfassung-)Recht. Somit können derartige Handlungen ggf sowohl von den Staats- und Regierungschefs als auch von nationalen Ministern, ferner auch aus einer Mischung von Vertretern beider dieser Ebenen, schließlich auch auf der Ebene der Ständigen Vertreter1027 vorgenommen werden. Jenseits der EU-vertraglichen Grundlagen fassen die Staats- und Regierungschefs in seltenen Fällen Beschlüsse als „im Europäischen Rat vereinigte Staats- und Regierungschefs“.1028 Häufiger als der Europäische Rat, allerdings seltener als in früheren Zeiten, treten die Mitglieder des Rates als „im Rat vereinigte Vertreter der Mitgliedstaaten“ zusammen und fassen als solche – soweit ersichtlich heute nur noch gemeinsam mit dem Rat nach der „gemischten Formel“1029 – unverbindliche Entschließungen oder Schlussfolgerungen, die sich auf die Unionspolitiken beziehen. Die im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten handeln ohne den Rat – und fassen verbindliche „Beschlüsse“ –, wenn es darum geht, in internationalen Angelegenheiten, soweit diese in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, die Kommission zu ermächtigen, den Standpunkt der Mitgliedstaaten zu vertreten.1030

_____ Konstellation des Rates „in der Zusammensetzung der Staats- und Regierunschefs“ daher gegenüber ex-Art 203 I EGV als lex specialis anzusehen war. 1026 In diesem Punkt – betr den französischen Staatspräsidenten – hat Streinz/Obwexer Art 16 EUV Rn 33, Bedenken. 1027 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Karpenstein Art 253 AEUV Rn 10 betr die Ernennung der Richter und Generalanwälte des EuGH durch die Regierungen der Mitgliedstaaten; vgl auch den Gesetzentwurf der Bundesregierung betr ein Gesetz zu dem Protokoll v 16. Mai 2012 zu den Anliegen der irischen Bevölkerung bezüglich des Vertrags von Lissabon, BT-Drs 17/11367, S 6 wonach die Regierungskonferenz zur Verabschiedung des Protokolls „auf Ebene der Ständigen Vertreter“ stattfand. 1028 Bsp: „Beschluss der im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu den Anliegen der irischen Bevölkerung bezüglich des Vertrags von Lissabon“, Anlage I der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates v 18./19. Juni 2009. 1029 Vgl bspw die „Schlussfolgerungen des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten zu dualen Karrieren von Sportlern“, ABl 2013 C 168/10. 1030 Vgl bspw den Beschluss 2012/494 der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 23. März 2012 über die Ermächtigung zur Aufnahme von Verhandlungen über ein Matthias Niedobitek

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cc) Kommission 272 Die vor dem 31. Oktober 2014 ernannte Kommission, also die zweite Barroso-

Kommission, bestand gem Art 17 IV EUV aus je einem Staatsangehörigen jedes Mitgliedstaats. Die Kommission, die nach der Wahl des Europäischen Parlaments im Mai 20141031 ernannt wurde, die Juncker-Kommission, sollte gem Art 17 V UAbs 1 EUV auf zwei Drittel der Zahl der Mitgliedstaaten verkleinert werden (hierzu vgl auch Erklärung Nr 10 zum Vertrag von Lissabon). Dabei sollte ein „System der strikt gleichberechtigten Rotation zwischen den Mitgliedstaaten“ angewendet werden; gleichzeitig war vorgesehen, dass „das demographische und geographische Spektrum der Gesamtheit der Mitgliedstaaten zum Ausdruck kommt“ (Art 17 V UAbs 2 EUV). Allerdings sieht Art 17 V UAbs 1 EUV auch vor, dass „der Europäische Rat […] einstimmig eine Änderung dieser Zahl“ beschließen kann. Dass der Europäische Rat von dieser Möglichkeit Gebrauch machen würde, stand schon länger fest. Im Zuge der in Irland aufgetretenen Probleme bei der Ratifikation des Vertrags von Lissabon hatte der Europäische Rat nämlich politisch seine Absicht erklärt, einen Beschluss zu fassen, „wonach weiterhin ein Staatsangehöriger jedes Mitgliedstaats der Kommission angehören wird“.1032 Diesen Beschluss fasste der Europäische Rat am 22. Mai 2013.1033 Damit ist eine künftige Verkleinerung der Kommission jedoch nicht ausgeschlossen. Art 2 des Beschlusses bestimmt nämlich Folgendes: „Der Europäische Rat überprüft diesen Beschluss in Anbetracht seiner Auswirkung auf die Arbeit der Kommission; diese Überprüfung erfolgt rechtzeitig entweder vor Ernennung der ersten Kommission nach dem Beitritt des dreißigsten Mitgliedstaats oder vor Ernennung der Kommission, die der Kommission, die ihr Amt am 1. November 2014 antreten soll, nachfolgt, je nachdem, welches dieser Ereignisse eher eintritt.“

273 Entscheidend für die Auswahl der Mitglieder der Kommission ist, dass sie „volle

Gewähr für Unabhängigkeit bieten“ (Art 17 III UAbs 2 EUV). Dies bestätigt Art 17 III UAbs 3 S 1 EUV, wonach die Kommission ihre Tätigkeit „in voller Unabhängigkeit“ ausübt. Die weiteren Ernennungsvoraussetzungen – allgemeine Befähigung, Einsatz für Europa (Art 17 III UAbs 2 EUV) – sind aufgrund ihrer Vagheit rechtlich und politisch-praktisch irrelevant. Die Unabhängigkeit der Mitglieder der Kommission ist rechtlich – auch gerichtlich – gesichert: Nach Art 245, 247 AEUV können Mit-

_____ internationales Übereinkommen zur Errichtung der EU-Lateinamerika/Karibik-Stiftung als internationale Organisation, ABl 2012 L 240/2. 1031 Zur Vorverlegung des Termins (der sonst am Pfingstwochenende gelegen hätte) vgl den Beschluss 2013/299 des Rates, ABl 2013 L 169/69. 1032 Vgl die Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates v 18./19. Juni 2009, Ziff I.2. Hierzu zusammenfassend Eppler/Scheller/Niedobitek S 249. 1033 Beschluss 2013/272, ABl 2013 L 165/98. Matthias Niedobitek

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glieder der Kommission, die ihre Pflichten verletzen – auch und va die Pflicht zur Unabhängigkeit –, des Amtes enthoben werden oder ihnen können ihre Ruhegehaltsansprüche ua aberkannt werden. In seltenen Fällen1034 kam es infolge einer Verletzung der Amtspflichten eines Mitglieds der Kommission zu Verfahren vor dem EuGH. Das Verfahren der Ernennung der Mitglieder der Kommission ist in Art 17 VII 274 EUV geregelt. Danach schlägt der Europäische Rat dem Europäischen Parlament zunächst einen Kandididaten für das Amt des Kommissionspräsidenten vor. Hierbei muss er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament berücksichtigen (hierzu vgl Rn 266). Sache des Europäischen Parlaments ist es, diesen Kandidaten „zu wählen“; in der Sache handelt es sich dabei jedoch um nichts anderes als die vor Lissabon erforderliche „Zustimmung“ des Europäischen Parlaments.1035 Denn die letzte Entscheidung – nicht nur über den Kommissionspräsidenten, sondern über alle Mitglieder der Kommission – trifft gem Art 17 VII UAbs 3 S 2 EUV der Europäische Rat, indem er die Kommission (mit qualifizierter Mehrheit) ernennt. Dieses Verfahren war so auch schon im Verfassungsvertrag (Art I-27 I-III VVE) vorgesehen, allerdings hatte der zuvor befasste Europäische Konvent noch ein Verfahren vorgeschlagen, das dem Europäischen Parlament sowohl bei der Wahl des Kommissionspräsidenten als auch bei der Bestätigung der gesamten Kommission das „letzte Wort“ einräumte (Art 26 II VVE-Entw) und damit dem Begriff der „Wahl“ seine eigentliche Bedeutung zubilligte. Eine Sonderrolle in der Kommission spielt, neben dem Kommissionspräsidenten, der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik. Dieser ist einerseits Kommissar für Außenbeziehungen sowie einer der Vizepräsidenten der Kommission (Art 18 IV EUV), andererseits ist er auch für den Rat tätig, ohne diesem jedoch organisatorisch zugeordnet zu sein.1036 Dieser „Doppelhut“1037 spiegelt sich in einem doppelten Ernennungsverfahren wider, das einerseits die Ratszuordnung (Art 18 I EUV), andererseits die Kommissionsseite betrifft.1038 Beide Verfahren beziehen sich notwendigerweise aufeinander. Was die Ratsseite angeht, ist die Zustimmung des jew aktuellen Kommissionspräsidenten erforderlich (Art 18 I EUV), was die Kommissionsseite angeht, ist das Einvernehmen mit dem (neu) gewählten Präsidenten erforderlich. Es entspricht dieser doppelten Zuordnung, dass der Hohe Vertreter im Fall eines erfolgreichen Misstrauensvotums gegen die Kommission gem Art 17 VIII EUV nur „sein im Rahmen der Kommission ausgeübtes Amt niederlegen“ muss. Was

_____ 1034 EuGH, Rs C-432/04 – Cresson; Rs C-290/99 – Rat / Bangemann; EuG, Rs T-208/99 – Bangemann / Rat. 1035 Ebenso Grabitz/Hilf/Nettesheim/Martenczuk Art 17 EUV Rn 106. 1036 Zu Recht weist Kruse S 150 darauf hin, dass der Hohe Vertreter „[i]n organisatorischer und funktionaler Hinsicht […] der Kommission zuzuordnen“ ist. 1037 Zum Begriff näher Kruse S 149 ff. 1038 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Kaufmann-Bühler Art 18 EUV Rn 11. Matthias Niedobitek

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die Ratsseite seines Amtes angeht, sieht Art 18 I 2 EUV ein – einem erfolgreichen Misstrauensvotum notwendig nachfolgendes – selbständiges Verfahren zur Beendigung der Amtszeit des Hohen Vertreters vor.

dd) Gerichtshof der Europäischen Union 275 Ursprünglich waren das Gemeinschaftsorgan „Gerichtshof“ und das so bezeichnete

Gericht identisch (vgl ex-Art 4, 164 ff EWGV). Die Einrichtung bzw Ermöglichung weiterer Instanzen – zunächst des Gerichts (erster Instanz), dann von gerichtlichen Kammern/Fachgerichten – hat zu einer Unterscheidung zwischen dem Unionsorgan „Gerichtshof der Europäischen Union“ und den von diesem umfassten Gerichten geführt.1039 Der Ausbau der Unionsgerichtsbarkeit war durch die ständig zunehmende Arbeitsbelastung des EuGH erforderlich geworden.1040 Dabei waren die Vertragsstaaten zunächst darum bemüht, die Einheit von Organ und Gericht nicht zu zerstören. So wurde das Gericht erster Instanz dem EuGH zunächst nur „beigeordnet“.1041 Der Vertrag von Nizza verselbständigte das Gericht erster Instanz, erlaubte es dem Rat jedoch nur, diesem gerichtliche Kammern „beizuordnen“ (vgl exArt 220 EGV). Daran hielt auch der Vertrag von Lissabon fest (vgl Art 257 I 1 AEUV), obwohl die Fachgerichte in Art 19 I UAbs 1 S 1 EUV als selbständige Gerichte neben EuGH und EuG erscheinen. Heute umfasst das Unionsorgan „Gerichtshof der Europäischen Union“ gem Art 19 I UAbs 1 S 1 EUV drei Gerichte bzw Typen von Gerichten:1042 „den Gerichtshof, das Gericht und Fachgerichte“. Dementsprechend ist zwischen den Mitgliedern der drei Gerichte zu unterscheiden. Dabei differenziert Art 19 EUV zwischen den Mitgliedern des Gerichtshofs und des Gerichts einerseits (die erwähnt werden) und den Mitgliedern der Fachgerichte andererseits (die nicht erwähnt werden). Was zunächst die Richter des Gerichtshofs und des Gerichts angeht, be276 stimmt Art 19 II UAbs 1, 2 EUV, dass der Gerichtshof aus einem Richter je Mitglied-

_____ 1039 Zur sprachlichen Verwirrung vgl Blanke/Mangiameli/Arnull Art 19 TEU Rn 9 ff. Diese Verwirrung hatte auch den Vertrag von Lissabon nicht verschont, weshalb noch im Jahr 2016 eine Berichtigung erforderlich war, die für eine Ersetzung des Begriffs „Gerichtshofs der Europäischen Union“ durch „Gerichtshof“ sorgen musste. Vgl ABl 2016 L 150/1. Näher Becker/Lippert/Niedobitek Gerichtshof Abschn 2. 1040 Zum Gericht (erster Instanz) vgl Streinz/Huber Art 19 EUV Rn 2, 8 ff; Blanke/Mangiameli/ Arnull Art 19 TEU Rn 6; zum Gericht für den öffentlichen Dienst der EU vgl die Denkschrift im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Vertrag von Nizza, BT-Drs 14/6146, S 50 (Nr 32). 1041 Vgl Art 168a EWGV sowie den Beschluss 88/591, ABl 1988 L 319/1. Näher Blanke/Mangiameli/Arnull Art 19 TEU Rn 10. 1042 Blanke/Mangiameli/Arnull Art 19 TEU Rn 10 unterscheidet daher zwischen dem EuGH als „Court of Justice qua institution“ einerseits und dem EuGH (und entsprechend den anderen Unionsgerichten) als „Court of Justice qua court of law“ andererseits. Matthias Niedobitek

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staat, das Gericht aus mindestens einem Richter je Mitgliedstaat besteht. Die EuGHSatzung konkretisiert diese Bestimmung dahin, dass das Gericht ab dem 1. September 2019 aus zwei Mitgliedern je Mitgliedstaat besteht. Vorausgegangen war die Auflösung des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union mit Wirkung vom 1. September 2016 und die Übernahme der Streitigkeiten betr den öffentlichen Dienst durch das EuG.1043 Neben den Richtern verfügt der Gerichtshof gem Art 19 II UAbs 1 S 2 EUV über 277 Generalanwälte, die ihn bei seiner Tätigkeit unterstützen. Dem Generalanwalt kommt gem Art 252 II AEUV die Aufgabe zu, „in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen zu stellen“, dies jedoch nicht wie früher zu jeder Rechtssache (vgl Art 166 II EWGV),1044 sondern nur zu den Rechtssachen, „in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist“.1045 Seine Schlussanträge binden den Gerichtshof, wie dieser mehrfach festgestellt hat, nicht.1046 Art 252 I 1 AEUV legt die Zahl der Generalanwälte auf acht fest, zugleich er- 278 laubt S 2 desselben Absatzes dem Rat, die Zahl der Generalanwälte zu erhöhen. Eine Erhöhung der Zahl der Generalanwälte war bereits durch die Erklärung Nr 38 zum Vertrag von Lissabon vorgezeichnet. Danach würde der Rat, sollte der Gerichtshof eine Erhöhung um drei Generalanwälte beantragen, eine solche Erhöhung beschließen. Des Weiteren würde, so Erklärung Nr 38, Polen einen „ständigen“ Generalanwalt erhalten, mithin – ebenso wie schon Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und das Vereinigte Königreich1047 – nicht mehr am (EU-vertraglich nicht vorgesehenen, politisch vereinbarten1048) Rotationssystem teilnehmen. Dementsprechend hat der Rat am 25. Juni 2013 die Zahl der Generalanwälte erhöht,1049 allerdings nicht „auf einen Schlag“, sondern (angefangen mit dem Beitritt Kroatiens zur Union

_____ 1043 VO 2016/1192, ABl 2016 L 200/137; näher Becker/Lippert/Niedobitek Gerichtshof Abschn 2. 1044 Hierzu vgl auch Blanke/Mangiameli/Arnull Art 19 TEU Rn 19. 1045 Vgl insoweit Art 20 V der EuGH-Satzung. Danach kann der Gerichtshof „nach Anhörung des Generalanwalts beschließen, dass ohne Schlussanträge des Generalanwalts über die Sache entschieden wird“, wenn er „der Auffassung [ist], dass eine Rechtssache keine neue Rechtsfrage aufwirft“. 1046 So jüngst explizit EuGH, Rs C-295/17 – MEO - Serviços de Comunicações e Multimédia SA/Autoridade Tributária e Aduaneira, Rn 25 ; vgl ferner verb Rs C-584/10 P, C-593/10 P und C595/10 P – Kommission / Kadi, Rn 57; Rs C-229/09 – Hogan Lovells International, Rn 26. 1047 Dass diese fünf Mitgliedstaaten nicht am Rotationssystem teilnehmen, ergibt sich bereits aus der „Gemeinsamen Erklärung zu Artikel 31 des Beschlusses zur Anpassung der Dokumente betreffend den Beitritt neuer Mitgliedstaaten zur Europäischen Union“; ABl 1995 L 1/221. Danach nehmen „Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und das Vereinigte Königreich […] an diesem System nicht [teil], da ständig ein von ihnen benannter Generalanwalt im Amt ist“. 1048 Hierzu näher Streinz/Huber Art 252 AEUV Rn 2. 1049 Beschluss 2013/336, ABl 2013 L 179/92. Matthias Niedobitek

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am 1. Juli 2013) gestaffelt: Mit Wirkung vom 1. Juli 2013 wurde die Zahl der Generalanwälte auf neun, mit Wirkung vom 7. Oktober 2015 wird sie weiter auf elf erhöht. Zur Rechtsstellung der Generalanwälte als Mitgliedern des Gerichtshofs hat 279 sich der EuGH in der Sache „Emesa Sugar“ geäußert.1050 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, Emesa Sugar, hatte den Generalanwalt des EuGH mit dem Staatsanwalt am belgischen Kassationsgerichtshof verglichen. Was diesen angeht, hatte der EGMR festgestellt, es verletze den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn keine Möglichkeit des Betroffenen bestehe, auf dessen Ausführungen zu erwidern. Unter Berufung auf diese EGMR-Entscheidung beantragte Emesa Sugar, auf die Ausführungen des Generalanwalts – diese erfolgen gem Art 82 I EuGH-VerfO nach der Schließung der mündlichen Verhandlung – erwidern zu können. Der EuGH sah sich veranlasst, die Rechtsstellung der Generalanwälte zu klären. Er stellte Folgendes fest: Die Generalanwälte, „zwischen denen kein hierarchisches Verhältnis besteht, [bilden] keine Staatsanwaltschaft oder vergleichbare öffentliche Stelle und unterstehen keiner Behörde. Bei der Ausübung ihres Amtes haben sie keine wie auch immer gearteten Interessen zu vertreten“. Die Stellungnahmen des Generalanwalts seien eine „individuelle, begründete und öffentlich darlegte Auffassung eines Mitglieds des Organs selbst“. Daher ging der von der Klägerin des Ausgangsverfahrens angestellte Vergleich fehl. Nicht nur der Gerichtshof, auch das Gericht kann gem Art 254 I 2 AEUV von 280 Generalanwälten unterstützt werden. Für Einzelheiten wird auf die EuGH-Satzung verweisen. Art 49 der EuGH-Satzung sieht vor, dass Mitglieder – also Richter – des Gerichts dazu bestellt werden können, die Tätigkeit eines Generalanwalts auszuüben. Hiervon wird – soweit ersichtlich1051 – nur in seltenen Fällen Gebrauch gemacht.1052 Die Richter und Generalanwälte des EuGH sowie die Mitglieder des EuG werden 281 gem Art 19 II UAbs 3 S 2 EUV, Art 253 I Halbs 2, 254 II 2 AEUV von den Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen ernannt. Auf welcher Ebene sich die Regierungen vertreten lassen – in Frage kommen neben den im Rat vereinigten Vertretern der Regierung der Mitgliedstaaten (also den Ministern)1053 insb die Staats- und Regierungschefs sowie die Ständigen Vertreter (vgl Rn 271) –, unterliegt

_____ 1050 EuGH, Rs C-17/98 (Beschluss) – Emesa Sugar NV/Aruba, Rn 12, 14. 1051 Grundlage der Aussage ist eine Recherche der Schlussanträge auf der Website des EuGH (curia.europa.eu), die in Verfahren vor dem Gericht (erster Instanz) gestellt wurden. 1052 Vgl bspw die Schlussanträge von GA Edward in der Rs T-24/90 – Automec / Kommission. Zur (angeblichen) Pflicht, den Generalanwalt in Verfahren des Gerichts zu hören, vgl EuGH, Rs C580/08 P – Srinivasan / Bürgerbeauftragter, Rn 35; Rs C-239/12 P – Abdulrahim / Rat und Kommission, Rn 38. 1053 In der Literatur wird die Ernennung der Richter und Generalanwälte überwiegend auf diese Konstellation beschränkt; vgl etwa Streinz/Huber Art 253 AEUV Rn 4; Grabitz/Hilf/Nettesheim/ Karpenstein Art 253 AEUV Rn 8. Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 161

dem Ermessen der Regierungen im Rahmen ihrer nationalen Verfassungsbestimmungen. Die Mitglieder der Fachgerichte werden gem Art 257 IV 2 AEUV einstimmig vom Rat ernannt. Die Auswahl der Richter von EuGH und EuG sowie der Generalanwälte ist nach wie vor ein wenig transparenter, auch parteipolitisch determinierter, Prozess.1054 Vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon waren es paradoxerweise nur die Mitglieder des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Union, die im Wege eines ordentlichen Bewerbungsverfahrens und nach Stellungnahme eines Eignungsprüfungsausschusses ausgewählt wurden (Art 3 II–IV des inzwischen überwiegend aufgehobenen Anhangs zur EuGH-Satzung). Erst der Vertrag von Lissabon hat das Modell des Eignungsprüfungsausschusses (nur dieses, nicht auch das Bewerbungsverfahren) für den EuGH und das EuG übernommen (Art 255 AEUV).1055 Gleichwohl wurden die Eignungsprüfungsausschüsse weder rechtlich und noch praktisch (durch Personenidentität) zusammengelegt.1056 Die jeweils sieben „Persönlichkeiten“ (persons; personnalités) beider Ausschüsse sind aus einem zwar weitgehend, aber eben nicht vollständig identischen Kreis auszuwählen; insb verfügt das Europäische Parlament nur bei der Besetzung des Ausschusses gem Art 255 AEUV über das Recht, eine Persönlichkeit vorzuschlagen. Was die Ernennung der Richter von EuGH und EuG sowie der Generalanwälte angeht, bedeutet die Herstellung des vertraglich geforderten „gegenseitigen Einvernehmens“ der Regierungen der Mitgliedstaaten in der Praxis, dass jeder Mitgliedstaat „seinen“ Kandidaten benennt (ähnlich Art 286 II 2 AEUV betr die Mitglieder des Rechnungshofs). Damit kommt dem nationalen Auswahlverfahren die entscheidende Bedeutung zu. Auch hier dominieren in den meisten Mitgliedstaaten Intransparenz und parteipolitische Erwägungen,1057 jedoch wurde in Deutschland im Zusammenhang mit der Begleitgesetzgebung zum Vertrag von Lissabon das Richterwahlgesetz um eine Bestimmung ergänzt,1058 wonach die von Deutschland vorzuschlagenden Persönlichkeiten im Einvernehmen mit dem Richterwahlausschuss benannt werden. Daran wird in der Literatur die Hoffnung auf eine „Entpolitisierung des Besetzungsverfahrens“ geknüpft.1059 Was die Anforderungen an die Richter und Generalanwälte der Unionsgerichte 282 angeht, unterscheiden sich diese insoweit nicht, als die auszuwählenden „Persönlichkeiten“ bzw „Personen“ – die deutsche Fassung und die französische Fassung von Art 253, 254 und 257 AEUV differenzieren hier feinsinnig – „jede Gewähr für Un-

_____ 1054 Streinz/Huber Art 253 AEUV Rn 2; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Karpenstein Art 253 AEUV Rn 13 f. 1055 Vgl Krenn GLJ 19 (2018) 7, 2007 (2017 ff). 1056 Die Mitglieder des Ausschusses gem Art 255 AEUV wurden zuletzt den Beschluss 2017/2262, ABl 2017 L 324/50, für die Dauer von vier Jahren ab 1. März 2018 ernannt. Unter ihnen befindet sich der Präsident des deutschen Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle. 1057 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Karpenstein Art 253 AEUV Rn 13. 1058 Vgl Art 2 des Gesetzes über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union, BGBl 2009 I 3022. 1059 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Karpenstein Art 253 AEUV Rn 13. Matthias Niedobitek

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abhängigkeit bieten“ müssen. Damit enden die Gemeinsamkeiten jedoch schon. Hinsichtlich der fachlichen Anforderungen bestehen nämlich unterschiedliche Qualifikationserwartungen: Richter und Generalanwälte des EuGH müssen gem Art 253 I AEUV „in ihrem Staat die für die höchsten richterlichen Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen [highest judicial offices; plus hautes fonctions juridictionnelles] oder Juristen von anerkannt hervorragender Befähigung“ sein. Für eine Tätigkeit am Gericht genügt gem Art 254 II 1 AEUV bereits die „Befähigung zur Ausübung hoher richterlicher Tätigkeiten“ (high judicial office; hautes fonctions juridictionnelles). Die Mitglieder von Fachgerichten – konkret des Gerichts für den öffentlichen Dienst der EU – müssen gem Art 257 IV 1 AEUV nur noch über die „Befähigung zur Ausübung richterlicher Tätigkeiten“ (judicial office; fonctions juridictionnelles) verfügen. Noch heute zählt es nicht, wie früher auch beim Rechnungshof,1060 zu den EU-vertraglichen Anforderungen an die Richter und Generalanwälte des Gerichtshofs der EU, dass diese die Staatsangehörigkeit irgendeines Mitgliedstaats oder gar des nominierenden Mitgliedstaats besitzen. Dies spielt jedoch in der Praxis offensichtlich keine Rolle.

ee) Europäische Zentralbank und Rechnungshof 283 Die EZB und der Rechnungshof werden zwar in Art 13 I EUV unter den Organen der

Union aufgelistet, jedoch enthält der EUV ansonsten keine Bestimmungen zu diesen beiden Organen, sondern verweist auf die Regelungen des AEUV (EZB: Art 282–284 AEUV; Rechnungshof: Art 285–287 AEUV). Dies zeigt, dass die Organstellung von EZB und Rechnungshof für die Union (gewiss aus unterschiedlichen Gründen) politisch einen geringeren Stellenwert hat als die Organstellung der anderen Organe; gleichzeitig spiegelt sich in der Aufteilung der die EZB und den Rechnungshof betreffenden Organbestimmungen zwischen EUV und AEUV die bereits im Verfassungsvertrag vorgesehene Regelung, wonach EZB und Rechnungshof nicht zum „institutionellen Rahmen“ der Union zählen sollten (vgl Rn 223). Die EZB hat – als Ausdruck ihrer Sonderstellung unter den Unionsorganen als 284 juristische Person – keine „Mitglieder“ (weshalb der diesem Abschnitt vorangestellte Begriff „Zusammensetzung“ insoweit zunächst fehlgeht), sondern ihrerseits Organe. Die EZB verfügt über drei sog „Beschlussorgane“, von denen nur zwei im Text des AEU-Vertrags, in Art 283 AEUV, erwähnt werden, nämlich der „Rat“ der EZB (Governing Council; conseil des gouverneurs) und das Direktorium (Executive Board; directoire). Diese beiden Organe kennzeichnet Art 129 I AEUV als die Beschlussorgane der EZB (der Begriff „Beschlussorgane“ ist insofern irreführend, als es keine anderen EZB-Organe gibt). Die ESZB-Satzung (gem Art 51 EUV im Rang des primären Unionsrechts) sieht ein weiteres Organ vor, den Erweiterten Rat, den Art 44.1.

_____ 1060 Vgl Streinz/Niedobitek Art 285 AEUV Rn 12; Art 286 AEUV Rn 10. Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 163

ESZB-Satzung als „drittes Beschlussorgan“ (third decision-making body; troisième organe de décision) bezeichnet. Die Organisationsstruktur der EZB ist verschachtelt: Der Rat der EZB besteht gem Art 283 I AEUV aus den Mitgliedern des Direktoriums der EZB und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken, deren Währung der Euro ist. Das Direktorium wiederum besteht gem Art 283 II UAbs 1 AEUV aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten und vier weiteren Mitgliedern. Die Mitglieder des Direktoriums werden gem Art 283 II UAbs 2 AEUV vom Europäischen Rat auf Empfehlung des Rates ernannt. Die dem Rat der EZB angehörenden Präsidenten der nationalen Zentralbanken werden nach nationalem Recht bestimmt.1061 Der Erweiterte Rat besteht gem Art 44.2. ESZB-Satzung aus Teilen des EZB-Direktoriums – nur dem Präsidenten und dem Vizepräsidenten der EZB1062 – sowie den Präsidenten der Zentralbanken aller EU-Mitgliedstaaten, ohne Rücksicht darauf, ob sie den Euro als Währung eingeführt haben oder nicht. Für alle Organe der EZB gilt der – mehrfach verbürgte (Art 130 AEUV; Art 7 ESZB-Satzung) – Grundsatz der Unabhängigkeit. Mitglieder des EZB-Direktoriums können gem Art 283 II UAbs 4 AEUV nur Angehörige der Mitgliedstaaten werden. Die Zusammensetzung des Rechnungshofs ist einfacher zu beschreiben als 285 die „Zusammensetzung“ der EZB. Zunächst ist gem Art 285 II 1 AEUV klar – was nicht immer der Fall war1063 –, dass der Rechnungshof „aus einem Staatsangehörigen je Mitgliedstaat“ besteht. Das Verfahren der Ernennung ist in Art 286 II UAbs 1 AEUV geregelt. Danach obliegt die Ernennung der Mitglieder des Rechnungshofs dem Rat, der „die gemäß den Vorschlägen der einzelnen Mitgliedstaaten erstellte Liste der Mitglieder“ (mit qualifizierter Mehrheit; vgl Art 16 III EUV) annimmt. Die fachlichen Voraussetzungen sind in Art 286 I AEUV verankert. Danach müssen die Mitglieder des Rechnungshofs „in ihren Staaten Rechnungsprüfungsorganen angehören oder angehört haben oder […] für dieses Amt besonders geeignet“ sein. Zwar spielt damit die Fachkompetenz eine besondere Rolle, jedoch müssen die Mitglieder des Rechnungshofs gem Art 285 II 2, 286 I 2 AEUV vor allem „unabhängig“ sein.1064

e) Kollegialitätsprinzip – Präsidentschaft/Vorsitz – Beschlussfassung aa) Allgemeines Das Kollegialitätsprinzip, das Bestandteil der Struktur und des Funktionierens aller 286 Unionsorgane ist (s Rn 287), steht in unmittelbarer Wechselwirkung mit der Be-

_____ 1061 Streinz/Kempen Art 283 AEUV Rn 4. 1062 Art 44.2. ESZB-Satzung bestimmt allerdings, dass „[die] weiteren Mitglieder des Direktoriums […] an den Sitzungen des Erweiterten Rates teilnehmen [können], […] aber kein Stimmrecht [besitzen]“. 1063 Vgl Streinz/Niedobitek Art 285 AEUV Rn 12; Art 286 AEUV Rn 10. 1064 Hierzu näher Streinz/Niedobitek Art 285 AEUV Rn 13. Matthias Niedobitek

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deutung von Präsidentschaft und Vorsitz sowie den Modalitäten der Beschlussfassung. Als Grundsatz unterliegt das Kollegialitätsprinzip Modifikationen im Lichte der beiden zuletzt genannten Faktoren. Die drei Aspekte sind daher im Zusammenhang zu behandeln. Das Kollegialitätsprinzip dient dabei als Folie für die jeweilige Einordnung von Präsidentschaft/Vorsitz und Beschlussfassung.

bb) Das Kollegialitätsprinzip 287 Dass die Unionsorgane Kollegialorgane sind bzw – im Fall der EZB – haben, wird im primären Unionsrecht nur für die Kommission festgestellt. In Art 17 VI lit b) EUV wird dem Kommissionspräsidenten die Aufgabe übertragen, die interne Organisation der Kommission zu regeln, ua mit dem Ziel, „das Kollegialitätsprinzip […] sicherzustellen“. Dass es sich um ein „Prinzip“ handelt, wird in der deutschen Fassung der Bestimmung betont, auch die französische Fassung kann ähnlich verstanden werden („assurer […] la collégialité“), während es in der englischen Fassung nur heißt, der Kommissionspräsident solle sicherstellen, dass die Kommission „acts […] as a collegiate body“. Gleichwohl macht eine Gesamtschau der Bestimmungen betr die Kommission, insb der primärrechtlichen Rolle des Kommissionspräsidenten und der Bestimmungen ihrer Geschäftsordnung, sowie der Regelungen betr die anderen Organe deutlich, dass „Kollegialität“ ein Grundsatz, ein Prinzip ist, jedoch keine Regel.1065 Unterstrichen wird die Bedeutung des Kollegialitätsprinzips für die Kommission durch zwei weitere Erwähnungen in Art 17 EUV, nämlich in Art 17 VII UAbs 3 und VIII EUV, wonach sich die Mitglieder der Kommission „als Kollegium“ einem Zustimmungsvotum des Parlaments zu stellen haben und diesem verantwortlich sind. Dass auch die anderen Unionsorgane bzw die Organe der EZB Kollegialorgane 288 sind, folgt letztlich aus dem Begriff des Kollegialorgans selbst, jedoch zuweilen auch aus den Geschäftsordnungen der Organe. Der Begriff des Kollegialorgans ist zwar in den Verträgen nicht legaldefiniert, jedoch besteht in der Literatur Einigkeit über die wesentlichen Merkmale eines Kollegialorgans. Im deutschen Verwaltungsrecht werden (insb bei Behörden) kollegiale Organisationsstrukturen1066 von monokratischen Organisationsstrukturen unterschieden, die im Gegensatz zu kollegialen Strukturen hierarchisch, mit einem verantwortlichen Organwalter an der Spitze, strukturiert sind.1067 Daraus folgt als wesentliches Merkmal kollegialer Organisationsstrukturen das Bestehen einer Mehrheit von prinzipiell gleichberechtigt an der Beschlussfassung mitwirkenden Organwaltern (Mitgliedern): Jedes Mitglied

_____ 1065 Zur Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien am Beispiel der Werte der Union vgl Neuss/Niedobitek/Novotný/Rosůlek/Niedobitek S 214 ff. 1066 Vgl §§ 88 ff VwVfG. 1067 Vgl Ehlers/Pünder/Burgi § 8 Rn 32 f. Matthias Niedobitek

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eines Kollegialorgans hat eine Stimme;1068 Kollegialorgane beschließen regelmäßig mit (einfacher oder qualifizierter) Mehrheit der (anwesenden oder dem Organ angehörenden) Mitglieder. Entscheidungen werden unabhängig vom Abstimmungsverhalten des einzelnen Mitglieds kollegial, dh von allen Mitgliedern des Organs, verantwortet.1069 Die Einführung der Möglichkeit von Sondervoten,1070 wie sie bspw beim Bundesverfassungsgericht gem § 30 II BverfGG besteht, wäre mit einem solchermaßen streng verstandenen Kollegialitätsprinzip unvereinbar. Die grundsätzliche (formal zu verstehende1071) Gleichheit der Organmitglie- 289 der, die schon im Deutschen im Begriff des „Mitglieds“ selbst ihren Ausdruck findet, lässt sich für die einzelnen Unionsorgane anhand der EU-Verträge nachvollziehen. Die formale Gleichheit der Abgeordneten des Europäischen Parlaments folgt zunächst aus dem demokratischen Prinzip selbst, schlägt sich aber auch in den Regelungen des primären Unionsrechts nieder: Das Parlament besteht aus „Mitgliedern“, die Abgeordneten sind „frei und unabhängig“ (Art 2 I Abgeordnetenstatut), sie haben je eine Stimme, die sie „einzeln und persönlich“ abgeben müssen, und sie sind weder an Aufträge noch Weisungen gebunden (Art 3 I Abgeordnetenstatut, Art 6 I DWA). Was sodann den Europäischen Rat (vgl aber Rn 290 und den Rat angeht, folgt die grundsätzliche Gleichheit der Organmitglieder aus der grundsätzlichen Gleichheit der Mitgliedstaaten (vgl Art 4 II 1 EUV) und aus den Abstimmungsregeln (Art 15 IV, 16 III, IV EUV, 238 AEUV).1072 Dass die Mitglieder der Kommission, ungeachtet der immer stärker gewordenen Position des Kommissionspräsidenten, formal gleich sind, manifestiert sich neben der Bezeichnung als „Mitglied“ va in dem Umstand, dass jedes Mitglied bei der Beschlussfassung eine Stimme hat und Beschlüsse gem Art 250 I AEUV, Art 8 III GO-KOM mit der Mehrheit ihrer Mitglieder gefasst werden. Das Kollegialitätsprinzip gilt auch für die Richter der Unionsgerichte, selbst wenn Vollsitzungen (Plenum) aller Richter nur noch ausnahmsweise vorkommen (vgl Art 16 IV, 50 II 2 EuGH-Satzung) und die Unionsgerichte grundsätzlich in – kol-

_____ 1068 Interessant ist insoweit der Eurojust-Beschluss 2002/187/JI, ABl 2002 L 63/1, der zwischen einer Aufgabenwahrnehmung durch nationale Mitglieder einerseits und durch das Kollegium andererseits unterscheidet und für das Kollegium in Art 10 I feststellt: „Das Kollegium besteht aus der Gesamtheit der nationalen Mitglieder. Jedes nationale Mitglied hat eine Stimme“. 1069 Vgl Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Gundel § 3 Rn 13 unter zutreffendem Hinweis auf EuGH, Rs C191/95 – Kommission / Deutschland, Rn 39. Vgl ferner EuGH, Rs C-1/00 – Kommission / Frankreich, Rn 77 ff; Rs C-272/97 – Kommission / Deutschland, Rn 13 ff. Der Beitrag von Gundel wurde allerdings, speziell was die primärrechtliche Verankerung des Kollegialitätsprinzips angeht (Rn 13 iVm Fn 22), nicht durchgängig auf den Stand des Lissabonner Vertrages gebracht. 1070 Dafür plädiert Höreth Der Staat 50 (2011) 2, 191 ff. 1071 Dass bspw die Mitglieder des EP je nach Mitgliedstaat unterschiedliche Bevölkerungszahlen repräsentieren, ändert nichts an der formalen Gleichheit jedes Abgeordneten. 1072 Zu Recht ordnet Hilf S 313 f den Rat als Kollegialorgan ein. Matthias Niedobitek

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legial besetzten und entscheidenden – Kammern tagen.1073 Auch die Organe der EZB sind Kollegialorgane, ihre Mitglieder sind grundsätzlich gleich. Das gilt zunächst für den EZB-Rat.1074 Nach Art 10.2. UAbs 1 S 1 ESZB-Satzung hat jedes Mitglied des EZBRates eine Stimme. Eine Verringerung der Zahl der stimmberechtigten Präsidenten der nationalen Zentralbanken war in Art 10.2. Spstr 1 ESZB-Satzung für den Fall vorgesehen, dass die Anzahl der dem EZB-Rat angehörenden Präsidenten nationaler Zentralbanken 15 überschreitet (also ab Einführung des Euro im 16. EU-Mitgliedstaat). Die Einführung des mit dieser Regelung verbundenen komplizierten Rotationssystems war jedoch gem Art 10.2. Spstr 6 ESZB-Satzung auf den Zeitpunkt verschoben worden, zu dem der 19. Mitgliedstaat – Litauen – den Euro als Gemeinschaftswährung einführte.1075 Auch das EZB-Direktorium ist ein, grundsätzlich aus „gleichen“ Mitgliedern bestehendes, Kollegialorgan, wie der Beschluss EZB 1999/7 (betr die Geschäftsordnung des EZB-Direktoriums)1076 in seinem Erwägungsgrund deutlich macht.1077 Dass schließlich auch der Erweiterte Rat der EZB ein Kollegialorgan ist, ergibt sich nicht zuletzt aus Art 4 seiner Geschäftsordnung.1078 Was den Rechnungshof angeht, folgt die Gleichheit seiner „Mitglieder“ nicht nur aus dieser Bezeichnung, sondern auch aus dem Gesamtzusammenhang der primärrechtlichen Regelungen und nicht zuletzt aus der Geschäftsordnung, die in Art 1 ausdrücklich vom „Kollegialcharakter“ des Rechnungshofs spricht und den „Hof“ als Kollegialorgan bezeichnet. Das Kollegialitätsprinzip ist kein „starres Formalprinzip“, 1079 sondern, 290 wie sich nicht zuletzt aus dem Normcharakter als Prinzip ergibt, für Modifikationen offen. Derartige Modifikationen sind vielfältig, hier seien nur einige genannt: – Zwei Mitglieder des Europäischen Rates – sein Präsident und der Präsident der Kommission – sind nicht stimmberechtigt (Art 235 I UAbs 2 S 2 AEUV).

_____ 1073 Streinz/Huber Art 251 AEUV Rn 3 stellt mit Recht fest, dass die EuGH-Satzung grundsätzlich am Kollegialitätsprinzip festhält. 1074 Zu Recht weist Grabitz/Hilf/Nettesheim/Palm Art 283 AEUV Rn 11 deshalb auf das für den EZB-Rat geltende Kollegialitätsprinzip hin. 1075 Beschluss EZB/2008/29, ABl 2009 L 3/4. 1075 Am 1.1.2015 hat Litauen – als 19. EU-Mitgliedstaat – den Euro als Gemeinschaftswährung eingeführt, so dass seitdem das Rotationssystem Anwendung findet. Zur Erläuterung des Systems vgl die Website der EZB, https://www.ecb.europa.eu/explainers/tell-me-more/html/voting-rotation. de.html. 1076 ABl 1999 L 314/34. 1077 Ebenso Grabitz/Hilf/Nettesheim/Palm Art 283 AEUV Rn 20. 1078 ABl 2004 L 230/61. 1079 Hilf S 313. Matthias Niedobitek

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Der Ausschuss der Ständigen Vertreter (Art 16 VII EUV, Art 240 I AEUV) nimmt faktisch (nicht rechtlich 1080 ) Entscheidungen des Rates vorweg, die als APunkte1081 auf der Tagesordnung des Rates erscheinen.1082 Die Geschäftsordnung der Kommission regelt verschiedene Verfahren der Beschlussfassung, die zwar ein Handeln im Namen der Kommission (indes nur „unter der Voraussetzung, dass der Grundsatz der kollegialen Verantwortlichkeit voll gewahrt bleibt“1083), jedoch ohne Befassung des Kollegiums vorsehen (schriftliches Verfahren, Ermächtigungsverfahren, Delegation, Subdelegation).1084 Die Rahmenvereinbarung über die Beziehungen zwischen dem Europä­ischen Parlament und der Kommission1085 bestimmt in Ziff 4: „Unbeschadet des Grundsatzes des kollegialen Charakters der Kommission übernimmt jedes Mitglied der Kommission die politische Verantwortung für das Handeln in dem Bereich, für den es zuständig ist“. Insoweit wird dem Kollegialitätsprinzip das Ressortprinzip gegenüber gestellt. Die Unionsgerichte tagen grundsätzlich nicht (mehr) als Plenum, sondern in Kammern (vgl Rn 289), jedoch gelten deren Beschlüsse als Entscheidungen der Unionsgerichte. Auch der Rechnungshof hat von der Möglichkeit, Kammern mit Entscheidungsbefugnis zu bilden, Gebrauch gemacht.1086

Insgesamt gesteht der EuGH den Organen (speziell der Kommission) das Recht zu, „ihre Mitglieder ohne Verstoß gegen das für ihre Tätigkeit geltende Kollegialitätsprinzip [zu ermächtigen], bestimmte Entscheidungen in ihrem Namen zu treffen“. Maßgebend für diese Feststellung ist der Umstand, dass das betr Organ „dafür die volle Verantwortung trägt“. Dabei hat sich der Gerichtshof „insbesondere auf die jedem institutionellen System innewohnende Notwendigkeit gestützt, die Funktionstüchtigkeit des Entscheidungsorgans sicherzustellen“. 1087 Zwar betrafen die zitierten Feststellungen des EuGH nur die Kommission und die EZB, jedoch lassen sie sich verallgemeinern. Es ist kein Zufall, dass das primäre Unionsrecht das Kollegialitätsprinzip gerade 291 (und nur) in Bezug auf die Kommission ausdrücklich erwähnt (Rn 287). Das Span-

_____ 1080 Auch die A-Punkte werden förmlich vom Rat beschlossen. Zudem besteht nach Art 3 VIII GORat die Möglichkeit, auch A-Punkte erneut zu diskutieren. 1081 Hierzu vgl Art 3 VI UAbs 2 GO-Rat, ABl 2009 L 325/35, mit späteren Änderungen. 1082 Hilf S 313 f sieht dies im Einklang mit dem Kollegialitätsprinzip. 1083 So Art 13 I, 14 I GO-KOM. 1084 Art 12–16 GO-KOM. 1085 ABl 2010 L 304/47. 1086 Zur Bedeutung dieser Möglichkeit für den Kollegialcharakter des Rechnungshofs vgl Streinz/ Niedobitek Art 287 AEUV Rn 28. 1087 Die Zitate entstammen EuGH, Rs C-301/02 P – Tralli / EZB, Rn 59. Matthias Niedobitek

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nungsverhältnis zwischen dem Kollegialitätsprinzip einerseits und der Aufgabe der politischen Führung des Kommissionspräsidenten sowie (was die einzelnen Kommissare betrifft) dem „Ressortprinzip“1088 andererseits liegt auf der Hand.1089 Auch die Judikatur des EuGH befasst sich, wenn es um das Kollegialitätsprinzip geht, primär (wenn auch nicht ausschließlich1090) mit der Kommission.1091

cc) Präsidentschaft/Vorsitz der Unionsorgane 292 Ein Kollegialorgan bedarf einer Stelle, die seine Arbeit organisiert, es nach außen vertritt und ggf weitere Aufgaben des Organs erledigt. Deshalb haben grundsätzlich alle Unionsorgane einen Präsidenten bzw eine Präsidentschaft/Vorsitz. Dem Kollegialitätsprinzip entspricht es am besten, wenn der Präsident „aus der Mitte“ des Kollegiums gewählt wird. Eine solche Regelung treffen Art 14 IV EUV für den Präsidenten des Europäischen Parlaments, Art 286 II UAbs 2 AEUV für den Präsidenten des Rechnungshofs sowie Art 253 III, 254 III AEUV, Art 4 I Anhang EuGHSatzung für die Präsidenten der Unionsgerichte. Insoweit ist bemerkenswert, dass der „Gerichtshof der EU“ als Unionsorgan über keinen Präsidenten verfügt;1092 vielmehr hat jedes Gericht (EuGH, EuG, GöD) einen eigenen Präsidenten. Gleichwohl nimmt der Präsident des EuGH Repräsentationsfunktionen für das Organ wahr;1093 ferner erfüllt der EuGH Rechtsfunktionen für das Organ „Gerichtshof der EU“, etwa wenn er gem Art 257 AEUV beantragt, dem Gericht Fachgerichte beizuordnen, oder wenn er gem Art 281 II AEUV beantragt, die Satzung des Gerichtshofs der EU1094 zu ändern. Insoweit scheint noch die ursprüngliche Identität von Organ und Gericht durch.1095 Anders als beim Gerichtshof der EU ist die Lage bei der EZB, die sowohl als Or293 gan als auch als juristische Person über einen Präsidenten verfügt, der zugleich gem

_____ 1088 Zum Ressortprinzip vgl Streinz/Kugelmann Art 248 AEUV Rn 5. 1089 Vgl Blanke/Mangiameli/Gianfrancesco Art 17 TEU Rn 141; Staeglich S 269. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Martenczuk Art 17 EUV Rn 91 meint, die Kommission sei – wegen der starken Stellung ihres Präsidenten – kein „reines Kollegialorgan“ mehr. 1090 Vgl insoweit EuGH, Rs C-301/02 P – Tralli / EZB. 1091 Vgl EuGH, Rs 5/85 – AKZO Chemie / Kommisson; verb Rs 46/87 und Rs 227/88 – Hoechst / Kommission; Rs C-137/92 P – Kommission / BASF ua; Rs C-280/93 – Deutschland / Rat; verb Rs C287/95 P und C-288/95 P – Kommission / Solvay. 1092 Ungenau insofern die Pressemeldung des EuGH Nr 151/18, wonach Koen Lenaerts als Präsident des Gerichtshofs der Europäischen Union wiedergewählt worden sei. Näher Becker/Lippert/ Niedobitek Gerichtshof Abschn 4. 1093 So ist er Autor des Vorworts zum Jahresbericht des Gerichtshofs der EU. 1094 Obwohl in diesem Beitrag die Abkürzung EuGH regelmäßig für das Gericht, nicht für das Organ steht, wird aus Gründen der Praktikabilität an der Abkürzung „EuGH-Satzung“ für die „Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union“ festgehalten. 1095 Näher Becker/Lippert/Niedobitek Gerichtshof. Matthias Niedobitek

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Art 13.1. ESZB-Satzung in den beiden regulären Beschlussorganen der EZB – dem EZB-Rat und dem Direktorium – sowie gem Art 45.1. ESZB-Satzung im Erweiterten Rat den Vorsitz führt und diesen Organen auch als Mitglied angehört (vgl Art 283 AEUV; Art 44.2. ESZB-Satzung). Auswahl und Ernennung des EZB-Präsidenten sind in Art 283 II AEUV geregelt. Danach entscheidet der Europäische Rat auf Empfehlung des Rates, der hierzu das Europäische Parlament und den EZB-Rat anhört. Der Präsident der Kommission wird nicht aus der Mitte des Kollegiums ge- 294 wählt, sondern er hat, ganz im Gegenteil, seinerseits Einfluss auf die Zusammensetzung des Kollegiums; das war ursprünglich anders (vgl Art 161 EWGV).1096 Das Ernennungsverfahren ist in Art 17 VII EUV geregelt. Zunächst wird der „Kandidat“ für das Amt des Kommissionspräsidenten vom Europäischen Rat dem Europäischen Parlament vorgeschlagen, welches diesen dann „wählt“. Zwar ist es dann gem Art 17 VII UAbs 2 Sache des Rates, eine Liste mit Vorschlägen für die anderen Kommissionsmitglieder anzunehmen, dies muss jedoch „im Einvernehmen mit dem gewählten Präsidenten“, dh mit dessen Billigung,1097 erfolgen. Das Verfahren der „Anhörung“ der designierten Kommissionsmitglieder durch die Ausschüsse des EP ist nicht ausdrücklich – wohl aber andeutungsweise – in der Rahmenvereinbarung zwischender Kommission und dem Parlament geregelt, sondern in Anlage VII der EP-Geschäftsordnung. Nachdem sich alle designierten Mitglieder der Kommission einem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments gestellt haben,1098 werden alle Mitglieder der Kommission, auch ihr Präsident, vom Europäischen Rat (mit qualifizierter Mehrheit) ernannt. Dass dem Kommissionspräsidenten innerhalb der Kommission die Aufgabe der „politischen Führung“ (political guidance; orientations politiques) zukommt, wurde noch in ex-Art 217 I EGV betont; heute wird der „politische“ Charakter der Führungsaufgabe des Kommissionspräsidenten nur noch in der GO-KOM vermerkt. Wie ein Vergleich mit ex-Art 217 EGV in anderen Sprachfassungen zeigt, wurde die Rolle des Kommissionspräsidenten mit der Verwendung des Begriffs „Leitlinien“ (guidelines; orientations) in Art 17 VI lit a) EUV durch den Vertrag von Lissabon nicht gestärkt.1099 Auch die Formulierung in Art 248 S 3 AEUV, wonach die Mitglieder der Kommission die ihnen vom Präsidenten übertragenen Aufgaben „unter dessen Leitung“ (under his authority; sous l’autorité de celui-ci) ausüben, war bereits in ex-Art 217 II 3 EGV enthalten. Verglichen mit der „Leitli-

_____ 1096 Zunächst wurden die Mitglieder der Kommisson gem Art 158 EWGV von den Regierungen im gegenseitigen Einvernehmen ernannt, anschließend wurden „aus ihrer Mitte“ (so Wohlfarth/Everling/Glaesner/Sprung/Wohlfarth Art 161 EWGV Nr 2) gem Art 161 EWGV nach demselben Verfahren der Präsident und die beiden Vizepräsidenten ernannt. 1097 Zur Bedeutung des „Einvernehmens“ s Streinz/Kugelmann Art 17 EUV Rn 115. 1098 Zur vorherigen „Anhörung“ durch das EP s Rn 265 iVm Fn 952. 1099 Demgegenüber erkennt jedoch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Martenczuk Art 17 EUV Rn 92 in der neuen Begrifflichkeit der deutschen Sprachfassung die Anerkennung einer stärkeren operationellen Leitungsbefugnis; ähnlich Calliess/Ruffert/Ruffert Art 17 EUV Rn 27. Matthias Niedobitek

170 | § 1 Vertragliche Grundlagen, rechtliche Gestalt, Institutionen der Union

nienbefugnis“ des Art 17 VI lit a) EUV ist diese Formulierung allerdings deutlich einschneidender, da sie – wie wieder die anderen zitierten Sprachfassungen zeigen1100 – auf die Letztverantwortung und das Weisungsrecht des Kommissionspräsidenten hinweisen und damit das Ressortprinzip in Frage stellen.1101 Mit der aus dem deutschen Staatsrecht bekannten „Richtlinienkompetenz“ des Bundeskanzlers1102 lässt sich diese Position des Kommissionspräsidenten somit kaum vergleichen,1103 jedoch nicht deshalb, weil der Kommissionspräsident im Kollegium über eine schwächere Position als der deutsche Bundeskanzler innerhalb der Bundesregierung verfügte,1104 sondern im gegenteiligen Sinn.1105 Kommissionspräsident Juncker (2014–2019) hat seine Befugnisse für eine interne Neuorganisation der Kommission genutzt.1106 Den einzelnen Vizepräsidenten wurde eine Leitungsfunktion im Hinblick auf thematisch definierte – jeweils aus mehreren Kommissaren bestehenden – „Projektteams“ zugewiesen,1107 wobei jedes Kommissionsmitglied mehreren Projektteams angehören kann.1108 Einem Vizepräsidenten wurde die Rolle des Ersten Vizepräsidenten übertragen. Die interne Restrukturierung wird positiv bewertet: „“For the time being, the internal restructuring of the Commission in the form of clusters of project teams seems to be a viable approach to reconciling a College of 28 with the need for ensuring an efficient working capacity. Initial evaluations show that this is indeed the case”.1109 Die Präsidentschaft von Europäischem Rat und Rat lief lange Zeit parallel. Bis 295 zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon bestimmte ex-Art 4 II 3 EUV, dass der Europäische Rat „mindestens zweimal jährlich unter dem Vorsitz des Staats- oder Regierungschefs des Mitgliedstaats [zusammentritt], der im Rat den Vorsitz inne-

_____ 1100 Die Formulierungen „under his auhority“ bzw „sous l’autorité de celui-ci“ werden so oder in ähnlicher Form in den betr Sprachfassungen der Verträge verwendet, um eine Letztverantwortung zu kennzeichnen; vgl etwa Art 33 S 2, 43 II 2, 45 I EUV, Art 221 II AEUV. 1101 Insoweit ist Grabitz/Hilf/Nettesheim/Martenczuk Art 17 EUV Rn 93 zu folgen; demgegenüber sieht Streinz/Kugelmann Art 248 AEUV Rn 5, in Art 248 S 3 AEUV („… übertragenen Aufgaben …“) das Ressortprinzip verankert. 1102 Näher Sachs/Oldiges Art 65 GG Rn 14 ff. 1103 Vgl jedoch Streinz/Kugelmann Art 17 EUV Rn 88; Art 248 AEUV Rn 5, der den Begriff „Richtlinienkompetenz“ verwendet, gleichwohl ohne ausdrücklich eine Parallele zum deutschen Grundgesetz zu ziehen; ferner Calliess/Ruffert/Ruffert Art 248 AEUV Rn 2. 1104 So indes Calliess/Ruffert/Ruffert Art 248 AEUV Rn 2. 1105 Zur Stärke der Stellung des Kommissionspräsidenten vgl Schwarze/Nemitz Art 248 AEUV Rn 3: „Präsidialregime“. 1106 Vgl die Mitteilung des Präsidenten an die Kommission „Die Arbeitsmethoden der Europäischen Kommission 2014–2019“, Dok C(2014) 9004. 1107 Vgl hierzu Art 3 IV GO KOM. 1108 Vgl die Anhänge 2 und 3 der Mitteilung des Präsidenten an die Kommission „Die Arbeitsmethoden der Europäischen Kommission 2014–2019“, Dok C(2014) 9004. 1109 Böttner EuConst 14 (2018) 1, 37 (61). Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 171

hat“. Der Vertrag von Lissabon führte zu einer Auflösung dieses Zusammenhangs, indem er, was den Rat angeht, grundsätzlich an der nach Mitgliedstaaten wechselnden Vorsitzlösung festhielt,1110 während für den Europäischen Rat ein „hauptberuflicher Vorsitz“ eingeführt wurde,1111 dessen Amtszeit maximal fünf Jahre beträgt (Art 15 V 1 EUV). Der Präsident des Europäischen Rates ist zwar gem Art 15 II EUV dessen Mitglied, jedoch wurde ihm das Stimmrecht – das Recht, an „Abstimmungen“ teilzunehmen („Where the European Council decides by vote …“; „Lorsque le Conseil européen se prononce par un vote …“) – verweigert (vgl Art 235 I UAbs 2 S 2 AEUV). Dies erscheint konsequent, da der Europäische Rat gem Art 10 II UAbs 2 EUV primär der Vertretung der Mitgliedstaaten dient. Allerdings ist der Präsident des Europäischen Rates nicht von der Bildung des regelmäßig herzustellenden „Konsenses“ (Art 15 IV EUV) ausgeschlossen, da hierbei nicht förmlich abgestimmt wird.1112 Im Vergleich zum Europäischen Rat bewegt sich die Ratspräsidentschaft iW in den hergebrachten Bahnen, auch wenn es einige Neuerungen bzw Modifikationen gibt. Zunächst ist für den Rat nach wie vor die Unterscheidung zwischen Vorsitz und Präsident relevant. Während der „Vorsitz“ (presidency; la présidence), abgesehen vom Rat „Auswärtige Angelegenheiten“, einem bestimmten Mitgliedstaat gemäß einem System gleichberechtigter Rotation zukommt (vgl Art 16 IX EUV), bezeichnet der Begriff „Präsident“ (vgl Art 237, 284 I AEUV) regelmäßig den für die jeweilige Ratskonstellation zuständigen Ressortminister.1113 Die Vorsitzführung erstreckt sich auch auf den AStV und die anderen Ausschüsse und Arbeitsgruppen des Rates.1114 Einen Beschluss gem Art 236 lit a) AEUV zur Festlegung aller Zusammensetzungen des Rates hat der Europäische Rat zwar bislang noch nicht gefasst, jedoch hat er den vorausgegangenen Beschluss des Rates1115 geändert1116 und sich diesen damit zu eigen gemacht. In den nunmehr zehn Ratskonstellationen gibt es somit jeweils einen „Präsidenten“, gleichwohl handelt es sich in allen Konstellationen stets um ein und dasselbe Organ „Rat“, dh durch die primärrechtliche Anerkennung unterschiedlicher Zusammensetzungen des Rates wird die Einheit des Rates als Unionsorgan nicht in Frage gestellt.1117 Was jedoch die Ratskonstellation „Auswärtige Angelegenheiten“ angeht (hierbei handelt es sich um eine von zwei im Primärrecht geregelten Ratskonstellationen1118), obliegt der Vorsitz nicht dem

_____ 1110 Zutreffend Streinz/Obwexer Art 16 EUV Rn 83. 1111 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Kumin Art 15 EUV Rn 16. 1112 Vgl Streinz/Pechstein Art 15 EUV Rn 11; Blanke/Mangiameli/Edjaharian Art 15 TEU Rn 60. 1113 Vgl Streinz/Hummer/Obwexer Art 237 AEUV Rn 16. 1114 Vgl Art 2 des Beschlusses 2009/881 des Europäischen Rates, ABl 2009 L 315/50; Art 19 IV UAbs 1, 21 I GO-Rat; hierzu vgl auch Streinz/Obwexer Art 16 EUV Rn 103. 1115 Beschluss 2009/878, ABl 2009 L 315/46. 1116 Beschluss 2010/594, ABl 2010 L 263/12. 1117 Zutreffend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ziegenhorn Art 16 EUV Rn 65. 1118 Vgl Art 16 VI UAbs 2, 3 EUV. Matthias Niedobitek

172 | § 1 Vertragliche Grundlagen, rechtliche Gestalt, Institutionen der Union

jeweils vorsitzführenden Mitgliedstaat, sondern gem Art 18 III EUV dem Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik kraft Amtes, dies ohne zeitliche Limitierung. Der Hohe Vertreter ist somit ständiger „Präsident“ dieser Ratskonstellation, ohne ihr als Mitglied anzugehören.1119 Schließlich wurde die Ratspräsidentschaft durch Einführung der – bereits vor Lissabon im Wege der GO-Rat etablierten1120 – (vielfach so bezeichneten) „trio presidency“ (oder auch team presidency) modifiziert.1121 Danach wird „[d]er Vorsitz im Rat außer in der Zusammensetzung „Auswärtige Angelegenheiten“ […] von zuvor festgelegten Gruppen von drei Mitgliedstaaten für einen Zeitraum von 18 Monaten wahrgenommen“. Das Programm der „Trio-Präsidentschaft“ wird auf der Website des jeweils vorsitzführenden Mitgliedstaats bekannt gegeben.1122

dd) Die Beschlussfassung der Unionsorgane 296 Es wurde bereits darauf hingewiesen (Rn 288), dass Kollegialorgane, sofern sie als

solche handeln und nicht andere Mechanismen wie Kammern oder die Delegation von Befugnissen angewandt werden, aufgrund der rechtlichen Vorgaben regelmäßig mit (einfacher oder qualifizierter) Mehrheit der (anwesenden oder dem Organ angehörenden) Mitglieder beschließen; hierdurch ist jedoch die Möglichkeit einstimmiger Beschlussfassung nicht ausgeschlossen. Es ist nicht nötig, hier die Modalitäten der Beschlussfassung für alle Unionsor297 gane en detail darzulegen, vielmehr können einige Organe (das Europäische Parlament, die Kommission, der Gerichtshof der EU, die EZB sowie der Rechnungshof) summarisch behandelt werden (Rn 298). Der Rat und Europäische Rat sind etwas genauer zu betrachten (Rn 298–305). Was zunächst das Europäische Parlament angeht, so beschließt dieses, 298 „[s]oweit die Verträge nicht etwas anderes bestimmen“, gem Art 231 I AEUV mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen; die Verträge sehen allerdings in einer Reihe von Fällen vor, dass das Europäische Parlament „mit der Mehrheit seiner Mitglieder“ beschließt.1123 Die Tagungen des EP sind gem Art 15 II AEUV öffentlich. Die Beschlüsse der Kommission werden gem Art 250 AEUV „mit der Mehrheit ihrer Mit-

_____ 1119 Dem Rat gehören gem Art 16 II EUV nur Vertreter der Mitgliedstaaten auf Ministerebene an. 1120 Vgl Art 2 IV GO-Rat gem dem Beschluss 2006/683 v 15. September 2006 zur Festlegung seiner Geschäftsordnung, ABl 2006 L 295/47. 1121 Vgl Beschluss 2009/881 des Europäischen Rates, ABl 2009 L 315/50; Beschluss 2009/908 des Rates, ABl 2009 L 322/28. 1122 Vgl zuletzt das Programm der rumänischen, finnischen und kroatischen Ratspräsidentschaft (1 January 2019–30 June 2020), Rats-Dok 14518/18. 1123 So bspw bei der „Wahl“ des Kommissionspräsidenten gem Art 17 VII UAbs 1 EUV, im vereinfachten Vertragsänderungsverfahren gem Art 48 VII UAbs 4 EUV oder bei der Ausübung seines „indirekten“ Initiativrechts gem Art 225 AEUV. Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 173

glieder gefasst“; die Sitzungen der Kommission sind gem Art 9 GO-KOM „nicht öffentlich“ und „vertraulich“. Auch die Gerichte der Union entscheiden mit der „Mehrheit der Richter“ (vgl nur Art 32 IV EuGH-VerfO). Die Verhandlungen (nicht die Beratungen; vgl Art 35 EuGH-Satzung; 32 I EuGH-VerfO) des EuGH (analog die VerfO des EuG) sind gem Art 31, 37 EuGH-Satzung grundsätzlich öffentlich; dasselbe gilt gem Art 252 II AEUV für die Schlussanträge des Generalanwalts. Für die EZB ist festzustellen, dass der EZB-Rat gem Art 10.2. UAbs 4 ESZB-Satzung grundsätzlich mit der „einfachen Mehrheit“ seiner stimmberechtigten Mitglieder beschließt; die Aussprachen in den Ratssitzungen sind gem Art 10.4. ESZB-Satzung grundsätzlich vertraulich. Das EZB-Direktorium beschließt gem Art 11.5. S 1 ESZB-Satzung grundsätzlich mit der „einfachen Mehrheit“ der abgegebenen Stimmen. Auch der Erweiterte Rat der EZB fasst seine Beschlüsse gem Art 4 II GO-ErwRatEZB1124 grundsätzlich mit einfacher Mehrheit. Was schließlich den Rechnungshof betrifft, fasst dieser seine Beschlüsse gem Art 25 III GO-RH grundsätzlich mit der Mehrheit seiner anwesenden Mitglieder, wobei die Sitzungen des Rechnungshofs gem Art 22 GO-RH grundsätzlich nichtöffentlich sind. Die Beschlussfassung des Rates ist ein eminent politisches, für die Mitglied- 299 staaten „sensibles“ Thema, wie die überaus komplizierte Regelung der EUVerträge beweist. Eine Gesamtschau der vertraglichen Bestimmungen, Optionen und zu berücksichtigenden Faktoren spiegelt das Ringen der Mitgliedstaaten um ihren Einfluss auf den Rechtsetzungsprozess wider (Rn 300–302). Die Beschlussfassung des Europäischen Rates folgt demgegenüber einfacheren Regeln, auch wenn diese zT an die Beschlussfassungsmodalitäten des Rates angelehnt sind (Rn 305). Grundsätzlich verfügt der Rat wie jedes Kollegialorgan über die Möglichkeit, (a) 300 mit Mehrheit oder (b) einstimmig zu entscheiden.1125 Zur einstimmigen Beschlussfassung ist nur zu bemerken, dass gem Art 238 IV AEUV die Stimmenthaltung von anwesenden oder vertretenen Ratsmitgliedern dem Zustandekommen eines einstimmig zu fassenden Beschlusses nicht entgegensteht. Dies bedeutet im Extremfall, dass bei Anwesenheit bzw Vertretung aller Ratsmitglieder nur ein Mitglied dem Beschluss aktiv zustimmen muss, während sich die anderen („konstruktiv“1126) enthalten. 1127 Mehrheitsentscheidungen können in Form der einfachen Mehrheit (vgl Art 238 I AEUV) oder in Form unterschiedlich qualifizierter Mehrheiten getroffen werden. Als Regelverfahren („[s]oweit in den Verträgen nichts anderes festgelegt ist“) bestimmt und definiert Art 16 EUV in seinen Absätzen III–V die (ordentliche) „qualifizierte Mehrheit“. Die grundsätzlich (vgl Rn 301) seit 1. November 2014

_____ 1124 Beschluss 2004/526/EZB, ABl 2004 L 230/61. 1125 Eine Auflistung der Fälle, in denen der Rat noch einstimmig beschließt, findet sich bei Piris Lisbon Treaty S 387 ff. 1126 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ziegenhorn Art 238 AEUV Rn 38. 1127 Zutreffend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ziegenhorn Art 238 AEUV Rn 38 aE. Matthias Niedobitek

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gültige vertragliche Definition der qualifizierten Mehrheit kennzeichnet diese als „doppelt qualifiziert“.1128 Danach gilt als qualifizierte Mehrheit eine Mehrheit von mindestens 55% der Mitglieder des Rates – gebildet aus mindestens 15 Mitgliedern1129 –, wobei die von diesen Mitgliedern vertretenen Mitgliedstaaten mindestens 65% der Bevölkerung der Union ausmachen müssen. Damit hat sich das Unionsrecht von der früheren, nicht stets plausiblen, Gewichtung der Stimmen der Ratsmitglieder (vgl ex-Art 205 II EGV) zugunsten einer Regelung verabschiedet, die nicht bei jedem Beitritt angepasst werden muss und zudem nicht das Odium der politischen Willkür hat. Vielmehr entspricht die Neuregelung besser als die frühere dem Grundsatz der Gleichheit der Mitgliedstaaten (vgl Art 4 II 1 EUV), auch wenn sie durch Übergangsregelungen bzw Modifkationen verwässert wurde bzw wird. Zu diesen Modifkationen zählt zunächst die Festlegung in Art 16 IV 2 EUV, wonach es für eine Sperrminorität nicht ausreicht, dass nur drei Mitgliedstaaten mit mehr als 35% der Bevölkerung der Union gegen einen mit qualifizierter Mehrheit zu fassenden Beschluss stimmen. In einem solchen Fall kommt ein mit qualifizierter Mehrheit zu fassender Beschluss somit zustande, obwohl das 65%-Bevölkerungskriterium verfehlt wurde. Eine weitere Modifikation der Anwendung der „qualifizierten Mehrheit“ ergibt sich aus dem Beschluss des Rates 2009/857 vom 13. Dezember 2007 über die Anwendung von Art 16 IV EUV und Art 238 AEUV.1130 Gestaffelt nach Zeiträumen – 1. November 2014 bis 31. März 2017 und ab 1. April 2017 – führt dieser Beschluss den Gedanken des Ratsbeschlusses v 29. März 1994 „über die Beschlußfassung des Rates mit qualifizierter Mehrheit“1131 (den sog Kompromiss von Ioannina1132) weiter, indem er denjenigen Mitgliedstaaten der Union, die einen mit qualifizierter Mehrheit zu fassenden Beschluss ablehnen, die jedoch zusammen genommen nach Anzahl oder Bevölkerungszahl keine Sperrminorität bilden könnten, einen gewissen verhandlungsorientierten Schutz bietet; dies gilt indessen nur, sofern diese Mitgliedstaaten bestimmte (vom ersten zum zweiten Zeitraum abgesenkte1133) Schwellen hinsichtlich Anzahl oder Bevölkerungszahl erreichen. Für beide Zeiträume legen Art 2 und 5 des Beschlusses 2009/857 folgendes fest: „Der Rat wird im Verlauf dieser Erörterungen alles in seiner Macht Stehende tun, um innerhalb einer angemessenen Zeit und unbeschadet der durch das Unionsrecht vorgeschriebenen zwingen-

_____ 1128 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ziegenhorn Art 16 EUV Rn 43. 1129 Dass die Festlegung einer absoluten Zahl einen Fremdkörper in dem auf Prozentzahlen beruhenden System darstellt, betont zu Recht Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ziegenhorn Art 16 EUV Rn 43. 1130 Beschluss 2009/857, ABl 2009 L 314/73. 1131 ABl 1994 C 105/1; geändert durch Beschluss v 1. Januar 1995, ABl 1995 C 1/1. 1132 Der Beschluss wurde auf einer informellen Tagung des Rates in der griechischen Stadt Ioannina gefasst; vgl die Datenbank EUR-Lex, https://eur-lex.europa.eu/summary/glossary/ioannina_ compromise.html?locale=de. 1133 Kritisch zu den niedrigen Schwellen Streinz/Obwexer Art 16 EUV Rn 51. Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 175

den Fristen eine zufrieden stellende Lösung für die von den Mitgliedern des Rates nach Artikel [1 bzw 4] vorgebrachten Anliegen zu finden.“

Der Beschluss 2009/857 ist mit den Regelungen der Verträge vereinbar,1134 da er diese nicht einschränkt, sondern lediglich – dem Bereich der Binnenorganisation zuzuordnende – Verhandlungspflichten mit dem Ziel einer Konsensbildung statuiert.1135 Eine weitere Modifikation der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit stellt der in den Verträgen verschiedentlich vorgesehene (Art 31 II UAbs 2 EUV, Art 48 II, 82 III, 83 III AEUV) „Notbremsemechanismus“1136 dar. Die Anwendung der „Notbremse“ kann je nach Rechtsgrundlage unterschiedliche rechtliche Konsequenzen haben,1137 jedoch eint alle Fälle die Ausgangslage, dass sich ein Mitglied des Rates auf wichtige nationale Belange beruft und dadurch eine Befassung des Europäischen Rates erzwingen kann, der (im Falle von Art 31 EUV) einstimmig entscheidet bzw (in den anderen Fällen) eine Aussprache abzuhalten hat. Auch wenn Art 16 IV EUV bestimmt, dass die darin vorgesehene Definition der 301 qualifizierten Mehrheit „[a]b dem 1. November 2014 gilt“, schränkte Art 16 V EUV iVm dem Protokoll über die Übergangsbestimmungen diese Feststellung für den Zeitraum bis zum 31. März 2017 ein. Danach konnte ein Mitglied des Rates bei einer Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit im jeweiligen Einzelfall „beantragen“ (deutlicher die englische und die französische Fassung: may request; peut demander), dass zur Feststellung der qualifizierten Mehrheit die vor dem 1. November 2014 geltende Stimmengewichtung1138 angewendet wird. Somit findet die Definition der qualifizierten Mehrheit, wie sie in Art 16 IV EUV enthalten ist, uneingeschränkt erst seit 1. April 2017 Anwendung. Neben der „ordentlichen“ qualifizierten Mehrheit (Rn 300) sehen die Verträge 302 noch weitere qualifizierte Mehrheiten vor. Das gilt insb für die Fälle der Beschlussfassung auf Vorschlag anderer Initianten als der Kommission und des Hohen Vertreters, für die Art 238 II AEUV eine „superqualifizierte Mehrheit“1139 (72% der Ratsmitglieder, die mindestens 65% der Bevölkerung der Union vertreten müssen) definiert. Ferner beschließt der Rat gem Art 7 I UAbs 1 S 1 EUV mit vier Fünfteln seiner Mitglieder (hierzu Art 354 I AEUV), wenn er die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat

_____ 1134 Zu Recht weist Streinz/Obwexer Art 16 EUV Rn 51 allerdings auf die Gefahr hin, „dass die hart verhandelte Einführung der doppelten Mehrheit unterlaufen wird“. 1135 Überzeugend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ziegenhorn Art 16 EUV Rn 53. 1136 Zum Begriff vgl auch § 9 IntVG. 1137 Hierzu näher Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ziegenhorn Art 16 EUV Rn 54. 1138 Zu dieser Regelung vgl Art 16 V EUV iVm Art 3 III des Protokolls über die Übergangsbestimmungen (idF von Art 20 der Beitrittsakte Kroatien). 1139 Zum Begriff vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ziegenhorn Art 238 AEUV Rn 9. Matthias Niedobitek

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feststellen möchte. Ob die im Rahmen des „Six-pack“1140 und des „Two-pack“1141 eingeführte Beschlussfassung mit „umgekehrter“ qualifizierter Mehrheit1142 (letztere wird im Englischen als „reverse qualified majority voting“, RQMV, bezeichnet1143) mit den Verträgen in Einklang steht, ist umstritten.1144 Dabei geht es um die in einigen Verordnungen des „Sixpack“ vorgesehene Fiktion der Beschlussfassung des Rates, wonach eine von der Kommission im Rahmen der Überwachung und Sanktionierung der Wirtschafts- und Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten vorgeschlagene Maßnahme/Sanktion als vom Rat angenommen „gilt“, sofern der Rat nicht innerhalb von zehn Tagen mit qualifizierter Mehrheit beschließt, diese abzulehnen.1145 Für die Berechnung der qualifizierten Mehrheit – handele es sich um die regulä303 re qualifizierte Mehrheit gem Art 16 IV EUV, um die „superqualifizierte Mehrheit“ gem Art 238 II AEUV – kommt es auf die Berechnung der „Bevölkerungzahl“ der einzelnen Mitgliedstaaten und der Union insgesamt an, die der Rat jährlich neu in seiner Geschäftsordnung festlegt.1146 Nach einem längeren Prozess der Öffnung von Ratstagungen1147 bestimmen die 304 Verträge (in Art 16 VIII 1 EUV, Art 15 II Halbs 2 AEUV) inzwischen, dass der Rat öffentlich tagt, wenn er über Entwürfe zu Gesetzgebungsakten berät und abstimmt. Die Geschäftsordnung des Rates weitet in ihrem Art 8 I die Öffentlichkeit von Ratstagung auf die ersten Beratungen über „wichtige neue Vorschläge“ für Rechtsakte ohne Gesetzescharakter aus, des weiteren uU auf „wichtige Fragen, die die Interessen der Union und ihrer Bürger berühren“ (Art 8 II GO-Rat). Ferner ist (in Art 8 III GO-Rat) eine öffentliche Orientierungsaussprache über das Achtzehnmonatsprogramm des Rates vorgesehen. Die Öffentlichkeit der Ratstagungen wird begleitet und komplettiert durch die online-Publikation der Abstimmungsergebnisse.1148

_____ 1140 Der im Jahr 2011 in Kraft getretene „Six-pack“ besteht aus sechs Rechtsakten (fünf Verordnungen und einer Richtlinie); für einen Überblick über die Rechtsakte (des „Six-pack“ und des „Two-pack“) vgl die Website der Kommission. 1141 Der im Jahr 2013 in Kraft getretene „Two-pack“ besteht aus zwei weiteren Verordnungen. 1142 In einem Fall ist auch eine umgekehrte einfache Mehrheit vorgesehen. 1143 Zur Terminologie vgl EU-Kommission „EU Economic governance ‚Six Pack‘ – State of Play“, MEMO/11/627. 1144 Näher Repasi EuR 2013, 69 f sowie – mwN aus der Literatur – Grabitz/Hilf/Nettesheim/ Ziegenhorn Art 16 EUV Rn 11. 1145 Vgl aus dem „Six-pack“ insb Art 4 II, 5 II, 6 II VO 1173/2011 über die wirksame Durchsetzung der haushaltspolitischen Überwachung im Euro-Währungsgebiet, ABl 2011 L 306/1; aus dem „Twopack“ vgl Art 14 I, IV VO 472/2013 über den Ausbau der wirtschafts- und haushaltspolitischen Überwachung von Mitgliedstaaten im Euro-Währungsgebiet, die von gravierenden Schwierigkeiten in Bezug auf ihre finanzielle Stabilität betroffen oder bedroht sind, ABl 2013 L 140/1. 1146 Vgl Art 11 V, VI iVm Anhang III GO Rat. Zur seiner GO hat der Rat „Erläuterungen“ veröffentlicht; s unter https://www.consilium.europa.eu/media/29806/qc0415692den.pdf. 1147 Hierzu Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ziegenhorn Art 16 EUV Rn 71. 1148 Vgl die Website des Rates, https://www.consilium.europa.eu/de/general-secretariat/corpo rate-policies/transparency/open-data/voting-results/. Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 177

Der Europäische Rat entscheidet gem Art 15 IV EUV grundsätzlich (dh „[s]oweit 305 in den Verträgen nichts anderes festgelegt ist“) im Konsens. Der Begriff des Konsenses ist zwar vertraglich nicht näher bestimmt, jedoch kann er auf eine Tradition der Beschlussfassung im Europäischen Rat verweisen, die dem Begriff Substanz gibt.1149 Danach wird bei konsensualer Beschlussfassung nicht förmlich abgestimmt (insoweit unterscheidet sich der Konsens von der Einstimmigkeit1150), vielmehr ist der Konsens dadurch gekennzeichnet, dass unter den Mitgliedern des Europäischen Rates ein politisches Einvernehmen festgestellt wird,1151 dessen Feststellung selbstredend dem Präsidenten des Europäischen Rates obliegt. Auch wenn der Europäische Rat regelmäßig konsensual handelt, sind auch andere Formen der Beschlussfassung – Einstimmigkeit, qualifizierte Mehrheit, einfache Mehrheit – vorgesehen.1152 Soweit der Europäische Rat förmlich „abstimmt“ (und nicht konsensual handelt), sind der Präsident des Europäischen Rates und der Kommissionspräsident, die dem Europäischen Rat gem Art 15 II EUV als Mitglieder angehören, gem Art 235 I UAbs 2 S 2 AEUV nicht stimmberechtigt. Die Regelungen über die Öffentlichkeit von Ratssitzungen (Rn 304) sind auf den Europäischen Rat nicht übertragbar. Seine Sitzungen sind grundsätzlich „geheim“ (Art 11 I GO-EurRat). Gleichwohl kann der Europäische Rat gem Art 10 GO-EurRat beschließen, die Abstimmungsergebnisse publik zu machen. Im Übrigen veröffentlicht der Europäische Rat seine (regelmäßig politischen) „Schlussfolgerungen“ auf seiner Website.1153

f) Arbeitsweise der Organe: Organisationsrecht und Unterstütztungsstrukturen Die Organe der Union bedürfen zur Erledigung ihrer Aufgaben nicht nur eines 306 Verwaltungsunterbaus (hierzu Rn 245), sondern auch – und vor allem – organisationsrechtlicher Bestimmungen, die ihre Arbeitsweise regeln, sowie diverser Substrukturen, die sie bei der Aufgabenerfüllung unterstützen; diese Unterstützungsstrukturen sind ihrerseits im Organisationsrecht der Union verankert. Im Folgenden werden zunächst summarisch die Quellen des unionalen Organisationsrechts dargestellt (Rn 307–311). Anschließend (Rn 312 ff) werden die wichtigsten Substrukturen behandelt. Diese können gemäß dem Schwerpunkt ihrer jeweiligen Tätigkeit in eher „politische“ Strukturen (zB AStV) und eher „administrative“

_____ 1149 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Kumin Art 15 EUV Rn 40, der mit Recht auf eine schon bisher gängige Praxis verweist. Hierzu s Streinz/Pechstein EUV/EGV Art 4 EUV Rn 12: „In der Praxis trifft [der Europäische Rat] seine Beschlüsse nach dem Konsensverfahren“. 1150 Zutreffend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Kumin Art 15 EUV Rn 40. 1151 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Kumin Art 15 EUV Rn 40. 1152 Zusammenstellung bei Grabitz/Hilf/Nettesheim/Kumin Art 15 EUV Rn 41. 1153 Vgl die Website des Europäischen Rates unter: https://www.consilium.europa.eu/de/euro pean-council/conclusions/. Matthias Niedobitek

178 | § 1 Vertragliche Grundlagen, rechtliche Gestalt, Institutionen der Union

Strukturen (zB Generalsekretariate) unterschieden werden. Eine randscharfe Abgrenzung ist jedoch nicht möglich, weshalb auf eine entsprechende Gliederung der Darstellung verzichtet wird. So ist das Generalsekretariat des Rates neben seinen diversen rein administrativen Aufgaben auch an der politischen Arbeit des Rates beteiligt. Hierzu bestimmt Art 23 III GO-Rat: „Der Generalsekretär wird an der Gestaltung, der Koordinierung und der Überwachung der Kohärenz der Arbeiten des Rates und der Durchführung seines Achtzehnmonatsprogramms ständig eng beteiligt. Unter Verantwortung und Federführung des Vorsitzes unterstützt er diesen bei der Suche nach Lösungen“.

Auch der Generalsekretär der Kommission ist in die politische Arbeit eingebunden, wie sich insb aus Art 20 GO-KOM ergibt: (1) Der Generalsekretär unterstützt den Präsidenten, damit die Kommission die Prioritäten, die sie sich gesetzt hat, im Rahmen der vom Präsidenten vorgegebenen politischen Leitlinien verwirklichen kann. (2) Der Generalsekretär trägt zur Gewährleistung der politischen Kohärenz bei, indem er gemäß Artikel 23 der Geschäftsordnung für die bei den vorbereitenden Arbeiten notwendige Koordinierung zwischen den Dienststellen sorgt.

Auf die zahlreichen Expertengruppen, Ausschüsse und sonstigen Arbeitsgruppen wurde bereits weiter oben hingewiesen (Rn 183 aE).

aa) Organisationsrecht 307 Unter „Organisationsrecht“1154 werden hier diejenigen Regelungen des Unionsrechts

verstanden, die Organisation und Arbeitsweise der Organe näher regeln. Einige dieser Regelungen wurden bereits an anderer Stelle behandelt, insb – als „heteronome Funktionsnormen“1155 – die interinstitutionellen Vereinbarungen (Rn 206 ff) sowie Bestimmungen betr die Zusammensetzung der Organe (Rn 261 ff), die Präsidentschaft (Rn 292 ff) und die Beschlussfassung der Organe (Rn 296 ff). Im vorliegenden Zusammenhang geht es jedoch nicht um eine weitere inhaltliche Aufbereitung und Darstellung der organisationsrechtlichen Bestimmungen des Unionsrechts, sondern um ihre Verortung im Rechsquellenkanon des Unionsrechts.1156 Dabei ist zwischen Organisationsnormen des primären und des sekundären Unionsrechts zu unterscheiden.

_____ 1154 In einem ähnlichen Sinn verwendet Bieber S 37 den Begriff „Verfahrensrecht“. 1155 Zum Begriff vgl Bieber S 44 f. Magiera § 7 (in diesem Band) Rn 56 f ordnet die interinstitutionellen Vereinbarungen den „atypischen“ Rechtsakten zu. 1156 Zu den Rechtsquellen des Unionsrechts näher Magiera § 7 (in diesem Band) Rn 1 ff. Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 179

Dass das primäre Unionsrecht zahlreiche organisationsrechtliche Regelun- 308 gen für die Unionsorgane enthält,1157 wurde bereits anhand von Bestimmungen betr die Kreation und die Arbeitsweise der Organe dargelegt (vgl Rn 307 mN). Allgemein gilt, dass zahlreiche Bestimmungen von Titel III des EUV („Bestimmungen über die Organe“) und von Titel I des Sechsten Teils des AEUV („Vorschriften über die Organe“) organisationsrechtlicher Natur sind. Auch im Übrigen finden sich über die Verträge verstreut weitere organisationsrechtliche Bestimmungen, etwa in Art 15 III EUV, wonach der Europäische Rat zweimal pro Halbjahr zusammentritt, oder in Art 163 II AEUV, wonach die Kommission bei der Verwaltung des ESF von einem Ausschuss unterstützt wird. Hinzu kommen – gleichsam aus dem eigentlichen Vertragtext ausgelagert – die EuGH-Satzung und die ESZB-Satzung, die beide gem Art 51 EUV im Rang primären Unionsrechts stehen. Gleichzeitig bildet das primäre Unionsrecht die Rechtsgrundlage für die Schaffung abgeleiteten, sekundären, Organisationsrechts. Das sekundäre Unionsrecht umfasst das organgeschaffene Organisations- 309 recht, das iW in die Bereiche des autonomen und des heteronomen Organisationsrechts eingeteilt werden kann,1158 wobei beim autonomen Organisationsrecht ggf Genehmigungserfordernisse zu beachten sind (s Art 287 IV UAbs 5 AEUV). Die wichtigsten Regelungen des autonomen Organisationsrechts sind in den Geschäfts- und Verfahrensordnungen1159 der Organe zusammengefasst, jedoch gibt es auch außerhalb der Geschäfts- bzw Verfahrensordnungen der Organe Rechtsnormen mit Geschäftsordnungscharakter.1160 Das heteronome Organisationsrecht (insb die interinstitutionellen Vereinbarungen) wurde bereits erwähnt (Rn 206 ff, 307) und soll hier nicht weiter vertieft werden. Was das Verhältnis zwischen autonomen und heteronomen Normen des Unionsorganisationsrecht angeht, ist festzustellen, dass beide Normenkreise einander zwar normhierarchisch gleichgeordnet sind,1161 es den Organen aufgrund ihrer Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit jedoch untersagt ist, autonomes Organisationsrecht zu schaffen oder zu ändern, soweit dies mit einer interinstitutionellen Vereinbarung kollidiert.1162 In einem solchen Fall wäre zunächst

_____ 1157 Zu Recht weist Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 13 EUV Rn 67 darauf hin, dass die organinterne Organisation primär dem „Vertragsgeber“ obliegt. 1158 Vgl Bieber S 40–45. 1159 Die englische Sprachfassung der Verträge kennt die Unterscheidung zwischen Geschäftsund Verfahrensordnungen nicht, stets ist von „rules of procedure“ die Rede. Vgl nur Art 250 II einerseits und 253 VI AEUV andererseits. 1160 Vgl bspw den Beschluss 2009/857 (hierzu s Rn 310), den Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ziegenhorn Art 16 EUV Rn 53 „normhierarchisch der Ebene der GO Rat“ zuordnet und ihn zugleich als „binnenorganisatorische Ergänzung des Primärrechts“ kennzeichnet. 1161 Vgl Bieber S 253; Schwarze/Schoo/Görlitz Art 295 AEUV Rn 24. 1162 Vgl Bieber S 253; Kietz/Slominski/Maurer/Puntscher Riekmann/Hummer S 84. Matthias Niedobitek

180 | § 1 Vertragliche Grundlagen, rechtliche Gestalt, Institutionen der Union

die – insoweit „vorrangige“ – interinstitutionelle Vereinbarung zu ändern oder aufzuheben.1163 Zur Regelung ihrer internen Organisation, insb zum Erlass ihrer Geschäftsord310 nungen, verfügen die Unionsorgane über eine sog „Geschäftsordungsautonomie“1164 oder „Geschäftsordnungsgewalt“1165 und in diesem Rahmen „über ein weites Ermessen bei ihrer internen Organisation entsprechend den ihnen übertragenen Aufgaben“.1166 Die Befugnis – und Pflicht – zum Erlass von Geschäftsordnungen (bzw, im Fall der Unionsgerichte, von Verfahrensordnungen) ist in den Verträgen für die einzelnen Organe geregelt, wobei jedoch die Geschäftsordnung des Rechungshofs, die erst seit dem Vertrag von Nizza im Primärrecht erwähnt wird, gem Art 287 IV UAbs 5 S 2 AEUV der Genehmigung des Rates bedarf.1167 Ferner bedürfen die Verfahrensordnungen der Unionsgerichte der Genehmigung des Rates (s Art 253 VI 2, 254 V 2, 257 V 2 AEUV), was jedoch durch deren besonderen Charakter gerechtfertigt ist (s Rn 311). Gemäß den vertraglichen Regelungen haben alle Organe – mehr oder weniger umfangreiche1168 – Geschäftsordnungen erlassen.1169 Bei den Geschäftsordnungen der Unionsorgane handelt es sich um rechtsver311 bindliche Organisationsmaßnahmen,1170 die typischerweise, nicht aber notwendigerweise, organintern wirken.1171 Etwas Anderes gilt allerdings für die Verfah-

_____ 1163 Zutreffend Schwarze/Schoo/Görlitz Art 295 AEUV Rn 24. 1164 Schwarze/Hatje Art 298 AEUV Rn 7. 1165 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 13 EUV Rn 67. 1166 EuGH, Rs C-301/02 P – Tralli / EZB, Rn 58. 1167 Vor dem Vertrag von Nizza wurde die Geschäftsordnungsautonomie aus dem allgemeinen (ungeschriebenen) Selbstorganisationsrecht des Rechnungshofs hergeleitet; hierzu Streinz/ Niedobitek Art 287 AEUV Rn 29. 1168 Während die Geschäftsordnung des Europäischen Rates als kürzeste Geschäftsordnung nur 14 Artikel enthält, umfasst die Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments – am andere Ende der Skala – 241 Artikel und acht Anlagen. 1169 Die Geschäftsordnungen der Organe sind auf deren Websites sowie über EUR-Lex verfügbar. Zumeist sind in EUR-Lex auch konsolidierte Fassungen der Geschäftsordnungen vorhanden. Was das EP angeht, hält dieses eine konsolidierte Fassung auf seiner Website bereit (unter „Das Parlament“, „Aufbau und Arbeitsweise“). Was die Geschäftsordnung der Kommission angeht, findet sich die konsolidierte Fassung in EUR-Lex (immer noch) unter der CELEX-Nr 32000Q3614, dh unter der im Jahr 2000 beschlossenen Geschäftsordnung K(2000) 3614 (ABl 2000 L 308/26), obwohl die GO später des öfteren – gleichwohl stets als „Änderungsbeschluss“ – vollständig neu gefasst bzw publiziert wurde. 1170 Die Nichteinhaltung von GO-Bestimmungen kann gem Art 263 II AEUV als „Verletzung wesentlicher Formvorschriften“ mit der Nichtigkeitsklage verfolgt werden. Vgl hierzu EuGH, verb Rs C287/95 P und C-288/95 P – Kommission / Solvay, Rn 43–46. 1171 Vgl EuGH, verb Rs C-512/07 P(R) und 15/08 P(R) – Occetto und EP / Donnici, Rn 45; verb Rs C393/07 und C-9/08 – Italien / Parlament, Rn 48; zu den rechtlichen Wirkungsmöglichkeiten von Geschäftsordnungen (von sog „autonomem Funktionsrecht“) der EU-Organe grundlegend Bieber S 135 ff. Matthias Niedobitek

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rensordnungen der Unionsgerichte, die nach Ansicht mancher sogar „verordnungsähnlichen Charakter“ besitzen.1172 Diese Einordnung ist nicht abwegig, zieht man die Bedeutung der Verfahrensordnungen für die Parteien in Betracht, die vor den Unionsgerichten auftreten.1173 Lassen sich somit schon die Geschäftsordnungen der Organe, was ihren Wirkungsbereich angeht, nicht ohne weiteres eindeutig in das Innen-Außen-Schema einordnen,1174 gilt dies umso mehr für die Verfahrensordnungen der Unionsgerichte.

bb) Die Fraktionen und Ausschüsse des Europäischen Parlaments Ähnlich wie die Parlamente der Mitgliedstaaten untergliedert sich das Parlament für 312 die Zwecke seiner politischen Arbeit in Fraktionen und Ausschüsse.1175 Die politische Grundeinheit des Europäischen Parlaments ist die Fraktion. Die 313 EU-Verträge erwähnen die Fraktion als politische Substruktur des Parlaments zwar nicht, jedoch ist die Bildung von Fraktionen ([political] groups, groupes [politiques]) in der Geschäftsordnung des Parlaments vorgesehen. Art 33 GO-EP bestimmt, dass die Mitglieder des EP „ihrer politischen Zugehörigkeit entsprechende Fraktionen bilden“ können. Die Fraktionen des EP liegen somit quer zu den nationalen Kontingenten, nach denen die Abgeordneten gewählt werden (s Rn 264). Dies verlangt auch Art 33 Ziff 2 GO-EP: Danach müssen jeder Fraktion mindestens 25 Mitglieder angehören, die in mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten gewählt wurden. Die GO-EP gestattet somit nur (noch1176) die Bildung multinationaler Fraktionen. Die – ggw acht – Fraktionen des EP1177 haben regelmäßig, aber nicht zwingend, ihre Pendants in bestimmten „politischen Parteien auf europäischer Ebene“ (vgl Art 10 IV EUV, Art 224 AEUV),1178 sie sind von den politischen Parteien auf europäischer Ebene jedoch klar zu unterscheiden: Während es sich bei den Fraktionen um eine interne Struktur des Europäischen Parlaments handelt, handelt es sich bei den politischen Parteien auf europäischer Ebene um europäische Parteienbünde (um „transnationale, mit-

_____ 1172 So etwa Grabitz/Hilf/Nettesheim/Klinke Art 281 AEUV Rn 46. 1173 Zur Individualwirksamkeit der EuGH-Satzung s Bieber S 172. 1174 Bieber S 39. 1175 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Hölscheidt Art 14 EUV Rn 92, 113. 1176 Zur Entwicklung dieses Erfordernisses näher Grabitz/Hilf/Nettesheim/Hölscheidt Art 14 EUV Rn 93 f, 97. 1177 Für einen Überblick über die Fraktionen des EP vgl die Website des EP unter: http://www. europarl.europa.eu/about-parliament/de/organisation-and-rules/organisation/political-groups. 1178 Vgl hierzu VO 1141/2014 über das Statut und die Finanzierung europäischer politischer Parteien und europäischer politischer Stiftungen, ABl 2014 L 317/1. Auf der Website der „Behörde für europäische politische Parteien und europäische politische Stiftungen“ (http://www.appf.europa. eu/appf/de/parties-and-foundations/registered-parties.html) werden (gegenüber acht Fraktionen) zehn politische Parteien auf europäischer Ebene nachgewiesen. Matthias Niedobitek

182 | § 1 Vertragliche Grundlagen, rechtliche Gestalt, Institutionen der Union

gliedstaatliche Grenzen überschreitende Parteizusammenschlüsse“1179), die dem zivilgesellschaftlichen Bereich zuzuordnen sind.1180 Die Fraktionsbildung ist Ausdruck des freien Mandats der EP-Abgeordneten,1181 sie erfolgt daher auf der Basis der Freiwilligkeit. Gleichzeitig wird die Möglichkeit, Fraktionen zu bilden, durch die Vorgaben der GO-EP (Art 33) eingeschränkt. Dies hat zur Folge, dass es im EP eine Reihe fraktionsloser Abgeordneter gibt. Die GO-EP stattet insb die Fraktionen „mit Beteiligungs-, Verfahrens- und Kontrollrechten aus, damit sie ihre Parlaments- und ihre Mitgliederfunktion wahrnehmen können“.1182 Die Rechtsstellung der fraktionslosen Abgeordneten ist demgegenüber reduziert. Dies betr insb die Rednerliste und die Redezeit (Art 171 GO-EP), die Mitgliedschaft in den Ausschüssen (Art 209 GO-EP) sowie die (fehlende) Möglichkeit, Ausschusskoordinatoren zu benennen (Art 214 GO-EP).1183 Hierzu hat das EuG festgestellt, dass die Regelung über die Fraktionsbildung nicht den Grundsatz der Gleichbehandlung aller Abgeordneten verletzt. Denn das Parlament ist aufgrund seiner internen Organisationsgewalt im Hinblick auf eine wirksame Organisation seiner Arbeit befugt, sich in politische Fraktionen zu untergliedern. Die daraus folgende Unterscheidung zwischen fraktionsangehörigen und fraktionslosen Abgeordneten ist danach gerechtfertigt.1184 Im Einzelnen führte das EuG in den verb Rs T-222/99 ua – Martinez ua / Par314 lament zur Bedeutung von Fraktionen und zur Stellung fraktionsloser Abgeordneter Folgendes aus (ebd, Rn 145–152): „Im vorliegenden Fall weist das Parlament zu Recht darauf hin, dass seine Strukturierung in politische Fraktionen einer Reihe objektiver Ziele entspricht, die durch die soziale und wirtschaftliche Wirklichkeit der parlamentarischen Demokratien, durch seine Besonderheiten gegenüber nationalen Parlamenten und durch die ihm vom Vertrag zugewiesenen Aufgaben und Zuständigkeiten vorgegeben sind und zu deren Verwirklichung technische oder gemischte Fraktionen wie die TDI-Fraktion, in denen Abgeordnete ohne politische Zusammengehörigkeit zusammengeschlossen sind, nicht beizutragen vermögen. Die Strukturierung des Parlaments in Fraktionen, denen politisch zusammengehörige Abgeordnete aus mehr als einem Mitgliedstaat angehören, erscheint nämlich erstens als geeignete Maßnahme für die wirksame Organisation der Tätigkeit und der Verfahren dieses Gemeinschaftsorgans, um insbesondere die Formulierung ge-

_____ 1179 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 10 EUV Rn 111. 1180 Für einen Überblick s die Website des EP unter: http://www.appf.europa.eu/appf/de/partiesand-foundations/registered-parties.html. 1181 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Hölscheidt Art 14 EUV Rn 97. 1182 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Hölscheidt Art 14 EUV Rn 106. 1183 Art 214 I GO-EP bestimmt, dass die Fraktionen aus ihren Reihen einen Koordinator benennen können. Gem einem Auslegungsvermerk zu Art 214 GO-EP stellen die „fraktionslosen Mitglieder […] keine Fraktion im Sinne von Artikel 33 dar und können folglich keine Koordinatoren benennen, die als einzige Mitglieder berechtigt sind, an den Sitzungen der Koordinatoren teilzunehmen.“ 1184 EuG, Rs T-222/99 ua – Martinez ua / Parlament. Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 183

meinsamer politischer Auffassungen und die Erzielung von Kompromissen zu ermöglichen, deren es in besonderem Maße bedarf angesichts der sehr hohen Abgeordnetenzahl des Parlaments, der außergewöhnlichen Vielfalt der in ihm vertretenen Kulturen, Nationalitäten, Sprachen und politischen Bewegungen, der Vielgestaltigkeit der Tätigkeiten des Parlaments und des Umstands, dass es, anders als die nationalen Parlamente, nicht durch den überkommenen Gegensatz zwischen Mehrheit und Opposition gekennzeichnet ist. In diesem Kontext erfüllt die Fraktion im Sinne von Artikel 29 der Geschäftsordnung [jetzt: Art 33] eine Funktion, die eine Fraktion aus politisch nicht zusammengehörigen Abgeordneten nicht erfüllen könnte. Zweitens wird die Organisation in politische Fraktionen, insbesondere seit Annahme des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages von Amsterdam, durch die Bedeutung der Zuständigkeiten des Parlaments bei der Erfüllung der der Gemeinschaft vom EG-Vertrag zugewiesenen Aufgaben und im Verfahren des Erlasses der dafür erforderlichen Gemeinschaftsakte (vgl Artikel 7 EG, 192 EG bis 195 EG, 200 EG und 201 EG) gerechtfertigt. Insbesondere der ordnungsgemäße Ablauf und das wirksame Funktionieren des in Artikel 251 EG normierten Verfahrens des gemeinsamen Erlasses gemeinschaftlicher Rechtsakte durch Parlament und Rat (sogenanntes „Kodezisionsverfahren“) setzen voraus, dass, muss zur Einigung über einen gemeinsamen Entwurf gemäß Artikel 251 Absätze 3 bis 5 EG der Vermittlungsausschuss angerufen werden, zuvor innerhalb des Parlaments politische Kompromisse erreicht wurden. Sodann müssen die Abgeordneten, die zur Verhandlung mit dem Rat in den Vermittlungsausschuss entsandt werden, die politische Zusammensetzung des Parlaments widerspiegeln, im Namen anderer Abgeordneter sprechen und nach Einigung mit dem Rat Unterstützung finden können, wozu eine politische Fraktion, anders als eine Fraktion aus Abgeordneten ohne politische Zusammengehörigkeit, wirksam beitragen kann. Drittens erlauben die beiden Erfordernisse politischer Zusammengehörigkeit und der Zugehörigkeit zu mehr als einem Mitgliedstaat, auf denen der Zusammenschluss von Abgeordneten zu Fraktionen beruht, eine Überwindung lokaler politischer Partikularismen und die Förderung der vom Vertrag vorgesehenen europäischen Einigung. Die Fraktionen tragen damit zum in Artikel 191 EG niedergelegten Ziel bei, politische Parteien auf europäischer Ebene als Faktor der Integration in der Union hervortreten zu lassen, ein europäisches Bewusstsein herauszubilden und den politischen Willen der Bürger der Union zum Ausdruck zu bringen. Diese Rolle kann von einer technischen oder gemischten Fraktion aus Abgeordneten, die eine politische Zusammengehörigkeit ablehnen, nicht wahrgenommen werden. Demnach ist Artikel 29 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 30 der Geschäftsordnung, wonach im Parlament Fraktionen nur entsprechend der politischen Zugehörigkeit gebildet werden dürfen und keiner politischen Fraktion angehörende Abgeordnete gemäß den vom Präsidium des Parlaments festgelegten Bedingungen als fraktionslose Abgeordnete tätig sind und weder eine technische Fraktion bilden können noch einer gemischten Fraktion zugeordnet werden, eine interne Organisationsmaßnahme, die wegen der BesonMatthias Niedobitek

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derheiten des Parlaments, seiner funktionellen Erfordernisse und der ihm durch den Vertrag zugewiesenen Zuständigkeiten und Ziele gerechtfertigt ist. Ferner ist das Diskriminierungsverbot, das einen fundamentalen Rechtsgrundsatz bildet, nach der Rechtsprechung nur verletzt, wenn vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich oder unterschiedliche Sachverhalte gleich behandelt werden, es sei denn, dass eine derartige Behandlung objektiv gerechtfertigt wäre (vgl zB Urteil des Gerichtshofes vom 28. Juni 1990 in der Rechtssache C-174/89, Hoche, Slg. 1990, I2681, Randnr. 25, und die dort zitierte Rechtsprechung). Alle Abgeordneten des Parlaments sind Träger eines Mandats, das ihnen von der Wählerschaft demokratisch übertragen wurde, und nehmen auf europäischer Ebene die gleiche Funktion politischer Vertretung wahr (vgl oben, Randnr. 61). Sie befinden sich daher in der gleichen Lage. Zwar begründet Artikel 29 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 30 der Geschäftsordnung einen Unterschied zwischen zwei Gruppen von Abgeordneten, nämlich denjenigen, die einer Fraktion im Sinne der Geschäftsordnung des Parlaments angehören, und jenen, die gemäß den vom Präsidium des Parlaments festgelegten Bedingungen als fraktionslose Abgeordnete tätig sind. Dieser Unterschied wird aber dadurch gerechtfertigt, dass die erstgenannten Abgeordneten im Gegensatz zu den letztgenannten einer Anforderung der Geschäftsordnung genügen, die zur Verfolgung berechtigter Ziele geboten ist (vgl oben, Randnrn. 145 bis 149)“. Auch die Ausschüsse des Parlaments werden, abgesehen von den (nichtstän315 digen) Untersuchungsausschüssen (Art 226 AEUV), nicht im Text der Verträge – lediglich in zwei Protokollen1185 – erwähnt. Wieder ist es daher die GO-EP, die Einsetzung, Aufgaben und Arbeitsweise der Ausschüsse regelt (Art 206 ff GO-EP). Die GO unterscheidet ständige Ausschüsse, Sonderausschüsse und Untersuchungsausschüsse gem Art 226 AEUV. Nach Art 210 I GO-EP haben die ständigen Ausschüsse die Aufgabe, „die ihnen vom Parlament oder während einer Unterbrechung der Sitzungsperiode vom Präsidenten im Namen der Konferenz der Präsidenten überwiesenen Gegenstände zu prüfen“. Die ggw eingerichteten 20 ständigen Ausschüsse und ihre Zuständigkeiten sind in Anlage VI zur GO aufgelistet.

cc) Der Ausschuss der Ständigen Vertreter 316 Auch der Rat verfügt über zahlreiche, hierarchisch abgestufte politische Substruk-

turen.1186 Am prominentesten und wichtigsten ist zweifellos der „Ausschuss der

_____ 1185 Art 10 des Protokolls (Nr 1) über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union, ABl 2016 C 202/203; Einziger Art lit a) des Protokolls (Nr 6) über die Festlegung der Sitze der Organe und bestimmter Einrichtungen, sonstiger Stellen und Dienststellen der Europäischen Union, ABl 2012 C 202/265 (danach treten die Ausschüsse des Parlaments in Brüssel zusammen). 1186 Vgl Rn 189 aE. Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 185

Ständigen Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten“ (Art 16 VII EUV, Art 240 I AEUV). Dem „AStV“ (auch: Coreper1187) obliegt va die Aufgabe, „die Arbeiten des Rates vorzubereiten und die ihm vom Rat übertragenen Aufträge auszuführen“ (Art 240 I 1 AEUV). Die zentrale Rolle des AStV wird nicht zuletzt darin deutlich, dass die Zuständigkeiten anderer dem Rat zuarbeitender Ausschüsse (insb PSK, Ausschuss gem Art 71 AEUV, Wirtschafts- und Finanzausschuss, Beschäftigungsausschuss, Ausschuss für Sozialschutz) stets nur „unbeschadet [without prejudice; sans préjudice] des Artikels 240“ AEUV zugewiesen werden. Die Befugnisse des AStV haben in ihrem Anwendungsbereich somit Vorrang vor allen anderen dem Rat zugeordneten Ausschüssen.1188 Der AStV war ursprünglich nur in der vorläufigen GO-Rat vorgesehen;1189 317 Rechtsgrundlage hierfür waren Art 151 II EWGV und Art 121 II EAGV. In den „Erläuterungen“ der Bundesregierung zum Entwurf des Zustimmungsgesetzes zu EWGV und EAGV wurde zu Art 151 EWGV festgestellt: „Der Ausschuß der Vertreter könnte aus ständigen Vertretern der Mitgliedstaaten bestehen. Da der Rat selbst nur aufgrund einer Einberufung zusammentritt, würde diesem Vertreterausschuß die Behandlung der laufenden Geschäfte des Rats zufallen.“1190 Der Fusionsvertrag 1965 verankerte den AStV im Primärrecht und erstreckte seinen Zuständigkeitsbereich auf alle seinerzeit bestehenden drei Gemeinschaften.1191 Seit damals hat sich der AStV zu einer zentralen Institution der Ratsarbeit 318 entwickelt. Zahlreiche1192 Fragen werden bereits auf seiner Ebene abschließend beraten und (vor-)entschieden und dem Rat gem Art 3 VI 2 GO-Rat nur noch als sog APunkte vorgelegt, die „der Rat ohne Aussprache annehmen kann; dies schließt nicht aus, dass ein Ratsmitglied oder die Kommission bei der Annahme dieser Punkte Meinungen äußert und Erklärungen in das Ratsprotokoll aufnehmen lässt“. Demgemäß ist die Tagesordnung jeder Ratssitzung in A-Punkte und B-Punkte aufgeteilt. Der AStV seinerseits soll es gem Anhang V Nr 4 GO-Rat vermeiden, „sich erneut mit Angelegenheiten zu befassen, die bereits im Rahmen der Vorbereitung seiner Tagung abschließend erörtert worden sind.“ Analog zur Aufgliederung der Tagesordnung der Ratssitzungen in A-Punkte und B-Punkte ist daher die Tagesordnung der

_____ 1187 Vgl die Website der Union: https://eur-lex.europa.eu/summary/glossary/coreper.html?locale =fr. 1188 So auch, hinsichtlich des Verhältnisses des AStV zum Sonderausschuss Landwirtschaft, Schwarze/Hix Art 240 AEUV Rn 4. 1189 Vgl Wohlfarth/Everling/Glaesner/Sprung/Wohlfarth Art 151 EWGV Nr 2. 1190 BT-Drs 3440 (2. WP), S 144 (Hervorhebung hinzugefügt). 1191 Vgl die Denkschrift zum Entwurf eines Gesetzes zum Fusionsvertrag, BT-Drs IV/3530, S 52. 1192 Es gibt Untersuchungen, wonach 85% aller dem Rat vorgelegten Angelegenheiten bereits durch Vorbereitungsgremien, insb den AStV, vorentschieden sind. Hierzu und zu weiteren Zahlen vgl Hix/Høyland S 63 f. Matthias Niedobitek

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Sitzungen des AStV in I-Punkte1193 und II-Punkte aufgeteilt, wobei die I-Punkte diejenigen Angelegenheiten erfassen, in denen bereits in den Ratsarbeitsgruppen Konsens erzielt wurde.1194 Der AStV selbst tagt in zwei Zusammensetzungen – als AStV II (=„2. Teil“), dem die Botschafter angehören, und als AStV I (=„1. Teil“), dem deren Stellvertreter angehören.1195 Das institutionelle Verhältnis des AStV zum Rat ist durch die Verträge nicht 319 weiter geregelt und nicht einfach zu bestimmen. Ihn als „Behörde“ des Rates zu bezeichnen,1196 ist begrifflich unglücklich und wird auch der Komplexität seiner Stellung nicht gerecht; er kann daher auch nicht ohne weiteres als „Organteil“ qualifiziert werden. 1197 Dies hängt mit einer Reihe von Besonderheiten des AStV zusammen: Die Ständigen Vertreter sind Bedienstete der Mitgliedstaaten, denen diplomatischer Status zukommt, jedoch keine Beamten des Rates; sie unterliegen daher auch nicht nur den Weisungen des Rates, sondern auch den Weisungen ihrer jeweiligen Mitgliedstaaten.1198 Der EuGH hat zum AStV festgestellt, dass dieser kein selbständiges Organ, sondern nur ein „Hilfsorgan des Rates darstellt, das für diesen vorbereitende und ausführende Aufgaben wahrnimmt“.1199 Ferner hat er festgestellt, dass „[d]ie Aufgabe, vom Rat übertragene Aufträge auszuführen, […] den AStV nicht [berechtigt], die Entscheidungsbefugnis auszuüben, die nach dem Vertrag dem Rat zusteht“.1200 Aufgrund seiner primärrechtlichen Verankerung und seiner besonderen Rechtsstellung verfügt der AStV daher gegenüber dem Rat über eine gewisse Selbständigkeit, ist ihm gleichwohl als Vorbereitungsgremium institutionell zugeordnet.

dd) Die Kabinette der Kommissionsmitglieder 320 In der Kommission spielen die „Kabinette“ der Kommissionsmitglieder eine pro-

minente Rolle bei der Vorbereitung der politischen Entscheidungen der Kommission. Diese aus dem französischen Regierungssystem übernommene Institution1201 dient insb als Verbindungsstelle zu den Generaldirektionen der Kommission und zu den anderen Kommissionsmitgliedern.1202 Geregelt ist die Einrichtung der Kabinette

_____ 1193 Hierzu vgl Anhang V Nr 4 GO-Rat. 1194 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ziegenhorn Art 240 AEUV Rn 13. 1195 Vgl die Website des Rates mit einer Übersicht über seine Vorbereitungsgremien, https://www. consilium.europa.eu/de/council-eu/preparatory-bodies/. 1196 So jedoch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 13 EUV Rn 22. 1197 Zutreffend Hilf S 29. 1198 Hierzu Hilf S 29. 1199 EuGH, Rs C-25/94 – Kommission / Rat, Rn 26. 1200 EuGH, Rs C-25/94 – Kommission / Rat, Rn 27. 1201 Vgl Hix/Høyland S 35. 1202 Vgl Cansevdi/Steinel S 40 f; Hix/Høyland S 35. Matthias Niedobitek

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in der Geschäftsordnung der Kommission. Art 19 GO-KOM bestimmt, dass die Kommissionsmitglieder „über einen eigenen Mitarbeiterstab (‚Kabinett‘) [verfügen], der sie bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben und der Vorbereitung der Kommissionsbeschlüsse unterstützt“, wobei „[d]ie Regeln für die Zusammensetzung und die Arbeitsweise der Kabinette […] vom Präsidenten erlassen“ werden. Eine besondere Rolle spielen die Kabinettschefs, denen spezielle Aufgaben zugewiesen sind. So bestimmt Art 10 II GO-KOM, dass der Kabinettschef bei Abwesenheit eines Kommissionsmitglieds an den Sitzungen der Kommission teilnehmen und „auf Aufforderung des Präsidenten die Meinung des abwesenden Mitglieds vortragen“ kann.

ee) Generalsekretariate/Kanzleien Alle Organe verfügen über hauptsächlich (aber nicht nur: s Rn 306) mit administra- 321 tiven Aufgaben betraute Unterstützungsstrukturen, meist sog Generalsekretariate oder Kanzleien. Die Regelungen betr die Generalsekretariate/Kanzleien der Organe sind über das primäre (Rn 332) und das sekundäre Organisationsrecht (Rn 323) verstreut. Dass ein Organ über ein „Generalsekretariat“ verfügt, bestimmt das primäre 322 Unionsrecht ausdrücklich nur für den Rat (Art 240 II AEUV). Zum Europäischen Parlament findet sich ein Hinweis auf die Existenz eines Generalsekretariats im „Sitzprotokoll“.1203 Dass die Unionsgerichte über „Kanzleien“ verfügen, ist den Verträgen nicht unmittelbar zu entnehmen, jedoch bestimmen Art 253 V und 254 IV AEUV, dass der EuGH und das EuG (nicht aber der Gerichtshof der EU1204) einen „Kanzler“ (Registrar; greffier) haben.1205 Was die EZB angeht, erwähnt Art 45.5. ESZB-Satzung lediglich, dass „[d]as Sekretariat des Erweiterten Rates […] von der EZB gestellt“ wird, woraus auf das Bestehen eines EZB-Sekretariats zu schließen ist.1206 Ergänzend sind daher die Organisationsregelungen des sekundären Unions- 323 rechts heranzuziehen. Die Einrichtung des Generalsekretariats des Europäischen Parlaments ist in Art 234 GO-EP vorgesehen. Aufgaben, Finanzierung und Perso-

_____ 1203 Protokoll (Nr 6) über die Festlegung der Sitze der Organe und bestimmter Einrichtungen, sonstiger Stellen und Dienststellen der Europäischen Union, ABl 2016 C 202/265. Danach verbleiben das Generalsekretariat des Europäischen Parlaments und dessen Dienststellen in Luxemburg. 1204 Vgl Becker/Lippert/Niedobitek Gerichtshof Abschn 4. 1205 Anders die Darstellung im Organigramm auf der Website des Gerichtshofs der EU, https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2018-01/de.pdf, das einerseits – korrekt – zwei Kanzleien, eine des Gerichtshofs und eine des Gerichts, darstellt, andererseits aber nur einen „Kanzler“, der für das gesamte Organ zuständig zu sein scheint. 1206 Dass die EZB tatsächlich eine Generaldirektion als EZB-Sekretariat eingerichtet hat, zeigen die „List of ECB Managers“ und das EZB-Organigramm, https://www.ecb.europa.eu/ecb/orga/ orgachart/html/index.de.html. Matthias Niedobitek

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nalstellen des Generalsekretariats bzw des Generalsekretärs sind in diversen Bestimmungen der GO-EP festgelegt. Auch die Geschäftsordnung des Rates weist dessen Generalsekretär zahlreiche Aufgaben zu und enthält in Art 23 eine allgemeine Vorschrift zum Generalsekretär und zum Generalsekretariat.1207 Der Europäische Rat verfügt über kein eigenes Generalsekretariat. Stattdessen bestimmt Art 13 I GOEurRat, dass „[d]er Europäische Rat und sein Präsident […] vom Generalsekretariat des Rates unter der Aufsicht seines Generalsekretärs unterstützt“ werden. Dementsprechend überträgt die GO-EurRat dem Generalsekretär und dem Generalsekretariat des Rates verschiedene Aufgaben. Hinsichtlich der Kommission enthält Art 20 ihrer Geschäftsordnung allgemeine Bestimmungen zum „Generalsekretär“ und setzt im Übrigen in weiteren Bestimmungen voraus, dass auch ein Generalsekretariat existiert.1208 Dass die primärrechtlich erwähnten Kanzler der Unionsgerichte jeweils eine „Kanzlei“ (Registry; greffe) leiten, ergibt sich erst aus den Verfahrensordnungen der Gerichte. Was die EZB angeht, bestimmt die GO-EZB in Art 3.4., dass „[d]er Präsident […] einen Mitarbeiter der EZB zum Sekretär [ernennt]. Der Sekretär unterstützt das Direktorium bei der Vorbereitung der Sitzungen des EZB-Rates und erstellt die Sitzungsprotokolle des EZB-Rates“.

ff) Organübergreifende beratende Ausschüsse: Der Wirtschafts- und Sozialausschuss und der Ausschuss der Regionen 324 Von den bisher behandelten Unterstützungsstrukturen der Unionsorgane unterscheiden sich der WSA und der AdR durch eine Reihe von Besonderheiten: Beide Ausschüsse üben ihre (Beratungs-)Aufgaben nicht nur für ein bestimmtes Organ, sondern für das Europäische Parlament, den Rat und die Kommission aus (Art 13 IV EUV; Art 300 I AEUV). Beide Ausschüsse verfügen über einen erhöhten Grad an Selbständigkeit, da ihre Mitglieder ihre Tätigkeit „in voller Unabhängigkeit zum allgemeinen Wohl der Union“ ausüben. Daher sind diese auch „an keine Weisungen gebunden“ (Art 300 IV AEUV), sie haben ein „ad-personam-Mandat“.1209 WSA und AdR weisen somit Züge eines „Organs“ auf, jedoch wurde ihnen dieser Status trotz entsprechender Forderungen im Europäischen Konvent1210 bisher nicht zuerkannt. Beide Ausschüsse verfügen ferner über ein – ihre Selbständigkeit unterstreichendes – Selbstbefassungsrecht (vgl Art 304 I 3, 307 IV AEUV). Schließlich stellt eine Verletzung ihrer obligatorischen Anhörungsrechte im Rechtsetzungsverfahren regel-

_____ 1207 Das Generalsekretariat des Rates verfügt über eine eigene Website: https://www.consilium. europa.eu/de/general-secretariat/. 1208 Das Generalsekretariat der Kommission verfügt über eine eigene Website: https://ec.europa. eu/info/departments/secretariat-general_de. 1209 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Blanke Art 300 AEUV Rn 12 f. 1210 Vgl Blanke/Mangiameli/Chevalliers-Govers Art 13 TEU Rn 69. Matthias Niedobitek

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mäßig eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften gem Art 263 II AEUV dar,1211 die von den gem Art 263 II AEUV privilegierten Klägern (Mitgliedstaat, Europäisches Parlament, Rat, Kommission) sowie seit dem Vertrag von Lissabon gem Art 263 III AEUV auch vom AdR (nicht jedoch vom WSA) mit der Nichtigkeitsklage verfolgt werden kann. WSA und AdR weisen, was ihre institutionelle Gestalt und die Natur ihrer Auf- 325 gaben angeht, eine Reihe von Parallelen auf. Dem trägt nun Art 300 AEUV Rechnung, indem er, gleichsam „vor der Klammer“, neben den Regelungen betr die Zusammensetzung beider Ausschüsse einige weitere gemeinsame Bestimmungen vorsieht. Zunächst waren beide Ausschüsse auch organisatorisch eng verbunden. Ein dem EG-Vertrag durch den Maastrichter Unionsvertrag beigefügtes Protokoll bestimmte nämlich: „Der Wirtschafts- und Sozialausschuß und der Ausschuß der Regionen verfügen über einen gemeinsamen organisatorischen Unterbau“. Dieses Protokoll wurde durch den Amsterdamer Vertrag jedoch wieder aufgehoben, so dass seitdem beide Ausschüsse organisatorisch selbständig sind.1212 Die Zahl der Ausschussmitglieder ist jeweils gleich: Art 301 I und 305 I AEUV bestimmen dass beide Ausschüsse „höchstens dreihundertfünfzig Mitglieder“1213 haben.1214 Sowohl die Mitglieder des WSA als auch des AdR werden vom Rat ernannt, wobei dieser „die gemäß den Vorschlägen der einzelnen Mitgliedstaaten erstellte Liste der Mitglieder [und Stellvertreter]“ annimmt (s Art 302 I 2, 305 III 3 AEUV).1215 Auch was die Natur ihrer Aufgaben angeht, weisen beide Ausschüsse Parallelen auf: Das primäre Unionsrecht weist ihnen „beratende Aufgaben“ zu, die sie entweder durch obligatorische (in den Ermächtigungsgrundlagen des AEU-Vertrages geregelte) bzw fakultative Anhörungen oder im Wege der Selbstbefassung (s Rn 324) wahrnehmen. Betrachtet man die Entwicklung beider Ausschüsse in zeitlicher Perspektive, 326 hören die Parallelen auf. Beim WSA handelt es sich um den älteren Ausschuss. Er wurde bereits durch die Römischen Verträge für die EWG als auch für die EAG ge-

_____ 1211 Streinz/Ehricke Art 263 AEUV Rn 80. 1212 Näher Grabitz/Hilf/Nettesheim/Blanke Art 300 AEUV Rn 28 mit Hinweis auf ein zwischen beiden Ausschüssen geschlossenes Abkommen zur Verwaltungskooperation, welches die früher primärrechtlich geforderte Zusammenarbeit „in gewissem Maße ersetzt“. Das Abkommen wurde zuletzt mit Wirkung vom 1. Januar 2016 erneut für eine Dauer von vier Jahren abgeschlossen; vgl die Website des WSA: https://www.eesc.europa.eu/en/documents/cooperation-agreement-betweeneesc-and-cor. 1213 Einige Sprachfassungen (etwa die englische und die dänische) verwenden dankenswerter Weise Ziffern anstelle von Wörtern. 1214 Der Beitrittsvertrag Kroatien führte jedoch zu einer temporären Überschreitung dieser Zahl auf 353. Vgl Art 23, 24 der Beitrittsakte, ABl 2012 L 112/21. 1215 Zur Deutung der Annahme einer „Gesamtliste“ der designierten Ausschussmitglieder als „Summe von individuellen Rechtsakten gegenüber den einzelnen Mitgliedern“ vgl Grabitz/Hilf/ Nettesheim/Jaeckel Art 302 AEUV Rn 22. Matthias Niedobitek

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schaffen und sogleich zu einem Ausschuss beider Gemeinschaften fusioniert (vgl Rn 192). Der AdR wurde erst durch den Maastricher Unionsvertrag von 1992 im Primärrecht verankert – und zwar nur im EG-Vertrag –, jedoch wurde seine Rechtsstellung seitdem deutlich stärker als die des WSA entwickelt.1216 Heute verfügt der AdR nicht nur über eine Klagebefugnis gem Art 263 III AEUV zur Wahrung seiner Rechte, er kann gem Art 8 des Protokolls (Nr 2) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit 1217 auch eine Nichtigkeitsklage nach Art 263 AEUV erheben, sofern er der Auffassung ist, dass „Gesetzgebungsakte, für deren Erlass die Anhörung des Ausschusses der Regionen nach dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union vorgeschrieben ist“, gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen.1218 Von dieser Möglichkeit hat der AdR, soweit ersichtlich,1219 noch nicht Gebrauch gemacht. Neben seinen Klagerechten verfügt der AdR gem Art 307 III AEUV auch über die Befugnis, sich einer (obligatorischen oder fakultativen) Anhörung des WSA insofern anzuschließen, indem er „eine entsprechende Stellungnahme [abgibt]“, wenn er der Auffassung ist, „dass spezifische regionale Interessen berührt werden“. Über eine solche Befugnis verfügt der WSA nicht. Der WSA besteht gem Art 300 II AEUV „aus Vertretern der Organisationen der 327 Arbeitgeber und der Arbeitnehmer sowie anderen Vertretern der Zivilgesellschaft, insbesondere aus dem sozialen und wirtschaftlichen, dem staatsbürgerlichen, dem beruflichen und dem kulturellen Bereich“. Gegenüber der bisherigen Formulierung der Zusammensetzung des WSA in ex-Art 257 II EGV fällt va die Erweiterung des zivilgesellschaftlichen Spektrums1220 auf, das sich nun auch auf den staatsbürgerlichen und den kulturellen Bereich erstreckt. Im Übrigen reflektiert die Neuformulierung der Zusammensetzung die in der Praxis des Ausschusses entwickelte 1221 Dreiteilung in Arbeitgeber, Arbeitnehmer und sonstige Vertreter der Zivilgesellschaft (vgl Art 2 II, 27 GO-WSA). Der AdR besteht gem Art 300 III AEUV „aus Vertretern der regionalen und loka328 len Gebietskörperschaften, die entweder ein auf Wahlen beruhendes Mandat in einer regionalen oder lokalen Gebietskörperschaft innerhaben oder gegenüber einer gewählten Versammlung politisch verantwortlich sind“. Die „demokratische“ Kom-

_____ 1216 Vgl Blanke/Mangiameli/Chevalliers-Govers Art 13 TEU Rn 69 aE. 1217 ABl 2016 C 202/206. 1218 Blanke/Mangiameli/Chevalliers-Govers Art 13 TEU Rn 80 überlegt, ob die Verweisung in Protokoll Nr 2 auf Art 263 AEUV bedeutet, dass die Subsidaritäts-Klage des AdR zugleich auf die „Wahrung seiner Rechte“ zielen müsse, verneint dies iErg jedoch zu Recht. 1219 Abfrage der Rechtsprechungsdatenbank des EuGH (curia.europa.eu) am 5.6.2019: Suche nach Rechtssachen des EuGH mit dem AdR als Partei. Die ermittelten Rechtssachen führten den AdR stets als Beklagten auf, es dürfte sich durchgängig und Personalsachen handeln. 1220 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Blanke Art 300 AEUV Rn 37. 1221 Blanke/Mangiameli/Chevalliers-Govers Art 13 TEU Rn 73; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Blanke Art 300 AEUV Rn 37. Matthias Niedobitek

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ponente dieser Formulierung – der Hinweis auf Wahlen bzw politische Verantwortlichkeit gegenüber einer gewählten Versammlung – wurde erst durch den Vertrag von Nizza in den Vertragstext aufgenommen. Dass der AdR, der nicht umsonst „Ausschuss der Regionen“ heißt, nicht nur Vertreter regionaler, sondern auch lokaler Gebietskörperschaften umfasst, dürfte darauf beruhen, dass einige Mitgliedstaaten politisch-administrativ relevante Gebietskörperschaften regionalen Zuschnitts nicht kennen, jedoch von einer Beteiligung am AdR nicht ausgeschlossen werden sollten.1222 Dessen ungeachtet verfügen die Mitgliedstaaten über ein weites Ermessen hinsichtlich der Vorschläge für die vom Rat anzunehmende Liste der Mitglieder und Stellvertreter.1223 Insb steht es ihnen frei, neben Vertretern regionaler Gebietskörperschaften auch Vertreter lokaler Gebietskörpschaften in den AdR zu schicken. Für Deutschland bestimmt § 14 II EUZBLG, dass die kommunalen Spitzenverbände drei Mitglieder in den AdR entsenden können. Dementsprechend umfasst die deutsche Delegation im AdR 21 Vertreter der Länder und 3 Vertreter der kommunalen Spitzenverbände (und deren Stellvertreter). Dass im AdR Vertreter regionaler und lokaler Gebietskörperschaften, die etwa gleich große Gruppen bilden,1224 zusammen arbeiten, ist gewiss aus hierarchischen Gründen, va aber wegen unterschiedlicher Interessenslagen, nicht unproblematisch. Daher haben sich die „Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen“1225 im AdR zu einer „Interregionalen Gruppe“ – gelegentlich mit „REGLEG“ abgekürzt – zusammen geschlossen.1226 Ihre herausgehobene Position bestätigt Art 6 I 2 Protokoll (Nr 2) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, wonach „es dem jeweiligen nationalen Parlament oder der jeweiligen Kammer eines nationalen Parlaments [obliegt], gegebenenfalls die regionalen Parlamente mit Gesetzgebungsbefugnissen zu konsultieren“, wenn sie ihre Subsidiaritätskontrolle (vgl Art 12 lit b EUV) ausüben.1227

g) Sitz der Organe – Sprachenregime Der Sitz der Organe (bzw der Union insgesamt) sowie das Sprachenregime der Uni- 329 on wurden nicht von den Vertragsparteien festgelegt, sondern jeweils einer ge-

_____ 1222 So Schwarze/Hönle/Sichert Art 300 AEUV Rn 41. 1223 Calliess/Ruffert/Suhr Art 300 AEUV Rn 29. 1224 Vgl Schmuck Jahrbuch des Föderalismus 2010, S 414 (417). 1225 Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen gibt es zurzeit in acht Mitgliedstaaten: in Belgien, Deutschland, Finnland, Italien, Österreich, Portugal, Spanien und im Vereinigten Königreich; vgl Schmuck Jahrbuch des Föderalismus 2010, S 414 (417); Blanke/Mangiameli/Blanke/Mangiameli Protocol (No. 2) Rn 78. 1226 Vgl die Website des AdR: https://cor.europa.eu/de/our-work/Pages/Interregional-groups. aspx. 1227 Hierzu näher Blanke/Mangiameli/Blanke/Mangiameli Protocol (No. 2) Rn 76–78. Matthias Niedobitek

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sonderten Regelung anheim gegeben, die jedoch unterschiedliche Verfahren vorsehen. Die Sitzfrage wird in Art 341 AEUV thematisiert,1228 die Sprachenfrage in Art 342 AEUV. Der Sitz der Organe ist gem Art 341 AEUV im Einvernehmen zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten zu bestimmen; mithin handelt es sich bei der Festlegung des Sitzes der Organe um eine Ergänzung der Verträge, die daher ebenfalls primärrechtlichen Rang hat.1229 Demgegenüber ist es gem Art 342 AEUV Sache des Rates, die Sprachenfrage einstimmig durch Verordnungen, dh im Wege einer sekundärrechtlichen Regelung festzulegen. Während die Regelung der Sprachenfrage nach Inkrafttreten der Römischen Verträge nicht lange auf sich warten ließ (sie erfolgte durch zwei „Verordnungen Nr 1“, für die EWG und die EAG jeweils getrennt1230), wurde die Festlegung endgültiger Sitze der Organe der Union erst 1992 getroffen. Die ursprünglichen Vertragsstaaten konnten sich weder auf einen Sitz der 330 EGKS noch auf Sitze der EWG und der EAG einigen. Der EGKS wurde ein vorläufiger Sitz in Luxemburg zugewiesen, was für die heutige Bedeutung Luxemburgs als Sitz verschiedener EU-Organe vorentscheidend war.1231 Dass das Europäische Parlament heute seinen Sitz in Straßburg hat, hängt damit zusammen, dass die Gemeinsame Versammlung der EGKS, um die Infrastruktur des Europarates mitnutzen und Beziehungen zu diesem pflegen zu können, dort angesiedelt wurde.1232 Brüssel als „Hauptstadt“ der Union verdankt seine Bedeutung als Hort zentraler EU-Organe dem Umstand, dass die Verhandlungen über die Römischen Verträge unter der Leitung des damaligen belgischen Außenministers Paul Henri Spaak auf Schloss Val Duchesse in der Nähe von Brüssel stattfanden.1233 Eine vorläufige verbindliche Regelung erfuhr die Sitzfrage durch den Beschluss der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten 67/447/EWG, 67/30 Euratom,1234 der in seinem Art 1 allgemein feststellte: „Luxemburg, Brüssel und Straßburg bleiben vorläufige Arbeitsorte der Gemeinschaften“, und der in seinen (speziell Luxemburg betreffenden) weiteren Artikeln durch vorläufige Regelungen die bisherigen Arbeitsorte bestätigte bzw Mo-

_____ 1228 Art 341 AEUV gilt für die Festlegung der Sitze der „Organe“, er wird jedoch auch zur Festlegung der Sitze von Agenturen herangezogen (vgl Streinz/Herrmann Art 341 AEUV Rn 8). Damit dürfte Art 341 AEUV überstrapaziert werden. Der Sitz von Agenturen kann ohne weiteres im jeweiligen Gründungsrechtsakt festgelegt werden (ebenso Herrmann, ebd). 1229 Dies wird verschleiert durch die überwiegend vorgenommene Einordnung der Sitzfestlegung als „uneigentlichen Ratsbeschluss“; vgl etwa Calliess/Ruffert/Ruffert Art 341 AEUV Rn 3; Geiger/Khan/Kotzur/Khan Art 341 AEUV Rn 2; Streinz/Herrmann Art 341 AEUV Rn 4. 1230 Später wurden Änderungen an den beiden Verordnungen durch einheitliche VO vorgenommen; vgl VO 920/2005, ABl 2005 L 156/3. 1231 Vgl Schermers/Blokker § 482. 1232 Ebd. 1233 Vgl Oppermann/Classen/Nettesheim 6. Aufl § 2 Rn 13. 1234 ABl 1967 P 152/18. Matthias Niedobitek

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difkationen vornahm. In der Folgezeit blieb die endgültige Sitzfrage weiter ungeklärt, ebenso wie die vorläufigen Sitze in der konkreten Umsetzung umstritten waren, was sich in verschiedenen Verfahren vor dem EuGH zeigte.1235 Insb das Europäische Parlament versuchte, seine Aktivitäten stärker in Brüssel zu konzentrieren, dies zu Lasten von Straßburg bzw (was dessen Generalsekretariat angeht) von Luxemburg.1236 In der Sache ging es stets um das Spannungsverhältnis zwischen dem Selbstorganisationsrecht (va des Parlaments) einerseits und der Befugnis der Mitgliedstaaten, die Sitzfrage zu regeln. Die Organe erhielten ihre endgültigen Sitze erst durch Beschluss der Vertreter 331 der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 12. Dezember 1992.1237 Dieser Beschluss war auf die einschlägigen Bestimmungen der drei Gemeinschaftsverträge, ua exArt 216 EWGV, gestützt. Bestätigt (und erweitert) wurde die seinerzeit getroffene Regelung durch ein dem früheren EUV sowie den Gemeinschaftsverträgen durch den Amsterdamer Vertrag beigefügtes Protokoll. Dadurch sind Fragen hinsichtlich der Rechtsgrundlage für Änderungen der Sitzfestlegung entstanden. Während manche der Meinung sind, dass wegen der rechtlichen Qualität des Sitzprotokolls (vgl Art 51 EUV) das (ordentliche) Vertragsänderungsverfahren anzuwenden ist,1238 sind andere der Auffassung, dass die Mitgliedstaaten weiterhin von ihrer Befugnis aus Art 341 AEUV Gebrauch machen können.1239 Da Art 341 AEUV selbst Bestandteil der Verträge ist, dürfte das dort normierte Verfahren neben dem Vertragsänderungsverfahren gem Art 48 EUV anwendbar sein. Praktisch relevant wurde die Frage noch nicht; zuletzt wurde das Protokoll durch den – auf einer Vertragsänderung gem ex-Art 48 EUV beruhenden1240 – Vertrag von Lissabon aktualisiert.1241 Dass die Union selbst einen Sitz haben könnte, wie dies bei anderen Interna- 332 tionalen Organisationen der Fall ist,1242 ist Art 341 AEUV nicht ohne weiteres zu entnehmen. Gleichwohl geht Art 16 des Protokolls (Nr 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union1243 davon aus, dass sich „der Sitz der Union“ in einem bestimmten Mitgliedstaat befindet. Dies mag den Singular erklären, der in Art 341 AEUV verwendet wird („Der Sitz der Organe …“). Auch wenn es zwar sprachlich nicht ausgeschlossen ist, „den Sitz“ in Art 341 AEUV als Gattungsbegriff zu verstehen, könnte dieser Begriff tatsächlich im Sinne der Postulierung „eines“ einzigen

_____ 1235 Überblick bei Schermers/Blokker § 485 iVm Fn 331. 1236 Vgl insoweit bspw EuGH, verb Rs C-213/88 und C-39/89 – Luxemburg / Parlament. 1237 ABl 1992 C 341/1. 1238 So Calliess/Ruffert/Ruffert Art 341 AEUV Rn 3. 1239 So Streinz/Herrmann Art 341 AEUV Rn 6. 1240 Vgl KOM(2003) 548. 1241 Vgl das Protokoll (Nr 6) über die Festlegung der Sitze der Organe und bestimmter Einrichtungen, sonstiger Stellen und Dienststellen der Europäischen Union, ABl 2016 C 202/266. 1242 Vgl etwa Art 11 der Satzung des Europarates, wonach dieser seinen Sitz in Straßburg hat. 1243 ABl 2016 C 202/266. Matthias Niedobitek

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Sitzes für alle Organe verstanden werden, der dann notwendig auch der Sitz der Union wäre.1244 Darüber ist die Praxis hinweg gegangen. Heute haben die Organe unterschiedliche Sitze, während der Union selbst kein Sitz zugewiesen wurde. Als Internationale Organisation verfügt die Union jedenfalls nicht über ein „eigenes“ Gebiet, ein „Unionsgebiet“ (vgl Rn 151), das die Sitzfrage, die völkerrechtliche Implikationen hat,1245 erledigen würde.1246 Die Sprachenfrage ist in einer Union mit 28 Mitgliedstaaten und 24 Vertrags333 sprachen (vgl Art 55 EUV idF des Beitrittsvertrags Kroatien) von zentraler Bedeutung. Die Vielsprachigkeit der Union ist nicht nur eine Inspirationsquelle für die Auslegung des in allen Vertragssprachen authentischen Unionsrechts,1247 sondern auch eine Herausforderung für die Organe und ihre Arbeitsweise. VO 1/1958 geht in ihrem Art 1 von dem Grundsatz aus, dass alle 24 Vertragssprachen zugleich Amtssprachen (was die externe Kommunikation) und Arbeitssprachen (was die internen Arbeitsabläufe angeht) sind.1248 Hinsichtlich der externen Kommunikation ist auch Art 24 IV AEUV zu beachten, der den Unionsbürgern das Recht gibt, sich schriftlich in einer der Vertragssprachen an die Organe zu wenden und eine Antwort in dieser Sprache zu erhalten.1249 Während die VO 1/1958 für die externe Kommunikation detailliertere Festlegungen trifft, die nicht zuletzt aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit geboten sind (Abfassung und Publikation aller Schriftstücke von allgemeiner Geltung in allen Amtssprachen und Veröffentlichung im Amtsblatt), verweist Art 6 VO 1/1958 für die Regelung des internen Sprachengebrauchs auf die Geschäftsordnungen der Organe, in denen diese festlegen können, „wie diese Regelung der Sprachenfrage im einzelnen anzuwenden ist“. In der internen Praxis der Organe werden va drei Sprachen verwendet – Englisch, Französisch, Deutsch –, inzwischen mit einer Dominanz des Englischen.1250 Für die Unionsgerichte verweisen Art 342 AEUV iVm Art 64 II EuGH-Satzung sowie die VO 1/1958 auf deren Verfahrensordnungen. Für seine internen Abläufe und für die Entscheidungsentwürfe wird nach wie vor die französische Sprache verwendet.1251 Wie komplex die Sprachenfrage und die Abgrenzung von Amts- und Arbeitssprache sind,1252 zeigt Rs T-185/05.1253 Nach

_____ 1244 Dem würde es entsprechen, dass das eben erwähnte (Rn 342) „Sitzprotokoll“, anders als Art 341 AEUV, von der Festlegung „der Sitze“ der Organe spricht. 1245 Vitzthum/Proelß/Klein/Schmahl 4. Abschn Rn 110 f. 1246 AA Streinz/Herrmann Art 341 AEUV Rn 9. 1247 Hierzu vgl Gruber § 11 (in diesem Band) Rn 40; Streinz/Herrmann Art 342 AEUV Rn 35. 1248 Zur Unterscheidung von Amts- und Arbeitssprachen vgl Geiger/Khan/Kotzur/Khan Art 342 AEUV Rn 1. 1249 Hierzu vgl auch Hilpold § 12 (in diesem Band) Rn 248. 1250 Vgl Oppermann/Classen/Nettesheim § 5 Rn 13. 1251 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Mayer Art 342 AEUV Rn 45. 1252 Hierzu vgl auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Mayer Art 342 AEUV Rn 38. 1253 EuG, Rs T-185/05 – Italien / Kommission. Matthias Niedobitek

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dem EU-Beitritt von zehn neuen Mitgliedstaaten am 1. Mai 2004 hatte die Kommission festgestellt, dass ihre Übersetzungskapazitäten nicht ausreichend waren und daher gezielter eingesetzt werden müssten. Deshalb entschied sie im November 2004, die Stellen für höhere Führungskräfte für einen begrenzten Zeitraum nur noch in Deutsch, Englisch und Französisch zu veröffentlichen. Das EuG kritisierte insbesondere, dass die Kommission keine Maßnahmen ergriffen habe, um alle Bewerber davon zu informieren, dass die betreffende Stellenausschreibung existiert und in welcher Ausgabe des Amtsblatts der volle Wortlaut veröffentlicht ist. Auch wenn bei den Bewerbern um die ausgeschriebene Stelle Kenntnisse zumindest einer der drei Sprachen, in denen die Ausschreibung erfolgt ist, vorliegen dürften – selbst wenn dies nicht zu den formalen Stellenanforderungen gehörte –, könne nicht erwartet werden, dass diese eine andere Amtsblattausgabe als die ihrer Muttersprache konsultieren würden. Der durch die VO 1/1958 begründete Grundsatz der Gleichberechtigung der 334 Amtssprachen der Union1254 hat zu Problemen bei der Umsetzung bezüglich „kleiner“, in der Union wenig gesprochener Sprachen geführt. Sonderregelungen wurden für Maltesisch und Irisch getroffen. Malta ist der Europäischen Union am 1. Mai 2004 beigetreten. Eine Umsetzung 335 der VO 1/1958, insb des Erfordernisses, Schriftstücke mit allgemeiner Geltung sowie das Amtsblatt in maltesischer Sprache zu veröffentlichen, war infolge eine Mangels an qualifizierten Übersetzern nicht mit Wirksamwerden des Beitritts zu gewährleisten. Daher beschloss der Rat durch VO 930/20041255 eine dreijährige Ausnahmeregelung, wonach „die Organe der Europäischen Union ab dem 1. Mai 2004 für einen Zeitraum von drei Jahren von der Verpflichtung entbunden [waren], alle Rechtsakte in maltesischer Sprache abzufassen und sie in dieser Sprache im Amtsblatt der Europäischen Union zu veröffentlichen“. Diese Regelung galt allerdings „nicht für Verordnungen, die gemeinsam vom Europäischen Parlament und vom Rat erlassen werden“. Eine Verlängerung der Ausnahmeregelung um ein Jahr war zwar in VO 930/2004 ins Auge gefasst worden, sie wurde jedoch vom Rat nicht in Anspruch genommen. Gleichwohl räumte der Rat durch eine Änderung der Verordnung 930/20041256 den Organen die Möglichkeit ein, alle bis zum 30. April 2007 (dem Ablauf der Drei-Jahres-Frist) noch nicht in maltesischer Sprache veröffentlichten Rechtsakte bis zum 31. Dezember 2008 zu veröffentlichen. Infolge des Beitritts Irlands zur EWG zählte Irisch zwar zu den Vertragsspra- 336 chen (vgl Art 160 II der Beitrittsakte), jedoch hatte Irland darauf verzichtet, dass Irisch unter den Amts- und Arbeitssprachen der VO 1/1958 aufgelistet würde.1257 Da-

_____ 1254 1255 1256 1257

Vgl Oppermann/Classen/Nettesheim § 5 Rn 10. ABl 2004 L 169/1. VO 1738/2006, ABl 2006 L 329/1. Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Mayer Art 342 AEUV Rn 29.

Matthias Niedobitek

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von rückte Irland im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt 2004, der ua auch Maltesisch als Amtssprache etablierte, ab, so dass seitdem, auf der Grundlage der VO 920/2005,1258 Irisch unter den in Art 1 VO 1/1958 genannten Amts- und Arbeitssprachen aufgeführt wird. Gleichwohl wurde in der VO 920/2005 bestimmt, dass „[a]bweichend von der Verordnung Nr. 1 […] die Organe der Europäischen Union für einen verlängerbaren Zeitraum von fünf Jahren ab dem Tag des Wirksamwerdens dieser Verordnung von der Verpflichtung entbunden [sind], alle Rechtsakte in irischer Sprache abzufassen und sie in dieser Sprache im Amtsblatt der Europäischen Union zu veröffentlichen“. Diese Ausnahmeregelung, die allerdings Verordnungen, die gemeinsam vom EP und vom Rat erlassen werden, ausklammert, wurde wegen der fortbestehenden Probleme, „eine dem Bedarf entsprechende Zahl irischsprachiger Übersetzer, Rechts- und Sprachsachverständiger, Dolmetscher und Assistenten einzustellen“,1259 einstweilen bis Ende 2021 verlängert.1260

h) Einbindung von Organen in unionsassoziierte Kooperationen der Mitgliedstaaten („Organleihe“) 337 Die Organe der Union zählen gem Art 13 I EUV zu deren institutionellem Rahmen und handeln gem Art 13 II EUV „nach Maßgabe der [ihnen] in den Verträgen zugewiesenen Befugnisse“. Aus diesen Bestimmungen könnte gefolgert werden, dass es unzulässig ist, den Organen der Union durch Verträge der Mitgliedstaaten (jenseits des ordentlichen Vertragsänderungsverfahrens gem Art 48 EUV) weitere Befugnisse zuzuweisen. In der Vertragspraxis der Mitgliedstaaten1261 treten jedoch immer wieder Fälle auf, in denen die Mitgliedstaaten einzelne Organe in die Durchführung von zwischen ihnen geschlossenen völkerrechtlichen Verträgen, die eine inhaltliche Nähe zum Unionsrecht haben, einbinden. Wenige Beispiele müssen genügen.1262 Unionsorgane sind etwa in durch Durchführung des „Interne[n] Abkommen[s] zwischen den im Rat vereinigten Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union über die Finanzierung der im mehrjährigen Finanzrahmen für den Zeitraum 2014 bis 2020 vorgesehenen Hilfe der Europäischen Union im Rahmen des AKP-EU-Partnerschaftsabkommens …“ eingebunden.1263 Solche „Internen Abkommen“, die insb Aufgaben für Rat, Kommission und Rechnungshof vorsehen, haben die Mitgliedstaaten schon bisher zur Durchführung der AKP-EUZusammenarbeit geschlossen. Mit deren Rechtmäßigkeit war auch schon der EuGH

_____ 1258 1259 1260 1261 1262 1263

ABl 2005 L 156/3. So der dritte Erwägungsgrund der VO 1257/2010. So die VO 2015/2264, ABl 2015 L 322/1. Überblick in Rn 34, 35. Weitere Beispiele bei Peers EuConst 9 (2013) 1, 37 ff. ABl 2013 L 210/1. Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 197

befasst.1264 Im Fall des „Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht“,1265 das durch die VO 593/2008 („Rom I“) nicht vollständig ersetzt wurde,1266 geht es va um die Einbindung des EuGH, dem durch zwei Protokolle Auslegungszuständigkeiten übertragen wurden.1267 Schließlich haben am 2. März 2012 die seinerzeitigen Mitgliedstaaten, jedoch ohne Beteiligung des Vereinigten Königreichs und der Tschechischen Republik, den sog „Fiskalvertrag“ geschlossen, 1268 welcher insb Kommission und Gerichtshof Zuständigkeiten zuweist.1269 Die Einbindung von Unionsorganen in völkerrechtliche Verträge der Mitglied- 338 staaten wird unter dem Stichwort „Organleihe“ diskutiert.1270 Bei einer Organleihe wird das Organ einer juristischen Person, der es primär zugeordnet ist, einer anderen juristischen Person „entliehen“ und für diese tätig.1271 Handlungen des entliehenen Organs werden somit nicht dem primären Rechtsträger, sondern, unter Aufrechterhaltung seiner Organidentität,1272 dem entleihenden Rechtsträger zugerechnet. Sinn und Zweck einer Organleihe ist va eine – auch ökonomisch wirksame – organisatorische Vereinfachung,1273 um die Schaffung „eigener“ Organe des entleihenden Rechtsträgers entbehrlich zu machen. Eine Organleihe ist rechtlich unproblematisch, wenn sie in den Integrationsver- 339 trägen, dh im Primärrecht der Union vorgesehen ist. Vor dem Vertrag von Lissabon wurde va das Tätigwerden der Gemeinschaftsorgane für die frühere Union aufgrund von ex-Art 5 EUV vielfach als „Organleihe“ gedeutet.1274 Auch die Entleihung der Gemeinschaftsorgane durch das im Kontext des Maastrichter Unionsvertrags von 11 Mitgliedstaaten (ohne das Vereinigte Königreich) geschlossenene „Abkommen über die Sozialpolitik“ war durch das dem EG-Vertrag beigefügte „Protokoll über die Sozialpolitik“ primärrechtlich abgesichert.1275 Schließlich dürften auch die Vertragsbestimmungen über die „Verstärkte Zusammenarbeit“1276 als

_____ 1264 EuGH, Rs C-316/91 – Parlament / Rat. 1265 Konsolidierte Fassung in ABl 2005 C 334/1. 1266 Vgl Art 24 VO 593/2008, ABl 2008 L 177/6. 1267 Beide Protokolle sind in konsolidierter Fassung wiedergegeben in ABl 2005 C 334/20 und C 334/26. 1268 Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, BGBl 2012 II 1008. 1269 Näher hierzu Calliess/Schoenfleisch JZ 2012, 477 (483 ff). 1270 Vgl nur Fischer-Lescano/Oberndorfer NJW 2013, 9. 1271 Vgl Pechstein/Koenig Rn 184. 1272 Hierzu Niedobitek FS Heinrich Siedentopf, 2008, S 87 (91). 1273 Vgl Pechstein/Koenig Rn 185. 1274 Überblick zu den seinerzeit vertretenen Konstruktionen bei Schwarze/Stumpf 2. Aufl Art 5 EUV Rn 6. Für eine Organleihe Niedobitek FS Heinrich Siedentopf, 2008, S 87 (89 ff). 1275 Hierzu näher Thym S 195 f. 1276 Näher Obwexer § 10 (in diesem Band). Matthias Niedobitek

198 | § 1 Vertragliche Grundlagen, rechtliche Gestalt, Institutionen der Union

Organleihe zu deuten sein.1277 Nach Art 20 I UAbs 1 EUV können nämlich die Mitgliedstaaten, die eine Verstärkte Zusammenarbeit begründen wollen, „die Organe der Union in Anspruch nehmen“ (may make use of its institutions; peuvent recourir aux institutions de celle-ci); zudem enthält Art 332 AEUV eine Kostenverteilungsregelung, die nur Sinn ergibt, wenn die Verstärkte Zusammenarbeit nicht der Union, sondern allein den daran beteiligten Mitgliedstaaten zuzurechnen ist. Von dieser rechtlichen Situation (primärrechtliche Absicherung der Organleihe; 340 Rn 339) unterscheiden sich die in Rn 337 beispielhaft genannten Abkommen. In seiner spärlichen einschlägigen Rechtsprechung hat der EuGH die Möglichkeit einer Organleihe jenseits primärrechtlicher Ermächtigung (vgl Rn 339) nicht in Zweifel gezogen (ohne indes den Begriff der Organleihe zu verwenden). So hat er seinerzeit festgestellt, der EWG-Vertrag schließe nicht aus, „daß die Mitgliedstaaten die Kommission damit betrauen, für die Koordinierung einer von ihnen gemeinsam aufgrund eines Aktes ihrer im Rat vereinigten Vertreter unternommenen Aktion zu sorgen“.1278 Diese Feststellung hat er später mit den Worten bestätigt, „[k]eine Bestimmung des Vertrages [hindere] die Mitgliedstaaten daran, außerhalb seines Rahmens Verfahrenselemente anzuwenden, die sich an den Vorschriften für die Gemeinschaftsausgaben orientieren, und die Gemeinschaftsorgane an einem solchen Verfahren zu beteiligen“.1279 In Bezug auf seine eigenen Zuständigkeiten hat der EuGH erklärt, ihm könnten „durch ein mit Drittstaaten geschlossenes internationales Abkommen neue Zuständigkeiten zugewiesen werden […], sofern dadurch nicht die Aufgabe des Gerichtshofs, wie sie im EU-Vertrag und im AEU-Vertrag ausgestaltet ist, verfälscht wird“.1280 In Pringle (betr den ESM-Vertrag) schließlich bestätigte der EuGH seine einschlägige Rechtsprechung und präzisierte sie in einzelnen Punkten.1281 Er betonte erneut, dass die den Organen durch EUV und AEUV zugewiesenen Zuständigkeiten nicht verfälscht werden dürften. Was die Kommission angeht, hielt er deren Einbindung in den ESM-Vertrag auch deshalb für unproblematisch, weil der Kommission „keine Entscheidungsbefugnis im eigentlichen Sinne“ übertragen worden sei.1282 Seine eigene Einbindung sah der EuGH als durch Art 273 AEUV abgedeckt an. Dementsprechend kennezeichnet Art 8 III VSKS diesen Artikel als „Schiedsvertrag zwischen den Vertragsparteien im Sinne des Artikels 273 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union". Die Rechtsprechung des EuGH (Rn 340) hat sich stets nur zur materiellen Ver341 einbarkeit einer bestehenden Organleihe mit dem primären Unionsrecht geäußert,

_____ 1277 1278 1279 1280 1281 1282

Vgl hierzu Obwexer § 10 (in diesem Band) Rn 63. EuGH, verb C-Rs 181/91 und C-248/91 – Europäisches Parlament / Rat ua, Rn 20. EuGH, Rs C-316/91 – Parlament / Rat, Rn 41. EuGH, Gutachten 1/09 – Einheitliches Patentgerichtssystem, Rn 75. EuGH, Rs C-370/12 – Pringle, Rn 153 ff. EuGH, Rs C-370/12 – Pringle, Rn 161. Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 199

nicht jedoch zu deren rechtlichen Voraussetzungen und Verfahrensanforderungen. Dabei stellen sich insoweit viele Fragen, die hier nur angedeutet werden können (Rn 342, 343) und deren Lösung in den EU-Verträgen selbst erfolgen sollte.1283 Als erstes stellt sich die Frage, ob die Rolle der Mitgliedstaaten als „Herren der 342 Verträge“ so weit reicht, sich umstandslos der Unionsorgane „zu bedienen“. Können sich die Mitgliedstaaten „eigenmächtig“ Organe ohne Zustimmung der Union „entleihen“? Dagegen spricht, dass die Organe durch die Verträge der Union als juristischer Person zugeordnet wurden und damit (jenseits einer ordentlichen Vertragsänderung) der Verfügungsgewalt der Mitgliedstaaten entzogen sind. 1284 Zu Recht wird in der Literatur daher das Einverständnis der Union verlangt.1285 In der Erklärung dieses Einverständnisses ist die Union ebenso wenig frei wie die Mitgliedstaaten, vielmehr benötigt sie – abhängig vom inhaltlichen Kontext der Organleihe – hierfür eine spezielle Befugnis. Selbst wenn man ein „eigenmächtiges“ Handeln der Mitgliedstaaten für zu- 343 lässig halten sollte (was abzulehnen ist; vgl Rn 342), stellen sich weitere Fragen, nämlich insb,1286 – in welcher Form die Organleihe zu erfolgen hat: Genügt, wie es wohl der „üblichen Praxis“ entspricht, ein Beschluss der (im Rat oder im AStV) vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten,1287 mithin ein Vertragsschluss in vereinfachter Form? Dagegen dürften keine durchgreifenden Bedenken bestehen. – ob stets alle Mitgliedstaaten zu beteiligen sind: Dies war im Fall des „Fiskalvertrags“ nicht der Fall, weshalb die darin angeordnete Organleihe von Teilen der Literatur als unzulässig angesehen wird.1288 Wenn man ein „eigenmächtiges“ Handeln der Mitgliedstaaten für möglich hält, dann dürften zumindest an ihrer nur gemeinsam auszuübenden Verfügungsgewalt keine Abstriche zulässig sein.1289 – in welcher Weise die Finanzierung der Inanspruchnahme der Unionsorgane zu regeln ist: In der bisherigen Organleihe-Praxis wird die Kostenfrage entweder nicht thematisiert (so die in Rn 337 genannten Abkommen), was dem Begriff der „Organleihe“ eine spezielle Note gibt, oder sie wird dahin geregelt, dass die Verwaltungsausgaben der Union zur Last fallen (vgl insb Art 41 EUV, Art 332

_____ 1283 So auch Peers EuConst 9 (2013) 1, 37 (72). 1284 Dies gilt unabhängig davon, ob die Organleihe materiell vertragsändernden Charakter hat, worauf jedoch Fischer-Lescano/Oberndorfer NJW 2013, 9 (10) abstellen. 1285 Fischer-Lescano/Oberndorfer NJW 2013, 9 (10 f). 1286 Überblick und Behandlung der auftretenden Fragen bei Peers EuConst 9 (2013) 1, 37 (46 ff). 1287 Hierzu vgl Rats-Dok 12569/1/12. 1288 Vgl Calliess/Schoenfleisch JZ 2012, 478 (484); Fischer-Lescano/Oberndorfer NJW 2013, 9 (10). 1289 So auch Thym S 317. Matthias Niedobitek

200 | § 1 Vertragliche Grundlagen, rechtliche Gestalt, Institutionen der Union

AEUV). Letzteres erscheint zwar sinnvoll, da sich die einer Organleihe zuzuordnenden Verwaltungsausgaben der Union kaum beziffern lassen dürften, allerdings erscheint es bei Organleihen, die nicht primärrechtlich verankert sind, bedenklich, die Kostenfrage gar nicht zu thematisieren. Auch darin kommt die „Selbstherrlichkeit“ der Mitgliedstaaten bei der Regelung von Organleihen zum Ausdruck.

6. Agenturen der Union 344 Neben den „prominenten“ Organen der Union, die durch die Verträge selbst ge-

schaffen wurden, stützt sich die Union auf ein mittlerweise beträchtlich angewachsenes System von sekundärrechtlichen Institutionen, Institutionen also, die durch Handlungen der Organe geschaffen wurden (vgl Rn 183). Eine besondere „Karriere“ haben dabei die sog Agenturen gemacht.1290 „Agenturen“ als Typus dezentralisierter Staatsverwaltung wurden in den Mitgliedstaaten der Union spätestens seit den 1990er Jahren zu einem Modell für die Erledigung bestimmter öffentlicher Aufgaben.1291 Agenturen (zunächst der Gemeinschaft, jetzt der Union) haben sich, beginnend 345 mit dem Jahr 1975,1292 in dem sie noch nicht so hießen, urwüchsig entwickelt,1293 sie wurden von Fall zu Fall geschaffen, ohne dass dafür ein strategisches Konzept bestand. Heute verfügt die Union über mehr als 40 Agenturen unterschiedlicher Art.1294 Dabei war sich die Kommission schon länger bewusst, dass die Einrichtung von Agenturen, die keine Einzelfälle blieben, eines konzeptionellen Rahmens bedurfte. Im Jahr 2002 formulierte sie daher „Rahmenbedingungen für die europäischen Regulierungsagenturen“,1295 die bereits eine Reihe von aus der bisherigen Praxis abgeleiteten Gemeinsamkeiten der Agenturen benannten, dies jedoch noch ohne strategischen Ansatz. In ihrer Mitteilung aus dem Jahr 2008 „Europäische Agenturen – Mögliche Perspektiven“1296 äußerte die Kommission die Ansicht, es sei „nun-

_____ 1290 Hierzu vgl auch Schroeder § 8 (in diesem Band) Rn 32. 1291 Vgl etwa Cabinet Office, „Executive Agencies: A Guide for Departments“, https://assets. publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/690636/Exe cutive_Agencies_Guidance.PDF; vgl auch Wentzel DÖV 2010, 763 („Agenturen im deutschen Verwaltungskontext: Nachzügler oder Vorreiter?“). 1292 Das Europäische Zentrum für die Förderung der Berufsbildung und die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, beide geschaffen im Jahr 1975, gelten als die ersten „Agenturen“; näher Raschauer/Sander S 1 f. 1293 Dementsprechend ist in Bezug auf die Agenturen oft von „Wildwuchs“ die Rede; vgl nur Pawlik S 166. 1294 Vgl die EU-Website: http://europa.eu/about-eu/agencies/index_de.htm. 1295 KOM(2002) 718. 1296 KOM(2008) 135. Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 201

mehr an der Zeit für eine Aussprache über die Rolle und den Platz der Agenturen im Verwaltungsgefüge der EU“1297 und hielt „ein gemeinsames Konzept zur Verwaltung der Regulierungsagenturen unabhängig von Formfragen für erforderlich“.1298 Ein solches, explizit nicht bindendes, Konzept wurde in Form einer „Gemeinsamen Erklärung“ des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission zu dezentralen Agenturen von den drei Organen der Union im Juni 2012 gebilligt.1299 Über die Umsetzung der Konzepts und der Gemeinsamen Erklärung hat die Kommission im Jahr 2015 und im Jahr 2019 Bericht erstattet.1300 Heute sind die (dezentralen) Agrenturen in dem „EU Agencies Network“ verbunden.1301 Eine einheitliche Rechtsgrundlage für die Einrichtung von Agenturen wur- 346 de durch den Vertrag von Lissabon nicht geschaffen.1302 Anfangs wurden die Agenturen auf die sog „Flexibilitätsklausel“1303 des ex-Art 235 EWGV (später ex-Art 308 EGV; heute Art 352 AEUV) gestützt, dann auf die Rechtsgrundlagen in den betreffenden Politikfeldern.1304 Die zuletzt genannte Möglichkeit wurde vom EuGH gebilligt.1305 Gleichwohl nimmt das primäre Unionsrecht durchaus Kenntnis von der Exis- 347 tenz von den Organen nachgelagerten Verwaltungsstrukturen. So sind die Agenturen grundsätzlich an die Charta der Grundrechte gebunden (vgl Art 51 I 1 GRCh);1306 ferner überwacht der EuGH – ausdrücklich seit dem Vertrag von Lissabon – die Rechtmäßigkeit der Handlungen der Agenturen, soweit sie Rechtswirkung gegenüber Dritten entfalten (vgl Art 263 I 2 AEUV). Die Aufarbeitung des Phänomens „Agenturen“1307 (auch als „Agencification“ 348 bezeichnet)1308 ist noch am Anfang. Neben Fragen ihrer demokratischen Legitimation1309 stellen sich insb Fragen der Begrifflichkeit (Rn 349) sowie der Befugnisse und des Rechtsschutzes (Rn 350).

_____ 1297 Ebd, S 2. 1298 Ebd, S 7. 1299 Vgl die Website der EU, https://europa.eu/european-union/sites/europaeu/files/docs/body/ joint_statement_and_common_approach_2012_de.pdf. 1300 COM(2015) 179; COM(2019) 187. 1301 Vgl die Website https://euagencies.eu/. 1302 Hierzu vgl Raschauer/Sander S 17 f. Zu Recht stellt Pawlik S 156 fest, eine wirkliche Anerkennung von Agenturen sei im Primärrecht nicht ersichtlich. 1303 So die Bezeichnung in Art I-18 VVE. 1304 Vgl Raschauer/Sander S 22 f. 1305 EuGH, Rs C-217/04 – ENISA. Die ENISA war auf ex-Art 95 EGV gestützt worden. Heutige Rechtsgrundlage der wieder befristet (bis 19. Juni 2020) errichteten Agentur ist Art 114 AEUV. Vgl VO 526/2013, ABl 2013 L 165/41. 1306 Hierzu vgl Kugelmann § 4 (in diesem Band) Rn 47. 1307 Zur Diskussion Calliess FS Europa-Institut der Universität des Saarlandes, 2011, S 67 ff. 1308 Vgl Hofmann/Morini ELRev 37 (2012) 419 ff. 1309 Hierzu Groß JZ 2012, 1087 ff. Matthias Niedobitek

202 | § 1 Vertragliche Grundlagen, rechtliche Gestalt, Institutionen der Union

Was die Begrifflichkeit angeht, unterscheidet die Kommission heute primär zwischen sog dezentralen Agenturen und Exekutivagenturen. Die Abgrenzung zwischen beiden Typen erfolgt aus der Perspektive der letzteren. Exekutivagenturen beruhen auf der VO 58/2003,1310 die die Kommission in ihrem Art 3 ermächtigt, durch Beschluss Exekutivagenturen „einzusetzen“, um sie „mit bestimmten Aufgaben bei der Verwaltung eines oder mehrerer Gemeinschaftsprogramme zu beauftragen“. Exekutivagenturen werden für einen bestimmten, erneuerbaren Zeitraum eingerichtet. So wurde die Exekutivagentur Bildung, Audiovisuelles und Kultur in Fortsetzung früherer Beschlüsse durch den Durchführungsbeschluss 2013/7761311 für weitere zehn Jahre errichtet (bis 31. Dezember 2024). Sitz der Exekutivagenturen ist regelmäßig Brüssel oder Luxemburg.1312 Demgegenüber sind die Sitze der dezentralen Agenturen über das Gebiet der Mitgliedstaaten verstreut.1313 Der früher verbreitete Begriff der „Regulierungsagenturen“1314 (Rn 345) war irreführend, da die dezentralen Agenturen nicht über echte „Regulierungsbefugnisse“ verfügen, sondern allenfalls über punktuelle Entscheidungsbefugnisse. Die dezentralen Agenturen lassen sich weiter differenzieren.1315 Zu ihnen zählen gewiss auch die neu geschaffenen Finanzaufsichtsbehörden,1316 während der EAD aufgrund seiner spezifischen Funktion als Unterstützungsstruktur des Hohen Vertreters der Union für Außenund Sicherheitspolitik hier nicht ohne weiteres eingeordnet werden kann. Gemeinsam ist den Agenturen, dass sie über Rechtspersönlichkeit verfügen.1317 Die Schaffung von Agenturen ist solange unproblematisch, wie diese den EU350 Institutionen, insb der Kommission, lediglich zuarbeiten, indem sie sachverständige/wissenschaftliche Informationen bereitstellen. Kritisch wird die Gründung von Agenturen, wenn sie mit Entscheidungsbefugnis ausgestattet sind. Dass dies generell möglich ist, bestätigt Art 263 I 2 AEUV, wonach zu den mit der Nichtigkeitsklage angreifbaren Handlungen auch Handlungen von Agenturen gehören, die „Rechtswirkung gegenüber Dritten“ haben können.1318 Tatsächlich gibt es zunehmend Agenturen, die im Hinblick auf Dritte rechtswirksam handeln können.1319 In-

349

_____ 1310 ABl 2003 L 11/1. 1311 ABl 2013 L 343/46. 1312 Zum Sitz vgl Art 5 VO 58/2003. 1313 Vgl Ziff 6 des „Gemeinsamen Konzepts“ (https://europa.eu/european-union/sites/europaeu/ files/docs/body/joint_statement_and_common_approach_2012_de.pdf) betr die geografische Verteilung. 1314 Vgl KOM(2008) 135. 1315 S Raschauer/Mayrhofer S 55 ff. Vgl auch die thematische Einteilung auf der Website des „EU Agencies Network“, https://euagencies.eu/. 1316 Zurückhaltend insoweit Raschauer/Sander S 7 f. 1317 Vgl Raschauer/Sander S 15. 1318 So auch EuGH, Rs C-270/12 – Vereinigtes Königreich / Parlament und Rat, Rn 79 ff. 1319 Vgl Sauer EuR 2010, 51 ff; Raschauer/Mayrhofer S 55 ff. Matthias Niedobitek

III. Die Institutionen der Union | 203

wieweit es zulässig ist, Agenturen (auch) Entscheidungsbefugnisse zu übertragen, richtet sich – noch immer – nach der sog Meroni-Doktrin.1320 Danach dürfen Agenturen insb nicht mit Ermessensentscheidungen betraut werden.1321 Diese bereits alte Rechtsprechung ist bis heute im Grundsatz gültig.1322 Der Modelle des Rechtsschutzes gegen Handlungen von Agenturen gibt es viele.1323

_____ 1320 1321 1322 1323

Hierzu vgl va Pawlik S 145 ff. Vgl EuGH, Rs 9/56 – Meroni, Slg 1958, 43 f. Vgl Pawlik S 148 ff. Vgl Raschauer/Pabel S 65 ff.

Matthias Niedobitek

204 | § 1 Vertragliche Grundlagen, rechtliche Gestalt, Institutionen der Union

NEUE RECHTE SEITE Matthias Niedobitek

§ 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung | 205

Roman Lehner

§ 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung https://doi.org/10.1515/9783110498349-002 Roman Lehner

Gliederungsübersicht I. Grundlagen und Wesen der Mitgliedschaft 1. Die souveränen Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ 2. Völkerrechtliche Begründung 3. Das Austrittsrecht der Mitgliedstaaten II. Begründung und Beendigung der Mitgliedschaft 1. Gründungsmitgliedschaft 2. Beitritt zur Union a) Beitrittsersuchen und Beitrittsverfahren b) Beitrittsvoraussetzungen aa) Europäischer Staat bb) Achtung und Förderung der Unionswerte cc) Beitrittskriterien c) Beitrittsausgestaltung d) Zustimmung aller Mitgliedstaaten 3. Austritt aus der Union a) Rechtszustand vor dem Vertrag von Lissabon b) Rechtszustand unter dem Vertrag von Lissabon aa) Ausübung des Austrittserklärungsrechts bb) Aushandlung eines Austrittsabkommens cc) Wirksamwerden und Vollzug des Austritts c) Verfassungsrechtliche Austrittsberechtigung der Bundesrepublik Deutschland d) Teilaustritt? 4. Wiedereintritt 5. Ausschluss aus der Union III. Rechte und Pflichten aus der Mitgliedschaft 1. Die „föderative Grundstruktur“ 2. Rechte der Mitgliedstaaten a) Recht auf Einhaltung der unionalen Kompetenzordnung b) Recht auf Achtung der Gleichheit c) Recht auf Achtung der nationalen Identitäten d) Recht auf Achtung der grundlegenden Staatsfunktionen e) Recht auf Mitwirkung f) Suspendierung von Mitgliedschaftsrechten 3. Pflichten der Mitgliedstaaten a) Pflicht zur Achtung der grundlegenden Werte der Union b) Rechtstreue, Unionstreue und Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit c) Opt-out- und Opt-in-Regelungen d) Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Koordination e) Beistands- und Solidaritätspflichten IV. Mitgliedschaft und Rechte der Unionsbürger V. Verbundenheit mit der Union unterhalb der Schwelle der (Voll-) Mitgliedschaft

Roman Lehner https://doi.org/10.1515/9783110498349-002

Rn 1 1 3 4 9 9 10 10 12 13 16 17 18 20 23 23 25 25 28 32 33 37 38 40 43 43 44 45 46 48 50 51 53 56 57 58 61 63 64 65 70

206 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

Spezialschrifttum Atilgan, Canan/Klein, Deborah EU-Integrationsmodelle unterhalb der Mitgliedschaft, 2006; Bruha, Thomas/Nowak, Carsten Recht auf Austritt aus der Europäischen Union?, AVR 42 (2004), 1–25; Dorau, Christoph Die Öffnung der Europäischen Union für europäische Staaten, EuR 1999, 736–753; Everling, Ulrich Sind die Mitgliedstaaten noch Herren der Verträge? Zum Verhältnis von Europäischem Gemeinschaftsrecht und Völkerrecht, in: Bernhardt, Rudolf (Hrsg) Festschrift für Hermann Mosler, 1983, S 173–192; Everling, Ulrich Zur Stellung der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“, in: Beyerlin, Ulrich ua (Hrsg) Festschrift für Rudolf Bernhardt, 1995, S 1161–1176; Harbo, Florentina Secession Right – an Anti-Federal Principle? Comparative Study of Federal States and the EU, Journal of Politics and Law 2008, 132–148; Gold, Marie-Therese Voraussetzungen des freiwilligen Austritts aus der Union nach Art. I-60 Verfassungsvertrag, in: Niedobitek, Matthias/Ruth, Simone (Hrsg) Die neue Union – Beiträge zum Verfassungsvertrag, 2007, S 55–74; Götting, Friedemann Die Beendigung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, 2000; Heinemann, Friedrich Going for the Wallet? Rule-of-Law Conditionality in the Next EU Multiannual Financial Framework, Intereconomics 53 (2018) 6, 297-301; Hillion, Christophe Accession and Withdrawal in the Law of the European Union, The Oxford Handbook of European Union Law, Arnull, Anthony/Chalmers, Damien (ed), 2015, S 126-152; Hofmeister, Hannes Was bedeutet Schottlands Unabhängigkeit für die Mitgliedschaft in der EU?, EuR 2013, 711– 721; Jenni, Sabine Direkte und indirekte Europäisierung der schweizerischen Bundesgesetzgebung, LeGes 2013, 489–504; Kumin, Andreas J Vertragsänderungsverfahren und Austrittsklausel, in: Hummer, Waldemar/Obwexer, Walter (Hrsg) Der Vertrag von Lissabon, 2009, S 301–324; Langenfeld, Christine Erweiterung ad infinitum? – Zur Finalität der Europäischen Union, ZRP 2005, 73–76; Meyer, Dirk Rechtliche Möglichkeiten eines Ausscheidens aus dem EURO und die Rückübertragung der Währungssouveränität, EuR 2013, 334–347; Repasi, René Die Rechte der Unionsbürger, die vom EU-Recht verliehen werden, und ihre Sicherung nach dem Brexit, Stellungnahme zur Anhörung des Deutschen Bundestags, Ausschuss für Angelegenheiten der EU, 24.4.2017, Ausschussdrucksache 18(21)104, 1– 13; Rieder, Clemens M The Withdrawal Clause of the Lisbon Treaty in the Light of EU Citizenship (Between Disintegration and Integration), Fordham ILJ 37 (2013), 146-174; Schmahl Stefanie Die Reaktionen auf den Einzug der Freiheitlichen Partei Österreichs in das österreichische Regierungskabinett – Eine europa- und völkerrechtliche Analyse, EuR 2000, 819–835; Skouris, Vassilios Rechtliche Vorgaben für den Austritt aus der EU, EuZW 2016, 806-811; Tewocht, Hannah Freizügigkeit und Brexit – Überlegungen zur „Abwicklung“ der Personenfreizügigkeit, ZAR 2017, 245-251; Thiele, Alexander Der Austritt aus der EU – Hintergründe und Rahmenbedingungen eines „Brexit“, EuR 2016, 281-304; Waltemathe, Arved Austritt aus der EU, 2000; Zeh, Juli Recht auf Austritt, ZEuS 2004, 173–210; Zuleeg, Manfred Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, 2846–2851. Leitentscheidungen EuGH, Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L.; Rs C-118/07 – Kommission / Finnland; Rs C-36/02 – Omega; EuGH, Rs C-112/00 – Schmidbauer; Rs C-550/09 – E und F; Rs 32/79 – Kommission / Vereinigtes Königreich; EuGH, Rs 42/82 – Kommission / Frankreich; verb Rs C-6/90 u C-9/90 – Francovich; Rs C-34/09 – Ruiz Zambrano; Rs C-434/09 – McCarthy; BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 – Lissabon; 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 – Maastricht; 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 – Ultra-vires-Kontrolle, Mangold.

I. Grundlagen und Wesen der Mitgliedschaft I. Grundlagen und Wesen der Mitgliedschaft 1. Die souveränen Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ 1 Als grundlegend für die Bestimmung des mitgliedschaftlichen Rechtsverhältnisses

erweist sich auch heute noch die bekannte Formel, wonach die Mitgliedstaaten in Roman Lehner

I. Grundlagen und Wesen der Mitgliedschaft | 207

ihrer Eigenschaft als weiterhin1 souveräne Staaten die „Herren der Verträge“ sind.2 Sie tragen die Integrationsentscheidung kraft ihrer jeweiligen demokratischen Legitimation3 und können gewissermaßen als pouvoir constituant der Union angesehen werden.4 Allerdings ist zu gewärtigen, dass die Mitgliedstaaten sich kraft souveräner Wil- 2 lensausübung in den Verträgen gewissen „verfahrensmäßigen und inhaltlichen Grenzen“5 unterworfen haben, die die beliebige Abänderung der bestehenden Verträge (oder gar deren Aufkündigung) vor allem in zwei Hinsichten rechtlich problematisch erscheinen lassen: in Bezug auf die aus den Verträgen oder aus vertragsgemäß gesetztem Recht fließenden subjektiven Rechte der Bürger und mit Blick auf die völkerrechtlichen Vertragsbindungen in Bezug auf Drittstaaten6 (und somit mittelbar wiederum auch auf deren Bürger). Die Mitgliedschaft in der Union vermittelt zahlreiche begünstigende Rechtspositionen für Individuen und Unternehmen,7 deren Entziehung8 oder Verringerung9 infolge einer Mitgliedschaftsbeendigung oder -reduzierung rechtsstaatlich nur schwer zu bewältigende Folgeprobleme aufwirft.10

2. Völkerrechtliche Begründung Die Frage nach dem Verhältnis von Völker- und Unionsrecht11 ist im Hinblick auf die 3 Ausgestaltung des Mitgliedschaftsrechts insoweit relevant, als bei ganz grundlegenden Akten, die die Mitgliedschaft selbst betreffen, immer auch Aspekte des Völkervertragsrechts berührt sind.12 Das Völkerrecht kennt seinerseits mitgliedschaft-

_____ 1 Zur Souveränität BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (349 ff) – Lissabon; zur Kritik statt vieler von Münch/Kunig/Uerpmann-Witzack Art 23 GG Rn 60 mwN. 2 BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (190) – Maastricht; BVerfG, 2 BvE 2/08; BVerfGE 123, 267 (350) – Lissabon; krit statt vieler Everling FS Hermann Mosler, 1983, S 173 (174); ausf Calliess/Ruffert/Cremer Art 48 EUV Rn 20 f; überblicksartig Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 57 f. 3 BVerfG, 2 BvR 2134/92; BVerfGE 89, 155 (184 ff) – Maastricht; BVerfG, 2 BvE 2/08; BVerfGE 123, 267 (349 f) – Lissabon; krit Everling EuR 2010, 91 (97 ff). 4 Everling, FS Rudolf Bernhardt, 1995, S 1161 (1169, 1172 f); dezidiert BVerfG, 2 BvE 2/08; BVerfGE 123, 267 (350) – Lissabon. 5 Everling, FS Rudolf Bernhardt, 1995, S 1161 (1172). 6 Everling, FS Rudolf Bernhardt, 1995, S 1161 (1170 f). 7 Herbst GLJ 2005, 1755 (1758 f). 8 Diese könnte ausgelöst werden infolge des Austritts eines Mitgliedstaates (oder mehrerer Mitgliedstaaten) oder der einvernehmlichen Auflösung der Union durch alle Mitgliedstaaten. 9 Diese könnte herbeigeführt werden durch „Rückbildung [der Union; Anm d Verf] zu einem bloßen Staatenverbund ohne Bürgerrechte“; Everling, FS Rudolf Bernhardt, 1995, S 1161 (1173). 10 S Rn 66 ff. 11 S Niedobitek § 1 (in diesem Band) Rn 8. 12 S zur subsidiären Anwendbarkeit der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) Rn 7 f, 37. Roman Lehner

208 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

liche Rechtsverhältnisse von Staaten im Recht der internationalen Organisationen.13 Nach einer vielzitierten Formulierung14 ist das „Grundverhältnis“15 der Unionsmitglieder zueinander auch weiterhin auf Basis einer „partikularvölkerrechtlichen Koordinationsrechtsordnung“ konstituiert, auf welcher akzessorisch die unionsrechtliche „Subordinationsrechtsordnung“ aufbaut.16 Die Freiwilligkeit der Unionszugehörigkeit als Folge der völkerrechtlich prägenden Staatensouveränität17 rückt damit in den Blick, wenngleich die Frage nach der Reichweite der freiwillig eingegangen Unionsbindung genauso hiervon zu trennen ist wie diejenige nach der Verselbstständigung der Unionsrechtsordnung auch im Hinblick auf das Mitgliedschaftsrecht selbst.

3. Das Austrittsrecht der Mitgliedstaaten 4 Vor diesem Hintergrund kann und darf das Recht eines jeden einzelnen Mitglied-

staates zum Austritt aus dem Unionsverband an sich unionsrechtlich nicht angetastet werden. 18 Die Verselbstständigung des Unionsrechtsraums steht – dem Grunde nach19 – nach wie vor unter nationalem Souveränitätsvorbehalt.20 Die grundlegende Entscheidung über den Verbleib in der mitgliedschaftlichen Rechteund Pflichtenstellung muss den Mitgliedstaaten vorbehalten sein.21 In diesem zentralen Punkt bleibt die unionale Konstruktion nahe am völkerrechtlichen Normalzustand,22 unterscheidet sich der europäische „Staatenverbund“ kategorial von einem Bundesstaat, 23 dessen Gliedstaaten eine Loslösung vom konsolidierten

_____ 13 Klassischerweise werden in den Gründungsverträgen internationaler Organisationen die Fragen des Erwerbs und Verlustes der Mitgliedschaft sowie daraus fließende, grundlegende Rechte und Pflichten statuiert; ausf Vitzthum/Proelß/Klein/Schmahl S 273 ff Rn 61 ff. 14 Etwa Bruha/Nowak AVR 42 (2004), 1 (2) Fn 6. 15 So, wenn auch krit, Bruha/Nowak AVR 42 (2004), 1 (2). 16 Grundlegend vdGroeben/Schwarze/Hatje/Meng Art 48 EUV Rn 2. 17 Diese ist indes schon lange nicht mehr als absolut anzusehen. Im Völkerrecht finden sich verschiedene Durchbrechungen, va im Gefolge der gewachsenen Bedeutung der Menschenrechte; vgl Herdegen, VR § 28 Rn 3 ff. 18 Die frühere Sichtweise, wonach aus der Geltung der Verträge für eine unbestimmte Zeit das Fehlen eines (voraussetzungslosen) Austrittsrechts geschlossen wurde, ist heute angesichts von Art 50 EUV nicht mehr aufrecht zu erhalten. Zum früheren Meinungsstreit Rn 23. 19 Zu möglichen Verselbstständigungstendenzen s Rn 67. 20 Statt vieler Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 7; aus der Rechtsprechung BVerfG, 2 BvE 2/08; BVerfGE 123, 267 (343) – Lissabon. 21 Hierzu Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 7 EUV Rn 55. 22 Vgl Hummer/Obwexer/Kumin S 301 (315), wonach die Union „absichtlich mit deutlicheren Zügen einer ‚normalen‘ internationalen Organisation versehen werden“ sollte. 23 Instruktiv Huber EuR 2003, 574 (591 f); ähnlich Bruha/Nowak AVR 42 (2004), 1 (14); Streinz/ Streinz Art 50 EUV Rn 17; Waltemathe S 52 ff; Pache/Rösch NVwZ 2008, 473 (479). Roman Lehner

I. Grundlagen und Wesen der Mitgliedschaft | 209

Staatsverband nach dem jeweiligen Bundesverfassungsrecht,24 sowie wegen des nur sehr eingeschränkt geltenden Sezessionsrechts auch völkerrechtlich, weitestgehend verboten ist.25 Die deutschen Länder sind eben nicht die „Herren des Grundgesetzes“26. Demokratietheoretisch ist der Verbleib des Entscheidungsrechts über die Uni- 5 onsmitgliedschaft beim nationalen Souverän bedeutsam, weil mit dem Verlust des exklusiven Loslösungsrechts ein Austausch des Legitimationssubjekts einherginge. Jede substanzielle Infragestellung des materiellen Austrittsrechts müsste die „letztinstanzliche“ Zuordnung des Selbstregierungsrechts zum jeweiligen Mitgliedstaatsvolk27 negieren. Ein Ausschluss des Austrittsrechts führte zu einer „Irreversibilität“ im Hinblick auf den damit einhergehenden „Subjektswechsel“,28 weil nunmehr jeder Mitgliedstaat zum Austritt auf den Konsens (zumindest der Mehrzahl) der anderen Staaten angewiesen wäre.29 Der Souveränitätsvorbehalt kommt in Art 50 I EUV explizit zum Ausdruck, so- 6 weit an das Bestehen des Austrittsrechts keine unionsrechtlichen Bedingungen30 gestellt werden.31 Mit dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags ist der Streit um die Austrittsbefugnis, 32 verfassungsvertragspolitisch vorbereitet durch den fast gleichlautenden Art I-60 des europäischen Verfassungsvertrags (VVE),33 eindeutig entschieden worden.34 Die politischen Gründe für diese Klarstellung dürften vielfältig gewesen sein,35 genannt wird zumeist das Anliegen, dem seinerzeitigen Verfas-

_____ 24 Schon die Präambel des Grundgesetzes schließt eine Sezessionsberechtigung der Länder aus (Sachs/Huber Präambel GG Rn 23). Auch in anderen Bundesstaaten wird hiervon ausgegangen, zB zum Schweizerischen Bundesverfassungsrecht, Häfelin/Haller/Keller Rn 985. 25 Zum Ausnahmecharakter eines „Loslösungsrechts“ statt vieler Stein/von Buttlar/Kotzur Rn 683 ff (insb 685). 26 BVerfG, 2 BvR 349/16. 27 Zur Konstituierung des Volks „als letztinstanzlicher Träger des Selbstregierungsrechts“ Baus/Borchard/Gelinsky/Krings/von Kielmannsegg Die Finanzkrise S 137 (140). 28 Baus/Borchard/Gelinsky/Krings/von Kielmannsegg Die Finanzkrise S 137 (141), der dies zur Frage eines Übergangs zu einem europäischen Bundesstaat anführt. Eben ein solcher Übergang stünde an, wenn das Austrittsrecht nicht mehr ausschließlich als ein genuines Recht der einzelnen Mitgliedstaaten verfasst wäre. 29 Zur Möglichkeit einer einvernehmlichen Mitgliedschaftsbeendigung ausf Götting S 59 ff. 30 Schwarze/Becker Art 50 EUV Rn 2. 31 Zum Verweis auf die jeweilige verfassungsrechtliche Austrittsberechtigung der Mitgliedstaaten s Rn 25 f. 32 S Rn 23. 33 Calliess/Ruffert/Calliess Art 50 EUV Rn 1 f; Schwarze/Becker Art 50 EUV Rn 1; Streinz/Streinz Art 50 EUV Rn 1; instruktiv zur Entstehungsgeschichte Zeh ZEuS 2004, 173 (193 ff). 34 Calliess/Ruffert/Calliess Art. 50 EUV Rn 1 f; Schwarze/Becker Art 50 EUV Rn 1; Streinz/Streinz Art 50 EUV Rn 3; Vedder/Heintschel vHeinegg/Heintschel vHeinegg Art 50 EUV Rn 3. 35 Zum Kontext der Beitrittsrunden von 2004/ 2007 instruktiv Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 114. Roman Lehner

210 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

sungsvertrag den Eindruck zu nehmen, die Union sei ein „Völkergefängnis“ ohne jedes Entkommen.36 Ob die Beständigkeit der Union durch die Einführung des expliziten unions7 rechtlichen Austrittsrechts auf längere Sicht eher in Frage gestellt oder im Gegenteil dadurch bestärkt wird, dass die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft in den Fokus rückt, erschien bis zum sog Brexit offen. Kaum widerlegen lässt sich allerdings die Feststellung, dass auch zuvor37 ein Austritt faktisch kaum zu verhindern gewesen wäre38 und dass – gerade nach dem Brexit – ein Abschieben politischer Verantwortung auf das angeblich unentrinnbare Schicksal „Brüssel“ nun leichter entkräftet werden kann.39 Ob das aus Art 56 I lit b) WVK ableitbare völkerrechtliche Austrittsrecht,40 welches zuvor bemüht wurde,41 weiterhin anwendbar bleibt und in Art 50 EUV lediglich „sichtbar“ wird,42 kann dahinstehen, weil die praktische Bedeutung dieser Konkurrenzfrage entfallen ist.43 Art 50 EUV verweist auf das – aus unionsrechtlicher Perspektive materiell 8 voraussetzungslose44 – Austrittsrecht und normiert im Hinblick auf die Rechtsausübung Regeln über die Durchführung des Austrittsverfahrens, in dessen Rahmen grundsätzlich ein Austrittsabkommen zwischen der Union und dem austretenden Staat ausgehandelt werden soll. Im Hinblick auf den nationalen Souveränitätsvorbehalt nicht ganz unproblematisch und rechtfertigungsbedürftig ist die Regelung in Art 50 III Var 2 EUV, wonach der Mitgliedstaat außerhalb einer konsensualen Austrittsvereinbarung erst nach Ablauf von zwei Jahren ab Mit-

_____ 36 So Streinz/Ohler/Herrmann S 48. Möglicherweise geht die Klausel auf den damaligen Präsidenten des Verfassungskonvents Giscard d’Estaing zurück (Zeh ZEuS 2004, 173 [194] mwN). Andere verweisen auf die Befindlichkeiten jener Staaten, die ehemals dem Herrschafts- und Einflussbereich der UdSSR unterlegen hatten (hierzu Harbo Journal of Politics and Law 2008, 132 [142]). 37 Einen Überblick über bisherige Austrittsdiskussionen in einzelnen Mitgliedstaaten gibt Waltemathe S 22 ff. Das Ausscheiden Grönlands aus dem Geltungsbereich der Gemeinschaft im Jahr 1985 stellte keinen Austritt dar, weil nur Dänemark Mitgliedstaat war (und blieb) und Grönland als dänisches Teilgebiet infolge innerstaatlicher Autonomie in den Status eines Überseeischen Landes oder Gebiets („ULG“; heute Art 198 ff AEUV iVm Anhang II) wechselte; statt vieler Streinz/Streinz Art 50 EUV Rn 18; Waltemathe S 26 f auch m Hinw auf das Ausscheiden Algeriens aus dem französischen Staatsverband 1962. 38 Constantinesco S 182. 39 Hierzu Hummer/Obwexer/Kumin S 301 (316); krit zum Argument der Legitimationsverbesserung Schwarze/Becker Art 50 EUV Rn 1. 40 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 7 EUV Rn 55; Streinz Rn 106; Schroeder Grundkurs § 2 Rn 36. 41 Ausf Götting S 7 ff, 114 ff. 42 So Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 7 EUV Rn 55. 43 Calliess/Ruffert/Calliess Art 50 EUV Rn 13. 44 S Rn 25 f. Roman Lehner

II. Begründung und Beendigung der Mitgliedschaft | 211

teilung des nationalen Austrittsbeschlusses aus dem Unionsverband entlassen wird.45 II. Begründung und Beendigung der Mitgliedschaft II. Begründung und Beendigung der Mitgliedschaft 1. Gründungsmitgliedschaft Die sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), 9 der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) sowie der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) – die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Belgien, Luxemburg und Italien – sind die ältesten Mitglieder der 1951/1957 gegründeten europäischen Organisationen, in deren Nachfolge seit dem Vertrag von Lissabon die Europäische Union als eigenständiges Rechtssubjekt steht. Sie haben dereinst den Nukleus der Union gebildet und repräsentieren als Unterzeichner der Römischen Verträge von 1957 deren Kontinuität, was in politischer Hinsicht bis heute in einigen Alleinstellungsmerkmalen zum Ausdruck kommt.46 Tatsächlich waren bei Gründung der Europäischen Union im Jahr 1992 bereits 12 Staaten47 Mitglied der genannten Gemeinschaften, so dass technisch auch diese als Gründer der Union angesehen werden können. Die Mitgliedschaft in der EGKS ist mit Ablauf der vertraglichen Geltungsdauer von fünfzig Jahren48 am 23. Juli 2002 erloschen. Jene in der Europäischen Gemeinschaft (EG) ist mit Inkrafttreten des Lissaboner Vertrags in der Unionsmitgliedschaft aufgegangen.49 Eigenständigen Bestand hat weiterhin die Mitgliedschaft in der EAG, wobei sie rechtlich insoweit an die Unionsmitgliedschaft gekoppelt ist, als eine isolierte Teilnahme an entweder Union oder EAG ausgeschlossen ist.50

_____ 45 Diese „Fristlösung“ wurde von Europaskeptikern als nicht weitgehend genug kritisiert (hierzu Zeh ZEuS 2004, 173 (196) m entspr Nachw). Zur Rechtfertigung s Rn 32. 46 Italien nimmt als Gründungsort der Römischen Verträge traditionell bei jeder Vertragsänderung die Ratifikationsurkunden der hinterlegenden Staaten zur Verwahrung entgegen (zB Art 6 I 2 des Vertrags von Lissabon, ABl 2007 C 306/01). Alle Hauptvertragsorgane haben ihren Sitz in einem der Gründungsstaaten: Europäisches Parlament (Plenum in Straßburg und Brüssel, Generalsekretariat in Luxemburg), Rat (Brüssel), Kommission (Brüssel), Europäischer Gerichtshof (Luxemburg), Europäischer Rechnungshof (Luxemburg); Europäische Zentralbank (Frankfurt am Main). 47 Zusätzlich: Dänemark, das Vereinigte Königreich, Irland, Griechenland, Portugal und Spanien. Die zwölf Sterne der Europaflagge repräsentieren diesen Mitgliedsstamm nicht. Die Flagge wurde 1955 vom Europarat als Symbol beschlossen und von der EG schrittweise übernommen (Bergmann/Grupp S 322). Die Zahl zwölf gilt „seit alters her als Symbol der Vollkommenheit und Einheit [...]“ (ebd mwN). 48 Art 97 EGKSV 1951 (BGBl 1952 II, S 445 [475]). 49 Nach Art 1 III 2 EUV ist die EU Rechtsnachfolgerin der EG. 50 Art 106a I EAGV erklärt Art 49 EUV als für den EAGV geltendes Recht, näher Niedobitek § 1 (in diesem Band) Rn 57. Roman Lehner

212 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

2. Beitritt zur Union a) Beitrittsersuchen und Beitrittsverfahren 10 Der Beitritt in die Union bewirkt den vollständigen Erwerb der Mitgliedschaft51 in Union und EAG (vgl Art 106a I EAGV) durch einen Drittstaat. Nicht vorgesehen ist nur ein Teilerwerb,52 also ein Eintritt etwa nur in die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) oder eine Ausklammerung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP).53 Anders als bei der Austrittsklausel in Art 50 EUV kannten alle Vorgängerverträge bereits Beitrittsklauseln,54 auf deren Grundlage bis heute 22 Mitgliedstaaten in insgesamt sieben Erweiterungsrunden aufgenommen wurden.55 Die Regelung in Art 49 EUV nennt hierfür einige materielle Voraussetzungen und normiert – rudimentär – das Beitrittsverfahren.56 Das Verfahren wird mit dem Beitrittsersuchen des Drittstaats in Gang gesetzt (vgl Art 49 I 1 EUV) und endet im Positivfall mit dem Beitrittsvollzug nach Maßgabe eines zwischen Union und Drittstaat ausgehandelten57 und zwischen letzterem und den bisherigen Mitgliedstaaten abgeschlossenen Beitrittsabkommens (vgl Art 49 II EUV). Den beiden Absätzen des Art 49 EUV folgend, wird in einer ersten Phase auf Beitrittsantrag des Drittstaats hin in einem unionalen Zustimmungsverfahren über den Beitritt entschieden. Im positiven Fall steht hier am Ende ein förmlicher, notwendigerweise einstimmiger Aufnahmebeschluss des Rats, der seinerseits eine Anhörung der zur Stellungnahme berechtigten Kommission und die Zustimmung des Europäischen Parlaments voraussetzt (vgl Art 49 I 3 EUV). In einer zweiten Phase erfolgt die völkerrechtliche

_____ 51 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 2; Calliess/Ruffert/Cremer Art 49 EUV Rn 8; Schweitzer/Hummer/Obwexer Rn 112. Auch territorial muss der Beitritt vollständig erfolgen, so dass die Aufnahme eines staatlichen Teilgebiets ausscheidet; Schwarze/Herrnfeld Art 49 EUV Rn 2. Nicht möglich wäre daher der Beitritt nur des europäischen Teils der Russischen Föderation. 52 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 3. 53 Oppermann FS Manfred Zuleeg, 2005, S 72 (76), auch bezogen auf die Problematik „neutraler“ Staaten; dazu instruktiv Hobe Rn 147: Kein Beitrittshindernis, soweit grundsätzliche Mitwirkungsbereitschaft an der GASP erklärt wird. 54 Im Einzelnen Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 1. 55 Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich (1973), Griechenland (1981), Portugal und Spanien (1986), Österreich, Schweden und Finnland (1995), Malta, Zypern, Polen, Tschechische Republik, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Litauen, Lettland und Estland (2004), Rumänien und Bulgarien (2007) sowie zuletzt Kroatien (2013). Anders im Fall der DDR: Hier wurden die europäischen Verträge infolge des staatsrechtlichen Beitritts nach Art 10 Einigungsvertrag auf das sog Beitrittsgebiet erstreckt. Hierin kam das völkerrechtliche Prinzip der „beweglichen Vertragsgrenzen“ zum Ausdruck, vgl Schwarze/Herrnfeld Art 49 EUV Rn 2. Der Europäische Rat von Dublin (25.–26. Juni 1990) billigte die „Eingliederung des Gebietes der Deutschen Demokratischen Republik in die Gemeinschaft“ (Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Ziff 4 vom 25./ 26. Juni 1990 S 7); abrufbar unter https://www. consilium.europa.eu/media/20562/1990_june_-_dublin__eng_.pdf. 56 Zum Verfahren Calliess/Ruffert/Cremer Art 49 EUV Rn 2 ff; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 23 ff, und zur geringen Regelungsdichte Rn 25. 57 Zum Ablauf ausf Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 23 ff. Roman Lehner

II. Begründung und Beendigung der Mitgliedschaft | 213

Implementierung des Aufnahmebeschlusses durch die Aushandlung eines umfassenden Beitrittsabkommens,58 welches sodann durch alle Mitgliedstaaten und den beitrittswilligen Staat zu ratifizieren ist (vgl Art 49 II EUV). In der Praxis erfolgt der Aufnahmebeschluss durch den Rat erst kurze Zeit nach 11 Abschluss der Beitrittsverhandlungen,59 so dass sich eine praktisch orientierte Untergliederung in eine Einleitungsphase und eine Verhandlungs- und Abschlussphase anbietet.60 Die Einleitungsphase dient der grundlegenden (politischen) Entscheidung, ob mit dem beitrittsersuchenden61 Staat überhaupt verhandelt werden soll und wird von Art 49 EUV nicht ausdrücklich geregelt.62 Da auch bei Vorliegen der materiellen Beitrittsvoraussetzungen kein Beitrittsanspruch besteht,63 können hier die mitwirkenden Unionsorgane nach freiem64 Ermessen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen empfehlen 65 und beschließen. 66 Den Verhandlungsbeschluss fällt – auf Grundlage von „Schlussfolgerungen [des Vorsitzes] des Europäischen Rates“67 – der Rat und mandatiert hierdurch die Kommission, die Verhand-

_____ 58 Ausf Calliess/Ruffert/Cremer Art 49 EUV Rn 3 f. 59 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 27, der am Beispiel des tschechischen Beitritts aufzeigt, dass die Aushandlung des Beitrittsabkommens zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen war. Der letzte Aufnahmebeschluss des Rates – zugunsten der Aufnahme Kroatiens – erfolgte am 5. Dezember 2011 und somit vor Unterzeichnung des Beitrittsabkommens am 9. Dezember. Die Beitrittsverhandlungen waren bereits im Juni 2013 abgeschlossen. Zu den Gründen für diese Reihenfolge Vedder/Heintschel vHeinegg/Heintschel vHeinegg Art 49 EUV Rn 18. 60 So die Begriffsverwendung bei Oppermann/Classen/Nettesheim § 42 Rn 15 ff, der von einer Dreiphasigkeit ausgeht; ebenso Vedder/Heintschel vHeinegg/Heintschel vHeinegg Art 49 EUV Rn 11 ff; ähnlich Geiger/Khan/Kotzur/Geiger Art 49 EUV Rn 12 ff. für Zweiphasigkeit Calliess/Ruffert/Cremer Art 49 EUV Rn 2 f; Hobe Rn 149; Schweitzer/Hummer/Obwexer Rn 114. 61 In der Praxis wird iR einer sog „Präadhesionsstrategie“ die Antragstellung vorbereitet (vgl statt vieler Vedder/Heintschel vHeinegg/Heintschel vHeinegg Art 49 EUV Rn 8). 62 Hierzu und zum Folgenden Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 26 f. 63 Statt vieler Geiger/Khan/Kotzur/Geiger Art 49 EUV Rn 2; zur Schrittabfolge Haratsch/Koenig/ Pechstein Rn 110. 64 Geiger/Khan/Kotzur/Geiger Art 49 EUV Rn 2. Es besteht kein Anspruch auf rechtsfehlerfreie Entscheidung, Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 29. 65 Die Kommission nimmt in dieser Phase vorläufige Stellungnahmen vor; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 26; Kaczorowska-Ireland S 65. Zuletzt: Stellungnahmen zu den Beitrittsanträgen Kroatiens vom 20. April 2004, KOM(2004) 257, sowie Islands vom 24. Februar 2010, KOM (2010) 62. 66 Zuletzt: Beschluss des Rates vom 3. Oktober 2005, Beitrittsverhandlungen mit der Republik Kroatien (Ratsdokument Nr 12514/05, S 7 f) sowie Beschluss vom 17. Juli 2010, Beitrittsverhandlungen mit Island zu eröffnen (Ratsdokument Nr 12550/10, S 8). 67 Zuletzt: Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rats vom 17. und 18. Juni 2004, Ziff 33–38, sowie vom 16. und 17. Dezember 2004, Ziff 14–16 (Kroatien) sowie vom 17. Juni 2010, Ziff 24 (Island). Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon werden die Schlussfolgerungen unmittelbar dem Europäischen Rat zugerechnet. Roman Lehner

214 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

lungen nach außen zu führen.68 Der Rat beschließt dabei auch den sog „allgemeinen Verhandlungsrahmen“.69 Ab diesem Zeitpunkt wird der beitrittswillige Staat von der Union üblicherweise als „Beitrittskandidat“ oder „Bewerberland“ bezeichnet.70 Mit diesem kann nun in die Verhandlungs- und Abschlussphase eingetreten werden,71 die – unionale Eigenständigkeit einerseits und mitgliedschaftliche Letztverantwortung andererseits spiegelnd – auf zwei „Gleisen“72 erfolgt. Während im Rahmen der Verhandlungen ein völkerrechtliches Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten und dem Kandidaten vorzubereiten ist, erfolgt gemäß Art 49 I 3 EUV die unionsrechtliche Zustimmung in Form des Aufnahmebeschlusses73 durch den Rat

_____ 68 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 26. 69 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 26. Bezüglich des Beitrittsantrags Kroatiens wurde in den Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rats vom 16. und 17. Dezember 2004, Ziff 16, die Kommission zur Erarbeitung eines Verhandlungsrahmens aufgefordert und der Rat ersucht, diesem zuzustimmen, um die Verhandlungen planmäßig am 17. Juni 2005 zu beginnen. Der Rat hat den Verhandlungsrahmen am 17. März 2005 angenommen und den Beginn der Verhandlungen wegen mangelnder Zusammenarbeit Kroatiens mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICYT) auf unbestimmte Zeit verschoben (Ratsdokument Nr 6969/05, S 9). Am 3. Oktober 2005 stellte der Rat die Erfüllung der Zusammenarbeit fest und beschloss die Aufnahme der Verhandlungen (Ratsdokument Nr 12514/05, S 7). 70 ZZ sind dies die Türkei (Antrag vom 1. April 1987; zustimmende Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates vom 12. und 13. Dezember 1997, Ziff 4 und 6; Ratsbeschluss zur Einleitung von Beitrittsverhandlungen vom 3. Oktober 2005, Ratsdokument Nr 12514/05, S 7; seitdem Verhandlungen; vgl aber die Entschließung der Europäischen Parlaments vom 6. Juli 2017, P8_TAPROV(2017)0306, Ziff 8); die Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien (Antrag vom 22. März 2004; zustimmende Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates vom 15. und 16. Dezember 2005, Ziff 23–25; Empfehlung der Kommission im Fortschrittsbericht 2009, Ziff 1.3; Ratsbeschluss steht noch aus); Montenegro (Antrag vom 15. Dezember 2008; zustimmende Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates vom 16. und 17. Dezember 2010, Ziff 10; Ratsbeschluss zur Einleitung von Beitrittsverhandlungen vom 26. Juni 2012, Ratsdokument Nr 11690/12, S 7; Aufnahme der Verhandlungen am 29. Juni 2012); Serbien (Antrag vom 22. Dezember 2009; zustimmende Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates von Brüssel vom 1. und 2. März 2012, Ziff 39; zustimmende Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates vom 27. und 28. Juni 2013, Ziff 19, Ratsbeschluss zur Einleitung von Beitrittsverhandlungen vom 17. Dezember 2013, Ratsdokument Nr 17952/13; Aufnahme der Verhandlungen im Januar 2014) sowie Albanien (Antrag vom 24. April 2009, zustimmende Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates vom 26. Juni 2018, Ziff 54; Aufnahme der Verhandlungen voraussichtlich im Juni 2019). Einen Antrag gestellt hat Bosnien-Herzegowina (2016). Island (Antrag vom 16. Juli 2009; zustimmende Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates von Brüssel vom 17. Juni 2010, Ziff 24; Ratsbeschluss zur Einleitung von Beitrittsverhandlungen vom 26. Juli 2010; Ratsdokument Nr 12550/10, S 8; Aufnahme der Verhandlungen am 27. Juli 2010) hat auf seinen offiziellen Kandidatenstatus 2015 verzichtet. 71 Ausf Calliess/Ruffert/Cremer Art 49 EUV Rn 3 f. 72 Calliess/Ruffert/Cremer Art 49 EUV Rn 3. 73 Zuletzt: Beschluss des Rates über die Aufnahme Kroatiens in die Europäische Union vom 5. Dezember 2011, Ratsdokument Nr 18089/11, S 26. Roman Lehner

II. Begründung und Beendigung der Mitgliedschaft | 215

nach Zustimmung des Europäischen Parlaments74 und unter Berücksichtigung der Stellungnahme der Kommission75. Durch diesen wird der zuvor protokollierte Verhandlungsabschluss und somit das konkrete Verhandlungsergebnis förmlich für die Union abgenommen.76 Beide Ebenen greifen so ineinander und gewährleisten eine detaillierte Beitrittsausgestaltung und eine (erfolgreiche) Beitrittsvollziehung bei Zustimmung aller Mitgliedstaaten im Wege der Ratifikation.

b) Beitrittsvoraussetzungen Art 49 I 1 EUV knüpft den Beitritt an gewisse materielle Voraussetzungen. Ver- 12 langt wird, dass es sich um einen europäischen Staat handelt, der die Grundwerte der Union aus Art 2 EUV achtet und sich für ihre Förderung einsetzt. Völkerrechtssubjekte ohne Staatsqualität (va internationale Organisationen)77, nicht-europäische Staaten und solche, die die europäischen Grundwerte missachten, können somit nicht aufgenommen werden.

aa) Europäischer Staat In der Beschränkung auf europäische Staaten kommt das Wesen der Union als 13 Regionalverbund zum Ausdruck.78 Geographische Kriterien sind für die Begriffsbestimmung genauso heranzuziehen wie kulturell-historische,79 so dass nur solche Staaten von vornherein ausscheiden, die weder geographisch noch kulturell zu Europa gehören.80 Grundsätzlich ist hier der Union und auch den Mitgliedstaaten aber ein sehr weitgehender Einschätzungsspielraum eröffnet, weil sich die Definition Europas letztlich als eine primär politische Entscheidung erweist.81 Dabei wird das

_____ 74 Zuletzt: Entschließung des Europäischen Parlaments vom 1. Dezember 2011 zu dem Antrag Kroatiens auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union, ABl 2013 C 165/19. 75 Zuletzt: Stellungnahme der Kommission zum Antrag der Republik Kroatien auf den Beitritt zur Europäischen Union vom 12. Oktober 2011, KOM (2011) 667. 76 Übersicht bei Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 110. 77 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 14; Streinz/Pechstein Art 49 EUV Rn 3; Oppermann/Classen/Nettesheim § 42 Rn 8; Vedder/Heintschel vHeinegg/Heintschel vHeinegg Art 49 EUV Rn 3. 78 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 14; aus verfassungsrechtlicher Sicht von Münch/ Kunig/Uerpmann-Wittzack Art 23 GG Rn 8; zur europäischen Identität auch Kaczorowska-Ireland S 64; Davies S 22. 79 Instruktiver zur Entwicklung des Europabegriffs Dorau EuR 1999, 736. 80 Langenfeld ZRP 2005, 73; so auch Streinz/Pechstein Art 49 EUV Rn 3; Hanschel NVwZ 2012, 995 (996); Vedder/Heintschel vHeinegg/Heintschel vHeinegg Art 49 EUV Rn 3; ähnlich, aber vorrangig auf das geographische Kriterium abstellend, Sarcevic EuR 2002, 461 (466). 81 Schwarze/Herrnfeld Art 49 EUV Rn 3; Schweitzer/Hummer/Obwexer Rn 110. Beispiele für die widerspruchsvolle Beurteilungspraxis liefert Oppermann FS Manfred Zuleeg, 2005, S 72 (75). Roman Lehner

216 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

Ziel der „Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ (Art 1 II EUV), das eine gewisse kulturelle Homogenität voraussetzt, zu beachten sein.82 Die rechtlichen Voraussetzungen des Art 49 EUV überschreiten dürfte dagegen nur der Beitritt eines evident nicht- europäischen Staates.83 Damit wäre die Aufnahme eines solchen Staates jedoch keineswegs primär14 rechtlich unmöglich. Da Art 49 EUV nach Inkrafttreten des Beitrittsabkommens selbiges ex lege (und ohne jede Einschränkung) in Primärrechtsrang erhebt,84 gilt nach den anerkannten Kollisionsregeln im Verhältnis zu Art 49 I 1 EUV der Grundsatz lex posterior derogat legi priori mit der Folge, dass zwar weiterhin anderen nicht-europäischen Staaten der Beitritt versperrt bliebe, jedoch der konkreten Neumitgliedschaft infolge des Beitritts nicht mehr die Europarechtswidrigkeit entgegengehalten werden könnte. Zwar wären hier die beitrittsermöglichenden Mitwirkungsakte einschließlich der Durchführung von Beitrittsverhandlungen und des Beitrittsvertragsschlusses als Verstoß gegen Art 49 EUV für sich (noch) primärrechtswidrig (gewesen). Mit Inkorporation des Abkommens in den Primärrechtskanon könnte sich dies rechtlich jedoch mangels Primärrechtsüberprüfungskompetenz des EuGH85 und infolge der Stellung der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ nicht mehr auswirken.86

_____ 82 Dorau EuR 1999, 736 (752); sowie Oppermann, FS Manfred Zuleeg, 2005, S 72 (73), der einen Konflikt zwischen diesem Vertragsziel und dem politisch verfolgten Ziel einer territorial „immer weitere[n] Union“ ausmacht. 83 Langenfeld ZRP 2005, 73; dies Der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union, Rat für Migration: Politische Essays zu Migration und Integration 1/2008, 3; ähnlich Fischer Rn 41. Negativ beschieden wurde der Mitgliedschaftsantrag des Königreichs Marokko (Beschluss des Rates vom 1. Oktober 1987, EA 1987, Z 207). Die Türkei liegt zu einem (kleinen) Teil auf dem europäischen Kontinent, so dass sie kaum als evident außereuropäisch angesehen werden kann (abstrakt Hobe Rn 170: „vornehmliche[n] Belegenheit in Europa“; konkret zur Türkei Doerfert Rn 26). Hiervon geht auch die Union aus, die seit 2005 Beitrittsverhandlungen mit der Türkei führt (Einstufung als europäischen Staat in den Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rats in Luxemburg vom 12. und 13. Dezember 1997, Ziff 4 und 6). Zudem ist die Türkei auch in den Europarat aufgenommen und somit als „europäischer Staat“ iSd Art 4 der Satzung des Europarats vom 5. Mai 1949 anerkannt worden. Vgl krit zu dieser Einstufung Streinz/Pechstein Art 49 EUV Rn 3; Dorau EuR 1999, 736 (751 f); offenlassend Herdegen EuR § 6 Rn 8. Nach dem Putschversuch vom 15./ 16. Juli 2016 erscheint ein Beitritt auf mittlere Sicht ausgeschlossen. 84 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 39: Änderung der Verträge „unmittelbar und mit gleichem Rang“; Schweitzer/Hummer/Obwexer Rn 119; Schroeder Grundkurs § 2 Rn 35. 85 Abgesehen von der Überprüfung autonomer bzw teilautonomer Vertragsänderungen, die Sache des EuGH ist; EuGH, Rs C-370/12 – Pringle. 86 Ein ähnliches Problem stellte sich, wenn die Mitgliedstaaten ein Beitrittsabkommen ratifizierten, dem zuvor die Zustimmung des Europäischen Parlaments versagt worden wäre. In einem solchen Fall läge zwar ein Unionsrechtsbruch vor, gleichwohl wird man einer Vertragsänderung gegen Geist und Inhalt der bisherigen Verträge genauso wie einer solchen außerhalb des primärrechtlichen Vertragsänderungsverfahrens infolge der Vertragsherrschaft der Mitgliedstaaten nicht generell Roman Lehner

II. Begründung und Beendigung der Mitgliedschaft | 217

Allerdings wäre in einem solchen Fall – die gleiche Begriffsstrenge bezüglich 15 des Tatbestandsmerkmals „europäisch“ vorausgesetzt87 – die Verfassungskonformität der gesetzlichen Zustimmung durch Bundestag und Bundesrat zu verneinen. 88 Unionsrechtlich könnte im Fall einer verfassungswidrigen Ratifikation Deutschlands die Wirksamkeit des Beitritts hinterfragt werden, welche nach Art 49 II 2 EUV die Ratifikation nach Maßgabe der jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften voraussetzt. Gegen die Unwirksamkeit spräche schließlich aber, dass die Ratifikation des Beitrittsabkommens „die einseitige, völkerrechtlich verbindliche Erklärung [...], durch den Beitrittsvertrag gebunden zu sein“,89 bezeichnet, die nach völkerrechtlichen Grundsätzen in ihrer Wirksamkeit nach außen von der innerstaatlichen Erlaubnis abstrahiert (vgl Art 46 WVK)90 und dass der Verweis auf die mitgliedstaatlichen Verfassungsvorschriften in Art 49 II 2 EUV keine Abweichung von diesem Grundsatz markieren sollte.91

bb) Achtung und Förderung der Unionswerte Während vor Inkrafttreten des Lissaboner Vertrags ex-Art 49 EUV forderte, dass die 16 – seinerzeit noch in ex-Art 6 EUV niedergelegten – Grundsätze der Union vom Beitrittsstaat notwendigerweise zu achten seien, wird nun nach Art 49 I 1 EUV zusätzlich mit dem Einsatz für die Förderung der Werte in Art 2 EUV noch ein „aktives Element“ vorausgesetzt.92 Der Unterschied ist nicht ganz klar, denn einem Staat, der die Grundwerte umfassend achtet, wird man kaum eine nicht hinnehmbare Passivität vorwerfen können.93 Am plausibelsten erscheint es, ein tätiges Eintreten für die Verwirklichung etwa der Grundrechte in der Staatspraxis zu fordern, das sich nicht in der bloßen gesetzlichen Niederschrift erschöpft.94 Inhaltlich überschneidet sich der Bezug auf die unionalen Grundwerte mit dem sog politischen Beitrittskriterium,95 welches über Art 49 I 4 EUV heranzuziehen ist.96

_____ die Wirksamkeit versagen können (zu diesem Problem Everling FS Rudolf Bernhardt, 1995, S 1161 [1168 f]); ähnlich Calliess/Ruffert/Cremer Art 48 EUV Rn 19 f. 87 Dafür Maunz/Dürig/Scholz Art 23 GG Rn 59. 88 Konsequent Maunz/Dürig/Scholz Art 23 GG Rn 59; differenzierend von Münch/Kunig/UerpmannWittzack Art 23 GG Rn 8. 89 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 38 unter Anwendung von Art 2 I lit b) WVK. 90 Hierzu Stein/von Buttlar/Kotzur Rn 70; Herdegen VR § 15 Rn 13. 91 S Rn 26. 92 Hobe Rn 143. 93 Streinz/Pechstein Art 49 EUV Rn 4. 94 So überzeugend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 15; ähnlich Geiger/Khan/Kotzur/ Geiger Art 49 EUV Rn 5. 95 vdGroeben/Schwarze/Hatje/Meng Art 49 EUV Rn 13 f. 96 S Rn 17. Roman Lehner

218 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

cc) Beitrittskriterien 17 Weiterhin sind für einen förmlichen Aufnahmebeschluss die vom Europäischen Rat

vereinbarten Beitrittskriterien zu beachten (vgl Art 49 I 4 EUV). Einschlägig sind die sog Kopenhagener Kriterien, die der Europäische Rat von Kopenhagen am 21. und 22. Juni 1993 beschlossen hat. Diese werden üblicherweise in politische, wirtschaftliche, den europäischen Besitzstand (acquis communautaire) betreffende sowie die Aufnahmefähigkeit der Union berücksichtigende Gesichtspunkte aufgegliedert.97 Die damals bezüglich der Aufnahme der ost- und mitteleuropäischen Staaten formulierten98 Grundsätze sind durch den Verweis in Art 49 I 4 EUV positivrechtlich anerkannt.99 In politischer und wirtschaftlicher Hinsicht und bezogen auf den Besitzstand der Union werden materielle Voraussetzungen aufgestellt, die der beitrittswillige Staat grundsätzlich bei Beitritt100 erfüllt haben muss.101 Das Kriterium der Aufnahmefähigkeit102 kann hingegen vom Beitrittskandidaten nicht beeinflusst werden und spiegelt letztlich das politische Ermessen wider,103 das jeder Aufnahmeentscheidung zugrunde liegt. Es beschreibt zudem den Grundkonflikt „widersprüchlicher Integrationstendenzen“104, also jenen zwischen äußerlicher Erweiterung und innerer Integrationsvertiefung.105 Vor diesem Hintergrund ist auch die

_____ 97 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 17; Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 102; Schweitzer/Hummer/Obwexer Rn 122; auch Kaczorowska-Ireland S 62; Blumann/Dubouis Droit institutionnel, Rn 57 ff. 98 Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rats von Kopenhagen am 21. und 22. Juni 1993, Dokument-Nr SN 180/1/93, S 12 f. 99 Statt vieler Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 102. 100 Statt vieler Schwarze/Herrnfeld Art 49 EUV Rn 6, der auch auf die Möglichkeit von Übergangsfristen verweist. S zur „Heranführung“ Rn 18; differenzierend Langenfeld Der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union, Rat für Migration: Politische Essays zu Migration und Integration 1/2008, 5. 101 Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rats von Kopenhagen am 21. und 22. Juni 1993, Dokument-Nr SN 180/1/93, S 13: „Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muß der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben; sie erfordert ferner eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten. Die Mitgliedschaft setzt außerdem voraus, daß die einzelnen Beitrittskandidaten die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen übernehmen und sich auch die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu eigen machen können.“ 102 Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rats von Kopenhagen am 21. und 22. Juni 1993, Dokument-Nr SN 180/1/93, S 13: „Die Fähigkeit der Union, neue Mitglieder aufzunehmen, dabei jedoch die Stoßkraft der europäischen Integration zu erhalten, stellt ebenfalls einen sowohl für die Union als auch für die Beitrittskandidaten wichtigen Gesichtspunkt dar.“ 103 S hierzu Rn 11, 13, 17. 104 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 10. 105 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 10; ähnlich Geiger/Khan/Kotzur/Geiger Art 49 EUV Rn 8; zu den Gefahren einer Überdehnung Langenfeld ZRP 2005, 73 (75); dies Der Beitritt der Roman Lehner

II. Begründung und Beendigung der Mitgliedschaft | 219

Etablierung der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP, Art 8 EUV) zu bewerten, die eine Alternative zur Mitgliedschaft in der Union aufzeigt.106

c) Beitrittsausgestaltung Die konkrete Ausgestaltung des Beitritts obliegt den Parteien des Beitrittsab- 18 kommens, also den Mitgliedstaaten und dem beitrittswilligen Staat. Es sind die Mitgliedstaaten, die als „Herren der Verträge“ letztverantwortlich über das „Ob“ und das „Wie“ (sowie das „Wann“) eines Beitritts entscheiden sollen. In die von der Kommission geführten Beitrittsverhandlungen sind sie dadurch eingebunden, dass die einzelnen Verhandlungsabschnitte im Rahmen sog Ministerkonferenzen durchgeführt werden.107 Hierbei werden verschiedene Themengebiete in sog „Beitrittskapiteln“ abgearbeitet, um die Beitrittsfähigkeit nach Maßgabe der vom Europäischen Rat festgelegten Beitrittskriterien zu überprüfen.108 Parallel hierzu werden zur Herstellung der Beitrittsreife regelmäßig verschiedene Instrumente im Rahmen der sog „Heranführungsstrategie“ angewandt.109 Zum einen können Finanzhilfen gewährt werden, die ihrerseits an die Erreichung vorher vereinbarter Zwischenziele geknüpft sind, zum anderen kann – auch schon vor der offiziellen Stellung eines Beitrittsantrags – eine Beitrittsassoziierung mit einem (potenziellen) Beitrittskandidaten eingegangen werden.110 Der Inhalt des Beitrittsabkommens wird von Art 49 II 1 EUV insoweit vorgege- 19 ben, als auf die Aufnahmebedingungen und auf die (regelmäßig) notwendigen Änderungen der Unionsverträge, also von EUV und AEUV, verwiesen wird. Technisch werden im Beitrittsvertrag der Beitritt zur Union (und zur EAG) an sich sowie das Inkrafttreten dieses Vertrags und somit der Beitrittszeitpunkt vereinbart.111 In der weitaus umfassenderen Beitrittsakte werden zum einen die Modalitäten des Beitritts festgelegt: Hierzu gehören vor allem auch Übergangsbestimmungen, nach denen einzelne Rechte oder Pflichten aus der Mitgliedschaft erst zeitlich verzögert

_____ Türkei zur Europäischen Union, Rat für Migration: Politische Essays zu Migration und Integration 1/2008, 13 f. 106 S Rn 70. 107 Geiger/Khan/Kotzur/Geiger Art 49 EUV Rn 12. 108 Sog „Screening“; ausf Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 30 ff, insb Rn 32; auch Schwarze/Herrnfeld Art 49 EUV Rn 10; Kaczorowska-Ireland S 66. 109 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 34; Oppermann/Classen/Nettesheim § 42 Rn 11. 110 Ausf Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 34 f; auch Oppermann/Classen/Nettesheim § 42 Rn 11; zum Beispiel der Türkei Fairhurst S 49 f. 111 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 36. Zuletzt war dies der Vertrag über den Beitritt der Republik Kroatien vom 9. Dezember 2011 mit gerade einmal vier Artikeln (ABl 2012 L 112/10). Roman Lehner

220 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

eintreten sollen.112 Bedeutsam sind hier die Übergangsfristen für die Inanspruchnahme der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch die Staatsbürger des Neumitglieds.113 Daneben können durch sog Schutzklauseln114 für den Fall von Anpassungsschwierigkeiten oder mangelnder Rechtsumsetzung Vorkehrungen, etwa zur Verhängung von Sanktionen,115 getroffen werden. Zum anderen enthält die Beitrittsakte alle notwendigen116 Änderungen von Primär- und Sekundärrecht, zB von Vorschriften, in denen die Mitglieder explizit genannt werden.117 Im Primärrecht sind auch institutionelle Modifikationen, wie die Sitzzuteilung im Europäischen Parlament, vorzunehmen.118

d) Zustimmung aller Mitgliedstaaten 20 Kommt es zum Abschluss eines Beitrittsabkommens, ist dieses nach Maßgabe der allgemeinen völkerrechtlichen Regeln von allen Vertragsparteien zu ratifizieren (vgl Art 49 II 2 EUV). Es handelt sich somit – anders als beim Austrittsabkommen119 – um einen multilateralen Vertrag, an dem die Union selbst nicht beteiligt ist.120 Die Rechtswirkung des Beitritts tritt sodann nach Art 49 II 2 EUV und nach Maßgabe der Bestimmungen des Beitrittsabkommens mit dessen Inkrafttreten ein.121

_____ 112 Ausf Calliess/Ruffert/Cremer Art 49 EUV Rn 6 f; auch Schwarze/Herrnfeld Art 49 EUV Rn 13. Die Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Kroatien und die Anpassungen des EUV, AEUV und EAGV umfasst 55 Artikel, 9 Anhänge, ein Protokoll und eine Schlussakte (ABl 2012 L 112/21). 113 Zuletzt Art 18 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Kroatien iVm Anhang V Ziff 2. Die Möglichkeit der Aussetzung der Freizügigkeit für rumänische und bulgarische Unionsbürger nach dem Beitritt dieser Staaten zum 1. Januar 2007 über einen Zeitraum von sieben Jahren (Art 23 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Rumänien und Bulgariens und die Anpassungen der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht iVm Anhängen VI und VII, ABl 2005 L 157/104 [138, 203]), von der Deutschland Gebrauch gemacht hat, ist zum 1. Januar 2014 ausgelaufen. 114 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 55. 115 So hat Justizkommissarin Reding am 28. August 2013 gegenüber Kroatien angekündigt, auf Grundlage von Art 39 I der Beitrittsakte „geeignete Maßnahmen“ zB in Form von Finanzkürzungen wegen mangelnder Umsetzung der Auslieferungsregeln im Rahmen des Europäischen Haftbefehls zu ergreifen. 116 Fraglich ist im Verhältnis zu Art 48 EUV, ob auch nicht mit dem Beitritt zusammenhängende Vertragsänderungen bei dieser Gelegenheit erfolgen können; dafür Schwarze/Herrnfeld Art 49 EUV Rn 12 m Nachw zur Gegenauffassung. 117 Zum Sekundärrecht Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 50. 118 Streinz/Pechstein Art 49 EUV Rn 10; Schwarze/Herrnfeld Art 49 EUV Rn 12; ausf Grabitz/ Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 40. 119 S Rn 30. 120 Calliess/Ruffert/Cremer Art 49 EUV Rn 3. 121 Geiger/Khan/Kotzur/Geiger Art 49 EUV Rn 20. Roman Lehner

II. Begründung und Beendigung der Mitgliedschaft | 221

Die Ratifikation erfolgt – wie bei mehrseitigen Völkerrechtsverträgen üblich122 – durch Hinterlegung der Ratifikationsurkunde bei einem vertraglich zum Depositar bestimmten Unterzeichnerstaat; als Depositarin fungiert bei Beitrittsverträgen traditionell123 die Italienische Republik.124 Die Beitrittswirkung umfasst den Erwerb aller mitgliedschaftlichen Rechte und Pflichten,125 dh die Übernahme des gesamten europarechtlichen Besitzstands, 126 unbeschadet der Modifikationen und Übergangsregeln, die im Beitrittsabkommen vereinbart wurden.127 Infolge des Beitritts wird ferner das gesamte Abkommen in den Rang des Primärrechts erhoben, so dass die Änderung des bisherigen Primärrechts ex lege im Beitrittszeitpunkt erfolgt.128 Auch Änderungen an sekundärrechtlichen Vorschriften, bei denen infolge des Beitritts Anpassungen erforderlich sind, werden in der Beitrittsakte vorgenommen, was zu einer Sekundärrechtsetzung außerhalb der dafür regulär vorgesehenen Rechtsetzungsverfahren des AEUV führt.129 Umgekehrt muss eine neuerliche Änderung der betroffenen Sekundärrechtsakte nach den üblichen Verfahren möglich sein, hier muss daher der Aufstieg in den Primärrechtsrang unbedingt verhindert werden.130 Dies wird technisch durch die Aufnahme von Klauseln in die Beitrittsakte bewirkt,131 nach denen die Rechtsakte ihren Rechtscharakter bewahren und die in den Verträgen vorgesehen Verfahren zu ihrer Änderung anwendbar bleiben.132

_____ 122 Statt vieler Stein/von Buttlar/Kotzur Rn 66. 123 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 38; Geiger/Khan/Kotzur/Geiger Art 49 EUV Rn 19. Diese Tradition betrifft alle europäischen Verträge in Folge der Unterzeichnung der Römischen Verträge vom 25. März 1957; Art 247 I 2 EWGV und Art 224 I 2 EAG. Beim Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl kam die Depositarrolle noch der Französischen Republik zu (Art 99 I 2 EGKSV). 124 Zuletzt Art 4 des Vertrags über den Beitritt der Republik Kroatien vom 9. Dezember 2011, ABl 2012 L 112/10. 125 Geiger/Khan/Kotzur/Geiger Art 49 EUV Rn 22. 126 127 128 129 130

Statt vieler Schwarze/Herrnfeld Art 49 EUV Rn 11. S Rn 19, 61. Streinz/Pechstein Art 49 EUV Rn 12; Geiger/Khan/Kotzur/Geiger Art 49 EUV Rn 24. Ausf Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 50. Problem der sog „primärrechtliche[n] Versteinerung“ (Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49

EUV Rn 51). 131 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 51. 132 Zuletzt Art 7 II, III der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Kroatien und die Anpassungen des Vertrags über die Europäische Union, des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft vom 9. Dezember 2011, ABl 2012 L 112/21. Die Anfechtbarkeit dieser auf Primärrechtsebene erzeugten Sekundärrechtsvorschriften ist zwischen EuGH und Schrifttum umstritten (hierzu statt vieler Streinz/ Pechstein Art 49 EUV Rn 11 m zahlr Nachw). Roman Lehner

222 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

Da kein Beitrittsanspruch besteht,133 ist jeder Mitgliedstaat berechtigt, die Ratifizierung zu verweigern, selbst wenn er zuvor – etwa über seine Mitgliedschaftsrechte im Rat – der Aufnahme zugestimmt hat.134 Die Ratifizierung erfolgt gem Art 49 II 2 EUV nach Maßgabe der jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften. Wie auch an anderer Stelle verweist der EUV hier auf die Verfassungsvorschriften der Mitgliedstaaten, ohne dass damit eine echte unionsrechtliche Wirksamkeitsvoraussetzung für den Beitritt statuiert wird.135 Aus deutscher Sicht setzt die Ratifikation die gesetzliche Zustimmung von Bun22 destag und Bundesrat136 in entsprechender Anwendung von Art 23 I 2 GG voraus. Zwar macht die Erweiterung der Union um ein weiteres Mitglied für sich keine „Übertragung von Hoheitsrechten“ notwendig. Gleichwohl ist Art 23 GG als lex specialis zu Art 59 II 2 GG immer dann heranzuziehen, wenn überhaupt eine „Veränderung der textlichen Grundlagen des europäischen Primärrechts“ ansteht,137 also auch im Beitrittsfall.138 Fraglich ist, ob die Veränderungen der Sitz- und Stimmverteilung in den Europäischen Organen automatisch zu einer solchen Verschiebung von „Stellung und Gewicht der Bundesrepublik Deutschland […] im institutionellen Gefüge“ der Union führen, dass nach Art 23 I 3 GG stets die Voraussetzungen von Art 79 GG einzuhalten wären.139 Dann müssten Bundestag und Bundesrat das Zustimmungsgesetz zu jedem Beitritt nach Art 79 II GG mit Zweidrittel-Mehrheit beschließen. Die Bundesregierung hat bezüglich des Zustimmungsgesetzes zum Beitrittsvertrag mit Kroatien der ebendies einfordernden Stellungnahme des Bundesrats in ihrer Gegenäußerung widersprochen und klargestellt, dass eine „verfassungsändernde Wirkung“ iSd Art 23 I 3 GG nur dann in Betracht zu ziehen wäre, wenn es „zu einer strukturellen Minderung direkter Einwirkungsmöglichkeiten“ käme,140 was sicherlich nur 21

_____ 133 Geiger/Khan/Kotzur/Geiger Art 49 EUV Rn 2; Streinz/Pechstein Art 49 EUV Rn 2; Calliess/Ruffert/Cremer Art 49 EUV Rn 4; Schwarze/Herrnfeld Art 49 EUV Rn 3; Oppermann/Classen/ Nettesheim § 42 Rn 5. 134 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 38; Calliess/Ruffert/Cremer Art 49 EUV Rn 4; Geiger/Khan/Kotzur/Geiger Art 49 EUV Rn 2. 135 Zum Parallelproblem in Art 50 EUV s Rn 26. 136 Zuletzt das Gesetz zum Vertrag vom 9. Dezember 2011 über den Beitritt der Republik Kroatien zur Europäischen Union vom 14. Juni 2013 (BGBl II, S 586 ff). 137 So BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (355) – Lissabon. 138 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 49 EUV Rn 13; Geiger/Khan/Kotzur/Geiger Art 49 EUV Rn 18; Herdegen EuR § 6 Rn 8. Hiervon ging auch die Bundesregierung in ihrem Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag vom 9. Dezember 2011 über den Beitritt der Republik Kroatien zur Europäischen Union aus (BT-Drs 17/11872, S 1 [6]); aA von Münch/Kunig/Uerpmann-Wittzack Art 23 GG Rn 46. Zur Entstehungsgeschichte von Art 23 I 2 GG instruktiv Scholz NVwZ 1993, 817 (821 f). 139 So die Auffassung des Bundesrats bzgl des Zustimmungsgesetzes zum Beitrittsvertrag mit Kroatien (BT-Drs 17/11872, S 99 f). 140 BT-Drs 17/11872, S 101; ähnlich Oppermann/Classen/Nettesheim § 42 Rn 21; für eine grundsätzliche Anwendbarkeit von Art 23 I 3 GG Geiger ZG 2003, 193 (206 f). Roman Lehner

II. Begründung und Beendigung der Mitgliedschaft | 223

bei einem ganz erheblichen Absinken des deutschen Stimmgewichts infolge einer Vielzahl von Beitritten erwogen werden könnte. Regelmäßig macht die Ratifikation zahlreiche Rechtsanpassungen im nationalen Recht erforderlich, die idealerweise begleitend zum Zustimmungsgesetz vorgenommen werden.141

3. Austritt aus der Union a) Rechtszustand vor dem Vertrag von Lissabon Vor Inkrafttreten des Art 50 EUV herrschte Streit darüber, ob ein Austritt aus der 23 Union bzw den Gemeinschaften primärrechtlich erlaubt oder verboten war.142 Die Diskussion kreiste dabei um Art 312 EGV, wonach der EG-Vertrag „auf unbegrenzte Zeit“ gelten sollte.143 Hieraus wurde zT auf den Ausschluss eines einseitigen Austrittsrechts geschlossen.144 Der Streit war insofern akademischer Natur, als ein Austritt praktisch ohnehin kaum hätte verhindert werden können.145 Die Etablierung eines ausdrücklichen Austrittsrechts zeichnet somit lediglich die auch schon vorher bestehende politische Faktenlage nach.146 Auch heute wird von der Geltung der Verträge „auf unbegrenzte Zeit“ ausge- 24 gangen (vgl Art 53 EUV, 356 AEUV). Ob hierdurch ein echtes „Spannungsverhältnis“ zum Austrittsrecht besteht, das „einer Auflösung im Wege der Interpretation bedürfe“147, ist streitig.148 Diejenigen, die nach alter Rechtslage vom Fehlen eines Austrittsrechts ausgegangen sind, müssten der unbefristeten Vertragsdauer heute eine veränderte,149 nämlich gelockerte Bedeutung zumessen, nach der schlichtweg keine fixe Laufzeit vereinbart wurde.150 In der Rechtssache Costa hat der Europäische Gerichtshof die Autonomie des Gemeinschaftsrechts nicht zuletzt mit der Konstituierung der Gemeinschaft auf unbegrenzte Dauer begründet.151 Dieser Gesichtspunkt

_____ 141 Zuletzt das Gesetz zur Anpassung von Rechtsvorschriften des Bundes infolge des Beitritts der Republik Kroatien zur Europäischen Union vom 17. Juni 2013 (BGBl I, S 1555 ff). 142 Ausf Zeh ZEuS 2004, 173 (176 ff); Harbo Journal of Politics and Law 2008, 132 (140 ff). 143 ZB Fischer Rn 44: „ewige Verträge“. 144 Überblick bei Zeh ZEuS 2004, 173 (176 ff, insb Fn 23) sowie Bruha/Nowak AvR 42 (2004), 1 f; ausf Waltemathe S 32 ff. 145 So auch Calliess/Ruffert/Calliess Art 50 EUV Rn 22. 146 Blumann/Dubouis Droit institutionnel, Rn 74. 147 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 8. 148 Ablehnend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 8; befürwortend Calliess/Ruffert/ Calliess Art 50 EUV Rn 11. 149 Instruktiv Schwarze/Becker Art 50 EUV Rn 1. 150 Hierzu Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 8, wonach sich dies va aus dem Vergleich zum früheren Art 97 EGKSV ergebe, in welchem eine fünfzigjährige Laufzeit vorgesehen war. Für einen Bedeutungswandel in Richtung der schlichten „Negation einer fest vereinbarten Vertragszeit“ Bruha/Nowak AVR 42 (2004), 1 (16). 151 EuGH, Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L., Slg 1964, 1255 (1256 f.). Roman Lehner

224 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

dürfte heute Bedeutung für das Erfordernis von Austrittsverhandlungen haben,152 bei denen die Interessen der – auf zeitlich unbegrenzte Integration vertrauenden – Unionsbürger im Rahmen eines Austrittsabkommens bestmöglich zu berücksichtigen sind.153 Mit der auf Grundlage des Brexit-Referendums vom 23. Juni 2016 am 29. März 2017 schriftlich gegenüber dem Europäischen Rat erklärten Austritt durch das Vereinigte Königreich hat Art 50 EUV nun seinen ersten Anwendungsfall gefunden.

b) Rechtszustand unter dem Vertrag von Lissabon aa) Ausübung des Austrittserklärungsrechts 25 Art 50 I EUV normiert neben der Austrittsbefugnis das Austrittserklärungsrecht unter Verzicht auf materielle Beschränkungen mit Ausnahme des notwendigerweise „im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften“ vorhergehenden Austrittsbeschlusses. In einer gewissen Weise wird hier das unionsrechtliche Können zum Vollzug eines wirksamen Austritts an das verfassungsrechtliche Dürfen angekoppelt. Das Unionsrecht akzeptiert somit nur eine nach Maßgabe des nationalen Rechts verfassungskonforme Loslösung.154 Angesichts der demokratischen und rechtsstaatlichen Werte, auf denen die Union gründet (vgl Art 2 EUV) und die von den Mitgliedstaaten auch eingefordert werden können, verbürgt der Verweis auf die nationalen Verfassungsbestimmungen va eine demokratische Austrittswillensbildung.155 Nicht unproblematisch ist es, dass beim Brexit-Referendum britische Bürger, die mehr als 15 Jahre im (EU-) Ausland gelebt haben, von der Abstimmung ausgeschlossen waren; das EuG konnte sich hierzu in der Sache aber nicht äußern.156 Allerdings ist fraglich, ob es sich bei der Bezugnahme auf die verfassungs26 rechtlichen Vorschriften des Austrittskandidaten um eine „echte“ unionsrechtliche Austrittsvoraussetzung handelt. 157 Entstehungsgeschichtlich bedeutsam ist,

_____ 152 Ähnlich Calliess/Ruffert/Calliess Art 50 EUV Rn 12, wonach das „Spannungsverhältnis zu Art 53 EUV und Art 356 AEUV […] heute nur noch im Rahmen der Bedingungen des Austritts seine Wirkungen entfalten“ kann, wobei hieraus auch materielle Beschränkungen iS einer ultima-ratioFunktion folgen sollen; krit zur Einengung des Austrittsrechts Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 18. 153 S Rn 66 ff. 154 Geiger/Khan/Kotzur/Geiger Art 50 EUV Rn 2. 155 Arnull/Chalmers/Hillion S 126 (137). Nach britischem Verfassungsrecht besteht hier ein Letztentscheidungsrecht des Parlaments, vgl Supreme Court (UK), Rs R ./. Secretary of State for Exiting the EU (Rev 3) [2017] UKSC 5 (24 January 2017), Rn 121 ff; http://www.bailii.org/uk/cases/UKSC/ 2017/5.html. 156 Vgl EuG, Rs T-458/17 – Shindler, Rn 70. 157 Zur Vorgängernorm in Art I-60 VVE Bruha/Nowak AVR 42 (2004), 1 (7): „Mit dieser Vorschrift soll ein einseitig wahrnehmbares und gemeinschaftsrechtlich durch keine inhaltlichen VoraussetRoman Lehner

II. Begründung und Beendigung der Mitgliedschaft | 225

dass vergleichbare Formulierungen aus Art I-60 VVE zunächst herausgenommen werden sollten, um jeglichen Missverständnissen vorzubeugen.158 Art 50 EUV kann gleichwohl nicht als „tatbestandliche Bezugnahme“159 auf nationales Verfassungsrecht verstanden werden.160 Es erscheint ohnehin kaum vorstellbar, dass am Ende der Europäische Gerichtshof inzident die Einhaltung zB der Bestimmungen des Grundgesetzes überprüft, dies fiele schließlich auch vollends aus dem unionalen Zuständigkeitsbereich heraus.161 Eingedenk der Tatsache, dass die zeitlich vorangehende, nationale Austrittsentscheidung die Erklärung einer Rechtsfolge nach Maßgabe der jeweils maßgeblichen Verfassungsrechtsordnung darstellt, handelt es sich letztlich nur um einen deklaratorischen Verweis auf diesen Vorgang,162 mithin um eine Art umgekehrte – und an sich überflüssige – Rechtsfolgenverweisung.163 Im Ergebnis muss sich der Europäische Rat als Adressat der Austrittserklärung allein darauf verlassen können, dass der nationale Austrittsbeschluss nach Maßgabe des nationalen Staatsrechts wirksam erfolgte, was die Erklärung durch das verfassungsrechtlich hierfür vorgesehene Organ voraussetzt.164 Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Austrittserklärung der Bundesrepublik Deutschland durch das Bundesverfassungsgericht müsste im Rahmen von Art 50 I EUV zur Unbeachtlichkeit der Erklärung führen. Die Ausübung des Austrittserklärungsrechts erfolgt nach Art 50 II 1 EUV durch Mit- 27 teilung gegenüber dem Europäischen Rat und bewirkt die Einleitung des Austrittsverfahrens. 165 Während die Bedingungsfeindlichkeit der Erklärung wegen ihrer Gestaltungswirkung (vgl Art 50 III Hs 1 EUV) evident ist, ist die Frage nach der Wi-

_____ zungen eingeschränktes Recht auf Austritt aus der EU geschaffen werden [...].“ Ablehnend auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 19; Niedobitek/Ruth/Gold S 55 (61 ff). 158 Bruha/Nowak AVR 42 (2004), 1 (21 f) m Vw auf CIG 4/03 vom 6. Oktober 2003, Vermerk für die Gruppe der Rechtsexperten der Regierungskonferenz 2003, Redaktionelle und juristische Anmerkungen zu dem Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa – Basisdokument, S 126 f. Dort wird die Streichung des Tatbestandsmerkmals „gemäß seinen internen Verfassungsvorschriften“ vorgeschlagen, weil dies so verstanden werden könnte, „dass die Union zu prüfen hat, ob die internen Vorschriften eines Mitgliedstaats eingehalten wurden.“ 159 So Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 94 (zu Art 48 IV EUV); krit hierzu Niedobitek/Ruth/Gold S 55 (61). 160 Ablehnend Niedobitek/Ruth/Gold S 55 (61 f). 161 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 19; ebenso Vedder/Heintschel vHeinegg/Heintschel vHeinegg Art 50 EUV Rn 5; ausf Niedobitek/Ruth/Gold S 55 (61 f) auch mN zur Gegenmeinung. 162 Niedobitek/Ruth/Gold S 55 (63). 163 Gegen eine Rechtsgrundverweisung auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 19. 164 Arnull/Chalmers/Hillion S 126 (137); Thiele EuR 2016, 281 (294 f.); Streinz/Streinz Art 50 EUV Rn 4; offen lassend Rieder Fordham ILJ 37 (2013), 146 (155). 165 Streinz/Streinz Art 50 EUV Rn 6; Geiger/Khan/Kotzur/Geiger Art 50 EUV Rn 4. Roman Lehner

226 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

derrufbarkeit nicht eindeutig zu beantworten;166 die Regelung in Art 50 Abs 3 Hs 2 EUV spricht eher dagegen,167 das Eigeninteresse der Union eher dafür.168 In einem durch das oberste schottische Zivilgericht initiierten Vorabentscheidungsverfahren hat der Generalanwalt sich – gegen die Rechtsauffassung von Rat und Kommission – für die unilaterale Rücknehmbarkeit der Austrittserklärung, allerdings nur bis zum förmlichen Abschluss eines Austrittsabkommens, ausgesprochen.169 Die textuelle Unklarheit des Art 50 EUV auch in diesem zentralen Punkt mag man als versteckte primärrechtliche Erschwernis der Austrittsoption deuten: „Perhaps the lack of clarity is also a way to avoid making the clause too user- friendly and thereby encouraging its use.“170 Beide beteiligten Seiten, also Union und Austrittsstaat, unterliegen vom Zeitpunkt des Mitteilungszugangs an einem pactum de negotiando,171 wobei aus den wechselseitigen Loyalitätspflichten eine zusätzliche Pflicht zur besonderen Berücksichtigung der wechselseitigen Interessen folgt.172 Aus Unionssicht ist hier die Achtung der nationalen Identität nach Art 4 II 1 EUV zu nennen, welche sich im Falle des Art 50 EUV gerade im Austrittswunsch des Nationalstaats manifestiert und folglich einer schikanösen Verhandlungspolitik entgegensteht. Umgekehrt ist der austrittswillige Staat in besonderem Maße der Achtung all jener rechtlich geschützten Positionen verpflichtet,173 die Bürger anderer Mitgliedstaaten im Vertrauen auf die zeitlich unbegrenzte Unionszugehörigkeit des nunmehr scheidenden Staates erworben haben, indem sie sich etwa dort niedergelassen, unternehmerisch betätigt und Investitionen getätigt haben.

bb) Aushandlung eines Austrittsabkommens 28 Die Durchführung von Vertragsverhandlungen zwischen der Union und dem austrittswilligen Staat ist gem Art 50 II EUV keineswegs fakultativ. Die Verhandlungspflicht ist nunmehr primärrechtlich festgeschrieben174 und soll die Herstellung eines größtmöglichen Maßes an Rechtssicherheit für alle von einem Austritt Betroffenen bewirken.175 Mit der Aushandlungsverpflichtung geht freilich keine

_____ 166 Beides als sog common ground unstreitig gestellt in Supreme Court (UK), Rs R ./. Secretary of State for Exiting the EU (o Fn 155), Rn 26. Es steht zu vermuten, dass die britische Regierung dies zugestand, um eine Vorlage an den EuGH zu vermeiden. 167 Rieder Fordham ILJ 37 (2013), 146 (157); aA Thiele EuR 2016, 281 (295). 168 Skouris EuZW 2016, 806 (807). 169 EuGH, Rs C-621/18 – Wightman ua. 170 Arnull/Chalmers/Hillion S 126 (142). 171 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 15; ähnlich Schwarze/Becker Art 50 Rn 3. 172 Schwarze/Becker Art 50 Rn 2; ähnlich Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 17. 173 So auch Schwarze/Becker Art 50 Rn 7; Streinz/Streinz Art 50 EUV Rn 9. 174 Statt vieler Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 15. 175 S Rn 66 ff. Roman Lehner

II. Begründung und Beendigung der Mitgliedschaft | 227

Abschlussverpflichtung einher, andernfalls wäre Art 50 III Var 2 EUV insoweit überflüssig, da dort für das Wirksamwerden des Austritts subsidiär auf den Zeitpunkt des Ablaufs von zwei Jahren nach Zugang der Mitteilung nach Art 50 II 1 EUV abgestellt wird.176 Gleichwohl wird man im Sinne der wechselseitigen Loyalitätspflichten177 den Art 50 II 2 EUV so lesen müssen, dass ein Abkommen „über die Einzelheiten des Austritts“ abgeschlossen werden soll,178 zumal in diesem auch „der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird“, was vor allem für die vom Austritt betroffenen Bürger und Unternehmen von größter Bedeutung sein muss.179 Die Verhandlungspflicht verbietet es, von der Aushandlung eines Abkommens 29 von vornherein einvernehmlich abzusehen. Sie steht mithin nicht zur Disposition der Verhandlungsparteien. Ob diese im Ergebnis denn auch tatsächlich Parteien eines Austrittsabkommens werden, ist damit freilich noch nicht gesagt. Die Beendigung der Mitgliedschaft durch Zeitablauf nimmt dem Austrittskandidaten gerade den Druck, auf konsensualem Wege aus der Union auszuscheiden, obgleich er schon aus Gründen der Rechtssicherheit (Problem des sog „hard brexit“) und mithin aus Haftungsgründen180 auf eine Absprache, insbesondere auf eine umfassende Folgeregelung, bedacht sein sollte. Einmal kraft wirksamen Austritts zum Drittstaat181 mutiert, gelten für die Rückkehr in die Union allerdings keine Sonderkonditionen, es ist gem Art 50 V EUV das Beitrittsverfahren nach Art 49 EUV durchzuführen.182 Möglich ist es allerdings, bereits im Austrittsabkommen eine Wiedereintrittsbegünstigung zu verabreden.183 Die Rechtsnatur des Austrittsabkommens wird in Art 50 II EUV nur insoweit an- 30 gesprochen, als dass es sich um ein Abkommen der Union „mit diesem Staat“ handelt (Art 50 II 2 EUV). Unzweifelhaft ist hiermit ein bilateraler Vertrag gemeint, womit sich das Austrittsabkommen bereits im Hinblick auf die Vertragsparteien vom multilateralen Beitrittsabkommen unterscheidet.184 Infolgedessen ist auch der Inhalt des Austrittsabkommens im engeren Sinne beschränkt. Zwar sollen die „Einzelheiten des Austritts“ den Gegenstand des Abkommens bilden, soweit aber textliche Änderungen des Primärrechts anstehen, können diese nur von den übrigbleibenden Mit-

_____ 176 Streinz/Ohler/Herrmann S 49; Geiger/Khan/Kotzur/Geiger 50 EUV Rn 3; Streinz/Streinz Art 50 EUV Rn 3; aA Niedobitek/Ruth/Gold S 55 (73). 177 S Rn 58 ff. 178 Zu weitgehend Gussone S 218. 179 S dazu Rn 66 ff. 180 S Rn 68 f. 181 Differenzierend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 40. 182 Geiger/Khan/Kotzur/Geiger Art 50 EUV Rn 8; Streinz/Streinz Art 50 EUV Rn 16. 183 Ähnlich wohl Calliess/Ruffert/Calliess Art 50 EUV Rn 6. 184 Streinz/Streinz Art 50 EUV Rn 6; zu den Gründen Vedder/Heintschel vHeinegg/Heintschel vHeinegg Art 50 EUV Rn 6. Roman Lehner

228 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

gliedstaaten iRd Vertragsänderungsverfahrens vorgenommen werden.185 In einem weiteren Sinne können und sollen aber auch, insbesondere im Hinblick auf die Absteckung des künftigen Beziehungsrahmens (Art 50 II 2 EUV), neue Rechte und Pflichten begründet werden können, wobei man sich hier etwa an einem Nachbarschaftsabkommen iSd Art 8 II EUV orientieren kann.186 Dies macht deutlich, dass die Verhandlungsverpflichtung nicht nur im Interesse der Union primärrechtlich verankert ist, sondern auch dem Austrittsstaat die Chance bieten möchte, nicht gleich alle bestehenden Brücken187 abreißen zu müssen. Am 22. Mai 2017 ermächtigte der Rat auf Grundlage von Art 50 II EUV iVm Art 218 III AEUV die Kommission zur Aushandlung eines Austrittsabkommens mit dem Vereinigten Königreich. Da durch diesen Beschluss die Rechtsstellung britischer Unionsbürger noch nicht unmittelbar beeinträchtigt ist, erachtete das EuG eine hiergegen gerichtete Nichtigkeitsklage für unzulässig.188 Nach Einigung mit der britischen Regierung billigte der Europäische Rat am 25. November den ausgehandelten Abkommensentwurf189, so dass ein geordneter Austritt nach Zustimmung von Rat und Parlament (auf Unionsseite) sowie des britischen Parlaments erfolgen kann. Darin vorgesehen ist eine allgemeine Übergangsphase (bis zum 31. Dezember 2020), in der für das Vereinigte Königreich das Unionsrecht (von wenigen Ausnahmen abgesehen) verbindlich bleibt und es der Jurisdiktion des Gerichtshofs unterworfen ist, an politischen und rechtlichen Entscheidungen aber nicht mehr mitwirken kann (Art 126 f des Abkommens). Politisch brisant ist der im Protokoll zu Irland/ Nordirland vorgesehene sog back-stopMechanismus: Nach Art 1 IV 3 des Protokolls soll iR eines speziellen Übergangsregimes die Zollunion mit dem Vereinigten Königreich aufrechterhalten und sollen binnenmarktrelevante Vorschriften für Nordirland in Geltung bleiben, „unless and until they are superseded [...] by a subsequent agreement.“ Dies hat in Großbritannien die Befürchtung geweckt, dieser Mechanismus sei ‚schlimmer’ als die Unionsmitgliedschaft, weil eine einseitige Kündigungsmöglichkeit fehle. Angesichts der in Art 1 II des Protokolls betonten Wahrung der „essential State functions and territorial integrity of the United Kingdom“ und der in IV 1 getroffenen Feststellung, dass eine „permanent relationship“ hierdurch nicht begründet werden soll, wird man aber iSd Art 56 I lit a) WVK davon ausgehen müssen, dass ein Kündigungsrecht nicht ausgeschlossen sein soll, ggf kann ein solches über lit b) aus der Natur des Übergangsprotokolls abgeleitet werden. Auch an eine Analogie zu Art 50 EUV wäre zu denken.

_____ 185 Statt vieler Calliess/Ruffert/Calliess Art 50 EUV Rn 7. 186 Geiger/Khan/Kotzur/Geiger Art 50 EUV Rn 3; Streinz/Streinz Art 50 EUV Rn 9. 187 Zur Brückenmetapher, die wohl auf Kirchhof zurückgeht und den Eintrittsweg des europäischen Rechts beschreibt, Bruha/Nowak AVR 42 (2004), 1 (17) mwN. 188 EuG, Rs T-458/17 – Shindler. 189 Schlussfolgerungen, EUCO XT 20015/18, zum Entwurf eines „Withdrawal Agreement“ vom 14. November 2018, TF50 (2018) 55; vgl auch ABl 2019 C 66 I/1. Roman Lehner

II. Begründung und Beendigung der Mitgliedschaft | 229

Der Zeitpunkt der Austrittswirkung wird zunächst durch das Austritts- 31 abkommen selbst festgelegt (Art 50 III Var 1 EUV): Der Tag, den das Abkommen für sein Inkrafttreten vorsieht, ist hiernach auch für die Beendigung der Anwendung der primärrechtlichen Verträge, mithin für die Beendigung der Mitgliedschaft in der Union maßgeblich.190 Als weiteren Beendigungstatbestand sieht Art 50 III Var 2 EUV für den Fall einer Nichteinigung einen Zeitablauf von zwei Jahren ab Mitteilung des nationalen Austrittsbeschlusses vor, wobei nach dem letzten Halbsatz eine einvernehmliche Verlängerung dieser Frist möglich ist. Für den britischen Austritt wäre dies mit Ablauf des 29. März 2019 der Fall gewesen, infolge zweier Verlängerungen ist aktuell der 31. Oktober 2019 zum Austrittsdatum bestimmt.

cc) Wirksamwerden und Vollzug des Austritts Die Möglichkeit zur einseitigen Herbeiführung des wirksamen Austritts durch den 32 hierzu willigen Staat und notfalls auch ohne jedes Einvernehmen nach spätestens zwei Jahren (sog „Sunset Clause“)191 bildet das Kernstück des Austrittsrechts. Konstitutiv für das Verlassen des Unionsverbandes ist somit am Ende allein der Austrittswille des betroffenen Staates und nicht das Zustandekommen eines Abkommens. Gleichwohl erfolgt über Art 50 II, III EUV sowohl eine gewisse prozedurale, als auch materielle Überlagerung des Austrittsrechts, da die Pflicht zur Durchführung von Austrittsverhandlungen verbunden mit der zweijährigen Karenzzeit eine echte Beschränkung des „freien“ Rechts zur Loslösung darstellt. Dies erscheint im Hinblick auf den Souveränitätsvorbehalt zumindest rechtfertigungsbedürftig. Ausschlaggebend dürfte hier der Gesichtspunkt sein, dass ein ad hoc erfolgender Austritt die „wohlerworbenen“ Rechte und schützenswerten Interessen betroffener Unionsbürger und grundfreiheitsberechtigter Unternehmen praktisch vernichte und dass daher ein Zeitraum eröffnet werden muss, in dem der Austrittsstaat entweder in einem Austrittsabkommen diesbezüglichen Regelungen zustimmt oder in dem sich die Betroffenen auf die veränderte Situation einstellen können.192

_____ 190 Statt vieler Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 34. 191 Streinz/Streinz Art 50 EUV Rn 3; krit Vedder/Heintschel vHeinegg/Heintschel vHeinegg Art 50 EUV Rn 9. 192 Zur Notwendigkeit diesbezüglicher Absprachen Herbst GLJ 2005, 1775 (1757 f), der die Zweijahresfrist denn auch aus Sicht der Betroffenen für zu kurz bemessen hält; krit auch Vedder/Heintschel vHeinegg/Heintschel vHeinegg Art 50 EUV Rn 9 („problematische Lücke“); zum völkerrechtlichen Hintergrund der anerkannten Grundsätze über die sog „aquired rights“ Repasi S 8 ff. Roman Lehner

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c) Verfassungsrechtliche Austrittsberechtigung der Bundesrepublik Deutschland 33 Vom unionsrechtlichen Austrittsrecht ist die nach Maßgabe des nationalen Verfas-

sungsrechts zu beurteilende Austrittsberechtigung zu unterscheiden.193 Genauso wie die Souveränität der Mitgliedstaaten eine grundsätzliche Austrittsfreiheit europarechtlich einfordert, kann der souveräne Verfassungsstaat gemäß seiner eigenen Verfassungsrechtsordnung die Austrittsmöglichkeit an Bedingungen knüpfen oder gänzlich ausschließen. Art 23 I 1 GG verpflichtet alle deutschen Staatsorgane im Sinne einer Staatszielbestimmung194 „zur Verwirklichung eines vereinten Europas […] bei der Entwicklung der Europäischen Union“. Die Beteiligung an der Integration steht für sie „nicht in ihrem politischen Belieben“.195 Ein entsprechender Verfassungsauftrag lässt sich auch aus der Präambel ableiten.196 Allerdings ist das staatszielbestimmte „Integrationsziel“ interpretationsoffen und verweist keineswegs auf einen ganz bestimmten Modus der Integration und beschreibt keine Integrationsfinalität.197 Es besteht, wie bei jeder Staatszielbestimmung, ein weiter Gestaltungsspielraum.198 Umgekehrt wird man die Loslösung von einem bereits erreichten Entwicklungsstand verfassungsrechtlich nicht ins freie staatliche Gestaltungsermessen stellen können.199 Der Austritt Deutschlands aus der Union bei Anstreben einer bilateralen Anbin34 dung nach Schweizer Vorbild200 ließe sich zwar formal gesehen unter den Wortlaut von Art 23 I 1 GG fassen. Sinn und Zweck der Vorschrift würde ein beliebiger Austritt aber klar widersprechen. Auch wenn dem Grundgesetz keine „institutionelle Unions-Gewährleistung“ zu entnehmen ist,201 wäre eine Integrationsrevision mit dem Ziel einer losen Verbindung schon in Hinblick auf Art 23 I 2 GG, wo die spezifisch supranationale Organisationsform angesprochen ist,202 sinnwidrig. Insofern wäre

_____ 193 So auch Streinz/Streinz Art 50 EUV Rn 5. 194 Maunz/Dürig/Scholz Art 23 GG Rn 5, 50; Epping/Hillgruber/Heintschel vHeinegg Art 23 GG Rn 4; Sachs/Streinz Art 23 GG Rn 10. 195 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (346 f) – Lissabon [Hervor durch Verf]. Dezidiert Zuleeg NJW 2000, 2846 (2851): „Verfassungsgrundsatz der Mitgliedschaft in einem vereinigten Europa“. 196 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (346 f) – Lissabon, mit Verweis auf Schorkopf S 247; aus dem Schrifttum statt vieler Sachs/Streinz Art 23 GG Rn 10. 197 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (347) – Lissabon: „Das dem Deutschen Volk von der Präambel und von Art. 23 Abs. 1 des Grundgesetzes vorgegebene Integrationsziel sagt nichts über den endgültigen Charakter der politischen Verfasstheit Europas.“ So im Ergebnis auch Sachs/Streinz Art 23 GG Rn 11; von Münch/Kunig/Uerpmann-Wittzack Art 23 GG Rn 7; aA Everling FS Rudolf Bernhardt, 1995, S 1161 (1175 f), der einen Austritt durch die „Zielsetzung“ von Art 23 GG für grundsätzlich ausgeschlossen hält. 198 Explizit Sachs/Streinz Art 23 GG Rn 11. 199 Statt vieler Thiele EuR 2016, 281 (293 f). 200 S hierzu Rn 70. 201 So ausdrücklich Maunz/Dürig/Scholz Art 23 GG Rn 60. 202 In diesem Zusammenhang: von Münch/Kunig/Uerpmann-Wittzack Art 23 GG Rn 10. Roman Lehner

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ein „grundloser Austritt“ als staatsziel- und verfassungswidrig einzustufen.203 Ein mit Art 23 I 1 GG zu vereinbarender Grund läge vor, wenn ein deutscher Austritt zum Ziel hätte, gemeinsam mit anderen europäischen Staaten eine vollständig „blockierte EU“ zu verlassen, um im Rahmen eines neuen Zusammenschlusses die Integration voranzutreiben.204 Dabei ist zu gewärtigen, dass weder Art 23 GG noch die Präambel gemäß Art 79 35 III GG dem Zugriff vor Veränderungen des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen sind und somit das Europastaatsziel nicht der sog „Ewigkeitsgarantie“ unterliegt.205 Da ein Austritt zu einer „Rückholung“ der nach Maßgabe von Art 23 I 2 GG übertragenen Hoheitsrechte und so zu einer inhaltlichen Änderung des Grundgesetzes iSv Art 23 I 3 führte,206 wären im Gesetzgebungsverfahren die Voraussetzungen von Art 79 GG einzuhalten.207 Auch eine verfassungsrechtliche Austrittsverpflichtung könnte „im Extrem- 36 fall“ aus Art 23 I 3 iVm Art 79 III (iVm Art 20 GG) abgeleitet werden,208 wenn nämlich die Union nicht mehr gemäß den in Art 23 I 1 GG (sog „Strukturklausel“209) genannten Grundsätzen verfasst wäre oder in einer die deutsche Verfassungsidentität verletzenden Weise (sog „Verfassungsbestandsklausel“ gem Art 23 I 3 GG210) eigene (souveräne) Staatlichkeit beanspruchte.211

d) Teilaustritt? Art 50 EUV regelt nur den „Austritt aus der Union“, mithin die vollständige Loslö- 37 sung durch Beendigung aller mitgliedschaftlichen Rechte und Pflichten. Ein einseitiges Recht auf Teilaustritt, etwa nur aus der Wirtschafts- und Währungsunion (Euro- Austritt), ist nicht anzuerkennen.212 Gegen die Ableitung eines unilateralen

_____ 203 Calliess/Ruffert/Calliess Art 50 EUV Rn 4; zustimmend Thiele EuR 2016, 281 (293); weitergehend von Münch/Kunig/Uerpmann-Wittzack Art 23 GG Rn 10. 204 Calliess/Ruffert/Calliess Art 50 EUV Rn 23. 205 Statt vieler Jarass/Pieroth/Jarass Art. 23 GG Rn 12; indirekt auch Vedder/Heintschel vHeinegg/ Heintschel vHeinegg Art 50 EUV Rn 5; Zuleeg NJW 2000, 2846 (2851). 206 So Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 23, der von einer „quasi“ analogen Normanwendung ausgeht. 207 Calliess/Ruffert/Calliess Art 50 EUV Rn 4. 208 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 23; die Bundesrepublik nur in diesem Fall zum Austritt für berechtigt hält Zuleeg NJW 2000, 1846 (1851). 209 Sachs/Streinz Art 23 GG Rn 15, 16 ff. 210 Sachs/Streinz Art 23 GG Rn 15, 76 ff, insb 93. 211 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 23. Die Verfassungsmäßigkeit des Beitritts Deutschlands zur europäischen Währungsunion wurde gerade deswegen bejaht, weil die vertraglichen Regelungen einer „Lösung von der Gemeinschaft nicht entgegenstehen“ (BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 [204] – Maastricht). 212 Zur Unterscheidung von Unionsaustritt und „Euro“-Austritt in diesem Sinne auch Calliess/ Ruffert/Häde Art 140 AEUV Rn 51. Roman Lehner

232 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

Teilaustrittsrechts a maiore ad minus213 spricht schon der eindeutige Wortlaut der Vorschrift („aus der Union auszutreten“).214 Allerdings kann einvernehmlich die Wirkung eines Teilaustritts herbeigeführt werden, indem der austretende Staat und die Union nach Art 50 II EUV im Rahmen eines Austrittsabkommens den Verbleib in einzelnen Unionsbereichen vereinbaren. 215 Ebenso wäre es konstruktiv denkbar, einen Austritt nur „für eine juristische Sekunde“, verbunden mit einem sofortigen Wiedereintritt mit bereichsspezifischen opt- out- Klauseln durchzuführen.216 Für beide Varianten wäre aber die Mehrheit/ der Konsens der Mitgliedstaaten erforderlich, zudem müssten uU – so im Fall der an sich unumkehrbaren Währungsunion217 – die primärrechtlichen Grundlagen geändert werden.218 Als ultima ratio wäre an einen Rückgriff auf die an sich durch Art 50 EUV gesperrten völkervertragsrechtlichen Regeln, etwa den Wegfall der Geschäftsgrundlage (clausula rebus sic stantibus; Art 62 WVK) im Falle der (dauerhaften) Nichteinhaltung der EuroStabilitätskriterien, zu denken.219

4. Wiedereintritt 38 Der ausgetretene Staat ist wie jeder andere Drittstaat anzusehen.220 Der Wiederein-

tritt in die Union ist daher, wie Art 50 V EUV klarstellt, gemäß Art 49 EUV und den dort genannten Beitrittsvoraussetzungen zu behandeln221 und setzt insbesondere die Zustimmung aller verbliebenen Mitgliedstaaten in Form der Ratifikation eines mit der Union ausgehandelten Beitrittsabkommens (Art 49 II EUV) voraus. Insofern ist es konsequent, von einem „Neubeitritt“ zu sprechen.222 Womöglich soll Art 50 V EUV die politisch schwerwiegenden Implikationen eines Austritts verdeutlichen223 und entfaltet so eine gewisse Warnfunktion. Eine privilegierte Wiedereintrittsmög-

_____ 213 Dafür Herrmann EuZW 2010, 413 (417); Hobe Rn 201. 214 Diekmann/Bernauer NZG 2012, 1172 (1173). 215 Grundlegend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 30, der hierüber auch den „Austritt aus der Euro-Zone“ ermöglichen will; vorsichtig in diese Richtung denkend auch Calliess/Ruffert/ Calliess Art 50 EUV Rn 6. 216 Zu dieser Möglichkeit, bezogen auf einen Euro-Austritt Griechenlands über einen Wiedereintritt in die Union als „‚Mitgliedstaat mit Ausnahmeregelung‘ (Art 139 AEUV)“, Meyer EuR 2013, 334 (337). 217 Calliess/Ruffert/Häde Art 140 AEUV Rn 50 f. 218 So Calliess/Ruffert/Häde Art 140 AEUV Rn 52. 219 So Calliess/Ruffert/Häde Art 140 AEUV Rn 52; ähnlich Maunz/Dürig/Herdegen Art 88 GG Rn 27. 220 Calliess/Ruffert/Calliess Art 50 EUV Rn 6; differenzierend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 40 einerseits, Rn 42 andererseits. 221 Geiger/Khan/Kotzur/Geiger Art 50 EUV Rn 8; Schwarze/Becker Art 50 Rn 8; Streinz/Streinz Art 50 EUV Rn 16. 222 So etwa Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 50 EUV Rn 42. 223 So die Vermutung bei Streinz/Streinz Art 50 EUV Rn 16. Roman Lehner

II. Begründung und Beendigung der Mitgliedschaft | 233

lichkeit sieht der EUV nicht vor,224 nicht durch Art 50 EUV ausgeschlossen ist aber die bilaterale Vereinbarung eines erleichterten Wiedereintritts im Rahmen des Austrittsabkommens.225 Die „Finalität des Austritts“226 ist also disponibel. Im Fall der Sezession eines Landesteils von Mitgliedstaaten gelten die glei- 39 chen Grundsätze. Sollte also Katalonien aus dem spanischen Staatsverband ausscheiden, stünde einem (‚Wieder’-) Eintritt in die Union ein spanisches Veto entgegen. Zudem besteht eine Pflicht der Union zur Achtung der nationalen Identitäten nach Art 4 II 1 EUV, was, zumindest bei einer ohne Zustimmung des betroffenen Mitgliedstaates erfolgten Sezession, der Anerkennung eines unabhängigen Neustaats entgegenstehen dürfte. Entsprechend hat die Kommission in einem „Statement“ vom 2. Oktober 2017 das katalonische Unabhängigkeitsreferendum als Verstoß gegen die spanische Verfassung gebrandmarkt. 227 Selbst im Fall einer völkerrechtlich wirksamen Sezession könnte auch nicht von einem automatischen Verbleib des neuen Staates in der Union ausgegangen werden.228 Da Vertragspartei von EUV/ AEUV das Königreich Spanien ist und bei Abspaltung eines katalanischen Staats das Königreich um dieses Gebiet reduziert wäre,229 würden die Verträge dort keine Rechtswirkungen mehr entfalten.230

5. Ausschluss aus der Union Die Frage nach der Möglichkeit eines Ausschlusses von Mitgliedstaaten wegen 40 grob vertragswidrigen Verhaltens wurde vor Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags parallel zur Debatte um ein Austrittsrecht kontrovers beantwortet und allen-

_____ 224 Schwarze/Becker Art 50 Rn 8; Streinz/Streinz Art 50 EUV Rn 16. 225 S bereits Rn 29. 226 Calliess/Ruffert/Calliess Art 50 EUV Rn 6. 227 Statement/17/3626. 228 Zu all diesen Gesichtspunkten vgl bereits den diesbezügliche Schriftwechsel zwischen der Vizepräsidentin der Kommission und Justizkommissarin Reding und dem spanischen Europaminister Méndez de Vigo vom 2. und 4. Oktober 2012, veröffentlicht von El País am 30. Oktober 2012, S 1. Explizit nun auch: Statement/17/3626. Demgegenüber verweist Fassbender FAZ vom 26. Oktober 2017, S 6, auf Art 5 III und 3 III EUV. 229 Hier läge infolge der ausgewechselten Inhaberschaft der Gebietshoheit ein Fall sog „partieller [...] Staatensukzession“ vor (Ipsen/Epping § 25 Rn 5). Es greift dann der völkergewohnheitsrechtliche Grundsatz der „beweglichen Vertragsgrenzen“, wonach die vom „Vorgängerstaat“ abgeschlossenen Verträge den neuen Inhaber der Gebietshoheit grundsätzlich nicht binden (Stein/von Buttlar/Kotzur Rn 342; insb in Bezug auf die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen Herdegen VR § 29 Rn 3; aus europarechtlicher Sicht Streinz Rn 102). 230 Hummer Können Schotten, Flamen, Basken und Katalanen nach ihrer Unabhängigkeit in der EU verbleiben?, EU-Infothek-Kommentar vom 6. November 2012, der allerdings in praktischer Hinsicht darauf verweist, dass das sog „Screening“-Verfahren im (Wieder-) Beitrittsverfahren deutlich kürzer ausfallen dürfte. Instruktiv zum schottischen Fall Hofmeister EuR 2013, 711 (713 ff). Roman Lehner

234 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

falls in Ausnahmefällen und unter Rückgriff auf die Beendigungs- und Suspendierungsregelung in Art 60 II WVK bejaht.231 Die Austrittsklausel in Art 50 EUV hat hieran im Prinzip nichts geändert. Zwar kann hieraus keine „Rückwirkung für die Zulassung eines Ausschlusses“ im Unionsrecht selbst abgeleitet werden,232 denn Art 50 EUV ist klar auf die Fälle zugeschnitten, in denen die Initiative zu einer Loslösung vom betroffenen Mitgliedstaat ausgeht, so dass jede entsprechende Anwendung ausscheidet.233 Art 7 EUV hält in Bezug auf die in Art 2 EUV genannten Grundwerte der Union nur ein begrenztes Sanktionsregime für die Fälle schwerwiegender und anhaltender Verletzungen vor und berechtigt nicht zum Ausschluss.234 Nach Art 7 III kann nur die Aussetzung, nicht die Vernichtung der mitgliedschaftlichen Rechte angeordnet werden.235 Gleichwohl wird man – und insofern wirkt sich die Implementierung von Art 50 EUV mittelbar doch aus – einem potentiellen Rückgriff auf allgemeine völkerrechtliche Regelungen nicht mehr ohne weiteres die völlige Irreversibilität des Integrationsprozesses entgegenhalten können.236 Art 60 IV WVK steht dem Rückgriff ebenfalls nicht von vornherein entgegen,237 weil die Vertragsbestimmung des Art 7 EUV in ihrem Anwendungsbereich keine gänzliche „Exklusivität“ beansprucht.238 Gerade der Umstand, dass Art 7 EUV nur die Aussetzung von aus der Mitgliedschaft fließenden Rechten, nicht aber ihre Beendigung regelt, spricht dafür, zumindest in Extremsituationen,239 von einem weiterhin unionsrechtlich ungeregelten Ausnahmefall auszugehen. Anknüpfungspunkt für einen völkerrechtlichen Ausschluss müssen auch hier 41 die Grundwerte (Art 2 EUV) sein, denn nur deren Verletzung dürfte sich als „erhebliche Verletzung eines mehrseitigen Vertrags“ iSd Art 60 II WVK erweisen können und die Mitgliedstaaten zur Beendigung des Vertrags „im Verhältnis zwischen ihnen und dem vertragsbrüchigen Staat“ (Art 60 II lit a, Nr i WVK) berechtigen. Die Voraussetzungen hierfür sind aber vor dem Hintergrund des dauerhaften Verbindungszwecks (vgl Art 53 EUV, 356 AEUV) und der bereits erreichten Integrationstiefe besonders hoch anzusetzen. So wie letztere den Grund für die prozedurale und

_____ 231 Streinz Rn 107 ff; ausf Götting S 149 ff. 232 So Schwarze/Becker Art 50 EUV Rn 1. 233 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 7 EUV Rn 54. 234 Vedder/Heintschel vHeinegg/Heintschel vHeinegg Art 7 EUV Rn 24; Schweitzer/Hummer/ Obwexer Rn 144; Fischer Rn 46; Schroeder Grundkurs § 2 Rn 39. 235 S Rn 53 ff. 236 So Puttler EuR 2004, 669 (678); für eine Anwendbarkeit auch Schweitzer/Hummer/Obwexer Rn 145; aA Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 7 EUV Rn 54; Schwarze/Becker Art 50 EUV Rn 1; Schroeder Grundkurs § 2 Rn 39. 237 So aber Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 7 EUV Rn 54. 238 So im Hinblick auf die dort sog „Exklusivitätsthese“ Calliess/Ruffert/Ruffert Art 7 EUV Rn 30 f m zahlr Nachw auch zur Gegenansicht. 239 So auch Streinz/Streinz Art 50 EUV Rn 19; Fischer Rn 46. Roman Lehner

III. Rechte und Pflichten aus der Mitgliedschaft | 235

materielle Überlagerung des Austrittsrechts in Form von Verfahrensverpflichtungen (Art 50 II EUV) und der Wartefrist (Art 50 III Var 2 EUV) darstellt,240 muss die bislang eingetretene Verflechtung, insbesondere in Hinblick auf die bereits gebrauchten Grundfreiheiten und Unionsbürgerrechte, auch die Ausschlussmöglichkeiten vorzeichnen. Angesichts der massiven Folgen individueller Rechtsverluste für die betroffenen Bürger kann der Ausschluss nur als absolute ultima ratio in Betracht kommen. Zudem entfaltet Art 7 EUV eine gewisse Sperrwirkung in verfahrensrechtlicher 42 und materieller Hinsicht: Das Sanktionsverfahren muss bereits durchgeführt worden sein, zudem ist auch die „Sanktionsschwelle“241 vorgegeben.242 Unterhalb einer schwerwiegenden und anhaltenden Werteverletzung kommt kein Ausschluss, aber auch kein sonstiger Rückgriff auf völkerrechtliche Maßnahmen in Betracht.243 Der viel diskutierte Abbruch bilateraler Beziehungen mit Österreich im Jahr 2000244 als Reaktion auf die damalige Regierungsbildung wäre somit als unionsrechtswidrig einzustufen245 und bildet keine taugliche Blaupause zum künftigen Umgang mit ‚Sorgenkindern’. III. Rechte und Pflichten aus der Mitgliedschaft III. Rechte und Pflichten aus der Mitgliedschaft 1. Die „föderative Grundstruktur“ Obgleich die Union mangels eigener Staatlichkeit und angesichts der bei den Mit- 43 gliedstaaten verbliebenen Souveränität246 kein Bundesstaat ist und rechtlich auch nicht „staatsanalog“ oder als „Quasi“- Staat247 behandelt werden kann, besteht gleichwohl eine „föderative[n] Grundstruktur“.248 Diese kommt in Art 4 EUV zum Ausdruck,249 wo spezifisch „bündische“ Grundsätze und Verpflichtungen angespro-

_____ 240 S Rn 32. 241 Calliess/Ruffert/Ruffert Art 7 EUV Rn 32. 242 Zu beiden Punkten Calliess/Ruffert/Ruffert Art 7 EUV Rn 31 ff; für einen strengeren Vorrang wohl Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 113. 243 Calliess/Ruffert/Ruffert Art 7 EUV Rn 33. 244 Chronologie der Ereignisse bei Schmahl EuR 2000, 819 ff. 245 Calliess/Ruffert/Ruffert Art 7 EUV Rn 34; differenzierend Schmahl EuR 2000, 819 (832 ff). 246 S Rn 1, 4 ff. 247 Ausdrücklich BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (364 f, 368 f, 371, 420) – Lissabon; differenzierend BVerfG, 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 (306 f) – Ultra-vires-Kontrolle, Mangold. 248 Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy/Schill Art 4 EUV Rn 1. Dies anerkennt inzwischen auch das Bundesverfassungsgericht, wenn es von einer „stark föderalisierten und kooperativen Organisationsstruktur“ spricht (so BVerfG, 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 [306 f] – Ultra-vires-Kontrolle, Mangold). Von „föderativen Grundsätzen“ spricht Zuleeg NJW 2000, 2846; ähnlich Schroeder Grundkurs § 4 Rn 20; aus englischsprachiger Sicht Davies S 25. 249 Statt vieler Oppermann/Classen/Nettesheim § 4 Rn 23. Roman Lehner

236 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

chen sind. Insbesondere Art 4 III EUV sticht hervor (Prinzip der Unionstreue und der loyalen Zusammenarbeit).250 Rücksichtnahmepflichten zwischen der Union und den Staaten kennzeichnen eine Primärrechtslage, die über die völkervertragsrechtlich determinierten Treuepflichten hinaus ebenjene „föderative Grundstruktur“ konstituieren, welche die Union als engen Verbund von Staaten (aber auch ihrer/derer251 Bürger) auszeichnet.252 Im Angesicht zahlreicher Krisen hat die Kommission in ihrem „Weißbuch zur Zukunft Europas“ vom 1. März 2017 fünf unterschiedliche Szenarien aufgeworfen,253 von denen die Szenarien 2– 4 das Ziel einer allumfassenden „ever closer union“ mehr oder weniger stark in Frage stellen und somit das „Szenario einer pluralen Union“254 aufscheinen lassen.

2. Rechte der Mitgliedstaaten 44 Aus der Mitgliedschaft folgen zahlreiche, den Mitgliedstaaten zuzuordnende Rech-

te, deren Geltendmachung, insbesondere gegenüber der Union und deren Organen, letztlich als Ausdruck der bei den Nationalstaaten verbliebenen Souveränität255 angesehen werden kann.

a) Recht auf Einhaltung der unionalen Kompetenzordnung 45 Die unionale Kompetenzordnung, die auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung beruht256 und daher der Union lediglich im Falle vertraglich verliehener

_____ 250 Die Begriffe können nach zustimmungswürdiger Auffassung durchaus synonym gebraucht werden, weil dem Begriff der Unionstreue trotz seiner Nähe zu jenem der Bundestreue nicht zwangsläufig der Aspekt von Bundesstaatlichkeit innewohnt, er vielmehr als Verweis auf die föderative Verbundstruktur der Union verstanden werden kann; so zutreffend Calliess/Ruffert/Kahl Art 4 EUV Rn 30 ff, insb 33, auch m Nachw zur Begriffskritik. Zur Bedeutung dieses Absatzes für die föderative Struktur Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy/Schill Art 4 EUV Rn 1. 251 Hier sind bewusst zwei Bedeutungsebenen der Bürgerschaft im Staatenverbund angesprochen, da die Unionsbürgerschaft einerseits „nur“ akzessorisch zur mitgliedstaatlichen Staatsangehörigkeit besteht, andererseits aber eine gewisse Verselbstständigung stattgefunden hat, die das souveräne Loslösungsrecht der Mitgliedstaaten womöglich relativiert; s Rn 66 ff. 252 Zur Verbundstruktur Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy/Schill Art 4 EUV Rn 1; ähnlich Oppermann/Classen/Nettesheim § 4 Rn 2; zur stärker nationalstaatlich-souveränitätsorientierten Konstruktion eines „Staatenverbundes“ BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (349 f, 379) – Lissabon; grundlegend BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (181 ff) – Maastricht; sowie die verfassungstheoretische Begründung des Berichterstatters im Maastricht-Verfahrens vBogdandy/Bast/Kirchhof S 1009 (1019 ff). 253 COM (2017) 2025. 254 Schorkopf S 9 (16). 255 S Rn 1, 4 ff. 256 Ausf Streinz/Streinz Art 5 EUV Rn 8 ff. Roman Lehner

III. Rechte und Pflichten aus der Mitgliedschaft | 237

Kompetenzen Verbandszuständigkeit zuweist, ist nicht nur Ausdruck objektiv verbindlichen Primärrechts, sondern korrespondiert mit dem Recht jedes einzelnen Mitgliedstaates auf Einhaltung der grundlegenden Kompetenzverteilungsregeln und somit auch auf Wahrung der je eigenen Kompetenzordnung.257 Da das mitgliedschaftliche Grundverhältnis souveränitätsorientiert angelegt ist,258 müssen die Mitgliedstaaten ihre Kompetenzhoheit unionsrechtlich einfordern können.259 Nach Art 4 I iVm Art 5 EUV260 ist die Entscheidung für den Verbleib aller nicht vertraglich „übertragenen“261 Zuständigkeiten – ausdifferenziert in die Teilprinzipien Enumerationsprinzip, Subsidiaritätsprinzip und Verhältnismäßigkeitsprinzip (vgl Art 5 I EUV) – die alles bestimmende „Geschäftsgrundlage“262 im föderativen Kompetenzverbund der Union. Außerhalb der vertraglichen Kompetenzgrundlagen – also ultra vires263 – zustande gekommene unionsrechtliche Maßnahmen sind nichtig und können von den Mitgliedstaaten, in Wahrnehmung ihrer Kompetenzhoheit, vor dem Europäischen Gerichtshof im Wege der Nichtigkeitsklage (vgl Art 263 II AEUV) angegriffen werden.264

_____ 257 Dieser Gedanke liegt auch der (privilegierten) Möglichkeit der Mitgliedstaaten nach Art 263 II AEUV zur Erhebung der Nichtigkeitsklage wegen „Verletzung der Verbandskompetenz“ zugrunde; hierzu Streinz/Ehricke Art 263 AEUV Rn 73. 258 S Rn 3 f. 259 Zur Justiziabilität statt vieler Streinz/Streinz Art 5 EUV Rn 18, 38 ff auch m Hinw auf die verringerte Kontrolldichte bzgl der sog Subsidiaritätsklage nach Art 8 des Subsidiaritätsprotokolls. Für den Notfall behält sich das Bundesverfassungsgericht die verfassungsrechtliche Überprüfung der Anwendbarkeit eines aus der Kompetenzordnung „ausbrechenden Rechtsakts“ vor; BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (188) – Maastricht; BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (353 ff) – Lissabon. 260 Die an sich unnötige normative Doppelung lässt sich wohl mit der „Kompetenzangst“ vieler Mitgliedstaaten erklären; so pointiert Mayer ZaöRV 2007, 1141 (1165); hierauf verweisen auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Bast Art 5 EUV Rn 2 (Fn 1); Calliess/Ruffert/Calliess Art 4 EUV Rn 4. 261 Der Begriff der Übertragung ist nicht unproblematisch, da über Art 23 I 2 GG technisch gesehen kein Übergang von Souveränitätsbefugnissen erfolgt, sondern vielmehr infolge des Zustimmungsgesetzes ein nationaler Rechtsanwendungsbefehl bezüglich unionaler Rechtsakte und ein damit korrespondierender Souveränitätsausübungsverzicht ausgesprochen wird (instruktiv Jarass/ Pieroth/Jarass Art 23 GG Rn 23 m Hinw auf die Verfassungsrechtsprechung). 262 Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy/Schill Art 4 EUV Rn 51, allerdings für Art 4 III EUV mwN. 263 Zur ultra-vires-Kontrolle BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 [354] – Lissabon. In der ersten Anwendung dieser Kontrolle hat das Gericht aber hohe Hürden aufgebaut und setzt voraus, dass die Inanspruchnahme einer unionsrechtlichen Kompetenzvorschrift durch ein Unionsorgan erfolgt, die „bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar“ ist (so BVerfG, 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 [LS 3] – Ultra-vires-Kontrolle, Mangold). Das Verfahren betraf ausgerechnet einen Rechtsfortbildungsakt des Europäischen Gerichtshofes selbst, der aber durch Zubilligung eines „Anspruch[s] auf Fehlertoleranz“ gegenüber dem Gerichtshof unterhalb der verfassungsrechtlichen Kontrollschwelle gehalten werden konnte. Aus jüngerer Zeit: BVerfG, 2 BvR 2728/13 ua, BVerfGE 142, 123 – OMT. 264 Statt vieler Streinz/Ehricke Art 263 AEUV Rn 75. Roman Lehner

238 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

b) Recht auf Achtung der Gleichheit 46 Die Gleichheit der Mitgliedstaaten (vgl Art 4 II 1 EUV) spiegelt das dem gesamten

Völkerrecht zugrunde liegende Prinzip der Staatengleichheit 265 wider. 266 Dieses rechtfertigt die Beeinträchtigung der Wahlrechtsgleichheit, die durch den die Sitzverteilung im Europäischen Parlament steuernden Grundsatz der degressiven Proportionalität (vgl Art 12 II 2 EUV) eintritt267, was nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts freilich Ausweis defizitärer demokratischer Legitimation ist.268 Aber auch in tradierten Bundesstaaten ist die Gleichheit aller Gliedstaaten als Verfassungsprinzip anerkannt269 und rechtfertigt die Verminderung des Erfolgswerts von Wahlstimmen aus bevölkerungsreichen Staaten.270 Umgekehrt ist im Rat als eigentlichem „Bindeglied zwischen Union und den Mitgliedstaaten“271 und Vertretungsorgan der Regierungen der Mitgliedstaaten (vgl Art 16 II EUV) eine stimmrechtliche Berücksichtigung der Bevölkerungsstärken vorgesehen (vgl Art 16 IV und V EUV), wodurch der völkerrechtliche Gleichheitsgrundsatz aufgebrochen wird.272 Auch der Verzicht auf das Einstimmigkeitserfordernis (vgl Art 16 III EUV) zeigt, dass sich die Gleichheit der Mitgliedstaaten, letztlich mit Rücksicht auf die Funktionsfähigkeit eines Integrationsverbands, ein ganzes Stück von der „souveränen Gleichheit“ des Völkerrechts gelöst hat.273 In Hinblick auf den Gleichachtungsanspruch aus Art 4 II 1 EUV sind beide Modifizierungen unbedenklich, da lediglich die Gleichheit „vor den Verträgen“ garantiert wird.274 Innerhalb des Vertragsregimes sind willkürliche Ungleichbehandlungen etwa bei der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens,275 zumindest ab einem bestimmten Grad,276 als Verletzung der „statusrechtliche [n] Gleichheit“277 anzusehen.

_____ 265 Vgl Stein/von Buttlar/Kotzur Rn 522 ff. 266 Streinz/Streinz Art 4 EUV Rn 13. 267 Statt vieler, wenn auch krit, Calliess/Ruffert/Ruffert Art 9 EUV Rn 27. 268 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (373 ff) – Lissabon. 269 Streinz/Streinz Art 4 EUV Rn 13 m Hinw auf Deutschland; Grabitz/Hilf/Nettesheim/ vBogdandy/Schill Art 4 EUV Rn 6 m Hinw auch auf die Schweiz, die USA und Österreich. 270 Schönberger Der Staat 48 (2009), 535 (547 f) m Hinw auf die Bundesverfassungen der USA und der Schweiz sowie Lehner Der Staat 52 (2013), 535 (555 ff). Zur schweizerischen bikameralen Unterteilung des Parlaments in National- und Ständerat, wonach Volk und Stände gleichermaßen repräsentiert werden und somit die Bürgergleichheit neben die Staatengleichheit tritt, Ehrenzeller/ Mastronardi/Schweizer/Vallender/Mastronardi Art 148 BV Rn 10. 271 Herdegen EuR § 7 Rn 17. 272 Statt vieler Calliess/Ruffert/Calliess Art 16 EUV Rn 15. 273 Calliess/Ruffert/Puttler Art 4 EUV Rn 11. 274 Streinz/Streinz Art 4 EUV Rn 13 (Fn 49); Calliess/Ruffert/Puttler Art 4 EUV Rn 12. 275 Streinz/Streinz Art 4 EUV Rn 13. 276 Differenzierend Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy/Schill Art 4 EUV Rn 7 m Hinw auf EuGH, Rs C-118/07 – Kommission / Finnland, Rn 48. 277 Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy/Schill Art 4 EUV Rn 7; Streinz/Streinz Art 7 EUV Rn 13. Roman Lehner

III. Rechte und Pflichten aus der Mitgliedschaft | 239

Daneben bringt Art 4 II 1 EUV auch die Gleichwertigkeit der Mitgliedstaaten 47 ungeachtet ihrer mitunter sehr verschiedenen Verfassungsstrukturen zum Ausdruck und bildet so „den europäischen Verfassungspluralismus als Verfassungsprinzip“ ab.278 In diesem genuin normativen Gehalt kann der Gleichachtungsanspruch dann auch als Grenze der unionsrechtlichen Wertevorgaben (Art 2 iVm 7 EUV) gesehen werden;279 der Gleichwertigkeitsanspruch führt mithin zu einer Abschwächung der unionalen Homogenitätsvorgaben.280

c) Recht auf Achtung der nationalen Identitäten Mit Identität ist in erster Linie Verfassungsidentität gemeint (vgl Art 4 II 1 Halbs 2 48 EUV).281 Insoweit besteht – legt man das vom Bundesverfassungsgericht im Wege der Grundgesetzauslegung gewonnene Institut des „unantastbaren Kerngehalts der Verfassungsidentität“282, aber auch vergleichbare Verfassungsauslegung durch andere mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte, 283 zugrunde – eine bemerkenswerte Parallelität284 zwischen dem unionsrechtlich- mitgliedschaftlichen Achtungsanspruch und den verfassungsrechtlichen Integrationsgrenzen, wie sie in Deutschland aus Art 23 I 3 iVm Art 79 III GG abgeleitet werden. Als Rechtsanspruch richtet sich die „Identitätsklausel“285 gegen die Union und ihre Organe286 und kann als Kompetenzausübungsgrenze287 von den Mitgliedstaaten vor dem Europäischen Gerichtshof geltend gemacht werden288. Zu nennen ist hier etwa die Berufung auf ganz grundlegende nationale Verfassungsentscheidungen, wenn es um die Rechtfer-

_____ 278 So Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy/Schill Art 4 EUV Rn 9; ähnlich Blumann/Dubouis Droit institutionnel, Rn 84: „égalité souveraine des États“. 279 Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy/Schill Art 4 EUV Rn 9. 280 So auch Vedder/Heintschel vHeinegg/Heintschel vHeinegg Art 7 EUV Rn 8. 281 Statt vieler Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy/Schill Art 4 EUV Rn 14 f; ähnlich Streinz/ Streinz Art 4 EUV Rn 14. 282 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (353) – Lissabon; hierzu Grabitz/Hilf/Nettesheim/ vBogdandy/Schill Art 4 EUV Rn 20 ff (insb 23 f, 27). 283 Überblick bei Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy/Schill Art 4 EUV Rn 22, 25 f; sowie bei Streinz/Streinz Art 4 EUV Rn 14 (Fn 59). 284 Vedder/Heintschel vHeinegg/Vedder Art 4 EUV Rn 7; Calliess/Ruffert/Puttler Art 4 EUV Rn 17; Streinz/Streinz Art 4 EUV Rn 14; ausf Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy/Schill Art 4 EUV Rn 20 ff (insb Rn 28). 285 Grabitz/Hilf/Nettesheim/von Bogdandy/Schill Art 4 EUV Rn 3. 286 Streinz/Streinz Art 4 EUV Rn 11; Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy/Schill Art 4 EUV Rn 5; bereits zu Art 6 III EUV in der Fassung des Maastrichter Vertrages Schwarze/Stumpf Art 6 EUV Rn 38. 287 Vedder/Heintschel vHeinegg/Vedder Art 4 EUV Rn 20. 288 Calliess/Ruffert/Puttler Art 4 EUV Rn 22. Roman Lehner

240 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

tigung der Einschränkung von Grundfreiheiten durch mitgliedstaatliche Rechtsakte geht.289 Letztlich geht es schlicht um die Rücksichtnahme auf die „nationalen Besonderheiten, […] die über die gemeinsamen Werte hinausgehen“290 49 Unberührt davon und keineswegs ausgeschlossen ist indes die Herausbildung einer eigenständigen europäischen Identität,291 jedenfalls solange diese gegenüber den nationalen Identitäten in einem ergänzenden und nicht ersetzenden Sinn angestrebt wird. Insofern ist ein diesbezüglich erwähnenswertes Beispiel,292 nämlich die Garantieerklärung293 zugunsten europäischer politischer Parteien in Art 10 IV EUV, ausgesprochen treffend, weil die Ausbildung eines genuin europäischen Parteienwesens dem europäischen Demokratieraum nur zuträglich sein kann, ohne dass damit zugleich eine Verdrängung 294 des nationalen Politikraums 295 zu befürchten stünde. Die nationale Identitätsgarantie wird in Art 4 II 1 Halbs 2 EUV überdies auf die regionalen und lokalen Selbstverwaltungsstrukturen erstreckt,296 unabhängig davon ob diese auf „regionaler“ Ebene, wie in Deutschland297, in eigener Staatlichkeit verfasst sind oder, wie etwa in Frankreich298, in dezentralen Untergliederungen eines ansonsten einheitlichen Staatswesens zum Ausdruck kommen.299

_____ 289 Instruktiv Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy/Schill Art 4 EUV Rn 18 m Hinw ua auf EuGH, Rs C-36/02 – Omega, Rn 33 ff (Schutz der Menschenwürde nach Art 1 GG als Rechtfertigungsgrund für Einschränkungen der Dienstleistungsfreiheit in Bezug auf sog „Laserdrome“- Anlagen), vgl auch Streinz/Streinz Art 4 EUV Rn 5; Vedder/Heintschel vHeinegg/Vedder Art 4 EUV Rn 21. 290 Streinz/Streinz Art 4 EUV Rn 14. 291 So Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy/Schill Art 4 EUV Rn 46; zum Zusammenhang von europäischer Identität und europäischer Bürgerschaft Preda/Pasquinucci/Bombardelli S 279 ff. 292 Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy/Schill Art 4 EUV Rn 46. 293 Vgl Streinz/Huber Art 10 EUV Rn 56 f. 294 So ist Art 10 IV EUV auch nicht als harmonisierungstaugliche Kompetenznorm zu verstehen (Streinz/Huber Art 10 EUV Rn 60). 295 Insofern ist die Sichtweise des Bundesverfassungsgerichts kritisch zu sehen, wonach der nationale Verfassungsraum zwingend als politischer „Primärraum“ ausgestaltet sein und bleiben müsse und daher eine gleichberechtigte, zwischen Mitgliedstaaten und Union aufgeteilte demokratische Legitimation ausscheiden soll (BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (349 ff, insb 381 f, 411) – Lissabon). 296 Zur Bedeutung Vedder/Heintschel vHeinegg/Vedder Art 4 EUV Rn 14 f; Geiger/Khan/Kotzur/ Geiger Art 4 EUV Rn 3. 297 Zur Eigenstaatlichkeit der Länder BVerfG, 2 BvN 1/69, BVerfGE 36, 342 (360 f) – Niedersächsisches Landesbesoldungsgesetz; BVerfG, 2 BvF 1/83, BVerfGE 72, 330 (385 ff) – Finanzausgleich I. 298 vdGroeben/Schwarze/Hatje/Obermüller Vorbemerkung zu den Art 305–307 AEUV Rn 7 ff; zur Dezentralisation Pactet/Mélin-Soucramanien S 327 ff. 299 Calliess/Ruffert/Puttler Art 4 EUV Rn 20; Streinz/Streinz Art 4 EUV Rn 16; Vedder/Heintschel vHeinegg/Vedder Art 4 EUV Rn 13. Roman Lehner

III. Rechte und Pflichten aus der Mitgliedschaft | 241

d) Recht auf Achtung der grundlegenden Staatsfunktionen Nach Art 4 II 2 EUV werden im Rahmen einer sog „Staatsfunktionengarantie“300 50 die Grundmerkmale souveräner Staatlichkeit (territoriale Unversehrtheit, nationale „Letztverantwortung“301 für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit) zum Gegenstand unionaler Achtungspflichten302 erklärt. Hier geht es letztlich um die Kernfunktionen staatlichen Handelns, die bei den Mitgliedstaaten verbleiben sollen.303

e) Recht auf Mitwirkung Die Gleichheit der Mitgliedstaaten in statusrechtlicher Hinsicht setzt sich insbeson- 51 dere in ihrem Recht auf gleichberechtigte Mitwirkung in den Organen und Institutionen der Union fort. In ihrer Eigenschaft als „Träger der Union“ äußert sich die Möglichkeit effektiver Wahrnehmung der eigenen Interessen in entsprechender Interessenvertretung in den Organen. Am deutlichsten zum Ausdruck kommt dies bei der Zusammensetzung des Europäischen Rates (vgl Art 15 II 1 EUV) als Hauptleitungsorgan der Europäischen Union sowie des Rates (vgl Art 16 II EUV). Die Stimmrechte und sonstige Mitwirkungsrechte der Mitgliedstaaten in diesen Organen304 können im Rahmen des Suspendierungsverfahrens nach Feststellung „eine[r] schwerwiegende[n] und anhaltende[n] Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat“ ausgesetzt werden (vgl Art 7 II iVm III 1 EUV).305 Das Europäische Parlament dient der Repräsentation der Bürger der Union 52 (vgl Art 14 II 1 EUV), die Unionsbürgerschaft ist indes – gewisser Verselbstständigungstendenzen zum Trotz – dem Grunde nach akzessorisch an die Staatsangehörigkeit angebunden, so dass indirekt auch das Parlament als Repräsentationsort der mitgliedstaatlichen Interessen angesehen werden kann. Die Sitzverteilung nach dem Grundsatz der degressiven Proportionalität mit Mindest- und Höchstsitzzahlen je Staat (vgl Art 14 II 3 und 4 EUV) verdeutlicht augenfällig, dass die Unionsbürger weiterhin primär als Bürger der Mitgliedstaaten wahrgenommen werden. Die Abgeleitetheit der unionalen Organisationsordnung zeigt sich ferner im Prinzip der „organschaftlichen Einzelermächtigung“ (vgl Art 13 II 1 EUV), wonach den Unionsorganen – parallel zur beschränkten Verbandskompetenz der Union – nur von den

_____ 300 Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy/Schill Art 4 EUV Rn 29. 301 Streinz/Streinz Art 4 EUV Rn 17. 302 Zum Anspruchsinhalt Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy/Schill Art 4 EUV Rn 33 ff; Calliess/ Ruffert/Puttler Art 4 EUV Rn 22; Vedder/Heintschel vHeinegg/Vedder Art 4 EUV Rn 16 ff. 303 Geiger/Khan/Kotzur/Geiger Art 4 EUV Rn 4. 304 Hervorgehoben ist in Art 7 III UAbs 1 S 1 letzter Halbs EUV die Möglichkeit der Stimmrechtssuspendierung in Bezug auf den Rat, nach zutreffender Ansicht ist aber auch der Europäische Rat einzubeziehen (Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 7 EUV Rn 43). 305 S Rn 53. Roman Lehner

242 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

Mitgliedstaaten primärrechtlich zugewiesene Kompetenzen zukommen können. Schließlich zeigt auch die Zusammensetzung der Kommission aus „je einem Staatsangehörigen jedes Mitgliedstaates“ (vgl Art 17 IV EUV), dass diese auch ohne mitgliedstaatlichen Bestellungsakt (vgl Art 17 VII EUV) zumindest in politischer Hinsicht der „Repräsentation“ statusgleicher Mitgliedstaaten dient.306

f) Suspendierung von Mitgliedschaftsrechten 53 Aus dem weitschichtigen Pflichtenbündel sticht die Achtungspflicht in Bezug auf die grundlegenden Werte der Union (vgl Art 2 EUV)307 hervor. Ihre prominente Stellung rechtfertigt es, bei ganz erheblichen Verstößen die Suspendierung mitgliedschaftlicher Rechte auszusprechen. Im Gegensatz zum Ausschluss aus der Union, der nach völkerrechtlichen Kautelen zu beurteilen und allenfalls subsidiär zum Verfahren nach Art 7 EUV in Betracht kommen kann,308 geht es hier nicht um die Beendigung sondern um die zeitweise Aussetzung der grundsätzlich bestehen bleibenden Mitgliedschaftsrechte.309 Dem Aussetzungsverfahren (vgl Art 7 II– IV EUV) ist auf einer ersten Verfahrensstufe (Art 7 I EUV) ein Vorfeldmechanismus vorgelagert310, der dem Verfahren zur Feststellung einer Werteverletzung (Art 7 II EUV) und dem daran anschließenden, eigentlichen Suspendierungsverfahren (Art 7 III EUV) regelmäßig311 vorausgehen wird. Auf dieser ersten Stufe kann durch den Rat die „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte“ festgestellt werden. Zwar bringt diese Feststellung „keine operativen Folgen“312 im engeren Sinne mit sich,313 sondern hat vielmehr eine Warnfunktion („Frühwarnsystem“).314 Wie

_____ 306 Streinz/Streinz Art 13 EUV Rn 20. Ab dem 1. November 2014 sollten nach Art 17 V EUV indes nur noch zwei Drittel der Mitglieder auf einmal „repräsentiert“ werden, wobei eine gleichberechtigte Berücksichtigung aller Staaten über ein Rotationssystem gewährleistet werden sollte (ausf Grabitz/Hilf/Nettesheim/Martenczuk Art 17 EUV Rn 85 ff). Die Einführung dieses Systems scheiterte, da Irland eine stete Berücksichtigung zugesagt wurde und ein Beschluss auf Grundlage von Art 17 V 1 letzter Halbs EUV zur Beibehaltung des alten Systems gefasst wurde (ebd, Rn 82 f, 85). 307 S Rn 57. 308 S Rn 40. 309 Statt vieler Vedder/Heintschel vHeinegg/Heintschel vHeinegg Art 7 EUV Rn 26; ähnlich Geiger/Khan/Kotzur/Geiger Art 7 EUV Rn 3. 310 Ausf Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 7 EUV Rn 19 ff; Calliess/Ruffert/Ruffert Art 7 EUV Rn 7 ff; Kaczorowska-Ireland S 67. 311 Die Durchführung des Vorfeldverfahrens ist keine zwingende Voraussetzung für die Schritte nach Art 7 II ff EUV: Streinz/Pechstein Art 7 EUV Rn 10; Calliess/Ruffert/Ruffert Art 7 EUV Rn 14; Vedder/Heintschel vHeinegg/Heintschel vHeinegg Art 7 EUV Rn 17. Gleichwohl wird grundsätzlich aus Verhältnismäßigkeitsgründen zunächst das mildere Mittel eines Beschlusses ohne echte Sanktionswirkung heranzuziehen sein (Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 7 EUV Rn 48). 312 Streinz/Pechstein Art 7 EUV Rn 9. 313 Insbesondere sind weitergehende Sanktionen ausgeschlossen (Grabitz/Hilf/Nettesheim/ Schorkopf Art 7 EUV Rn 28 m Hinw auf den Fall Österreichs im Jahr 2000. Österreich hat sich denn Roman Lehner

III. Rechte und Pflichten aus der Mitgliedschaft | 243

ernst das Unionsrecht bereits die Feststellung einer solchen Gefährdungslage nimmt, zeigt sich darin,315 dass gemäß dem Protokoll Nr 24316 zum Vertrag von Lissabon317 ab der Phase der Einleitung des Vorfeldverfahrens die gesetzliche Vermutung, ein sicherer Herkunftsstaat zu sein (vgl § 29a II Var 1 AsylG), entfällt, so dass die Möglichkeit zur materiellen Prüfung des Asylantrags eines Staatsangehörigen des betroffenen Staates in den anderen Mitgliedstaaten ausnahmsweise eröffnet ist. Die Beschlusszuständigkeit für das Verfahren nach Art 7 I EUV liegt beim Rat, der mit 4/5Mehrheit entscheidet (vgl Art 7 I 1 EUV). Obgleich Art 7 I EUV bereits als Vorfeldverfahren konstruiert ist, hat die Kommission im Jahr 2014 den sog Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzip318 installiert, um in einer weiter vorgelagerten Phase, gleichsam als ‚Frühestwarnsystem’, den Eintritt einer rechtsstaatlichen Gefährdungslage im Dialog mit dem betroffenen Staat verhindern zu können. Auch hier sind drei Stufen vorgesehen, die eine Sachstandsanalyse, eine Empfehlung und – idealiter – Abhilfemaßnahmen seitens des betroffenen Staates umfassen. Im Januar 2016 wurde der Rahmen in Bezug auf Polen und die dort seit 2015 ins Werk gesetzte Justizreform erstmalig aktiviert, verfehlte indes aus Sicht der Kommission sein Ziel; im Dezember 2017 legte sie dem Rat gem Art 7 I EUV einen begründeten Vorschlag zum Erlass eines Vorfeldbeschlusses vor.319 Im September 2018 hat das Europäische Parlament, nach Art 7 I EUV ebenfalls initiativberechtigt, im Wege einer Entschließung einen begründeten Vorschlag in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn vorgelegt.320 Der Vorfeldbeschluss kann gem Art 7 I UAbs 1 S 2 EUV mit Empfehlungen (Art 288 V AEUV) versehen werden; die beiden Vorschläge zu Polen und Ungarn sehen hierfür jeweils eine dreimonatige Abhilfefrist vor. Das Aussetzungsverfahren ist in zwei Phasen gegliedert: Das Feststellungsbe- 54 schlussverfahren nach Art 7 II und das eigentliche Suspendierungsverfahren nach

_____ auch besonders für die verfahrensmäßige Formalisierung der Vorfeldmaßnahmen in Art 7 I EUV ausgesprochen (hierzu Streinz/Pechstein Art 7 EUV Rn 5; Schwarze/Stumpf Art 7 EUV Rn 3; Geiger/Khan/Kotzur/Geiger Art 7 EUV Rn 1; Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 122; Vedder/Heintschel vHeinegg/Heintschel vHeinegg Art 7 EUV Rn 5; Hummer/Pelinka S 105 f). 314 Schwarze/Stumpf Art 7 EUV Rn 3; Streinz/Pechstein Art 7 EUV Rn 9. Aus diesem Grund sind nach Art 7 I 2 EUV auch Empfehlungen an den betroffenen Staat vorgesehen (hierzu Calliess/ Ruffert/Ruffert Art 7 EUV Rn 12; Schwarze/Stumpf Art 7 EUV Rn 3). 315 Zum Folgenden Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 7 EUV Rn 27; zum gleichgelagerten Rechtszustand bereits vor dem Lissabonner Vertrag Schwarze/Stumpf Art 7 EUV Rn 7. 316 Protokoll Nr 24 über die Gewährung von Asyl für Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl 2016 C 202/304). 317 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 13. Dezember 2007, ABl 2007 C 306. 318 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat vom 11. März 2014 „Ein neuer EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“, COM(2014) 158 final. 319 COM(2017) 835 final. 320 PA_TA- PROV(2018)0340. Roman Lehner

244 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

Art 7 III. Die förmliche Feststellung der „schwerwiegende[n] und anhaltende[n] Verletzung“ der grundlegenden Unionswerte erfolgt nach Art 7 II EUV – nach Zustimmung des Europäischen Parlaments – durch den Europäischen Rat in einstimmiger321 Entscheidung, was die gesteigerte Bedeutung gegenüber Art 7 I verdeutlicht. Ob die hierdurch mögliche Veto- Position eines einzelnen Staats im Fall der Anhängigkeit eines Art 7- Verfahrens auch gegen diesen (Fall eines Veto- Bündnisses)322 durch die Einleitung eines Doppelverfahrens umgangen werden kann, erscheint angesichts des Wortlauts des Art 354 I AEUV („den betroffenen Mitgliedstaat“) höchst zweifelhaft.323 Wie auch nach Art 7 I UAbs 1 S 2 ist der betroffene Staat anzuhören (vgl Art 7 II letzter Halbs EUV). Die Abfassung eines Feststellungsbeschlusses nach Art 7 II EUV ist zwingende Voraussetzung für die – nun mehr mit qualifizierter Mehrheit mögliche – Beschließung der Aussetzung einzelner Mitgliedschaftsrechte nach Art 7 III.324 Aussetzbar sind vor allem Stimm- und Mitwirkungsrechte325 in den Organen, in denen de jure die Mitgliedstaaten als Staaten repräsentiert werden, also im Rat/ Europäischen Rat326, nicht aber im Europäischen Parlament oder in der Kommission,327 weil hier im juristischen Sinne keine Repräsentation der Mitgliedstaaten erfolgt. Bei alledem ist die Verhältnismäßigkeit besonders ins Blickfeld zu rücken,328 55 zumal wenn, wie bei der Aussetzung finanzwirksamer Rechte,329 die Interessen der Bürger tangiert werden, was seinerseits im Rahmen des Auswahlermes-

_____ 321 Allerdings darf, wie auch schon nach Art 7 I EUV, der betroffene Staat nicht an der Abstimmung teilnehmen (Art 7 V EUV iVm Art 354 AEUV), so dass seine Stimme nicht zur Herstellung der Einstimmigkeit notwendig ist (instruktiv Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 115). 322 Aktuell haben sich Polen und Ungarn gegenseitig die Vetoausübung zugesagt. Heinemann Intereconomics 53 (2018) 6, 297, spricht von einem ‚Kartell‘. 323 Ließe man eine solche Verfahrensverbindung zu, so wäre theoretisch – ausgehend von 28 Mitgliedstaaten – ein kollusives Zusammenwirken zwischen der Kommission und einem Mitgliedstaat möglich, um in einem Verfahren gegen die 27 übrigen Mitgliedstaaten mit einer Stimme deren Rechte suspendieren zu können. 324 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 7 EUV Rn 48; Vedder/Heintschel vHeinegg/Heintschel vHeinegg Art 7 EUV Rn 23; Schwarze/Stumpf Art 7 EUV Rn 6. 325 So werden in Art 7 III UAbs 1 S 1 die Stimmrechte im Rat genannt, aber auch alle weiteren Teilhaberechte, wie etwa das Anwesenheitsrecht, können suspendiert werden (Streinz/Pechstein Art 7 EUV Rn 19; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 7 EUV Rn 43). 326 Streinz/Pechstein Art 7 EUV Rn 19; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 7 EUV Rn 43. 327 Calliess/Ruffert/Ruffert Art 7 EUV Rn 24. 328 Streinz/Pechstein Art 7 EUV Rn 19; Schwarze/Stumpf Art 7 EUV Rn 6; Haratsch/Koenig/ Pechstein Rn 117; Kaczorowska-Ireland S 68. 329 Hierfür Hummer/Obwexer EuZW 2000, 485 (488); w Nachw bei Streinz/Pechstein Art 7 EUV Rn 19 (Fn 28). Beispiele hierfür liefern auch Calliess/Ruffert/Ruffert Art 7 EUV Rn 25 („z. B. aus dem Titel der Agrar-, Fischerei- und Strukturpolitik“) sowie Lenz/Borchardt/Bitterlich Art 7 EUV Rn 8 („insb aus dem Strukturfonds“ [im Original hervorgehoben]). Roman Lehner

III. Rechte und Pflichten aus der Mitgliedschaft | 245

sens330 durch den Rat zu berücksichtigen331 ist (vgl Art 7 III UAbs 1 S 2 EUV). Nach Art 7 IV EUV kann wiederum der Rat bei Änderung der Lage im sanktionierten Staat den Aussetzungsbeschluss abändern oder aufheben, bei wesentlicher Verbesserung der Lage ist er hierzu verpflichtet.332 Zum Verhältnis zum Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (Art 258 AEUV) findet sich in den Verträgen kein Hinweis, aus teleologischen Gründen ist davon auszugehen, dass Art 7 EUV für Verletzungen des Art 2 EUV das einzig probate Sanktionsmittel darstellt.333 Insofern nicht unproblematisch erscheint der Versuch, etwaige Rechtsstaatsdefizite haushaltsrechtlich zu sanktionieren,334 zumal zweifelhaft ist, ob die Kompetenzgrundlage (Art. 322 Abs. 1 AEUV) derartige Maßnahmen trägt. Umgekehrt kann der Gerichtshof durch den betroffenen Staat zur Rechtmäßigkeitsüberprüfung nach Art 269 AEUV angerufen werden, nach Art 269 I ist aber der Prüfungsumfang insoweit reduziert, als nur die „Einhaltung der […] Verfahrensbestimmungen“ kontrolliert werden kann, was eine Inzidentprüfung zur Frage der Verletzung von Art 2 EUV ausschließt.335

3. Pflichten der Mitgliedstaaten Den genannten Rechten stehen auch Pflichten der Mitgliedstaaten gegenüber, wel- 56 che aus dem Unionsrecht (zumeist aus dem Primärrecht) fließen und das Mitgliedschaftsverhältnis obligatorisch ausgestalten. An dieser Stelle sind die grundlegenden Mitgliedschaftspflichten anzuführen.

a) Pflicht zur Achtung der grundlegenden Werte der Union Materiell- rechtlich besteht die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die grundlegen- 57 den Werte aus Art 2 EUV zu achten. Mit der Nennung der Basiswerte der Union

_____ 330 Hierzu Streinz/Pechstein Art 7 EUV Rn 19; Schwarze/Stumpf Art 7 EUV Rn 6; Vedder/Heintschel vHeinegg/Heintschel vHeinegg Art 7 EUV Rn 24; Calliess/Ruffert/Ruffert Art 7 EUV Rn 25. 331 Instruktiv Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 7 EUV Rn 44. 332 Calliess/Ruffert/Ruffert Art 7 EUV Rn 23. 333 Calliess/Ruffert/Ruffert Art 7 EUV Rn 29; Vedder/Heintschel vHeinegg/Heintschel vHeinegg Art 7 EUV Rn 29. Nicht ausgeschlossen sind Verfahren bzgl einzelner Maßnahmen, die in ihrer Gesamtheit Art 2 EUV tangieren. So hat die Kommission gegenüber Polen 2017 und 2018 zwei Vertragsverletzungsverfahren in Bezug auf zwei Justizgesetze ua wegen Verletzung von Art 19 I EUV und Art 47 GR-Charta eingeleitet, vgl Rs C-192/18 und C-619/18. Im zweiten Fall erging am 19.10.2018 eine einstweilige Anordnung zur Aussetzung des Gesetzes über den Obersten Gerichtshof (C-619/18 R). Die durch das Gesetz zwangspensionierten Richter waren wieder zum Dienst zuzulassen, am 21. November 2018 erließ der Sejm ein entsprechendes Gesetz. 334 Vgl COM(2018) 324. Hierzu näher Heinemann Intereconomics 53 (2018) 6, 297 ff. 335 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 269 AEUV Rn 5. Roman Lehner

246 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

(Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Wahrung der Menschen- und Minderheitenrechte) kommt der Wandel des reinen Staatenverbunds zu einem „Werteverbund“ sinnfällig zum Ausdruck.336 Die Norm ist Bezugspunkt für das Verfahren zur Aussetzung der Mitgliedschaftsrechte337 und konstituiert somit die am stärksten sanktionsbewehrte Pflichtenregelung der Verträge. Daneben sind in Art 2 S 2 EUV auch gesellschaftliche Werte angesprochen, deren rechtliche Bedeutung aber unklar ist.338

b) Rechtstreue, Unionstreue und Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit 58 Art 4 III EUV verpflichtet die Mitgliedstaaten zur loyalen Zusammenarbeit innerhalb

der Union, dh im Verhältnis zur Union sowie in Beziehung zu den übrigen Mitgliedstaaten.339 Die dort genannte Loyalitätsverpflichtung bildet dabei den Grundsatz, der in der Verpflichtung zur Unionsrechtstreue (Art 4 III UAbs 2)340 – also der eigentlichen „Vertragserfüllungspflicht“ 341 – sowie in weitergehenden Unterstützungs- und Unterlassungsverpflichtungen (Art 4 III UAbs 3)342 konkretisiert wird. Teilweise wird in diesem Zusammenhang auch von einem die Loyalitätsverpflichtung überwölbenden, allgemeinen Grundsatz der Unionstreue ausgegangen, der als europarechtliches Pendant zum bundesstaatlichen Bundestreuegrundsatz in Art 4 III EUV zum Ausdruck kommen und zahlreichen Einzelvorschriften der Verträge zugrunde liegen soll.343 Im Zentrum steht die der Union als „Rechtsunion“344 immanente Pflicht aller 59 Mitglieder zur Achtung und Wahrung des Unionsrechts, insbesondere zur Sicherstellung der Geltung aller unionalen Vorschriften auf dem jeweiligen Mitglied-

_____ 336 So Calliess JZ 2004, 1033 (1042); Calliess/Ruffert/Calliess Art 2 EUV Rn 14; ähnlich Streinz/ Ohler/Herrmann S 79; instruktiv Doerfert Rn 40. Zur Genese der „Werteklausel“ Blumenwitz/Gornig/ Murswiek/Rensmann S 49 (55 ff). 337 Statt vieler Bieber/Epiney/Haag/Kotzur/Epiney § 2 Rn 67. 338 Streinz/Ohler/Herrmann S 79 f; instruktiv auch Calliess/Ruffert/Calliess Art 2 EUV Rn 30. 339 Zur „dreidimensionalen Struktur“ Calliess/Ruffert/Kahl Art 4 EUV Rn 46. 340 Den Begriff unionsrechtstreuen Verhaltens verwendet auch Karakostas/Riesenhuber/Wank S 15 (28). 341 Constantinesco S 295. 342 Überblick bei Fischer Rn 260; ausf Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Marauhn § 7 Rn 43 ff; grundlegend Constantinesco S 297. 343 So Calliess/Ruffert/Kahl Art 4 EUV Rn 30 f auch m Hinw auf kritische Stimmen; zustimmend Zuleeg NJW 2000, 2846 (2847). Zu den Grenzen der Übertragung von Bundestreuegrundsätzen instruktiv Unruh EuR 2002, 41 (60 f); Blumann/Dubouis Droit institutionnel, Rn 143 f. 344 Zur Herkunft des von Hallstein geprägten Begriffs der „Rechtsgemeinschaft“ Piela S 60 ff. Den Begriff der „Rechtsunion“ verwendet inzwischen auch der EuGH; EuGH, Rs C-550/09 – E und F, Rn 44; hierzu vBogdandy/Kottmann/Antpöhler/Dickschen/Hentrei/Smrkolj ZaöRV 72 (2012), 45 (76). Roman Lehner

III. Rechte und Pflichten aus der Mitgliedschaft | 247

staatsgebiet345 (sog Prinzip der „einheitlichen Geltung und Anwendung des Unionsrechts“346). Hauptpflicht ist dabei die Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten (Art 291 I AEUV),347 etwa in Form der fristkonformen und effektiven348 Umsetzung von Richtlinien,349 der Befolgung eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs350 oder der Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts.351 Die konkreten Pflichten zur Rechtswahrung sowie zur Unterstützung der Union bzw zur Unterlassung vertragsgefährdender Tätigkeiten sind mannigfaltig und können letztlich jeden Bereich staatlichen Handelns betreffen. Die im Zuge der sog Flüchtlingskrise zu beobachtenden Erosionen der Durchführungsund Normbefolgungsbereitschaft einzelner Mitgliedstaaten352 dürfte augenblicklich zu den schwerwiegendsten Problemen der Union zählen. Im Verhältnis der Mitglieder untereinander353 ist der Loyalitätsgrundsatz mit 60 dem Prinzip der wechselseitigen Solidarität verwandt bzw geht in diesem auf,354 wobei Umfang und Grenzen des Bestehens von Beistands- und Solidaritätsverpflichtungen im Einzelnen zu bestimmen sind.355

c) Opt-out- und Opt-in-Regelungen Art 50 EUV geht von einem vollständigen Eintritt in die mitgliedschaftliche Rechte- 61 und Pflichtenstellung und somit von der Unteilbarkeit der Mitgliedschaft aus.356 Gleichwohl bestehen in der politischen Wirklichkeit seit jeher Notwendigkeiten zur Modifizierung der einheitlichen Pflichtengeltung. So konnte die dritte Stufe der Währungsunion nur eingeleitet werden, nachdem Großbritannien und Dänemark von der Verpflichtung zur Euro-Einführung freigestellt wurden.357 Das

_____ 345 Streinz/Streinz Art 4 EUV Rn 33, 46 f; Blumann/Dubouis Droit institutionnel, Rn 162. 346 Streinz/Streinz Art 4 EUV Rn 33; vgl EuGH, Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L., Slg 1964, 1251 (1270). 347 Statt vieler Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Marauhn § 7 Rn 28. 348 Ausf Schwarze/Hatje Art 10 EUV Rn 17; Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Marauhn § 7 Rn 32 ff. 349 Bieber/Epiney/Haag/Kotzur/Epiney § 2 Rn 66; differenzierend Zuleeg NJW 2000, 2846 (2847). 350 Calliess/Ruffert/Kahl Art 4 EUV Rn 58. 351 vdGroeben/Schwarze/Hatje/Obwexer Art 4 EUV Rn 116 ff. 352 Exemplarisch: Weigerung Ungarns zur Befolgung eines die Wirksamkeit der sog Flüchtlingsumverteilungsbeschlüsse bestätigenden Urteils durch den EuGH (becklink 2007739). 353 Grundlegend EuGH, Rs 32/79 – Kommission / Vereinigtes Königreich; Rs 42/82 – Kommission / Frankreich, Rn 36 (hierzu vdGroeben/Schwarze/Hatje/Obwexer Art 4 EUV Rn 150 ff). 354 Zum Verhältnis Calliess/Ruffert/Kahl Art 4 EUV Rn 41; Streinz/Regelsberger/Kugelmann Art 24 EUV Rn 9; Unruh EuR 2002, 41 (63). 355 S Rn 65. 356 S Rn 10. 357 Keine Freistellung von der Euro- Einführung erfolgte gegenüber dem Königreich Schweden. Das schwedische Fernbleiben als Folge eines negativen Referendums (2003) wird von der Union – trotz formal bestehender Verpflichtung Schwedens – bis auf weiteres geduldet. Roman Lehner

248 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

rechtstechnische Instrument stellen sog Opt-out-Regelungen dar, die in Protokollvereinbarungen zu den primärrechtlichen Vertragswerken fixiert werden. Eine Opt-out-Regelung lässt sich in diesem Sinn als primärrechtliche Erlaubnis an einen Mitgliedstaat definieren, „sich in einem bestimmten Bereich nicht an gemeinschaftlich vereinbarter Zusammenarbeit zu beteiligen.“358 Theoretisch können in allen Unionsbereichen derartige Ausnahmen vereinbart 62 werden, als „Durchbrechungen des Grundsatzes der einheitlichen Geltung und Wirkung der Verträge“359 sind sie integrationspolitisch nicht unbedenklich. Europarechtlich kommt in ihnen letztlich aber die Herrschaft der Mitgliedstaaten über die Verträge zum Ausdruck.360 Eine Regelung kann auch so ausgestaltet sein, dass der betreffende Staat sich (zunächst) an einem Politikbereich nicht beteiligt, eine spätere Beteiligung aber vorbehalten bleibt (opt-in).361

d) Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Koordination 63 Neben den rechtsstaatlichen und werteorientierten Verpflichtungen, sind noch die

ökonomischen Verpflichtungen hervorzuheben. Nach Art 119 I AEUV werden die Mitgliedstaaten zur Einhaltung gewisser wirtschaftlicher Prinzipien verpflichtet,362 wozu vor allem der „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ (vgl Art 119 I aE AEUV) zu zählen ist. Auch die in diesem Absatz normierte Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken ist letztlich Ausdruck einer mitgliedschaftlichen Pflichtenstellung:363 Der einzelne Mitgliedstaat unterliegt in der Ausgestaltung seiner Nationalökonomie bestimmten Bindungen, die notwendige – wenn offenkundig in puncto Bindungsumfang, Durchsetzbarkeit und Sanktionsfähigkeit noch nicht ausreichende364 – Bedingung für das Funktionieren des europäischen Währungsraumes sind.365

_____ 358 Bergmann/Grupp S 744. 359 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 51 EUV Rn 14. 360 So auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 51 EUV Rn 14. 361 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr Art 51 EUV Rn 17 m zahlr Bsp. 362 Ausf Calliess/Ruffert/Häde Art 119 AEUV Rn 8 f. 363 Statt vieler Frenz Rn 795: „Koordinierungsgebot“. 364 Vor diesem Hintergrund sind daher die Maßnahmen im Rahmen des sog Europäischen Semesters zu sehen, die eine weitergehende Koordinierung und regelmäßige Kontrolle der Wirtschaftsund Haushaltspolitik vorsehen (Bergmann/Kainer S 1077). 365 Frenz Rn 796; hierzu auch Bergmann/Kainer S 1073 f. Roman Lehner

IV. Mitgliedschaft und Rechte der Unionsbürger | 249

e) Beistands- und Solidaritätspflichten Im Zusammenhang mit der horizontalen Beziehungsebene des Loyalitätsgrundsat- 64 zes (Art 4 III EUV)366 ist der Solidaritätsgrundsatz367 zu sehen. Er ist in weiteren Vertragsvorschriften angesprochen, so etwa in Art 2 EUV, aber auch in Art 122 AEUV.368 Nach Art 122 II AEUV kann nur bei „außergewöhnliche[n] Ereignisse[n], die sich der Kontrolle des betreffenden Mitgliedstaates entziehen“, finanzieller Beistand gewährt werden. Auf diese Vorschrift wurden die Maßnahmen zum vorläufigen Euro- Stabilisierungsmechanismus, der sog Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF), gestützt.369 Nunmehr ist mit Art 136 III AEUV eine Rechtsgrundlage für die Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) geschaffen worden.370 Die wechselseitigen Beistandsverpflichtungen sind in ihrem Umfang noch nicht abschließend geklärt.371 Insbesondere im Hinblick auf finanzielle Hilfen wird man aber von einem grundsätzlichen Primat der Eigenverantwortlichkeit der Mitgliedstaaten (vgl Art 125 AEUV) ausgehen müssen.372 IV. Mitgliedschaft und Rechte der Unionsbürger IV. Mitgliedschaft und Rechte der Unionsbürger Das Verhältnis von Mitgliedschaftsrecht und der Unionsbürgerschaft mitsamt den 65 an sie angekoppelten Berechtigungen ist nur in Hinblick auf die Begründung der subjektiven Rechte der Mitgliedstaatsangehörigen eindeutig: Der Erwerb der Unionsbürgerrechte durch die Angehörigen eines europäischen Staates folgt dem Erwerb der Unionsmitgliedschaft durch den betreffenden Staat (vgl Art 20 I 2 AEUV).373 Die Unionsbürgerschaft ist daher akzessorisch zur nationalen Staatsbürgerschaft.374 Aus ihr ergibt sich für den Einzelnen vor allem ein weitgehendes Recht zum freien Zug innerhalb des gesamten Unionsgebiets (Art 21 AEUV), daneben be-

_____ 366 S Rn 60. 367 Grundlegend Gussone S 169 ff; Lais S 146 ff. 368 Übersicht bei Potacs EuR 2013, 133 (137 ff). 369 Statt vieler Bergmann/Schröder S 391. 370 Beschluss 2011/199 des Europäischen Rates vom 25.3.2011, ABl 2011 L 91/1. Der ESM-Vertrag vom 2.2.2012 trat bereits am 27.9.2012 in Kraft (BGBl 2012 II 1086). Dies war jedoch unschädlich, da der EuGH der Ergänzung von Art 136 AEUV im Hinblick auf den ESM nur deklaratorischen Wert beigemessen hat (EuGH, Rs C-370/12 – Pringle, Rn 184). Der Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (SKSV = Fiskalpakt) wurde am 2.3.2012 abgeschlossen; er ist am 1.1.2013 in Kraft getreten (BGBl 2013 II 162). Beide Verträge sind durch entsprechende Zustimmungsgesetze (BGBl 2012 II 981, 1006) umgesetzt worden. 371 Überblick bei Doerfert Rn 31 ff. 372 Potacs EuR 2013, 133 (138). 373 Schroeder Grundkurs § 13 Rn 4; Fischer Rn 380 f. 374 Schroeder Grundkurs § 13 Rn 4; Fischer Rn 380 f; ausf Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Giegerich § 9 Rn 19 ff. Roman Lehner

250 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

stehen die speziellen Marktfreiheiten, die Mitgliedstaatsangehörige zur unionsweiten Arbeitsaufnahme (Art 45 AEUV), Niederlassung (Art 49 AEUV), Dienstleistungsausübung (Art 56 AEUV) und zum freien Kapitalverkehr (Art 63 AEUV) berechtigen. Je länger ein Staat Mitglied in der Union ist, desto fortgeschrittener wird regelmäßig die Integration seiner Bürger in den Markt und die politische Gemeinschaft sein; eigene Staatsangehörige gehen einer Arbeit in Nachbarstaaten nach oder haben sich in anderen Mitgliedstaaten dauerhaft niedergelassen und dort eine Familie gegründet. Von eigenen Staatsangehörigen betriebene Wirtschaftsunternehmen haben europaweit Niederlassungen gegründet und Kapital investiert. Umgekehrt haben ausländische Mitgliedstaatsangehörige sich in inländischem Staatsgebiet niedergelassen, nehmen hier an den Wahlen zum Europäischen Parlament sowie an Gemeindewahlen teil, haben im Einzelfall sogar ein Wahlamt inne. All diese wechselseitig integrativ wirkenden Aktivitäten sind durch die betroffenen Unionsbürger letztlich im Vertrauen auf den dauerhaften Bestand der Union entfaltet worden, wie es die Art 53 EUV und 356 AEUV zum Ausdruck bringen, in denen eine unbegrenzte Vertragsdauer festgelegt ist.375 Auch die Ziele der Union (Art 3 EUV) und die in der Präambel zum EUV aufgeführten Erwägungen376 dürften hinreichend geeignet sein, den Bürgern der Union ein schützenswertes Vertrauen in die Beständigkeit des europäischen Integrationsprojekts zu vermitteln. Nach der akzessorischen Betrachtungsweise bewirkt die Mitgliedschaftsbeendi66 gung des die Bürgerrechte vermittelnden Nationalstaats den Verlust all dieser subjektiven Positionen. Ein Austrittsabkommen, in dem nach Art 50 II 2 letzter Halbs EUV „die künftigen Beziehungen dieses [austrittswilligen] Staates zur Union berücksichtigt“ werden sollen, könnte indes zumindest für jene Unionsbürger Absicherung bieten, die in der Vergangenheit bereits Gebrauch von ihren Unionsbürgerrechten und Grundfreiheiten gemacht haben. Im Schrifttum gibt es vor diesem Hintergrund die Stimmen, die für eine telelogische Reduktion von Art 50 III EUV eintreten.377 Danach wäre die erfolgreiche Aushandlung eines Austrittsabkommens als materielle Austrittsvoraussetzung zu bewerten,378 weil andernfalls die Rechte und schützenswerten Interessen der austrittsbetroffenen Bürger ohne jeden unions-

_____ 375 S zu einem möglichen „Spannungsverhältnis“ zum Austrittsrecht der Mitgliedstaaten bereits Rn 22. 376 Dies gilt insbesondere für den dritten („Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents“; „feste Grundlagen für die Gestalt des zukünftigen Europas“), zwölften („Freizügigkeit […] durch den Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts […] zu fördern“) und den dreizehnten Erwägungsgrund („Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas“). 377 Für eine teleologische Umdeutung in ein „außerordentliches“, nur ausnahmsweise einschlägiges „Kündigungsrecht“ Gussone S 217 f; für eine praktisch bis zur Abschlusspflicht gehende Mitwirkungsverpflichtung des Austrittsstaates im Rahmen der Austrittsverhandlungen Niedobitek/ Ruth/Gold S 55 (69 f). 378 Dafür Niedobitek/Ruth/Gold S 55 (69 f). Roman Lehner

IV. Mitgliedschaft und Rechte der Unionsbürger | 251

rechtlichen Schutz dem Belieben des austretenden Staats ausgeliefert wären. Gegen diese Sichtweise spricht aber, dass der alternative Beendigungstatbestand des Zeitablaufs aus Art 50 III Var 2 EUV dann praktisch obsolet wäre. Eine solche Bedeutungslosigkeit der sog „sunset clause“ widerspräche aber auch der Entstehungsgeschichte der Norm, die primär auf die Berücksichtigung nationaler Ängste vor einseitigem Souveränitätsverlust zielte.379 Eine Abschlussverpflichtung kann Art 50 EUV nicht entnommen werden. Gleichwohl stellt sich gerade im Kontext des Austritts die Frage nach einer fort- 67 schreitenden380 Verselbstständigung bzw partiellen Ablösung der Unionsbürgerschaft von den die Bürgerrechte vermittelnden nationalen Rechtsordnungen. Der Europäische Gerichtshof hat inzwischen einen „Kernbestand“ der unionsbürgerschaftlichen Rechte ausgemacht,381 welchem selbst bei fehlender Grenzüberschreitung,382 also bei (noch) nicht gebrauchten Unionsbürgerrechten, der Schutz der Unionsordnung zuteilwerden soll. Es stellt sich die Frage, ob sich die Unionsbürgerschaft inzwischen insoweit von ihrem mitgliedstaatlichen Begründungs- und Vermittlungsakt emanzipiert hat, dass eine Entziehung der hieraus fließenden, subjektiven Berechtigungen und Besitzstände unionsrechtlich grundsätzlich nicht mehr erfolgen kann.383 Eine bürgerschaftsvernichtende384 Loslösung von der Union dürfte mit Rücksicht auf die „wohlerworbenen“ Positionen385 umso größere Probleme aufwerfen, je länger ein Staat Mitglied in der Union gewesen ist und je weiter die wechselseitigen sozialen und ökonomischen Verflechtungen zwischen den Bürgern dieses Staates und den übrigen Unionsstaaten fortgeschritten sind. Ob die europäische Integration als „tiefgreifender und dauernder Strukturveränderungsprozeß“386 ab einem bestimmten Integrationspunkt sogar zu einer materiellen Verunmöglichung der formellen Austrittsbefugnis führen kann, erscheint theoretisch und praktisch offen. Konsequenz wäre, dass auch für die EU der Grundsatz gelten müsste,

_____ 379 S Rn 6. 380 Instruktiv zur Entwicklung der 1993 mit dem Vertrag von Maastricht eingeführten Unionsbürgerschaft Calliess EuR 2007, Beiheft 1, 7 (11 ff, 15 ff); Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Giegerich § 9 Rn 4 ff; zur dynamischen Natur auch Kaczorowska-Ireland S 655 f; zurückhaltend Blumann/Dubouis Droit institutionnel, Rn 208. 381 EuGH, Rs C-34/09 – Ruiz Zambrano, Rn 42; krit Hailbronner/Thym NJW 2011, 2008 (2009 ff); Überblick bei Streinz Rn 1023 ff. In der Rs C-434/09 – McCarthy, Rn 45 ff hat der EuGH die Grundsätze konkretisiert und diese in Rs C-133/15 – Chavez-Vilchez bestätigt. 382 Instruktiv Baus/Borchard/Gelinsky/Krings/Langenfeld 60 Jahre BVerfG S 69 (70 f). 383 Dafür Rieder Fordham ILJ 37 (2013), 146 (168 ff); dagegen Tewocht ZAR 2017, 245 (248 f). 384 In der Rs C-135/08 – Rottmann, Rn 55 ff hat der EuGH den Entzug der Mitgliedstaatsangehörigkeit, der zum Verlust der Unionsbürgerrechte führt, unter den Vorbehalt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gestellt. 385 Schutz über Art 70 I lit b) WVK zugunsten von Individuen scheidet indes aus, Repasi S 8; Tewocht ZAR 2017, 245 (249). 386 Constantinesco S 182. Roman Lehner

252 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

wonach „citizenship cannot simply be taken away through a majority decision, especially against the will of the individual [...]. “387 Der „point of no return“388 hinge dann nicht in erster Linie vom politischen Willen der Mitgliedstaaten, sondern davon ab, wie intensiv die Bürger Europas von ihren Freiheiten tatsächlich Gebrauch machen. Dass die Leitlinien (Art 50 II 2 EUV) zur Aushandlung eines Austrittsabkommens mit dem Vereinigten Königreich keine Garantieerklärung zugunsten des Erhalts der Unionsbürgerrechte britischer Staatsbürger enthalten, erscheint gleichwohl europarechtlich unproblematisch. 389 Eine so weitgehende Verselbstständigung der Unionsbürger- und Freizügigkeitsrechte dürfte unter Berücksichtigung des heutigen Integrationsstands nämlich jedenfalls dann ausscheiden, wenn ein äquivalenter va aufenthaltsrechtlicher Bestandsschutz durch die nationale Gesetzgebung des austretenden Staates zumindest für die dort dauerhaft ansässigen Bürger der verbleibenden Unionsstaaten gewährleistet wird. Die Entstehung eines entsprechenden Vertrauensschutztatbestandes noch nach formeller Austrittserklärung erscheint hingegen nicht geboten, die während der Austrittsphase von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch machenden Unionsbürger tun dies nicht mehr im Vertrauen auf die Dauerhaftigkeit dieses Zustands.390 Dabei ist zu beachten, dass sich die Frage nach dem Bestandsschutz unions68 bürgerschaftlich erworbener Rechte und Vorteile auch nach Maßgabe der nationalen Rechtsordnungen stellen müsste. Ein Austritt Deutschlands beeinträchtigte Unionsbürger in zwei Richtungen. Zum einen wären die eigenen Staatsangehörigen betroffen,391 die Positionen in anderen Mitgliedstaaten erworben haben. Diese verlören – als der deutschen Personalhoheit Unterworfene – infolge eines deutschen Austritts all ihre unionsbürgerschaftlichen Rechte, wären also im gesamten Unionsgebiet nur mehr als Drittstaatsangehörige zu behandeln.392 Zum anderen wären die in Deutschland lebenden ausländischen Unionsbürger betroffen. Diese verlören zwar nicht ihre Unionsbürgerschaft als solche, wären aber – als der deutschen Gebietshoheit Unterworfene – in Deutschland nicht mehr unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt, weil für ihren Aufenthalt und ihre Betätigungen auf deutschem Staatsgebiet das Unionsrecht keine Rechtswirkung mehr entfaltete. In beiden Vari-

_____ 387 Rieder Fordham ILJ 37 (2013), 146 (172). 388 Constantinesco S 182. 389 Wegen des vorbereitenden Charakters war eine Klage britischer Bürger hiergegen unzulässig, vgl EuG, Rs T-458/17 – Shindler, Rn 62–66. 390 Dies dürfte auch dem aus Art 8 EMRK abzuleitenden Grundsatz entsprechen, wonach jedenfalls ein Daueraufenthaltsrecht nicht allein wegen der Veränderung des rechtlichen Status des Wohnstaates verloren gehen darf, so Repasi S 9 f m Vw auf EGMR, No 26828/06, Kuriċ ./. Slowenien; zustimmend Tewocht ZAR 2017, 245 (250). 391 Andeutungsweise Streinz/Streinz Art 50 EUV Rn 9. 392 Vgl zu dieser Kategorie betroffener Rechte aus britischer Perspektive Supreme Court (UK), Rs R ./. Secretary of State for Exiting the EU (o Fn 155), Rn 69, 71. Roman Lehner

V. Verbundenheit mit der Union unterhalb der Schwelle der (Voll-) Mitgliedschaft | 253

anten müsste sich der deutsche Austrittsakt als Akt öffentlicher Gewalt iSd Art 90 I Nr 4a iVm Art 1 III GG an den Grundrechten393 des Grundgesetzes messen lassen. Ob die Bewältigung dieser komplexen und weitschichtigen Folgeproblematik angesichts der fortgeschrittenen Verflechtungen gerade zwischen den langjährigen Mitgliedstaaten überhaupt noch rechtsstaatlich (und staatshaftungsrechtlich) darstellbar wäre, muss jedenfalls ernsthaft angezweifelt werden. Schließlich ist festzuhalten, dass die Unionsbürger als politische Bürger eine 69 demokratisch verfasste Gemeinschaft konstituieren und somit – zumindest partiell – ein eigenständiges Legitimationssubjekt unionaler Herrschaftsgewalt darstellen. Mag diese Subjektivität neben jener der europäischen Völker auch (noch) bedeutungsmäßig zurückstehen und nur ergänzende und abstützende Funktion entfalten, 394 eine demokratische Teilsubjektivität der Unionsbürgergesamtheit wird man nicht kategorisch ausschließen können.395 Das Europäische Parlament dient jedenfalls der Repräsentation der Unionsbürger (vgl Art 10 II, 14 II EUV) und ist funktional durchaus als „echtes“ Parlament anzusehen.396 Von einer (partiellen) „Volks“- Souveränität mit der Folge einer fehlenden Dispositionsbefugnis allein der Mitgliedstaaten, die einen (partiellen) Subjektswechsel bedeutete, kann gleichwohl (noch) keine Rede sein. V. Verbundenheit mit der Union unterhalb der Schwelle der (Voll-) Mitgliedschaft V. Verbundenheit mit der Union unterhalb der Schwelle der (Voll-) Mitgliedschaft Grundsätzlich ist die Mitgliedschaft in der Union als Vollmitgliedschaft, der Beitritt 70 als Vollbeitritt konzipiert. Im Hinblick auf das Kopenhagener Beitrittskriterium der Aufnahmefähigkeit der Union sowie auf die enormen Erweiterungen im Osten Europas ist die Frage nach den Grenzen und nach der Belastbarkeit Europas immer wieder neu gestellt worden.397 Gerade bei Staaten, deren europäischer Charakter nicht

_____ 393 Im Bereich des „Kernbestands“ der Unionsbürgerschaft käme uU auch eine Anwendung der Unionsgrundrechte in Betracht, vgl vBogdandy/Kottmann/Antpöhler/Dickschen/Hentrei/Smrkolj ZaöRV 72 (2012), 45 (65) mwN. 394 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (364) – Lissabon. 395 Das Bundesverfassungsgericht geht freilich davon aus, dass die demokratische Subjektivität als unteilbar zu bewerten sei, und kennt daher auch nur die Kategorie des „Subjektswechsels“, also des vollständigen Übergangs der Souveränität auf einen europäischen Staat, der wiederum unter der Geltung des Grundgesetzes an Art 79 III GG scheitern müsse (BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (398) – Lissabon); krit zum kategorischen Ausschluss kumulativer Demokratievermittlung Lehner Der Staat 52 (2013), 535 (553 ff). 396 Zum Meinungsstand Calliess/Ruffert/Kluth Art 14 EUV Rn 39 ff; differenzierend Bieber/Epiney/ Haag/Kotzur/Bieber/Haag § 4 Rn 20; näher Häberle Europäische Verfassungslehre Rn 890 ff. 397 S Rn 13, 17. Roman Lehner

254 | § 2 Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung

eindeutig feststellbar oder sogar eher zu verneinen ist398 – wie im Falle der Türkei – wurde die Möglichkeit einer sog „Privilegierten Partnerschaft“ aufgeworfen.399 Andere Staaten, wie die Schweiz oder Norwegen, möchten von sich aus außerhalb der Union bleiben und wünschen gleichwohl an Teilgebieten des Unionsrechts, insbesondere am Binnenmarkt und am Freizügigkeitsregime, zu partizipieren. Während die Schweiz über zahlreiche bilaterale Abkommen400 eine inzwischen recht enge Bindung an die Union eingegangen ist, hat Norwegen über die Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) an großen Teilen des acquis communautaire teil401. Das bilaterale Modell, mit dem sich die Schweiz an Teilbereiche der Union angekoppelt hat, vermeidet zwar die Unterwerfung unter die supranationale Integrationsmethode und setzt stattdessen auf die Implementierung iR eines „autonomen Nachvollzugs“402. Umgekehrt hat die Schweiz bei der Entstehung der Unionsvorschriften, von denen sie einen ganz erheblichen Teil403 übernimmt, keinerlei Mitspracherechte oder Einbringungsmöglichkeiten.404 Die Verträge stellen weitere Instrumente zur Verfügung, zu nennen sind va die Möglichkeiten „konstitutioneller“ (Art 198 AEUV) und „vertraglicher“ (Art 217 AEUV) Assoziierung405, sowie die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP; vgl Art 8 EUV), die auf die Schaffung von Assoziationen mit EU- Anrainern ausgerichtet ist. Während Vertragsassoziierungen oft der Vorbereitung eines späteren Beitritts dienen406 (sog „Beitrittsassoziierung“),407 mithin perspektivischen und temporären Charakter aufweisen, sollen Nachbarschaftsabkommen einen „dauerhafte[n] Status eines besonderen Näheverhältnisses ohne Mitgliedschaftsrechte“408 regulieren. Welche Brisanz auch Assoziierungen entfalten können, haben die Ende November 2013 begonnenen Auseinandersetzungen in der Ukraine („Euromaidan“) gezeigt, die durch die Verweigerung des ukrainischen Präsidenten zur Ratifizierung des Assoziierungsabkommens aus-

_____ 398 S Rn 13 ff. 399 Zum Begriff und seiner Geschichte Bergmann/Grupp S 786 f. 400 Zu nennen sind hier in erster Linie die zwei großen Vertragspakete, die Bilaterale I (1999) und die Bilaterale II (2004), daneben existieren diverse Abkommen ua im Polizei-, Justiz- und Zollbereich (die Übersicht im Netzauftritt der Direktion für europäische Angelegenheiten (DEA), einer Abteilung des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), abrufbar unter: https://www.eda.admin.ch/dea/de/home/europapolitik/ueberblick.html. Ausf zu den Abkommen Jaag/Hänni S 434 ff. 401 Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (ABl 1994 L 1/1). Weitere Mitglieder sind Island und das Fürstentum Liechtenstein. 402 Zum Begriff Fehr WIDERSPRUCH 61/11, 141 f; zu den Einzelheiten Jaag/Hänni S 478 ff. 403 Hierzu Jenni LeGes 2013/2, 489 (492 ff). 404 Kritik bei Fehr WIDERSPRUCH 61/11, 141 f; differenziert Jaag/Hänni S 484 f. 405 Hobe Rn 152 f. 406 S Rn 18. 407 Hobe Rn 156. 408 Hobe Rn 160. Roman Lehner

V. Verbundenheit mit der Union unterhalb der Schwelle der (Voll-) Mitgliedschaft | 255

gelöst wurden und schlussendlich in die kriegerischen Auseinandersetzungen im Donbass sowie die russische Annexion der Krim mündeten. Dass Abkommen wurde nach dem Regierungswechsel in Kiew in zwei Schritten im Jahr 2014 unterzeichnet und für vorläufig anwendbar erklärt, später ratifiziert.409

_____ 409 Vgl BGBl II 2015, S 530; BGBl II 2017, S 1297. Roman Lehner

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NEUE RECHTE SEITE Roman Lehner

§ 3 Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten

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Karl-Peter Sommermann

§ 3 Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten § 3 Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten § 3 Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten https://doi.org/10.1515/9783110498349-003 Karl-Peter Sommermann

Gliederungsübersicht I. Die Europäische Union als Wertegemeinschaft II. Die Entwicklungsgeschichte des Art 2 EUV III. Die normative Dimension des Art 2 EUV als Grundwerte- und Homogenitätsklausel 1. Werte als Rechtsprinzipien 2. Werte und Ziele 3. Werte als „Schleusenbegriffe“ 4. Die Bindungswirkung der Werte 5. Werte als Direktiven auswärtigen Handelns 6. Die Lösung von Kollisionsfällen IV. Werte der Union und Werte der Gesellschaft V. Die grundlegenden Werte der Union 1. Menschenwürde 2. Freiheit 3. Demokratie 4. Gleichheit 5. Rechtsstaatlichkeit/rule of law 6. Menschenrechte, einschließlich Minderheitenrechte VI. Gemeinsame gesellschaftliche Werte 1. Pluralismus 2. Nichtdiskriminierung 3. Toleranz 4. Gerechtigkeit 5. Solidarität 6. Gleichheit von Frauen und Männern VII. Die Wertordnung der Union und die Mitgliedstaaten 1. Das Verhältnis der unionalen Wertordnung zu den nationalen Wertordnungen 2. Das Frühwarn- und Sanktionssystem des Art 7 EUV bei gravierender Verletzung eines der in Art 2 EUV genannten Werte 3. Weitere Verfahrensmöglichkeiten bei Verletzung der Werte des Art 2 EUV VIII. Das Verhältnis des Art 2 EUV zu anderen axiologischen Vorschriften des Primärrechts

Rn 1 4 6 7 9 12 13 16 17 19 22 25 30 32 36 38 45 46 47 48 49 50 51 55 56 57 58 64 67

Spezialschrifttum Blumenwitz, Dieter/Gornig, Gilbert H/Murswiek, Dieter (Hrsg) Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, 2005; von Bogdandy, Armin/Bast, Jürgen (Hrsg) Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl, 2009; Calliess, Christian Europa als Wertegemeinschaft – Integration und Identität durch europäisches Verfassungsrecht, JZ 2004, 1033–1040; Franzius, Claudio Der Kampf um Demokratie in Polen und Ungarn, DÖV 2018, 381–389; Grimmel, Andreas/My Giang, Susanne (Hrsg) Solidarity in the European Union: A Fundamental Value in Crisis, 2017; Hanschmann, Felix Der Begriff der Homogenität in der Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft, 2008; Hatje, Armin/Tichy, Lubos (Hrsg) Liability of Member States for the Violation of Fundamental Values oft he European Union, EuR 2018 Beiheft 1; Jakab, András/Kochenov, Dimitry (Hrsg) The Enforcement of EU Laws and Values, 2017; Nettesheim, Martin „Gegründet auf Werten…“: Das Narrativ der Wertegemeinschaft und der Karl-Peter Sommermann https://doi.org/10.1515/9783110498349-003

258 | § 3 Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten

Sanktionsmechanismus des Art. 7 EUV, in: Franzius, Claudio/Mayer, Franz C/Neyer, Jürgen (Hrsg) Die Neuerfindung Europas: Bedeutung und Gehalte von Narrativen für die europäische Integration, 2019, S 91–110; Niedobitek, Matthias Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, in: Neuss, Beate/Niedobitek, Matthias/Novotný, Lukás/Rosůlek, Premysl (Hrsg) Kooperationsbeziehungen in der neuen Europäischen Union, 2012, S 205–224; Rensmann, Thilo Wertordnung und Verfassung, 2007; Rosen, Michael Dignity. Its History and Meaning, 2012; Saracino, Daniele Solidaritätsbrüche in der europäischen Asylpolitik, ZfP 2018, 283–302; Serini, Katharina Sanktionen der Europäischen Union bei Verstoß eines Mitgliedstaats gegen das Demokratie- oder Rechtstaatsprinzip, 2009; Sommermann, Karl-Peter Herkunft und Funktionen von Verfassungsprinzipien in der Europäischen Union, in: Bauer, Hartmut/Calliess, Christian (Hrsg) Verfassungsprinzipien in Europa, SIPE 4, 2008, S 15– 44; Sommermann, Karl-Peter Some Reflections on the Concept of Solidarity and its Transformation into a Legal Principle, Archiv des Völkerrechts 52 (2014), S 10–24; Weatherill, Stephen Law and Values in the European Union, 2016; Weber, Albrecht Europäische Verfassungsvergleichung, 2010; Williams, Andrew The Ethos of Europe. Values, Law and Justice in the EU, 2010. Leitentscheidungen EuGH: Rs 39/72 – Kommission / Italien; Rs 1/73 – Westzucker GmbH / Einfuhr- und Vorratsstelle für Zucker; Rs 810/79 – Überschär; Rs 310/85 – Deufil / Kommission; Rs C-13/94 – P / S und Cornwall County Council; Rs C-180/96 – Vereinigtes Königreich / Kommission; Rs C-377/98 – Niederlande / Parlament und Rat; Rs C-50/00 P – Unión de Pequeños Agricultores / Rat; Rs C-94/00 – Roquette Frères; Rs C-36/02 – Omega; Rs C-376/02 – Goed Wonen; Rs C-17/03 – VEMW ua; Rs C-182/03 – Belgien / Kommission; Rs C-135/08 – Rottmann; Rs C-369/09 P – ISD Polska ua / Kommission; Gutachten 2/13 – Beitritt der EU zur EMRK; Rs C-64/16 – Associação Sindical dos Juízes Portugueses; Rs 619/18 – Kommission / Polen. BVerfG: 1 BvR 400/51, BVerfGE 7, 198 – Lüth; 2 BvL 2/66, BVerfGE 30, 367 – Bundesentschädigungsgesetz; 2 BvL 17/69, BVerfGE 30, 392 – Berlinhilfegesetz; 1 BvL 14/76, BVerfGE 45, 187 – Lebenslange Freiheitsstrafe; 1 BvR 426/02, BVerfGE 107, 275 – Benetton II; 1 BvR 193/97, BVerfGE 109, 256 – Ehenamen; 1 BvR 357/05, BVerfGE 115, 118 – Luftsicherheitsgesetz; 1 BvR 3067/08, BVerfGE 122, 374 – Erneuerbare-Energien-Gesetz; 2 BvE 2, 5/08, BVerfGE 123, 267 – Lissabon-Vertrag.

I. Die Europäische Union als Wertegemeinschaft I. Die Europäische Union als Wertegemeinschaft 1 Art 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) in der Fassung des Lissabon-

ner Vertrags von 20071 lässt keinen Zweifel mehr daran: Die Europäische Union versteht sich als Wertegemeinschaft. Dabei stellt Art 2 EUV die Union auf ein breites Wertfundament, das von der Achtung der Menschenwürde über Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit bis zur Wahrung der Menschenrechte, einschließlich der Minderheitenrechte, reicht. Die darin enthaltene Prämisse, „dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte

_____ 1 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft v 13.12.2007, ABl 2007 C 306/1; konsolidierte Fassung der Verträge: ABl 2012 C 326/1. Karl-Peter Sommermann

I. Die Europäische Union als Wertegemeinschaft | 259

teilt“, rechtfertige, so der EuGH, „die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden“.2 Und damit nicht genug: Als zugleich allen Mitgliedstaaten gemeinsame Werte werden sie als Korrelat einer sozialen Ordnung angesehen, „die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Männern und Frauen auszeichnet“ (Art 2 S 2 EUV). Nimmt man die Entfaltung der Wertgrundlagen der Europäischen Union in der Präambel der Europäischen Grundrechtecharta3 sowie die weitere Konkretisierung in deren operationellem Teil hinzu,4 so zeigt sich eine umfassende Wertordnung, die deutliche Parallelen zu materialen Leitprinzipien und Grundrechtskatalogen der nationalen Verfassungen aufweist. Art 2 EUV hat man daher auch als „Herzstück des niemals abgebrochenen Verfassungsprozesses der Europäischen Union“ bezeichnet.5 Wie sich dem Wertekatalog des Art 2 EUV entnehmen lässt, werden unter „Wer- 2 ten“ Leitprinzipien oder materiale Orientierungskonzepte der Union verstanden.6 Mit der Anerkennung weitgespannter gemeinsamer Grundwerte kontrastiert der Unionsvertrag mit den Verträgen über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl von 19517 und über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1957. 8 Die frühen Integrationsverträge verzichteten weitgehend – abgesehen von dem Friedensziel9 – auf übergreifende Wertbekenntnisse. Aus der Qualifikation der heutigen Europäischen Union als „Wertegemeinschaft“10 dürfen freilich nicht ohne weiteres Schlüsse auf den Integrationsstand

_____ 2 EuGH, Gutachten 2/13 – Beitritt der EU zur EMRK, Rn 168; vgl auch EuGH, Rs C-64/16 – Associação Sindical dos Juízes Portugueses, Rn 31. 3 Zunächst als gemeinsame Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission am 7.12.2000 verabschiedet (ABl 2000 C 364/1 v 18.12.2000); erst durch den Vertrag von Lissabon, der am 1.12.2009 in Kraft trat, in den Rang von Primärrecht erhoben (Art 6 I EUV). 4 Zur Konkretisierung der Grundwerte der EU durch die Grundrechtecharta Blumenwitz/Gornig/Murswiek/Schmitz S 73, 85 ff. 5 Gialdino/Russo, art 2 TUE S 53: „Il nuovo art 2 TUE rappresenta il nucleo essenziale del mai interrotto «processo costituente» dell’Unione europea“. 6 Vgl die Definition von „valeurs fondamentales“ in Cornu S 952: „Bienfaits reconnus comme principes de la vie en société; valeurs dites communes par ceux qui, ensemble, s’en réclament, comme bases de leurs relations“. 7 Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS-Vertrag) v 18.4.1951, BGBl 1951 II 447. Zur Terminologie auch Blumenwitz/Gornig/Murswiek/Rensmann S 49. 8 Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag) v 25.3.1957, BGBl 1957 II 766. 9 Vgl die ersten Absätze der Präambel des EGKS-Vertrags. Zum Frieden als zentralem Grundwert der europäischen Integration Hallstein S 43 f. 10 Calliess/Ruffert/Calliess Art 2 EUV Rn 3 u 10 spricht auch von einer „Werteunion“ und einem „Werteverbund“. Karl-Peter Sommermann

260 | § 3 Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten

der Europäischen Union gezogen werden. Es gibt eine Reihe weiterer Zusammenschlüsse von Staaten, die nicht nur aus allgemein-kulturellen Erwägungen, sondern im Hinblick auf ihre rechtlichen Grundlagen als „Wertegemeinschaften“ verstanden werden. Dies gilt insbesondere für den Europarat, unter dessen Ägide die Europäische Menschenrechtskonvention und die Europäische Sozialcharta erarbeitet wurden, aber beispielsweise auch für die (mittlerweile aufgelöste) Westeuropäische Union und die NATO. Die Verträge dieser drei internationalen Organisationen nehmen in ihren Präambeln ausdrücklich Bezug auf gemeinsame Wertgrundlagen.11 Über die regionale Wertverbundenheit hinaus werden seit geraumer Zeit die universelle Geltung beanspruchenden Menschenrechte als Grundlage einer internationalen (universellen) Wertegemeinschaft gesehen.12 Jenseits des normativen Anspruchs zeigen sich in der Realität allerdings erheblich geringere Schnittmengen. Dies ist freilich nicht nur eine Frage der Herausbildung gemeinsamer Wertverständnisse, sondern auch ein Problem der Durchsetzbarkeit der konsentierten Standards im Falle nachteiliger Veränderungen der politischen Verhältnisse. Wird der Begriff „Wertegemeinschaft“ für Beziehungen oder Gemeinschaf3 ten unterschiedlichen Bindungs- und Integrationsgrads verwendet, so beschränkt sich sein unmittelbarer Aussagegehalt auf die Kennzeichnung von Staatenverbindungen, deren Ziele über das der Verwirklichung gemeinsamer wirtschaftlicher oder politisch-strategischer Interessen oder Zwecke hinausreichen. Der Integrationsgrad einer Wertegemeinschaft ist individuell zu ermitteln. Anhand der sich verändernden Zielstruktur der europäischen Integrationsverträge kann der Übergang von einem Interessenverband zu einer sich schrittweise stärker integrierenden Wertegemeinschaft demonstriert werden. II. Die Entwicklungsgeschichte des Art 2 EUV II. Die Entwicklungsgeschichte des Art 2 EUV 4 Wegen des weitgehenden Fehlens von Zielen, die über die Verwirklichung gemein-

samer wirtschaftlicher Interessen hinausgehen, hat man die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft im Ausgangspunkt als „Zweckverbände“ charakterisiert.13 Neben der Abwesenheit

_____ 11 Vgl Abs 3 der Präambel der Satzung des Europarates vom 5.5.1949, Abs 2 u 3 der Präambel des WEU-Vertrags v 17.3.1948 (BGBl 1955 II S 256) und Abs 2 der Präambel des Nordatlantikvertrags vom 4.4.1949 (BGBl 1955 II S 289). 12 Vgl Rensmann FS Christian Tomuschat, 2006, S 259, 268. Die Verständigung über gemeinsame Werte ist für Mireille Delmas-Marty die Grundlage einer kohärenten rechtlichen Weltordnung, die im Sinne eines „pluralisme ordonné“ (eines geordneten Pluralismus) zugleich nationale Spielräume, eine „marge nationale“ belässt; vgl Delmas-Marty insb S 77 f, 281 f. 13 HP Ipsen S 127 ff. Karl-Peter Sommermann

II. Die Entwicklungsgeschichte des Art 2 EUV | 261

einer ausdrücklichen Erklärung zu gemeinsamen Werten sowie der Beschränkung der vertraglichen Regelungen auf einen Gemeinsamen Markt kann man zugunsten dieser Qualifizierung ins Feld führen, dass den Verträgen ein wirtschaftliches Grundkonzept zugrunde lag. Einwenden lässt sich freilich auch hier bereits, dass mit der Schaffung integrierter Märkte eine Verflechtung europäischer Staaten erreicht werden sollte, die einen Krieg für die Zukunft ausschließen sollte. Doch für sich genommen verfolgten die Integrationsverträge ursprünglich rein wirtschaftliche Ziele. Lässt man den instrumentellen Charakter und die erhofften indirekten Wirkungen der Verträge außer Acht, so kann man daher zutreffend von den Gemeinschaften als bloßen Zweckverbänden sprechen.14 Die Realisierung und Entwicklung gemeinsamer Werte war damals noch eher die Aufgabe des Europarates,15 der zudem einen größeren Kreis von Staaten umfasste. Lässt man die Entwicklung des Primärrechts der Europäischen Gemeinschaft 5 bzw Europäischen Union Revue passieren, so finden sich wesentliche Elemente des Wertekanons des heutigen Art 2 EUV erstmals in der Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986. Neben der Demokratie wird dort auf die in der EMRK und der Europäischen Sozialcharta anerkannten Grundrechte, „insbesondere Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit“ Bezug genommen.16 In der Präambel des Maastrichter Unionsvertrages von 1992 taucht die soziale Dimension sodann nicht mehr im Kontext von Demokratie und Menschenrechten, sondern als „sozialer Fortschritt“ im Dienste der Verwirklichung des Binnenmarktes und der Kohäsionspolitik auf. 17 Vereinigt in der Präambel ist das Bekenntnis „zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit“.18 Mit dem Amsterdamer Vertrag von 1997 erscheint diese Formel zusätzlich im operationellen Teil des Unionsvertrages, wobei betont wird, dass „diese Grundsätze […] allen Mitgliedstaaten gemeinsam“ seien.19 Der Vertrag von Nizza übernimmt diese „Werte-Quadriga“20 unverändert.21

_____ 14 Legt man freilich die in der Praxis angewandten Aufnahmekriterien zugrunde, so lässt sich vertreten, dass sich die Europäischen Gemeinschaften seit ihrer Gründung als Wertegemeinschaft verstanden hätten; in diesem Sinne Speer DÖV 2001, 980 (983 f). Zum Wertbezug der europäischen Integration seit den Anfängen vgl im Übrigen Magiera integration 2012 S 94 (95); Jacques Santer, wiedergegeben in Niedobitek/Sommermann/Hornung S 93 (94). 15 In diesem Sinne hat Karl Josef Partsch die im Rahmen des Europarats ausgearbeitete Europäische Menschenrechtskonvention als „das erste Stück einer gemeinsamen Verfassung“ der europäischen Staaten apostrophiert, s ders ZaöRV 15 (1953/54), 631 (633). 16 Abs 3 der Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte v 1986. 17 Abs 7 der Präambel des Vertrags über die Europäische Union v 7.2.1992 (Vertrag von Maastricht), BGBl 1992 II 1253. 18 Abs 3 der Präambel des Vertrags über die Europäische Union idF des Vertrags von Maastricht. 19 Art F I des Unionsvertrages idF des Vertrags von Amsterdam. 20 Vgl vdGroeben/Schwarze/Beutler 6. Aufl Art 6 EUV Rn 20, 24 f. 21 Art 6 I des Unionsvertrages idF des Vertrags von Nizza. Karl-Peter Sommermann

262 | § 3 Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten

Eine neue Akzentsetzung erfolgt mit dem Europäischen Verfassungsvertrag. Bereits im ersten Entwurf, der auf der Konferenz von Laeken am 28. Oktober 2002 präsentiert wurde, wird statt von „Prinzipien“ nunmehr von „Werten“ der Union gesprochen.22 Den Reigen des Wertekanons eröffnet zudem die Menschenwürde, gefolgt von den Elementen „Grundrechte, Demokratie, Rechtsstaat, Toleranz, Einhaltung der eingegangenen Verpflichtungen und des Völkerrechts“. In der endgültigen Fassung des Verfassungsvertrags von 2004 lautet die Homogenitätsklausel wie folgt:23 „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

Damit war bereits zu diesem Zeitpunkt exakt diejenige Formulierung festgelegt, die später, nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages,24 vom Lissabonner Vertrag für Art 2 des Unionsvertrages übernommen wurde. III. Die normative Dimension des Art 2 EUV als Grundwerte- und Homogenitätsklausel

III. Die normative Dimension des Art 2 EUV als Grundwerteund Homogenitätsklausel 6 Durch den Lissabonner Vertrag wurde der Begriff der „Werte“ an zentraler Stelle

im Primärrecht der Europäischen Union verankert. Zuvor hatte der EU-Vertrag bereits in den Fassungen der Verträge von Maastricht (1992), Amsterdam (1997) und Nizza (2001) im Kontext der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik auf die „gemeinsamen Werte“ Bezug genommen,25 allerdings ohne diese näher zu spezifizieren. Nach Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam hatte zunächst die Europäische Grundrechtecharta in ihrer Präambel den Begriff der „Werte“ gebraucht; bei ihrer Verabschiedung im Jahr 2000 handelte es sich bei der Charta freilich lediglich um eine von den Unionsorganen verabschiedete Erklärung;26 zum Primärrecht zählt sie erst seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags.27 Vor diesem Hintergrund kann die Grundwerteklausel des Art 2 EUV als eine Innovation des Lissabonner Ver-

_____ 22 Art 2 des Vorentwurfs des Verfassungsvertrags, Dok CONV 369/02. 23 Art I-2 des Vertrags über eine Verfassung für Europa v 29.10.2004, ABl 2004 C 310/1. 24 Dazu Streinz/Ohler/Herrmann S 14 ff mwN. 25 Vgl Art J.1 II Spstr 1 EUV idF des Vertrags von Maastricht und Art 11 I Spstr 1 EUV idF der Verträge von Amsterdam und Nizza. 26 Gemeinsame Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission am 7.12.2000 verabschiedet (ABl 2000 C 364/1 v 18.12.2000). 27 S Art 6 I EUV. Karl-Peter Sommermann

III. Die normative Dimension des Art 2 EUV als Grundwerte- und Homogenitätsklausel | 263

trags betrachtet werden. Art 2 EUV, mit dem die Wert- und damit materiale Integrationsgrundlage der Europäischen Union ausdrücklich umrissen wird, wirft in mehreren Hinsichten Auslegungsfragen auf. Im Mittelpunkt steht zunächst die Frage, welche rechtlichen Folgen sich aus der Umbenennung der früher als „Grundsätze“ angesprochenen normativen Elemente in „Werte“ ergeben, ferner, wie sich diese von den „Zielen“ der Union unterscheiden. Daran knüpfen sich weitere Fragen nach der normativen Funktion und Bindungswirkung der Werte.

1. Werte als Rechtsprinzipien Die Verwendung des Begriffs „Werte“ für normative Elemente wie Freiheit, Demo- 7 kratie und Rechtsstaatlichkeit, die in früheren Verträgen als „Grundsätze“ apostrophiert wurden, legt zunächst den Schluss nahe, dass auch der normative Gehalt verändert werden sollte.28 Semantisch zielen gemeinsame Werte einer Gemeinschaft tiefer als die Statuierung von Grundsätzen.29 Die ausdrückliche Anerkennung bzw Schaffung gemeinsamer Wertgrundlagen und damit gemeinsamer „ethischsittlicher Überzeugungen“30 soll über das Recht hinaus identitätsbildend wirken.31 Mit ihrem „überschießenden ethischen Gehalt“32 wohnt ihnen damit zugleich eine außerrechtliche Integrationsdynamik inne.33 Allerdings wurden die genannten Grundsätze im Schrifttum bereits früher als 8 Werte qualifiziert.34 Bei der Frage nach dem rechtsnormativen Gehalt des Art 2 EUV sind zudem allfällige außerrechtliche Appellwirkungen nicht zu berücksichtigen. Die rechtsnormative Wirkung von Werten gleicht der von Rechtsprinzipien.35 Werte wie Rechtsprinzipien sind bei der Rechtsetzung, der Interpretation und der Ermessensausübung im Rahmen der Rechtsanwendung als Leitkriterien zu berücksichtigen;36 sie sind in der Rechtsordnung gleichsam als normative Hintergrund-

_____ 28 Vgl Weatherill S 395: „To crown the EU with values is on the face of it transformative.“ 29 Vgl auch de Quadros FS Peter Badura, 2004, S 1125 (1127). Nach Niedobitek spiegelt sich in „dem terminologischen Übergang von ‚Grundsätzen‘ zu ‚Werten‘ […] die Verdichtung des Verfassungscharakters des primären Unionsrechts wider“; s Neuss/Niedobitek/Novotný/Rosůlek/Niedobitek S 205 (211). 30 Schuppert/Pernice/Haltern/Joas u Mandry S 541 (549). 31 Franzius/Mayer/Neyer/Nettesheim S 91 (94 ff). 32 Blumenwitz/Gornig/Murswiek/Rensmann S 49, 70 f. 33 In diesem Sinne betonen hinsichtlich der Verwirklichung des Grundwertes der rule of law (Rechtsstaatlichkeit) in den Beitrittsstaaten Nicolaidis/Kleinfeld S 20, zu Recht, dass es darum gehen muss, die Herausbildung einer „culture of the ‚Rule of Law‘“ zu fördern. Vgl aber zu den Gefahren einer „Ethisierung“ der Unionsrechtsordnung Hanschmann S 268 ff. 34 Vgl bereits Hallstein S 43 ff, sowie vdGroeben/Schwarze/Beutler Art 6 EUV Rn 24 f, und Lenaerts/ Gerard European Law Review 2004, 289 (316). 35 Vgl auch Jakab/Kochenov/Kochenov S 9; Streinz EuR 2018 Beiheft 1, 9 (10, 21). 36 AA Reimer ZG 2003, 208 (213 ff). Karl-Peter Sommermann

264 | § 3 Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten

strahlung allgegenwärtig.37 Indem Rechtsprinzipien als „Werte“ bezeichnet werden, wird das in den nationalen Rechtsordnungen, insbesondere vom deutschen Bundesverfassungsgericht38 entwickelte Konzept einer verfassungsrechtlichen Wertordnung39 und die mit ihr verbundene Ausstrahlungswirkung in die gesamte Rechtsordnung dogmatisch für das Unionsrecht fruchtbar gemacht.40 Allenfalls insofern kann von einer normativen Aufwertung die Rede sein. Normtheoretisch betrachtet ändert dies indes nichts am Prinzipiencharakter der aufgezählten Elemente.41 Ihnen sind ebenso wie den früheren „Grundsätzen“ sogenannte Optimierungsgebote zu entnehmen, dh das Gebot, „etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße“ zu realisieren.42 Die Werte sind untereinander so ins Verhältnis zu setzen, dass im Falle von Wertkollisionen nicht schematisch einem Wert der Vorrang eingeräumt wird, sondern Lösungen gesucht werden, in denen möglichst alle jeweils relevanten Werte zum Zuge kommen.

2. Werte und Ziele 9 Auch Zielbestimmungen sind Prinzipien43 und enthalten entsprechende Optimierungsgebote.44 Daher fragt sich, worin der grundsätzliche normative Unterschied zwischen den in Art 2 EUV verankerten Werten einerseits und den in Art 3 EUV niedergelegten Zielen andererseits besteht. Die Tatsache, dass die in Art 3 EUV genannten Ziele überwiegend konkreter gefasst sind, erlaubt nicht ohne weiteres Rückschlüsse auf die normative Einordnung, zumal auch weitgefasste Ziele wie zB die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten45 aufgeführt sind. Über das Verhältnis zwischen Werten und Zielen scheint eher Art 3 I EUV Aufschluss zu geben, wenn er es

_____ 37 Vgl MacCormick S 29: “Unlike rules, whose operative facts delineate specific circumstances of application, values are pervasive.” 38 Vgl nur BVerfG, 1 BvR 400/51, BVerfGE 7, 198 (204 ff) – Lüth. Aus dem europäischen Ausland vgl etwa das Urteil des spanischen Verfassungsgerichts v 14.7.1981, 25/1981 (RI-4), II 5: „En primer lugar, los derechos fundamentales son derechos subjetivos […]. Pero al propio tiempo, son elementos esenciales de un ordenamiento objetivo de la comunidad nacional, en cuanto ésta se configure como marco de una convivencia humana justa y pacífica, plasmada históricamente eb el Estado de Derecho y, más tarde, en el Estado social de Derecho o el Estado social y democrá­tico de Derecho, según la formula de nuestra Constitución (artículo 1.1)“. 39 Vgl Rensmann S 243 ff (zur „Wertordnung im Systemwettbewerb der Verfassungsstaaten“); Barranco Avilés S 164 ff. 40 Vgl entsprechend für die Grundrechtecharta Ritter NJW 2010, 1110 ff. 41 Ebenso Neuss/Niedobitek/Novotný/Rosůlek/Niedobitek S 205 (216); vgl auch Reese S 78 ff („Das Werteordnungsdenken als Prinzipiendenken“). 42 Alexy S 75 f; ders Rechtstheorie 18 (1987), 405 (407). 43 Kotzur DÖV 2005, 313 (315). Blanke/Mangiameli/Sommermann Art 3 TEU Rn 3. 44 Sommermann S 359 ff, 411 ff. 45 Dazu Blanke/Mangiameli/Sommermann Art 3 TEU Rn 41 f. Karl-Peter Sommermann

III. Die normative Dimension des Art 2 EUV als Grundwerte- und Homogenitätsklausel | 265

zum „Ziel der Union“ erklärt, „ihre Werte […]“ zu fördern. Der normative Unterschied könnte somit darin bestehen, dass Art 3 EUV ausdrücklich eine aktive Zielverfolgung festlegt, während Art 2 EUV die entsprechenden Werte nur anerkennt, dh gebietet, ihnen nicht zuwider zu handeln. In der Wertphilosophie wird in diesem Sinne in der Tat die Anerkennung von Werten von dem Streben nach ihrer Verwirklichung unterschieden.46 Ähnlich hat man aus systemtheoretischer Perspektive festgestellt, Werte seien nur „das Medium für eine Gemeinsamkeitsunterstellung, die einschränkt, was gesagt und verlangt werden kann, ohne zu determinieren, was getan werden soll“.47 Dem ist freilich entgegenzuhalten, dass jedenfalls die rechtliche Verankerung 10 von Werten auch auf Wertverwirklichung zielen muss, soll sich die Normativkraft der betreffenden Bestimmungen effektiv entfalten. Im Unionsrecht hieße das zudem, gerade die für alle Unionsorgane und für die Mitgliedstaaten geltenden Grundwerte aus der Integrationsdynamik auszuklammern. Die Frage nach dem grundsätzlichen normativen Unterschied zwischen den 11 Werten des Art 2 EUV und den Zielen des Art 3 EUV ist dadurch entschärft, dass angesichts des Umstandes, dass Art 3 I EUV die Verwirklichung der Werte des Art 2 EUV zum Ziel der Union erklärt, kein Zweifel besteht, dass die Wertverwirklichung Inhalt des normativen Integrationsprogramms der Europäischen Union ist. Wenn nicht aus Art 2 EUV allein, so ist dieses Ziel jedenfalls aus Art 2 in Verbindung mit Art 3 I EUV herzuleiten.

3. Werte als „Schleusenbegriffe“ Die identitätsbildende und integrationsfördernde Funktion der in Art 2 EUV veran- 12 kerten Werte48 wird dadurch verstärkt, dass an Prinzipien angeknüpft wird, die den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten entstammen. 49 Dadurch entsteht ein „System wechselseitiger Verfassungsstabilisierung“.50 Die rechtsvergleichend nach-

_____ 46 Vgl – aus einer personalistischen Perspektive – Scheler S 57: „Denn wir vermögen Werte […] zu fühlen, ohne dass sie erstrebt werden oder einem Streben immanent sind. […] Werte können also ohne jedes Streben gegeben und vorgezogen werden“. 47 Luhmann S 343; dazu Hanschmann S 261 ff. 48 Schorkopf DVBl 2000, 1036 (1037) schreibt der „Homogenität“ vier Funktionen zu: Konsensfunktion („Herstellung eines Konsenses zwischen den Mitgliedstaaten als Voraussetzung für einen Integrationsprozess“), Legitimationsfunktion (Sicherung „der Legitimationsgrundlagen der Union sowohl im Hinblick auf die Akzeptanz hoheitlicher Entscheidungen durch ihre Adressaten als auch im Sinne einer demokratischen Legitimation“), Integrationsfunktion (Schaffung eines „materiellen Gehalt[s] für eine europäische Identitätsbildung als einem der Hauptziele der Europäischen Union“), Sicherungsfunktion (bezogen auf die Funktionsfähigkeit der Union). 49 Allgemein zur „rechtlichen Filterung und Zusammenführung von Normgehalten des nationalen (Verfassungs-)Rechts auf der Ebene des Unionsrechts“ und ihrer „einheitsbildende[n] Wirkung“ vgl Wendel S 530 ff. Karl-Peter Sommermann

266 | § 3 Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten

zuweisende Konsensfähigkeit der angesprochenen Wertkategorien51 impliziert freilich nicht, dass diese in den verschiedenen Mitgliedstaaten eine übereinstimmende Ausprägung erfahren hätten. Für die rechtliche Integration sind solche offenen Konzepte dennoch deshalb besonders wichtig, da sie als „Schleusenbegriffe“ wirken. Diese sind für das Staatsrecht so beschrieben worden, dass sie „sich ‚objektiv‘ aus sich heraus niemals abschließend definieren lassen, vielmehr offen sind für das Einströmen sich wandelnder staats- und verfassungstheoretischer Vorstellungen und damit auch für verschiedenartige Konkretisierungen, ohne sich dabei indessen inhaltlich völlig zu verändern, dh ihre Kontinuität zu verlieren, und zu einer bloßen Leerformel herabzusinken“.52 Die Werte wirken daher ebenso wie eine Reihe der Zielbestimmungen des Art 3 EUV wie Schleusen, durch die sich verwandte Konzepte zunächst auf einen gemeinsamen Begriff bringen lassen, um sich im Austausch zwischen den Ordnungen nach und nach weiter anzunähern. Man kann insoweit auch von einer Transformations- und Harmonisierungsfunktion der Grundwerte sprechen.53 Dazu trägt im weiteren Integrationsprozess nicht zuletzt die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bei. Bereits in der Vergangenheit hat der Gerichtshof im Anwendungsbereich des Unionsrechts zB der Rechtsstaatlichkeit konkrete Konturen verliehen,54 die vor allem denjenigen Mitgliedstaaten, in denen das Rechtsstaatsprinzip eher rudimentär ausgestaltet war, Orientierung geboten haben. Aber auch in den Staaten, die wie die Bundesrepublik Deutschland ein fein ziseliertes System rechtsstaatlicher Prinzipien entwickelt haben, ist die unionsrechtliche Konkretisierung nicht ohne Wirkung geblieben, wie sich etwa im Bereich der Transparenzforderungen zeigen lässt.55 Die Werte der Union und die Frage nach ihrer Interpretation eröffnen somit europäische Diskursräume, die sowohl im vertikalen Verhältnis zwischen Mitgliedstaaten und Unionsorganen als auch im horizontalen Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander zu einer Annäherung der Werthorizonte führen.

4. Die Bindungswirkung der Werte 13 Wie bereits angedeutet, entfalten die Werte ihre normative Wirkung vor allem als

Rechtsetzungsdirektive, Interpretationsmaßstab und Ermessenskriterium. Dass sie darüber hinaus auch zum rechtlichen Prüfungsmaßstab werden können, ergibt

_____ 50 Haratsch FS Eckart Klein, 2013, S 79 (87). 51 Vgl Sommermann S 205–252, sowie die Nachweise unten unter V. zu den einzelnen Werten. 52 Böckenförde S 143, 144 f; zur Schleusenfunktion der Prinzipien s a vBogdandy/Bast/vBogdandy S 22. 53 Bauer/Calliess/Sommermann S 15, 31. 54 S dazu unten unter V. 5. (Rn 38 ff). 55 Dazu García Macho/Sommermann S 11, 13 ff. Karl-Peter Sommermann

III. Die normative Dimension des Art 2 EUV als Grundwerte- und Homogenitätsklausel | 267

sich nicht nur aus allgemeinen normtheoretischen Erwägungen, sondern auch aus Art 7 EUV, der bei einer „schwerwiegenden Verletzung der in Art 2 genannten Werte“ Sanktionsmöglichkeiten eröffnet.56 Bei den Werten handelt es sich wie bei abstrakten Zielbestimmungen um offene 14 Rechtsbegriffe, bei denen zwischen einem justiziablen „harten“ Begriffskern und einem nicht justiziablen „weichen“ Begriffshof unterschieden werden kann.57 Dies entspricht auch der Funktion der Werte als „Schleusenbegriffe“: Neben der Konkretisierung eines subsumtionsfähigen Begriffskerns gibt es einen in demokratischen Willensbildungsprozessen auszufüllenden Begriffshof. Mit zunehmender Integration kann der Begriffskern wachsen, was freilich nicht zu einer Versteinerung der Leitkonzepte führen sollte. Durch den sich wandelnden gesellschaftlichen Kontext und die immer wieder neu zu treffende Zuordnung der Werte untereinander wird in jedem Falle eine gewisse Dynamik der Wertgehalte erhalten bleiben. In diesem Sinne hat man von einer „Elastizität der europäischen Grundwerte“ gesprochen.58 Die Begrenzung der Justiziabilität auf den „Wertkern“ entspricht der für Zielbe- 15 stimmungen entwickelten Beschränkung auf eine Evidenzkontrolle. Nur dann, wenn der Kerngehalt eines Wertes angetastet wird, liegt eine Verletzung des Art 2 EUV vor und können entsprechende Rechtsakte aufgehoben werden. Wenn Art 7 EUV von einer „schwerwiegenden Verletzung der in Art 2 genannten Werte“ spricht, so sind derartige evidente, den Wertkern betreffende Eingriffe gemeint. Eine Verletzung des Art 2 EUV wäre im Hinblick auf den Wert der Demokratie zum Beispiel bei der Abschaffung politischer Parteien oder der Beseitigung der Minderheitenrechte im Parlament gegeben.59

5. Werte als Direktiven auswärtigen Handelns Die Schaffung einer Wertegemeinschaft hat nicht nur Folgen für das Unionshandeln 16 im Binnenbereich, sondern auch für die Beziehungen zu Drittstaaten. Das gilt zunächst für die Aufnahme neuer Staaten als Mitglieder der Europäischen Union. Etwas missverständlich erklärt Art 49 I EUV es zur Voraussetzung einer Antragstellung, dass der Beitrittskandidat „die in Art 2 genannten Werte achtet und sich für ihre Förderung einsetzt“.60 Im Übrigen erklärt Art 3 V EUV den Schutz und die För-

_____ 56 Dazu unten unter VII. 2. (Rn 58 ff). 57 Zur frühen rechtstheoretischen Unterscheidung vgl Heck S 46, 173; Engisch S 108. 58 Herdegen FS Rupert Scholz, 2007, S 139 (146). 59 Vgl unten unter V. 3. (Rn 32 ff). 60 Vgl die vom Europäischen Rat Kopenhagen (21./22.6.1993) festgelegten Voraussetzungen für die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten (sog „Kopenhagener Kriterien“), in den Schlussfolgerungen des Vorsitzes unter 7 A III (Bulletin der EG 6-1993, S 13): „Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muß der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von MinderKarl-Peter Sommermann

268 | § 3 Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten

derung der Werte der Union allgemein zu den Zielen ihres auswärtigen Handelns; Art 21 EUV zählt die Werte bzw Ziele nochmals auf.61 Erweitert wird der Wert- bzw Zielkanon in beiden Bestimmungen durch eine Reihe weiterer materialer Prinzipien wie Frieden, globale nachhaltige Entwicklung und Solidarität angesprochen. Angesichts der Tatsache, dass die internationalen Beziehungen durch unterschiedliche Wertvorstellungen und Interessen der handelnden Akteure geprägt sind, muss hier den für die Pflege der internationalen Beziehungen zuständigen Unionsorganen ein weitergehender Ermessensspielraum eingeräumt werden.62 Eine Verletzung der Art 2 und 3 EUV kann in auswärtigen Angelegenheiten allenfalls dann festgestellt werden, wenn eine Maßnahme dem Kerngehalt eines Wertes oder Ziels zuwiderläuft, ohne dass dies durch Zwänge internationaler Rücksichtnahme gerechtfertigt wäre. Unabhängig davon bilden die in Art 2 EUV und Art 3 V EUV genannten Werte und Ziele Direktiven auswärtigen Handelns der EU, deren Konkretisierung immer wieder neu im politischen Prozess erfolgen muss.

6. Die Lösung von Kollisionsfällen 17 Die aus der Offenheit der Wertkonzepte gefolgerte Unterscheidung zwischen Be-

griffskern und Begriffshof bzw Wertkern und Werthof trägt zugleich der Tatsache Rechnung, dass Werte in einem Gemeinwesen nicht isoliert betrachtet werden dürfen, sondern Elemente einer übergreifenden Werteordnung sind. Die aus Werten abzuleitenden Forderungen können miteinander kollidieren, so etwa Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, wenn die parlamentarische Mehrheit rückwirkende Regelungen verabschieden will. Hier muss zwischen den konkurrierenden Werten ein Ausgleich geschaffen werden. Dabei darf einem Wert nicht schematisch der Vorrang gegenüber einem anderen Wert gegeben werden, sondern es muss im Einzelfall unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Intensität der Betroffenheit der beteiligten Werte eine Lösung gesucht werden.63 So bedeutet das Verbot des Erlasses rückwirkender Regelungen einen relativ geringen Eingriff in die Freiheit des Gesetzgebers, während die Zulassung von Rechtsnormen, die an abgeschlossene Sachverhalte nachträglich erhebliche Belastungen für die Bürger knüpfen, einen deutlichen Verlust an Rechtssicherheit mit sich brächte. Zudem würde dann, wenn jederzeit mit überraschenden nachträglichen Belastungen

_____ heiten verwirklicht haben […]“. Weitere Kriterien sind die „Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten“ und die Übernahme der „aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen“. 61 Zu den das auswärtige Handeln der EU betreffenden Zielbestimmungen vgl Kruse S 129 ff. 62 Vgl entsprechend zur Bindungswirkung der Staatszielbestimmungen in auswärtigen Angelegenheiten Sommermann S 387 ff. 63 Vgl entsprechend zu Zielbestimmungen Sommermann S 411 ff. Karl-Peter Sommermann

IV. Werte der Union und Werte der Gesellschaft | 269

zu rechnen wäre, letztlich die Dispositionsfreiheit der Bürger nachhaltig beeinträchtigt. Bei nicht nur unerheblichen, nachträglich an frühere Sachverhalte anknüpfenden Belastungen, mit denen die Bürger nicht rechnen konnten, ist zugleich der Kerngehalt des Rechtsstaatsprinzips betroffen, zu dem als Teil der Rechtssicherheit ein Mindeststandard an Berechenbarkeit des Handelns der Unionsorgane gehört.64 Nach der Rechtsprechung des EuGH verbietet der Grundsatz der Rechtssicherheit „es zwar im Allgemeinen, den Beginn der Geltungsdauer eines Rechtsakts der Gemeinschaft auf einen Zeitpunkt vor dessen Veröffentlichung zu legen“; dies könne aber „ausnahmsweise dann anders sein, wenn ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel es verlangt und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet ist“.65 Insgesamt ist festzuhalten, dass die Lösung von Kollisionsfällen zunächst eine 18 genaue Identifizierung der betroffenen Werte sowie eine Einschätzung des jeweiligen Grades ihrer Betroffenheit voraussetzt. Erst auf dieser Grundlage kann eine wechselseitige Zuordnung, ein Ausgleich vorgenommen werden. Kein Raum für Abwägungen bleibt dann, wenn in den Kern eines Wertes eingegriffen würde. Dies setzt freilich voraus, dass die Konkretisierung der Kerngehalte so erfolgt, dass eine „Kernkollision“ ausgeschlossen bleibt. In Anlehnung an die dogmatischen Ansätze, die auf nationaler Ebene zur Bestimmung des Wesensgehalts eines Grundrechts vertreten werden,66 könnte eine Lösung auch darin bestehen, dass nicht nur der „Werthof“, sondern auch der „Wertkern“ relativ bleibt, dh sein Gehalt letztlich immer erst durch Abwägung im konkreten Fall ermittelt werden kann. IV. Werte der Union und Werte der Gesellschaft IV. Werte der Union und Werte der Gesellschaft Neben den Werten, auf die sich die Union gründet, statuiert Art 2 EUV auch Werte, 19 die „allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam“ sind, nämlich Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern. Während die erste Gruppe von Werten die Grundlage der Union und damit das Handeln der Unionsorgane sowie der Staatsorgane, soweit sie sich im Anwendungsbereich des Unionsrechts bewegen, determiniert, bezieht sich die zweite Gruppe von Werten auf die „Gesellschaft“. Ähnlich wie die in den Schrankenbestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention zu finden-

_____ 64 Zu den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäben des Vertrauensschutzes bei echter und unechter Rückwirkung vgl nur BVerfG, 2 BvL 2/66, BVerfGE 30, 367 (387 ff); 2 BvL 17/69, BVerfGE 30, 392 (402 f); 1 BvR 3067/08, BVerfGE 122, 374 (394). 65 EuGH, Rs C-376/02 – Goed Wonen, Rn 33 mwN. 66 Vgl dazu nur Kingreen/Poscher Rn 312 ff. Karl-Peter Sommermann

270 | § 3 Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten

de Formel „notwendig in einer demokratischen Gesellschaft“67 spricht Art 2 S 2 EUV die Werte der Gesellschaft als systemprägende Leitprinzipien an. Als solche beziehen sie sich sowohl auf die Mitgliedstaaten als auch auf die Union. Damit wird neben den Gesellschaften in den Mitgliedstaaten eine sich entwickelnde transnationale europäische Gesellschaft angesprochen,68 die ihr Korrelat in der europäischen Unionsbürgerschaft und den europäischen Grundrechten findet. Wenngleich man in der Statuierung gesellschaftlicher Werte gerade wegen ihrer Verankerung im Unionsvertrag noch nicht eine Hinwendung zu einem „gesellschaftlichen Konstitutionalismus“ sehen kann,69 so geht es doch um eine Stärkung des europäischen Verfassungsverbunds durch gesellschaftliche Mitverantwortung. Allerdings kann Art 2 S 2 EUV nicht so gedeutet werden, dass die dort aufge20 zählten Werte im Sinne rechtlich verbindlicher Grundpflichten für alle Unionsbürger gelten. Die Erzwingung von Toleranz ist in einem freiheitlichen System, das in Art 2 S 1 EUV angesprochen wird, nur denkbar, wenn andernfalls konkrete Rechte einer Person verletzt würden. Der Verweis auf die gesellschaftlichen Werte ist vielmehr so zu verstehen, dass es in den Mitgliedstaaten und der Union darum gehen muss, die Rahmenbedingungen für die Verwirklichung der gesellschaftlichen Werte zu verbessern. Unbeschadet dieser Deutung ist zu beachten, dass die als gesellschaftliche Werte anerkannten Grundsätze teilweise auch an anderer Stelle im Primärrecht als verbindliche Prinzipien für das Handeln der Unionsorgane und der Organe der Mitgliedstaaten niedergelegt sind, so etwa das Prinzip der Nichtdiskriminierung und das Gebot der Gleichheit von Frauen und Männern. Im Hinblick auf die Verpflichtung der Mitgliedstaaten und der Union, die Rah21 menbedingungen für die Verwirklichung der gesellschaftlichen Werte zu verbessern, können diese auch als Interpretationskriterien für das übrige Primärrecht sowie für das sekundäre Unionsrecht Bedeutung gewinnen. So wirkt etwa das Prinzip des Pluralismus einer Unionspolitik entgegen, die einseitig ein bestimmtes Gesellschaftsmodell fördert. Freilich bewegt man sich hier jedenfalls bei der rechtlichen Erörterung in einem komplexen Terrain, das durch eine Vielzahl von Werten und Prinzipien des Unionsrechts mitbestimmt wird.

_____ 67 Vgl Art 8 II, 9 II, 10 II, 11 II EMRK. 68 Hierin sieht Blanke/Mangiameli/Mangiameli Art 2 TEU Rn 35 f ein besonders innovatives Element des Lissabonner Vertrags; zweifelnd Calliess/Ruffert/Calliess Art 2 EUV Rn 30. 69 Zum Konzept des gesellschaftlichen Konstitutionalismus (societal constitutionalism) näher Grimm Zukunft der Verfassung S 293 (303 ff). Karl-Peter Sommermann

V. Die grundlegenden Werte der Union | 271

V. Die grundlegenden Werte der Union V. Die grundlegenden Werte der Union Die in Art 2 S 1 EUV aufgezählten „Werte, auf die sich die Union gründet“, sind 22 mehrheitlich dem Grundgedanken der rule of law bzw Rechtsstaatlichkeit zuzuordnen, wenn man diese nicht auf formelle Anforderungen an staatliches Handeln beschränkt. Als international konsensfähiger Minimalgehalt von rule of law und Rechtsstaatsprinzip kann der Ausschluss von Willkür durch Rechtsgebundenheit und richterliche Kontrolle betrachtet werden.70 Das Willkürverbot findet bereits in dieser engen Perspektive – ebenso wie die weiteren heute anerkannten Elemente der Rechtsstaatlichkeit von dem Bestimmtheitsgebot über die Rechtssicherheit bis hin zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – seinen materialen Bezugspunkt im Freiheitsschutz. In diesem Sinne war namentlich in Deutschland der Schutz und die Förderung der individuellen Freiheit Ausgangspunkt der Rechtsstaatsidee. Die von Immanuel Kant zum höchsten Staatszweck erklärte Sicherung der Freiheit durch Gesetze71 lag der ersten dogmatischen Ausgestaltung des (von Kant noch nicht benutzten) Rechtsstaatsbegriffs durch Robert von Mohl (1799–1875) zugrunde. Ein Rechtsstaat könne, so schrieb Mohl in seiner zuerst 1832/34 erschienenen „PolizeiWissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates“, „keinen andern Zweck haben, als den: das Zusammenleben des Volkes so zu ordnen, dass jedes Mitglied desselben in der möglichst freien und allseitigen Übung und Benützung seiner sämtlichen Kräfte unterstützt und gefördert werde“.72 Die wesentliche Aufgabe sah Mohl daher darin, „die Hindernisse zu beseitigen, welche der allseitigen Entwicklung der Kräfte der Bürger im Wege stehen“.73 In einer ganz ähnlichen Formulierung griffen später Art 3 S 2 der italienischen Verfassung von 1948 und Art 9 II der spanischen Verfassung von 1978 diesen Gedanken auf. In England betonte bereits der noch heute im Zusammenhang mit der rule of law meistzitierte74 Verfassungsrechtler Albert Venn Dicey (1835–1922) in seinem Werk „The Law of the Constitution“, dass das Recht auf individuelle Freiheit, ohne ausdrücklich in einem Rechtekatalog niedergelegt und konkretisiert zu sein,75 Teil der Verfassung sei, wobei er dafür in erster Linie die der rule of law immanenten Elemente der Rechtsbindung und der gerichtlichen Rechtschutzinstrumente, insbesondere den writ of habeas corpus anführt.76

_____ 70 Vgl Bradley/Ewing/Knight S 94, 99 ff; Williams S 73. 71 Vgl Kant Gemeinspruch S 125, 154 f; ders Metaphysik S 305, 337. 72 Vgl vMohl § 2 S 8. Dazu Sommermann S 49 ff; Gamper S 235. 73 vMohl § 3 S 9. 74 In der bei Foley S 35 wiedergegebenen Statistik rangiert Dicey mit großem Abstand vorn. 75 Vgl heute aber den Human Rights Act 1998 vom 9.11.1998, Acts of Parliament 1998 Chapter 42; das Gesetz trat in allen Teilen am 2.10.2000 in Kraft. 76 Dicey S 107 ff (S 117: “In England the right to individual liberty is part of the constitution, because it is secured by the decisions of the Courts […]”), 123 ff. Karl-Peter Sommermann

272 | § 3 Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten

Heute wird weithin der Schutz der Menschenwürde, die seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 auch im Völkerrecht Ausgangs- und Bezugspunkt der Menschenrechte ist,77 als materieller Kern der rule of law und des Rechtsstaatsprinzips angesehen.78 Die individuelle Freiheit stellt sich dabei ebenso wie das Gleichheitsprinzip als eine wesentliche Ausprägung der Menschenwürde dar. Ob auch in der Perspektive des Unionsrechts die Grundsätze der Menschenwür24 de, der Freiheit und der Gleichheit bereits in dem Konzept der „Rechtsstaatlichkeit“ enthalten sind, kann hier dahinstehen: Durch die ausdrückliche Nennung von Menschenwürde, Freiheit und Menschenrechten werden jedenfalls die materialen Bezugspunkte der formellen Rechtsstaatlichkeit klargestellt. Insgesamt ist zu beobachten, wie in dem unionsrechtlichen Konzept der Rechtsstaatlichkeit bzw rule of law – beide Begriffe werden in den verschiedenen Sprachfassungen des EUV synonym verwendet – kontinentaleuropäische und angelsächsische Verfassungsvorstellungen fusionieren.79 23

1. Menschenwürde 25 Die als erster Wert statuierte Menschenwürde wird an hervorgehobener Stelle auch

in der Grundrechtecharta verankert. In der Präambel als „unteilbarer und universeller Wert“ angesprochen, ist die Unantastbarkeit der Menschenwürde sodann Gegenstand des ersten Artikels der Charta. Der EuGH hat das Gebot der Achtung der Menschenwürde bereits seit Längerem als Bestandteil des Primärrechts anerkannt80 und noch vor Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags festgestellt, dass „die Gemeinschaftsrechtsordnung unbestreitbar auf die Gewährleistung der Achtung der Menschenwürde als eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes“ abziele.81 Entsprechend erlaubt beispielsweise die Richtlinie über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen von 1998 die Ausübung eines Patents nur bei Gewährleistung der

_____ 77 Vgl Abs 1 der Präambel und Art 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. 78 Vgl die Nachweise aus dem europäischen Schrifttum bei vMangoldt/Klein/Starck/Sommermann Art 20 GG Rn 242 ff (mit Nachweisen aus dem europäischen Schrifttum); Williams S 73 f (unter Bezugnahme auf Joseph Raz). Zur Erneuerung des materiellen Konzepts der rule of law, in dem die Menschenwürde den zentralen Bezugspunkt bildet, vgl Rivers FS Christian Starck, 2007, S 891 (899); zu den ideengeschichtlichen Wurzeln im Rechtsstaatsdenken näher Enders S 238 ff. 79 Näher dazu Magiera/Sommermann/Sommermann S 75 (77 ff). Zum universellen Geltungsanspruch rechtsstaatlicher Prinzipien und der „Ungleichzeitigkeit“ ihrer Entwicklung in der Welt Schulze-Fielitz ZfVP 5 (2011) 1, 1–23. 80 Vgl EuGH, Rs C-13/94 – P / S und Cornwall County Council, Rn 22; Rs C-377/98 – Niederlande/ Parlament und Rat, Rn 70. 81 EuGH, Rs C-36/02 – Omega, Rn 34. Karl-Peter Sommermann

V. Die grundlegenden Werte der Union | 273

„Würde und Unversehrtheit des Menschen“ 82 und verpflichtet der Schengener Grenzkodex von 2006 die Grenzschutzbeamten bei der Durchführung ihrer Aufgaben auf eine „uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde“.83 Der herausgehobenen Verankerung der Menschenwürde im Primärrecht ist zu 26 entnehmen, dass ihre Anerkennung von den EU-Mitgliedstaaten als Grundlage jeglicher Verfassungsordnung angesehen wird.84 Damit wird zugleich der materielle Kern des gemeineuropäischen Konstitutionalismus gekennzeichnet, der sich in einen universellen Kontext fügt. Nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in der Präambel der Charta der Vereinten Nationen85 und sodann in der Präambel der Amerikanischen Menschenrechtserklärung86 an prominenter Stelle genannt, schließlich in Art 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen87 zum menschenrechtlichen Leitprinzip erhoben, wurde die Menschenwürdegarantie im Bonner Grundgesetz in ihrer subjektiv-rechtlichen Dimension zu einer abwägungsfesten Bastion des Einzelnen88 und in ihrer objektiv-rechtlichen Dimension, insbesondere in Verbindung mit den Grundrechten, zu einem die gesamte Rechtsordnung prägenden Verfassungsprinzip entfaltet.89 Später haben eine Reihe weiterer Verfassungen der europäischen Staaten dieses der Idee der Grund- und Menschenrechte zugrundeliegende Prinzip ebenfalls ausdrücklich verankert.90 Das Menschenwürdeprinzip hat in der abendländischen Geistesgeschichte vor 27 allem zwei Wurzeln: Nach der christlichen Tradition leitet sich die Menschenwürde aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen her (Imago dei-Lehre), welche ihn befähigt, sich selbst Zwecke zu setzen und zwischen gut und böse zu unterscheiden.91 Nach der Tradition der rationalistischen Philosophie der Aufklärung

_____ 82 16. Erwgr (S 1) der RL 98/44/EG v 6.7.1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen, ABl 1998 L 213/13, der insb iVm Art 6 zu lesen ist. 83 Art 6 Abs 1 der VO 562/2006 v 15.3.2006, ABl 2006 L 105/1. 84 Zur Menschenwürde als „kulturanthropologischer Prämisse“ des Verfassungsstaates vgl Häberle, Europäische Verfassungslehre, 1. Aufl, S 285 ff. 85 BGBl 1973 II 431 („[…] to reaffirm faith in fundamental human rights, in the dignity and worth of the human person […]”). 86 American Declaration of Rights and Duties of Man, abgedruckt in: AJIL 43 (1949), 133 ff. 87 Resolution 217 (III) A, GAOR 3rd session, Resolutions, S 71, und Yearbook of the United Nations 1948–49, S 535. 88 Vgl BVerfG, 1 BvR 426/02, BVerfGE 107, 275 (284) – Benetton II; näher vMangoldt/Klein/Starck/ Starck Art 1 GG Rn 33 ff. Zur Debatte über die Erstreckung der Abwägungsdogmatik auf die Menschenwürdegarantie vgl Classen DÖV 2009, 689 ff, u vBernstorff JZ 2013, 905 ff, beide im Ergebnis ablehnend; aA Baldus, AöR 2011, 529 (545 ff); neue Differenzierungsansätze bei Nettesheim, AöR 2005, 71 (98 ff). 89 Vgl BVerfG, 1 BvR 193/97, BVerfGE 109, 256 (311 ff) – Ehenamen; s insb S 311: „Die Menschenwürde ist tragendes Konstitutionsprinzip und oberster Verfassungswert …“. 90 Eingehender rechtsvergleichender Überblick bei Meyer/Borowsky Art 1 GRCh Rn 2. 91 Eingehend Brunner/Conze/Koselleck/Kondylis S 645 ff; Enders S 176 ff; s a Kerber/Pannenberg S 61, 64 ff; Vögele S 173 ff; Ruiz Miguel JöR 2002, 281 (283 ff); Detjen S 75 ff. Karl-Peter Sommermann

274 | § 3 Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten

folgt die Würde des Menschen aus seiner Vernunftbegabung und seinem freien Willen, allerdings im Rahmen eines Würdekonzepts, in dem Vernunft und Willensfreiheit von der Vorstellung göttlicher Gnade gelöst sind. An deren Stelle tritt die Idee der völligen Selbstbestimmung, der sittlichen Autonomie des Menschen.92 Immanuel Kant hat in diesem Sinne vom Menschen als einem „homo noumenon“ gesprochen.93 Neben den christlichen und rationalistischen Ansätzen gibt es freilich zahlreiche andere religiöse, ethische und auch sozialwissenschaftliche Begründungsansätze.94 Sowohl die Verfasser der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als auch der deutsche Verfassungsgeber sowie in jüngerer Zeit der europäische Verfassungskonvent haben sich entschieden, religiöse oder naturrechtliche Bezugnahmen zu unterlassen.95 Die Menschenwürde sollte als religiös oder weltanschaulich „nicht interpretierte These“ (Theodor Heuss)96 zum tragenden Verfassungsprinzip erhoben werden, ohne als allgemeines Prinzip mit den Gegebenheiten einer pluralistischen Gesellschaft in Widerstreit zu geraten. Dass eine Interpretation der Menschenwürde als Rechtsbegriff dessen geistesgeschichtliche Wurzeln nicht ausblenden darf, liegt freilich auf der Hand.97 Der Kern der Menschenwürde liegt in der Anerkennung und Achtung des 28 Eigenwertes einer jeden Person und damit in dem Verbot, sie zum bloßen Objekt öffentlichen oder privaten Handelns herabzuwürdigen.98 Konturen gewinnt die Menschenwürdegarantie im Unionsrecht dadurch, dass der mit „Die Würde des Menschen“ überschriebene Titel I der Grundrechtecharta nicht nur die weitgehend mit Art 1 I des Bonner Grundgesetzes übereinstimmende Menschenwürdegarantie ent-

_____ 92 Näher Brunner/Conze/Koselleck/Kondylis S 665 ff; Enders S 184 ff; Ruiz Miguel JöR 2002, 281 (288 ff); Detjen S 77 f. Kritisch zu dieser Herleitung Scheler S 370 ff, nach dem die Konzeptualisierung des Menschen als „Vernunftperson“ eine Entpersonalisierung impliziert. Folge dieses Verständnisses sei nicht Autonomie, „sondern Logonomie und gleichzeitig äußerste Heteronomie der Person“ (S 372). 93 Kant Metaphysik S 9, 69; zur Rezeption der kantischen Begründung der Menschenwürde durch das Bundesverfassungsgericht vgl nur Geddert-Steinacher S 31 ff. 94 Vgl Häberle S 699 ff. 95 Dazu Rensmann S 30. Wegen einer Kritik vgl beispielhaft Thalmair ARSP 2007, 198 (200 f), der hinsichtlich des Verfassungsvertrags bemängelt, dass „ein Bekenntnis zum metaphysischen Grund der Menschenwürde“ fehle, und eine Formulierung nach dem Vorbild der Präambel der polnischen Verfassung empfiehlt. 96 Heuss S 72 bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes in der vierten Sitzung des Grundsatzausschusses am 23.9.1948 (Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Bd 5/I, S 72). Die Menschenwürde könne daher „der Eine theologisch, der Andere philosophisch, der Dritte ethisch auffassen“ (ebd, S 67). Vgl dazu Rensmann, S 30. 97 Vgl vMangoldt/Klein/Starck/Starck Art 1 GG Rn 3 ff (S 25, 28 ff); Enders S 166 f. 98 Vgl GA Stix-Hackl, Rs C-36/02 – Omega, Nr 78; aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts s nur das Urteil zur lebenslangen Freiheitsstrafe, 1 BvL 14/76, BVerfGE 45, 187 (228); vertiefend Rosen S 80 ff. Karl-Peter Sommermann

V. Die grundlegenden Werte der Union | 275

hält, sondern eine Reihe weiterer Rechte und Prinzipien umfasst, die eng mit der Menschenwürdegarantie verbunden sind. Wenngleich die Menschenwürde als Ursprungspunkt aller Menschenrechte betrachtet wird, wobei der Schutzbereich der Rechte freilich häufig über den engeren „Menschenwürdegehalt“ hinausgeht, sind einige Rechte besonders eng mit der Menschenwürde verbunden. Die Grundrechtecharta nennt das Recht auf Leben,99 das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit, einschließlich des Verbots bestimmter biomedizinischer Maßnahmen wie zB das reproduktive Klonen, sowie das Verbot der Folter und erniedrigender Behandlung und das Verbot von Sklaverei und Zwangsarbeit.100 Art 2 EUV verankert die Menschenwürde als rein objektivrechtliches Leitprin- 29 zip. Die individualrechtliche Seite der Menschenwürde leitet sich aus Art 1 GRCh im Sinne eines „sozialen Wert- und Achtungsanspruchs […], der dem Menschen wegen seines Menschseins zukommt“,101 ab.102 Der EuGH hatte bereits Gelegenheit, die abwehrrechtliche Seite der Menschenwürdegarantie zur Geltung zu bringen.103

2. Freiheit Mit dem Grundwert der Freiheit wird das Prinzip der individuellen Selbstbe- 30 stimmung angesprochen,104 die Ausdruck der Menschenwürde ist. Darin kommt ein holistischer Ansatz zum Ausdruck, der nicht auf Marktfreiheiten beschränkt ist.105 Jede Einschränkung der Freiheit bedarf danach der Rechtfertigung (negative Freiheit). Zugleich ist es, wie sich jedenfalls aus der Förderverpflichtung des Art 3 I EUV ergibt, Aufgabe der Europäischen Union, zur Schaffung günstiger Bedingungen der Freiheitsausübung beizutragen (positive Freiheit).106 Konkretisierungen des Freiheitsprinzips finden sich in den Art 6 bis 19 GRCh, 31 wo die im sozialen Leben besonders hervortretenden Bereiche der Freiheitsbetätigung, einschließlich der Unternehmensfreiheit und des Privateigentums, mit eigenständigen Schutzvorschriften versehen werden.

_____ 99 Vgl BVerfG, 1 BvR 357/05, BVerfGE 115, 118 (152) – Luftsicherheitsgesetz: „Das menschliche Leben ist die vitale Basis der Menschenwürde als tragendem Konstitutionsprinzip und oberstem Verfassungswert […]“. 100 S im Einzelnen Art 2–5 GRCh. 101 Vgl Jarass GRCh Art 1 Rn 6. 102 Zum subjektivrechtlichen Charakter der Menschenwürdegarantie in Art 1 der Charta vgl Merten/Papier/Niedobitek HGR VI/1 § 159, S 923, 955 f (Rn 65). 103 EuGH, Rs C-148/13 bis 150/13 – A, B und C / Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie, Rn 53 u 65. 104 Vgl Streinz/Pechstein Art 2 EUV Rn 3; Hummer/Obwexer EuZW 2000, 485 (486). 105 Vgl Blanke/Mangiameli/Mangiameli Art 2 TEU Rn 16. 106 Zur Frage, ob Art 2 EUV neben dem Prinzip individueller Freiheit auch das Prinzip kollektiver Freiheit, bezogen auf das Verhältnis zwischen Union und Mitgliedstaaten bzw der europäischen Völker umfasst, s Williams S 199 ff, 208 ff. Karl-Peter Sommermann

276 | § 3 Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten

3. Demokratie 32 Das Bekenntnis zur Demokratie entspricht der demokratischen Ausrichtung aller

Mitgliedstaaten. Der Demokratie liegt das Leitbild der politischen Selbstbestimmung sich wechselseitig als gleichberechtigt anerkennender Bürger zugrunde. Auch die Menschenwürde wird „als organisatorische Konsequenz der Menschenwürde“ betrachtet.107 Was den Inhalt des Demokratieprinzips im Einzelnen anbetrifft, so lassen sich trotz der Vielfalt der Erscheinungsformen in den mitgliedstaatlichen Systemen bestimmte Mindestanforderungen identifizieren. Dazu gehören regelmäßige freie und gleiche Wahlen108, eine auf Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit basierende freie Meinungs- und Willensbildung des Volkes, ein Mehrparteiensystem und die Achtung des durch Minderheitenschutz gemäßigten Mehrheitsprinzips.109 Soweit Entscheidungen nicht direkt vom Volk getroffen werden, müssen die für das Volk handelnden Staatsorgane ihre Legitimation unmittelbar oder mittelbar aus einem Willensakt des Volkes herleiten.110 Es ist sicherzustellen, dass der politische Prozess offen bleibt, insbesondere Minderheiten zu Mehrheiten werden können.111 Zu Recht wurde zudem darauf hingewiesen, dass eine funktionierende Demokratie letztlich auf die Entwicklung einer „Kultur des Vertrauens“ angewiesen ist.112 Gemessen an diesen Standards einer nationalen Demokratie weist die institu33 tionelle Struktur der europäischen Union eine abweichende Ausgestaltung auf. So wird das Europäische Parlament nicht gemäß dem Prinzip gleichen Wahlrechts gewählt und haben sich bislang – sieht man von der Fraktionsbildung im Europäischen Parlament ab – noch nicht europaweite Parteienstrukturen gebildet. Die für eine lebendige Demokratie notwendige Kommunikationsgemeinschaft in politischen Angelegenheiten, die eine „gegenseitige Öffnung der nationalen Öffentlichkeiten füreinander“ erfordert,113 entsteht erst allmählich.114

_____ 107 Häberle Der Kooperative Verfassungsstaat, S 378 ff. 108 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Hilf/Schorkopf Art 2 EUV Rn 28 nehmen Art 3 ZP I EMRK als „Ausgangspunkt für die Sinndeutung dieses Werts“. 109 Bauer/Huber/Sommermann/Sommermann S 191, 198 ff; vMangoldt/Klein/Starck/Sommermann Art 20 GG Rn 81 ff (mit rechtsvergleichenden Nachweisen); vgl auch Haratsch EuR 2018 Beiheft 1, 73 (76 ff); zur demokratischen Freiheit und demokratischen Gleichheit als „Kern der demokratischen Idee“ eingehend Unger S 250 ff; zu den konzeptionellen Grundlagen der Demokratie näher aus rechtsvergleichender Perspektive Grewe/Ruiz Fabri S 191 ff, 223 ff. 110 Vgl Weber Verfassungsvergleichung S 107 f, 113 ff. 111 Vgl Scheuner S 58 f; Heun S 194 ff. 112 Niedobitek/Sommermann/Nettesheim S 39 ff. 113 Habermas S 77; vgl auch ebd: „Transnationalisierung der bestehenden nationalen Öffentlichkeiten“. 114 Zu den derzeitigen „Defiziten einer europäischen Öffentlichkeit“ und den Möglichkeiten der Herausbildung funktional äquivalenter europäischer Öffentlichkeiten unter den Bedingungen sprachlicher Heterogenität s Hanschmann S 204 ff, 226 ff. Karl-Peter Sommermann

V. Die grundlegenden Werte der Union | 277

Mit Blick auf diese Abweichungen vom herkömmlichen Demokratiemodell wird 34 von einem Teil der Literatur nach wie vor ein Demokratiedefizit der Union konstatiert.115 Andere Autoren postulieren angesichts der fortbestehenden Unterschiede zwischen der Europäischen Union und einem europäischen Bundesstaat eine eigenständige Konzeptualisierung der Demokratie in der Europäischen Union.116 In diesem Sinne hat auch das Bundesverfassungsgericht betont, dass „die Demokratie der Europäischen Union nicht staatsanalog ausgestaltet sein“ müsse, solange „die europäische Zuständigkeitsordnung nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in kooperativ ausgestalteten Entscheidungsverfahren unter Wahrung der staatlichen Integrationsverantwortung besteht und solange eine ausgewogene Balance der Unionszuständigkeiten und der staatlichen Zuständigkeiten erhalten bleibt“.117 Prägend für die Europäische Union nach dem derzeitigen Integrationsstand ist eine dualistische Legitimationsstruktur, nach der die demokratische Legitimation zum einen durch die im Rat vertretenen, ihrerseits (jedenfalls mittelbar) durch das jeweilige Staatsvolk legitimierten Regierungsvertreter, zum anderen durch das unmittelbar gewählte Europäische Parlament vermittelt wird.118 Dass die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments bei der Sitzverteilung nach wie vor dem Prinzip der Repräsentation der europäischen Völker und nicht dem eines Unionsvolks folgt, ist dem derzeitigen Integrationsstand angemessen. Nach dem weiter geltenden Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung können nur die Mitgliedstaaten durch völkerrechtlichen Vertrag die Kompetenzverteilung ändern. Und der Diskurs der Öffentlichkeit über europapolitische Fragen findet zurzeit noch vorrangig in den nationalen politischen Arenen statt. Unbeschadet dieser durch den aktuellen Integrationsstand bedingten Beson- 35 derheiten verwirklicht das Europäische Unionsrecht wesentliche Prinzipien eines demokratischen Gemeinwesens. Titel II des EUV konkretisiert das demokratische Konzept der Union dahin, dass die Entscheidungsstrukturen auf repräsentativ-demokratischen Grundsätzen beruhen, die durch einzelne partizipativdemokratische Elemente ergänzt werden. In Erkenntnis der Defizite im Hinblick auf eine gleiche Repräsentation aller Unionsbürger (gemessen an staatlichen Maßstäben) schreibt der Unionsvertrag den nationalen Parlamenten weiterhin eine wichti-

_____ 115 Dazu Streinz Rn 377 ff; aus der Perspektive vor dem Lissabonner Vertrag Bauer/Huber/ Sommermann/Calliess S 281, 289 ff. 116 Vgl Calliess Lissabon S 167 f; Bauer/Huber/Sommermann/Nettesheim S 143 (164 ff); Bauer/Calliess/Burgorgue-Larsen S 83 ff. Zur Weiterentwicklung der Demokratie in der Europäischen Union vgl auch die Beiträge in Bauer/Huber/Sommermann, Teil II. 117 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (368 f) – Lissabon-Vertrag. 118 Vgl dazu Kluth S 67 ff; Sommermann DÖV 2003, 1009 (1010 f). Karl-Peter Sommermann

278 | § 3 Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten

ge Rolle bei der Entwicklung der Gemeinschaftspolitiken zu.119 Insgesamt kann das System der Europäischen Union als eine sich schrittweise entfaltende überstaatliche Demokratie begriffen werden, für die der in Art 2 EUV verankerte Grundwert „Demokratie“ ein Leitprinzip darstellt, das über die demokratischen Errungenschaften des derzeitigen Integrationsstandes der Europäischen Union hinausreicht.

4. Gleichheit 36 Aus dem Menschenwürdeprinzip folgt wie dargelegt die Anerkennung der Gleichheit aller Menschen. Als konstitutives Prinzip der Verfassungsordnung der Europäischen Union ist das Gleichheitsgebot heute über das ursprüngliche Prinzip der gleichen Geltung der Marktfreiheiten für alle Bürger der EU-Mitgliedstaaten hinaus präsent. Bezog sich das Diskriminierungsverbot früher allein auf die Grundfreiheiten der Gemeinschaft, gilt es heute als genereller Grundsatz. Titel III der Grundrechtecharta regelt neben dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Prinzip der Nichtdiskriminierung besondere Anwendungsbereiche des Gleichheitsgebots wie die Gleichheit zwischen den Geschlechtern und die Rechte älterer Menschen. Bei der Anwendung des Unionsrechts ist der Gleichbehandlungsgrundsatz zu beachten, der schon früh vom EuGH als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts anerkannt wurde. 120 Er gebietet, dass „vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden, es sei denn, daß eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt wäre“.121 Er bindet nicht nur die Rechtsetzungsorgane, sondern auch die ausführenden Organe bei der Ausübung des Ermessens. Während Art 2 EUV die Gleichbehandlung als rein objektivrechtlich wirkendes Prinzip statuiert, vermitteln die in Titel III der Grundrechtecharta (Art 20 bis Art 26) niedergelegten Regelungen subjektive Rechtspositionen. Entgegen einer im Schrifttum vertretenen Meinung122 wird in Art 2 EUV mit der 37 „Gleichheit“ nicht zugleich die Gleichheit der Mitgliedstaaten angesprochen. Die Verpflichtung der Union, „die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen“ zu achten, ist in Art 4 II EUV niedergelegt. Der systematische Zusammenhang der Gleichheit in Art 2 EUV mit der Menschenwürde und der Freiheit spricht für eine auf die Gleichheit der Unionsbürger bezogene Auslegung.

_____ 119 Vgl Art 12 EUV iVm dem Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union sowie dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. 120 Vgl EuGH, Rs 810/79 – Überschär, Rn 16. 121 Ebd. 122 So Calliess/Ruffert/Calliess Art 2 EUV Rn 23 f; Blanke/Mangiameli/Mangiameli Art 2 TEU Rn 27; wie hier hingegen: Streinz/Pechstein Art 2 EUV Rn 5. Karl-Peter Sommermann

V. Die grundlegenden Werte der Union | 279

5. Rechtsstaatlichkeit/rule of law Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit ist seit dem Maastrichter Vertrag von 1992 in der Präambel und seit dem Amsterdamer Vertrag von 1997 in den Grundlagenartikeln der Union verankert.123 Die Rechtsstaatsidee beruht wie dargelegt124 materiell auf den Grundwerten der Menschenwürde, der Freiheit und der Gleichheit. Zur Sicherung und Verwirklichung dieser Grundwerte und aus den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten schöpfend haben sich auch im Unionsrecht eine Reihe von Prinzipien herausgebildet, die die in Art 2 EUV angesprochene formelle Rechtsstaatlichkeit ausmachen. Dazu gehören auch Organisations- und Verfahrensprinzipien. Unter den durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs anerkannten rechtsstaatlichen Grundsätzen sind neben dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit125 und dem mittlerweile auch für Grundrechtseinschränkungen ausdrücklich im Primärrecht statuierten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 126 die Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie der Bestimmtheit hervorzuheben.127 Der EuGH hat diese Grundsätze freilich als eigenständige allgemeine Grundsätze des Unionsrechts identifiziert, ohne ausdrücklich eine dogmatische Zuordnung zum Rechtsstaatsprinzip vorzunehmen.128 Der Bestimmtheitsgrundsatz fordert, dass eine „Regelung, die nachteilige Folgen für Einzelne hat, klar und bestimmt und ihre Anwendung für die Einzelnen voraussehbar sein muss“; dies gilt im Anwendungsbereich des EU-Rechts auch für das nationale Recht.129 Auf den Vertrauensschutz soll sich jeder berufen können, „der sich in einer Lage befindet, aus der hervorgeht, dass die Gemeinschaftsverwaltung bei ihm durch

_____ 123 Vgl Art 6 I EUV idF des Amsterdamer Vertrags. Zur Rechtsstaatlichkeit in der EG/EU näher vBogdandy/Bast/vBogdandy S 13, 36 ff; Buchwald Der Staat 37 (1998), 189 ff; Hofmann/Marko/Merli/ Wiederin/Hofmann S 321 ff. 124 Oben unter V. vor 1. (Rn 22 ff). 125 Vgl Art 4 III und19 I UAbs 1 S 2 EUV. Vgl auch das Urteil des EuGH, Rs C-94/00 – Roquette Frères, Rn 27, wonach „das Erfordernis eines Schutzes vor willkürlichen oder unverhältnismäßigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung einer natürlichen oder juristischen Person einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts darstellt“. 126 Vgl Art 52 I GRCh. Als Maßstab der Kompetenzausübung der Europäischen Union war der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bereits seit dem Maastrichter Vertrag (Art 3b III, später Art 5 III EGV) im Unionsrecht verankert und durch den Amsterdamer Vertrag um das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit ergänzt worden; s seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags Art 5 IV EUV mit Protokoll Nr 20. 127 Zur Ausformung der rechtsstaatlichen Prinzipien im Gemeinschaftsrecht vgl im Übrigen Classen EuR 2008, Beiheft 3, 7 ff; Fernandez Esteban S 153 ff. 128 Dazu Classen EuR 2008, Beiheft 3, 7 (20 f). 129 Vgl nur das Urteil des EuGH, Rs C-17/03 – VEMW ua, Rn 80. Vgl aus dem Schrifttum HammerStrnad S 59 ff. Karl-Peter Sommermann

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280 | § 3 Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten

präzise Zusicherungen begründete Erwartungen geweckt hat“. 130 Dann jedoch, wenn „ein umsichtiger und besonnener Wirtschaftsteilnehmer in der Lage [ist], den Erlass einer Gemeinschaftsmaßnahme, die seine Interessen berühren kann, vorherzusehen, kann er sich im Fall ihres Erlasses nicht auf den genannten Grundsatz berufen“.131 Was den für den Bereich der Grundrechte in Art 52 I 2 GRCh niedergelegten Ver42 hältnismäßigkeitsgrundsatz anbetrifft, so gehören wie im deutschen Recht die Geeignetheit, die Erforderlichkeit und die Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) zum Prüfprogramm des EuGH. In diesem hat er festgestellt, dass „Handlungen der Gemeinschaftsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten [dürfen], was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist. Dabei ist, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen; ferner müssen die verursachten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen […]“.132 Für nationale Regelungen im Anwendungsbereich des Unionsrechts gilt Entsprechendes. Der EuGH hat die enge Verbindung des Rechtsstaatsprinzips mit dem Schutz 43 der Individualrechte betont. In seinem Urteil „Unión de Pequeños Agricultores“ vom 25. Juli 2002 heißt es:133 „Die Europäische Gemeinschaft ist jedoch eine Rechtsgemeinschaft, in der die Handlungen ihrer Organe daraufhin kontrolliert werden, ob sie mit dem EG-Vertrag und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, zu denen auch die Grundrechte gehören, vereinbar sind. Die Einzelnen müssen daher einen effektiven gerichtlichen Schutz der Rechte in Anspruch nehmen können, die sie aus der Gemeinschaftsrechtsordnung herleiten, wobei das Recht auf einen solchen Schutz zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört, die sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben. Dieses Recht ist auch in den Artikeln 6 und 13

_____ 130 EuGH, Rs C-369/09 P – ISD Polska ua / Kommission, Rn 123; vgl bereits die Urteile des EuGH, Rs 1/73 – Westzucker GmbH / Einfuhr- und Vorratsstelle für Zucker, Rn 6 ff; Rs 310/85 – Deufil / Kommission, Rn 20 ff; ferner EuGH, Rs C-182/03 – Belgien / Kommission, Rn 147 ff. 131 EuGH, Rs C-182/03 – Belgien / Kommission, Rn 147 ff (Rn 147); zur Frage der Zulässigkeit rückwirkender Regelungen s bereits oben III. 6. Zur Rechtsprechung des EuGH näher Borchardt EuGRZ 1988, 309 ff; Schwarz S 376 ff; Altmeyer S 11 ff; Auby/Dutheil de la Rochère/Auby S 473; zur Verwandtschaft des Vertrauensschutzes mit dem auch im Völkerrecht als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannten Prinzip von Treu und Glauben näher Pujol-Reversat RTDE 2009, 201 (213 ff); zum Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf die deutschen Vertrauensschutzregelungen näher Blanke Vertrauensschutz S 445 ff. 132 EuGH, Rs C-180/96 – Vereinigtes Königreich / Kommission, Rn 96. Zur Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung des EuGH vgl im Übrigen Pache NVwZ 1999, 1033 ff; Emmerich-Fritsche S 96 ff; Koch passim; zur Folgenberücksichtigung im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit vgl das Urteil des EuGH, Rs C-135/08 – Rottmann, Rn 55 ff. 133 EuGH, Rs C-50/00 P – Unión de Pequeños Agricultores / Rat, Rn 38 f. Karl-Peter Sommermann

V. Die grundlegenden Werte der Union | 281

der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert [...]“.

Die zitierte Passage ist nicht nur wegen der klaren Anerkennung eines Rechts der 44 Unionsbürger auf effektiven Rechtsschutz von Interesse, sondern auch wegen der Verbindung, die zwischen dem Rechtsschutz und dem seinerzeit in Art 6 I EUVertrag verankerten Rechtsstaatsprinzip hergestellt wird. Diese Verbindung erschließt sich in vollem Umfang erst, wenn man die englischsprachige Fassung des Urteils liest. Hiernach ist eine „Rechtsgemeinschaft“ nicht lediglich als eine Gemeinschaft von Staaten zu verstehen, die (auch) eine gemeinsame Rechtsordnung besitzt, sondern als eine „community based on the rule of law“, dh eine Rechtsstaatsgemeinschaft. Das Wort Rechtsgemeinschaft (Rechts-Gemeinschaft) – bzw neuerdings Rechtsunion134 (Rechts-Union) – wird somit in Parallele zum Wort Rechtsstaat (Rechts-Staat) gebraucht. Das Recht auf effektiven Rechtsschutz („auf einen wirksamen Rechtsbehelf“) wurde in diesem Sinne auch in die Grundrechtecharta aufgenommen.135 Damit kann das Rechtsschutzprinzip konzeptionell nicht mehr als ein allein im Interesse der Implementierung des Unionsrechts zu forderndes Instrument betrachtet werden, sondern es muss in erster Linie oder jedenfalls auch als ein im Interesse des Einzelnen liegendes Mittel zur Durchsetzung seiner individuellen Rechtspositionen begriffen werden.136 Der EuGH betont, dass die Rechtsschutzaufgabe ihm und den nationalen Gerichten gemeinsam obliege, wobei der in Art 3 Abs 3 UAbs 1 EUV niedergelegte Grundsatz loyaler Zusammenarbeit zu beachten sei.137

6. Menschenrechte, einschließlich Minderheitenrechte Die Garantie der Menschenwürde sowie der Freiheit und Gleichheit ist naturgemäß 45 mit der Anerkennung der Menschenrechte verbunden. Dies entspricht den konzeptionellen Grundlagen sowohl des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates138 als auch des internationalen Menschenrechtsschutzes. Wenn in Art 2 EUV die Minderheitenrechte besonders angesprochen werden, so wird dadurch der Schutz der kulturellen Minderheiten zum Prinzip erhoben. Dieses Prinzip trägt zugleich zur Wahrung der Vielfalt in der Europäischen Union bei, die in Vorschriften wie Art 3 IV und

_____ 134 So in der neueren Judikatur; vgl etwa EuGH, Rs C-274/12 P – Telefónica / Kommission, Rn 56; EuGH, Rs C-64/16 – Associação Sindical dos Juízes Portugueses, Rn 31. 135 Art 47 GRCh. 136 Näher Sommermann FS Detlef Merten, 2007, S 443 (456 ff). 137 EuGH, Rs C-64/16 – Associação Sindical dos Juízes Portugueses, Rn 32 ff. 138 Vgl bereits Hallstein S 48: „Denn die Menschenrechte sind Ausdruck der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie, und diese sind unverzichtbare Bedingungen für die Zugehörigkeit zur Europäischen Gemeinschaft.“ Karl-Peter Sommermann

282 | § 3 Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten

Art 5 III EUV als Ziel genannt wird, zudem, im politischen Sinne verstanden, zu einer lebendigen Demokratie, die davon lebt, dass Minderheiten zu Mehrheiten werden können. VI. Gemeinsame gesellschaftliche Werte VI. Gemeinsame gesellschaftliche Werte 46 Die in Art 2 S 2 EUV angesprochene „Gesellschaft“ findet wie dargelegt139 ihr Korrelat

in der Unionsbürgerschaft sowie der Grundrechtecharta. Angesprochen ist damit eine Gesellschaftsordnung, die für alle Mitgliedstaaten wesentliche gemeinsame Merkmale aufweist. So wie im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention ein demokratisches Gesellschaftsmodell die Interpretation und Begrenzungsmöglichkeiten der Konventionsrechte mitbestimmt, bildet auch das in Art 2 EUV angesprochene Gesellschaftskonzept einen Interpretationsrahmen für das Unionsrecht und die in ihm enthaltenen Prinzipien und Rechte.

1. Pluralismus 47 Der Pluralismus bildet als erster genannter Wert die Grundlage für eine weitere In-

tegration,140 ohne dass die Vielfalt einem Uniformismus geopfert werden müsste. Jedenfalls indirekt trägt die in Art 4 Abs 2 S 1 EUV verankerte Verpflichtung, die „jeweilige nationale Identität“ zu wahren, dazu bei, auch innerstaatlich den Pluralismus zu erhalten.141 Das Gebot gesellschaftlichen Pluralismus reicht von der Vielfalt der Meinungen und Religionen bzw Weltanschauungen bis zu einer Vielfalt der Kulturen und Sprachen.142 Damit sichert das Pluralismusgebot des Art 2 S 2 EUV die maßgeblichen Grundrechte und Ziele der Union in der gesellschaftlichen Sphäre ab. Die Freiheit und Pluralität der Medien, die man zu Recht als einen „der grundlegenden Werte für das Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft“ bezeichnet hat,143 wird ausdrücklich in Art 11 Abs 2 GRCh garantiert.

2. Nichtdiskriminierung 48 Eng verbunden mit dem Pluralismusgebot ist die Nichtdiskriminierung im gesellschaftlichen Bereich. Dadurch, dass das Prinzip der Nichtdiskriminierung nochmals

_____ 139 Oben unter IV. (Rn 19 ff). 140 Vgl für den staatlichen Bereich Zacher Der Staat 9 (1970), 37 ff. 141 Pechstein/Nowak/Häde/Terhechte Art 2 EUV Rn 24. 142 Vgl auch Art 3 III UAbs 4 EUV. Im französischen Verfassungsrecht wird im Hinblick auf das entsprechende Verfassungsziel der Pluralismus in den Bereichen der Kommunikation und Medien sowie der Politik betont, vgl de Montalivet S 295 ff. 143 GA Juliane Kokott, Schlussanträge in der Rs C-112/16 – Persidera SpA, Rn 62. Karl-Peter Sommermann

VI. Gemeinsame gesellschaftliche Werte | 283

in diesem Kontext genannt ist, steht ein Verfassungswert zur Verfügung, der Einschränkungen auch im Rechtsverhältnis zwischen Privaten rechtfertigen kann. Ein Beispiel bildet die Nichtdiskriminierungsrichtlinie,144 die auch im privatrechtlichen Bereich ihre Wirkung entfaltet.

3. Toleranz Funktionsbedingung einer pluralistischen Gesellschaft wie einer pluralistischen 49 Demokratie ist ein Selbstverständnis der Bürger, das durch Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Andersglaubenden geprägt ist. Das sich aus der Aufklärungsphilosophie, insbesondere dem Plädoyer Voltaires,145 herleitende Prinzip, dem die Einsicht in die Fehlbarkeit des menschlichen Verstandes zugrundeliegt,146 gewinnt bei der Integration von Völkern unterschiedlicher kultureller und historischer Traditionen entscheidende Bedeutung. Da Toleranz der Bürger jenseits der Verletzung der Rechte anderer nicht erzwungen werden kann,147 steht auch hier die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen im Vordergrund.

4. Gerechtigkeit Der gesellschaftliche Wert der Gerechtigkeit kann in einem pluralistischen Gemein- 50 wesen nicht im Sinne feststehender Maßstäbe und Inhalte verstanden werden. Es handelt sich dabei vielmehr um ein heuristisches Prinzip, das immer wieder neu der Konkretisierung in einer sich wandelnden Gesellschaft bedarf.148 Auch wenn man der Ansicht folgt, dass das „Urteil über gerecht und ungerecht […] unentrinnbar subjektiv“ ist,149 kann die Gerechtigkeit im Rahmen der Integrationsverträge keineswegs mit beliebigem Inhalt gefüllt werden. Die Werte, Prinzipien und Rechte, die im Primärrecht verankert sind, bilden wesentliche Eckpunkte des überstaatlichen Gerechtigkeitskonzepts. So wie man auf nationaler Ebene im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Wertordnung von einer „konstitutionalisierten Ge-

_____ 144 Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl 2000L 303/16. 145 Vgl Voltaire passim; zu den Grenzen der Toleranz ebd S 121: „Pour qu’un gouvernement ne soit pas en droit de punir les erreurs des hommes, il est nécessaire que ces erreurs ne soient pas des crimes; elles ne sont des crimes que quand elles troublent la société; elles troublent cette société, dès qu’elles inspirent le fanatisme; il faut donc que les hommes commencent par n’être pas fanatiques pour mériter la tolérance.“ 146 Vgl auch John Locke A Letter Concerning Toleration (1789), 1796, insb S 15; zu Lockes Toleranzpostulat näher Spencer/Spencer S 41-59. 147 Vgl oben unter IV. (Rn 19 ff). 148 Vgl Sommermann JURA 1999, 337 (339, 342); s a Isensee FS Detlef Merten, 2007, S 3, 12 f. 149 Henke S 181. Karl-Peter Sommermann

284 | § 3 Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten

rechtigkeit“ sprechen kann,150 kann auch die „Gerechtigkeit“ im Rahmen des Unionsrechts nur vor dem Hintergrund der maßstabsetzenden Bedeutung der übrigen Werte der Union gedeutet werden. Art 3 Abs 3 UAbs 2 EUV erweitert dabei die Gerechtigkeitsperspektive ausdrücklich auf die „soziale Gerechtigkeit“, die in engem Zusammenhang mit dem Prinzip der (sozialen) Solidarität steht.

5. Solidarität 51 Das Prinzip der Solidarität beruht auf der Einsicht in die wechselseitige Abhängigkeit der Mitglieder einer Gemeinschaft und der Idee wechselseitiger Unterstützung.151 Es stand am Anfang der europäischen Integration, für die der französische Außenminister Robert Schuman im Jahre 1950 erklärte, dass sie durch konkrete Schritte erfolgen müsse, aus denen eine „solidarité de fait“ hervorgehe.152 Dieser auf eine tatsächliche Entwicklung abhebende Ansatz, der mit dem Gedankengut von Émile Durkheim (1858–1917)153 und Léon Duguit (1859–1928)154 verwandt ist,155 fand von Anfang an in den Präambeln der Integrationsverträge Niederschlag. Hierbei steht die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten im Vordergrund. Davon zu unterscheiden ist die in Art 2 EUV angesprochene soziale Solidarität. Der EuGH hat das Gebot der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten früh 52 als grundlegendes Rechtsprinzip der Gemeinschaften anerkannt.156 In den operativen Bestimmungen des Primärrechts findet es sich heute in Art 32 Abs 1 S 4 EUV sowie Art 80 und Art 222 Abs 1 S 1 AEUV, wo solidarisches Handeln im Kontext der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, der Asyl- und Einwanderungspolitik sowie bei Terroranschlägen und Katastrophen der Mitgliedstaaten untereinander zum Maßstab erklärt wird. Ein Handeln „im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“ im Falle gravierender wirtschaftlicher Schwierigkeiten und bei der Entwicklung der Energiepolitik fordern Art 122 Abs 1 bzw 194 Abs 1 AEUV. Seit geraumer Zeit wird von vielen eine Krise der Solidarität in der Europäi53 schen Union diagnostiziert.157 Vor allem in den auf die „Finanzkrise“ (ab 2008) und

_____ 150 Danach sollen die Maßstäbe zur Konkretisierung der „Gerechtigkeit“ bzw materiellen Rechtsstaatlichkeit aus der Verfassung selbst hergeleitet werden, vgl etwa Jarass/Pieroth/Jarass Art 20 GG Rn 30. 151 Vgl Alland/Rials/Borgetto S 1427 ff; näher Volkmann S 76 ff; Gussone S 21 ff; Lais S 25 ff. 152 In der Erklärung vom 9. Mai 1950 heißt es: „L’Europe ne se fera pas d’un coup, ni dans une construction d’ensemble: elle se fera par des réalisations concrètes créant d’abord une solidarité de fait.“ 153 Durkheim insb S 118 ff. 154 Duguit Bd 1 S 20 ff und Duguit Bd 3 S 595 ff. 155 Dazu Sommermann AVR 52 (2014), 11 ff. 156 EuGH, Rs 39/72 – Kommission / Italien, Rn 25. 157 Vgl die Beiträge in Grimmel/My Giang. Karl-Peter Sommermann

VI. Gemeinsame gesellschaftliche Werte | 285

die „Flüchtlingskrise“ (ab 2015) folgenden Debatten spielte das Solidaritätsprinzip eine wesentliche Rolle als Argumentationstopos.158 Während man in der „Finanzkrise“ das Bail-out-Verbot des Art 125 AEUV gegen Solidarleistungen ins Feld führte, wurde in der „Flüchtlingskrise“ den aufnahmebereiten, Solidarität einfordernden Staaten nicht zuletzt ein Mangel an Abstimmung und damit an außenpolitischer Solidarität entgegengehalten. Dass die europäische Flüchtlingspolitik nach dem Willen des EU-Gesetzgebers auf dem Prinzip der Solidarität aufbauen sollte, ist ua den Präambeln der maßgeblichen, noch vor der Krise verabschiedeten Sekundärrechtsakten159 sowie entsprechenden Erklärungen des EU-Parlaments160 zu entnehmen. Unabhängig von der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten spricht Art 2 EUV 54 die Solidarität zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft, dh die soziale Solidarität an. Der mit „Solidarität“ überschriebene Titel IV GRCh führt diese Dimension weiter aus. In dem Maße, in dem sich eine europäische Gesellschaft herausbildet, muss auch das Solidaritätsprinzip prägender Bestandteil der Sozialordnung werden. Die sozialpolitischen Regelungen des Primär- und Sekundärrechts erfahren durch das Solidaritätsgebot eine zusätzliche Legitimation. Art 3 Abs 3 UAbs 2 EUV erstreckt es darüber hinaus auf die „Solidarität zwischen den Generationen“.

6. Gleichheit von Frauen und Männern Das in Art 23 GRCh niedergelegte Prinzip der Gleichheit von Frauen und Männern 55 findet für den gesellschaftlichen Bereich sein Korrelat in Art 2 S 2 EUV. Art 8 AEUV erteilt der Union weitergehend einen entsprechenden Auftrag, Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung zu fördern.161 Als Leitprinzip der Sozialgestaltung kann er eine zusätzliche Legitimation für die Privatautonomie einschränkende Regelungen im Bereich des Privatrechts bieten, so namentlich im Arbeitsrecht. In diesem Sinne waren Regelungen zur Gleichstellung schon früh im Integrationsprozess präsent.162 Wie auch sonst bieten die Werte freilich keine eigenständige Eingriffsgrundlage, sondern sie bieten den Rechtsetzungs- und Rechtsanwendungsor-

_____ 158 Vgl zu den Debatten hinsichtlich der „Finanzkrise“ nur Calliess ZEuS 2011, 213 ff, und bezogen auf die „Flüchtlingskrise“ Saracino ZfP 2018, 283 ff. 159 Vgl zB RL 2011/95/EU, ABl 2011 L 337/9, Erwgr 9; VO 516/2014, ABl 2014 L 150/168, Erwgr 1. 160 S nur EP, Entschließung v 11. September 2012 zu verstärkter EU-interner Solidarität im Asylbereich, ABl 2013 C 353 E/16. 161 Zur Bekämpfung der häuslichen Gewalt speziell die Erklärung zu Art 8 AEUV, ABl 2012 C 326/347. 162 Vgl etwa die Richtlinie 75/117/EWG des Rates vom 10. Februar 1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen, ABl 1975 L 45/19. Karl-Peter Sommermann

286 | § 3 Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten

ganen eine Orientierung für ihr Handeln auf der Grundlage besonderer Ermächtigungsgrundlagen. VII. Die Wertordnung der Union und die Mitgliedstaaten VII. Die Wertordnung der Union und die Mitgliedstaaten 56 Die Wertordnung der Europäischen Union speist sich aus den mitgliedstaatlichen

Wertvorstellungen, kann in ihrer konkreten Ausgestaltung oder durch divergierende Entwicklungen aber auch in Widerstreit zu ihnen treten. Dies wirft die Frage nach der Lösung von Wertkollisionen im Verhältnis der Union und der Mitgliedstaaten auf.

1. Das Verhältnis der unionalen Wertordnung zu den nationalen Wertordnungen 57 Wie gezeigt, finden sich die in Art 2 EUV genannten Werte im Allgemeinen explizit

oder auch implizit in den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten wieder. Durch ihre Offenheit, die ihnen den Charakter von Schleusenbegriffen verleihen,163 können konzeptionelle Unterschiede in der Regel aufgefangen und gemeinsame Inhaltsbestimmungen schrittweise herbeigeführt werden. Die eigene Wertordnung der Mitgliedstaaten spielt aber durchaus noch im Rahmen unbestimmter Begriffe und Tatbestände des Unionsrechts eine Rolle, etwa bei der Frage des Vorliegens eines zwingenden Ziels des Allgemeininteresses.164 Im Falle von nicht behebbaren Wertdivergenzen gebührt den unionalen Maßstäben der Vorrang. Da ein gespaltenes Wertregime in den nationalen Verwaltungen, unterschieden danach, ob diese innerhalb oder außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts handeln, auf Dauer schwer durchzuhalten ist, gehen von den Wertkonzepten der Union starke Konvergenzimpulse aus.165 Zugleich beeinflussen umgekehrt die Wertkonzepte der Mitgliedstaaten im Rahmen der unionalen Willensbildung das Wertverständnis der Unionsorgane.

2. Das Frühwarn- und Sanktionssystem des Art 7 EUV bei gravierender Verletzung eines der in Art 2 EUV genannten Werte 58 Dass die Grundwerte des Art 2 EUV nicht nur Wirkung bei der Durchführung des Unionsrechts entfalten, ergibt sich aus Art 7 EUV. Danach können Mitgliedstaaten im Falle einer „schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der in Art 2 genann-

_____ 163 Dazu oben unter III. 3. (Rn 12). 164 Vgl etwa EuGH, Rs C-463/13 – Stanley International Betting, Rn 48; Rs C-375/17 – Stanley International Betting, Rn 43 ff. 165 Bauer/Calliess/Sommermann S 15, 37 ff. Karl-Peter Sommermann

VII. Die Wertordnung der Union und die Mitgliedstaaten | 287

ten Werte“ Adressaten von Sanktionen sein. Dabei wird nicht danach unterschieden, ob es um Verhalten im Anwendungsbereich des Unionsrechts geht oder nicht. Erfasst wird das gesamte Staatshandeln. Daher reicht der Kontrollbezirk des Art 7 EUV insoweit weiter als der eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art 258 oder 259 AEUV.166 Die Achtung der in Art 2 EUV angesprochenen Werte zählt zum Identitätskern der Union und ist gleichsam ihre „Geschäftsgrundlage“.167 Bevor es zu einer Sanktion kommt, muss ein mehrstufiges Verfahren 59 durchlaufen werden. Zunächst muss auf begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission der Rat mit einer Vier-Fünftel-Mehrheit seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, „dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht“ (Art 7 I EUV; sog Frühwarnsystem). Ergibt eine anschließende regelmäßige Überprüfung, dass trotz der Feststellung und gegebenenfalls an den Mitgliedstaat gegebenen Empfehlungen die Gründe für die Feststellung weiterbestehen, so kann der Europäische Rat auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, dass eine „schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt“ (Art 7 II EUV). Diese Feststellung erfordert Einstimmigkeit im Europäischen Rat. Erst nach dieser Feststellung greift das Sanktionssystem. Der Rat kann mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte des Mitgliedstaates auszusetzen, einschließlich der Stimmrechte im Rat (Art 7 III EUV). Dabei ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.168 Eine Überprüfung der Maßnahmen nach Art 7 EUV durch den EuGH ist indes nach Art 269 AEUV auf die Einhaltung von Verfahrensvorschriften beschränkt. Bei dem Verfahren nach Art 7 EUV handelt es sich um einen Kontrollmecha- 60 nismus, dessen Betätigung dem politischen Ermessen der dort genannten Unionsorgane überantwortet ist.169 Wie bereits die Formulierungen „kann der Rat“ (Art 7 Abs 1 UAbs 1 S 1 EUV) bzw „kann der Europäische Rat“ (Art 7 Abs 2 EUV) nahelegen, besteht jedenfalls für diejenigen Unionsorgane, die für die Feststellung einer Gefahr bzw des Vorliegens einer schwerwiegenden Verletzung der in Art 2 genannten Werte zuständig sind, keine rechtliche Verpflichtung, das Verfahren zu be-

_____ 166 Vgl auch Blanke/Mangiameli/Mangiameli u Saputelli Art 7 TEU Rn 9. Wegen eines Vergleichs der Verfahren nach Art 7 EUV und Art 258 AEUV s Neuss/Niedobitek/Novotný/Rosůlek/Niedobitek S 205 (216 ff). 167 Calliess JZ 2004, 1033 (1040); vgl auch Benoît-Rohmer RTDE 2005, 261 (266): „L’énumeration des valeurs constituent bien le socle commun d’appartenance à l’Union“. 168 Streinz/Pechstein Art 7 EUV Rn 19. 169 Zutreffend Niedobitek EuR 2018 Beiheft 1, 233. Karl-Peter Sommermann

288 | § 3 Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten

treiben.170 Um die Einleitung eines Verfahrens nach Art 7 Abs EUV, von dem eine starke politische Signalwirkung ausgeht, möglichst überflüssig zu machen, hat die Kommission ein ebenfalls mehrstufiges Dialogverfahren zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit etabliert.171 Damit soll zugleich der Forderung des Europäischen Parlaments Rechnung getragen werden, „dass die kontinuierliche Einhaltung der Grundwerte der Union und der Anforderung der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit durch die Mitgliedstaaten regelmäßig überprüft wird“.172 Das Dialogverfahren kann gleichsam als ein Vorverfahren für einen Vorschlag der Kommission nach Art 7 Abs 1 EUV betrachtet werden. In der Praxis wurde das Verfahren nach Art 7 Abs 1 EUV bislang in zwei Fällen 61 eingeleitet, und zwar gegen Polen im Jahr 2017 (auf Vorschlag der Kommission nach Durchführung des Dialogverfahrens173) und gegen Ungarn im Jahr 2018 (auf Vorschlag des Europäischen Parlaments174). Anlass für die Einleitung des Frühwarnverfahrens im Falle Polens waren die durch ein Urteil des polnischen Verfassungsgerichts festgestellte verfassungswidrige Ausschaltung und Ernennung von jeweils drei Verfassungsrichtern und die Nichtbeachtung des darauf bezogenen Urteils,175 im Falle Ungarns wesentliche Einschränkungen der Zuständigkeiten des Verfassungsgerichts und von Grundrechten. Beide Verfahren haben noch nicht zu einer Entscheidung des Rats über die Frage einer eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art 2 genannten Werte geführt. Die prozedurale Hürde, dass eine solche Feststellung nur mit der Mehrheit von vier Fünfteln der Mitglieder des Rats erfolgen kann, wird schwer zu nehmen sein. Vollends unwahrscheinlich ist derzeit, dass bei einem für die betroffenen Mitgliedstaaten nachteiligen Fortgang des Verfahrens später die für Sanktionen erforderliche Einstimmigkeit im Europäischen Rat zu erzielen wäre. Die im Jahr 2000 gegen Österreich ergriffenen Sanktionsmaßnahmen kön62 nen nicht als Testfall gesehen werden. Dies verbietet sich schon deshalb, weil sie nicht von Organen der Europäischen Union verhängt wurden. Anlass für die Sanktionen war seinerzeit der Eintritt der als rechtspopulistisch geltenden FPÖ in eine

_____ 170 Niedobitek ebd S 239. 171 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Ein neuer EURahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips, COM(2014) 158. 172 Ebd S 2. 173 Begründeter Vorschlag nach Artikel 7 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union zur Rechtsstaatlichkeit in Polen, COM(2017) 835. 174 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. September 2018 zu einem Vorschlag, mit dem der Rat aufgefordert wird, im Einklang mit Artikel 7 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union festzustellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte, auf die sich die Union gründet, durch Ungarn besteht (2017/2131(INL), Dok P8_TA-PROV(2018)0340. 175 Näher dazu Wyrzykowsky EuR 2018 Beiheft 1, 169 ff. Karl-Peter Sommermann

VII. Die Wertordnung der Union und die Mitgliedstaaten | 289

Koalitionsregierung mit der ÖVP.176 Allerdings war bereits durch den Vertrag von Amsterdam von 1997 die Möglichkeit der Verhängung von Sanktionen gegen Mitgliedstaaten geschaffen worden, die eine „schwerwiegende und anhaltende Verletzung“ der in Art 6 Abs 1 EUV (seinerzeit idF des Vertrags von Amsterdam) niedergelegten Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit begehen.177 Jedoch machten die seinerzeit 14 neben Österreich der Union angehörenden Mitgliedstaaten nicht von dem im EUV geregelten besonderen Sanktionsmechanismus Gebrauch, sondern sie ergriffen auf der Grundlage des allgemeinen Völkerrechts178 abgestimmte bilaterale Sanktionen, die darin bestanden, dass sie die offiziellen Beziehungen zu Österreich abbrachen. Diese Maßnahmen waren nicht nur wegen der Frage umstritten, ob neben dem im EU-Vertrag vorgesehenen Verfahren überhaupt Raum für bilaterale Sanktionen bleibt, sondern auch wegen der zweifelhaften Annahme einer schwerwiegenden Verletzung. Eine Untersuchungskommission, zu deren Mandat freilich nicht die Beantwortung der Frage nach der Rechtmäßigkeit der Sanktionen gehörte, kam zu dem Ergebnis, dass „die österreichische Regierung für die gemeinsamen europäischen Werte eintritt“, es allerdings Gründe gebe, „die Beschreibung der FPÖ als eine rechtspopulistische Partei mit radikalen Elementen auch heute noch als zutreffend anzusehen“.179 Die Kommission empfahl „die Einführung von Präventiv- und Überwachungsverfahren in Art. 7 EU-Vertrag […], damit in Zukunft eine der gegenwärtigen Situation in Österreich vergleichbare Lage von Anfang an innerhalb der EU behandelt werden kann“.180 Im Schrifttum war man ohnehin überwiegend der Ansicht, dass die „Causa Österreich“ ein „wenig tauglicher Präzedenzfall für die künftige Anwendung von Art. 7 EU[V]“ sei.181 Zudem war fraglich, ob neben Art 7 EUV (idF des Vertrags von Amsterdam) überhaupt Raum für Maßnahmen nach allgemeinem Völkerrecht blieb.182 Mit der Einführung des Frühwarnsystems durch den Lissabonner Vertrag haben 63 die Mitgliedstaaten aus der Analyse des österreichischen Falles die Konsequenz gezogen. Die aus ihm gewonnenen Erfahrungen dürften dazu beitragen, dass es auch

_____ 176 Zur rechtlichen Analyse des Falles näher Hummer/Obwexer EuZW 2000, 485 ff; Schmahl EuR 2000, 819 ff; Schorkopf DVBl 2000, 103 ff. 177 S Art 7 EUV idF des Vertrags von Amsterdam. In der seinerzeitigen Regelung fehlte noch das heute in Art 7 EUV geregelte Vorverfahren. Dieses wurde durch den Vertrag von Nizza eingeführt. 178 Art 60 II WVK. 179 Bericht von Martti Athisaari, Jochen Abr Frowein u Marcelino Oreja, angenommen am 8.9.2000 in Paris (im Internet abrufbar unter http://images.derstandard.at/upload/images/bericht.pdf), S 30 f (Rn 108, 110). 180 Ebd S 32 (Rn 117). 181 Hummer/Obwexer EuZW 2000, 485 (492); vgl auch Schmahl EuR 2000, 819 (834), Schorkopf DVBl 2000, 1036 (1042 f). 182 Aus guten Gründen ablehnend Serini S 164 ff. Karl-Peter Sommermann

290 | § 3 Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten

im Rahmen des neuen Mechanismus kaum zu Sanktionen kommen wird. Diese stehen letztlich im Ermessen des Europäischen Rates (s o Rn 60), der dabei einstimmig entscheiden muss.183 Nachdem der Lissabonner Vertrag in Art 7 EUV ein ausdifferenziertes Frühwarn- und Sanktionssystem statuiert hat, sind im Übrigen bilaterale Sanktionsmaßnahmen ausgeschlossen,184 jedenfalls solange die Möglichkeiten dieses Verfahrens nicht ausgeschöpft wurden.185

3. Weitere Verfahrensmöglichkeiten bei Verletzung der Werte des Art 2 EUV 64 Angesichts der prozeduralen Hürden des Verfahrens nach Art 7 EUV rücken andere

Verfahrensinstrumente in den Vordergrund,186 insbesondere das Vertragsverletzungsverfahren. Dieses der Wahrung des Unionsrechts und seiner Anwendung dienende Instrument wird auch nicht durch das die Identität der Europäischen Union schützende Verfahren des Art 7 EUV verdrängt.187 Im Falle Polens hat die Kommission im Zusammenhang mit der polnischen Justizreform zwei Klagen nach Art 258 Abs 2 AEUV vor dem EuGH erhoben: am 15. März 2018 wegen der Absenkung des Ruhestandsalters (Zwangspensionierungen) der Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit,188 am 2. Oktober 2018 wegen der Absenkung des Ruhestandsalters der Richter am Obersten Gerichtshof, die vor dem 3. April 2018 ernannt wurden, und wegen der Möglichkeit der Verlängerung der Amtszeit durch den Staatspräsidenten nach freiem Ermessen.189 Die Kommission erblickte in den im Rahmen der Justizreform ergriffenen Maßnahmen190 einen Verstoß gegen die im Primärrecht der Union

_____ 183 Vgl Streinz/Pechstein Art 7 EUV Rn 14 (Einschätzungsprärogative hinsichtlich der Annahme einer schwerwiegenden Verletzung), Rn 17 (Entschließungsermessen) u Rn 19 (Auswahlermessen hinsichtlich der Sanktion). Allenfalls für Evidenzfälle kann eine Reduzierung des Ermessens angenommen werden, so Calliess/Ruffert/Ruffert Art 7 EUV Rn 14 hinsichtlich der Feststellung einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung. 184 Die von Serini S 164 ff zur Rechtslage nach dem Vertrag von Amsterdam vorgetragenen Argumente gelten im Hinblick auf den Vertrag von Lissabon erst recht. Pechstein/Nowak/Häde/Nowak Art 7 EUV 25 Fn 96 weist neben Art 7 verstärkend auf Art 258 f AEUV, das Austrittsrecht nach Art 50 sowie Art 53 EUV hin. 185 Calliess/Ruffert/Ruffert, Art 7 EUV Rn 31; weitergehend Geiger/Khan/Kotzur/Geiger Art 7 EUV Rn 3: Die Regeln des allgemeinen Völkerrechts seien anwendbar, wenn „eine Rückkehr zur Achtung der in Art 2 EUV genannten Werte offensichtlich nicht mehr in Betracht kommt“. 186 Übersicht bei Franzius DÖV 2018 S 381 ff. Wegen eines Gesamtüberblicks über die Verfahren zur Durchsetzung des Unionsrechts vgl Schroeder § 8 (in diesem Band) sowie die Beiträge in Jakab/Kochenov. 187 Pechstein/Nowak/Häde/Nowak Art 7 EUV 24. 188 Rs C-192/18, ABl 2018 C 182/14. 189 Rs C-619/18, ABl 2018 C 427/30. 190 Dazu und zu weiteren Maßnahmen der Bericht „A country that punishes. Pressure and repression of Polish judges and prosecutors“ des „Justice Defence Committee“, Warsaw 2019, im Karl-Peter Sommermann

VII. Die Wertordnung der Union und die Mitgliedstaaten | 291

gewährleistete Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit der Richter.191 Dabei stützte sie sich allerdings nicht auf Art 2 EUV, sondern auf Art 19 Abs 1 EUV iVm Art 47 GRCh. In seinem auf die zweite Klage hin ergangenen Urteil vom 24. Juni 2019 hat der EuGH (Große Kammer) die Auffassung der Kommission im Wesentlichen geteilt: Aus Art 19 Abs 1 UAbs 2 EUV, wonach die Mitgliedstaaten in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen die für einen wirksamen Rechtsschutz erforderlichen Rechtsbehelfe bereitzustellen haben, folge auch die Verpflichtung, die Unabhängigkeit der Gerichte zu gewährleisten.192 Diese werde zudem ausdrücklich in der Rechtsschutzgarantie des Art 47 Abs 2 GRCh garantiert.193 Art 19 EUV stelle eine Konkretisierung des in Art 2 genannten Wertes der Rechtsstaatlichkeit dar.194 Zuvor hatte der EuGH im Rahmen der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes Art 2 EUV auch zur Begründung der Dringlichkeit des Erlasses einer Anordnung herangezogen.195 Bereits durch Urteil vom 25. Juli 2018 hatte die Große Kammer des EuGH in ei- 65 nem Eilvorabentscheidungsverfahren entschieden, dass dann, wenn wegen systemischer Mängel Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz eines Mitgliedstaats vorliegen (im konkreten Fall Polen), andere Mitgliedstaaten (im konkreten Fall Irland) einem von den Justizbehörden dieses Landes ausgestellten Europäischen Haftbefehl nicht ohne weiteres Folge leisten dürfen. Sie müssten in einem zweiten Schritt prüfen, ob es im konkreten Fall ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person einer „echten Gefahr“ der Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren ausgesetzt ist.196 Gegebenenfalls hat die Übergabe der Person zu unterbleiben. In ihrem Vorschlag vom 2. Mai 2018 für eine Verordnung „über den Schutz des 66 Haushalts der Union im Falle von generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip in den Mitgliedstaaten“197 hat die Kommission überdies zum Ausdruck gebracht, dass rechtsstaatliche Mängel zugleich die wirtschaftliche Haushaltsführung und den Schutz der finanziellen Interessen der Union beeinträchtigen können und die Wahrung der rechtsstaatlichen Grundsätze auch insoweit Voraussetzung für das wechselseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten untereinander ist.

_____ Internet abrufbar unter http://komitetobronysprawiedliwosci.pl/app/uploads/2019/02/KOS-Report _ENG.pdf. 191 In diesem Sinne befasste auch der polnische Oberste Gerichtshof am 2.8.2018 den EuGH mit der Frage der Unionsrechtskonformität des Reformgesetzes (im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens), vgl Stansilaw Biernat Why the Polish Supreme Court’s Reference on Judicial Independence to the CJEU is Adminissable after all, Verfassungsblog on Constitutional Matters v 23.8.2018. 192 Rs C-619/18 – Kommission / Polen, Rn 57 f. 193 Ebd Rn 57 u. zum Inhalt der Garantie näher Rn 71 ff. 194 Ebd Rn 47. 195 EuGH, Beschluss v 17.12.2018, Rs C-619/18 R – Kommission / Polen, Rn 68. 196 EuGH, Rs C-216/18 PPU, Rn 59 ff (68). 197 COM(2018) 324 final. Karl-Peter Sommermann

292 | § 3 Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten

VIII. Das Verhältnis des Art 2 EUV zu anderen axiologischen Vorschriften des Primärrechts VII. Das Verhältnis des Art 2 EUV zu anderen axiologischen Vorschriften des Primärrechts 67 Werte und Ziele der Europäischen Union werden nicht nur in den Art 2 und 3 EUV

verankert. In einer Reihe weiterer Artikel finden sich Wert- und Zielbestimmungen, die, wie zB im Falle der Art 21 EUV und der Art 167 und 191 AEUV, auf bestimmte Politikfelder bezogen sind. Soweit Ziele präziser gefasst sind, entfalten sie eine stärkere Bindungskraft und gehen allgemeinen Wert- und Zielerwägungen vor.198 In jedem Falle sind die speziellen Ziele ihrerseits im Lichte der Grundwerte und Grundziele auszulegen.

NEUE RECHTE SEITE

_____ 198 Vgl entsprechend zur früheren Rechtslage Reimer EuR 2003, 992 (997 f). Karl-Peter Sommermann

§ 4 Grundrechte

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Dieter Kugelmann

§ 4 Grundrechte § 4 Grundrechte § 4 Grundrechte https://doi.org/10.1515/9783110498349-004 Dieter Kugelmann

Gliederungsübersicht I. Entwicklung und Rechtsgrundlagen der Grundrechte in der Europäischen Union 1. Grundrechte als konstituierendes Element der Union 2. Herausbildung und Entwicklung von Grundrechten in der Europäischen Integration bis zur Grundrechtecharta 3. Rechts(erkenntnis)quellen der Grundrechte nach Art 6 EUV 4. Der Beitritt der EU zur EMRK 5. Grundrechte im Kontext des Unionsrechts a) Grundrechtsgleiche Rechte im AEUV und im Sekundärrecht b) Grundrechte und Grundfreiheiten c) Grundrechte und Unionsbürgerschaft II. Anwendungsbereich und Bindungswirkung 1. Grundrechtsberechtigung 2. Der Anwendungsbereich (Art 51 GRCh) 3. Bindung der Organe und Einrichtungen der Europäischen Union 4. Bindung der Mitgliedstaaten a) Adressaten b) Die Durchführung des Unionsrechts (Art 51 I 1 GRCh) III. Funktionen und Dimensionen der Grundrechtecharta 1. Rechte, Freiheiten und Grundsätze 2. Funktionen und Dimensionen der europäischen Grundrechte a) Abwehrrecht b) Schutzpflichten und Ausstrahlungswirkung gegenüber Privaten IV. Gewährleistungsgehalte 1. Grundlegende und absolute Rechte a) Die Garantie der Menschenwürde (Art 1 GRCh) b) Das Recht auf Leben (Art 2 GRCh) c) Das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art 3 GRCh) d) Das Verbot der Folter und der unmenschlichen Behandlung (Art 4 GRCh) e) Das Sklavereiverbot (Art 5 GRCh) 2. Freiheitsrechte a) Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art 6 GRCh) b) Achtung der Privatheit und des Familienlebens (Art 7 GRCh) c) Schutz personenbezogener Daten (Art 8 GRCh) d) Ehe und Familie (Art 9 GRCh) e) Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art 10 GRCh) f) Meinungs- und Informationsfreiheit (Art 11 GRCh) g) Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art 12 GRCh) h) Freiheit von Kunst und Wissenschaft (Art 13 GRCh) i) Recht auf Bildung (Art 14 GRCh) j) Berufsfreiheit und unternehmerische Freiheit (Art 15, 16 GRCh) k) Eigentumsrecht (Art 17 GRCh) l) Asylrecht (Art 18 GRCh) und Abschiebungsschutz (Art 19 GRCh) 3. Gleichheitsrechte

Dieter Kugelmann https://doi.org/10.1515/9783110498349-004

Rn 1 1 4 9 17 21 22 29 33 35 36 40 46 49 54 58 72 73 75 76 78 83 84 85 88 91 93 98 102 102 103 106 109 111 115 119 123 125 127 131 133 135

294 | § 4 Grundrechte

a) Der allgemeine Gleichheitssatz (Art 20 GRCh) b) Verbote von Diskriminierungen (Art 21, 23 GRCh) c) Gleichheitsrechte bestimmter Personengruppen (Art 24, 25, 26 GRCh) 4. Soziale Rechte 5. Bürgerrechte 6. Justizielle Rechte, insbesondere effektiver Rechtsschutz V. Grundrechtsschranken und Schutzniveausicherung (Art 52, 53 GRCh) VI. Gerichtlicher Grundrechtsschutz 1. Grundrechtsschutz durch den Gerichtshof der EU 2. Grundrechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 3. Das Verhältnis zum Grundrechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht VII. Perspektiven

136 139 143 145 150 152 157 164 168 169 173 179

Spezialschrifttum Bäcker, Matthias Das Grundgesetz als Implementationsgarant der Unionsgrundrechte, EuR 2015, 389; Britz, Gabriele Grundrechtschutz durch das Bundesverfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof, EuGRZ 2015, 275; Calliess, Christian Europäische Gesetzgebung und nationale Grundrechte – Divergenzen in der aktuellen Rechtsprechung von EuGH und BVerfG?, JZ 2009, 113; Classen, Claus Dieter Schwierigkeiten eines harmonischen Miteinanders von nationalem und europäischem Grundrechtsschutz, EuR 2017, 347; Cremer, Wolfram Grundrechtsverpflichtete und Grundrechtsdimensionen nach der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, EuGRZ 2011, 545; Grabenwarter, Christoph (Hrsg), Grundrechte, EnzEuR, Bd 2, 2014; Herdegen, Matthias Grundrechte der Europäischen Union, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg), Handbuch des Staatsrechts, Bd 10, 3. Aufl 2012, § 211; Huber, Peter M Auslegung und Anwendung der Charta der Grundrechte, NJW 2011, 2385; Jarass, Hans D Die Bindung der Mitgliedstaaten an die EU-Grundrechte, NVwZ 2012, 457; ders Zum Verhältnis von Grundrechtecharta und sonstigem Recht, EuR 2013, 29; Kingreen, Thorsten Die Grundrechte des Grundgesetzes im europäischen Grundrechtsföderalismus, JZ 2013, 801; Kischel, Uwe/Masing, Johannes (Hrsg) Unionsgrundrechte und Diskriminierungsverbote im Verfassungsrecht, 2013; Lenaerts, Koen Die EU-Grundrechte-Charta: Anwendungsbereich und Auslegung, EuR 2012, 3; ders In Vielfalt geeint / Grundrechte als Basis des europäischen Integrationsprozesses, EuGRZ 2015, 353; Ludwigs, Markus/Sikora, Patrick Grundrechtsschutz im Spannungsfeld von Grundgesetz, EMRK und Grundrechtecharta, JuS 2017, 385; Masing, Johannes ua (Hrsg) Strukturfragen des Grundrechtsschutzes in Europa, 2015; Masing, Johannes Einheit und Vielfalt des Europäischen Grundrechtsschutzes, JZ 2015, 477; Marsch, Nikolaus, Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018; Matz-Lück, Nele/Hong, Mathias (Hrsg) Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem – Konkurrenzen und Interferenzen, 2011; Merten, Detlef/Papier, Hans-Jürgen (Hrsg) Handbuch der Grundrechte, Band VI/1 (Europäische Grundrechte I), 2010; Merten, Detlef/Papier, Hans-Jürgen (Hrsg) Handbuch der Grundrechte, Band VI/2 (Europäische Grundrechte II – Universelle Menschenrechte), 2009; Ohler, Christoph Grundrechtliche Bindungen der Mitgliedstaaten nach Art 51 GRCh, NVwZ 2013, 1433; Schmidt, Christopher Grund- und Menschenrechte in Europa, 2013; Starke, Christian Paul Die Anwendbarkeit der Europäischen Grundrechtecharta auf rein nationale Gesetzgebungsakte, DVBl 2017, 721; Thym, Daniel Die Reichweite der EU-Grundrechte-Charta – Zu viel Grundrechtsschutz?, NVwZ 2013, 889; ders Vereinigt die Grundrechte!, JZ 2015, 53; Weiß, Wolfgang Grundrechtsschutz durch den EuGH: Tendenzen seit Lissabon, EuZW 2013, 287; Wollenschläger, Ferdinand Anwendbarkeit der EU-Grundrechte im Rahmen einer Beschränkung von Grundfreiheiten – Bestätigung der ERT-Rechtsprechung durch den EuGH auch unter der Grundrechtecharta, EuZW 2014, 577.

Dieter Kugelmann

I. Entwicklung und Rechtsgrundlagen der Grundrechte in der Europäischen Union | 295

Leitentscheidungen EuGH, Rs 29/69 – Stauder; EuGH, Rs 5/88 – Wachauf; EuGH, Rs C-260/89 − ERT; Rs C-112/00 − Schmidberger; verb Rs C-411/10 − N.S. und M.E.; Rs C-617/10 – Aklagare / Hans Åkerberg Fransson; Rs C-399/11 – Melloni; verb Rs C-293/12 u C-594/12 – Digital Rights Ireland; Gutachten 2/13 – Beitritt zur EMRK; Rs C-206/13 – Siragusa; EGMR, Von Hannover v Germany – 59320/00 (Dritte Sektion); EGMR, Bosphorus Hava Yollari Turizm ve Ticaret Anonim Şirketi v Ireland − 45036/98 (Große Kammer); BVerfG, 2 BvR 197/83, BVerfG, BVerfGE 73, 339 − Solange II; 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 − Lissabon; 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 – Honeywell; 1 BvR 256/08, BVerfGE 125, 260 – Vorratsdatenspeicherung; 1 BvR 1215/07, BVerfGE 133, 277 – ATDG.

I. Entwicklung und Rechtsgrundlagen der Grundrechte in der Europäischen Union I. Entwicklung und Rechtsgrundlagen der Grundrechte in der Europäischen Union 1. Grundrechte als konstituierendes Element der Union Die Europäische Union als demokratischer und rechtsstaatlicher Verbund von Ver- 1 fassungsstaaten und Integrationssystem der Bürgerinnen und Bürgern achtet, schützt und gewährleistet Grundrechte.1 Sie bekennt sich in der Präambel des EU-Vertrages (EUV) zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie sowie der Achtung der Menschenrechte, der Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit. Eine wertgebundene Union der Völker Europas legitimiert sich durch die Wahrung der gemeinsamen Werte. Die Grundrechte sind eine unabdingbare Notwendigkeit zur Verwirklichung und Wahrung der in Art 2 S 1 EUV genannten Werte. Die europäischen Grundrechte dienen als Wertesicherungsgarantien für die gesamte EU. Darin liegt ein zentrales Element der Verfasstheit der EU.2 Nach Auffassung des EuGH stellen die gemeinsamen Werte nach Art 2 EUV die Grundlage für die gesamte rechtliche Konstruktion der EU dar, die insbesondere die Autonomie des Unionsrechts, den Anwendungsvorrang und die unmittelbare Wirkung begünstigender Regelungen beinhaltet.3 Im Mittelpunkt der rechtlichen Konstruktion stehen die Grundrechte mit der Konsequenz, dass gegen sie verstoßende Maßnahmen in der EU unzulässig sind.4 Schwerwiegende Verletzungen der Werte können zu Sanktionen führen (Art 7 EUV).5 Die gemeinsamen Werte und die Grundrechte begründen ein gegenseitiges Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten bei der Beachtung des

_____ 1 EuGH, Gutachten 2/13 – Beitritt zur EMRK, Rn 169; Pernice VVDStRL (60) 2001, 148 (167). 2 Merten/Papier/Skouris HGR VI/1 § 157 Rn 3; Calliess/Ruffert/Calliess Art 2 EUV Rn 7; Grabitz/ Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 6 EUV Rn 11 und Grabitz/Hilf/Nettesheim/Hilf/Schorkopf Art 2 EUV Rn 36; Lenaerts EuGRZ 2015, 353; s auch Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16. Februar 2017 zu möglichen Entwicklungen und Anpassungen der derzeitigen institutionellen Struktur der Europäischen Union, ABl 2018 C 252/201, Ziff 42. 3 EuGH, Gutachten 2/13 – Beitritt zur EMRK, Rn 168. 4 EuGH, Gutachten 2/13 – Beitritt zur EMRK, Rn 169. 5 Neuss/Niedobitek/Novotný/Rosůlek/Niedobitek S 205 (211 ff); Sommermann § 3 (in diesem Band) Rn 58 ff. Dieter Kugelmann

296 | § 4 Grundrechte

Unionsrechts, das der EuGH als Rechtsprinzip entwickelt hat.6 Die rechtliche Verortung dieses Prinzips hat er noch nicht letztlich geklärt.7 Die Achtung der Gleichheit der Mitgliedstaaten (Art 4 II EUV)8 kommt ebenso in Betracht wie der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 III EUV).9 Besondere Bedeutung erlangt die Notwendigkeit gegenseitigen Vertrauens bei Maßnahmen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, wenn die Verwirklichung des Unionsrechts intensive Eingriffe in Rechte von Betroffenen umfasst und von der Achtung der Grundrechte in einem anderen Mitgliedstaat abhängt.10 Dies gilt für die Überstellung von Asylbewerbern ebenso wie für die Durchführung europäischer Haftbefehle.11 Konsequenz ist, dass ein im Einzelfall unbegründetes Vertrauen die Verwirklichung unionsrechtlicher Maßnahmen verhindern kann. Der EuGH hat etwa klargestellt, dass der Vollstreckung Europäischer Haftbefehle rechtsstaatliche Mängel im Empfangsstaat entgegen stehen können, die er an Art 4 und Art 47 II GRCh festgemacht hat.12 Mit dem Erfordernis von Pflichten der Konsultation, Information und Prüfung hat das Prinzip gegenseitigen Vertrauens Folgen, die ein grundrechtsoptimierendes Funktionieren der Mechanismen des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts fördern können.13 Die politischen Tätigkeiten der EU und die Wahrnehmung ihrer Aufgaben wer2 den von jeweils aktuellen Themen wie der Errichtung und Festigung der Wirtschafts- und Währungsunion oder dem Migrationsrechts, aber auch von den umfassend geregelten Politikfeldern wie der Verwirklichung des Binnenmarktes oder des Umweltschutzes geprägt. Diese wichtigen Politikbereiche gehören zu den Zielen des Art 3 EUV, erschöpfen diese aber nicht. Ziele sind auch die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung und von Diskriminierungen, oder die Förderung der sozialen Gerechtigkeit und des sozialen Schutzes (Art 3 III UAbs 2 EUV). Ziel der EU ist zuvörderst, den Frieden, die ihr zu Grunde liegenden Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern (Art 3 I EUV). Die Werte der Menschenwürde sowie der Freiheit und Gleichheit des Einzelnen schlagen sich in Freiheitsrechten, Gleichheitsrechten und sozialen Grundrechten nieder, die von der Europäischen Grundrechtecharta gewährleistet werden.

_____ 6 EuGH, Gutachten 2/13 – Beitritt zur EMRK, Rn 168; Rs C-284/16 – Achmea, Rn 34. 7 Meyer EuR 2017, 163 (168); Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schill/Krenn Art 4 EUV Rn 9. 8 Lenaerts CMLRev 54 (2017), 805 (807 ff). 9 S die Tendenz in EuGH, Rs C-284/16 – Achmea, Rn 34. 10 EuGH, Gutachten 2/13 – Beitritt zur EMRK, Rn 191; Rs C-404/15 u. C-659/15 PPU – Aranyosi u Căldăraru, Rn 78; zur Diskussion insbesondere aus der Sicht des europäischen Strafrechts Meyer EuR 2017, 163; s auch Callewaert ZEuS 2014, 79. 11 Wendel NJW 2015, 921 (925). 12 EuGH (GK), Rs C-216/18 PPU – Minister for Justice and Equality / LM (Polen); Rs C-220/18 PPU – ML (Ungarn). 13 Meyer EuR 2017, 163 (184). Dieter Kugelmann

I. Entwicklung und Rechtsgrundlagen der Grundrechte in der Europäischen Union | 297

In der Europäischen Grundrechtecharta (GRCh) finden grundlegende Werte ih- 3 ren Ausdruck, welche die Union prägen. Aufgrund ihrer Entstehung im Jahr 2000 trägt die GRCh modernen Entwicklungen Rechnung und unterscheidet sich etwa durch die Einbeziehung einer Reihe sozialer Rechte vom Grundgesetz. Die Grundrechtecharta bildet den normativen Schlusspunkt einer Entwicklung grundrechtlicher Gewährleistungen im Zuge der europäischen Integration. Zugleich markiert das Eintreten ihrer rechtlichen Verbindlichkeit im Rahmen des Inkrafttretens des Vertrages von Lissabon zum 1. Dezember 2009 den Beginn einer neuen Grundrechtsära für die EU. Denn die Union verfügt nun über einen verbindlichen und ausformulierten Grundrechtskatalog, der durch Wissenschaft und Rechtsprechung ausgelegt und fortentwickelt wird. Diese Fortentwicklung ist aber durch den Text der Grundrechtecharta normativ bestimmt und nicht – wie zuvor – der richterrechtlichen Gestaltung allgemeiner Rechtsgrundsätze überlassen. Das Verständnis der Grundrechtecharta und insbesondere die Handhabung der zentralen Frage ihres Anwendungsbereichs im Verhältnis zu innerstaatlichen Grundrechten gründen auf der Entwicklung des europäischen Grundrechtsschutzes seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften (1951/1957) und dem Ende der zwölfjährigen Übergangszeit zur Schaffung des Gemeinsamen Marktes im Jahr 1969.

2. Herausbildung und Entwicklung von Grundrechten in der Europäischen Integration bis zur Grundrechtecharta Die europäischen Grundrechte jenseits der Konvention zum Schutze der Menschen- 4 rechte und Grundfreiheiten (EMRK) entstanden als Richterrecht.14 Als die europäische Integration 1951 mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und 1957 mit der Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in den Römischen Verträgen begann, war zunächst noch kein nachhaltiges Bedürfnis für einen Grundrechtsschutz gegenüber den Gemeinschaften erkennbar. Die Gemeinschaften sollten keine Hoheitsgewalt gegenüber dem Einzelnen ausüben, obwohl von Beginn an die Möglichkeit bestand, dass Rechte Einzelner berührt werden.15 Maßnahmen, die in die Grundrechtssphäre des Einzelnen eingriffen, sollten vorrangig die damals sechs Mitgliedstaaten vornehmen können, die wiederum an ihre innerstaatlichen Grundrechte gebunden waren. Sehr bald wurde aber deutlich, dass die Tätigkeiten der Gemeinschaften durch- 5 aus Berührungspunkte zu Grundrechten des Einzelnen aufwiesen. Der EuGH zog die Konsequenz und stellte in der Rechtssache Stauder im Jahr 1969 fest, dass die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze Teil des Gemeinschaftsrechts

_____ 14 Merten/Papier/Skouris HGR VI/2 § 171 Rn 3 ff. 15 Oppermann/Classen/Nettesheim § 17 Rn 2. Dieter Kugelmann

298 | § 4 Grundrechte

sind.16 Als Rechtserkenntnisquellen nannte er die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten17 und internationale Menschenrechtsverträge,18 wobei er die EMRK hervorhob.19 Die Herangehensweise des EuGH war pragmatisch und fallorientiert.20 Im Einklang mit seinem sonstigen Rechtsprechungsstil, der insoweit an die französische Tradition angelehnt war, hat der EuGH auch in seiner älteren Grundrechtsrechtsprechung zunächst kaum dogmatische Herleitungen oder Begründungen deutlich gemacht. Dies hat sich mit dem Inkrafttreten der Grundrechtecharta gewandelt. Auf der politischen Ebene haben das Europäische Parlament, der Rat und die 6 Kommission politische Erklärungen abgegeben, die darauf zielten, die Grundrechte und dadurch die Legitimation der Europäischen Gemeinschaften insgesamt zu stärken. In der Gemeinsamen Erklärung vom 5. April 1977 haben sich die drei Organe darauf verpflichtet, die Grundrechte im Rahmen ihrer Befugnisse zu achten.21 Das Europäische Parlament hat am 12. April 1989 eine Entschließung zur Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten angenommen.22 Auf seiner Sitzung am 3. und 4. Juni 1999 in Köln ergriff der Europäische Rat die Initiative zur Einsetzung eines Gremiums, das den Entwurf einer Charta der Grundrechte ausarbeiten sollte.23 Dieser Konvent setzte sich aus sechzehn Mitgliedern des EP, dreißig Mitgliedern der nationalen Parlamente, je einem Beauftragten der Staats- und Regierungschefs sowie einem Vertreter der Kommission zusammen und arbeitete nach der Konsensmethode.24 Die Charta der Grundrechte wurde am 7. Dezember 2000 von Parlament, Rat und Kommission feierlich proklamiert und vom Europäischen Rat in Nizza politisch anerkannt.25 Die Grundrechtecharta der EU (GRCh) ist als zunächst nicht verbindliches, po7 litisches Dokument entstanden und dann durch das Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1. Dezember 2009 in rechtlich bindende Wirkung erwachsen.26 Die textliche Gestaltung wurde im Zuge der Arbeiten an dem Verfassungsvertrag modifiziert, der letztlich nie in Kraft trat, und die Grundrechtecharta wurde in angepasster Fassung, die insbesondere die Art 51 bis 53 betraf,27 am 12. Dezember 2007 in Straß-

_____ 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27

EuGH, Rs 29/69 – Stauder, Rn 7. EuGH, Rs 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft, Rn 4. EuGH, Rs 4/73 – Nold, Rn 13. EuGH, Rs 36/75 – Rutili, Rn 32. Merten/Papier/Skouris HGR VI/2 § 171 Rn 3. ABl 1977 C 103/1. ABl 1977 C 120/51. BullEU 6 1999, Ziff I-18. Näher Merten/Papier/Niedobitek HGR VI/1 § 159 Rn 1 ff. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Mayer nach Art 6 EUV Rn 32. ABl 2000 C 364/1. Merten/Papier/Niedobitek HGR VI/1 § 159 Rn 20 ff. Jarass GRCh Einl Rn 5. Dieter Kugelmann

I. Entwicklung und Rechtsgrundlagen der Grundrechte in der Europäischen Union | 299

burg vom Europäischen Parlament, von Rat und Kommission (erneut) feierlich proklamiert.28 Die Erläuterungen, die im Sinne von Auslegungshinweisen der ursprünglichen Fassung vom Konvent beigegeben worden waren, wurden geändert.29 Als Interpretationshilfe sind die Erläuterungen zur Charta nach Art 6 I UAbs 3 EUV zu berücksichtigen.30 Die Grundrechte des Unionsrechts, insbesondere in Form der Grundrechtechar- 8 ta, die EMRK und die innerstaatlichen Grundrechtsgewährleistungen wirken in einem europäischen Grundrechtsgefüge zusammen.31 Allerdings sind die Mechanismen dieses Zusammenwirkens nicht eindeutig umrissen oder gar festgefügt. Aus der Perspektive des Bürgers geht es um die Absicherung seiner individualrechtlichen Positionen gegenüber Eingriffen unterschiedlicher Hoheitsträger im Mehrebenensystem der EU.32

3. Rechts(erkenntnis)quellen der Grundrechte nach Art 6 EUV Die europäischen Grundrechte finden ihre Grundlagen in unterschiedlichen Rechts- 9 quellen und Rechtserkenntnisquellen.33 Die systematische Schlüsselbestimmung des Art 6 EUV fasst dies zusammen, indem sie die Rechtsprechung des EuGH aufgreift und mit der geltenden Rechtslage zusammenführt.34 Die wesentlichen Neuerungen des Art 6 EUV im Vergleich zu Art 6 EUV aF bestehen in der Anordnung der rechtlichen Verbindlichkeit der Grundrechtecharta (Art 6 I UAbs 1 EUV) und in der Verpflichtung, der EMRK beizutreten (Art 6 II EUV), wobei allerdings dieser Beitritt aufgrund des ablehnenden Gutachtens des EuGH zum Entwurf des Beitrittsübereinkommens in weite Ferne gerückt ist (su Rn 17 ff).35 Die Regelung des Art 6 EUV beantwortet allerdings nicht die Frage, in welchem Verhältnis die dort genannten Grundrechtsgewährleistungen zueinander stehen. In der Rechtsprechung des EuGH wird Art 6 EUV daher im Zusammenhang mit den für die Bestimmung des Anwendungsbereichs maßgeblichen Art 51, 52 GRCh angeführt.36 Rechtsquellen der Unionsgrundrechte sind die Grundrechtecharta und die all- 10 gemeinen Rechtsgrundsätze, sie entfalten Bindungswirkung. Die aus diesen Quellen

_____ 28 ABl 2007 C 303/1. 29 ABl 2007 C 303/17. 30 Calliess/Ruffert/Kingreen Art 6 EUV Rn 11. 31 Überblicke bei vBogdandy/Bast/Kühling S 657 ff; Ludwigs/Sikora JuS 2017, 385. 32 EuGH, Rs 29/69 (Stauder), Slg 1969, 419, Rn 7, wonach bei der Prüfung der Rechtsgültigkeit einer Entscheidung der Kommission die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze zu beachten sind; s. Grabenwarter EnzEuR 2/Cremer § 1 Rn 7, 9 f. 33 Merten/Papier/Skouris HGR VI/2 § 157 Rn 156. 34 Zur Entstehungsgeschichte Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 6 Rn 1 ff. 35 EuGH, Gutachten 2/13, Rn 258. 36 EuGH, Rs C-617/10 – Åkerberg Fransson, Rn 20, 23. Dieter Kugelmann

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entspringenden Grundrechte sind der Auslegung unterworfen, die sich auf die Rechtserkenntnisquellen, insbesondere die EMRK stützt (Art 52 III EMRK).37 Weitere Rechtserkenntnisquellen sind die nationalen Verfassungen und die völkerrechtlichen Menschenrechtsverträge.38 Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze der Grundrechtecharta an und erkennt ihr damit rechtliche Verbindlichkeit zu (Art 6 I UAbs 1 EUV).39 Durch Art 6 EUV in der Fassung des Vertrages von Lissabon ist die Grundrechtecharta zum zentralen Grundrechtsdokument der Europäischen Union geworden. Die Grundrechtecharta und die Verträge, also EUV und AEUV, sind rechtlich gleichrangig (Art 6 I UAbs 1 EUV). Im Verhältnis zu sonstigem primären Unionsrecht ist auf einen Ausgleich zwischen Grundrecht und Vertragsbestimmung hinzuarbeiten, der durch harmonisierende Auslegung erreicht werden kann.40 Die Grundrechte gehen damit ebenso wie das sonstige Primärrecht dem Sekundärrecht vor.41 Sekundärrechtliche Vorschriften sind daher an den Grundrechten der Charta zu messen.42 Eine Besonderheit stellt die Berücksichtigungspflicht der Erläuterungen zur Charta dar (Art 6 I UAbs 3 EUV). Die Erläuterungen zur Charta43 stellen Interpretationshilfen dar, die insbesondere für die historische Auslegung von Bedeutung sind, da sie die Vorstellungen der Ersteller der Charta wiedergeben. Der EuGH wendet die Erläuterungen in diesem Sinne an.44 Dagegen ginge es zu weit, andere Auslegungsmethoden nicht anzuwenden, wenn die Erläuterungen eine Auslegungsfrage beantworten.45 Dies würde den Erläuterungen eine rechtliche Wirkung beimessen, indem die Kompetenz des EuGH beschränkt würde. Immerhin kann den Erläuterungen die Wirkung entnommen werden, dass bei Abweichungen von ihren Gehalten dem handelnden Organ oder dem Mitgliedstaat eine Begründungslast obliegt.46 Neben Art 6 II und III EUV regeln das Verhältnis zur EMRK die Art 52 III und Art 53 GRCh. Die EMRK hat bei der Entwicklung der Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze durch den EuGH eine herausgehobene Rolle gespielt, die auch die Erläuterungen zur Charta widerspiegeln. In der Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaften seit ihrer Gründung 1951/57 war das Rechtsverhältnis zur EMRK zwar zunächst nicht geregelt. Bereits mit Gründung der Europäischen Union 1993 bestimm-

_____ 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46

Jarass GRCh Einl Rn 1, 40; Calliess/Ruffert/Kingreen Art 6 EUV Rn 7. EuGH, Rs C-260/89 – ERT, Rn 41; Streinz/Streinz Art 6 EUV Rn 25. Calliess JZ 2009, 113; Pache/Rösch EuZW 2008, 519. Jarass EuR 2013, 29 (30). Heselhaus/Nowak/Pache § 4 Rn 134. EuGH, Rs C-399/11 – Melloni, Rn 50, 52; Rs C-400/10 PPU – J.McB / L.E., Rn 50, 52. ABl 2007 C 303/17. EuGH, Rs C-279/09 – DEB, Rn 32. Lenaerts EuR 2012, 16. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf Art 6 EUV Rn 34. Dieter Kugelmann

I. Entwicklung und Rechtsgrundlagen der Grundrechte in der Europäischen Union | 301

te aber eine Vorgängerregelung zu Art 6 III EUV,47 dass die Union die Grundrechte achtet wie sie die EMRK gewährleistet, womit auch die Auslegung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) umfasst war.48 Die EMRK hatte schon vor Inkrafttreten der Grundrechtecharta und der Art 52, 53 GRCh nach der Rechtsprechung des EuGH eine besondere Bedeutung.49 Sie bildet einen Mindeststandard, den der EuGH in Orientierung an der Rechtsprechung des EGMR achtet, zumal er die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze in Anlehnung an die EMRK entwickelte (s sogleich).50 Die Grundrechtecharta errichtet ein eigenes, normiertes Grundrechtsregime, das autonom gestaltet werden kann. Hierin liegt eine konzeptionelle Herausforderung,51 die nach Maßgabe der Art 52, 53 GRCh anzunehmen ist. Der EuGH hat die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze herausgear- 15 beitet (so Rn 5).52 Sie gelten als Teil des Unionsrechts dem Grunde nach fort (Art 6 III EUV). Mit der rechtlichen Verbindlichkeit der Grundrechtecharta verfügt diese Rechtsquelle aber nicht mehr über eine eigenständige Bedeutung, wenn und soweit die Grundrechtecharta Anwendung findet. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze sind im Verhältnis zu Polen und dem Vereinigten Königreich aufgrund der Beschränkung der Auslegung und Anwendung der Chartagrundrechte (su Rn 52) sowie in Altfällen anwendbar.53 Grundrechtliche Gewährleistungen, die nicht in der Grundrechtecharta enthal- 16 ten sind, können als allgemeine Rechtsgrundsätze Wirkung entfalten. Allerdings ist dies nur für die allgemeine Handlungsfreiheit ersichtlich, die der EuGH beiläufig als allgemeinen Rechtsgrundsatz bezeichnet hat.54 Dieses Fehlen dürfte angesichts der Dichte und Vielfalt der Chartarechte keine entscheidende Bedeutung erlangen.55 Der EGMR hat Art 8 EMRK als Auffanggrundrecht konzipiert und dergestalt die deutlich größeren Lücken der EMRK ausgeglichen. Die Zuordnung einschlägigen Verhaltens etwa zu Art 7 GRCh könnte eine Lösung von Zweifelsfällen ermöglichen. Im Hinblick auf wirtschaftliches Tätigwerden kommen Art 15 und 16 GRCh in Betracht. Soweit das Bestehen des Grundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz vertreten wird,56 ist das durch die Rechtsprechung des

_____ 47 Art F II EUV in der Fassung des Vertrages von Maastricht. 48 Kugelmann S 51. 49 EuGH, Rs C-260/89 – ERT, Rn 41 f. 50 Streinz/Streinz Art 6 EUV Rn 25. 51 Meyer/Borowsky Vorbem Art 1 GRCh Rn 5a spricht weiter gehend von einem „Spannungsverhältnis“. 52 Eingehend Grabenwarter EnzEuR 2/vDanwitz § 6 Rn 5 ff. 53 Isensee/Kirchhof/Herdegen HStR X § 211 Rn 17; Streinz/Streinz Art 6 EUV Rn 35. 54 EuGH, Rs 133/85 – Rau / BALM, Rn 15, 19. 55 Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Zuleeg/Kadelbach S 317. 56 Ehlers/Ehlers § 14 Rn 33; Heselhaus/Nowak/Haratsch § 18 Rn 7 ff; Chr Schmidt S 163. Dieter Kugelmann

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EuGH jedenfalls nicht abgedeckt.57 Das Fehlen der allgemeinen Handlungsfreiheit in der Charta könnte darauf zurückzuführen sein, dass ein Auffanggrundrecht die Befürchtungen bestärkt hätte, dass die EU durch die Grundrechte ihre Handlungsspielräume erweitert. Dieser Befürchtung wird durch Art 6 I 2 EUV Rechnung getragen, wonach durch die Charta die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert werden.

4. Der Beitritt der EU zur EMRK 17 Nach Art 6 II 1 EUV tritt die Europäische Union der Europäischen Konvention zum

Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei.58 Damit hat sich die EU auf den Beitritt verpflichtet. Diese Verpflichtung läuft leer, weil der EuGH in seinem Gutachten vom 18. Dezember 2014 zum Entwurf des Beitrittsübereinkommens kaum überwindbare Hürden errichtet hat.59 Ein Beitritt zur EMRK war zwar seit langem insbesondere vom Europäischen Parlament gefordert worden. 60 Nachdem die Grundrechtecharta verbindlich ist, ist jedoch ein Mehrwert des Beitritts zur EMRK für den Unionsbürger schwer erkennbar. Der Beitritt könnte mehr Probleme aufwerfen als er löst. Die EMRK ist gem Art 59 II EMRK ausdrücklich offen für einen Beitritt der Eu18 ropäischen Union. Parallel zum Vertrag von Lissabon wurde diese Vorschrift durch Art 17 des Protokolls Nr 14 zur EMRK eingefügt, weitere Änderungen könnten erforderlich werden.61 Aus Sicht der EMRK steht die Union allen anderen Vertragsparteien gleich.62 Der Abschluss des Übereinkommens über den Beitritt erfolgt nach den Regeln 19 des Art 218 AEUV. Danach beschließt der Rat nach Zustimmung des Europäischen Parlaments (Art 218 VI UAbs 2 lit a Ziff ii AEUV). Der Rat beschließt einstimmig, die Mitgliedstaaten müssen im Einklang mit ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften zustimmen (Art 218 VIII UAbs 2 S 2 AEUV).63 Die Verhandlungen, die 2010 begannen, führten am 5. April 2013 auf der Ebene der Verhandlungsführer zum Entwurf eines Beitrittsabkommens.64 Dieser Entwurf wurde gem Art 218 XI AEUV dem EuGH unterbreitet, der ihn in seinem Gutachten als unionsrechtswidrig verwarf. Das Gutachten des EuGH vom 18.12.2014 hat die konkreten Regelungen des 20 Übereinkommens für mit Art 6 II GRCh und dem dazu bestehenden Protokoll Nr 8

_____ 57 58 59 60 61 62 63 64

Skeptisch auch Jarass GRCh Einl Rn 39. Überblick bei Chr Schmidt S 64 ff; s Winkler S 36. EuGH Gutachten 2/13; dazu Wendel NJW 2015, 925; Franzius EuGRZ 2015, 139 (145). Streinz/Streinz Art 6 EUV Rn 8. Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer/Meyer-Ladewig/Renger Art 59 EMRK Rn 2. Jacqué CMLRev 2011, 995 (1009 ff). Streinz/Streinz Art 6 EUV Rn 19. Polakiewicz EuGRZ 2013, 472; s auch Gstrein ZEuS 2012, 445; Chr Schmidt S 63 ff. Dieter Kugelmann

I. Entwicklung und Rechtsgrundlagen der Grundrechte in der Europäischen Union | 303

für unvereinbar erachtet.65 Aufgrund der allgemeinen Aussagen und Begründungen des EuGH ist darüber hinaus der Beitritt der EU zur EMRK auf unabsehbare Zeit kaum möglich.66 Der EuGH fasst die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Unionsrechts in grundlegender Weise zusammen.67 Die Verteidigung dieser Errungenschaften führt dazu, dass die Mechanismen der Koordinierung mit der EMRK abgelehnt werden.68 Die zentrale Problematik betrifft das Verhältnis des EGMR zum EuGH.69 Die Begründungen des Gutachtens sind zwar vielfach angreifbar.70 Jedoch ist dem EuGH zugute zu halten, dass er in seinem Verständnis als Verfassungsgericht der EU die eigenständige Grundrechtsverwirklichung postuliert und der Grundrechtecharta Raum zur Entwicklung lässt.71 Da Art 6 II EUV weiter gilt, steht der Beitritt im Raum, ohne dass sich eine Perspektive zur Verwirklichung bietet. Eine Änderung des Primärrechts zur Verwirklichung des Beitritts, die sich in Gegensatz zum EuGH setzt, dürfte kaum realistisch sein.72

5. Grundrechte im Kontext des Unionsrechts Die Wahrung der Grund- und Menschenrechte ist ein Ziel der Europäischen Union 21 nach innen und außen. Das auswärtige Handeln der Union ist nach Art 21 II lit b iVm Art 3 V EUV darauf gerichtet, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zu fördern. Grundlage für das Verständnis der Menschenrechte sind die EMRK und die Grundrechte-Charta.73 Im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts werden gem Art 67 I AEUV die Grundrechte geachtet.74 Darin liegt kein bloßes Lippenbekenntnis, sondern eine normativ verankerte Stärkung des Freiheitsaspekts angesichts der möglichen Beschränkungen im Rahmen der Justiz- und Innenpolitik.75 Neben derartigen Grundrechtssicherungen in den Grundzügen von Politiken bestehen im geltenden Vertragsrecht einige ausdrückliche Ansätze für den Schutz der Grundrechtssphäre des Einzelnen. Sowohl im Primärrecht wie im Sekundärrecht finden sich Regelungen, die grundrechtlich fundierte Rechte des Einzelnen gegen Staat oder Union beinhalten.

_____ 65 EuGH Gutachten 2/13 – Beitritt zur EMRK, Rn 258. 66 Streinz/Streinz/Michl Art 6 EUV Rn 20 mit harscher Kritik in Rn 19. 67 EuGH, Gutachten 2/13 – Beitritt zur EMRK, Rn 155 – 177, 178. 68 Wendel NJW 2015, 921 (923) spricht von einer „reflexhaft anmutenden Verteidigungshaltung“; s auch Franzius EuGRZ 2015, 139 (145). 69 S Isensee/Kirchhof/Herdegen HStR X § 211 Rn 22 f. 70 Breuer EuR 2015, 330; Wendel NJW 2015, 921. 71 S Calliess/Ruffert/Kingreen Art 6 EUV Rn 32. 72 Calliess/Ruffert/Kingreen Art 6 EUV Rn 32; Streinz/Streinz/Michl Art 6 EUV Rn 20. 73 Streinz/Regelsberger/Kugelmann Art 21 EUV Rn 9. 74 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Röben Art 67 AEUV Rn 75 ff. 75 Calliess/Ruffert/Suhr Art 67 AEUV Rn 77; Streinz/Weiß/Satzger Art 67 AEUV Rn 27. Dieter Kugelmann

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a) Grundrechtsgleiche Rechte im AEUV und im Sekundärrecht 22 Die allgemeinen Bestimmungen der Art 8 ff AEUV legen Ziele und Berücksichti-

gungsgebote für das gesamte Unionsrecht fest, die teils individuelle Rechte enthalten und überwiegend die Politiken der Union und damit ihre Rechtssetzung anleiten und binden. Das Verhältnis der einzelnen Vorschriften zu parallelen Bestimmungen und Gewährleistungen der Grundrechtecharta ist differenzierend zu beurteilen. Der soziale Schutz (Art 9 AEUV), der Umweltschutz (Art 11 AEUV), der Verbraucherschutz (Art 12 AEUV) oder der Tierschutz (Art 13 AEUV) stellen Querschnittsklauseln dar, deren Erfordernissen in unterschiedlichem Maße bei der Festlegung und Durchführung von Politiken der Union Rechnung zu tragen ist. Sie gewähren keine subjektiven Rechte. Die Querschnittsklauseln zu den Diskriminierungsverboten der Art 8 und 10 23 AEUV werden von der Kompetenznorm des Art 19 AEUV weitergeführt, der die Rechtsgrundlage für die Anti-Diskriminierungspolitik der EU bildet. Das darauf beruhende Sekundärrecht verbürgt individualrechtliche Positionen, die der Einzelne gerichtlich gegen den Staat durchsetzen kann, um sich gegen Diskriminierungen aufgrund der verpönten Kriterien zu wehren.76 Die grundrechtlichen Diskriminierungsverbote der Art 21, 23 GRCh bauen in ihrem Anwendungsbereich auf den sekundärrechtlich bereits vorhandenen Gehalten auf. Das älteste grundrechtsgleiche Recht ist das Recht auf gleiches Entgelt für 24 Männer und Frauen (Art 157 AEUV), das bereits im EWG-Vertrag von 1957 enthalten war.77 Das Anti-Diskriminierungsrecht der EU berührt vielfache Rechtsfragen und auch gesellschaftspolitische Diskussionen, da es sich um eine Querschnittsmaterie handelt, die unterschiedliche Rechtsgebiete betrifft. Diskriminierungen können im Sozialrecht ebenso vorkommen wie im Arbeitsrecht oder Beamtenrecht. Das Sekundärrecht und die Rechtsprechung des EuGH erweisen sich als modern und weitreichend, gerade auch im Verhältnis zum älteren deutschen Recht.78 Der individuelle Zugang zu Dokumenten der Union ist in Art 15 III AEUV ge25 währleistet. Die Union bekennt sich zu Offenheit und Transparenz (Art 15 I AEUV). Das Recht auf Informationszugang steht dabei in enger Verbindung mit dem Demokratieprinzip und stärkt die demokratische Legitimation der Union.79 Die vertragliche Vorschrift des Art 15 III AEUV gewährt keinen umfassenden Informationsanspruch,80 sondern bezieht sich auf vorhandene von der Union verwaltete Infor-

_____ 76 77 78 79 80

Calliess/Ruffert/Rossi Art 8 GRCh Rn 6. Streinz/Eichenhofer Art 157 AEUV Rn 1. Ziegler/Huber/Huber S 117 (121). Schwarze/Schoo/Görlitz Art 15 AEUV Rn 5. EuG, T-392/07 – Strack, Rn 7. Dieter Kugelmann

I. Entwicklung und Rechtsgrundlagen der Grundrechte in der Europäischen Union | 305

mationen.81 Dies bestätigt die Parallele zu Art 42 GRCh, der als Freiheitsrecht das subjektive Recht auf Zugang zu Dokumenten gewährleistet. Seine Wirkung entfaltet Art 15 AEUV nicht unmittelbar, sondern in der Ausge- 26 staltung durch das Sekundärrecht.82 Für die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger ist ausschlaggebend, dass ihnen ein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch auf Zugang zu Dokumenten der Union zusteht. Er wird nach Maßgabe des Sekundärrechts ausgeübt, das insbesondere durch die VO 1049/200183 ausgestaltet wird und Gegenstand einer umfangreichen Rechtsprechung des Gerichtshofes ist.84 Danach verfügen die natürlichen und juristischen Personen über weitreichende eigenständige Informationsrechte. Diese sind Teil der Transparenz der Union. Regelungen zum Datenschutz trifft Art 16 AEUV, der sowohl ein Individual- 27 recht als auch eine Gesetzgebungskompetenz enthält. Die Kompetenz trägt den Erlass von Vorschriften über den Datenschutz und den freien Datenverkehr im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art 16 II AEUV).85 Sie wurde zum Erlass der Datenschutz-Grundverordnung genutzt, die gem ihrem Art 1 die Ziele verfolgt, Grundrechte und Grundfreiheiten zu schützen und zudem den freien Datenverkehr zu sichern.86 Auch die parallel verabschiedete Richtlinie zur Datenverarbeitung bei Polizei und Justiz beruht auf Art 16 II AEUV.87 Die neue Regelung des Datenschutzes für die Organe der EU wurde ebenfalls auf dieser Grundlage geschaffen.88 Eine spezielle Rechtsgrundlage für die Regelung des Datenschutzes in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik enthält Art 39 EUV. Danach erlässt der Rat einstimmig einen Beschluss (s Art 31 EUV), wobei er den grundrechtlichen Bindungen aus Art 8 GRCh unterliegt.89 Das individuelle Recht auf Datenschutz des Art 16 I AEUV wird entweder als 28 Grundrecht, 90 als grundrechtsgleiches Recht oder als objektiv-rechtliche Querschnittsverpflichtung gesehen.91 Die Formulierung deutet auf die Gewährleistung eines individuellen Rechts hin.92 Der Schutzbereich ist jedenfalls deckungsgleich

_____ 81 Calliess/Ruffert/Wegener Art 15 AEUV Rn 11 und Art 42 GRCh Rn 1; Schwarze/Schoo/Görlitz Art 15 AEUV Rn 23; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Krajewski/Rösslein Art 15 AEUV Rn 32. 82 Streinz/Gellermann Art 15 AEUV Rn 10; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Krajewski/Rösslein Art 15 AEUV Rn 37. 83 ABl 2001 L 145/43. 84 Bretthauer DÖV 2013, 677 mwN. 85 Schneider Die Verwaltung (44) 2011, 499. 86 VO (EU) 2016/679, ABl 2016 L 119/1. 87 Richtlinie (EU) 2016/680, ABl 2016 L 119/89. 88 VO (EU) 2018/1725, ABl 2018 L 295/39. 89 Streinz/Kugelmann Art 39 EUV Rn 5. 90 Calliess/Ruffert/Kingreen Art 16 AEUV Rn 2. 91 Streinz/Schröder Art 16 AEUV Rn 5 f mwN. 92 Britz EuGRZ 2009, 1 (2); vdGroeben/Schwarze/Hatje/Brühann Art 16 AEUV Rn 26. Dieter Kugelmann

306 | § 4 Grundrechte

mit dem Grundrecht auf Datenschutz nach Art 8 GRCh.93 Dann stellt sich allerdings das Problem der Schranken, da Art 16 I AEUV keine Beschränkungsmöglichkeiten enthält, während auf Art 8 GRCh die allgemeine Schrankenregelung des Art 52 GRCh anwendbar ist. Eine systematische Auslegung im Kontext führt zu einer harmonisierenden Interpretation, die Art 16 AEUV den Grundrechtsschranken des Art 52 GRCh unterwirft.94

b) Grundrechte und Grundfreiheiten 29 Grundrechte und Grundfreiheiten weisen Parallelen, aber auch Unterschiede auf.95

Grundrechte und Grundfreiheiten sind gem Art 6 I EUV in der Normenhierarchie gleichrangig und können sich gegenseitig einschränken oder wechselseitig verstärken. 96 Im Fall Schmidberger wurde die Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit durch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit gerechtfertigt.97 Im Fall Laval hat der EuGH eine Einschränkung des Grundrechts der Koalitionsfreiheit des Art 28 GRCh durch die Niederlassungsfreiheit für möglich gehalten.98 Eine klare Abgrenzung von Struktur und Anwendung ist angesichts der Überschneidungen schwierig. Hinzu tritt der erhebliche Einfluss der Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten, die fallbezogen und nicht immer kohärent und eindeutig ist. Grundfreiheiten und Grundrechte haben Gemeinsamkeiten. Beide begründen 30 subjektive Rechte. Grundfreiheiten sind nicht nur Diskriminierungsverbote, sondern umfassende Beschränkungsverbote. 99 Eine Diskriminierung ist eine benachteiligende Ungleichbehandlung. Eine Beschränkung liegt vor, wenn die formell unterschiedslos geltende mitgliedstaatliche Maßnahme geeignet ist, die Ausübung der Grundfreiheiten zu behindern. Der Gerichtshof prüft eine Verletzung der Grundfreiheiten in drei Schritten: Anwendungsbereich, verbotene mitgliedstaatliche Maßnahme und Rechtfertigung. Die Ähnlichkeiten zu einer Grundrechtsprüfung sind unübersehbar. Dies betrifft auch die Notwendigkeit einer Verhältnismäßigkeitsprüfung, die der EuGH zu den Grundfreiheiten streng durchführt, während

_____ 93 Dazu Britz EuGRZ 2009, 1; Kotzur EuGRZ 2011, 105; Spiecker gen Döhmann JZ 2011, 169; Streinz DuD 2011, 602. 94 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Sobotta Art 16 AEUV Rn 8; dagegen hält Calliess/Ruffert/Kingreen Art 16 AEUV Rn 3 den Art 52 GRCh für nicht anwendbar. 95 Grabenwarter EnzEuR 2/vDanwitz § 6 53 ff; Manger-Nestler/Noack JuS 2013, 503; Merten/Papier/ Streinz HGR VI/1 § 151 Rn 11 ff; Rengeling/Szczekalla Rn 144 ff. 96 Jarass EuR 2013, 29 (31). 97 EuGH, Rs C-112/00 – Schmidberger, Rn 74. 98 EuGH, Rs C-341/05 – Laval, Rn 94 ff. 99 Blanke/Böttner § 13 (in diesem Band). Dieter Kugelmann

I. Entwicklung und Rechtsgrundlagen der Grundrechte in der Europäischen Union | 307

er zu den Grundrechten den Mitgliedstaaten oftmals weitere Spielräume zugesteht.100 Der wesentliche Unterschied zu den Grundrechten liegt in der finalen Struk- 31 tur der Grundfreiheiten. Ihr Ziel liegt in der Erhaltung und Stärkung des Binnenmarktes (Art 26 II AEUV).101 Folgerichtig können die Grundfreiheiten den Mitgliedstaaten Handlungspflichten auferlegen, um dieses Ziel zu erreichen. Die Grundfreiheiten instrumentalisieren zur Zielerreichung den Marktbürger. Seine subjektiven Rechte und deren Durchsetzung werden gegen die Beschränkungen des Binnenmarktes in Stellung gebracht. Setzt ein Marktbürger sein subjektives Recht gegen den Mitgliedstaat gerichtlich durch, dann bedeutet dies zugleich, dass die als rechtswidrig erachtete Beschränkung nunmehr kein Hemmnis für den Binnenmarkt sein kann. Darin liegt eine Nähe zur grundrechtlichen Funktion der Schutzpflichten, die auch den Unionsgrundrechten zukommt (su Rn 75). Grundfreiheiten richten sich vorrangig auf die Eröffnung von Marktzugängen, nicht auf die allgemeine Sicherung wirtschaftlicher Freiheit.102 Die Grundrechte sichern personale Freiheit und Gleichheit, ohne dass ihre Wahrnehmung einen Zweck verfolgen muss.103 In den weiten Anwendungsbereich der Grundfreiheiten fällt jede geschützte 32 wirtschaftliche Tätigkeit, die einen grenzüberschreitenden Bezug aufweist und nicht durch eine Bereichsausnahme ausgeschlossen ist.104 Jeder Unionsbürger sowie Personenmehrheiten können sich auf die Grundfreiheiten berufen. Die Grundfreiheiten verpflichten vorrangig die Mitgliedstaaten und auch die EU.105 Der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta wird von Art 51 GRCh umschrieben. Dadurch ist die Bindung der Mitgliedstaaten auf die Durchführung des Unionsrechts beschränkt. Die Grundrechte verpflichten vorrangig die EU, aber auch die Mitgliedstaaten. Die Reichweite dieser Verpflichtung ist hochumstritten (su Rn 58 ff).

c) Grundrechte und Unionsbürgerschaft Die Unionsbürgerschaft nach Art 20 AEUV bildet das grundlegende Rechtsver- 33 hältnis des Einzelnen zur Union.106 Sie spiegelt sich in den Grundrechten der Uni-

_____ 100 Manger-Nestler/Noack JuS 2013, 503; Merten/Papier/Streinz HGR VI/1 § 151 Rn 19; kritisch zur Verhältnismäßigkeitsprüfung bei den Grundrechten Weiß EuZW 2013, 290 ff; eine Anhebung der Kontrolldichte durch den EuGH diagnostiziert vDanwitz EuGRZ 2013, 255. 101 Streinz/Schroeder Art 26 AEUV Rn 9. 102 Müller-Graff EnzEuR 4/Müller-Graff § 1 Rn 75. 103 Merten/Papier/Streinz HGR VI/1 § 151 Rn 19. 104 Merten/Papier/Streinz HGR VI/1 § 151 Rn 16. 105 Grabenwarter EnzEuR 2/vDanwitz § 6 Rn 54. 106 Calliess/Ruffert/Kluth Art 20 AEUV Rn 6; daher wollen vBogdandy/Kottmann/Antpöhler/ Dickschen/Hentrei/Smrkolj ZaöRV 2012 (72), 45 (58) und dies CMLRev 2012, 489 die Unionsbürgerschaft zur dogmatischen Grundlage für einen grundrechtlichen Wesensgehaltsschutz weiterentwickeln. Dieter Kugelmann

308 | § 4 Grundrechte

onsbürger nach Art 39 ff GRCh.107 Auf Art 20 I 2 AEUV beruht die Rechtsträgerschaft, da Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt. Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger verfügen über die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten (Art 20 II AEUV), deren unmittelbare Anwendbarkeit durch die Auslegung der jeweiligen Vertragsvorschrift festzulegen ist.108 Die Art 21 bis 25 AEUV beinhalten wesentliche Bestandteile der Unionsbürgerschaft, sind aber nicht abschließend. Der EuGH hat zu Gunsten der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger aus dem Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit (Art 18 AEUV), der Freizügigkeit (Art 21 AEUV) und in Verbindung mit Regelungen des Sekundärrechts eine weit reichende Rechtsprechung mit unterschiedlichen Entfaltungen aufgebaut.109 Schwerpunkte bilden Aufenthaltsrechte der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger sowie ihrer Angehörigen110 und Ansprüche auf Gleichbehandlung bei sozialen Unterstützungsleistungen.111 Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger können sich auf die Bürgerrechte der 34 Art 39 ff GRCh unmittelbar berufen. Dadurch ist die gerichtliche Durchsetzbarkeit der individuellen Rechtsposition gewährleistet, die im Zusammenhang des Art 20 AEUV und der Vorschriften, auf die er verweist, nicht ohne weiteres gegeben ist.112 Ansatzpunkt für die Rechtsprechung sind oftmals sekundärrechtliche Regelungen über das Freizügigkeitsrecht wie die Richtlinie 2004/38113 oder über die Rechtspositionen von Drittstaatsangehörigen. II. Anwendungsbereich und Bindungswirkung II. Anwendungsbereich und Bindungswirkung 35 Die Grundrechte der EU beruhen auf vertraglicher Grundlage. Dies gilt für die

Grundrechtecharta, aber auch für das Richterrecht des EuGH, das er auf die Auslegung der Verträge stützt. Bestimmungen eines Vertrages sind auf ihre Reichweite hin zu untersuchen. Die einzelnen Grundrechte der Grundrechtecharta können in ihren Gehalten durchaus denen der Grundrechte des GG oder der EMRK entsprechen. Sie entspringen aber anderen Rechtsquellen (so zu Art 6 EUV) und folgen den besonderen Regeln des Unionsrechts.114 Die Grundrechtsordnung der Union tritt zu den Grundrechten der nationalen Verfassungen hinzu. Eine Erstreckung von Grund-

_____ 107 Merten/Papier/Magiera HGR VI/1 § 161 Rn 2. 108 Calliess/Ruffert/Kluth Art 20 AEUV Rn 11 ff; Streinz/Streinz Art 20 AEUV Rn 33. 109 vBogdandy/Bitter FS Manfred Zuleeg, 2005, S 318; Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Giegerich S 350 ff. 110 EuGH, Rs C-34/09 – Ruiz Zambrano, Rn 44 f; Rs C-256/11 – Dereci, Rn 53 ff; Rs C-165/14 – Marin, Rn 51 f. 111 EuGH, Rs C-85/96 – Martínez Sala, Rn 61 ff. 112 Calliess/Ruffert/Kluth Art 20 AEUV Rn 11. 113 ABl 2004 L 158/77; ABl 2004 L 229/35 (korrigierte Fassung). 114 EuGH Gutachten 2/13 – Beitritt zur EMRK, Rn 169f. Dieter Kugelmann

II. Anwendungsbereich und Bindungswirkung | 309

rechtsbindungen auf rechtliche Handlungen der Mitgliedstaaten bedarf der Begründung, weil die Unionsgrundrechte dann für Hoheitsträger gelten, die nicht von der Unionsrechtsordnung konstituiert werden.115 Die Abgrenzung von Anwendungsbereichen und die Abschichtung von Grundrechtswirkungen sind zentrale Gesichtspunkte für die Grundrechtsordnung im Mehrebenensystem.116

1. Grundrechtsberechtigung Eine ausdrückliche allgemeine Regelung zur Grundrechtsträgerschaft enthält die 36 Grundrechtecharta nicht. Nach der menschenrechtlichen Konzeption der Grundrechtecharta sind Grundrechtsberechtigte grundsätzlich alle natürlichen Personen.117 Die Mehrzahl der Rechte und Freiheiten stehen jeder Person zu. Differenzierungen nach Bürgerrechten, die nur den Unionsbürgern zustehen (zB das Wahlrecht des Art 39 GRCh), oder nach spezifischen Personengruppen wie im Fall der Kinderrechte (Art 24, 32 GRCh), nimmt die jeweilige Bestimmung vor. Drittstaatsangehörige sind grundsätzlich grundrechtsberechtigt, einige Gewährleistungen sind aber beschränkt.118 Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen ist gleichermaßen ungere- 37 gelt und muss aus allgemeinen Regeln erschlossen werden. Einige Bestimmungen berechtigen ausdrücklich juristische Personen (Art 42, 43, 44 GRCh). Daraus lässt sich aber keine Systematik ableiten, vielmehr ist für jede Regelung im Einzelnen zu untersuchen, ob sie auch juristische Personen berechtigt.119 Grundlage für die Auslegung sind die Art 52 II und III sowie Art 53 GRCh. Danach dürfen die Rechte aus der EMRK nicht verkürzt werden und die Rechte der GRCh entsprechen denjenigen der EMRK (s auch Art 6 I UAbs 3 EUV).120 Sind juristische Personen nach der EMRK in der Auslegung des EGMR Träger eines Grundrechts (s Art 1, 34 EMRK), sind sie es auch nach der Grundrechtecharta. Private juristische Personen sind nach der Grundrechtecharta grundrechtsberechtigt, wenn das Grundrecht seinem Wesen nach auf sie anwendbar ist.121 Wenn und soweit der EuGH in seiner Grundrechterechtsprechung vor dem Inkrafttreten der GRCh juristische Personen als berechtigt erachtet hat, spricht die Kohärenz der Rechtsprechung dafür, ihnen auch nach der GRCh die Grundrechtsberechtigung zuzusprechen.

_____ 115 116 117 118 119 120 121

Matz-Lück/Hong/Sauer S 15. Masing JZ 2015, 477. Meyer/Borowsky Art 51 GRCh Rn 35. vBogdandy/Bast/Kühling S 686. Streinz/Streinz/Michl Art 51 GRCh Rn 1. EuGH, Gutachten 2/13 – Beitritt zur EMRK, Rn 187. vBogdandy/Bast/Kühling S 687; Jarass GRCh Art 51 Rn 59.

Dieter Kugelmann

310 | § 4 Grundrechte

In der Konsequenz dieses Ansatzes liegt es, juristische Personen des Privatrechts als Träger der Rechte der Berufsfreiheit (Art 15 GRCh), der unternehmerischen Freiheit (Art 16 GRCh) und des Eigentumsrechts (Art 17 GRCh) anzuerkennen.122 Allerdings kann das Schutzniveau hinter demjenigen zurückbleiben, das natürlichen Personen zusteht.123 Das allgemeine Gleichheitsrecht des Art 20 GRCh kann privatrechtlichen juristischen Personen zustehen, dies gilt auch für politische Parteien, soweit nicht Art 39 GRCh zum Tragen kommt.124 Juristische Personen des öffentlichen Rechts gehören grundsätzlich zu den 39 Adressaten der Grundrechte und nur ausnahmsweise zu den Grundrechtsträgern. Sie können jedoch das Recht auf effektiven Rechtsschutz nach Art 47 GRCh und eventuell weitere Verfahrensrechte in Anspruch nehmen.125 Die Kirchen und religiösen Vereinigungen können sich auf die Religionsfreiheit berufen, da Art 17 AEUV ihnen einen besonderen Achtungsanspruch gewährt. Nach Art 52 II GRCh ist die GRCh im Einklang mit Art 17 AEUV dahin auszulegen, dass eine Kirche, die eine öffentlich-rechtliche Rechtsform hat, grundsätzlich von Art 10 GRCh geschützt ist. Die Abgrenzung zur Freiheit des gemeinsam ausgeübten Bekenntnisses ist zu beachten, weil sich diese als kollektive Freiheitsausübung der Individuen darstellt. Öffentlichrechtliche Rundfunkanstalten können funktionsbezogen Grundrechtsträger sein.126

38

2. Der Anwendungsbereich (Art 51 GRCh) 40 Die Bestimmung des Anwendungsbereiches der Grundrechtecharta erfolgt in auto-

nomer Auslegung des Art 51 GRCh. Sie hat Folgen für das Verhältnis zu den Anwendungsbereichen der innerstaatlichen Grundrechte und der EMRK. Dieses Verhältnis kann auch kumulativ ausgestaltet sein, indem sich Anwendungsbereiche überschneiden (su Rn 165 f).127 Damit werden zugleich die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts und des Gerichtshofes der Europäischen Union zueinander und zu den Zuständigkeiten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Beziehung gesetzt. Ausgangspunkt ist der Unterschied zwischen Geltung und Anwendung.128 41 Die Geltung einer Rechtsnorm bezeichnet ihre normativ festgelegte Wirkung, die sich personal, temporal und territorial bestimmt. Sie richtet sich nach dem Geltungsanspruch der rechtlichen Grundlage, also etwa des Vertrages oder Gesetzes.

_____ 122 123 124 125 126 127 128

Merten/Papier/Durner HGR VI/1 § 162 Rn 15; Meyer/Borowsky Art 51 GRCh Rn 35. Merten/Papier/Durner HGR VI/1 § 162 Rn 16. Merten/Papier/Kugelmann HGR VI/1 § 160 Rn 29. Meyer/Borowsky Art 51 GRCh Rn 35; Winkler S 106. EuGH, Rs C-510/10 – DR u a / NCB, Rn 57 zu Art 16 GRCh. Streinz/Streinz/Michl Art 51 GRCh Rn 26. Vgl Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl 1960 (Nachdruck 1983), S 220. Dieter Kugelmann

II. Anwendungsbereich und Bindungswirkung | 311

Demgegenüber betrifft die Festlegung des Anwendungsbereiches einer Vorschrift die Frage, welche Adressaten mit welchen Rechten und Pflichten von der konkreten Regelung erfasst werden. Der Anwendungsbereich ist durch Auslegung der konkreten Bestimmung zu ermitteln. Die unterschiedlichen Grundrechtsinstrumente gelten nebeneinander, sie können sich in ihrer Anwendbarkeit in unterschiedlichem Ausmaß überlappen. Die Bestimmung des Anwendungsbereiches nach Art 51 GRCh ist die Vorausset- 42 zung, um das Vorliegen der Situation des Anwendungsvorrangs prüfen zu können. Falls sich in einer Konstellation innerstaatliche und EU-Grundrechte überschneiden und eine Kollision vorliegt, gehen die Chartarechte vor. Die Grundrechte haben am Anwendungsvorrang des Unionsrechts teil.129 Der EuGH hat den Anwendungsvorrang entwickelt, um das Verhältnis des Unionsrechts zum innerstaatlichen Recht festzulegen.130 Ziel ist die einheitliche Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten.131 Er hat den Vorrang des Unionsrechts auf alle Rechtsnormen des Unionsrechts erstreckt. Ein Ziel der Entwicklung von Grundrechten durch den EuGH bestand gerade in der Sicherung des Vorrangs des Unionsrechts.132 Das Bundesverfassungsgericht bejaht einen Anwendungsvorrang des Unionsrechts, begründet ihn aber aus dem Rechtsanwendungsbefehl des innerstaatlichen Zustimmungsgesetzes (Art 23 I 2 iVm Art 59 II 1 GG).133 Der Anwendungsvorrang ist kein Geltungsvorrang. Innerstaatliches Recht, das dem Unionsrecht widerspricht, ist unanwendbar, aber keineswegs nichtig und kann in Fällen, in denen das Unionsrecht nicht wirkt, auf rein innerstaatliche Sachverhalte weiter Anwendung finden.134 Die maßgebliche Regelung zur Anwendung der Grundrechtecharta trifft Art 51 43 GRCh. Nach Art 51 I GRCh gilt die Charta für Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Union und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union, nicht aber im Verhältnis von einzelnen Bürgern untereinander. Bei dieser Regelung handelt es sich um die umstrittenste Bestimmung der Grundrechtecharta überhaupt. 135 Sie ist mit „Anwendungsbereich“ (field of application; champ d’application) überschrieben, regelt aber insbesondere die Grundrechtsverpflichtung und die Abgrenzung zu mitgliedstaatlichen Zuständigkeiten.136

_____ 129 130 131 132 133 134 135 136

EuGH, Gutachten 2/13 – Beitritt zur EMRK, Rn 166, 169. EuGH, Rs 6/64 – Costa/ENEL, Rn 10, 12. EuGH, Rs 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft, Rn 3. Marsch S 284. BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (397) – Lissabon. EuGH, verb Rs C-10/97 bis C-22/97 – IN.CO.GE.’90 U.A., Rn 20 ff. vdGroeben/Schwarze/Hatje/Terhechte Art 51 GRCh Rn 3. Jarass GRCh Art 51 Rn 1; Streinz/Streinz/Michl Art 51 GRCh Rn 1.

Dieter Kugelmann

312 | § 4 Grundrechte

Die Grundrechtecharta hat mehrere Funktionen.137 Sie bildet den Maßstab für die Prüfung des Unionsrechts auf seine Vereinbarkeit mit Grundrechten.138 Ein Berechtigter kann sich auf die Grundrechtecharta berufen, um die Bestimmung eines Unionsrechtsakts oder in bestimmten Fällen eines mitgliedstaatlichen Durchführungsrechtsakts gerichtlich anzugreifen. Da sie mit dem sonstigen Unionsrecht gleichrangig ist (Art 6 I UAbs 1 EUV), ist eine Verordnung oder eine Richtlinie nach Maßgabe der Charta auszulegen.139 Die Grundrechtecharta soll auch als Auslegungshilfe für die Ableitung von Grundrechten aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen dienen können.140 Nach Art 51 II GRCh und Art 6 I UAbs 2 EUV erweitert die Grundrechtecharta in 45 keiner Weise die vertraglich festgelegten Zuständigkeiten der Europäischen Union. Diese deklaratorische „Angstklausel“141 sollte der Sorge entgegenwirken, dass durch die Anwendung der EU-Grundrechte die Handlungsspielräume der Union in einer Weise erweitert würden, die eine Schmälerung der den Mitgliedstaaten zustehenden Zuständigkeiten zur Folge haben könnte.142 Die EU-Grundrechte äußern nach diesem Ansatz eine unitarisierende Wirkung,143 indem sie die Union gegenüber den Mitgliedstaaten stärken. Damit ist vorrangig der EuGH gemeint.144 Jedoch ist eine differenzierende Sicht angebracht, die zuvörderst aus Sicht der Grundrechtsberechtigten die Wahrung ihrer Rechte in den Vordergrund stellt. Im Hinblick auf Maßnahmen insbesondere im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wird dabei deutlich, dass die EU-Grundrechte die Ausübung von Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten befördern, die unionsrechtlichen Maßnahmen wie asylrechtlichen Überstellungen oder der Durchführung Europäischer Haftbefehle entgegenstehen können (su Rn 97).

44

3. Bindung der Organe und Einrichtungen der Europäischen Union 46 Die Organe und Einrichtungen sind in allen ihren Tätigkeiten vollständig an die

Grundrechtecharta gebunden. Im Rahmen der Gesetzgebung und Normsetzung besteht eine Verpflichtung, die Grundrechte bei verbindlichen Rechtsakten (Verordnungen, Richtlinien, Beschlüssen) ebenso zu achten wie bei unverbindlichen

_____ 137 Lenaerts EuR 2012, 3. 138 EuGH, Rs C-400/10 PPU − J.McB / L.E., Rn 50 ff; Rs C-399/11 – Melloni, Rn 50, 52. 139 EuGH, Rs C-400/10 PPU − J.McB / L.E., Rn 50, 52; Rs C-4/11 – Puid, Rn 36; Rs C-216/18 PPU – Minister for Justice and Equality / LM (Polen), Rn 37, 45. 140 Lenaerts EuR 2012, 3. 141 So Meyer/Borowsky Art 51 GRCh Rn 34a. 142 Huber NJW 2011, 2385 (2386). 143 Isensee/Kirchhof/Herdegen HStR X § 211 Rn 15; von Zentralisierung spricht Masing JZ 2015, 486. 144 Streinz/Huber Art 19 EUV Rn 35. Dieter Kugelmann

II. Anwendungsbereich und Bindungswirkung | 313

Rechtsakten. Auf die gesetzgebenden Organe wirkt die Schutzpflichtdimension der Grundrechte besonders stark. Dies gilt ebenso für die Achtung der Grundsätze und die Pflicht zur Förderung (Art 51 I 2 GRCh). Die Förderpflicht erstarkt aber nicht zu einer Pflicht, einen Rechtsakt zu erlassen. Eine materielle Bindung besteht auch in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik,145 die sich bei auswärtigem Handeln gegenüber Dritten in einer Verpflichtung zum Menschenrechtsschutz niederschlägt (Art 21 II lit b EUV).146 Einrichtungen der EU und insbesondere Agenturen unterliegen der Grund- 47 rechtsbindung insbesondere, wenn sie belastende Maßnahmen ergreifen.147 Dies gilt etwa für das Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt, das gegen Gebühr die gemeinschaftsweite Anerkennung von Marken und Geschmacksmustern vornimmt.148 Die Agenturen auf dem Gebiet der Justiz- und Innenpolitik nehmen besonders grundrechtssensible Aufgaben wahr.149 Dies verdeutlichen die Tätigkeiten von Europol und Frontex. Europol verarbeitet Daten zur Bekämpfung bestimmter Straftaten.150 Frontex unterstützt beim Schutz der EU-Außengrenzen und nimmt operative Aufgaben wahr.151 Eine Sonderrolle nimmt die Europäische Agentur für Grundrechte ein,152 de- 48 ren Aufgabe gerade in der Wahrung und Förderung der Achtung von Unionsgrundrechten liegt.153 Sie verfügt aber nicht über eigene Befugnisse, Maßnahmen gegenüber Einzelnen oder Mitgliedstaaten zu treffen. Sie ist vielmehr eine Informationsagentur.154 Die Grundrechteagentur erstellt Berichte oder Gutachten, sie berät und betreibt Öffentlichkeitsarbeit.

4. Bindung der Mitgliedstaaten Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte wirft zentrale Fragen 49 des Verhältnisses zu den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und der Zuständigkeit für die Kontrolle auf.155 Diese Fragen sollen mit Art 51 GRCh gelöst werden, der auf die Abgrenzung des Anwendungsbereiches der Grundrechtsordnungen

_____ 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155

Calliess/Ruffert/Kingreen Art 51 GRCh Rn 5. Streinz/Regelsberger/Kugelmann Art 21 Rn 9. Zu den Agenturen Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Gundel S 144 ff mwN. Gegründet mit VO 40/94, ABl 1994 L 11/1. Streinz/Streinz/Michl Art 51 GRCh Rn 2. Böse EnzEuR 9/Ruthig § 20 Rn 41 ff. Cremer DÖV 2010, 58; Groß EuR 2005, 54 (67). VO 168/2007, ABl 2007 L 35/1. Merten/Papier/vBogdandy HGR VI/1 § 166; s auch vBogdandy CMLRev 2009, 1035. Merten/Papier/vBogdandy HGR VI/1 § 166 Rn 19 ff. Kingreen JZ 2013, 810 f.

Dieter Kugelmann

314 | § 4 Grundrechte

zielt.156 Die Vorschrift ist im Zusammenhang mit der schon vor ihrem Inkrafttreten bestehenden Rechtsprechung des EuGH zu verstehen und zugleich im systematischen Zusammenhang der GRCh auszulegen. Vor diesem Hintergrund eröffnet sie Spielräume der Auslegung. Bei der Schaffung der Grundrechtecharta lag eine große Besorgnis vieler Mit50 gliedstaaten vor, dass die GRCh zu einer Erweiterung von Zuständigkeiten der EU führen könnte. Dieser Besorgnis tragen die deklaratorischen Regelungen der Art 51 II CRCh und Art 6 I 2 EUV Rechnung, die ausdrücklich den Schutz der mitgliedstaatlichen Zuständigkeiten bezwecken.157 Auf eine zusätzliche Sicherung der Kompetenzordnung zielt das Protokoll 51 Nr 30 über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich,158 das nach Art 51 EUV primärrechtlichen Rang einnimmt. Nach Artikel 1 I des Protokolls soll die Charta keine Ausweitung der Befugnisse des EuGH oder eines Gerichts Polens oder des Vereinigten Königreichs haben.159 Zweck ist, die Kompetenzen der Rechtsprechung zur Prüfung von Rechtsund Verwaltungsvorschriften, der Verwaltungspraxis oder von Verwaltungsmaßnahmen Polens oder des Vereinigten Königreiches zu begrenzen, indem eine Kontrolle anhand der GRCh nicht zulässig sein soll. Die sozialen Grundrechte der GRCh sollen keine einklagbaren Rechte schaffen (Artikel 1 II des Protokolls).160 Die Tschechische Republik hat auf die ursprünglich politisch vereinbarte Einbindung in das Protokoll verzichtet.161 Das Protokoll Nr 30 äußert nur sehr begrenzte Rechtswirkungen.162 Eine Aus52 weitung der Rechtsprechungszuständigkeiten ist bereits nach Art 51 II GRCh unzulässig.163 Der EuGH hat klargestellt, dass Art 1 I des Protokolls lediglich den Anwendungsbereich des Art 51 I GRCh verdeutlicht, aber keine darüber hinaus reichende eigenständige Wirkung entfaltet.164 Die Rechtsprechung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, soweit sie in der GRCh aufgeht, wird als akzeptiert betrachtet und das Sekundärrecht bleibt unberührt. Der zu großen Teilen deklaratorische Charakter des Protokolls hat zur Folge, dass auch insoweit die Frage der Bindung der Mitgliedstaaten letztlich durch die Auslegung des Begriffs der „Durchführung“ in Art 51 I 1 GRCh beantwortet werden muss.165

_____ 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165

Meyer/Borowsky Art 51 GRCh Rn 1; Schwarze/Hatje Art 51 GRCh Rn 2. Streinz/Streinz/Michl Art 51 GRCh Rn 33. ABl 2010 C 83/313, konsolidierte Fassung der Ursprungsfassung ABl 2007 C 306/154. Zu den Hintergründen Kischel/Masing/Wyrzykowski S 38 (39 ff). Lindner EuR 2008, 795 (797 f); Merten/Papier/Niedobitek HGR VI/1 § 159 Rn 26. Streinz/Streinz/Michl Art 51 GRCh Rn 25; zur Entstehung des Protokolls Chr Schmidt S 165. Kischel/Masing/Wyrzykowski S 38 (47 ff); Chr Schmidt S 167 ff. Lindner EuR 2008, 795 (798). EuGH, verb Rs C-411/10 − N.S. und M.E., Rn 120. Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Mayer nach Art 6 EUV Rn 60 ff; aA Lindner EuR 2008, 795 (799). Dieter Kugelmann

II. Anwendungsbereich und Bindungswirkung | 315

Unter Anwendungsbereich iSd Art 51 GRCh ist nicht derjenige des Art 18 AEUV 53 zu verstehen, der das Verbot von Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit betrifft.166 Eine Gleichsetzung des Anwendungsbereiches der binnenmarktorientierten Grundfreiheiten ohne Parallelregelung in der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung mit dem Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte, die parallele Regelungen in den mitgliedstaatlichen Verfassungen aufweisen, würde die Unterschiede zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten missachten.167 Die Beachtung der Freiheiten des Binnenmarktes ist ein Kernziel der EU. Die Beachtung der Grundrechte wird bereits in der Rechtsordnung des Mitgliedstaates gesichert.

a) Adressaten Wenn und soweit die Mitgliedstaaten einer Bindung an die Grundrechtecharta unterliegen, erstreckt sich diese Bindung auf alle Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen.168 Der innerstaatliche Gesetzgeber hat insbesondere bei der Umsetzung von Richtlinien auf die Unionsgrundrechte zu achten. Die innerstaatlichen Behörden treffen Bindungen insbesondere bei dem Vollzug unionsrechtlicher Vorgaben. Die innerstaatlichen Gerichte prüfen die Beachtung der Grundrechtsbindung, wobei die Letztverantwortung den EuGH trifft, der nach den Regeln des Vorabentscheidungsverfahrens einzubinden ist (Art 267 AEUV). Die Grundrechte der Charta wirken nach Maßgabe des Art 51 GRCh unmittelbar in der Rechtsordnung der Mitgliedstaaten. Die Unionsgrundrechte sind im Anwendungsbereich des Art 51 GRCh auch von regionalen und lokalen Stellen der Mitgliedstaaten zu beachten. Eine Flucht ins Privatrecht ist nicht zulässig. Die innerstaatlichen Stellen sind beim Handeln in privatrechtlicher Form ebenso gebunden wie beim Handeln in öffentlich-rechtlicher Rechtsform. 169 Öffentlich-rechtlich organisierte Religionsgemeinschaften werden durch die Unionsgrundrechte nicht verpflichtet, wenn sie keine hoheitlichen Aufgaben erfüllen.170 Alle innerstaatlichen Stellen unterliegen einer umfassenden Bindungswirkung, die nicht nur die abwehrrechtliche Dimension der Unionsgrundrechte betrifft, sondern auch die Leistungs- und Schutzdimensionen.171 Dies schließt die Achtung der Grundsätze der GRCh und die Förderpflicht ein (Art 51 I 2 GRCh). Privatpersonen sind nach Art 51 GRCh zwar keine Adressaten der GRCh. Dennoch können zumindest bestimmte Chartagrundrechte im Rahmen der Durchfüh-

_____ 166 167 168 169 170 171

Thym NVwZ 2013, 893. S Calliess/Ruffert/Kingreen Art 51 GRCh Rn 19. Jarass NVwZ 2012, 457 (458); Rengeling/Szczekalla Rn 330. Jarass NVwZ 2012, 457 (458). Frenz Hdb 4 Rn 229. Calliess/Ruffert/Kingreen Art 51 GRCh Rn 22.

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316 | § 4 Grundrechte

rung des Unionsrechts unmittelbare Drittwirkung äußern.172 Gehen Gefährdungen der Grundrechte von Privaten aus wie im Bereich des Arbeitsrechts (Art 30 bis 32 GRCh), ist eine Drittwirkung begründbar.173

b) Die Durchführung des Unionsrechts (Art 51 I 1 GRCh) 58 Die Grundrechtecharta gilt für die Organe und Einrichtungen der Union und für die

Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union (Art 51 I 1 GRCh).174 In Verbindung mit der Maßgabe, dass die Charta keine Erweiterungen der Zuständigkeiten der EU begründet (Art 51 II GRCh), liegt hierin eine Bestimmung der Grundrechtsverpflichtung und insoweit des Anwendungsbereichs. Die Mitgliedstaaten sind an die Grundrechtecharta gebunden, wenn und soweit sie Unionsrecht durchführen.175 Regelungen, die nicht im Unionsrecht angelegt und von diesem nicht angeleitet sind, können auch nicht an den Unionsgrundrechten gemessen werden.176 An dem entscheidenden Begriff der Durchführung knüpfen umfangreiche Diskussionen an.177 Denn die Bindung der Mitgliedstaaten kann zu Kollisionen mit innerstaatlichen Grundrechten führen und die Befürchtung stärken, dass die Union mittels der Grundrechte ihre Kompetenzen ausweiten könnte.178 Aufgrund der parallelen Geltung von Grundrechtsvorschriften können Konkurrenzen entstehen, die jedoch durch eine konkretisierende Eingrenzung des Anwendungsbereiches vermindert werden können.179 Schon vor Inkrafttreten der Grundrechtecharta waren die Mitgliedstaaten 59 aufgrund der Rechtsprechung des EuGH in bestimmten Konstellationen an die Grundrechte des Unionsrechts gebunden.180 Diese Rechtsprechung war bereits Gegenstand kontroverser Diskussionen,181 die nun anhand des Art 51 GRCh weiter geführt werden. Die Ansichten sind vielfältig ausdifferenziert und nicht einfach zu systematisieren.182

_____ 172 Jarass GRCh Art 51 Rn 32; Stern/Sachs/Ladenburger/Vondung Art 51 GRCh Rn 15; Streinz/ Streinz/Michl Art 51 GRCh Rn 30; aA Kischel/Masing/Schoch S 76. 173 Calliess/Ruffert/Kingreen Art 51 GRCh Rn 21. 174 Grabenwarter EnzEuR 2/Cremer § 1 Rn 119. 175 Cremer EuGRZ 2011, 545 (550); Nusser passim. 176 Jarass NVwZ 2012, 461. 177 Rechtsprechungsanalysen bei Hoffmann/Rudolphi DÖV 2012, 597 ff; Lenaerts EuR 2012, 3 (7 ff). 178 Huber NJW 2011, 2385 ff. 179 Griebel DVBl 2014, 204 (208). 180 Grundfälle dazu bei Brosius-Gersdorf JA 2007, 873 ff. 181 Brosius-Gersdorf passim; Calliess JZ 2009, 113 (115); Kugelmann S 22 ff; Ruffert EuGRZ 1995, 518 ff und EuGRZ 2004, 466 (467); Schaller passim; Scheuing EuR 2005, 162 ff. 182 Vgl die Darstellungen bei Jarass NVwZ 2012, 457 (458 ff); Starke DVBl 2017, 721. Dieter Kugelmann

II. Anwendungsbereich und Bindungswirkung | 317

Eine Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten ist dann unbestritten, wenn sie in einer „agency-Situation“ für die Union handeln.183 Die vollziehende innerstaatliche Verwaltungsbehörde wendet unionsrechtlich geregeltes Verwaltungsrecht an, ohne über eigene Handlungsspielräume zu verfügen.184 Der EuGH hat dies etwa für das europäische Agrarrecht festgestellt.185 Diese Wachauf-Rechtsprechung wird auch unter der Geltung des Art 51 I GRCh weitergeführt. Alle anderen Konstellationen außer der agency-Situation sind umstritten. Dies betrifft bereits die mitgliedstaatliche Bindung, falls Spielräume bei der Vollziehung des Unionsrechts bestehen. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist die Ausübung des Ermessens der Mitgliedstaaten bei der Anwendung von Verordnungen Teil der Durchführung des Unionsrechts.186 Er hat die Anwendung der VO 343/2003 über die Zuständigkeit zur Prüfung eines Asylantrages auf der Grundlage einer unwiderlegbaren Vermutung, dass die Grundrechte des Asylbewerbers in dem für die Entscheidung über seinen Antrag normalerweise zuständigen Mitgliedstaat beachtet werden, mit der Pflicht der Mitgliedstaaten zu grundrechtskonformer Auslegung und Anwendung der VO 343/2003 für unvereinbar gehalten und die Vermutung als widerlegbar erachtet.187 Da Verordnungen unmittelbar gelten, ist ihre Auslegung und Anwendung durch das Unionsrecht einschließlich der Unionsgrundrechte gesteuert. Eine vom EuGH anerkannte Situation, in der die Mitgliedstaaten die Unionsgrundrechte zu beachten haben, liegt dann vor, wenn eine mitgliedstaatliche Maßnahme eine Grundfreiheit des AEUV beschränkt.188 Die Beschränkung durch das innerstaatliche Gesetz oder die Maßnahme der staatlichen Behörden, muss mit den Unionsgrundrechten vereinbar sein. Dabei können die Grundrechte auch selbst die Rechtfertigung der Beschränkung bieten. Wenn und soweit die mitgliedstaatliche Maßnahme dem Unionsrecht zuwiderläuft, birgt deren Verwerfung etwa durch das BVerfG kein Konfliktpotenzial.189 Diese ERT-Rechtsprechung190 ist bereits vor Inkrafttreten der GRCh auf Kritik gestoßen.191 Unter Berufung auf die Entstehungsgeschichte des Art 51 GRCh wird der

_____ 183 Cremer EuGRZ 2011, 550; vBogdandy/Bast/Kühling S 680 f. 184 vBogdandy/Bast/Kühling S 682; Ruffert EuGRZ 1995, 518 (527 f); s auch Masing JZ 2015, 481. 185 EuGH, Rs 5/88 – Wachauf, Rn 19; verb Rs 201 u 202/85 – Klensch, Rn 8. 186 EuGH, verb Rs C-411/10 − N.S. und M.E., Rn 68. 187 EuGH, verb Rs C-411/10 − N.S. und M.E., Rn 99. 188 St Rspr seit EuGH, Rs C-260/89 – ERT, Rn 43 ff; zustimmend Grabenwarter EuGRZ 2004, 563 (564); Scheuing EuR 2005, 162 (183). 189 Britz EuGRZ 2015, 277. 190 EuGH, Rs C-260/89 – ERT, Rn 43 ff; Rs C-368/95 – Familiapress, Rn 24f; Rs C-60/00 – Carpenter. 191 Cremer NVwZ 2004, 668 (669 mit Fn 1); ders NVwZ 2003, 1452 (1453); Kingreen EuGRZ 2004, 570 (576); ders JuS 2000, 857 (865). Dieter Kugelmann

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Begriff der Durchführung in der Literatur teils eng verstanden, was dazu führen soll, dass die Unionsgrundrechte nicht mehr auf Beschränkungen der Grundfreiheiten anzuwenden sind.192 Jedoch sollte nach den Erläuterungen zur Charta die GRCh an die EuGH Rechtsprechung anknüpfen und diese fortführen.193 Zuständigkeitsbedenken wurde mit Art 51 II GRCh Rechnung getragen. In der 64 Verwendung des Begriffs der Durchführung liegt kein engeres Verständnis der mitgliedstaatlichen Verpflichtungen im Hinblick auf die Unionsgrundrechte. Aus anderen Sprachfassungen ergibt sich keine andere Deutung,194 da sie dem Begriff der Durchführung entsprechen, dieser aber gerade keine Einengung bedeutet, weil Durchführung nicht nur Vollziehung, sondern umfassende Anwendung meint (englisch: implementation; französisch: mettent en œuvre;195 spanisch: apliquen; polnisch: postanowienie). Ein enges Verständnis des Art 51 GRCh würde zu einer Spaltung in der Anwendung zwischen allgemeinen Rechtsgrundsätzen und GRCh führen.196 Die Mitgliedstaaten sind bei innerstaatlichen Regelungen, deren Rechtfertigung als Beschränkung von Grundfreiheiten zu prüfen ist, an die Unionsgrundrechte gebunden.197 Die Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten nach Art 51 65 GRCh umfasst seine Umsetzung, seinen Vollzug sowie die Ausfüllung von Ermessens- und Handlungsspielräumen bei der Anwendung.198 Nach dieser Konzeption werden die agency-Situation (Wachauf-Rechtsprechung) wie auch die Prüfung der Beschränkungen von Grundfreiheiten an Unionsgrundrechten (ERT-Rechtsprechung) von Art 51 I GRCh erfasst. Durchführung bedeutet rechtsverbindliches Anleiten der Mitgliedstaaten durch Unionsrecht bei ihrem Handeln, soweit das Unionsrecht kompetenziell und materiell Rechtsverbindlichkeit beanspruchen kann.199 Damit wird die Verbindung zur politischen Verantwortung hergestellt.200 Das Unionsrecht leitet die Durchführung auch an, wenn es Rahmenvorgaben 66 macht oder einzelne Aspekte eines Rechtsbereiches regelt.201 Dem EuGH steht dann grundsätzlich eine Zuständigkeit zur Kontrolle der innerstaatlichen Maßnahme an-

_____ 192 Cremer EuGRZ 2011, 552; Huber NJW 2011, 2387; Meyer/Borowsky Art 51 GRCh Rn 5 ff; MatzLück/Hong/Sauer S 28. 193 ABl 2007 C 303/17 (32). 194 So aber Cremer EuGRZ 2011, 551; Kischel/Masing/Cremer S 31. 195 Nach Isensee/Kirchhof/Herdegen HStR X § 211 Rn 29 greift die französische Fassung weiter als die englische. 196 Lenaerts EuR 2012, 16; Isensee/Kirchhof/Herdegen HStR X § 211 Rn 31. 197 Isensee/Kirchhof/Herdegen HStR X § 211 Rn 31; Jarass NVwZ 2012, 460; Kischel/Masing/Schoch S 58. 198 Vgl Streinz/Streinz/Michl Art 51 GRCh Rn 7. 199 Ähnlich Ohler NVwZ 2013, 1434. 200 Ähnlich Masing JZ 2015, 485, der die Maßgeblichkeit des Fachrechts betont. 201 Ohler NVwZ 2013, 1437. Dieter Kugelmann

II. Anwendungsbereich und Bindungswirkung | 319

hand der Unionsgrundrechte zu.202 Der schwierige Bereich der Wahrnehmung von Spielräumen erfordert fein austarierte Abgrenzungen, insbesondere im Rahmen der Umsetzung von Richtlinien.203 Auch hier kommt nach zutreffender Auffassung die Grundrechtecharta zur Anwendung.204 Denn eine grundrechtswidrige Umsetzung widerspricht den Werten der Union und der Wirksamkeit des Unionsrechts. Die Rechtsprechung des EuGH zu Art 51 GRCh weist gewisse Schwankungen 67 auf, weil sie die Linien zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen weiterführt, sie aber auch weiter entwickeln will. Der EuGH zählt eine Situation zur Durchführung, wenn sie in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt205 und führt damit seine bereits vor der GRCh verfolgte Linie fort.206 In der Entscheidung Åkerberg Fransson und den Folgeurteilen spricht die deutsche Fassung von Geltungsbereich, womit aber nichts Anderes gemeint sein dürfte als Anwendungsbereich, wie sich aus dem Vergleich mit anderen Sprachfassungen ergibt (engl: within the scope of European Union law; französisch: dans le champ d’application de ce droit; spanisch: en el ámbito de aplicación del Derecho de la Unión; polnisch: w zakres zastosowania tego prawa).207 In der Leitentscheidung Åkerberg Fransson des EuGH, welche die Anwend- 68 barkeit des Grundsatzes ne bis in idem (Art 50 GRCh)208 auf die Sanktionierung einer Steuerhinterziehung betraf, lässt er für die Durchführung ausreichen, dass ein Zusammenhang von unionaler Regelung und mitgliedstaatlicher Sanktionierungspflicht besteht.209 Darin liegt kein ultra-vires Akt, da diese Auslegung vertretbar ist.210 Der EuGH hebt immerhin hervor, dass in Situationen, in denen das Handeln des Mitgliedstaates nicht vollständig vom Unionsrecht gesteuert wird, die innerstaatlichen Behörden und Gerichte die nationalen Grundrechte anwenden können.211 Das Bundesverfassungsgericht hat dennoch energisch reagiert und seine 69 Sicht betont, wonach nicht jeder sachliche Bezug zum Unionsrecht den Anwen-

_____ 202 EuGH, Rs C-442/00 – Rodríguez Caballero, Rn 31; Rs C-276/01 – Steffensen, Rn 69 f; kritisch Calliess JZ 2009, 113 ff. 203 Jarass NVwZ 2012, 459; Streinz/Streinz/Michl Art 51 GRCh Rn 12. 204 Grabenwarter EnzEuR 2/Cremer, § 1 Rn 115; Jarass GRCh Art 51 Rn 20a; aA Calliess/Ruffert/ Kingreen Art 51 GRCh Rn 14; Starke, DVBl 2017, 725. 205 EuGH, Rs C-198/13 – Hernández, Rn 33. 206 EuGH, Rs C-260/89 – Tiléorassi, Rn 42; Rs C-276/01 – Steffensen, Rn 70; Rs C-112/00 – Schmidberger, Rn 75. 207 EuGH, Rs C-617/10 – Åkerberg Fransson, Rn 19; aA Lange NVwZ 2014, 169 (171), die beide Begriffe als synonym sieht. 208 Zum Grundsatz ne bis in idem Gaede NJW 2014, 299. 209 EuGH, Rs C-617/10 – Åkerberg Fransson, Rn 25−28; dazu Lange NVwZ 2014, 169. 210 Ohler NVwZ 2013, 1436; Weiß EuZW 2013, 289 kritisch Kingreen JZ 2013, 802; Scholz NJW 2014, 201. 211 EuGH, Rs C-617/10 – Åkerberg Fransson, Rn 29. Dieter Kugelmann

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dungsbereich der Unionsgrundrechte eröffne und ein anderes Verständnis als ultravires Akt in Betracht komme.212 Der EuGH hat in der Folge detailliertere Kriterien entwickelt, die Art 51 GRCh 70 enger fassen. Diese Kriterien sind als Reaktion auf die ablehnenden Stimmen zum Urteil Åkerberg Fransson zu verstehen.213 In der Rechtssache Siragusa hat der EuGH entschieden, dass der Grundrechtschutz der Union im Anwendungsbereich von Sekundärrechtsakten nur zum Tragen kommt, wenn diese für den Mitgliedstaat spezifische Verpflichtungen begründen.214 Der Zusammenhang der innerstaatlichen Regelung mit dem Unionsrecht müsse von einem gewissen Grad sein, der sich danach bemesse, „ob mit ihr eine Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr nicht andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen kann, sowie ferner, ob es eine Regelung des Unionsrechts gibt, die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann“.215 Dem Grunde nach soll der Anwendungsbereich nach dem Urteil in der Rechtssache Hernández insbesondere eröffnet sein, wenn sonst Einheit, Vorrang und Wirksamkeit des Unionsrechts gefährdet sind.216 Im Kern geht es um die Sicherung der Autonomie und Effektivität des Unionsrechts.217 Damit hat der EuGH die Schwelle für die Anwendung der GRCh zwar wieder höher 71 gelegt als im Fall Åkerberg Fransson.218 Wenn eine Situation nicht vom Unionsrecht geregelt ist, ist Art 51 GRCh auch weiterhin nicht anwendbar.219 Allerdings sieht der EuGH in der Rechtssache Berlioz eine Geldbuße, die zur Durchsetzung einer Richtlinie erfolgt, als Durchführung an, auch wenn sie nicht auf einer vom Unionsrecht veranlassten Vorschrift beruht.220 Strafrechtliche oder sonstige Sanktionen im Steuerrecht werden als besonders eng verknüpft mit unionsrechtlichen Vorgaben beurteilt.221 Immerhin ist eine gewisse Konsolidierung der Rechtsprechung erkennbar.222 Die Ef-

_____ 212 BVerfGE133, 277 – ATDG, Rn 91; zustimmend Scholz DVBl 2014, 197 (202). 213 Ludwigs/Sikora JuS 2017, 390; Starke DVBl 2017, 726; s schon Britz EuGRZ 2015, 278. 214 EuGH, Rs C-206/13 – Siragusa, Rn 24. 215 EuGH, Rs C-206/13 – Siragusa, Rn 25. 216 EuGH, Rs C-198/13 – Hernández, Rn 47, in Anknüpfung an Rs C-399/11 – Melloni, Rn 60. 217 Für eine Effektivitätskonzeption zwar auch Britz EuGRZ 2015, 276, die allerdings den Anwendungsbereich der GRCh auf Konstellationen beschränken will, in denen die Anwendung nationaler Grundrechte die effektive Vollziehung und Umsetzung des Unionsrechts beeinträchtigen würde. 218 Calliess/Ruffert/Kingreen Art 51 GRCh Rn 9; Starke DVBl 2017, 727; Streinz JuS 2015, 282f. 219 EuGH (GK), Rs C-638/16 PPU – X und X / Belgien, Rn 45. 220 EuGH (GK), Rs C-682/15 – Berlioz Investment Fund SA, Rn 40 f, betreffend eine Sanktion wegen Nichtbefolgens eines Steuerersuchens. 221 EuGH (GK), Rs C-42/17 – M. A. S. und M. B., Rn 31; dazu Burchardt EuR 2018, 248, die das Urteil aufgrund seiner Anknüpfung an einen Vorgängerfall als Taricco II bezeichnet. 222 Ludwigs/Sikora JuS 2017, 390 f; ähnlich vdGroeben/Schwarze/Hatje/Terhechte Art 51 GRCh Rn 11; kritisch Streinz/Streinz/Michl Art 51 GRCh Rn 14. Dieter Kugelmann

III. Funktionen und Dimensionen der Grundrechtecharta | 321

fektivität des Unionsrechts kann auch durch Sanktionen des innerstaatlichen Rechts verfolgt werden, die nicht im Unionsrecht wurzeln.223 Der Rahmen des Unionsrechts, der einen Zusammenhang begründet, ist dann erreicht, nicht aber, wenn das Unionsrecht keine bestimmten Verpflichtungen der Mitgliedstaaten schafft.224 Der EuGH verdichtet den Zusammenhang zwischen Durchführung und Sicherstellung der Wirksamkeit des Unionsrechts. Je stärker die Wirksamkeit des Unionsrechts gefährdet wird, desto enger ist der Zusammenhang mit dem Unionsrecht, der zur Eröffnung des Anwendungsbereiches nach Art 51 GRCh führt.225 Angesichts der einzelfallbezogenen Bewertungen bleibt aber ein Rest an Unvorhersehbarkeit.226 III. Funktionen und Dimensionen der Grundrechtecharta III. Funktionen und Dimensionen der Grundrechtecharta Die Charta der Grundrechte ist ein eigenständiges Grundrechtsinstrument, das in 72 seinen besonderen Eigenarten zu verstehen ist. Ihr Charakter und ihre Gehalte folgen aus der Entstehungsgeschichte und der Einbettung in die Gesamtheit des Unionsrechts. Die in der Grundrechtecharta verwendeten Begriffe sind europarechtlich geprägt und nicht notwendig deckungsgleich mit den Begriffen des innerstaatlichen Rechts.227

1. Rechte, Freiheiten und Grundsätze Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der 73 Grundrechte niedergelegt sind (Art 6 I 2 EUV). Nach Art 51 I 2 GRCh sind die von der Charta anerkannten Rechte zu achten, die Grundsätze einzuhalten und ihre Anwendung entsprechend den jeweiligen Zuständigkeiten zu fördern. Im Hinblick auf Einschränkungen und Wirkungen trifft Art 52 GRCh Unterscheidungen. Grundsätze unterliegen Art 52 V GRCh und sind von Rechten und Freiheiten deutlich getrennt. Die Rechte und Freiheiten der Grundrechtecharta richten sich nach den gleichen Regeln.228 Grund für die begriffliche Trennung ist das französische Verständnis von subjektiven Rechten, die danach nicht dem Freiheitsbegriff unterfallen.229 Der Art 52 II GRCh, der nur von Rechten spricht, und die Gleichstellung von Rechten mit den

_____ 223 Epiney NVwZ 2018, 775 (779). 224 EuGH, Rs C-198/13 – Hernández, Rn 37 f. 225 Ähnlich vdGroeben/Schwarze/Hatje/Terhechte Art 51 GRCh Rn 12; ablehnend Streinz/Streinz/ Michl Art 51 GRCh Rn 14, da dieser Maßstab zu weit sei. 226 Ähnlich insoweit Calliess/Ruffert/Kingreen Art 51 GRCh Rn 10. 227 Vgl zum Begriff der öffentlichen Verwaltung in Art 45 IV AEUV EuGH, Rs C-473/93 – Kommission / Luxemburg, Rn 26; Rs C-47/02 – Anker, Rn 57. 228 Jarass GRCh Einl Rn 46. 229 Schmittmann S 25. Dieter Kugelmann

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Menschenrechten der EMRK in Art 52 III GRCh zeigen, dass für die Grundrechtecharta Freiheiten ein Teil der Rechte sind.230 Die Grundsätze der GRCh sind nicht mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen 74 des Unionsrechts zu verwechseln. Allgemeine Rechtsgrundsätze sind eine Rechtsquelle des Unionsrechts. Grundsätze im Sinne der Grundrechtecharta stellen rechtlich bindende Gewährleistungen dar, die als objektive Zielbestimmungen keine subjektiv-rechtliche Wirkung entfalten, sondern zu ihrer Verwirklichung weiterer Maßnahmen bedürfen.231 Dies stellt Art 52 V GRCh klar, der im Rahmen der Änderungen des Jahres 2007 in die Charta aufgenommen wurde.232 Grundsätze sind rechtlich verbindlich und begründen eine Verpflichtung zu ihrer Förderung (Art 51 I GRCh). Sie kommen als Abwägungskriterien zum Tragen und können bei der Rechtfertigung von Eingriffen in subjektive Rechte herangezogen werden, um Gemeinwohlziele iSd Art 52 I GRCh zu konkretisieren.233

2. Funktionen und Dimensionen der europäischen Grundrechte 75 Die Rechte und Freiheiten der Grundrechtecharta weisen die allgemeinen Grundrechtsfunktionen auf, die auch innerstaatlichen Grundrechten zukommen können.234 Funktionen und Dimensionen sind kaum klar voneinander zu unterscheiden.235 Zumindest der Begriff der Funktionen ist aber auch für die europäischen Grundrechte gebräuchlich.236 Funktionen umschreiben die Wirkungen und Rechtsfolgen der Grundrechte, die insbesondere die Abwehrfunktion, die Schutzfunktion und die Leistungsfunktion umfassen. Dimensionen der Grundrechte betreffen nach dem hier zu Grunde gelegten Verständnis darüber hinaus reichende Wirkungen wie die Ausgestaltung des einfachen Rechts oder die Ausstrahlung auf das Privatrecht. Leistungsrechte oder Teilhaberechte sind in der Charta der Sache nach aufzufinden, wobei das jeweilige Recht hinsichtlich seiner Reichweite spezifisch auszulegen ist. Im Vordergrund der allgemeinen grundrechtsdogmatischen Betrachtungen sollen daher die abwehrrechtliche Funktion und die Schutzpflichten stehen, zu denen übergreifende Aussagen getroffen werden können.

_____ 230 Jarass GRCh Art 52 Rn 1. 231 Meyer/Borowsky Art 51 GRCh Rn 34 f; Merten/Papier/Niedobitek HGR VI/1 § 159 Rn 66 f; J Schmidt S 99 ff; Schmittmann S 90 ff. 232 Calliess/Ruffert/Kingreen Art 52 GRCh Rn 1. 233 Kischel/Masing/Cremer S 27 f; Calliess/Ruffert/Kingreen Art 52 GRCh Rn 14. 234 Ehlers/Ehlers § 14 Rn 33 ff; Schwarze/Hatje Art 51 Rn 21 ff; Jarass GRCh Art 51 Rn 46 ff; Calliess/ Ruffert/Kingreen Art 51 GRCh Rn 19 ff; vBogdandy/Bast/Kühling S 674 ff; Kischel/Masing/Schoch S 62. 235 Merten/Papier/Jarass HGR II § 38 Rn 2 ff. 236 Grabenwarter EnzEuR 2/Cremer § 1 Rn 1; Calliess/Ruffert/Kingreen Art 51 GRCh Rn 22. Dieter Kugelmann

III. Funktionen und Dimensionen der Grundrechtecharta | 323

a) Abwehrrecht Die Mehrzahl der Rechte und Freiheiten der Grundrechtecharta sind Abwehrrechte 76 gegen die Grundrechtsverpflichteten. Sie richten sich auf ein Unterlassen des Grundrechtsverpflichteten.237 Der Grundrechtsberechtigte kann sich dagegen wehren, dass insbesondere Organe der EU durch oder aufgrund von Rechtsnormen in seine Grundrechte eingreifen, um die Unanwendbarkeit der Rechtsnorm zu erreichen. Entscheidungen mit individueller Wirkung trifft insbesondere die Kommission.238 Abwehrrechte gewährleisten zuvörderst die Freiheitsrechte der Art 6 bis 19 77 GRCh. Die Verpflichtungsadressaten achten aber umfassend die Rechte (Art 51 I 2 GRCh), so dass potenziell jede Regelung der Charta ein subjektives Recht einräumen kann.239 Ob und inwieweit dies der Fall ist, muss jeweils durch Auslegung ermittelt werden.

b) Schutzpflichten und Ausstrahlungswirkung gegenüber Privaten Die Schutzfunktion der Grundrechte tritt im deutschen Verfassungsrecht neben die 78 abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte.240 Staatliche Stellen können grundrechtlich verpflichtet sein, die Beeinträchtigung eines Schutzgutes zu verhindern und zu diesem Zweck gegenüber Privaten tätig zu werden.241 Im Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte kann ebenfalls ein Bedürfnis für grundrechtliche Schutzpflichten bestehen. Gefahren wie Krankheiten, Terrorismus, Umweltkatastrophen und Umweltverschmutzung oder Risiken aufgrund neuer Technologien oder für den Verbraucherschutz können (auch) von Privatpersonen ausgehen und von ihnen zu verantworten sein. Ein effektiver Grundrechtsschutz erfordert zusätzlich zu den Abwehrrechten an die Grundrechtsverpflichteten gerichtete, positive Schutzaufträge.242 Ein aktives Eintreten der Grundrechtsverpflichteten verlangt Art 51 I 2 GRCh, der 79 eine Pflicht zur Förderung der Grundrechtsanwendung errichtet. Daraus kann allerdings keine umfassende Verpflichtung der Union und der Mitgliedsstaaten zur Durchsetzung der Schutzgüter der GRCh im nichtstaatlichen Bereich abgeleitet werden. Maßgeblich für die Annahme und Reichweite der Schutzfunktion ist vielmehr die Auslegung des jeweiligen Grundrechts.243 Die Verbote des reproduktiven Klo-

_____ 237 Grabenwarter EnzEuR 2/Cremer § 1 Rn 67; Schwarze/Hatje Art 51 GRCh Rn 24. 238 Streinz/Kugelmann Art 17 EUV Rn 59, 61 ff. 239 Grabenwarter EnzEuR 2/Cremer § 1 Rn 67; Calliess/Ruffert/Kingreen Art 51 GRCh Rn 24. 240 BVerfG, 1 BvF 1/74, BVerfGE 39, 1 − Schwangerschaftsabbruch; 2 BvF 2/90 und 4, 5/92, BVerfGE 88, 203 (254) – Schwangerschaftsabbruch II; Jarass GRCh Art 51 Rn 39 sieht die Schutzfunktion als Teil der weiteren Leistungsfunktion der Grundrechte. 241 Epping/Hillgruber/Lang Art 2 GG Rn 74; monographisch Dietlein; Hermes. 242 Grabenwarter EnzEuR 2/Cremer § 1 Rn 80. 243 Jarass GRCh Art 51 Rn 40. Dieter Kugelmann

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nens (Art 3 II GRCh), des Menschenhandels (Art 5 III GRCh) oder der Kinderarbeit (Art 32 GRCh) sind als Schutzverpflichtungen angelegt. Die grundrechtliche Funktion der Schutzpflichten kann auch den Unions80 grundrechten inne wohnen. 244 Der EuGH hat bereits aus den Grundfreiheiten Schutzpflichten der Mitgliedstaaten abgeleitet.245 Schutzpflichten sind in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte anerkannt.246 Da die GRCh nicht hinter diesen Gehalten zurückbleiben darf (Art 52 III 1 GRCh), sind die vom EGMR entwickelten Schutzpflichten auch für die GRCh zu beachten.247 Bedeutung können Pflichten zum Schutz des Lebens erlangen (Art 2 GRCh, Art 2 EMRK). Auch das Verbot von Folter oder unmenschlicher Behandlung (Art 4 GRCh, Art 3 EMRK) kann staatliches Tätigwerden erfordern, was in der Rechtsprechung des EuGH eine große Rolle spielt (su Rn 94, 97). Die Gleichheitsrechte können ebenfalls die Grundlage für Schutzpflichten darstellen. Eine Schutzpflichtdimension enthalten die Diskriminierungsverbote des Art 21 I GRCh.248 Die Grundrechtecharta gilt nicht für Private (Art 51 I 1 GRCh). Ihre Bestimmun81 gen entfalten jedoch ausnahmsweise unmittelbare Drittwirkung.249 Gehen Gefährdungen der Grundrechte von Privaten aus wie im Bereich des Arbeitsrechts (Art 30 bis 32 GRCh), ist eine Drittwirkung begründbar.250 Einzelne Vorschriften treffen ausdrücklich spezifische Regelungen. So müssen nach Art 24 II GRCh auch private Einrichtungen das Kindeswohl beachten.251 Die GRCh kann zudem Auswirkungen auf Private haben, indem die Handlungen der Grundrechtsverpflichteten natürliche Personen oder juristische Personen des Privatrechts betreffen.252 Dann ist die Funktion der Schutzpflichten einschlägig, die gegenüber einer unmittelbaren Drittwirkung vorrangig anzuwenden ist.253 Eine mittelbare Wirkung der EU-Grundrechte ist umstritten, kommt aber in Be82 tracht.254 Die Präambel der GRCh hebt in Absatz 6 hervor, dass die Ausübung der Chartarechte mit Verantwortung und Pflichten gegenüber den Mitmenschen, der

_____ 244 Grabenwarter EnzEuR 2/Cremer § 1 Rn 80 ff. 245 EuGH, Rs C-265/95 – Kommission / Frankreich. 246 EGMR, Guerra and Others v Italy − 116-1996-735-932 (Große Kammer), §§ 41 ff. 247 Streinz/Streinz/Michl Art 51 GRCh Rn 30; zur EMRK Grabenwarter/Pabel § 19 Rn 7 f; MeyerLadewig/Nettesheim/von Raumer/Meyer-Ladewig/Nettesheim Art 1 EMRK Rn 7 f. 248 Classen EuR 2008, 627; Jarass GRCh Art 21 Rn 18; Merten/Papier/Kugelmann HGR VI/1 § 160 Rn 45. 249 Jarass GRCh Art 51 Rn 32; Stern/Sachs/Ladenburger/Vondung Art 51 GRCh Rn 15; Streinz/ Streinz/Michl Art 51 GRCh Rn 30; aA Kischel/Masing/Schoch S 76. 250 Calliess/Ruffert/Kingreen Art 51 GRCh Rn 21. 251 Merten/Papier/Kugelmann HGR VI/1 § 160 Rn 75; aA Meyer/Hölscheidt Art 24 GRCh Rn 21: nur mittelbare Drittwirkung. 252 Jarass GRCh Art 51 Rn 2. 253 Schwarze/Hatje Art 51 GRCh Rn 22; Calliess/Ruffert/Kingreen Art 51 GRCh Rn 21. 254 Jarass GRCh Art 51 Rn 31; aA Calliess/Ruffert/Kingreen Art 51 GRCh Rn 18. Dieter Kugelmann

IV. Gewährleistungsgehalte | 325

menschlichen Gemeinschaft sowie künftigen Generationen einhergeht. Auch die Rechte der EMRK verfügen über Ausstrahlungswirkungen auf das einfache Recht einschließlich des Privatrechts.255 Soweit es sich um die Durchführung des Unionsrechts nach Art 51 I GRCh handelt, ist das einfache nationale Recht so auszulegen und anzuwenden, dass den Inhalten der Grundrechtecharta Rechnung getragen wird. IV. Gewährleistungsgehalte IV. Gewährleistungsgehalte Die Grundrechtecharta formuliert und systematisiert die grundrechtlichen Gewähr- 83 leistungen in Anlehnung an nationale Verfassungen und völkerrechtliche Menschenrechtsverträge, insbesondere die EMRK, setzt aber eigene Akzente. 256 Sie enthält klassische Freiheitsrechte, ergänzt sie jedoch durch völkerrechtlich geprägte Verbürgungen wie das Sklavereiverbot (Art 5 GRCh) und moderne Regelungen wie das Verbot reproduktiven Klonens (Art 3 II lit d GRCh). Die sozialen Grundrechte sind umfangreich gewährleistet, die Bürgerrechte lehnen sich an die Unionsbürgerschaft an. Erhebliche Bedeutung haben die justiziellen Rechte (Art 47 ff GRCh).257

1. Grundlegende und absolute Rechte Unter den Titel „Würde des Menschen“ fasst die Grundrechtecharta absolute Rech- 84 te, die keiner Einschränkung zugänglich sind, sowie das Recht auf Unversehrtheit des Art 3 GRCh. Die in Art 1 GRCh normierte Würde des Menschen ist nicht nur ein Grundrecht, sondern bildet das eigentliche Fundament der Grundrechte258 und wird in den Art 2 bis 5 GRCh näher konkretisiert.259 Die Menschenwürde hat somit eine Doppelfunktion,260 die auch in der Systematik der Grundrechtecharta deutlich zum Ausdruck kommt. Zum einen ist die Menschwürde in Art 1 GRCh an der Spitze des Grundrechtskataloges als echtes, subjektiv-rechtliches Grundrecht festgelegt. Darüber hinaus verfügt sie als Fundamentalgrundsatz über einen objektiv-rechtlichen Gehalt, in dessen Licht die weiteren Grundrechte auszulegen sind.

_____ 255 Vgl dazu Grabenwarter/Pabel S 141. 256 Huber FS Meinhard Schröder, 2012, S 335. 257 Überblick bei Isensee/Kirchhof/Herdegen HStR X § 211 Rn 5 ff. 258 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 C 303/17; zu den internationalen und historischen Hintergründen vBernstorff JZ 2013, 905 ff. 259 EuGH, Rs C-377/98 – Niederlande / Parlament und Rat (Biopatentrichtlinie), Rn 69, 71, 77 in Verbindung mit Art 3 GRCh. 260 vdGroeben/Schwarze/Hatje/Augsberg Art 1 GRCh Rn 3; Stern/Sachs/Höfling Art 1 GRCh Rn 14 f. Dieter Kugelmann

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a) Die Garantie der Menschenwürde (Art 1 GRCh) 85 Die Garantie der Würde des Menschen beruht auf den gemeinsamen Verfassungs-

überlieferungen der Mitgliedstaaten, der Gehalt der Menschenwürde kann daher nicht durch die Übertragung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung eines einzelnen Mitgliedstaates bestimmt werden. Stattdessen ist es Aufgabe des Gerichtshofs der EU, vor dem Hintergrund eines Vergleichs der mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen die europäischen Ausprägungen und Dimensionen der Menschenwürde zu bestimmen und einen „gemeineuropäischen Rechtsbegriff der Menschenwürde“261 herauszuarbeiten. Eine einheitliche europäische Definition des Schutzbereiches der Menschenwürde fehlt bislang und erscheint vor dem Hintergrund der unterschiedlichsten Verfassungstraditionen und -vorgaben der Mitgliedstaaten auch nicht sinnvoll.262 Sekundärrechtliche Festlegungen etwa in der Biopatentrichtlinie263 ermöglichen konkretere Prüfungen, die auch der EuGH in seinen Urteilen zu der Richtlinie vorgenommen hat.264 Diese Tendenz scheint auch in der Omega-Entscheidung des EuGH265 durch. 86 Der Entscheidung liegt ein Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts zugrunde, durch das der EuGH mit der Frage befasst wurde, ob eine auf die Menschenwürde gestützte Untersagungsverfügung gegen das gewerbliche Veranstalten eines spielerischen Tötens im Laserdrome gegen die Dienstleistungsfreiheit verstoße. Im Kern stellte sich hier das Problem, ob die Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit nur aufgrund einer gemeinsamen Rechtsüberzeugung in allen Mitgliedstaaten über den Gehalt der Menschenwürde erfolgen kann, oder aber ein Verstoß gegen die Menschenwürde nach nationalem Verständnis ausreicht. Der EuGH nahm die sich ihm hier bietende Gelegenheit zur Definition einer europäischen Menschenwürde nicht wahr und stellte stattdessen fest, dass die Dienstleistungsfreiheit beschränkende Maßnahmen keiner allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Auffassung über die Menschenwürde entsprechen müssten. Insoweit verbleiben weitreichende mitgliedstaatliche Beurteilungsspielräu87 me. Die Menschenwürde umfasst den sozialen Wert- und Achtungsanspruch, der dem Menschen wegen seines Menschseins zukommt.266 Durch die den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielräume ergeben sich jedoch erhebliche Unterschiede. Laserdrome Tötungsspiele, die in der Bundesrepublik Deutschland auf-

_____ 261 Meyer/Borowsky Art 1 GRCh Rn 26. 262 So auch Calliess/Ruffert/Calliess Art 1 GRCh Rn 19; Übersicht über die verschiedenen Verfassungsvorgaben der Mitgliedstaaten zur Menschenwürde in Meyer/Borowsky Art 1 GRCh Rn 2. 263 RL 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6.7.1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen, ABl 1998 L 213/13. 264 EuGH, Rs C-377/98 – Niederlande / Parlament und Rat (Biopatentrichtlinie), Rn 76 f; C-364/13 – International Stem Cell, Rn 24. 265 EuGH, Rs C-36/02 – Omega. 266 Jarass GRCh Art 1 Rn 6; Meyer/Borowsky Art 1 Rn 36. Dieter Kugelmann

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grund ihrer Ausgestaltung als verfassungswidrig beurteilt werden könnten, können zB in anderen Mitgliedstaaten als zulässig eingestuft werden.

b) Das Recht auf Leben (Art 2 GRCh) Die Regelung des Art 2 GRCh enthält in unmittelbarer Verknüpfung zur Menschen- 88 würde das Recht auf Leben und das Verbot der Todesstrafe. Das Recht auf Leben iSd Art 2 I GRCh schützt das Leben als biologisch-physiologische Grundlage der menschlichen Existenz.267 Geschützt wird damit entsprechend Art 2 EMRK nur das Recht, am Leben zu bleiben, nicht dagegen das Recht auf ein menschenwürdiges Leben oder das negative Recht auf Suizid und aktive Sterbehilfe.268 Der personale Schutzbereich erstreckt sich auf jeden geborenen Menschen bis 89 zu seinem Hirntod.269 Kein europäischer Konsens besteht im Hinblick auf den Schutz ungeborenen Lebens. Der EGMR überlässt die Bestimmung des Zeitpunktes, zu dem der Schutz des menschlichen Lebens beginnt, dem Beurteilungsspielraum der einzelnen Mitgliedstaaten.270 Das Recht auf Leben wahrt insofern lediglich einen menschenrechtlichen status quo in Europa, vereinheitlicht aber nicht die unterschiedlichen Ansätze der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Schwangerschaftsabbruch- und Euthanasieproblematik. Der Art 2 II GRCh normiert das Verbot der Todesstrafe als absolutes und aus- 90 nahmsloses Grundrecht des Menschen. Es basiert auf dem gemeinsamen Wertekonsens der europäischen Gemeinschaft, dass die Todesstrafe nicht mehr den europäischen Gerechtigkeitsvorstellungen entspricht.271 Die Norm beruht auf Art 1 des Protokolls Nr 6 zur EMRK und überholt insoweit Art 2 I 2 EMRK, der noch die Todesstrafe als Ausnahme zum Lebensrecht enthält. Aufgrund seiner umfassenden Funktionen gewährt Art 2 II GRCh Schutz vor jeglichen staatlichen Handlungsweisen, die die Verurteilung und Vollstreckung von Todesstrafen ermöglichen.272

c) Das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art 3 GRCh) Die im internationalen Vergleich ungewöhnliche Regelung des Art 3 GRCh schützt 91 die körperliche und geistige Unversehrtheit des Menschen unter besonderer (aber nicht ausschließlicher) Berücksichtigung der Gefährdungen, die sich durch wissen-

_____ 267 268 269 270 271 272

Calliess/Ruffert/Calliess Art 2 GRCh Rn 14. Jarass GRCh Art 2 Rn 5; Meyer/Borowsky Art 2 Rn 31. Calliess/Ruffert/Calliess Art 2 GRCh Rn 6. EGMR, VO v France– 53924/00 (Große Kammer). EGMR, Soering v United Kingdom − 14038/88 (Plenum). Meyer/Borowsky Art 2 GRCh Rn 46.

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schaftliche Forschungen und technologische Fortschritte auf dem Gebiet der Gentechnologie und Biomedizin ergeben. Die Regelung berührt hoch umstrittene Problemkreise der Bioethik und enthält 92 eine Konkretisierung der Menschenwürde in der Biomedizin.273 Geschützt wird zum einen die physische Integrität des Menschen, das heißt die Gesundheit im biologisch-physiologischen Sinne.274 Die darüber hinaus geschützte psychische Integrität umfasst das geistige und seelische Wohlbefinden im Hinblick auf alle kognitiven, kommunikativen und emotionalen Fähigkeiten des Menschen.275 Der Art 3 GRCh stellt einen europäischen Grundkonsens und einen Mindeststandard in bioethischen Fragestellungen dar.276 Dieser Standard kann sachbezogen konkretisiert werden, wie im Fall der Biopatentrichtlinie.277 Die Frage der Patentierbarkeit von Ergebnissen der biomedizinischen Forschung verdeutlicht die enge Verknüpfung des Art 3 GRCh mit der Menschenwürde.278

d) Das Verbot der Folter und der unmenschlichen Behandlung (Art 4 GRCh) 93 Nach Art 4 GRCh sind die Folter und unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung als besonders einschneidende Verletzungen gegen die bereits in Art 3 GRCh geschützte physische und psychische Integrität des Menschen verboten. Die Norm entspricht Art 3 EMRK, so dass die Rechtsprechung des EGMR zur Bestimmung des Gewährleistungsgehaltes herangezogen werden kann. Die Folter ist die gravierendste Form unmenschlicher Behandlung im Sinne des 94 Art 4 GRCh. Eine Maßnahme ist als Folter zu qualifizieren, wenn Schmerzen und Leid von hoher Intensität in der Absicht zugefügt werden, auf den Willen des Gefolterten oder eines Dritten einzuwirken, um ein Geständnis zu erlangen oder um Dritte zu terrorisieren.279 Beispiele sind etwa vorgetäuschte Exekutionen, Vergewaltigung durch Polizeikräfte, Elektroschocks, Schläge und Nahrungsmittelentzug, aber auch die bloße Androhung schwerer Verletzungen.280 Unterhalb der Schwelle der Folter steht die unmenschliche und erniedrigende 95 Strafe oder Behandlung. Eine unmenschliche Behandlung kennzeichnet die absichtliche Zufügung von physischen Schmerzen und psychischen Leiden von be-

_____ 273 Meyer/Borowsky Art 3 GRCh Rn 32. 274 Jarass GRCh Art 3 Rn 5. 275 Meyer/Borowsky Art 3 GRCh Rn 36. 276 Meyer/Borowsky Art 3 GRCh Rn 6, Rn 40. 277 RL 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6.7.1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen, ABl 1998 L 213/13. 278 EuGH, Rs C-377/98 – Niederlande / Parlament und Rat (Biopatentrichtlinie), Rn 76 f; Rs C364/13 – International Stem Cell, Rn 24. 279 Jarass GRCh Art 4 Rn 8. 280 Meyer/Borowsky Art 4 GRCh Rn 15. Dieter Kugelmann

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sonderer Intensität und Dauer.281 Das ist etwa der Fall bei längerem Schlaf- oder Essensentzug, Pranger oder Auspeitschen.282 Eine Maßnahme wird als erniedrigend eingestuft, wenn sie in den Opfern Ge- 96 fühle der Angst, des Schmerzes und der Unterlegenheit erweckt, die geeignet sind, sie zu demütigen und ihren körperlichen und moralischen Widerstand zu brechen.283 Der EGMR bejahte dies etwa im Fall des zwangsweisen Verabreichens von Brechmitteln zur Beweisgewinnung an einen Drogenkurier, der bei seiner Festnahme Drogenpäckchen verschluckt hatte.284 Der Gewährleistungsgehalt des Art 4 erschöpft sich nicht in der Pflicht, Maß- 97 nahmen der Folter zu unterlassen. Darüber hinaus haben die Grundrechtsverpflichteten die positive Pflicht, den Einzelnen vor Folter und unmenschlicher Behandlung seitens Dritter oder Drittstaaten zu schützen.285 Diese Schutzpflichtenfunktion hat erhebliche Auswirkungen im Ausländerrecht und im Flüchtlingsrecht. Der betroffene Drittstaatsangehörige genießt Schutz vor Abschiebung in einen Drittstaat, in dem ihm die Todesstrafe droht, da anderenfalls erhebliche psychische Leiden im Sinne der Folter verursacht würden.286 Dieser Abschiebungsschutz ist einklagbar. Die Gefahr der Folter, einer unmenschlichen oder einer erniedrigenden Behandlung spielt eine erhebliche Rolle in Asylverfahren und beim Flüchtlingsschutz. Eine Abschiebung oder Auslieferung ist dann unzulässig, wenn in dem Empfangsstaat systemische Mängel im Verfahren oder bei den Aufnahmebedingungen vorliegen.287 Die Haftbedingungen in einem Staat können einer Auslieferung, Überstellung oder Übergabe einer Person entgegenstehen, wenn sie den Grad einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung erreichen. Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls288 kann gehemmt oder verhindert werden, wenn der vollstreckenden Justizbehörde objektive und zuverlässige Angaben vorliegen, welche das Vorliegen systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffender Mängel der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat belegen.289 Denn Art 1 III des Rahmenbeschlusses zum Europäischen

_____ 281 Jarass GRCh Art 4 Rn 9. 282 Meyer/Borowsky Art 4 GRCh Rn 16. 283 Calliess/Ruffert/Calliess Art 4 GRCh Rn 8. 284 EGMR, Jalloh v Germany − 54810/00 (Große Kammer). 285 Calliess/Ruffert/Calliess Art 4 GRCh Rn 4. 286 Calliess/Ruffert/Calliess Art 4 GRCh Rn 13; EGMR, Al-Saadoon and Mufdhi v the United Kingdom − 61498/08 (Vierte Sektion). 287 EuGH (GK), Rs C-411/10 – N.S. ua, Rn 94; Rs C-4/11 – Puid, Rn 30, 36. 288 Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl 2002 L 190/1, geändert durch Rahmenbeschluss 2009/299/JI, ABl 2009 L 81/24. 289 EuGH (GK), Rs C-404/15, C-659/15 PPU – Pál Aranyosi und Robert Căldăraru, Rn 94; Rs C220/18 PPU – ML. Dieter Kugelmann

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Haftbefehl bekräftigt die Achtung der Grundrechte.290 Die vollstreckende Behörde hat daher zumindest die Pflicht zu prüfen, ob die Haftbedingungen in dem Staat, der den Europäischen Haftbefehl ausgestellt hat und an den die Person übergeben werden soll, mit Art 4 GRCh vereinbar sind. Besteht eine echte Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung, muss die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls aufgeschoben werden.291 Dies kann zur vorläufigen Freilassung der Person führen.292 Der Art 4 GRCh entfaltet Wirkungen gegenüber Drittstaaten, aber auch im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten. Dies betrifft insbesondere die systemischen Mängel, die der Überstellung einer Person in einen Staat entgegenstehen können.293 Dabei spielt die Rechtsgrundlage für die Überstellung keine ausschlaggebende Rolle. Sowohl bei ausländerrechtlichen Verfahren wie bei solchen der Strafverfolgung gebietet Art 4 GRCh eine Prüfung der faktischen und rechtlichen Situation, in die eine Person geschickt werden soll. Wird ein Überstellungshindernis bejaht, ist dies ein Indiz für Schwierigkeiten in dem betroffenen Staat mit der Wahrung von europäischen Werten und Zielen (Art 2, 3 EUV).

e) Das Sklavereiverbot (Art 5 GRCh) 98 Vor dem Hintergrund moderner und subtiler Formen der Versklavung enthält Art 5

GRCh ein striktes Verbot sämtlicher Erscheinungsformen der Sklaverei, der Zwangsarbeit und des Menschenhandels.294 Der Begriff der Sklaverei umfasst die Degradierung einer Person zu einer Sache, indem an ihr die mit dem Eigentumsrecht verbundenen Befugnisse ausgeübt werden.295 Die Leibeigenschaft ist eine besonders schwere Form der Freiheitsberaubung, die die Verpflichtungen enthält, einem anderen bestimmte Dienste zu leisten und unter dem Dach dieses anderen zu wohnen, sowie die Unmöglichkeit, diese Lage zu ändern.296 Die Zwangs- oder Pflichtarbeit iSd Art 5 II GRCh erfasst jede Art von Arbeit oder 99 Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat.297 Zu beachten

_____ 290 Böse EnzEuR 9/Burchard § 14 Rn 47 ff zu Charakter und Wirkungen dieser Vorschrift. 291 EuGH (GK), Rs C-404/15, C-659/15 PPU – Pál Aranyosi und Robert Căldăraru, Rn 94, 98; Rs C220/18 PPU – ML, Rn 65. 292 EuGH (GK), Rs C-404/15, C-659/15 PPU – Pál Aranyosi und Robert Căldăraru, Rn 102. 293 EuGH (GK), Rs C-411/10 – N.S. ua, Rn 94; Rs C-4/11 – Puid, Rn 30, 36; EuGH (GK), Rs C-404/15, C-659/15 PPU – Pál Aranyosi und Robert Căldăraru, Rn 94, 98; Rs C-220/18 PPU – ML, Rn 65. 294 Meyer/Borowsky Art 5 GRCh Rn 1, 27. 295 Vgl Art 1 Nr 1 des Übereinkommens betreffend die Sklaverei vom 25.9.1926 in der Fassung des Änderungsprotokolls vom 7.12.1953 (BGBl 1972 II 1473). 296 EGMR, Siliadin v France − 73316/01 (Zweite Sektion). 297 EGMR, Siliadin v France − 73316/01 (Zweite Sektion). Dieter Kugelmann

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ist, dass der Schutzbereich über Art 52 III 1 GRCh durch die Ausnahmetatbestände des Art 4 III EMRK begrenzt wird. Der Begriff des Menschenhandels iSd Art 5 III GRCh beschreibt die tatsächliche 100 und rechtswidrige Unterwerfung einer Person unter den Willen anderer Personen mittels Gewalt, Drohung oder Täuschung oder unter Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses mit dem Ziel der Ausbeutung der Betroffenen.298 Sie richtet sich auch gegen organisierte sexuelle Ausbeutung oder entsprechende Schleuserkriminalität.299 Die absolut geltende Regelung des Art 5 GRCh enthält unter Berücksichtigung 101 heutiger Formen der Sklaverei bedeutsame Konkretisierungen der Menschenwürde im Hinblick auf ökonomische und sexuelle Ausbeutungen.300 Die Norm wirkt einer Degradierung des Menschen zur bloßen Ware und Arbeitskraft entgegen.

2. Freiheitsrechte a) Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art 6 GRCh) In Anlehnung an Art 5 EMRK gewährleistet Art 6 GRCh das Recht auf Freiheit im 102 Sinne der körperlichen Bewegungsfreiheit (nicht etwa die allgemeine Handlungsfreiheit) und damit Schutz vor Freiheitsentziehungen.301 Das gleichfalls eingeräumte Recht auf Sicherheit ist in enger Verknüpfung zur Gewährleistung der Freiheit zu sehen. Es besagt, dass Eingriffe in die Freiheit der Person mit dem jeweiligen materiellen und formellen Recht in Einklang stehen müssen und gewährt nicht etwa ein allgemeines Recht auf Sicherheit.302 Anklänge in Urteilen des EuGH deuten eine Entfaltung des Rechts auf Sicherheit in Richtung auf eine Schutzpflicht des Staates an, werden aber nicht weiter konkretisiert.303 Angesichts der engen Auslegung des EGMR zu Art 5 EMRK ist jedoch Art 52 III GRCh zu beachten, wonach Art 6 GRCh insoweit die gleiche Bedeutung und Tragweite haben muss.304

b) Achtung der Privatheit und des Familienlebens (Art 7 GRCh) Die Achtung des Privatlebens gewährleistet den Schutz der Privatheit des Einzel- 103 nen.305 Grundrechtsträger ist jede Person. Die Kommunikation ist genannt, weil sie

_____ 298 299 300 301 302 303 304 305

Charta-Erläuterungen, ABl 2007 C 303/19. Streinz/Streinz Art 5 GRCh Rn 2. Calliess/Ruffert/Calliess Art 5 GRCh Rn 1. Jarass GRCh Art 6 Rn 6. Jarass GRCh Art 6 Rn 6; Meyer/Bernsdorff Art 6 GRCh Rn 12. EuGH, Rs C-293/12 und C-594/12 – Digital Rights Ireland Rn 42. Gusy/Kugelmann/Würtenberger/Leuschner Kap 9 Rn 8. Jarass GRCh Art 7 Rn 6.

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dem Einzelnen in Ausübung seiner personalen Selbstbestimmung die Aufnahme sozialer Kontakte und damit seine Entfaltung in der sozialen Sphäre ermöglicht.306 In Verbindung mit den besonderen Regelungen des Datenschutzes (Art 8 GRCh), die besondere Ausprägungen des kommunikativen Freiheitsschutzes sicherstellen, sind kommunikative Entfaltungen umfassend geschützt.307 Der Schutz betrifft insbesondere das Brief-, Post- und Telekommunikationsgeheimnis einschließlich moderner Formen der Kommunikation und damit der erzeugten Daten der Kommunikation.308 Die Rechtsprechung verbindet zwar fallbezogen Art 7 mit Art 8 GRCh (s Rn 106). Jedoch kann Art 7 GRCh durchaus eigenständig zur Anwendung kommen und in Entsprechung zu Art 8 EMRK betrachtet werden, womit Art 52 III GRCh greift.309 Die Achtung des Privatlebens kann aber auch behördlichem Handeln etwa im Rahmen von Asylverfahren hinsichtlich des Glaubhaftmachens von Gründen wie der Homosexualität Grenzen setzen.310 Der Schutz der Wohnung umfasst Privaträume und Geschäftsräume. Dies folgt 104 aus der Rechtsprechung des EGMR zu Art 8 EMRK, dem der EuGH, der in der Vergangenheit die Geschäftsräume ausgegrenzt hatte, 311 inzwischen folgen würde, wenn er eine entsprechende Konstellation zu entscheiden hätte.312 Die Harmonisierung der Rechtsprechung zu materiellen Fragen der Grundrechte wird für den EuGH von der GRCh mit ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten angeleitet.313 Der Achtungsanspruch für das Familienleben sichert die Verwirklichung in der 105 familiären Sphäre. Unter Familie ist die Kleinfamilie zu verstehen. Der Begriff der Familie ist Wandlungen aufgrund der Änderung gesellschaftlicher Anschauungen zugänglich. 314 Er umfasst nach der Rechtsprechung des EGMR auch gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften.315

c) Schutz personenbezogener Daten (Art 8 GRCh) 106 In Anbetracht der Möglichkeiten und Herausforderungen der modernen Informa-

tionsgesellschaft gewährt Art 8 GRCh das Grundrecht auf Datenschutz.316 Geschützt werden personenbezogene Daten, also alle Informationen, die sich auf eine

_____ 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316

Ähnlich Gusy EuGRZ 2018, 244 (247). Calliess/Ruffert/Kingreen Art 7 GRCh Rn 10. Kühling/Sackmann JURA 2018, 364 (374). EuGH, Rs C-345/17 – Buivids, Rn 65. EuGH (GK), Rs C-148/13 – A, B, C, Rn 53, zur Beschränkung intimer Tests. EuGH, verb Rs C-46/87 und C-227/88 – Hoechst, Rn 17. EuGH, Rs C-94/00 – Roquettes Frères, Rn 27 ff. Vgl Calliess/Ruffert/Kingreen Art 7 GRCh Rn 9; Streinz/Streinz Art 7 GRCh Rn 7. Jarass GRCh Art 7 Rn 19. EGMR, P.B. und J.S. v Österreich – 18984/02, § 30. Eingehend und mit eigenständigem Ansatz Marsch S 129 ff. Dieter Kugelmann

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bestimmte oder bestimmbare natürliche Person beziehen.317 Der Art 8 II GRCh lässt die Verarbeitung der personenbezogenen Daten nur unter strengen Voraussetzungen zu. Die Datenverarbeitung in diesem Sinne beschreibt jede Erhebung, Speicherung, Verwendung, Sperrung oder Löschung einschließlich der bloßen Weitergabe persönlicher Daten.318 Die Datenverarbeitung darf nur bei Vorliegen der Einwilligung des Betroffenen oder einer sonstigen Rechtsgrundlage, und weiter nur unter strenger Zweckbindung und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen. Das Verhältnis zwischen Art 8 und Art 7 GRCh ist eng, aber nicht eindeutig geklärt.319 Es wirft grundsätzliche Fragen des Privatheitsschutzes angesichts der Formen und Ausgestaltungen moderner Kommunikation auf.320 Der EuGH erörtert beide Vorschriften oft gemeinsam, wobei er die Rechte als unterschiedlich auffasst.321 Dies wird als Idealkonkurrenz verstanden.322 Teils wird Art 8 GRCh auch als lex specialis zu Art 7 GRCh betrachtet. 323 Teils wird Art 8 GRCh eine objektivrechtliche Ausgestaltungsdimension zugeschrieben, während Art 7 iVm Art 8 GRCh das subjektive Recht beinhalte.324 Der umfassende Schutz der Privatheit durch Art 7 GRCh wird in Art 8 GRCh im Hinblick auf die soziale und kommunikative Entfaltung des Einzelnen durch Art 8 GRCh erweitert und ergänzt.325 Die Schutzbereiche sind sich schneidende Kreise. Eine darüber hinaus gehende besondere Funktion hat Art 8 GRCh aufgrund seiner inhaltlichen Festlegungen von Prinzipien des Datenschutzes.326 Das Grundrecht auf Datenschutz ist ein zentraler Gegenstand der Rechtspre- 107 chung des EuGH zu den Grundrechten.327 Seine Entscheidungen sind nicht nur zahlreich, sie enthalten oft auch grundlegende Aussagen zur Dogmatik der GRCh und ihrem Verhältnis zu innerstaatlichem Recht.328 Aufgrund des Art 8 GRCh, des Art 16 AEUV und des weit reichenden Sekundärrechts besteht eine breite und solide normative Grundlage (so Rn 27). Die Eigenschaft des Datenschutzes als Querschnittsmaterie, die in einer Vielzahl von Fallgestaltungen eine Rolle spielen kann

_____ 317 Vgl Art 4 Ziff 1 Datenschutz-Grundverordnung, VO (EU) 2016/679, ABl 2016 L 119/1. 318 Jarass GRCh Art 8 Rn 8; vgl Art 4 Ziff 2 Datenschutz-Grundverordnung. 319 Marsch S 128f; Michl DuD 2017, 349. 320 Gusy EuGRZ 2018, 244. 321 EuGH, verb Rs C-92/09 und C-93/09 – Schecke, Rn 52; Rs C-293/12 und C-594/12 – Digital Rights Ireland, Rn 29; s auch EuGH, Rs C-345/17 – Buivids, Rn 65. 322 Jarass GRCh Art 8 Rn 4. 323 Calliess/Ruffert/Kingreen Art 8 Rn 1a; Kühling/Sackmann JURA 2018, 364 (372); Pechstein/ Nowak/Häde/Wolff Art 8 GRCh Rn 3. 324 Marsch S 131. 325 Für eine schutzbereichsorientierte Abgrenzung auch Gusy EuGRZ 2018, 244 (245). 326 Insoweit zutreffend Marsch S 130, der von einem Recht auf grundrechtsadäquate Gesetzgebung spricht. 327 Marsch S 281; Streinz/Streinz Art 8 GRCh Rn 5. 328 Überblicke bei vDanwitz DuD 2015, 581; Skouris NVwZ 2016, 1359. Dieter Kugelmann

334 | § 4 Grundrechte

und zugleich der potenziell grenzüberschreitende Charakter von Datenverarbeitungen führen zu der Notwendigkeit, die Rechtsposition des Einzelnen auch grenzüberschreitend zu sichern. Die umfangreiche Rechtsprechung zu Datenverarbeitung und Privatheit betrifft 108 organisatorische ebenso wie materielle Fragen und legt einen strengen Prüfungsmaßstab an.329 Die Unabhängigkeit der Datenschutzaufsichtsbehörden ist durch die ständige Rechtsprechung des EuGH abgesichert.330 Sie findet sich in Art 8 III GRCh wieder. Ebenfalls bereits vor Inkrafttreten der GRCh hat der EuGH im Fall Schecke europäisches Sekundärrecht als unverhältnismäßig verworfen, das für alle Empfänger von Agrarbeihilfen die Veröffentlichung personenbezogener Daten ohne nähere Differenzierungen vorschreibt.331 Aus Art 7, 8 GRCh hat der EuGH im Fall Google / Spain das Recht des Einzelnen auf Löschung auch und gerade in Suchmaschinen abgeleitet, das sog Recht auf Vergessenwerden.332 In seiner Rechtsprechung zur Vorratsdatenspeicherung, hat der EuGH die Richtlinie 2006/24/EG für nichtig erklärt.333 Vor dem Hintergrund der Richtlinie 2002/58/EG zum Datenschutz in der elektronischen Kommunikation hat er zudem hohe Anforderungen an die Rechtmäßigkeit von umfassenden Eingriffen durch innerstaatliche Regelungen zur Vorratsspeicherung gestellt.334 Eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung dürfte kaum zulässig sein.335

d) Ehe und Familie (Art 9 GRCh) 109 In Abgrenzung zu und Ergänzung von Art 7 GRCh schützt Art 9 GRCh die Einge-

hung der Ehe und die Gründung der Familie nicht dagegen das Zusammenleben in Ehe und Familie. Insoweit hat das Grundrecht durchaus einen eigenständigen Gehalt, obwohl es zur Ausübung dieser Rechte auf die einzelstaatlichen Gesetze der Mitgliedstaaten verweist. Im Kern enthält Art 9 GRCh eine Einrichtungs- und Bestandsgarantie für Ehe und Familie, die sie vor Aufhebung und wesentlicher Umgestaltung schützt.336

_____ 329 Streinz/Streinz Art 8 GRCh Rn 14; s auch Kühling/Sackmann JURA 2018, 364 (372 f). 330 EuGH, Rs C-518/07 – Kommission / Deutschland; C-614/10, – Kommission / Österreich; C288/12 – Kommission / Ungarn. 331 EuGH, verb Rs C-92/09 und C-93/09 – Schecke, Rn 86, betreffend Art 44a der VO 1290/2005, ABl 2005 L 209/16, und VO 259/2008, ABl 2008 L 76/28; dazu Brink/Wolff JZ 2011, 201. 332 EuGH, Rs C-131/12 – Google / Spain, Rn 97. 333 EuGH (GK), Rs C-293/12 und C-594/12 – Digital Rights Ireland, Rn 44. 334 EuGH, verb Rs C-203/15 und C-698/15 – Tele2 Sverige AB und Secretary of State for the Home Department / Watson, Rn 93, 96 ff. 335 Priebe EuZW 2017, 136; Roßnagel NJW 2017, 696; Schiedermair/Mrozek DÖV 2016, 89; zur Neuregelung durch den Bundesgesetzgeber Roßnagel NJW 2016, 533. 336 Meyer/Bernsdorff Art 9 GRCh Rn 14. Dieter Kugelmann

IV. Gewährleistungsgehalte | 335

Inhalt der Eheschließungsfreiheit ist das Recht, die Ehe auf Grundlage einer 110 freien Entscheidung mit dem Partner der Wahl (vorbehaltlich mitgliedstaatlicher Eheschließungsverbote zwischen Verwandten), zum Zeitpunkt der Wahl (vorbehaltlich mitgliedstaatlicher Regelungen zum heiratsfähigen Alter) einzugehen.337 Geschützt ist auch die negative Freiheit, auf die Ehe zu verzichten; Art 9 GRCh enthält also ein Verbot der Zwangsehe. Art 9 GRCh steht der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften als Ehe und ihrer rechtlichen Gleichstellung nicht entgegen und überlässt dies der Entscheidung durch die Mitgliedstaaten.338 Die Familiengründungsfreiheit beinhaltet das Recht, Kinder zu zeugen, darüber zu bestimmen, wie viele und zu welchem Zeitpunkt man Kinder haben möchte sowie das Recht zur Adoption.339

e) Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art 10 GRCh) Die Regelung des Art 10 GRCh schützt die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfrei- 111 heit als fundamentale Grundrechte der demokratischen Gesellschaft.340 Sie sind einklagbare Rechte.341 Teils werden hier drei unterschiedliche Grundrechte gesehen,342 teils drei Entfaltungen eines einheitlichen Grundrechts.343 Die Gedankenfreiheit wird auf das forum internum beschränkt und schützt die 112 innere Überzeugung vor ideologischer Indoktrinierung.344 Sie richtet sich gegen ideologische Beeinflussung, hat aber nur geringe eigenständige Bedeutung. Die Gewissensfreiheit umfasst ebenfalls den Schutz des forum internum, also 113 das Treffen von Entscheidungen, die sich an den Kategorien von Gut und Böse orientieren und vom Betroffenen als unbedingt verpflichtend wahrgenommen werden, so dass er gegen sie nicht ohne schwere Gewissensnot handeln kann.345 Inwieweit sie auch das forum externum, also das Handeln nach außen entsprechend der Gewissensentscheidung schützt, ist strittig und wird überwiegend zurückhaltend gehandhabt.346 Das Recht auf Wehrdienstverweigerung in Art 10 II GRCh ist ein besonderer Fall der Gewissensfreiheit und unterliegt der näheren Ausgestaltung durch die Mitgliedstaaten.

_____ 337 vdGroeben/Schwarze/Hatje/Augsberg Art 9 GRCh Rn 5; Meyer/Bernsdorff Art 9 GRCh Rn 15. 338 vdGroeben/Schwarze/Hatje/Augsberg Art 9 GRCh Rn 5; Meyer/Bernsdorff Art 9 Rn 16; Jarass GRCh Art 9 Rn 5; Calliess/Ruffert/Kingreen Art 9 GRCh Rn 5. 339 Meyer/Bernsdorff Art 9 GRCh Rn 19. 340 vdGroeben/Schwarze/Hatje/Augsberg Art 10 GRCh Rn 1; Jarass GRCh Art 10 Rn 3. 341 Jarass GRCh Art 10 Rn 3. 342 Meyer/Bernsdorff Art 10 GRCh Rn 11; Streinz/Streinz Art 10 GRCh Rn 6. 343 Calliess/Ruffert/Waldhoff Art 10 GRCh Rn 8; ähnlich Stern/Sachs/Muckel Art 10 GRCh Rn 8. 344 Jarass GRCh Art 10 Rn 11. 345 Calliess/Ruffert/Waldhoff Art 10 GRCh Rn 10. 346 Dazu Jarass GRCh Art 10 Rn 12; aA Meyer/Bernsdorff Art 10 GRCh Rn 11. Dieter Kugelmann

336 | § 4 Grundrechte

114

Die Religionsfreiheit umfasst die Freiheit des Glaubens, das heißt das forum internum der inneren religiösen Überzeugungen, aber auch die Religionsausübungsfreiheit, also das forum externum, das in Art 10 I GRCh durch Beispielsformen des Bekenntnisses näher (aber nicht abschließend) konkretisiert wird.347 Geschützt sind die Religion und die Weltanschauung, die eine integrale Gesamtsicht der Welt und der Stellung des Einzelnen darin ohne einen notwendig transzendentalen Bezug, aber mit entsprechenden Werthaltungen bezeichnet.348 Der personale Schutzbereich erstreckt sich auch auf religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften.

f) Meinungs- und Informationsfreiheit (Art 11 GRCh) 115 Als Kommunikationsgrundrecht ist die Meinungs- und Informationsfreiheit des

Art 11 I GRCh für die freiheitliche Demokratie von konstituierender Bedeutung.349 Der Begriff der Kommunikationsgrundrechte wird zumeist als übergeordnete Sammelbezeichnung verstanden, zumal sich die darunter zu fassenden Grundrechte überschneiden.350 Als materieller Kristallisationspunkt kommt die Wahrnehmung personaler Selbstbestimmung im Verhältnis zu anderen Personen in Betracht. Kommunikationsgrundrechte sichern die soziale und kommunikative Verwirklichung des Einzelnen. Die Rechtsprechung des EuGH zur Meinungs- und Informationsfreiheit betrifft überwiegend spezifische Zusammenhänge des Wettbewerbsrechts oder der Schranken von Grundfreiheiten,351 erkennt aber die zentrale Rolle dieser Grundrechte für den demokratischen Prozess an.352 Dies begründet eine enge Verbindung zu den Werten des Art 2 EUV.353 Die Meinungs- und Informationsfreiheit gewährt subjektive Rechte, verfügt aber auch über eine erhebliche gesellschaftliche Bedeutung.354 Besonderen Ausdruck findet dies in der Medienfreiheit des Art 11 II GRCh, der die plurale Struktur der Medien schützt.355 Die Meinungsfreiheit bezeichnet das Recht, sich eine Meinung zu bilden, zu 116 haben und sie zu äußern. Geschützt wird jede Art der Äußerung, auch tatsächliche Handlungen wie das Verbrennen einer Flagge.356 Gewährleistet wird auch das nega-

_____ 347 Jarass GRCh Art 10 Rn 7f. 348 Calliess/Ruffert/Waldhoff Art 10 GRCh Rn 12. 349 EGMR, Handyside v the United Kingdom − 5493/72 (Plenum), § 49. 350 Grabenwarter EnzEuR 2/Walter § 12 Rn 1. 351 Calliess/Ruffert/Calliess Art 11 GRCh Rn 5; Streinz/Streinz Art 11 GRCh Rn 5 f. 352 EuGH, Rs C-340/00 – Kommission / Cwik, Rn 18; Rs C-112/00 – Schmidberger, Rn 79; C-283/11 – Sky Österreich, Rn 52. 353 EuGH, Rs C-163/10 – Patriciello, Rn 31. 354 EGMR, Lingens v Austria − 12/1984/84/131 (Plenum); vgl Kugelmann FS Eckart Klein, 2013, S 1127 (1137). 355 EuGH, C-283/11 – Sky Österreich, Rn 52. 356 Jarass GRCh Art 11 Rn 10; Grabenwarter EnzEuR 2/Walter § 12 Rn 8. Dieter Kugelmann

IV. Gewährleistungsgehalte | 337

tive Recht, sich keine Meinung zu bilden und zu äußern. Der breit angelegte Begriff der Meinung bezeichnet jede Ansicht, Überzeugung, Einschätzung, Stellungnahme und jedes Werturteil ohne Rücksicht auf Qualität und Thematik.357 Jede Entfaltung der privaten Individualkommunikation ist unabhängig von der Nutzung technischer Mittel in den Schutz einbezogen, auch die Meinungsäußerung über das Internet.358 Die Linie zwischen individueller Meinungsäußerung und Medienfreiheit ist im Fall von Kommunikationsformen wie E-Mail oder Blogs nicht einfach zu ziehen, entscheidend sind die Abwägungen auf der Schrankenebene.359 Die Informationsfreiheit schützt den gesamten Informationsprozess, der 117 grundlegende Voraussetzung für die Bildung einer Meinung ist und damit die Wahrnehmung der Meinungsfreiheit ermöglicht. In vielen Fällen wird die Informationsfreiheit in enger Verbindung zur Meinungsfreiheit stehen. Da nach Art 11 I 2 GRCh die Meinungsfreiheit die Informationsfreiheit einschließt, liegt ein einheitliches Grundrecht vor.360 Die in Art 11 II GRCh geschützte Medienfreiheit gewährleistet die Pluralität der 118 Medien und verfügt damit über eigenständige Gehalte.361 Die umstrittene Frage, ob es sich um ein eigenständiges Grundrecht oder eine Entfaltung der Meinungsfreiheit handelt, wird erst auf der Schrankenebene bedeutsam.362 Im Fall eines selbstständigen Grundrechts kommt Art 52 I GRCh zur Anwendung, im Fall einer unselbstständigen Ausformung der Meinungsfreiheit greift wegen der Parallele zu Art 10 EMRK dann Art 52 III GRCh iVm Art 10 II EMRK.363 Die Entstehungsgeschichte und die Systematik sprechen dafür, die Selbstständigkeit der Medienfreiheit zu betonen.364 Damit wird der Weg zu einem Verständnis der Schranken geöffnet, das gerade zur Erfassung moderner Medien und der Bewältigung komplexer Problemlagen beitragen kann. Die Medienfreiheit erfasst alle publizistischen Verbreitungsformen, durch die Inhalte für eine unbestimmte Personenmehrheit aufbereitet und übermittelt werden, insbesondere Presse, Rundfunk und Internet.365 Geschützt sind alle mit der Medienarbeit verbundenen Tätigkeiten, von der Informationsbeschaffung (zB: Schutz der Informationsquelle) bis zur Verbreitung der Nachricht.366 Die enge Verbindung zur Dienstleistungsfreiheit des Art 56 AEUV besteht darin, dass Rundfunk

_____ 357 Meyer/Bernsdorff Art 11 GRCh Rn 12. 358 Kugelmann EuGRZ 2003, 16. 359 Grabenwarter EnzEuR 2/Walter § 12 Rn 21. 360 Jarass GRCh Art 11 Rn 2; Meyer/Bernsdorff Art 11 GRCh Rn 13. 361 Meyer/Bernsdorff Art 11 GRCh Rn 15. 362 Grabenwarter EnzEuR 2/Walter § 12 Rn 17. 363 Streinz/Streinz Art 11 GRCh Rn 18. 364 Meyer/Bernsdorff Art 11 GRCh Rn 20; Calliess/Ruffert/Calliess Art 11 GRCh Rn 33; aA Streinz/ Streinz Art 11 GRCh Rn 13; Grabenwarter EnzEuR 2/Walter § 12 Rn 37. 365 Jarass GRCh Art 11 Rn 17. 366 Meyer/Bernsdorff Art 11 GRCh Rn 17. Dieter Kugelmann

338 | § 4 Grundrechte

und rundfunkähnliche Tätigkeiten Dienstleistungen sind und ihre Beschränkung durch mitgliedstaatliche Regelungen an den Kommunikationsgrundrechten zu messen ist.367 Die Rechtsprechung des EuGH hierzu spielt daher für Art 11 II GRCh eine große Rolle.368

g) Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art 12 GRCh) 119 Die in Art 12 GRCh geschützte Versammlungsfreiheit ist als kollektive Meinungsäu-

ßerung eng verknüpft mit Art 11 GRCh. Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind zentrale Grundrechte zur Gewährleistung eines offenen demokratischen Prozesses.369 Die Versammlungsfreiheit ist ein fundamentales Freiheitsrecht und war vom 120 EuGH bereits vor der GRCh anerkannt.370 Unter dem Begriff der Versammlung versteht man die Zusammenkunft mehrerer Menschen zur Verfolgung eines gemeinsamen Zweckes, gem Art 12 I GRCh insbesondere (das heißt nicht abschließend) zu politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Zwecken. Geschützt ist die Versammlung unter den einschränkenden Kriterien „frei“ und „friedlich“. Die ebenfalls in Art 12 I GRCh normierte Vereinigungsfreiheit schützt jeden 121 freiwilligen Zusammenschluss einer Personenmehrheit zu einem gemeinsamen Zweck, der ein Mindestmaß an zeitlicher und organisatorischer Stabilität aufweist.371 Geschützt sind die Gründung, der Beitritt und die Betätigung in einer Vereinigung, jeweils korrespondierend mit dem negativen Recht der Auflösung und des Austritts aus der Vereinigung.372 Die besondere Regelung des Art 12 II GRCh enthält kein eigenständiges Grund122 recht, sondern ist eine institutionelle Garantie von politischen Parteien auf Ebene der Union.373 Die Norm stellt die Bedeutung von politischen Parteien für die Willensbildung der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger heraus. Parteiverbote unterliegen hohen Anforderungen, die sich aus der Rechtsprechung des EGMR ergeben.374

_____ 367 Grabenwarter EnzEuR 2/Walter § 12 Rn 24. 368 EuGH, Rs C-288/89 – Gouda, Rn 23; C-368/95 – Familiapress, Rn 18; Streinz/Streinz Art 11 GRCh Rn 6 f. 369 Calliess/Ruffert/Ruffert Art 12 Rn 17. 370 EuGH, Rs C-112/00 – Schmidberger, Rn 79; zum Ganzen Ripke. 371 Meyer/Bernsdorff Art 12 GRCh Rn 15. 372 Jarass GRCh Art 12 Rn 24 f. 373 Calliess/Ruffert/Ruffert Art 12 GRCh Rn 17. 374 EGMR, Refah Partisian and Others v Turkey – 41340/98 (Große Kammer); dazu Kugelmann EuGRZ 2003, 533. Dieter Kugelmann

IV. Gewährleistungsgehalte | 339

h) Freiheit von Kunst und Wissenschaft (Art 13 GRCh) Auf Unionsebene gibt es keinen von der Rechtsprechung konkretisierten Kunstbe- 123 griff. Auf einen weiten Kunstbegriff deutet auch der in der englischen und französischen Fassung verwendete Plural hin. Aufgrund der Schwierigkeit von inhaltlichen Festlegungen erscheint ein mehrgliedriger Ansatz sachgerecht, der an der freien schöpferischen Gestaltung ansetzt, in der Eindrücke, Erfahrungen oder Erlebnisse des Künstlers durch eine bestimmte Form vermittelt zum Ausdruck gebracht werden.375 Eine Selbstdefinition der Kunst durch den Künstler ist dabei der Ausgangspunkt. Werkbereich und Wirkbereich sind geschützt, wobei auch die Perspektive von außen auf das Werk einzubeziehen ist. Die Wissenschaftsfreiheit erfasst die Freiheit von Forschung und Lehre, das 124 heißt die wissenschaftliche Betätigung zur Erkenntnisgewinnung und die Vermittlung der so gewonnenen Erkenntnisse.376 Sie könnte im Zusammenhang der Forschungsprogramme der EU, die auch wissenschaftlichen Hochschulen finanzielle Mittel zur Verfügung stellen, Bedeutung erlangen, da auch drittfinanzierte Forschung ihre Freiheit verteidigen muss. Der Schutz der akademischen Freiheit in Art 13 S 2 GRCh betrifft vorrangig die Freiheit der Lehre.377

i) Recht auf Bildung (Art 14 GRCh) Den diskriminierungsfreien Zugang zu Bildungseinrichtungen sichert Art 14 125 GRCh, wobei über die schulische Erziehungs- und Wissensvermittlung hinaus auch die berufliche Aus- und Weiterbildung umfasst ist. Das setzt positiv voraus, dass auf mitgliedstaatlicher Ebene entsprechende Bildungseinrichtungen bestehen. Die Mitgliedstaaten haben also für das Vorhandensein eines zureichenden Bildungswesens zu sorgen.378 Soweit es sich dabei um Pflichtschulunterricht handelt, ist dieser gem Art 14 II GRCh unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. Denn der diskriminierungsfreie Zugang zum Schulwesen beinhaltet auch, dass aus der Schulpflicht keine finanziellen Nachteile erwachsen dürfen. Als Ausgleich zum staatlich determinierten Schulwesen garantiert Art 14 III 126 GRCh die Privatschulfreiheit und das elterliche Erziehungsrecht. Um ein staatliches Schulmonopol zu verhindern, wird in Abgrenzung zum staatlichen Schulwesen die Gründung von Privatschulen geschützt. Durch die Normierung des Elternrechts, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen, wird die elterliche Erziehung vor staatlicher Einflussnahme geschützt.

_____ 375 376 377 378

Calliess/Ruffert/Ruffert Art 13 GRCh Rn 3. Jarass GRCh Art 13 Rn 6 ff. Jarass GRCh Art 13 Rn 8; Calliess/Ruffert/Ruffert Art 13 GRCh Rn 9. Meyer/Bernsdorff Art 14 GRCh Rn 13.

Dieter Kugelmann

340 | § 4 Grundrechte

j) Berufsfreiheit und unternehmerische Freiheit (Art 15, 16 GRCh) 127 Die in Art 15 I GRCh garantierte Berufsfreiheit schützt die Wahl und die Ausübung

des Berufs vor hoheitlich veranlassten Behinderungen.379 Die Berufsfreiheit räumt dagegen kein subjektives Recht auf Verschaffung von Arbeit ein.380 Der Begriff des „Berufs“ umfasst dabei jede in Erwerbsabsicht verfolgte, auf gewisse Dauer angelegte Tätigkeit, unabhängig davon, ob sie erlaubt ist. In Art 15 II GRCh wurden die Grundfreiheiten des freien Personenverkehrs, 128 nämlich die Arbeitnehmerfreizügigkeit, Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit aufgenommen. Unklar ist, welche Rolle die Grundfreiheiten neben der Berufsfreiheit spielen. Die Norm dürfte verdeutlichen, dass die Grundfreiheiten in engem Bezug zur Berufsfreiheit stehen und bei Sachverhalten mit grenzüberschreitendem Bezug neben den Gewährleistungen des Art 15 I GRCh zur Anwendung kommen.381 Angesichts der umfangreichen Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten hat Art 15 GRCh bisher kaum Bedeutung erlangt. Der Art 15 III GRCh enthält für legal im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten beschäf129 tigte Drittstaatsangehörige ein Diskriminierungsverbot in Bezug auf Arbeitsbedingungen, die denen der Unionsbürger entsprechen müssen. Grundrechtsträger sind ausdrücklich Drittstaatsangehörige, Grundrechtsverpflichtete zunächst die Union und die Mitgliedstaaten. Eine unmittelbare Drittwirkung äußert die Regelung nicht, allerdings wird über die Schutzpflichten der Staat zur einwirkenden Gestaltung verpflichtet.382 Ein Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt enthält die Vorschrift nicht.383 Die unternehmerische Freiheit des Art 16 GRCh umfasst die Freiheit, eine 130 Wirtschafts- oder Geschäftstätigkeit auszuüben, die Vertragsfreiheit und die Wettbewerbsfreiheit.384 Geschützt wird insoweit jede selbstständige wirtschaftliche Betätigung in allen Ausprägungen385 als spezielle Form der Berufsfreiheit.386

k) Eigentumsrecht (Art 17 GRCh) 131 Die an Art 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK angelehnte Vorschrift des Art 17 GRCh gewährleistet das Eigentumsrecht.387 Dieses schützt als drittes wirtschaftlich gepräg-

_____ 379 Meyer/Bernsdorff Art 15 GRCh Rn 16. 380 Grabenwarter EnzEzR 2/Grabenwarter § 13 Rn 5; Streinz/Streinz Art 15 GRCh Rn 9. 381 Jarass GRCh Art 15 Rn 20; aA Meyer/Bernsdorff Art 15 GRCh Rn 20, der die Grundfreiheiten als leges speciales sieht. 382 Jarass GRCh Art 15 Rn 23. 383 Meyer/Bernsdorff Art 15 GRCh Rn 21; Streinz/Streinz Art 15 GRCh Rn 15. 384 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 C 303/23. 385 Meyer/Bernsdorff Art 16 GRCh Rn 10a. 386 Jarass GRCh Art 16 Rn 4a; Streinz/Streinz Art 15 GRCh Rn 1; differenzierend Grabenwarter EnzEuR 2/Grabenwarter § 13 Rn 25. 387 S schon EuGH, Rs 44/79 – Hauer, Rn 17 ff. Dieter Kugelmann

IV. Gewährleistungsgehalte | 341

tes Grundrecht in Abgrenzung zur Berufs- und unternehmerischen Freiheit das Erworbene, nicht den Erwerb. Art 17 I GRCh sichert zunächst umfassend die mit dem Eigentum typischerweise verbundenen Rechte (besitzen, nutzen, verfügen, vererben), stellt für die Entziehung des Eigentums strenge Voraussetzungen auf und lässt aus Gemeinwohlgründen die gesetzliche Regelung des Eigentums zu. Erfasst ist jedes rechtmäßig erworbene vermögenswerte Recht, das dem Einzelnen zur eigenverantwortlichen Nutzung zugeordnet ist, keine bloßen Aussichten oder Chancen.388 Das Vermögen ist nicht geschützt.389 Nach Art 17 II GRCh ist das geistige Eigentum geschützt, das heißt immaterielle 132 Güter, deren Wert in einer geistigen Schöpfung liegt (zB das literarische und künstlerische Eigentum).390

l) Asylrecht (Art 18 GRCh) und Abschiebungsschutz (Art 19 GRCh) Gem Art 18 GRCh wird das Recht auf Asyl nach Maßgabe der Genfer Flüchtlingskon- 133 vention und dem primären Unionsrecht gewährleistet. Aus diesem Verweis und der Entstehungsgeschichte wird teils gefolgert, die Norm stelle kein Grundrecht auf Asyl im Sinne eines subjektiv-individuellen Asylanspruchs dar.391 Das trifft für das materielle Recht auf Asyl zu. Der Verweis hat jedoch nicht nur deklaratorischen Charakter, sondern beschreibt die Reichweite des Rechts. Das Asylrecht des Art 18 GRCh gewährleistet demnach subjektive Rechte auf Beachtung der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten völkerrechtlichen Verpflichtungen. 392 Das gilt insbesondere für das Verbot der Ausweisung und Zurückweisung von Flüchtlingen, deren Leben oder Freiheit im Herkunftsland wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung bedroht sein würde, also für das Prinzip des nonrefoulement nach Art 33 GFK.393 Dieses Recht ist nach Art 18 GRCh durchsetzbar. Dies umfasst das subjektive Recht auf Zugang zum Asylverfahren, während die Verfahrensrechte aufgrund des Art 41 GRCh gesichert sind. Das umfangreiche Sekundärrecht zum Asyl- und Flüchtlingsrecht gewährleistet detaillierte Rechtspositionen.394 Die Rechtsprechung des EuGH zum Asyl- und Ausländerrecht knüpft an das Sekundärrecht an und greift kaum ausdrücklich auf Art 18, 19 GRCh zurück.395

_____ 388 Jarass GRCh Art 17 Rn 6. 389 Calliess/Ruffert/Calliess Art 17 GRCh Rn 8. 390 Jarass GRCh Art 17 Rn 10. 391 Meyer/Bernsdorff Art 18 GRCh Rn 11; Calliess/Ruffert/Rossi Art 18 GRCh Rn 3. 392 vdGroeben/Schwarze/Hatje/Klatt Art 18 GRCh Rn 13; insoweit dann auch Meyer/Bernsdorff Art 18 GRCh Rn 11. 393 vdGroeben/Schwarze/Hatje/Klatt Art 18 GRCh Rn 10. 394 Vgl Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Kugelmann S 2270 ff. 395 Streinz/Streinz Art 19 GRCh Rn 3. Dieter Kugelmann

342 | § 4 Grundrechte

134

Ergänzend tritt der Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung gem Art 19 GRCh hinzu, der einklagbare Rechte gewährt und nicht lediglich einen Grundsatz iSd Art 52 V GRCh.396 Die umfassende einschlägige Rechtsprechung des EGMR bedarf besonderer Beachtung.397 Der Art 19 I GRCh enthält ein Verbot von Kollektivausweisungen, das heißt Ausweisungen, bei denen keine Einzelfallprüfung stattfindet und die Ausweisung allein aufgrund genereller Kriterien wie Staatsangehörigkeit oder Hautfarbe erfolgt.398 Der Art 19 II GRCh schützt vor Abschiebung, Ausweisung oder Auslieferung an einen Staat, in dem für den Betroffenen das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung droht. Hier ist Art 4 GRCh zu beachten, zu dem auch Rechtsprechung des EuGH vorliegt (so Rn 97). Die Schutzbereiche des Art 18 GRCh und des Art 19 GRCh überschneiden sich zum Teil.

3. Gleichheitsrechte 135 Die Gleichheitsrechte der Art 20 bis 26 GRCh weisen in Charakter und Wirkungen

Unterschiede auf.399 Die Herleitung des allgemeinen Gleichheitsprinzips aus den vorhandenen Spezialregelungen und das Verständnis der Spezialregelungen als Ausprägungen des allgemeinen Gleichheitsprinzips führen zu einem Verhältnis der Wechselbezüglichkeit. Die spezielleren Rechte und Grundsätze konkretisieren das Prinzip.400 Das allgemeine Gleichheitsprinzip des Art 20 GRCh und die speziellen Diskriminierungsverbote und Grundsätze der Grundrechtecharta bilden ein zusammenhängendes Schutzsystem.401

a) Der allgemeine Gleichheitssatz (Art 20 GRCh) 136 Der allgemeine Gleichheitssatz des Art 20 GRCh ist ein Grundprinzip des Unions-

rechts.402 Der EuGH hat dies früh festgehalten.403 Das Prinzip der Gleichheit ist unmittelbar anwendbar.404 Da die Rechtsprechung des Gerichtshofes in sich nicht restlos widerspruchsfrei konstruiert ist, kann Art 20 GRCh eigenständig ausgelegt werden.

_____ 396 Jarass GRCh Art 19 Rn 2; Streinz/Streinz Art 19 GRCh Rn 7. 397 Nußberger NVwZ 2013, 1305 mwN. 398 Meyer/Bernsdorff Art 19 GRCh Rn 14. 399 Merten/Papier/Kugelmann HGR VI/1 § 160 Rn 4; zu Grundlagen und zur EMRK eingehend Altwicker. 400 Meyer/Hölscheidt Vorbem Art 20 GRCh Rn 16 ff; Grabenwarter EnzEuR 2/Schmahl § 15 Rn 3 ff. 401 Merten/Papier/Kugelmann HGR VI/1 § 160 Rn 24. 402 Streinz/Streinz Art 20 GRCh Rn 3. 403 EuGH, verb Rs 177/76 und C-16/77 − Ruckdeschel, Rn 7; verb Rs 124/76 und 20/77 − Moulins Pont-à-Mousson, Rn 14/17; Rs 245/81 – Edeka, Rn 11; verb Rs 201/85 und 202/85 − Klensch, Rn 8 f. 404 Kischel EuGRZ 1997, 1 (8). Dieter Kugelmann

IV. Gewährleistungsgehalte | 343

Das allgemeine Prinzip der Gleichheit fordert, dass vergleichbare Sachverhalte 137 nicht unterschiedlich behandelt werden dürfen. Eine Ungleichbehandlung liegt vor, wenn vergleichbare Sachverhalte in unterschiedlicher Weise behandelt werden oder wesentlich unterschiedliche Sachverhalte gleichbehandelt werden. Das allgemeine Prinzip der Gleichheit betrifft mittelbare Diskriminierungen nicht. Das Vorliegen mittelbarer Diskriminierungen kommt nur bei solchen Gleichheitssätzen in Betracht, welche die Differenzierung anhand eines speziellen Kriteriums verbieten. Die Gleichheit vor dem Gesetz des Art 20 GRCh zielt dagegen auf die Stimmigkeit der Maßnahmen. Im Mehrebenensystem des Unionsrechts ist dabei die Urheberschaft für die zu vergleichenden Maßnahmen besonders wichtig. Die zu vergleichende Handlung muss von der gleichen Stelle vorgenommen worden sein wie die zu untersuchende Maßnahme, sie muss gleichen Ursprungs sein.405 Eine Entscheidung hat gleichen Ursprung, wenn sie vom gleichen Normgeber oder von der gleichen Stelle der Verwaltung getroffen wird.406 Eine Selbstbindung der Verwaltung aufgrund des Prinzips der Gleichheit ist vom EuGH anerkannt.407 Jede Differenzierung muss objektiv gerechtfertigt sein.408 Insoweit findet Art 52 138 GRCh Anwendung.409 Die Rechtfertigung erfordert, dass ein legitimes Ziel verfolgt und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird. Im Gegensatz zum deutschen Verfassungsrecht ist die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf die Rechtfertigung von Verstößen gegen das gemeinschaftsrechtliche Prinzip der Gleichheit weitgehend unbestritten.410 Allerdings hat der Gerichtshof in unterschiedlichen Sachbereichen die Kontrolldichte differenziert.411 Ob eine zweistufige (ohne Verhältnismäßigkeitsprüfung) oder dreistufige Prüfung (mit Verhältnismäßigkeitsprüfung) der Ungleichbehandlung angezeigt ist, ist angesichts der uneinheitlichen und inkonsistenten Rechtsprechung des EuGH nicht restlos geklärt.412 Für die Erhöhung der Kontrolldichte spricht die Notwendigkeit der effektiven Kontrolle der Gleichheit.413 Eine eigenständige Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit legt auch Art 52 I 2 GRCh nahe.414 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird gewahrt, wenn der Nutzen der Ungleichbehandlung nicht in einem Missverhältnis

_____ 405 Frenz Hdb 4 Rn 3201. 406 Merten/Papier/Kugelmann HGR VI/1 § 160 Rn 27. 407 EuGH, Rs 148/73 – Louwage, Rn 89. 408 Calliess/Ruffert/Rossi Art 20 GRCh Rn 24. 409 Stern/Sachs/Sachs Art 20 GRCh Rn 23; im Hinblick auf den Gesetzesvorbehalt ablehnend Jarass GRCh Art 20 Rn 12. 410 Meyer/Hölscheidt Art 20 GRCh Rn 24; Jarass GRCh Art 20 Rn 15; kritisch aber Calliess/Ruffert/ Rossi Art 20 GRCh Rn 26 f. 411 Jarass GRCh Art 20 Rn 18 f. 412 Streinz/Streinz Art 20 GRCh Rn 9. 413 S Meyer/Hölscheidt Art 20 GRCh Rn 25, mit einer je-desto Formel. 414 Merten/Papier/Kugelmann HGR VI/1 § 160 Rn 36. Dieter Kugelmann

344 | § 4 Grundrechte

zum Ausmaß der Benachteiligung steht, die sich aus der Ungleichbehandlung ergeben. Die eingesetzten Mittel zur Erreichung des angestrebten Ziels müssen erforderlich und angemessen sein.415

b) Verbote von Diskriminierungen (Art 21, 23 GRCh) 139 Spezielle Diskriminierungsverbote zielen auf die Durchsetzung von Werten, die von

der EU als Wertegemeinschaft besonders hochgeschätzt werden (Art 2 EUV). Aus diesem Grund durchziehen die Inhalte der Diskriminierungsverbote als Querschnittsklauseln die Politiken der EU (Art 8, 10, 19 AEUV).416 Erfasst werden von Art 21 GRCh unmittelbare Diskriminierungen, die das verbotene Kriterium als Unterscheidungsmerkmal verwenden, sowie mittelbare Diskriminierungen, bei denen eine scheinbar neutral wirkende Maßnahme typischerweise die Benachteiligung einer Gruppe zur Konsequenz hat.417 Die Rechte des Art 21 GRCh sind unmittelbar anwendbar und verleihen subjektive und einklagbare Rechte.418 Sie entfalten weitere Rechtswirkungen und können auch zwischen Privaten wirken.419 Diese Wirkung äußert Art 21 I GRCh über Schutzpflichten des Staates in das Arbeitsrecht, der Regelung kommt aber keine unmittelbare Drittwirkung zu.420 Das Verbot von Diskriminierungen aufgrund der in Art 21 I GRCh genannten Kri140 terien wird durch die weitreichenden Anti-Diskriminierungsregelungen des Sekundärrechts konkretisiert (so Rn 23).421 Zum Teil bestehen hinsichtlich der Kriterien Überlappungen zu anderen Regelungen, zB im Fall der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts mit Art 23 GRCh. Verbotene Anknüpfungen an Rasse oder Religion berühren grundlegende Werte. In der Praxis von großer Bedeutung ist das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Alters, da im Arbeits- und Sozialrecht oder im Beamtenrecht das Alter oftmals eine Rolle spielt.422 Benachteiligungen dürfen weder zu Lasten alter noch zu Lasten junger Menschen gehen. In dem – wegen seiner methodisch fragwürdigen Begründung – umstrittenen Urteil Mangold hat der EuGH dem sekundärrechtlichen Diskriminierungsverbot Drittwirkung in privatrechtlichen Arbeitsverhältnissen zuerkannt.423

_____ 415 EuGH, Rs C-161/96 – Südzucker, Rn 31. 416 Grabenwarter EnzEuR 2/Schmahl § 15 Rn 22 ff. 417 Merten/Papier/Kugelmann HGR VI/1 § 160 Rn 44. 418 EuGH, Rs C-176/12 – Association de médiation sociale, Rn 47; (GK) Rs C-414/16 – Egenberger, Rn 76. 419 EuGH (GK), Rs C-414/16 – Egenberger, Rn 77; Jarass GRCh Art 21 Rn 4; Streinz/Streinz Art 21 GRCh Rn 6. 420 Merten/Papier/Kugelmann HGR VI/1 § 160 Rn 66. 421 EuGH (GK), Rs C-414/16 – Egenberger, Rn 47. 422 EuGH, Rs C-411/05 – Palacios de la Villa, Rn 64 f. 423 EuGH, Rs C-144/04 – Mangold, Rn 75. Dieter Kugelmann

IV. Gewährleistungsgehalte | 345

Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit (Art 21 II 141 GRCh) ist weitgehend deckungsgleich mit Art 18 AEUV.424 Aufgrund des ausdrücklichen Verweises auf die Verträge in Art 21 II GRCh und des Art 52 II GRCh gehen speziellere Rechte vor. Dies gilt für die Grundfreiheiten ebenso wie für Rechte aus der Unionsbürgerschaft.425 Die Gleichheit von Frauen und Männern ist nach Art 23 GRCh in allen Berei- 142 chen sicherzustellen. Das spezielle Diskriminierungsverbot geht damit über das Recht auf gleiches Entgelt des Art 157 AEUV hinaus. Der EuGH richtet seine Aufmerksamkeit besonders auf mittelbare Diskriminierungen.426 Die Zielsetzung, die Gleichheit sicherzustellen, umfasst die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten.427 Die Regelung gewährt ein subjektives Recht, entfaltet aber auch weitere Schutzwirkungen.428 Vermittelt über das Sekundärrecht, zB die Richtlinie über die Gleichbehandlung 2006/54,429 unterliegen auch die Mitgliedstaaten weitreichenden Verpflichtungen. Aufgrund der schon bestehenden Rechte und Pflichten führt Art 23 GRCh kaum zu einer wesentlichen Erweiterung der Schutzgehalte des Unionsrechts.430

c) Gleichheitsrechte bestimmter Personengruppen (Art 24, 25, 26 GRCh) Auf Personengruppen mit spezifischen Interessen und Bedürfnissen sind die 143 Regelungen der Art 24 bis 26 GRCh ausgerichtet. Der objektiv-rechtliche Grundsatz des Art 22 GRCh enthält einen allgemeinen Achtungsanspruch gegenüber der Union.431 Die Rechte älterer Menschen sind nach Art 25 GRCh ebenfalls zu achten, ohne dass hinsichtlich dieser Personengruppe Teilhabe- oder Leistungsrechte bestehen, die über das Verbot der Altersdiskriminierung des Art 21 I GRCh hinausgehen. Die Rechte der Kinder gründen auf der Kinderschutz-Konvention von 1989,432 144 deren Schutzniveau gemäß Art 53 GRCh nicht unterschritten werden darf. Das Kind hat einen grundrechtlichen Anspruch auf Schutz und Fürsorge, dem entsprechende Pflichten von Union und Mitgliedstaaten gegenüberstehen.433 Darüber hinaus enthält die Regelung des Art 24 II GRCh eine Verpflichtung privater Einrichtungen. Darin kann − nach allerdings umstrittener Auffassung − eine ausdrücklich angeordnete

_____ 424 425 426 427 428 429 430 431 432 433

Streinz/Streinz Art 21 Rn 8. Jarass GRCh Art 21 Rn 37. EuGH, Rs 96/80 – Jenkins, Rn 13; Rs 170/84 – Bilka, Rn 29 f. Streinz/Streinz Art 23 GRCh Rn 5. Stern/Sachs/Nußberger Art 23 GRCh Rn 65 ff. ABl 2006 L 204/23. Heselhaus/Nowak/Odendahl § 44 Rn 101. Frenz Hdb 4 Rn 3341. BGBl 1992 II 122. Calliess/Ruffert/Kingreen Art 24 GRCh Rn 3; Schwarze/Ross Art 24 GRCh Rn 1.

Dieter Kugelmann

346 | § 4 Grundrechte

unmittelbare Drittwirkung gesehen werden.434 Das Kind kann jedenfalls aufgrund des Art 24 GRCh Teilhabe und die Erfüllung der Schutzpflichten einfordern.435 Allerdings erweitert Art 24 GRCh die Kompetenzen der EU nicht (Art 51 II GRCh) und begründet kein Recht auf kinderbezogene soziale Leistungen.436

4. Soziale Rechte 145 In den sozialen Grundrechten der Art 27 bis 38 GRCh schlagen sich Werte des Art 2 EUV

nieder, wie Gerechtigkeit oder Solidarität. Zunächst beziehen sich die Art 27 bis 33 der Charta auf unterschiedliche Aspekte im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Element der Arbeit.437 Gewährleistet sind das Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen (Art 27 GRCh), das Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen (Art 28 GRCh) sowie das Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst (Art 29 GRCh). Garantiert sind weiter der Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung (Art 30 GRCh) sowie gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen (Art 31 GRCh). Der Art 32 GRCh statuiert das Verbot der Kinderarbeit und den Schutz der Jugendlichen am Arbeitsplatz. Die Regelung des Art 33 GRCh widmet sich der Verbindung von Familien- und Berufsleben. In den Artikeln 34 bis 38 GRCh gelangt ein gemeinsames Solidaritätsverständ146 nis in der EU zum Ausdruck. Der Art 34 GRCh garantiert soziale Sicherheit und soziale Unterstützung, Art 35 GRCh hat den Gesundheitsschutz zum Gegenstand und Art 36 GRCh regelt den Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse. Der Solidaritätstitel endet mit Regelungen zum Umwelt- und zum Verbraucherschutz in Art 37 und 38 GRCh. Die Regelungen entfalten unterschiedliche Rechtswirkungen, sie enthalten 147 aber auch Individualrechte.438 Auf den Verpflichteten und die Rechtsfolge des eingeräumten Rechts ist zu achten, um die Wirkungen konkretisieren zu können. Einschränkungen richten sich nach Art 52 GRCh. Zielbestimmungen für das Handeln der EU beinhalten etwa Art 37 und 38 GRCh. In den Fällen Laval439 und Viking440 verwendete der EuGH Art 28 GRCh als Be148 kräftigung und Absicherung bestehender Kollektivrechte. Den Schutz vor unge-

_____ 434 Merten/Papier/Kugelmann HGR VI/1 § 160 Rn 75; Heselhaus/Nowak/Marauhn § 41 Rn 17; dagegen für mittelbare Drittwirkung Meyer/Hölscheidt Art 24 Rn 19; Grabenwarter EnzEuR 2/Schmahl § 15 Rn 105. 435 Calliess/Ruffert/Kingreen Art 24 GRCh Rn 5; Grabenwarter EnzEuR 2/Schmahl § 15 Rn 102 ff; Streinz/Streinz Art 24 GRCh Rn 6. 436 Merten/Papier/Kugelmann HGR VI/1 § 160 Rn 74. 437 Meyer/Rudolf Vor Art 27 GRCh Rn 32. 438 Meyer/Rudolf Vor Art 27 GRCh Rn 33; Streinz/Streinz Vor Art 27 GRCh Rn 3. 439 EuGH, Rs C-341/05 – Laval, Rn 3. 440 EuGH, Rs C-438/05 – Viking, Rn 44. Dieter Kugelmann

IV. Gewährleistungsgehalte | 347

rechtfertigter Entlassung nach Art 30 GRCh hat er auch Schwangeren mit befristeten Arbeitsverträgen zuerkannt.441 Das Recht auf Gleichbehandlung in Bezug auf soziale Sicherheit, Sozialhilfe und Sozialschutz wurde zu Gunsten langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger auch unter Rückgriff auf Art 34 GRCh erörtert.442 Menschen mit Behinderung sind durch die völkerrechtliche Konvention von 149 2008 geschützt,443 an die Art 26 GRCh anknüpft. Diskriminierungen wegen einer Behinderung sind bereits nach Art 21 I GRCh verboten, so dass Art 26 GRCh ergänzend auf die soziale Teilhabe behinderter Menschen sowie ihre berufliche Eingliederung gerichtet ist.444 Verpflichtet ist die Union.445 Allerdings folgt aus der Regelung nicht die Verpflichtung zum Ergreifen einer bestimmten Maßnahme, weil sie zur Entfaltung voller Wirksamkeit der Konkretisierung bedürftig ist.446

5. Bürgerrechte Die Bürgerrechte der Art 39 ff GRCh berechtigen überwiegend die Unionsbürgerin- 150 nen und Unionsbürger, sie sichern ihren Bürgerstatus.447 Die Unionsbürgerschaft nach Art 20 AEUV bildet das grundlegende Rechtsverhältnis des Einzelnen zur Union.448 Die Grundrechte der Art 39 ff GRCh sind unmittelbar anwendbar. Ansatzpunkt für die Rechtsprechung sind oftmals sekundärrechtliche Regelungen über das Freizügigkeitsrecht wie die Richtlinie 2004/38449 oder über die Rechtspositionen von Drittstaatsangehörigen. Im Hinblick auf die Aberkennung des aktiven Wahlrechts hat der EuGH eine Verletzung des Wesensgehalts von Art 39 GRCh als möglich angesehen, die Aberkennung bürgerlicher Ehrenrechte im Strafverfahren aber als grundsätzlich zulässig anerkannt.450 Unter dem Titel Bürgerrechte sind auch Rechte gegenüber der Verwaltung 151 aufgeführt.451 Das Recht auf eine gute Verwaltung steht jeder Person zu (Art 41

_____ 441 EuGH, Rs C-109/00 – Brandt-Nielsen, Rn 30 ff. 442 EuGH, Rs C-571/10 – Belvedere, Rn 81. 443 BGBl 2008 II 1419. 444 Stern/Sachs/Mann Art 26 GRCh Rn 18 ff. 445 Calliess/Ruffert/Kingreen Art 26 GRCh Rn 4; Frenz Hdb 4 Rn 3531; Streinz/Streinz Art 26 GRCh Rn 8; aA vdGroeben/Schwarze/Hatje/Lemke Art 26 GRCh Rn 5: auch die Mitgliedstaaten bei Durchführung des Unionsrechts (Art 51 I GRCh). 446 EuGH, Rs C-356/12 – Glatzel, Rn 78. 447 Merten/Papier/Magiera HGR VI/1 § 161 Rn 2. 448 Ehlers/Kadelbach S 648 ff; für die Unionsbürgerschaft als Ansatzpunkt für Grundrechtsgewährleistung vBogdandy/Kottmann/Antpöhler/Dickschen/Hentrei/Smrkolj ZaöRV (72) 2012, 45 (58) und dies CMLRev 2012, 489. 449 ABl 2004 L 158/77. 450 EuGH (GK), Rs C-650/13 – Delvigne, Rn 48, dazu Gundel EuR 2016, 176. 451 Merten/Papier/Magiera HGR VI/1 § 161 Rn 28. Dieter Kugelmann

348 | § 4 Grundrechte

GRCh) und führt zu Ansprüchen auf ein faires Verwaltungsverfahren.452 Es richtet sich gegen die Stellen der EU, nicht gegen die Mitgliedstaaten.453 In Verwaltungsverfahren, die von der Union durchgeführt werden, verfügen die Betroffenen und Beteiligten über Rechte auf Anhörung, Akteneinsicht oder Begründung. Das allen in der Union wohnhaften Personen zur Verfügung stehende Recht auf Zugang zu Dokumenten verbürgt einen Informationsanspruch über das Verwaltungsverfahren hinaus (Art 42 GRCh) (so Rn 26).454

6. Justizielle Rechte, insbesondere effektiver Rechtsschutz 152 Das Gebot des effektiven Rechtsschutz nach Art 47 GRCh dient dem Schutz der Trä-

ger von Rechten, die durch das Unionsrecht gewährt werden, und der Durchsetzung des Unionsrechts.455 Der EuGH hat die Rechtsschutzgarantie456 als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts entwickelt.457 Diese umfangreiche Rechtsprechung führt er auf der Grundlage von Art 47 GRCh weiter. Sie gilt gegenüber den Organen der Union und den Mitgliedstaaten, wenn diese das Unionsrecht durchführen (Art 51 I GRCh). Gegenstand des Schutzes können sämtliche durch das Unionsrecht garantierte Rechte sein, die ein subjektives Recht verleihen.458 Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung aus dem Grundsatz, dass die Ausübung 153 der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden darf (Grundsatz der Effektivität), zahlreiche Entfaltungen effektiven Rechtsschutzes abgeleitet.459 Die Mitgliedstaaten können unionsrechtlich verpflichtet sein, Rechtsbehelfe zur Verfügung zu stellen, die dem Unionsrecht zum Durchbruch verhelfen.460 Dies kann auch Schadensersatzansprüche betreffen.461 Ein ausreichender vorläufiger Rechtsschutz muss gewährleistet sein.462 Rechtsschutz muss durch den Mitgliedstaat im Fall des Vollzugs von

_____ 452 Calliess/Ruffert/Ruffert Art 41 GRCh Rn 10 ff; Streinz/Streinz Art 41 GRCh Rn 5. 453 EuGH, verb Rs C-141/12 u C-372/12 – Y.S. u. M. u. S. / Minister voor Immigratie; dazu Gundel EuR 2015, 80. 454 Merten/Papier/Magiera HGR VI/1 § 161 Rn 38 ff. 455 Jarass GRCh Art 47 Rn 6. 456 EuGH (GK), Rs C-362/14 – Schrems, Rn 95. 457 EuGH, Rs 222/84 − Johnston, Rn 18, 19; Rs 222/86 − Heylens, Rn 14; Rs C-424/99 − Kommission / Österreich, Rn 45; Rs C-50/00 P − Unión de Pequeños Agricultores / Rat, Rn 39; Rs C-467/01 − Eribrand, Rn 61. 458 Charta Erläuterungen, ABl 2007 C 303/29, Jarass GRCh Art 47 Rn 6. 459 Hier gründet auch der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch seit EuGH, Rs C-6/90 − Francovich. 460 EuGH, Rs C-432/05 − Unibet. 461 EuGH, Rs C-453/99 – Courage. 462 EuGH, Rs C-213/89 − Factortame. Dieter Kugelmann

V. Grundrechtsschranken und Schutzniveausicherung (Art 52, 53 GRCh) | 349

Unionsrecht in gleicher Weise wie im Fall des Vollzugs von nationalem Recht gewährt werden.463 Der auf Effektivität gerichtete Ansatz des EuGH führte schon in seiner älteren 154 Rechtsprechung zur Gewährleistung von Verfahrensgarantien. Dies wird mit Art 47 II GRCh ausdrücklich garantiert.464 Parallele Gewährleistungen für das Verwaltungsverfahren bietet Art 41 GRCh.465 Die Rechtsprechung des EGMR zu Art 6 EMRK, die den Grundsatz auf ein faires Verfahren betrifft, ist zu berücksichtigen.466 Rechte auf faires und öffentliches Verfahren vor Gericht oder rechtliches Gehör werden durch Art 47 II GRCh gesichert.467 Aus der Regelung folgt aber etwa auch die Pflicht einer mitgliedstaatlichen Behörde, die Gründe für das Verbot der Einreise gegenüber dem Drittstaatsangehörigen offenzulegen.468 Eingriffe in Grundrechte kommen nach der Kompetenzordnung der EU gerade 155 auch im Bereich der Justiz- und Innenpolitik in Betracht, zumal mit Europol, Eurojust, OLAF und FRONTEX hier Agenturen mit teils weitreichenden Befugnissen ausgestattet sind.469 Dies gilt insbesondere auch für das Europäische Strafrecht.470 Hier kommen die justiziellen Grundrechte zum Tragen. Die Anwendung des Art 50 GRCh, der den Grundsatz ne bis in idem festhält, 156 wirft Schwierigkeiten auf.471 Dies spiegelt sich in der Rechtsprechung des EuGH, die etwa innerstaatliche Strafnormen betrifft, die zur Durchsetzung des Unionsrechts beitragen.472 Wichtige Entscheidungen des EuGH zum Grundrechtsschutz sind gerade auch zu Art 50 GRCh ergangen. Im Urteil Åkerberg Fransson, das wegen seiner Aussagen zu Art 51 GRCh umstritten ist (so Rn 68 ff), stellt der EuGH klar, dass steuerliche und strafrechtliche Sanktionen kombiniert werden können.473 V. Grundrechtsschranken und Schutzniveausicherung (Art 52, 53 GRCh) V. Grundrechtsschranken und Schutzniveausicherung (Art 52, 53 GRCh) Die Grundrechte der Charta enthalten keine jeweils eigenen Schrankenbestimmun- 157 gen.474 Einschränkungen der Grundrechte der Charta sind dem einheitlichen Re-

_____ 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473 474

EuGH, Rs C-46/93 – Brasserie du Pêcheur, Rn 74. EuGH, Rs C-71/14 – East Sussex, Rn 52. Streinz/Streinz Art 41 GRCh Rn 5. Meyer/Eser Art 47 GRCh Rn 26 f. Jarass GRCh Art 47 Rn 31 ff. EuGH, Rs C-300/11 – ZZ, Rn 63 ff; dazu Bull DVBl 2013, 1318. Kugelmann FS Thomas Würtenberger, 2013, S 517. Böse EnzEuR 9/Gaede S 101; Ziegler/Huber/Zimmermann S 11. Gaede NJW 2014, 299; Lenaerts EuR 2012, 13; näher Meyer/Eser Art 50 GRCh Rn 6 ff. Meyer/Eser Art 50 GRCh Rn 11 ff. EuGH, Rs C-617/10 – Åkerberg Fransson, Rn 34. Zur Rechtsprechung des EuGH Merten/Papier/Hilf HGR VI/1 § 164 Rn 9 ff.

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350 | § 4 Grundrechte

gime des Art 52 GRCh unterworfen.475 Der Art 52 GRCh beruht auf der Rechtsprechung des EuGH.476 Aus dieser Regelung kann ein Prüfungsschema für die Grundrechtsprüfung abgeleitet werden, das sich an der Vorgehensweise des EGMR und des BVerfG orientiert.477 Die Europäische Kommission hat einen Vorschlag unterbreitet, der diesen Ansatz bestätigt.478 Während die Formulierungen der einzelnen Grundrechtsvorschriften weitge158 hend gleich geblieben sind, hat der Wortlaut der Art 51 bis 53 GRCh in der Fassung vom 12. Dezember 2007 Änderungen gegenüber der ursprünglichen Fassung erfahren.479 Insbesondere wurde Art 52 um die Absätze 4 bis 7 ergänzt. Eine Besonderheit im Vergleich zu einer Grundrechtsprüfung nach dem GG ist 159 die Erörterung der Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte gemäß Art 51 GRCh.480 Der EuGH prüft die Anwendbarkeit der GRCh und dann die Eröffnung des Schutzbereiches.481 Dies trennt er nicht immer eindeutig. Das anwendbare Grundrecht untersucht er darauf, ob es sich um ein absolutes Recht handelt, das keinen Einschränkungen zugänglich ist, wie etwa das Folterverbot. 482 Die Eröffnung des Schutzbereiches erörtert er anhand der Rechtsprechung des EGMR zu dem vergleichbaren Recht der EMRK (Art 52 III GRCh).483 Allerdings geht der EuGH nicht immer systematisch vor, sondern setzt fallbezogen an bestimmten Gesichtspunkten an.484 Den Schwerpunkt legt er auf die Verhältnismäßigkeit und weniger auf Fragen von Schutzbereich und Eingriff.485 Aus der Systematik der GRCh lässt sich dennoch ein Prüfungsschema für Frei160 heitsrechte ableiten:486 (1) Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte (Art 51 GRCh) (2) Eröffnung des Schutzbereiches (3) Absolutes oder einschränkbares Recht (4) Abgleichen mit der EMRK (5) Eingriff (6) Ist der Eingriff gesetzlich vorgesehen?

_____ 475 Grabenwarter EnzEuR 2/Cornils § 5 Rn 14 ff. 476 Lenaerts EuR 2012, 7. 477 Streinz/Streinz/Michl Art 52 GRCh Rn 3 ff; Calliess/Ruffert/Kingreen Art 52 GRCh Rn 45. 478 Mitteilung vom 19.10.2010, KOM(2010) 573, S 6; dazu Wehlau/Lutzhöft EuZW 2012, 45 (46). 479 Merten/Papier/Niedobitek HGR VI/1 § 159 Rn 13. 480 Jarass GRCh Art 52 Rn 1. 481 EuGH, Rs C-206/13– Siragusa, Rn 33 verneint die Zuständigkeit nach Art 51 GRCh und kommt nicht mehr zum Schutzbereich. 482 So auch die Mitteilung der Kommission, KOM(2010) 573, S 6. 483 EuGH, Rs C-399/11 – Melloni, Rn 49 f. 484 Kritisch Grabenwarter EnzEuR 2/Cornils § 5 Rn 13. 485 Grabenwarter EnzEuR 2/Gärditz § 4 Rn 15. 486 Jarass GRCh Art 52 Rn 1 ff; Streinz/Streinz/Michl Art 52 GRCh Rn 3 ff. Dieter Kugelmann

V. Grundrechtsschranken und Schutzniveausicherung (Art 52, 53 GRCh) | 351

(7) Verhältnismäßigkeit (im Verständnis des EuGH)487 – Notwendigkeit des Eingriffs zur Erreichung anerkannter Zielsetzungen – Erforderlichkeit – Achtung des Wesensgehaltes Der Sicherung des Wesensgehalts eines Grundrechts kommt eigenständige Bedeu- 161 tung zu (Art 52 I 1 GRCh). Dem trägt der EuGH Rechnung, indem er den Wesensgehalt eigenständig prüft und eine Verletzung mit Rechtsfolgen belegt.488 Der EuGH hat festgestellt, dass eine Regelung, die es den Behörden gestattet, generell auf den Inhalt elektronischer Kommunikation zuzugreifen, den Wesensgehalt von Art 7 GRCh verletzen kann.489 Fehlt ein Rechtsbehelf vollständig, der dem Bürger Zugang zu seinen personenbezogenen Daten oder deren Berichtigung bzw Löschung ermöglicht, verstößt dies gegen den Wesensgehalt von Art 47 GRCh.490 Die Verweigerung des aktiven Wahlrechts kann gegen den Wesensgehalt des Art 39 GRCh verstoßen.491 Die Regelung des Art 53 GRCh sichert das aufgrund des Unions- und Völker- 162 rechts bereits bestehende Schutzniveau im Sinne einer Meistbegünstigungsklausel.492 Der Grundrechtsberechtigte soll durch das Inkrafttreten der GRCh keine Einbußen seiner Rechtsstellung erleiden. Die GRCh zielt nicht auf Rechtsverkürzung, sondern auf Rechtserweiterung.493 Dabei ist der Vorrang des Unionsrechts zu achten.494 Im Verhältnis zu nationalen Grundrechten gilt Art 51 GRCh, so dass in Fällen paralleler Anwendung das Unionsgrundrecht vorgeht.495 Im Verhältnis zu völkerrechtlich gewährleisteten Grundrechten erfolgt eine kumulative Anwendung.496 Im Verhältnis zur EMRK geht Art 52 III 1 GRCh als lex specialis vor.497 Das Missbrauchsverbot des Art 54 GRCh ist im Sinne der Wahrung einer wehr- 163 haften Demokratie zu verstehen.498 Eine Prüfung der Rechtfertigung nach den all-

_____ 487 Kritisch Weiß EuZW 2013, 290 ff; eine Anhebung der Kontrolldichte durch den EuGH diagnostiziert vDanwitz EuGRZ 2013, 255. 488 Überblick über die Rechtsprechung bei Streinz/Streinz/Michl Art 52 GRCh Rn 15. 489 Bejaht in EuGH (GK), Rs C-362/14 – Schrems, Rn 94; verneint in EuGH (GK), Rs C-293/12 und C594/12 – Digital Rights Ireland, Rn 39. 490 EuGH (GK), Rs C-362/14 – Schrems, Rn 95. 491 EuGH (GK), Rs C-650/13 – Delvigne, Rn 48, im konkreten Fall verneint. 492 Borowsky/Meyer Art 53 GRCh Rn 14; Calliess JZ 2009, 120; aA Kingreen JZ 2013, 808. 493 EuGH, Gutachten 2/13 – Beitritt zur EMRK, Rn 189. 494 EuGH, Rs C-399/11 − Melloni, Rn 58. 495 Calliess/Ruffert/Kingreen Art 53 GRCh Rn 5; Kingreen JZ 2013, 806 f; Streinz/Streinz/Michl Art 53 GRCh Rn 4; aA Jarass GRCh Art 53 Rn 1. 496 Meyer/Borowsky Art 54 GRCh Rn 14; Jarass GRCh Art 53 Rn 14. 497 Streinz/Streinz/Michl Art 53 GRCh Rn 5. 498 Meyer/Borowsky Art 54 GRCh Rn 8. Dieter Kugelmann

352 | § 4 Grundrechte

gemeinen Grundrechtsschranken geht vor.499 Zunächst ist die vom Schutzbereich erfasste Tätigkeit darauf zu untersuchen, ob sie nach Art 52 I GRCh gerechtfertigt ist. Die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs wird regelmäßig Gelegenheit bieten, eine abschließende Bewertung vorzunehmen. Die Auslegungsregel des Art 54 GRCh kommt lediglich ergänzend zum Zuge. VI. Gerichtlicher Grundrechtsschutz VI. Gerichtlicher Grundrechtsschutz 164 Im Mehrebenensystem stellt sich als Folge der parallelen Geltung der Grundrechte

die Frage, wie weit die Zuständigkeit der Gerichte für den Schutz der unterschiedlichen Grundrechtsordnungen reicht.500 Die Zuständigkeit der Gerichte folgt dem Anwendungsbereich der jeweiligen Grundrechtsvorschrift (so Rn 40 ff). Das allgemeine Rangverhältnis von Verfassungs- und Unionsrecht, das immer wieder Gegenstand der Diskussion ist,501 prägt das Verhältnis der Grundrechtsbestimmungen und ihre gerichtliche Kontrolle. Anknüpfungspunkt ist also die Anwendbarkeit des einschlägigen Grundrechts, nicht das Territorium, auf dem die rechtlichen Wirkungen eintreten. Da Überlappungen der Reichweite von Grundrechten möglich sind, können die Rechtsprechungen von EuGH, EGMR und BVerfG in Konkurrenz geraten. Dieses allgemeine Problem502 erfährt im Bereich der Grundrechte eine besondere Zuspitzung.503 Konkurrenz bedeutet dabei nicht notwendig Konflikt, sondern kann auch zu Harmonisierung führen.504 Das Verhältnis der Grundrechtsordnungen zueinander kann unterschiedlichen 165 Modellen folgen.505 Nach dem Modell der Alternativität ist auf einen Sachverhalt nur eine Grundrechtsordnung anwendbar. Diesen Ansatz, der auch als Trennungsthese bezeichnet wird, 506 scheint das Bundesverfassungsgericht zu verfolgen. 507 Nach dem Modell der Kumulation wird ein Sachverhalt an mehreren Grundrechten gemessen. Diesen Ansatz scheint der EuGH zu verfolgen, wenn er hervorhebt, dass die innerstaatlichen Behörden und Gerichte die nationalen Grundrechte an-

_____ 499 500 sim. 501 502 503 504 505 506 507 481.

Streinz/Streinz/Michl Art 54 GRCh Rn 2. Voßkuhle NVwZ 2010, 1; Landau/Trésoret DVBl 2012, 1329 ff; s Schilling passim; Wiethoff pasPolzin JuS 2012, 1 ff; Oppermann/Classen/Nettesheim § 10. Oeter VVDStRL (66) 2007, 362. vDanwitz EuGRZ 2013, 253 (259). Merli VVDStRL (66) 2007, 392 (397). Augsberg DÖV 2010, 153 f; Franzius EuGRZ 2015, 139; Kischel/Masing/Schoch S 59. Thym NVwZ 2013, 892. BVerfG, 1 BvR 256/08, BVerfGE 125, 260 – Vorratsdatenspeicherung, Rn 186; Masing JZ 2015,

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VI. Gerichtlicher Grundrechtsschutz | 353

wenden können, falls das Handeln des Mitgliedstaates nicht vollständig vom Unionsrecht bestimmt wird.508 Das Konzept der Kumulation von Grundrechten erhält den innerstaatlichen Ge- 166 richten Zuständigkeitsspielräume, da aber der EuGH für die Auslegung des Unionsrechts zuständig ist, hat er die Einheit und Wirksamkeit zu sichern und kann letztlich die Reichweite des Unionsrechts festlegen.509 Dennoch entspricht das Konzept der Kumulation dem generellen Verhältnis des Unionsrechts zur innerstaatlichen Rechtsordnung.510 Die parallele Geltung der Grundrechtsordnungen kann zu einer parallelen Anwendung im Einzelfall führen.511 Dies bestätigt Art 53 GRCh.512 Dieser hält dann die Lösung bereit, dass die Unionsgrundrechte erhalten bleiben müssen. Eine materiell-rechtliche Doppelung verhindert zwar Schutzlücken im Mehrebenensystem. Sie kann aber zu schwierigen Abwägungen führen, wenn hinter Gemeinwohlinteressen ebenfalls Grundrechtspositionen stehen.513 Die Unionsgrundrechte bestimmen über die Reichweite mitgliedstaatlicher Spielräume mit, so dass eine alternative Trennung kaum möglich ist.514 Die Kumulation hat allerdings prozessrechtliche Ungereimtheiten zur Folge,515 die im Verhältnis der Gerichte so weit wie möglich zu harmonisieren sind.516 Dies ist in einer präföderalen Rechtsordnung rechtlich auszuhalten. Überschneidungen der Anwendungsbereiche sind unvermeidbar.517 Eine prag- 167 matische Lösung wäre eine Zurückhaltung des EuGH.518 Diese dürfte in genereller Weise nicht zu erwarten sein.519 Die Rückbindung der Eröffnung des Anwendungsbereiches an die Wirksamkeit des Unionsrechts bietet hier Ansatzpunkte (so Rn 41). Dabei ist zu beachten, dass die Rechtsprechung des EuGH eine Sicherung der Grundrechte und der von ihnen gewährleisteten Werte in allen Mitgliedstaaten der EU bewirkt. Der Blick richtet sich auf die möglichen Gestaltungen eines europäi-

_____ 508 EuGH, Rs C-617/10 – Åkerberg Fransson, Rn 29. 509 Ohler NVwZ 2013, 1438; Thym NVwZ 2013, 895. 510 Darstellend und kritisch Kingreen JZ 2013, 804, 806; Volkmann FS Hufen, 2015, S 127 ff. 511 Griebel DVBl 2014, 204 (208). Britz EuGRZ 2015, 280, spricht bei Annahme einer grundsätzlichen Trennung davon, dass sich die Anwendungsbereiche eng aneinanderschieben können. 512 Calliess JZ 2009, 119; Matz-Lück/Hong/Sauer S 43. 513 Kingreen JZ 2013, 810; Masing JZ 2015, 484; Marsch S 292. 514 Marsch S 296; vgl auch Britz EuGRZ 2015, 275 (281), die zwar die Alternativität vertritt, aber die Rolle des Unionsgesetzgebers anerkennt. 515 Augsberg DÖV 2010, 153 (154); Masing JZ 2015, 484; Kischel/Masing/Schoch S 60; kritisch Knauff DVBl 2010, 533 (534 ff). 516 Allgemein Matz-Lück/Hong/Sauer S 40 ff. 517 Britz EuGRZ 2015, 280; Frenzel Der Staat 2014, 1 (11 ff); Calliess/Ruffert/Kingreen Art 51 GRCh Rn 15; Thym JZ 2015, 53 (55 f). 518 Wollenschläger EuZW 2014, 579; Streinz/Streinz/Michl Art 51 GRCh Rn 29. 519 Starke DVBl 2017, 727. Dieter Kugelmann

354 | § 4 Grundrechte

schen Grundrechtsdiskurses.520 Rechtsprechungskonkurrenz kann auch zur Förderung des Diskurses führen.521 Ziel des Diskurses sollte die Stärkung der Grundrechte als Wertesicherungsgarantien in der EU sein.

1. Grundrechtsschutz durch den Gerichtshof der EU 168 Der gerichtliche Schutz der EU-Grundrechte obliegt letztlich dem Gerichtshof der EU

als Teil seiner Aufgabe der Wahrung des Unionsrechts (Art 19 I 2 EUV).522 Der Gerichtshof der EU besteht aus dem Gerichtshof (EuGH), dem Gericht und den Fachgerichten (Art 19 I 1 AEUV). Er arbeitet dabei, wie auch sonst im Rahmen seiner Zuständigkeiten, mit den Gerichten der Mitgliedstaaten zusammen.523 Dieses Kooperationsverhältnis findet seinen deutlichsten Ausdruck im Vorabentscheidungsverfahren des Art 267 AEUV.524 Der Gerichtshof sieht in der Kompetenzverteilung den entscheidenden Gesichtspunkt für seine Zuständigkeit zur Prüfung von Grundrechten. Die parallele Geltung der Grundrechtsordnungen lässt den innerstaatlichen Gerichten Zuständigkeitsspielräume, allerdings bleibt der EuGH für die Auslegung des Unionsrechts zuständig und kann dergestalt die Reichweite des Unionsrechts festlegen.525 Der EuGH bestimmt über den Anwendungsbereich des Unionsrechts auch den Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte nach Art 51 GRCh.526

2. Grundrechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 169 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg stellt die Einhaltun-

gen der Verpflichtungen sicher, die den Vertragsstaaten der EMRK zukommen (Art 19 EMRK). Auf völkerrechtlicher Ebene einzigartig ist das Recht von Einzelnen auf Beschwerde unmittelbar zum EGMR nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges.527 Mit der Behauptung, der Vertragsstaat habe seine Menschenrechte verletzt, kann sich der Einzelne unmittelbar an den EGMR wenden und eine Entscheidung gegen den Vertragsstaat erwirken. Die Entscheidung des EGMR ist dem Grunde nach eine Feststellungsentscheidung inter partes, wirkt also nur für die Parteien des konkreten Rechtsstreits.528

_____ 520 Marsch S 303 ff; s auch Britz EuGRZ 2015, 281. 521 Oeter VVDStRL 66 (2007), 361 (388). 522 Merten/Papier/Haratsch HGR VI/1 § 165 Rn 2. 523 Allgemein Schroeder § 8 (in diesem Band) Rn 176 ff; Merten/Papier/Huber HGR VI/2 § 172. 524 EuGH, Gutachten 2/13 – Beitritt zur EMRK, Rn 176. 525 Marsch S 296f; Ohler NVwZ 2013, 1438; Thym NVwZ 2013, 895. 526 S Lenaerts EuGRZ 2015, 357, nach dem es Aufgabe des EuGH ist, Maßstäbe zu entwickeln, die dann im Einzelfall anzuwenden sind. 527 Merten/Papier/Klein HGR VI/1 § 150 Rn 5. 528 EGMR, Marcks – 6833/74 Rn 58. Dieter Kugelmann

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Die menschenrechtlichen Gewährleistungen der EMRK gelten inhaltlich auch 170 für die Europäische Union, da alle ihre Mitgliedstaaten auch Mitgliedstaaten der EMRK sind. Grundlage dieser Wirkung sind die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts, denen die EMRK als Erkenntnisquelle dient (so Rn 5, 10). Seitdem der EuGH seine Rechtsprechung zu den Grundrechten entwickelte, trat er in eine Verbindung zum EGMR. 529 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte prüft Rechtsakte der EU nicht anhand der EMRK, weil die EU kein Mitglied ist.530 Das Verhältnis der Gerichtshöfe bildet einen zentralen Baustein für den Beitritt der EU zur EMRK.531 Nach dem Gutachten des EuGH, mit dem der Entwurf des Übereinkommens verworfen wurde,532 bildet es allerdings nunmehr das zentrale Hindernis.533 Eine mittelbare Kontrolle sekundären Unionsrechts durch den EGMR kann 171 damit begründet werden, dass sich die Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen aus der EMRK nicht durch die Übertragung von Tätigkeitsfeldern auf die EU entziehen können.534 Jedoch sieht der EGMR selbst seine Gerichtsbarkeit insoweit als beschränkt an. In der Leitentscheidung Bosphorus hat er der Rechtsprechungshoheit des EuGH einen grundsätzlichen Vorrang eingeräumt, solange in der EU ein der EMRK vergleichbarer Grundrechtsschutz gewährleistet ist.535 Denn das Bestehen eines gleichwertigen Schutzes durch die EU-Grundrechte begründe die Vermutung, dass ein Vertragsstaat sich durch die Mitwirkung in der Union gerade nicht seinen Verpflichtungen aus der EMRK entziehe.536 Das Rechtssystem der Union stelle einen vergleichbaren Grundrechtschutz sicher, der in Kooperation zwischen EuGH und innerstaatlichen Gerichten prozessual durchsetzbar sei. 537 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte lässt dabei, wie auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Solange-Rechtsprechung, die generelle Vergleichbarkeit genügen, wenn nicht der Grundrechtsschutz offensichtlich mangelhaft ist. Die Kritik an dieser Konzeption befürchtet eine erhebliche Erschwerung des indi- 172 viduellen Rechtsschutzes, da ein Beschwerdeführer kaum eine offensichtliche, generelle Mangelhaftigkeit des EU-Grundrechtsschutzes begründen könne.538 Diese Kritik

_____ 529 Merten/Papier/Klein HGR VI/1 § 167. 530 EGMR, Matthews v the United Kingdom − 24833/94 (Große Kammer); dazu Busse NJW 2000, 1074; Cohen-Johnathan/Flauss RTDE (35) 1999, 638. 531 Gstrein ZEuS 2012, 445 (462 ff); Oeter VVDStRL (66) 2007, 361 (364). 532 EuGH, Gutachten 2/13 – Beitritt zur EMRK. 533 Streinz/Streinz Art 6 EUV Rn 19 f. 534 Haratsch/Schiffauer/Haratsch S 22. 535 EGMR, Bosphorus and Others v Irland – 45036/98 (Große Kammer); dazu Haratsch ZaöRV 2006, 927 ff; Heer-Reißmann NJW 2006, 191 ff; s auch Schohe EuZW 2006, 33 ff; in gleicher Sache EuGH, Rs C-84/95 – Bosphorus Hava Yollari Turizm ve Ticaret Anonim Şirketi/Irland. 536 EGMR, Bosphorus and Others v Irland – 45036/98 (Große Kammer), § 156. 537 EGMR, Bosphorus and Others v Irland – 45036/98 (Große Kammer), § 164. 538 Heer-Reißmann NJW 2006, 191 (194); Schohe EuZW 2006, 33 ff. Dieter Kugelmann

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ist aber unbegründet. Der Grundrechtsschutz auf der Ebene des Unionsrechts geht dem Regime der EMRK vor, weil eine effektive Sicherung der Grundrechte Teil der autonomen Unionsrechtsordnung ist.539 Dies entspricht dem Konzept, wonach die Beschwerde zum EGMR die Erschöpfung des Rechtsweges voraussetzt, also andere Rechtsschutzmöglichkeiten zuerst genutzt werden müssen. Eine Notankerfunktion des EGMR reicht aus, um den grundsätzlichen Geltungsanspruch der EMRK zu wahren.

3. Das Verhältnis zum Grundrechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht 173 Nach der Solange-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grund-

rechtsschutz im Kontext der Europäischen Union ist zunächst der EuGH (bzw das EuG) mit der Grundrechtskontrolle der Durchführung des Unionsrechts befasst.540 Solange die Gerichtsbarkeit der Europäischen Union einen angemessenen Grundrechtsstandard im Unionsrecht gewährleistet, nimmt das Bundesverfassungsgericht seine Jurisdiktionsgewalt hinsichtlich der Grundrechte des GG, die es sich allerdings vorbehält, nicht in Anspruch.541 In dem Urteil zum Vertrag von Lissabon hat das Bundesverfassungsgericht ein174 gehend zu Grund und Grenzen der europäischen Integration Stellung bezogen und sich eine zweifache Reservezuständigkeit gegenüber dem EuGH vorbehalten.542 Das BVerfG nimmt nicht nur eine Zuständigkeit zur verfassungsrechtlichen Kontrolle nach dem GG für sich in Anspruch, um Grenzüberschreitungen der EU bei der Inanspruchnahme von Zuständigkeiten zu prüfen (ultra-vires-Kontrolle), sondern auch um die Wahrung des unantastbaren Kerngehalts der Verfassungsidentität nach Art 23 I 3 iVm Art 79 III GG zu sichern (Identitätskontrolle).543 Das BVerfG hat in der Honeywell-Entscheidung seine skeptische Haltung allerdings relativiert, indem es klargestellt hat, dass es seine Gerichtsbarkeit nicht offensiv ausüben wird.544 Diese Rechtsprechung betrifft vorrangig die Ausübung von Gesetzgebungskompetenzen durch die Union und die Sicherung der nationalen Kompetenzen auch durch die Aufwertung von Bundestag und Bundesrat im Verfahren der europäischen Gesetzgebung.545 Im Hinblick auf den Grundrechtsschutz hält das BVerfG dem Grunde nach an der Solange-Rechtsprechung fest.546

_____ 539 EuGH, Gutachten 2/13 – Beitritt zur EMRK, Rn 169. 540 vMangoldt/Klein/Starck/Classen Art 23 GG Rn 48 ff; Sachs/Streinz Art 23 GG Rn 41 ff. 541 BVerfG, 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 − Solange II. 542 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 − Lissabon; Franzius DÖV 2008, 933. 543 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 – Lissabon, Rn 240. 544 BVerfG, 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 – Honeywell; dazu Karpenstein/Johann NJW 2010, 3405; Polzin JuS 2012, 1 (5); Proelß EuR 2011, 241. 545 S Classen JZ 2009, 881 ff; Gärditz/Hillgruber JZ 2009, 872 ff; Pache EuGRZ 2009, 285 ff; Ruffert DVBl 2009, 1197 ff; Schorkopf EuZW 2009, 718 ff; Terhechte EuZW 2009, 724 ff. 546 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 – Lissabon, Rn 191. Dieter Kugelmann

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Eine intensivere inhaltliche Auseinandersetzung mit Grundrechtsgehalten und 175 eine Neujustierung des Verhältnisses von BVerfG und EuGH im Grundrechtsbereich sind Ziele der Vorschläge, wonach das BVerfG die Unionsgrundrechte in seinen Prüfungsmaßstab miteinbeziehen sollte.547 Dies entspricht der Handhabung durch den österreichischen Verfassungsgerichtshof,548 die aber in ihren Ausprägungen rechtlichen Zweifeln wegen der Vorlagepflicht begegnet. Eine Verdopplung des Prüfprogramms ist zudem mit Art 93 I Nr 4a und Art 100 I GG schwer vereinbar, die als Prüfungsmaßstab das Grundgesetz vorgeben.549 Das BVerfG selbst verfolgt weiter die Linie, seine Zuständigkeiten zur Wahrung des GG weit zu verstehen. Im Fall des sekundären Unionsrechts folgt die Zuständigkeit für die Grund- 176 rechtskontrolle den allgemeinen Grundsätzen für das Verhältnis des Unionsrechts zum innerstaatlichen Recht.550 Die Grundrechtskonformität einer Richtlinie kontrolliert der EuGH anhand der Unionsgrundrechte.551 Das Bundesverfassungsgericht nimmt aber für sich in Anspruch, die Verfassungsmäßigkeit von innerstaatlichen Rechtsnormen, die Unionsrecht umsetzen, in vollem Umfang zu prüfen, soweit die Umsetzungs- und Handlungsspielräume des deutschen Normsetzers reichen. Da es bei Verordnungen keine Umsetzung und keine Handlungsspielräume gibt, betrifft diese Rechtsprechung zuvörderst Richtlinien, die durch ein innerstaatliches Gesetz oder eine gesetzesgleiche Regelung umgesetzt werden. Dieses deutsche Gesetz ist an den innerstaatlichen Grundrechten zu messen. Im Urteil zum Europäischen Haftbefehl hat daher das Bundesverfassungsgericht das deutsche Gesetz, das den Rechtsakt der EU umsetzte,552 für nichtig erklärt.553 Besonders deutlich hat das Bundesverfassungsgericht seinen Ansatz in der Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung herausgearbeitet.554 Dabei hat es die Einschätzung des Spielraumes bis an die äußerste Grenze vorangetrieben, um seine Zuständigkeit zur Grundrechtskontrolle zu begründen.555

_____ 547 Bäcker EuR 2015, 389 (410 ff); Franzius EuGRZ 2015, 139 (152); Griebel DVBl 2014, 204 (207). 548 Öst VerfGH, U 466/11, JBl 2012, 503 (504), legt fest, dass die Rechte der GRCh als verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte vor dem VerfGH geltend gemacht werden können. 549 Marsch S 301. 550 So auch öst VerfGH, U 466/11, JBl 2012, 503 (504). 551 Matz-Lück/Hong/Matz-Lück S 171. 552 Es handelte sich um einen Rahmenbeschluss nach dem alten EUV; diese Rechtsaktform steht seit dem Vertrag von Lissabon nicht mehr zur Verfügung. 553 BVerfG, 2 BvR 2236/04, BVerfGE 113, 273 – Europäischer Haftbefehl; dazu Tomuschat EuGRZ 2005, 453 ff; Vogel JZ 2005, 801 ff; vgl das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts vom 27.4.2005, Az P 1/05, EuR 2005, 494, in dem das polnische Umsetzungsgesetz für teilweise verfassungswidrig erklärt wurde. 554 BVerfG, 1 BvR 256/08, BVerfGE 125, 260 – Vorratsdatenspeicherung; dazu Roßnagel NJW 2010, 1238 ff; s Scholz DVBl 2014, 197 (202). 555 Bäcker EuR 2011, 103 ff. Dieter Kugelmann

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177

Der EuGH sieht demgegenüber eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte auch dann, wenn sie Gestaltungsspielräume beim normativen Vollzug von Richtlinien wahrnehmen.556 Ein Unterschied zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besteht zwar, er wirkt sich aufgrund des Art 53 GRCh allerdings im Ergebnis nicht wesentlich aus.557 Im Verhältnis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hebt das 178 Bundesverfassungsgericht die Geltung und Wirkung der EMRK in der deutschen Rechtsordnung hervor.558 Sie gilt zwar im Rang eines einfachen Gesetzes, es besteht aber eine besondere Berücksichtigungspflicht von Gerichten und Behörden.559 Darin liegt eine Ausprägung der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes.560 Die relative Offenheit der EMRK lässt unterschiedliche Konkretisierungen in unterschiedlichen Mitgliedstaaten zu.561 Im Hinblick auf die Auslegung einzelner Grundrechte streben die beiden Gerichte eine Harmonisierung an.562 Die EMRK soll auch als Auslegungshilfe der Grundrechte des GG dienen, ohne dass angesichts unterschiedlicher Normtexte eine vollständige Parallelisierung möglich wäre.563 In Fällen, bei denen es um Fotos von Caroline von Hannover ging, haben die beiden Gerichte unterschiedliche Auffassungen zur Abwägung zwischen der Pressefreiheit und dem Persönlichkeitsrecht Prominenter vertreten.564 Die Differenzen wurden in der Folge durch eine Neuausrichtung der Grundrechtsauslegung durch das Bundesverfassungsgericht und des darauf beruhenden Verständnisses des Kunsturhebergesetzes vermindert.565 Darin wird das grundsätzliche Bemühen der Gerichte um eine harmonisierende Interpretation im europäischen Grundrechtsgefüge deutlich. VII. Perspektiven VII. Perspektiven 179 Die Überführung des auf Richterrecht des EuGH beruhenden Grundrechtsschutzes

in den auf der normativen Grundlage der Grundrechtecharta beruhenden Grund-

_____ 556 EuGH, Rs C-540/03 – Familienzusammenführungsrichtlinie, Rn 104 f. 557 Matz-Lück EuGRZ 2011, 207 (208); Matz-Lück/Hong/Matz-Lück S 164. 558 BVerfG, 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307 – Görgülü; dazu Grupp/Stelkens DVBl 2005, 133 ff. 559 BVerfG, 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307 – Görgülü. 560 BVerfG, 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307 – Görgülü. 561 Masing JZ 2015, 478. 562 BVerfG, 2 BvR 589/79, BVerfGE 74, 358 (370) – Unschuldsvermutung; Broß EuGRZ 2004, 1 (14); Masing JZ 2015, 480. 563 BVerfG, 2 BvR 2365/09, BVerfGE 128, 326 − Sicherungsverwahrung, LS 2 und Abs Nr 88 f. 564 EGMR, Von Hannover v Germany – 59320/00 (Dritte Sektion), EuGRZ 2004, 404 = NJW 2004, 2647 = DVBl 2004, 1091; BVerfG, 1 BvR 653/96, BVerfGE 101, 361 – Caroline II. 565 BVerfG, 1 BvR 1602/07, BVerfGE 120, 180 – Caroline III; dazu Hoffmann-Riem NJW 2009, 20 ff; vgl Teichmann NJW 2007, 1917 ff, zur Rechtsprechung des BGH. Dieter Kugelmann

VII. Perspektiven | 359

rechtsschutz ist nicht bruchlos gelungen. Der Gerichtshof hat versucht, eingeführte Rechtsprechungslinien weiterzuführen und zugleich die Grundrechtecharta zu entwickeln. Dieser Prozess wurde durch die Reaktionen europäischer Verfassungsgerichte und gerade auch des BVerfG beeinflusst. In der Anwendung der materiellen Rechte der GRCh durch den EuGH kristalli- 180 sieren sich Schwerpunkte der Rechtsprechung heraus. Erhebliche Bedeutung hat die Sicherstellung des effektiven Rechtsschutzes nach Art 47 GRCh. Dies liegt daran, dass die Vorschrift einen weiten Anwendungsbereich hat und dass die Verantwortung der innerstaatlichen Gerichte gestärkt werden kann. Einen weiteren Schwerpunkt bildet der Grundrechtsschutz im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Der Grund dafür ist die besondere Grundrechtssensibilität der dort vereinten Politikfelder, da die Justiz- und Innenpolitik quantitativ wie qualitativ besonders eingriffsintensiv ist, etwa im Hinblick auf das Migrationsrecht.566 Eine Reihe von auch die Grundlagen berührenden Urteilen sind zu Privatheit und Datenschutz ergangen.567 Denn europäische Grundrechte, die grenzüberschreitende Kommunikation und Informationsübermittlung vor dem Hintergrund einschlägigen Sekundärrechts betreffen, verfügen potenziell über einen weiten Anwendungsbereich, auf den der EuGH sich stützen kann. Letztlich durchwirken die Grundrechte das gesamte Unionsrecht. Im Hinblick auf die Bindung an die Grundrechte stellt das Verhältnis des 181 EuGH zum Bundesverfassungsgericht eine besondere Herausforderung dar, weil das BVerfG die gefestigten formellen und materiellen Grundlagen des Schutzes der Grundrechte nach dem Grundgesetz nicht voreilig aufgeben will. Der EuGH wiederum kann seine Aufgabe des Grundrechtsschutzes nur erfüllen, wenn er insoweit Zuständigkeiten für sich in Anspruch nimmt. Diese Interessenkollision mündet in dem unterschiedlichen Verständnis des Art 51 GRCh. Inzwischen schälen sich in der Rechtsprechung des EuGH deutlichere Konturen der grundlegenden und umstrittenen Frage des Anwendungsbereiches nach Art 51 GRCh und insbesondere der Grundrechtsverpflichtung heraus. Dahinter stehen grundsätzliche Positionen des föderalen Verständnisses im Hinblick auf das Verhältnis von Union und Mitgliedstaaten und des Verhältnisses der Gerichte zueinander, so dass der Rechtsprechungsdiskurs auf Dauer fortgesetzt werden dürfte. Aus der Sicht der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger besteht ein dreifacher 182 Grundrechtsschutz.568 Die innerstaatlichen Grundrechte, die in der Bundesrepublik Deutschland vom Bundesverfassungsgericht ausgelegt und gewahrt werden, und die Menschenrechte der EMRK, für deren Schutz der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zuständig ist, gewährleisten den Individualschutz

_____ 566 S auch VfGH Österreich, U 466/11, JBl 2012, 503. 567 Marsch S 281. 568 Landau/Trésoret DVBl 2012, 1329; Ludwigs/Sikora JuS 2017, 385. Dieter Kugelmann

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gegen den Mitgliedstaat. Die Grundrechte der EU betreffen den Schutz im Zusammenhang der Anwendung des Unionsrechts. Die Grundrechte der EU sind selbst dreifach geschichtet. Sie speisen sich aus 183 den Rechtsquellen der Grundrechtecharta und der allgemeinen Rechtsgrundsätze, wobei die EMRK eine wichtige Rolle als Rechtserkenntnisquelle und Mindeststandard einnimmt. Eine dritte Schicht bilden grundrechtsgleiche Vorschriften des EUV und des AEUV wie die Diskriminierungsverbote. Die Unionsgrundrechte gewährleisten den Individualschutz gegen die EU und gegen den Mitgliedstaat, soweit er Unionsrecht durchführt. Sie verkörpern wesentlich die gemeinsamen Werte der Union. Auslegung und Anwendung der Unionsgrundrechte sind ein wesentlicher Baustein für die weitere Ausgestaltung und Fortentwicklung der Europäischen Union als Verbund von Verfassungsstaaten.

NEUE RECHTE SEITE Dieter Kugelmann

§ 5 Unionsrecht und nationales Recht | 361

Wolfgang Weiß

§ 5 Unionsrecht und nationales Recht § 5 Unionsrecht und nationales Recht Wolfgang Weiß § 5 Unionsrecht und nationales Recht https://doi.org/10.1515/9783110498349-005

Gliederungsübersicht I. Die Begründung der EU und ihres Rechts im nationalen Recht 1. Zur Verschränkung des nationalen und des Unionsrechts a) Zuordnung von unionalem und nationalem Recht: Pluralismus statt Hierarchie b) Verfassungsverbund und Verwaltungsverbund aa) Verfassungsverbund bb) Verwaltungsverbund c) Rechtsprechungsverbund und Vorabentscheidungsersuchen 2. Insbesondere: Die verfassungsrechtliche Integrationsermächtigung a) Übertragung von Hoheitsgewalt und Integrationsauftrag des GG b) Andere Mitgliedstaaten 3. Zur Rolle und Bedeutung nationaler Institutionen in der EU 4. Konsequenzen für Souveränität und Autonomie II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung 1. Vorbemerkung: Zur Kollision zwischen EU-Recht und nationalem Recht a) Zur Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Kollisionen b) Konsequenzen für die nationale Anwendung des EU-Rechts 2. Der Vorrang des EU-Rechts aus der Sicht des Unionsrechts a) Begründung eines absoluten Vorrangs in der Rechtsprechung des EuGH b) Legitimität und Grenzen des Vorrangs aa) Zur Überzeugungskraft und Legitimität der Argumentation bb) Unionale Grenzen des Vorrangs? cc) Systemische Mängel der Grundrechtsbeachtung in anderen Mitgliedstaaten c) Insbesondere: Maßstäblichkeit der EU-Grundrechte aa) Bindung der Mitgliedstaaten bei der Vollziehung des Unionsrechts bb) EU-Grundrechte und nationale Grundrechte: Verdrängung der nationalen Grundrechte oder parallele Anwendung? d) Insbesondere: Vorrang und GASP 3. Der Vorrang und die unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts a) Unmittelbare Anwendbarkeit als Voraussetzung des Anwendungsvorrangs b) Der Vorrang des Unionsrechts bei indirekten Kollisionen und in anderen Fällen 4. Der (begrenzte) Vorrang des EU-Rechts aus der Sicht der nationalen Rechtsordnung a) Deutschland aa) Akzeptanz und Grenzen (1) Grundsätzliche Akzeptanz (2) Grenzen des Vorrangs: Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle der Europäischen Integration (a) Allgemeines (b) Grundrechtskontrolle (c) ultra vires-Kontrolle: sog ausbrechende Rechtsakte (d) Kontrolle der Verfassungsidentität (e) Bewertung und Schlussfolgerung zum Verhältnis von Karlsruhe und Luxemburg bb) Insbesondere: Grundrechtsgeltung bei der Richtlinienumsetzung

Wolfgang Weiß https://doi.org/10.1515/9783110498349-005

Rn 1 1 1 22 23 28 30 37 37 49 53 57 69 69 69 77 85 87 91 91 99 117 118 121 128 135 141 144 148 153 153 153 153 159 159 171 180 185 192 199

362 | § 5 Unionsrecht und nationales Recht

5.

b) Andere Mitgliedstaaten: Überblick Der Anwendungsvorrang, seine Wirkungsweise und seine Konsequenzen a) Anwendungs- statt Geltungsvorrang b) Folgen des Anwendungsvorrangs für den Vollzug des EU-Rechts: unionsrechtskonforme Auslegung und Sicherung der praktischen Wirksamkeit c) Anwendung des EU-Rechts und Nichtanwendung des nationalen Rechts durch Behörden und Gerichte aa) Nichtanwendung nationalen Rechts durch Gerichte bb) Nichtanwendung nationalen Rechts durch Behörden d) Verfassungs- und verwaltungsprozessuale Umsetzung aa) Verfassungsprozessuale Konsequenzen bb) Verwaltungsprozessuale Umsetzung e) Staatshaftung

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Spezialschrifttum Huber, Peter M Bewahrung und Veränderung rechtsstaatlicher und demokratischer Verfassungsstrukturen in den internationalen Gemeinschaften, AöR 2016, 117–135; Kruis, Tobias Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, 2013; Mannefeld, Lisa-Karen, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die europäische Integration, 2017; Meurs, Christian Normenhierarchien im europäischen Sekundärrecht, 2012; Morano-Foadi, Sonia/Vickers, Lucy (Hrsg.) Fundamental Rights in the EU, 2015; Peters, Anne Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001; Sauer, Heiko Der novellierte Kontrollzugriff des BVerfG auf das Unionsrecht, EuR 2017, 186–206; Schwarze, Jürgen (Hrsg) Das Verhältnis von nationalem Recht und Europarecht im Wandel der Zeit, Band I, 2012; Schwarze, Jürgen Das Verhältnis von nationalem Recht und Europarecht im Wandel der Zeit, Band II, 2013; Schwerdtfeger, Angela Europäisches Unionsrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – Grundrechts-, ultra vires- und Identitätskontrolle, EuR 2015, 290–309; Simon, Sven Grenzen des BVerfG im Europäischen Integrationsprozess, 2016; Streinz, Rudolf Der Kontrollvorbehalt des BVerfG gegenüber dem EuGH nach dem Lissabon-Urteil und dem HoneywellBeschluss, FS Klaus Stern, 2012, 963–980; Streinz, Rudolf Vollzug des europäischen Rechts durch deutsche Staatsorgane, in Isensee/Kirchhof (Hrsg), Handbuch des Staatsrechts, Band X, 3. Aufl 2012, § 218; Thiemann, Christian Verfassungsbeschwerde und konkrete Normenkontrolle im Lichte des Unionsrechts, JURA 2012, 902–911; Voßkuhle, Andreas Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, 1–8; Voßkuhle, Andreas Verfassungsgerichtsbarkeit und europäische Integration, NVwZ-Beilage 2013, 27–31; Wendel, Mathias Permeabilität im europäischen Verfassungsrecht, 2011. Leitentscheidungen EuGH: Rs 26/62 – Van Gend & Loos; Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L.; Rs 57/65 – Lütticke; Rs 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft; Rs 106/77 – Simmenthal; Rs C-453/00 – Kühne & Heitz; Rs C-2/08 – Olimpiclub. BVerfG: BVerfG, 2 BvL 52/71, BVerfGE 37, 271 – Solange I; BVerfG, 2 BvR 1107/77, BVerfGE 58, 1 – Eurocontrol; BVerfG, 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 – Solange II; BVerfG, 1 BvR 1025/82, BVerfGE 85, 191 – Nachtarbeitsverbot; BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 – Maastricht; BVerfG, 1 BvF 1/05, BVerfGE 118, 79 – Treibhausgas-Emissionsberechtigungen; BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 – Lissabon; BVerfG 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 – Honeywell; BVerfG, 1 BvR 1916/09, BVerfGE 129, 78 – Anwendungserstreckung; BVerfG, 2 BvR 1390/12, BVerfGE 132, 195 – ESM; BVerfGE 134, 366 – OMT Vorlagebeschluss; BVerfGE 140, 317 – Identitätskontrolle; BVerfGE 142, 123 – OMT.

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I. Die Begründung der EU und ihres Rechts im nationalen Recht1 I. Die Begründung der EU und ihres Rechts im nationalen Recht 1. Zur Verschränkung des nationalen und des Unionsrechts a) Zuordnung von unionalem und nationalem Recht: Pluralismus statt Hierarchie Unionsrecht und nationales Recht sind zunächst einmal unterschiedliche Rechtsordnungen. Sie sind in Geltungsgrund, Entwicklung und ihren Institutionen verschieden, ähnlich wie nationales Recht und Völkerrecht. Allerdings gibt es auch zwischen Völkerrecht und nationalem Recht vielfältige Querbeziehungen. Völkerrechtliche Regeln finden ihre Grundlage im Verhalten von oder in Verträgen zwischen Nationalstaaten. Das gilt erst recht für das EU-Recht. Das Recht der EU wird als eigenständige Rechtsordnung angesehen; der EuGH hat früh die Autonomiethese formuliert, wonach das Recht der EU eigenständig und unbeeinträchtigt von nationalen Regeln sei.2 Das hat in der Rechtsprechung des EuGH konkrete Folgen. Die Autonomie des EU-Rechts wird als Prüfungsmaßstab für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von EU-Rechtsakten herangezogen, anfangs nur bezüglich gemeinsamer internationaler Abkommen der EU und ihrer Mitgliedstaaten, nun für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Beitritts der EU zur EMRK.3 So befand der EuGH das im EWR-Abkommen zunächst vorgesehene EWRGericht als Verletzung der Autonomie der EU. Es könne bei Auslegung des Abkommens auch über die jeweiligen Befugnisse der EU und ihrer Mitgliedstaaten auf den durch das EWR-Abkommen geregelten Gebieten entscheiden, was die im EU-Recht festgelegte Zuständigkeitsordnung und damit die Autonomie der Unionsrechtsordnung beeinträchtigen könnte. Daraufhin wurde das EWR-Abkommen geändert: Es wurde ein EFTA-Gerichtshof eingerichtet und die Homogenität zum Unionsrecht stärker gesichert.4 Auch das BVerfG hat die EU als von der nationalen Staatsgewalt geschiedene, unabhängige supranationale Gewalt eingeordnet. Unionsrecht ist daher weder Völkerrecht noch nationales Recht.5 Kennzeichnend für die neue Rechtsordnung ist, dass ihre „Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch deren

_____ 1 Meinen Mitarbeiterinnen Evelyn Roll und Lea Christmann danke ich für ihre Mitwirkung. 2 EuGH, Rs 6/64 − Costa / E.N.E.L., Slg 1964, 1253 (1269). 3 EuGH, Gutachten 1/91, Rn 30 ff – EWR I. Dort wird die Zuständigkeitsordnung als Ausdruck der Autonomie der EU gesehen. S auch Gutachten 1/00, Rn 5 f – Luftverkehrsübereinkommen; Rs C459/03 − Mox Plant, Rn 123. Zur Autonomieverletzung des Beitrittsabkommens zur EMRK EuGH, Gutachten 2/13 – EMRK, Rn 164 ff, 178 ff. 4 Das war unionsrechtskonform, EuGH, Gutachten 1/92 – EWR II. 5 BVerfG, 1 BvR 248/63, BVerfGE 22, 293 (296) – EWG-Verordnungen; 2 BvR 255/69, BVerfGE 31, 145 (173) – Milchpulver; 2 BvL 52/71, BVerfGE 37, 271 (277) – Solange I; 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (175) – Maastricht: „besonderen, von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten geschiedenen öffentlichen Gewalt einer supranationalen Organisation“. Wolfgang Weiß

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Bürger sind.“ Als wesentliche Merkmale benennt der EuGH den „Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten und die unmittelbare Wirkung zahlreicher für ihre Staatsangehörigen und für sie selbst geltender Bestimmungen.“6 Damit unterscheidet sich die Rechtsordnung der EU deutlich vom Völkerrecht, in dem der Einzelne weitgehend nur mediatisiert und gerade nicht grundsätzlich als Rechtssubjekt anerkannt ist − auch wenn sich das zunehmend verändert7 − und in dem kein mit dem Vorrang und der unmittelbaren Anwendung einhergehender Durchgriff in die nationale Rechtsordnung erfolgt. Die EU-Rechtsordnung hat sich damit in zentralen Punkten – zu nennen wäre noch die Herrschaft des Rechts8 − vom Völkerrecht abgelöst. Mit der Autonomiethese postuliert der EuGH auch eine Eigenständigkeit gegenüber dem nationalen Recht. Anknüpfungspunkt für die Autonomiethese ist die Existenz des EU6 Primärrechts als eines eigenen völkerrechtlich begründeten Vertragswerks, das in der derzeitigen Fassung durch den Vertrag von Lissabon9 allen voran aus dem EUV, dem AEUV und der EU-Grundrechtecharta besteht, unter Fortführung des EAGV. Zu diesem Vertragswerk kam es aber nur infolge einer entsprechenden völkerrechtlichen Einigung der Mitgliedstaaten auf einer Regierungskonferenz auf Abschluss bzw Weiterentwicklung eines dahingehenden Abkommens mit nachfolgenden nationalen Ratifikationen. Der Geltungsgrund des Unionsrechts für die Mitgliedstaaten liegt zunächst einmal in der Summe der nationalen Ratifikationen und damit in der Zustimmung der Staaten. Die Staaten haben dadurch Hoheitsgewalt auf die EU übertragen. Geltung und Wirkung unionaler Hoheitsakte geht auf die Übertragung nationaler Hoheitsgewalt infolge nationaler Entscheidungen zurück. Der rechtsdogmatische Geltungsgrund des EU-Rechts in jedem Mitglied liegt in der national-verfassungsrechtlich abgestützten Zustimmung, die den sog Rechtsanwendungsbefehl erteilt, mit dem sich das nationale Recht dem zunächst fremden, übernationalen Recht öffnet und es zu einem Teil des innerstaatlich geltenden Rechts macht.10 Die Autonomie des Unionsrechts geht nicht so weit, dass es sich von der völkerrechtlichen Grundlage und der nationalen Zustimmung völlig ablösen könnte. 11 Das liegt der Rechtsprechung des BVerfG mit Recht

_____ 6 EuGH, Gutachten 1/91 – EWR I, Rn 21; ähnlich bereits Rs 26/62 – Van Gend & Loos, Slg 1963, 1 (25). 7 S Peters Menschenrechte passim. 8 vBogdandy/Bast/vBogdandy S 37. 9 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, ABl 2007 C 306; konsolidierte Texte von EUV und AEUV idF des Vertrags von Lissabon in ABl 2016 C 202. 10 BVerfG, 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (367) – Solange II. Dazu auch mit rechtsvergleichenden Hinweisen Huber VVDStRL 60 (2001), 194 (214 f). 11 Nach aA ist das Zustimmungsgesetz kein Rechtsanwendungsbefehl, sondern ein Akt der Teilhabe an einem neuen europäischen Gesellschaftsvertrag, der zu einer neuen Verfassungslage führt, vgl Pernice VVDStRL 60 (2001), 148 (171 ff). Diese Sicht verkennt, dass der Abschluss völkerrechtliWolfgang Weiß

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zugrunde, 12 so dass es nicht dieselbe Autonomiebegrifflichkeit hat wie der EuGH. Die Abhängigkeit des Unionsrechts vom nationalen Rechtsanwendungsbefehl 7 gilt auch für jede Weiterentwicklung, die der EU neue Kompetenzen überträgt. Dafür bedarf es einer Regierungskonferenz und einer völkerrechtlichen Ratifikation der Mitgliedstaaten (s Art 48 II–IV EUV). Das EU-Recht selbst sieht für seine wesentliche Änderung oder Weiterentwicklung, die Übertragung neuer Kompetenzen oder ihre Erweiterung die nationale parlamentarische Zustimmung und teilweise nachfolgende Ratifikation vor.13 Das wird als Argument gegen die Autonomie des Unionsrechts genommen.14 Diese Regelungen widersprechen aber nicht dem Postulat einer Eigenständigkeit der Integration, weil sie sich nur auf wesentliche Weiterentwicklungen beziehen. Die Eigenständigkeit des Unionsrechts zeigt sich auch an wichtigen Weiterentwicklungen im Unionsrecht per Richterrecht des EuGH außerhalb nationaler Ratifikationen (etwa zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien). Besonders deutlich werden die Querverbindungen zwischen nationalem und 8 unionalem Recht beim Blick auf die Legitimation der EU, die sich zunächst in erheblichem Umfang aus nationalen Quellen speist, allen voran aus der demokratischen Legitimation der nationalen Parlamente oder Regierungen durch die nationalen Völker, von denen die nationalen EU-Ratsvertreter ihre Legitimation ableiten. Die Legitimationsbeiträge der nationalen Parlamente werden nunmehr explizit betont (Art 10 II UAbs 2 EUV); ihre Rolle für die Funktion der EU wird hervorgehoben (Art 12 EUV iVm dem Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente).15 Legitimation erhält die EU auch durch ihre Werte, die sich aus gemeineuropäi- 9 schen und damit in den nationalen Verfassungstraditionen verankerten Werten speisen. In dem 40 Jahre lang nahezu rein prätorischen Grundrechtsschutz in der EU hat der EuGH für seine Entwicklung von Grundrechten sich auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und auf die gemeinsam übernommenen internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen, allen voran die EMRK, gestützt und sie als allgemeine Rechtsgrundsätze der EU etabliert (vgl

_____ cher Verträge nicht als Akt der Verfassungsgebung gedacht war. Dass man dem Abschluss völkerrechtlicher Abkommen Verfassungswert zuschreibt, erfordert nicht schon die Gleichsetzung zur Verfassungsgebung. 12 Streinz Rn 224. 13 S – neben Art 48 EUV betr Änderungen – Art 49 EUV zur Erweiterung, Art 50 EUV zum Austritt, Art 54 EUV/Art 357 AEUV zum Abschluss von EUV und AEUV und weitere Regelungen, die vereinfachte Änderungen ermöglichen (Evolutivklauseln): Art 42 II EUV, Art 25 II, 218 VIII, 223 I, 262 AEUV, ferner der Eigenmittelbeschluss nach Art 311 III AEUV. 14 So von Huber VVDStRL 60 (2001), 194 (221). 15 Dem ging die Errichtung der Konferenz der Ausschüsse für Gemeinschafts- und EuropaAngelegenheiten aus den nationalen Parlamenten (COSAC) voraus, die 1989 auf französische Initiative hin entstand. Wolfgang Weiß

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Art 6 III EUV). Die Rechtserkenntnisquellen der nationalen Verfassungsüberlieferungen und der EMRK prägen auch die EU-Grundrechtecharta (vgl ihre Präambel, fünfter Absatz). Vielfach wurden verfassungsrechtliche Grundlagen aus den Mitgliedstaaten 10 in das Unionsrecht übertragen, etwa Prinzipien wie Rechtsstaat, Demokratie oder – im nationalen Kontext nicht mit verfassungsrechtlicher Dignität − soziale Marktwirtschaft (Art 3 EUV), die teilweise wie die Gewaltenteilung (als „institutionelles Gleichgewicht“) ihre spezifische Ausprägung erfahren, oder Rechtsfiguren des Verwaltungsrechts und der Grundrechtsanwendung wie Vertrauensschutz, Rechtssicherheit16, Verhältnismäßigkeit oder die Wesensgehaltsgarantie (Art 52 I Grundrechtecharta), oder verfassungsrechtliche Modelle wie die repräsentative, die partizipative oder die direkte Demokratie (Art 10 und 11 EUV). Die große Bedeutung verfassungsrechtlicher Kategorien aus dem nationalstaatli11 chen Verfassungsdenken für die Rechtsordnung der Union bedeutet nicht, dass sich die Substanz der unionalen Verfassung aus den nationalverfassungsrechtlichen Integrationsklauseln ergebe.17 Denn die Integrationsklauseln wie Art 23 GG − auch wenn sie struktursichernde Anforderungen an die Entwicklung der Union formulieren und damit deren Gestalt prägen – sind viel jünger als der Integrationsprozess. Sie legen Anforderungen an die Integration nieder, deren verfassungsrechtliche Diskurse und Erkenntnisse bereits zuvor bestanden und zumindest auch im Dialog zwischen europäischer und nationaler Ebene geprägt wurden. Entsprechend dieser Gleichzeitigkeit unionaler und nationaler Debatten wundert es nicht, dass Strukturanforderungen − wie in Art 23 GG niedergelegt – an eine rechtstaatliche, demokratische und die Grundrechte achtende Union ihre Entsprechung in grundlegenden Normen der EU (Art 2 EUV18) finden, woran sich Überlegungen zu einer strukturellen Homogenitäts- oder Kompatibilitätsanforderung knüpfen, die wie im Föderalismus die wechselseitige Kompatibilität der unionalen und der nationalen Grundstrukturen sichert.19 Die Verbindung zwischen nationalem Recht und Unionsrecht führt zu gegensei12 tiger Wechselwirkung und Verschränkung. EU-Recht und nationales Recht „stehen nicht unvermittelt und isoliert nebeneinander; sie sind in vielfältiger Weise aufeinander bezogen, miteinander verschränkt und wechselseitigen Einwirkungen geöffnet.“20 Es gibt keine Einbahnstraße nur vom nationalen Recht hin zum EU-

_____ 16 Huber VVDStRL 60 (2001), 194 (225). 17 Vgl aber vBogdandy/Bast/Kirchhof S 1018–1021. 18 Kritisch zum Begriffswechsel von Grundsätzen zu Werten als „soziologisierenden Vermutungen über normative Dispositionen der Unionsbürger“ vBogdandy/Bast/vBogdandy S 25, wobei Art 2 EUV aber nicht die Unionsbürger, sondern die Union in Bezug nimmt. 19 Pernice VVDStRL 60 (2001), 148 (186 ff); vBogdandy/Bast/vBogdandy S 52 ff. 20 BVerfG, 2 BvL 6/77, BVerfGE 52, 187 (200) − Absatzfonds; s auch 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (367) − Solange II zur funktionellen Verschränkung der nationalen und europäischen Gerichtsbarkeit, dazu unten Rn 31 ff. Wolfgang Weiß

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Recht. Das Unionsrecht beeinflusst auch das nationale Verfassungs- und Verwaltungsrecht. Dies erfolgt zum einen direkt über die Einwirkungen des EU-Rechts auf die nationale Rechtsordnung. Konkrete Beispiele im deutschen Verfassungsrecht sind das Kommunalwahlrecht für EU-Bürger nach Art 28 I GG21 oder die Auswirkung des unionalen Diskriminierungsverbots aus Art 18 und 21 AEUV auf die Auslegung des Begriffs inländische juristische Person bei Art 19 III GG, die dazu führt, dass inländische juristische Personen infolge einer Anwendungserweiterung des deutschen Grundrechtsschutzes auch solche aus den EU-Staaten sind.22 Der Weg über das Unionsrecht kann auch zur Verbreitung von aus einem bestimmten Rechtsraum in das EU-Recht übernommenen Rechtsfiguren in anderen Mitgliedstaaten führen, wie beim Verhältnismäßigkeitsprinzip.23 Zum anderen geschieht dies indirekt über die EMRK. Deren Gehalte entleh- 13 nen sich auch aus unionalen Grundrechtsentwicklungen24 und wirken wieder in die nationale Rechtsordnung zurück. Ferner haben unionale Entwicklungen die Wirkung der EMRK in den nationalen Rechtsordnungen verstärkt, teilweise gar erst induziert.25 Eine weitere Stärkung der Rolle der EMRK für die EU, und damit auch für ihre Wirkung in den Mitgliedstaaten hat der Vertrag von Lissabon durch die partielle Rezeption der EMRK infolge Art 52 III Grundrechtecharta mit sich gebracht.26 Unionsrecht und nationales Recht stehen somit in einer intensiven Wechsel- 14 beziehung auf allen Ebenen und in allen Rechtsgebieten. Die mit der Autonomie der Unionsrechtsordnung insinuierte Unabhängigkeit in ihrer Geltung vom nationalen Recht darf daher mit dem BVerfG nicht als völlig abgelöste Eigenständigkeit missverstanden werden. Unionsrechtlich wird das – neben den primärrechtlichen Verweisen auf nationales Verfassungsrecht − deutlich an Art 4 II EUV, der die EU auf die Wahrung der nationalen Identität und der grundlegenden verfassungsmäßigen Strukturen der Mitgliedstaaten verpflichtet. Umgekehrt bilden die im nationalen Verfassungsrecht festgelegten Integrationsaufträge (vgl Präambel und Art 23 I GG, wonach Deutschland gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Euro-

_____ 21 Die Verfassungsänderung erfolgt infolge der Richtlinie 94/80 des Rates vom 19. Dezember 1994 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, ABl 1994 L 368/38, zuletzt geändert infolge des Beitritts Kroatiens durch RL 2013/19, ABl 2013 L 158/231. 22 BVerfG, 1 BvR 1916/09, BVerfGE 129, 78 (94 ff) – Anwendungserweiterung. Dazu Ludwigs JZ 2013, 434. Weiteres bei Kämmerer NVwZ 2015, 1321 (1323 f). 23 vArnauld EuR 2008, Beiheft 1, 41. Zur Entwicklung der Verhältnismäßigkeitsprüfung in Frankreich und Großbritannien Nussberger NVwZ 2013, Beilage 1, 36 (38 f). 24 Vgl Gundel FS Dieter H Scheuing, 2011, S 58 ff. 25 Dazu vBogdandy/Bast/Grabenwarter S 162 f. 26 Dazu Weiß EuConst 2011, 65. Wolfgang Weiß

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pa sein will, weswegen es bei der Entwicklung der EU mitwirkt27) die Grundlage für die Rücknahme eines nationalen Vorranganspruchs. Die Abhängigkeit des EU-Rechts vom nationalen Recht bedeutet daher auch 15 nicht, dass das nationale Recht Geltungsgrund des Unionsrechts wäre; der nationale Rechtsanwendungsbefehl ist nur Grund für die Geltung des Unionsrecht für und in der jeweiligen Rechtsordnung. Auch wäre die Vorstellung einer Hierarchie zwischen nationalem und unionalem Recht verfehlt, schon deshalb, weil der Geltungsgrund des Unionsrechts nicht in einem bestimmten nationalen Recht liegen kann. Die Errichtung der EU war nur gemeinsam durch die Ratifikation aller Mitgliedstaaten möglich. Der Rechtsanwendungsbefehl eines Staates genügt dafür nicht.28 Umgekehrt führt ein Austritt aus der EU zwar zur Rücknahme des Rechtsanwendungsbefehls, beeinträchtigt nicht aber die Existenz der EU. Wie sehr nationales und europäisches Verfassungsrecht verflochten sind, wird gerade durch die Schwierigkeiten des Brexit veranschaulicht. Das Verhältnis zwischen EU-Recht und nationalem Recht ist damit nicht das 16 einer einheitlichen Rechtsordnung mit zwei verschiedenen Ebenen, zwischen denen eine oder mehrere Hierarchisierungen etabliert werden könnten. Ebenso wenig kann das Verhältnis zwischen Unionsrecht und nationalem Recht durch eine hierarchische Vorstellung einer gestuften Rechtsordnung mit dem Unionsrecht an der Spitze richtig erfasst werden. Denn das Unionsrecht umschließt die nationalen Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten umfassend und in gleicher Weise. Die wechselbezügliche Verschränkung bedeutet ein gegenseitiges Angewiesensein von nationalem und unionalem Recht, das sich mit hierarchischen Vorstellungen nicht verträgt. Neuere Ansätze versuchen die Zuordnung von Unionsrecht und nationalem 17 Recht durch das Bild eines pluralistischen Nebeneinanders verschiedener, im Ansatz selbständiger und in sich eigens gerechtfertigter, gleichberechtigter Ordnungen zu erfassen,29 die eine klare Über-/Unterordnung weder benötigt noch zulässt, sondern auf die jeweilige Berechtigung der Rechtsordnung verweist. Konsequenz dieser Vorstellung ist, dass einerseits die verschiedenen Ordnungen je als Teilordnungen eines Ganzen gesehen werden, und dass andererseits die Frage nach der Zuständigkeit für Letztentscheidungen im Falle eines Konflikts nicht durch ein-

_____ 27 Für Integrationsaufträge in anderen nationalen Verfassungen s etwa Art 7 V Verfassung von Portugal, Art E I Verfassung von Ungarn. 28 Vgl die Gesamtaktstheorie von HP Ipsen S 61 f, der darauf die Eigenständigkeit und Autonomie des Gemeinschaftsrechts stützt. 29 Kumm CMLRev 1999, 351; Walker S 520 ff; Poiares Maduro EuR 2007, 3 (5 ff); Walker MLR 2002, 317 (336 ff); Mayer VVDStRL (75) 2016, 28 ff, 33 ff. Zu Differenzierungen des pluralistischen Ansatzes Peters Verfassung Europas S 268 ff. Kritisch zuletzt Pierdominici, Perspectives on Federalism 2017, Heft 2, E-119 ff. Wolfgang Weiß

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fache Zuweisung in den einen oder den anderen Bereich, dh an nationale oder EUInstitutionen, beantwortet werden kann. Vielmehr klärt jede Ebene die Bedeutung von Konflikten für sich, in wechselseitiger Rücksichtnahme. Diese Vorstellung trägt dem Umstand Rechnung, dass jede Ebene für sich 18 nach ihren Standards legitime Entscheidungen herbeiführt. Hier zeigen sich Parallelen zum Völkerrecht: Das Völkerrecht als tradierte Koordinationsordnung enthält keine hierarchischen Zuordnungen und keine zentralen Entscheidungsinstanzen, sondern ein Nebeneinander gleichberechtigter Entscheidungsträger und Teilordnungen in Form von Staaten, Internationalen Organisationen oder Vertragsregimen, die jeweils für ihren Bereich Entscheidungen treffen. Dadurch können Konflikte zwischen unabgestimmten divergierenden Regelungen und Entscheidungen entstehen, was die Herausforderung der Zuordnung fragmentierter Prozesse und in sich mehr oder minder abgeschlossener Teilrechtsordnungen auslöst. Diese Denkweise lässt sich in ihren Grundlinien infolge der völkerrechtlichen Ursprünge des Unionsrechts auch für die Zuordnung nationalen und unionalen Rechts befruchten: Kollisionen zwischen verschiedenen Ordnungen können durch Kollisionsregeln geklärt werden. Der völkerrechtliche Ursprung des Unionsrechts lässt ferner zu, die völkerrecht- 19 lichen Ansätze zur Zuordnung von nationalem und internationalem Recht für die Klärung des Verhältnisses von Unionsrecht und nationalem Recht zu befruchten, also konkret die Theorien des Monismus und des Dualismus, wobei gerade letztere für die Bekräftigung der Eigenständigkeit des Unionsrechts geeignet ist. Diese Ansätze können aber dort nicht weiterhelfen, wo das Unionsrecht besondere und intensive – weil auf den Einzelnen zugreifende − Rechtswirkungen in den nationalen Rechtsraum hinein aufweist. Vorrang und unmittelbare Wirkung des Unionsrechts30 sind von den nationalen Rechtsordnungen akzeptierte Rechtsfolgenbehauptungen der unionalen Ebene, die dem EU-Recht eine eigenständige, wesentlich intensivierte Bedeutung im Vergleich zum gewöhnlichen Völkerrecht zuweisen, und zwar im Grundansatz umfassend und grundlegend. Diese beiden nahezu omnipräsenten Rechtswirkungen des EU-Rechts unterscheiden es vom Völkerrecht; sie sind in ihrer konkreten Auswirkung für das nationale Recht umstritten (wenn auch im Grundsatz akzeptiert), weil sie konkreter Schauplatz des Ringens beider Rechtsordnungen um die praktischen Folgen ihrer Zuordnung sind. Die Schwierigkeit der pluralistischen Sichtweise besteht darin, dass jede Rechtsebene für sich mit gleicher Legitimität entscheiden darf, wie sie das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht sieht und Konflikte klärt. Die beiden Standpunkte des nationalen Rechts und des Unionsrechts über ihr Verhältnis sind regelmäßig nicht deckungsgleich (dazu näher unten). Da gleichberechtigte Entscheidungszentren bestehen,

_____ 30 Dazu näher Rn 85 ff. Wolfgang Weiß

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kann keine Ebene ihre Sichtweise durchsetzen, sondern es muss wechselseitig um möglichst widerspruchsfreie Klärung gerungen werden. Dies geschieht anhand der konkreten Bestimmung von Voraussetzungen, Umfang und Grenzen von Vorrang und unmittelbarer Wirkung des Unionsrechts im nationalen Recht.31 Folge einer pluralistischen Sichtweise ist das Gebot wechselseitiger Rück20 sichtnahme der europäischen und der nationalen Verfassungsordnung, im Sinne gegenseitiger Loyalität. Das nationale Recht und Verfassungsrecht sind konfliktvermeidend auszulegen, so dass nationale Regelungen unionale Vorgaben aufnehmen, die unionalen Vorgaben aber wiederum die nationale Identität beachten. Dementsprechend können dahingehende Regelungen im EU-Primärrecht als positiv-rechtliche Verankerung der pluralistischen Sichtweise angesehen werden: So werden nationale Strukturanforderungen wie Art 23 GG gespiegelt in dahingehenden Zielnormen des EUV (konkret zu den entsprechenden Werten und Grundsätzen Art 2 iVm Art 7 EUV und Art 6 III EUV), und wird die EU in Art 4 II EUV zur Achtung der nationalen Identität verpflichtet (dazu noch unten, Rn 100 ff).32 Die pluralistische Zuordnung statt der Hierarchie von Ordnungen entspricht 21 wohl auch dem Selbstverständnis der beteiligten Akteure über je gleichberechtigte Entscheidungsgewalt, beschränkt das Selbstverständnis aber auch darauf; eine Hegemonie kann nicht beansprucht werden. Das ist der Charme der pluralistischen Sichtweise auch jenseits verfassungstheoretischer Konstruktion; sie bildet die Offenheit ab, wie sie auch einem sui generis Begriff wie „Staatenverbund“ zur Charakterisierung der EU zugrunde liegt,33 allerdings vor deren Verschmelzung mit der supranationalen EG (das BVerfG hatte das Wesen der EU in der Gestalt vor Lissabon, also vor ihrer Verschmelzung mit der supranationalen EG (Art. 1 aE EUV), als primär gouvernemental34 bestimmt), und der weit weniger als andere Begriffe (etwa supranationale Organisation, Integrationsgemeinschaft, Bundesstaat) die Vorstellung einer einheitlichen, hierarchischen Gesamtrechtordnung erfordert. Diese Sichtweise bedeutet für die Rechtsanwendung, dass weder die unionalen Organe noch die nationalen Verfassungsgerichte autoritär abschließend über die Zuordnung von EUund nationalem Recht entscheiden können. Dem vom EuGH postulierten (weitestgehend) unbegrenzten Vorrang des EU-Rechts (nachstehend II.2.) wird in pluralistischer Sichtweise die nationalverfassungsrechtliche Sicht der Grenzen des Vorrangs

_____ 31 Dazu näher Rn 87 ff, 153 ff. 32 vBogdandy/Schill ZaöRV 2010, 701 (705). 33 Geprägt vom BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (188) – Maastricht, näher bestimmt in 2 BvR 2134/92, BVerfGE 123, 267 (LS 1) – Lissabon: „eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker − das heißt die staatsangehörigen Bürger − der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben.“ 34 BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (186) − Maastricht. Wolfgang Weiß

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(nachstehend II.4.) mit gleicher Berechtigung gegenübergestellt. Die pluralistische Sichtweise entspricht damit zumindest der derzeitigen Realität in der Zuordnung von nationalem und Unionsrecht am besten.35

b) Verfassungsverbund und Verwaltungsverbund Die Verquickung von nationalem Recht und Unionsrecht wird in Anlehnung an (ur- 22 sprünglich in Gegensatz zu) den vom BVerfG geprägten Begriff des Staatenverbunds mit dem Verbundbegriff auch für die grundlegenden Institutionen der Verschränkung belegt.36 Der Verbund erfasst über die Verfassungsordnung hinaus die Durch- und Umsetzungsordnung; er besteht damit sowohl im Bereich des Verfassungs- als auch des Verwaltungsrechts. Auch im Verwaltungsrecht findet sich die Verschränkung von nationalem und EU-Recht bereits im Primärrecht, vgl Art 340 II AEUV, wonach sich die Amtshaftung der EU – vergleichbar der Staatshaftung der Mitgliedstaaten – nach den den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamen allgemeinen Rechtsgrundsätzen bestimmt.

aa) Verfassungsverbund Der Begriff Verfassungsverbund bezeichnet den Umstand, dass die Verfassungs- 23 rechtslage im europäischen Raum der 28 EU-Mitgliedstaaten sich aus dem Nebenund Miteinander des unionalen und des nationalen Verfassungsrechts ergibt. Die wechselseitige Verquickung und Abhängigkeit der nationalen Verfassungen und des EU-Primärrechts wird begrifflich eingefasst, ohne dass damit hier – entgegen der Konzeption von Ingolf Pernice – eine einheitliche Verfassungsordnung bezeichnet würde.37 Das BVerfG spricht nur von einer „normative[n] Verklammerung“ des Unionsrechts mit den nationalen Verfassungen.38 Der Verbundbegriff wird im Gegensatz zu reinen Einheitsvorstellungen gerade mit Bedeutungen belegt, die Raum lassen, die Funktionsweise komplexer Strukturen durch Ordnungsgesichtspunkte der Divergenz, Vielfalt, Verschränkung, Pluralität und Wechselbezüglichkeit, Eigenständigkeit und Rücksichtnahme zu beschreiben39, entsprechend der Zuordnung von EU und nationalem Recht oben (Rn 17 ff).

_____ 35 Kruis S 42. 36 Zunächst war dem Staatenverbund durch Ingolf Pernice der Verfassungsverbund entgegengesetzt worden (vgl Pernice EuR 1996, 27; Pernice VVDStRL 60 (2001), 148 (163 ff); dagegen vBogdandy/Bast/Kirchhof S 1017: „Der Staatenverbund ist kein Verfassungsverbund“. Aus dieser Gegenüberstellung sind die Begriffe herausgelöst worden, vBogdandy/Bast/vBogdandy S 50 f. 37 Pernice VVDStRL 60 (2001), 148 (172 ff), der nationales und unionales Verfassungsrechts als gemeinsame, materielle Einheit und einheitliches System auffasst. 38 BVerfG, 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (384) – Solange II. 39 Vgl Voßkuhle NVwZ 2010, 1 (3). Wolfgang Weiß

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Der Begriff verdeutlicht, dass weder die unionale noch die nationale Verfassungsordnung die Verfassungslage vollständig wiedergibt. Beides muss zusammen in den Blick genommen werden. Auf verfassungsrechtlicher Ebene verbinden sich damit nationales Verfassungsrecht und unionales Primärrecht zu einem gemeinsamen Verfassungsraum in der EU der 28 Mitgliedstaaten. Demgemäß werden die nationalen Verfassungen als Teilverfassungen (Häberle) angesehen. Nur die Zusammenschau von EU- und nationalem Verfassungsrecht erlaubt ein komplettes Bild der Verfassungsrechtslage der Mitgliedstaaten. Zur vollständigen Erfassung der Konstitutionalisierung öffentlicher Gewalt bedarf es der Einbeziehung des EU-Verfassungsrechts. Die Frage etwa, welche Organe in einem Mitgliedstaat Hoheitsgewalt ausüben, wird nicht mehr allein durch Blick in die nationale Verfassung beantwortet. Zentrale Entscheidungsinstanzen mit Bedeutung auch für die nationale Ordnung wie das Europäische Parlament, die Kommission oder der EuGH würden sonst übersehen. Der europäische Verfassungsraum bildet sich damit aus den nationalen Verfassungen und der Unionsverfassung je als Teilverfassungen.40 Der Verfassungsverbund ist damit geprägt von Komplementarität. Dies erfor25 dert Kooperation und wechselseitige Rücksichtnahme der beteiligten Akteure. Die aus der Natur des Verfassungsverbunds folgende Kooperations- und gegenseitige Loyalitätsverpflichtung ist – wenn auch unvollständig − in Art 4 III EUV verankert. Der EuGH hat diese Pflicht zu einer der Grundlagen im wechselseitigen Verhältnis von EU und Mitgliedstaaten ausgebaut und unter Rekurs darauf – und auf den die Auslegung und Anwendung des EU-Rechts leitenden Grundsatz des effet utile, der effektiven Wirksamkeit des unionsrechtlich Gebotenen − verschiedene Wirkungen des Unionsrechts begründet (wie die Verpflichtung zu unionsrechtskonformer Auslegung oder zur Gewährleistung der einheitlichen Wirkung des EURechts in den Mitgliedstaaten).41 Anzufügen ist, dass der Verfassungsbegriff auch bezüglich der unionalen Ebene 26 verwendet werden darf, obschon die EU kein Staat ist und auch wenn die offizielle Verfassungsdiktion mit dem Scheitern des Verfassungsvertrags für die EU beendet wurde.42 Denn die grundlegenden Regeln des EU-Primärrechts werden der Verfassungsfunktion einer Grundordnung für die Ausübung politischer Herrschaft gerecht. Das Primärrecht begründet, ordnet, legitimiert und begrenzt die Ausübung öffentli-

_____ 40 vBogdandy/Bast/vBogdandy S 30; Peters Verfassung Europas S 209, 219. 41 Bieber/Epiney/Haag/Kotzur S 118. 42 Der Europäische Rat vom 21./22. Juni 2007 spricht in Rn 3 seines Mandats der Regierungskonferenz (die den späteren Lissabonner Vertrag vorbereitete) dem Unionsrecht den Verfassungscharakter ab. Das Mandat ist wiedergegeben als Anhang I zu den Schlussfolgerungen des Vorsitzes, die sich finden untereuropa.eu/rapid/press-release_DOC-07-2_en.pdf. Wolfgang Weiß

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cher Gewalt und weist Kompetenzen zu.43 Der EuGH bezeichnet seit über 20 Jahren das Primärrecht als „Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft“,44 das BVerfG den damaligen EWGV als „gewissermaßen die Verfassung dieser Gemeinschaft“.45 Die Einordnung der nationalen Verfassung als Teilverfassung in einem gemein- 27 samen Verfassungsraum hat zur Folge, dass auch die Verfassungen der übrigen EUMitgliedstaaten Relevanz haben für die Verfassungslage in einem bestimmten Mitgliedstaat. Augenscheinlich wird das an der Bedeutung von Integrationsschranken in einer nationalen Verfassungsordnung, die die europäische Integration insgesamt lenken und damit Wirkungen auch für die übrigen EU-Mitgliedstaaten entfalten (dazu I.2.a, Rn 37 ff).

bb) Verwaltungsverbund Der Verbundgedanke hat auch Bedeutung für die Verwaltung. Auf dieser Ebene be- 28 steht ein Verwaltungsverbund. Die Durchführung des EU-Rechts obliegt vor allem den Mitgliedstaaten. Nach Art 197 AEUV ist die effektive Durchführung des EURechts durch die Mitgliedstaaten entscheidend für das ordnungsgemäße Funktionieren der EU. Die direkte Anwendung des Unionsrechts durch EU-Einrichtungen, der sog zentrale oder auch unionsunmittelbare Vollzug,46 begegnet im Primärrecht nur als begründungsbedürftige Ausnahme (Art 291 II AEUV, wonach die Durchführung von Unionsrechtsakten durch die Kommission das Bedürfnis nach einheitlichen Bedingungen voraussetzt), ist aber durchaus vorgesehen. Gemäß Art 17 I EUV übt die Kommission ausdrücklich Exekutiv- und Verwaltungsfunktionen aus. Trotz dieser scheinbar kategorialen Zuordnung entweder zur nationalen Durchführung oder zur Durchführung durch die EU kommt es auch bei der Anwendung des Unionsrechts zu einer intensiven Verflechtung und Verschränkung der nationalen und der supranationalen Akteure. Der Verbundbegriff erfasst hier wiederum, dass es beim Vollzug des Unionsrechts nicht nur zu einer Kooperation zwischen EU und nationalen Stellen kommt, sondern dass hierarchische und kooperative Elemente nebeneinander auftreten und die europäische Verwaltung funktionell einer einheitlichen Verwaltung nahekommt.47 Der europäische Verwaltungsverbund sichert die Effizienz und Einheitlichkeit der Durchführung des Unionsrechts in den Mitglied-

_____ 43 Zum Verfassungscharakter des EU-Primärrechts vgl nur Pernice VVDStRL 60 (2001), 148 (149 ff); Huber ebd, 194 (196–199). Zur Ablösung der Verfassung von der Staatlichkeit Peters Verfassung Europas S 93 ff. 44 EuGH, Gutachten 1/91 – EWR I, Rn 21. 45 BVerfG, 1 BvR 248/63, BVerfGE 22, 293 (296) – EWG-Verordnung. 46 Vgl Streinz Rn 583. 47 Weiß Verwaltungsverbund S 17 f. Wolfgang Weiß

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staaten, aber auch die Einspeisung spezifischer gemeineuropäischer oder grenzüberschreitender Interessen und die wechselseitige Kontrolle des Unionsrechtsvollzugs.48 Konkret zeigt sich die Ebenenverflechtung im Verwaltungsverbund durch viel29 fältige wechselseitige Informations-, Berücksichtigungs-, und Kooperationspflichten, ferner durch Einwirkungsrechte, und durch gestufte und gemeinsame Verwaltungsverfahren. Darüber hinaus erarbeitet die Kommission mehr oder minder rechtlich, jedenfalls praktisch bindende Leitlinien, Empfehlungen und andere soft law Akte aus, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsanwendung den nationalen Vollzug prägen.49 Institutionelle Erscheinungsformen dieser intensiven Verklammerung sind das europäische Ausschusswesen, nunmehr aufgrund von Art 291 II AEUV iVm VO 182/2011,50 europäische Behördennetzwerke und Unionsagenturen, Informations- und Kommunikationsstrukturen, gemeinsame Entscheidungsprozesse, gestufte Verwaltungsverfahren und transnational wirksame Verwaltungsakte.51

c) Rechtsprechungsverbund und Vorabentscheidungsersuchen 30 Nicht nur die Verfassungs- und Verwaltungsebene von EU und Mitgliedstaaten sind

verflochten, sondern auch die Gerichtsbarkeiten. Das gilt sowohl für die nationalen Verfassungsgerichte als auch den EuGH. Die wechselseitige Verklammerung wird als Verfassungsgerichtsverbund 52 bezeichnet. Eine Verflechtung besteht auch zwischen den übrigen nationalen Gerichten und dem EuGH53, so dass generell ein Gerichtsverbund zwischen unionalen und nationalen Gerichten auf allen Ebenen festzustellen ist.54 Das BVerfG bezeichnet das als „Rechtsprechungsverbund“.55

_____ 48 Weiß Verwaltungsverbund S 36. 49 Weiß Verwaltungsverbund S 36. 50 VO 182/2011 zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren, ABl 2011 L 55/13. Diese Verordnung löst das alte sog Komitologiesystem ab, Streinz Rn 569 ff; Baur/ Salje/Schmidt-Preuß/Weiß S 147 ff. 51 Näher Weiß Verwaltungsverbund S 49 ff. Zum transnationalen Verwaltungsakt Ruffert Die Verwaltung 2001, 453. 52 Voßkuhle NVwZ 2010, 1; ders EuConst 2010, 175, unter Einbeziehung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg. 53 Der Gerichtshof der EU besteht gemäß Art 19 EUV neben dem Gerichtshof noch aus dem Gericht nach Art 257 AEUV, der auch die Einrichtung weiterer Fachgerichte vorsieht. Das frühere spezielle Dienstgericht für Streitigkeiten der EU-Beamten mit ihrem Arbeitgeber wurde zum 31.8.2016 aufgelöst; weitere spezielle Instanzen bestehen derzeit nicht. 54 „Rechtsschutzverbund“ nach Classen JZ 2006, 157. 55 BVerfG, 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (367) – Solange II; 140, 317 (338) – Identitätskontrolle. Wolfgang Weiß

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Die Verschränkung dient der einheitlichen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts durch alle Gerichte.56 Auch wenn die Zuständigkeiten des EuGH und der nationalen Gerichte infolge 31 des prozessualen Trennungsgrundsatzes57 (wonach die europäischen Gerichte über EU-Recht judizieren, die nationalen über nationales Recht) deutlich voneinander geschieden werden können, und die Gerichte über eine Kontroll- und jedenfalls eine Verwerfungsbefugnis nur für die Hoheitsakte der eigenen Ebene verfügen, so kommt es auch hier zu Verflechtungen der Zuständigkeiten. Durch die Auslegung von EU-Akten gibt der EuGH mittelbar58 vor, wie und gegebenenfalls ob überhaupt nationales Recht im Anwendungsbereich des EU-Rechts auszulegen bzw anzuwenden ist.59 Die nationalen Gerichte sind, wie der EuGH betont, funktional Unionsgerichte, weil sie infolge der Durchgriffswirkung auch europäisches Recht anzuwenden und auszulegen und über die Einhaltung des Unionsrechts zu wachen haben,60 das sie als Prüfungsmaßstab heranziehen61 (freilich unter Wahrung der Zuständigkeiten des EuGH, insbesondere seines Monopols zur Verwerfung von EUSekundärrecht).62 Die nationalen Gerichte sind somit nicht auf die Anwendung nationalen Rechts beschränkt, sondern müssen auch EU-Recht anwenden und den von EU-Rechtsakten eingeräumten individuellen Rechten zur effektiven Wirkung verhelfen.63 Die nationalen Gerichte sind daher „wichtige Akteure im Rechtsfindungsprozess“ auf EU-Ebene.64 Die Rolle der nationalen Gerichte als unabhängige und unparteiische Unionsgerichte und ihre Verbindung mit dem EuGH über den Weg des Vorabentscheidungsersuchens nach Art 267 AEUV (Rn 33) stellt ein wichtiges Element unionsrechtlich gebotener Rechtsstaatlichkeit, der Autonomie des Unionsrechts und der Wahrung der Verteidigungsrechte dar.65

_____ 56 Vgl BVerfG, 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (368) – Solange II. Hier zitiert das BVerfG bekräftigend ausdrücklich einschlägige EuGH-Urteile über den Zweck der Vorabentscheidungszuständigkeit des EuGH nach Art 267 AEUV. 57 Dazu Nehl S 413 ff; Sydow S 280 ff. 58 Technisch gesehen erfolgt die Auslegung nationalen Rechts anhand der vom EuGH bestimmten Maßstäbe durch das nationale Gericht. Da die Vorgaben des EuGH bindend sind, bestimmen sie die nationale Auslegung. Der EuGH gibt nicht unmittelbar die Auslegung nationalen Rechts vor. Er prüft nur, ob eine nationale Maßnahme mit EU-Recht vereinbar ist. 59 Der EuGH kann nicht über die Gültigkeit nationalen Rechts bestimmen, EuGH, Rs C-292/92 – Hünermund, Rn 7 f. 60 EuGH, Gutachten 1/09 – Patentgerichtsbarkeit, Rn 83 f. 61 Streinz/HuberArt 19 EUV Rn 50. 62 Vgl EuGH, Rs C-50/00 P – Union de Pequenos Agricultores, Rn 40. 63 Vgl bereits EuGH, Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L., Slg 1964, 1253 (1269); Rs 14/68 − Walt Wilhelm, Rn 6. 64 So Skouris EuGRZ 2008, 343 (343 f). 65 EuGH, Rs C-284/16 – Achmea, Rn 36 f, 58; Rs C-64/16– Associação Sindical dos Juízes Portugueses, Rn 33 ff; Rs C-216/18 PPU – LM, Rn 49 ff, Rn 63 ff. Dort benennt der EuGH Anforderungen der Wolfgang Weiß

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Erste Ansätze für eine vorsichtige Überwindung des Trennungsgrundsatzes konnte man im Maastricht-Urteil ausmachen. In ihm bekannte sich das BVerfG zum Grundrechtsschutz in Deutschland auch gegenüber Hoheitsakten der EU als einer von der deutschen geschiedenen Hoheitsgewalt.66 Das konnte man im Sinne der Trennungslehre dahin auffassen, dass es dem BVerfG um die Überprüfung von nationalen Geltungs- und Anwendungsakten des Unionsrechts geht.67 Darin konnte man indes eine erste Aufweichung des Trennungsgedankens sehen, weil das BVerfG Grundrechtsschutz nicht nur gegen deutsche Staatsakte gewährt, sondern sich zu seiner Verantwortung für den Grundrechtsschutz in Deutschland und insoweit nicht nur gegenüber deutschen Staatsorganen bekannte.68 Zumindest ist das BVerfG dahin verstanden worden, dass ein Rechtsbehelf unmittelbar gegen Sekundärrechtsakte der EU möglich ist, mit dem zwar nicht die Ungültigkeit, aber immerhin die Unanwendbarkeit des EU-Rechtsakts im deutschen Rechtsraum festgestellt werden konnte. Das BVerfG ist daher gehindert, unmittelbar über die Geltung von Sekundärrechtsakten der EU zu entscheiden; sie sind keine Akte deutscher Staatsgewalt. Doch prüft das BVerfG sie als Vorfrage insoweit, als die EU-Akte Grundlage für Maßnahmen deutscher Organe sind, oder „aus der Integrationsverantwortung folgende Reaktionspflichten deutscher Verfassungsorgane auslösen“.69 EU-Recht wird von nationalen Richtern auf verschiedene Weise angewendet, 33 etwa wenn EU-Bürger durch das EU-Recht verliehene Rechte geltend machen oder wenn bei der Anwendung, Auslegung oder Geltungsklärung nationalen Rechts einschlägiges Unionsrecht heranzuziehen ist. Für solche Sachverhalte ist die Vorabentscheidungszuständigkeit des EuGH gemäß Art 267 AEUV das zentrale Scharnier, aufgrund dessen die nationalen Gerichte Zweifelsfragen über die Auslegung von EURecht dem EuGH vorlegen. Dadurch wirken die nationalen Richter an der „ordnungsgemäßen Anwendung und einheitlichen Auslegung des Unionsrechts sowie am Schutz der den Einzelnen von dieser Rechtsordnung gewährten Rechte mit“.70 Über ein Vorabentscheidungsersuchen ist der EuGH in die nationale Ge34 richtsbarkeit der Mitgliedstaaten eingebunden.71 Der EuGH ist gesetzlicher Richter nach Art 101 I 2 GG.72 Eine Verletzung liegt dann vor, wenn ein deutsches Gericht 32

_____ richterlichen Unabhängigkeit: völlige Autonomie, Unabsetzbarkeit, der Bedeutung angemessene Vergütung, Unparteilichkeit, Sachlichkeit, Entscheidung strikt nach Rechtsnormen. 66 S BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (LS 7 und S 175) – Maastricht. 67 So explizit Streinz Rn 247. 68 Dazu auch Sachs/Streinz Art 23 GG Rn 52. 69 BVerfGE 122, 1 (20) – Agrarmarktbeihilfen; 142, 123 (179 f) – OMT. Zitat ebd auf S 180. Zu den Reaktionspflichten deutscher Verfassungsorgane aus der Integrationsverantwortung Weiß JuS 2018, 1046 (1049 f). 70 EuGH, Gutachten 1/09 – Patentgerichtsbarkeit, Rn 84. 71 Vgl BVerfG, 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (368) – Solange II. 72 BVerfG, 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (367) – Solange II. Dazu Calliess NJW 2013, 1905. Wolfgang Weiß

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seiner Vorlagepflicht willkürlich nicht nachkommt. Das ist der Fall, wenn die Entscheidung des Gerichts nicht mehr verständlich und offensichtlich unhaltbar ist,73 weil eine Vorlage gar nicht in Erwägung gezogen wurde, obschon objektiv Zweifel an der richtigen rechtlichen Lösung einer Frage bestanden, ferner wenn das Gericht von der Rechtsprechung des EuGH abweicht, oder wenn es seinen Beurteilungsspielraum offenkundig überschritten hat, was vorliegt, wenn die Gegenauffassung der des Gerichts eindeutig vorzuziehen ist.74 Die funktionelle Verschränkung der Gerichtsbarkeiten besteht nicht nur im for- 35 malisierten Dialog des Vorabentscheidungsverfahrens, sondern auch im informalen Kontakt.75 Trotz dieser geklärten Grundsätze erweist sich die Realität des Verfassungsge- 36 richtsverbunds als nicht unproblematisch, auch angesichts der aus der fehlenden hierarchischen Stufung folgenden prinzipiellen Gleichordnung der Verfassungsgerichte und des EuGH. Zwar bekennt sich das BVerfG zu einem Kooperationsverhältnis mit dem EuGH bei der Ausübung seiner Kontrollzuständigkeiten für die Grenzen der Integration. Daher übe es seine Kontrollbefugnisse zurückhaltend und europarechtsfreundlich aus und lege seiner Prüfung – soweit erforderlich – die Unionsmaßnahme in der Auslegung zugrunde, die ihr vom EuGH in einer Vorabentscheidung gegeben wurde. Indes zeigt sich eine Verschiebung: Während das BVerfG früher klarstellte, dass der EuGH für den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall zuständig sei, der in den Anwendungsbereich des Unionsrechts falle, während das BVerfG sich zurücknehme auf die Sicherstellung des unabdingbaren Grundrechtsstandards nach dem GG, betonte das BVerfG zuletzt, dass es im Rahmen der Identitätskontrolle den gemäß Art 23 I 3 iVm Art 79 III und Art 1 I GG unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Hinblick auf die Menschenwürde uneingeschränkt und im Einzelfall gewährleiste.76 Auch ist die Kooperation ausbaufähig. Regelmäßig besteht allenfalls eine friedliche Koexistenz, weil das BVerfG von dem Verklammerungsinstrument der Vorlage erst zweimal Gebrauch gemacht hat (beide Male im Streit um die Reichweite von EZB-Kompetenzen), was das Kooperationsverhältnis eher zu einer bloßen Beschwichtigungsformel reduziert.77 Die im Dialog zwischen

_____ 73 BVerfG, 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 (315) – Honeywell. 74 Die Rechtsprechung des BVerfG ist leider uneinheitlich zu den genauen Voraussetzungen einer willkürlichen Entscheidung, Streinz Rn 727. Vgl zuletzt BVerfGE 147, 364, Rn 40 ff. 75 Skouris NVwZ-Beilage 2013, 32. 76 Vgl zunächst BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (175) – Maastricht, sodann BVerfGE 140, 317 (339, 341) – Identitätskontrolle. Beachte aber den Vorrang der Prüfung auf Verletzung der Vorlagepflicht, dazu sogleich. 77 So kritisch Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge/Bethge Vorbemerkung Teil B Rn 229a. Kritik an der Nichtvorlage des BVerfG in der Entscheidung zur Antiterrordatei (E 133, 277 [316, Rn 91]) im Hinblick auf die Bestimmung der Reichweite unionalen Grundrechtsschutzes gemäß Art 51 EUGrundrechtecharta kam auch vom Richter des EuGH vDanwitz EuGRZ 2013, 253 (261). Dazu Rn 127, Wolfgang Weiß

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EuGH und anderen Obergerichten erkennbare wechselseitige Beeinflussungsmöglichkeit wird vom BVerfG nicht hinreichend genutzt. Zwar beteiligt sich das BVerfG durch seine Judikatur, seine Auseinandersetzung mit Urteilen des EuGH und durch informale Gespräche am Dialog, doch wird der unmittelbarste und von ihm selbst herausgestellte Weg der Vorabentscheidung von ihm kaum beschritten.78 Allerdings kann es als Ausdruck der Kooperation angesehen werden, wenn das BVerfG jüngst der Identitätskontrolle eine Prüfung auf Entzug des gesetzlichen Richters wegen Verletzung der Vorlagepflicht vorschaltet (dazu Rn 175). Das BVerfG kann infolge unterlassener Vorabentscheidungsersuchen wichtige Themen auf EU-Ebene nicht direkt mitbestimmen. Das vorlegende Gericht leitet durch die Begründung der Vorlage, die die nationale Perspektive detailliert darstellt, die Präsentation des Rechtsproblems; es kann dadurch seine Argumente unmittelbar einbringen und beeinflusst damit die Beantwortung und die dabei zu erörternden Rechtsfragen.79 Die Debatte zur Bewältigung der rechtlichen Problematik wird unter den Bedingungen des Vorlagegerichts geführt.80 Es entspricht daher weder Begriff noch Sinn und Geist des Kooperationsverhältnisses, dass das BVerfG der Vorlage von wichtigen Rechtsfragen des EU-Rechts eher ausweicht.

2. Insbesondere: Die verfassungsrechtliche Integrationsermächtigung a) Übertragung von Hoheitsgewalt und Integrationsauftrag des GG 37 Verfassungsrechtliche Ermächtigung zur Mitwirkung an einer hoheitlichen zwischenstaatlichen Einrichtung wie der EU war zunächst die allgemeine Regelung in Art 24 GG, der in den Anfangsjahren der Europäischen Integration auch auf sie Anwendung fand. Seit Anfang der 1990er Jahre gibt es mit Art 23 GG81 eine spezielle

_____ 166. Eine Vorlage zur umfassenden Klärung der Rechtslage wäre auch bei § 40 Abs 1a des Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuchs zur behördlichen Verbraucherinformation über Grenzwertüberschreitungen oder Hygienemängel geboten gewesen; das BVerfG, JZ 2018, 994, LS 3, Rn 22 will die Vereinbarkeit eines Gesetzes mit dem GG auch prüfen, wenn zugleich Zweifel an der Vereinbarkeit mit EU-Recht bestehen, ließ letztere offen und legte auch nicht vor. Die Funktion des Vorlagemechanismus hätte hier geboten das Gericht, das die Normenkontrolle erhoben hatte, erst zur Vorlage an den EuGH zu verpflichten und die Judikatur zur Unzulässigkeit mangels Entscheidungserheblichkeit (Rn 238) auszuweiten oder selbst vorzulegen. Ähnlich zum kirchlichen Arbeitsrecht im Licht von Art 4 II RL 2000/78 BVerfGE 137, 273 versus EuGH, Rs C-68/17 – IR. 78 Zu Vorlagen anderer Verfassungsgerichte vgl für Spanien EuGH, Rs C-399/11 – Melloni, oder für Österreich Rs C-594/12 – Seitlinger. Auch der italienische Verfassungsgerichtshof hat seine Zurückhaltung aufgegeben, Claes/de Visser/Popelier/Van de Heyning/Pollicino S 112 ff. 79 vDanwitz EuGRZ 2013, 253 (261). 80 Lenaerts in einem Interview mit der SZ, s Süddeutsche Zeitung vom 26.2.2013, S 6. 81 Art 23 GG wurde eingefügt durch das Gesetz vom 21.12.1992, BGBl 1992 I 2086, und bezüglich Abs 1a und Abs 6 nachfolgend geändert. Wolfgang Weiß

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Vorschrift, die viel detaillierter die deutsche Mitwirkung in der EU regelt und Schranken aufzeigt. Zunächst drückt Art. 23 die verfassungsrechtliche Verpflichtung aus, sich an der Europäischen Integration zu beteiligen.82 Das ergibt sich bereits aus der Präambel, wonach Deutschland in einem vereinten Europa dem Weltfrieden dienen will. Zu Recht sieht das BVerfG in diesen Aussagen eine Grundentscheidung und einen Verfassungsauftrag und leitet daraus den Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit des GG ab.83 Die Staatlichkeit Deutschlands ist offen für internationale, insbesondere europäische Integrationsprozesse, sog offene Staatlichkeit.84 Der Verfassungsauftrag gibt – außerhalb der Strukturanforderungen in Art 23 I GG – keine konkrete Gestaltung und Entwicklung der EU vor, so dass der Politik erhebliche Gestaltungsspielräume bleiben und die EU in ihrer jeweiligen Gestalt nicht von Verfassung wegen irreversibel ist. Die derzeitige EU in Nutzung des Austrittsrechts nach Art 50 EUV zu verlassen, wäre allerdings – abgesehen von einer eklatanten Überschreitung der Integrationsschranken – nur dann kein Verfassungsbruch, wenn damit der Verfassungsauftrag nicht aufgegeben würde. Zur konkreten Umsetzung des Verfassungsauftrags überträgt die Bundesrepublik nach Art 23 I 2 GG Hoheitsrechte an die EU. Eine solche Übertragung ist Grundvoraussetzung für die Ausübung von Hoheitsgewalt durch die EU in Deutschland, da die EU keine originäre Hoheitsgewalt hat, sondern wie jede internationale Organisation nur eine abgeleitete, von Staaten auf sie übertragene Hoheitsgewalt. Die Übertragung von Hoheitsgewalt darf nicht wie eine Abtretung von Hoheitsgewalt, also eine sachenrechtliche, dingliche Abgabe verstanden werden, so als ob der übertragenden Einheit etwas verloren ginge.85 Das BVerfG sprach zutreffend von einer Öffnung der deutschen Rechtsordnung für fremde Hoheitsakte: „Die nationale Rechtsordnung [öffnet sich] derart, dass der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik … zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle … Raum gelassen wird.“86 Somit ist Übertragung von Hoheitsgewalt nicht nur überhaupt zulässig, sondern das daraus folgende Recht ist auch innerstaatlich anzuerkennen.87 Die durch Art 23 I 2 GG übertragbare Hoheitsgewalt bezieht sich auf die mit innerstaatlicher Wirkung auszuübende Hoheitsgewalt. Es geht nicht nur um Übertragung auf völkerrechtlicher Ebene, die die EU befähigt, (nur) im zwischenstaatlichen

_____ 82 Maunz/Dürig/Scholz Art 23 GG Rn 50. 83 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (346 f) – Lissabon. 84 Vgl schon BVerfG, 2 BvL 52/71, BVerfGE 37, 271 (280) – Solange I. 85 S etwa Flint S 141, 151 ff. 86 So BVerfG, 2 BvL 52/71, BVerfGE 37, 271 (280) − Solange I; 2 BvR 1107/77, BVerfGE 58, 1 (28) − Eurocontrol; 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (374) – Solange II. 87 BVerfG, 2 BvR 255/69, BVerfGE 31, 145 (173 f) – Milchpulver. Wolfgang Weiß

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Verkehr zu handeln, sondern auch um die Übertragung von legislativer, exekutiver oder judikativer Hoheitsgewalt mit Wirkung nach innen. Eine Übertragung von Hoheitsgewalt gewährt der EU die Rechtsmacht, bindende Rechtshandlungen zu erlassen, die in Deutschland gelten, ohne dass es eines besonderen Umsetzungsakts bedarf; sie entfalten somit Durchgriffswirkung.88 Dabei erfolgt die Übertragung unabhängig davon, ob intern die Hoheitsgewalt dem Bund oder den Ländern zukommt. Die Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsgewalt gebietet, dass nicht pau43 schal Hoheitsrechte unbegrenzt abgeben werden oder die Kompetenz-Kompetenz übergeben wird. Die Übertragung von Hoheitsrechten muss hinreichend präzise erfolgen. Blankettermächtigungen sind unzulässig. Das Integrationsprogramm der EU muss daher hinreichend bestimmt sein.89 Falls es doch zu „dynamischen Vertragsvorschriften mit Blankettcharakter“ kommt, müssen geeignete Sicherungen zur effektiven Wahrnehmung der Integrationsverantwortung getroffen werden, wenn sie noch in einer Weise ausgelegt werden können, die die Grenzen der Integration aus Art 20 I, II GG iVm Art 79 III GG wahrt.90 Das gebieten Art 23 GG wie auch das Demokratieprinzip, das zur demokratischen Absicherung der Übertragung von Hoheitsgewalt ihre Bestimmbarkeit erfordert. Bundestag und Bundesrat müssen erkennen können, zu welcher Hoheitsrechtsübertragung sie ihre Zustimmung erteilen.91 Die nationalverfassungsrechtliche Ermächtigung zur Übertragung von zumin44 dest bestimmbaren, begrenzten Hoheitsrechten findet ihr unionsrechtliches Pendant im Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art 5 II EUV). Die Hoheitsgewalt der EU ist auf die übertragenen Zuständigkeiten begrenzt. Die EU muss ihre Grenzen einhalten und darf sich keine neuen Zuständigkeiten zuweisen; die Übertragung der Kompetenz-Kompetenz ist ausgeschlossen.92 Das schließt nicht aus, der EU in begrenztem Rahmen die Weiterentwicklung der Unionsrechtsordnung zu übertragen (vgl die Abrundungskompetenz nach Art 352 AEUV), zumal die Verträge damit den Rahmen setzen.

_____ 88 Sachs/Streinz Art 23 GG Rn 56. Durchgriffswirkung ist aber keine notwendige Bedingung, vgl BVerfGE 131, 152 (218) – Unterrichtung ESM: Demnach ist „jede Zuweisung von Aufgaben und Befugnissen an die [EU] … eine Übertragung von Hoheitsrechten.“ Es genügt eine Zuständigkeitsübertragung zu Entscheidungen, die für Rechtsgüter in Deutschland erhebliche Relevanz haben, vgl Dreier/Wollenschläger, Art. 23, Rn 44; BK/Schorkopf, Art. 23, Rn 65; Sachs/Streinz, Art. 23 GG, Rn 56a. 89 BVerfG, 2 BvR 1107/77, BVerfGE 58, 1 (37) − Eurocontrol; 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (183, 187 f) – Maastricht; 2 BvE 2/08, 123, 267 (351) – Lissabon. 90 BVerfG, 2 BvR 1390/12, BVerfGE 132, 195 (238 f, Rn 105) – ESM; 142, 123 (192, Rn 130) – OMT; näher Rn 168 f. 91 Vgl BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (361) – Lissabon; 2 BvR 987, BVerfGE 129, 124 (179 f) − Rettungsschirm, zur Bestimmtheit haushaltspolitischer Ermächtigungen. 92 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (349) – Lissabon. Wolfgang Weiß

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Art 23 GG verpflichtet nicht nur zur Mitwirkung an der EU und ermächtigt zur Übertragung von Hoheitsrechten, sondern benennt auch die Schranken der Integrationsermächtigung in Abs 1 durch „verbindliche Strukturvorgaben“93 an die EU, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen, der Subsidiarität und einem vergleichbaren Grundrechtsschutz verpflichtet sein muss. Materielle Grenzen der Übertragung von Hoheitsgewalt ergeben sich aus der Bezugnahme auf die Ewigkeitsgarantie des Art 79 III GG in Art 23 I 3 GG. Daher gelten die Kerngehalte gemäß Art 1 I und Art 20 GG hinsichtlich Grundrechtsschutz, Rechtsstaatlichkeit, Bundes- und Sozialstaatlichkeit als absolute Grenze; sie dürfen nicht übertragen werden, und eine Übertragung darf sie nicht verletzen.94 Art 23 GG gibt damit Anforderungen und Vorgaben an die EU vor und formuliert somit Grenzen. Weil Deutschland verfassungsrechtlich diese Grenzen einzuhalten hat, darf sich die EU nicht in eine Richtung entwickeln, die diese verletzt. Das gilt in gleicher Weise für die Verfassungsvorbehalte anderer Länder, so dass solche nationalen Integrationsschranken stets auch zulasten oder zugunsten anderer Mitgliedstaaten wirken95 und die EU sich nur in die Richtung fortentwickeln darf, die mit allen Integrationsschranken vereinbar ist. Allerdings ist die EU nicht bereits unionsrechtlich an die national-verfassungsrechtlichen Integrationsschranken gebunden.96 Diese national-verfassungsrechtlich klare Aussage ist mit Einschränkungen zu versehen: Zum einen beeinflusst die europäische (Rechts)Entwicklung im Sinne der skizzierten Verschränkung von nationalem und EU-Recht die Auslegung der Grenzen aus Art 23 GG mit. Zum anderen hat das GG durchaus Veränderungen wegen europäischer Anforderungen erfahren, die einen für notwendig erachteten weiteren Integrationsschritt national-verfassungsrechtlich vorbereiteten und begleiteten (vgl die Änderung von Art 16 II GG zur Umsetzung des Europäischen Haftbefehls und von Art 28 I GG zum Kommunalwahlrecht für EU-Bürger). Insofern hat sich die nationale Verfassungslage nicht als starre Grenze der Integration gezeigt; nichts steht der Überlegung entgegen, dass auch die Integrationsermächtigung und ihre Schranken im Lichte der Integrationsentwicklung verändert oder auch nur interpretativ fortgeschrieben werden. Art 23 I GG bestimmt schließlich das Verfahren zur Übertragung von Hoheitsrechten. Es bedarf eines Bundesgesetzes mit Zustimmung des Bundesrats, insofern strenger als bei 24 GG. Die höheren Anforderungen bei Art 23 GG erklären sich aus den intensiven Folgen der europäischen Integration für die bundesstaatliche Ord-

_____ 93 94 95 96

BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (348) – Lissabon. BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (348) – Lissabon; vgl Rn 160 ff. Huber VVDStRL 60 (2001), 194 (225). Sauer EuR 2017, 186 (193 f).

Wolfgang Weiß

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nung, da regelmäßig auch Gesetzgebungsbelange der Länder betroffen sind.97 Bei der Kompetenzübertragung und -ausübung auf Unionsebene wird nicht danach differenziert, ob eine Landes- oder eine Bundeszuständigkeit betroffen ist. Die Mitwirkung des Bundesrates und der Länder bei der Europäischen Integration ist in Art 23 II, IV bis VI GG iVm EUZBLG geregelt.98

b) Andere Mitgliedstaaten 49 Verfassungsrechtliche Integrationsklauseln gibt es in den meisten EU-Mitgliedstaaten.99 Sie sind manchmal nicht speziell auf die EU bezogen, sondern regeln generell die Mitwirkung in oder Hoheitsübertragung auf internationale Organisationen, wie Art 93 der Spanischen Verfassung,100 Art 28 II der Verfassung Griechenlands101 oder Art 11 der Italienischen Verfassung. In Großbritannien wurde mit dem European Communities Act 1972 der Beitritt mangels geschriebener Verfassung auf ein Gesetz gestützt. Entsprechend musste das für den Brexit zumindest teilweise aufgehoben und dafür das Parlament beteiligt werden.102 Diese nationalen Regeln – das sog staatliche Europaverfassungsrecht103 − sind 50 unterschiedlich ausgestaltet. Kernfunktionen sind die grundsätzliche Ermächtigung oder gar Verpflichtung zur Mitwirkung an der EU oder an zwischenstaatlicher Zusammenarbeit, ferner die verfassungsrechtliche Legitimation für die Übertragung von Hoheitsgewalt. Zum anderen sind die Regeln Anknüpfungspunkt für die Klärung des Verhältnisses von nationalem und EU-Recht und regeln das Verfahren der Hoheitsübertragung und der Beschlussfassung nationaler Verfassungsorgane in EUAngelegenheiten. Die Regeln erfüllen diese Funktionen oft nur teilweise und recht unterschiedlich. Die Klauseln sind teilweise eher eng angelegt, so dass die Ermächtigung auf 51 die Übertragung „einzelner Hoheitsrechte“ oder „einiger Befugnisse“ beschränkt ist (so Art 9 II iVm Art 50 I Nr 2 Bundesverfassung Österreich,104 Art 88-1 Französische

_____ 97 Maunz/Dürig/Scholz Art 23 GG Rn 96. Zur daraus folgenden Rolle der Landtage in der Integrationsverantwortung Weiß JuS 2019, 97. 98 Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der EU. Vgl dazu Mellein EuR 2011, Beiheft 1, 13 ff und von Arnauld/Hufen passim. 99 Für einen Überblick näher Classen S 288–290. Die einschlägigen Bestimmungen der nationalen Verfassungen aller EU-Mitgliedstaaten und Beitrittskandidaten sind abgedruckt bei Wendel S 613–695. 100 vBogdandy/Cruz Villalón/Huber/Guerrero IPE I § 11 Rn 31. 101 Wendel S 635; Papadopoulou ZaöRV 2014, 143. 102 Näher Peers, European Parliament Briefing PE 596.831. 103 Begriff Schwarze/Häberle Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit S 18 f. 104 Verfassungsrechtliche Grundlage für den EU-Beitritt war das Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt Österreichs zur EU, das aber keine Regeln über die Übertragung von Hoheitsrechten formuliert. Wolfgang Weiß

I. Die Begründung der EU und ihres Rechts im nationalen Recht | 383

Verfassung oder Art E II Verfassung Ungarns), nur in recht engen Grenzen erfolgen darf (Art 49bis Luxemburgische Verfassung: vorübergehende Übertragung von Befugnissen auf internationale Institutionen) oder ausdrücklich sich nur auf einen bestimmten Änderungsvertrag des EU-Primärrechts bezieht wie in Frankreich. Enge Klauseln erfordern wie in Frankreich und Irland für jede wesentliche Fortschreibung des Integrationsprozesses eine Verfassungsänderung.105 Teilweise sind die Klauseln eher weit formuliert, legen aber bestimmte Anfor- 52 derungen an die Gestalt der EU fest. So hat Schweden eine ähnliche Struktursicherungsklausel wie das GG, zumal dort die Solange-Formel des BVerfG vorübergehend in den Verfassungstext Eingang gefunden hatte.106 Art 7 VI Verfassung Portugals erlaubt im Hinblick auf recht allgemein formulierte Politiken Vereinbarungen über die gemeinschaftliche Ausübung der zu Bildung und Festigung der EU erforderlichen Befugnisse.

3. Zur Rolle und Bedeutung nationaler Institutionen in der EU Die Verschränkung der nationalen und der unionalen Ebene zeigt sich auch in der 53 Verflechtung der Institutionen. Der Rat ist anders als andere supranationale Organe (Kommission, EuGH) nicht mit eigenen Beamten der supranationalen Ebene oder eigens von den Unionsbürgern unmittelbar legitimierten Mandatsträgern wie im Europäischen Parlament besetzt, sondern besteht aus den nach Brüssel entsandten nationalen Regierungsrepräsentanten, die dort auch nationale Interessen verfolgen. Die Verzahnung der Institutionen wurde durch den Vertrag von Lissabon inten- 54 siviert:107 Der Europäische Rat als Leitungsorgan der EU108 (er treibt die Entwicklung der Union wesentlich voran und stellt die entscheidenden Weichen, Art 15 EUV), nun formal supranationales Organ,109 besteht – abgesehen von den an Abstimmungen nicht beteiligten Präsidenten der Kommission und Präsidenten des Europäischen Rats − aus den nationalen Staats- und Regierungschefs. Wie das BVerfG mit Blick auf den Staatenverbund EU äußerte:110 Die Union ist auch heute primär gouvernemental insofern, als ihre grundlegende Entwicklung im Austausch zwischen den nationalen Regierungen bestimmt wird. Das kann in der Euro- oder der Migrationskrise beobachtet werden.

_____ 105 Huber VVDStRL 60 (2001), 194 (216). 106 Wendel S 449 f. 107 vBogdandy/Bast/vBogdandy S 51. 108 Streinz Rn 290. 109 Allerdings spiegelt die Zusammensetzung die Natur der EU als eines Staatenverbunds wider, Streinz Rn 290. 110 Vgl BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (186) – Maastricht. Wolfgang Weiß

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Lissabon hat auch die Rolle der nationalen Parlamente aufgewertet. Sie sind anders als davor nicht mehr nur relevant bei der Weiterentwicklung der vertraglichen Grundlagen infolge ihres Zustimmungserfordernisses bei Änderungen der Verträge und Erweiterungen. Sie sind nicht mehr nur indirekt an europäischer Rechtsetzung beteiligt über den Einfluss auf die nationalen Vertreter im Rat. Sondern sie sind genuin auf europäischer Ebene einbezogen (Art 12 EUV). Die nationalen Parlamente sind im ordentlichen Änderungsverfahren im Konvent vertreten (Art 48 III EUV) und bestimmen die Inhalte neuer Verträge mit; sie sind nicht mehr auf die bloße Ablehnung oder Billigung der Ergebnisse einer Regierungskonferenz reduziert. Ferner sind die nationalen Parlamente teilweise an der europäischen Gesetzgebung beteiligt. Sie können bestimmte EU-Rechtsakte verhindern; der Widerspruch eines nationalen Parlamentes genügt bei Vorhaben nach Art 48 VII EUV und Art 81 III AEUV. Die nationalen Parlamente werden von bestimmten Vorhaben besonders informiert (Art 352 II AEUV). Sie achten auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips bei der Rechtsetzung der EU (s Art 5 III EUV iVm dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, Art 69 AEUV). Die nationalen Parlamente werden ferner neben dem Europäischen Parlament in die Kontrolle und Bewertung von Politiken im Bereich der inneren Sicherheits- und Innenpolitik und zugehöriger Institutionen (Europol, Eurojust) einbezogen (Art 70, 71, 85 I, 88 II AEUV). Doch auch nationalen Behörden und Richtern außerhalb der Verflechtung in 56 supranationalen Institutionen kommt eine europäische Dimension zu infolge der mitgliedstaatlichen Vollziehung des Unionsrechts. Unionsrecht wird überwiegend durch nationale Stellen vollzogen.111 Sobald nationale Verwaltungsmitarbeiter oder Richter EU-Recht anwenden, sind sie zugleich europäische Amtsträger, weil sie einen Unionsakt ausführen oder umsetzen. Sie handeln als Akteure des europäischen Gemeinwohls. In dieser agency situation agieren nationale Stellen wie ein Vertreter der EU.112 Nationale Richter werden funktional zu Unionsgerichten (Rn 30 ff). Damit trotz des dezentralen Vollzugs die Einheitlichkeit der Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten gesichert ist, hat der EuGH nicht nur den Vorrang des Unionsrechts postuliert, sondern aus der Loyalitätsverpflichtung (Art 4 III EUV) konkrete Rechtspflichten abgeleitet, die die Einheitlichkeit und Wirksamkeit des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten gewährleisten sollen, etwa die Verpflichtung zu wirksamen Sanktionen bei Verletzungen des EU-Rechts.113 Die Kommission begleitet den nationalen Vollzug des Unionsrechts.114 55

_____ 111 112 113 114

S oben Rn 28 ff. Vgl für die nationale Anwendung von EU-Grundrechten Neuwahl/Rosas/Weiler S 67 ff. Vgl EuGH, Rs 68/88 – Griechenland, Rn 22 ff; Rs C-617/10 – Åkerberg Fransson, Rn 25. Zum Verwaltungsverbund zwischen EU und Mitgliedstaaten s bereits Rn 28 ff. Wolfgang Weiß

I. Die Begründung der EU und ihres Rechts im nationalen Recht | 385

4. Konsequenzen für Souveränität und Autonomie Die Verflechtung von nationaler und europäischer (Verfassungs)Rechtsordnung, die Übertragung von Hoheitsgewalt und die Beteiligung nationaler Verfassungsinstitutionen an EU-Akten verändert die nationale Souveränität. Gemeinhin wird die Übertragung von Hoheitsgewalt als Abgabe von Souveränität an die EU verstanden. Obschon die Kompetenz-Kompetenz bei den Mitgliedstaaten bleibt und die EU keinen Zugriff auf die Kompetenzverteilung hat und an den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung gebunden ist (abgesehen von begrenzten Kompetenzauswucherungen durch implied powers), wird nationale Souveränität als eingeschränkt, aber infolge ihres originären Charakters als weiterhin fortbestehend angesehen.115 Infolge der Einbindung der EU in die Hoheitsausübung geht man von einer zwischen den Mitgliedstaaten und der EU geteilten Souveränität aus.116 Dafür spricht, dass klassische staatliche Funktionen wie Rechtsprechung oder Gesetzgebung jetzt auch durch EU-Organe ausgeübt werden. Vorzugswürdig erscheint eine Sichtweise, die eine Übertragung von Hoheitsgewalt auf die EU nicht als Einschränkung oder Abgabe nationaler Souveränität ansieht, sondern als Veränderung durch die Öffnung der nationalen Souveränitätsausübung zugunsten einer gemeinsamen Souveränitätsausübung. Das Postulat klassischer Souveränität im Sinne absoluter nationaler Selbständigkeit und Unabhängigkeit nach innen wie nach außen, das hinter der Wahrnehmung der EU als Bedrohung für die nationale Souveränität steht, ist angesichts der vielfältigen internationalen Abhängigkeiten und weltweiter grenzüberschreitender Probleme wie Umweltverschmutzung, Klimawandel, Flüchtlingsströme oder Steuerflucht ohnehin anachronistisch. Internationale Zusammenarbeit ist notwendig, um grenzüberschreitende oder auch innerstaatliche, aber durch die Begrenzung der Regelungshoheit auf das nationale Territorium national kaum lösbare Probleme sinnvoll angehen zu können. Internationale Zusammenarbeit ist Ausdruck nationaler (gemeinsamer) Souveränitätsausübung. Hinzu kommt, dass die Wahrnehmung vorgeblicher Souveränitätsverluste der Mitgliedstaaten verkennt, dass die EU deren Möglichkeit zur Politikgestaltung ausweitet und nationale Souveränität stärkt. Die Mitgliedstaaten bestimmen durch gemeinsame Politik nicht nur über ihren Hoheitsraum, und dies mit Aussicht auf mehr Durchschlagskraft, sondern auch die Politik im Zuständigkeitsgebiet der anderen. Deutsche Vertreter im Rat legen die innere Ordnung auch in den anderen Staaten (mit)fest.

_____ 115 vBogdandy/Bast/Oeter S 96. Auch der EuGH, Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L., Slg 1964, 1253 (1270) spricht von „Beschränkung“ bzw „Einschränkung“ (so Gutachten 1/91 – EWR I, Rn 21) ihrer Souveränitätsrechte. 116 Vgl Huber VVDStRL 60 (2001), 194 (210); vBogdandy/Bast/Oeter S 95. S auch Habermas S 63 ff, 69 ff. Wolfgang Weiß

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Die wechselseitigen Verflechtungen der Mitgliedstaaten in der EU erweitern damit den nationalen Einflussbereich und legen damit eine Wahrnehmung nahe, die die EU nicht als Einschränkung nationaler Souveränität ansieht, zumal gemeinsames Auftreten nach außen die internationale Durchsetzungskraft erhöht. Die Hoheitsgewalt der EU ist in der Sichtweise einer gemeinsamen, komple63 mentären Souveränitätsausübung117 nicht von einem Verlust an nationaler Souveränität bestimmt. Es geht um eine veränderte Betrachtung der Ausübung nationaler Souveränität, nämlich als gemeinsam durch dafür geschaffene Organe ausgeübte. Es geht nicht um eine (Auf)Teilung der nationalen Souveränität zwischen EU und Mitgliedstaat, sondern um die Verbindung zu einer gemeinsamen Ausübung der übertragenen hoheitlichen Zuständigkeiten, wie es etwa in der ungarischen Verfassung in Art E II zum Ausdruck gelangt, wonach Ungarn „im Interesse seiner Teilnahme an der EU […] einzelne seiner dem Grundgesetz entstammenden Kompetenzen gemeinsam mit den anderen Mitgliedstaaten, über die Institutionen der EU ausüben“ kann; ähnlich Art 88-1 I Französische Verfassung. Auch das tschechische Verfassungsgericht hat in seinen Entscheidungen zu Lis64 sabon diese Sichtweise propagiert: Die EU ist Ausdruck gemeinsamer nationaler Souveränitätsausübung, zu der sich die Mitgliedstaaten verbinden; sie wird dadurch gestärkt.118 Das BVerfG betont zwar auch, dass das GG nicht von einer selbstgenügsamen und selbstherrlichen Vorstellung souveräner Staatlichkeit ausgeht, sondern Souveränität als völkerrechtlich geordnete und gebundene Freiheit auffasst.119 Dennoch stellt es die Sicherstellung der „souveräne(n) Verfassungsstaatlichkeit“120 in den Mittelpunkt und nimmt in seiner Beurteilung des Integrationsprozesses einen darauf fixierten Standpunkt ein, der die nationale Souveränität gegenüber der EU-Ebene aufwertet.121 In der Sichtweise des tschechischen Verfassungsgerichts handelt es sich bei der 65 EU – in Verbundterminologie – um einen Souveränitätsverbund (Magiera):122 So, wie EU und Nationalstaaten in einem Verfassungsverbund zusammengefasst sind, besteht auch ein Souveränitätsverbund zur gemeinsamen Ausübung. Entsprechend dem Häberle’schen Diktum, dass es nur so viel Staat gibt, wie die Verfassung konstituiert,123 gibt es im Verfassungsverbund nur so viel Souveränität, wie dieser vorsieht. 62

_____ 117 S auch MacCormick MLR 1993, 1 (16); Schliesky S 529 ff; Simon S 315. Gemeinsame Ausübung von Souveränität findet sich einmal bei BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (188 f) – Maastricht. 118 Vgl Tschechisches Verfassungsgericht, Entscheidung Pl ÚS 19/08 vom 26.11.2008, Tz 104 ff; Entscheidung Pl ÚS 29/09 vom 3.11.2009, Tz 147 f. 119 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (346) − Lissabon. 120 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (347) − Lissabon. 121 Wendel S 94. 122 Magiera VVDStRL 53 (1994), 137 (138). 123 Häberle S 620. Wolfgang Weiß

I. Die Begründung der EU und ihres Rechts im nationalen Recht | 387

Für eine Sichtweise der europäischen Integration nicht als Gefährdung nationa- 66 ler Souveränität, sondern als ihre Realisierung und Stärkung spricht auch die deutsche Erfahrung, die sich nach dem Fall der Mauer ähnlich in Osteuropa wiederholte: Die Teilhabe an der europäischen Integration ist Motor einer Wiedererlangung nationaler Souveränität. Die Integration Deutschlands in die EU war wesentlich für die Bereitschaft der Westmächte, ihm nach dem Krieg zunehmende Autonomie zuzugestehen; dies galt auch bei der Wiedervereinigung. Ohne Verankerung Deutschlands in der EU wäre die vom BVerfG der Integrationsentwicklung entgegengehaltene nationale Souveränität kaum Realität geworden. Die deutsche Souveränität gründet in einer Staatlichkeit, die sich der europäischen Integration verpflichtet weiß. Diese historische Entwicklung wurde vom BVerfG außer Acht gelassen.124 Für die Autonomie des EU-Rechts bedeutet seine Verklammerung mit dem na- 67 tionalen Recht und die Verbindung zur gemeinsamen Souveränitätsausübung, dass die verfassungsrechtlichen Grundlagen der EU sich nicht ablösen von ihrer zunächst völkerrechtlichen Grundlage und ihrer Begründung im nationalen Verfassungsrecht. Das schließt eine Autonomie der EU nicht aus. Die EU ist innerhalb der in diesen Grundlagen vorgezeichneten Bahnen in ihrer politischen Entwicklung und konkreten Ausgestaltung verfassungsrechtlicher Grundsätze autonom. Die aus dem Demokratie-, dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten für alle Hoheitsgewalt – und damit auch für die EU – zu bestimmenden Bindungen werden nicht allein aus dem Reservoir nationalstaatlicher Modelle, sondern auch gemäß den Funktionsbedingungen und -notwendigkeiten einer supranationalen Gemeinschaft konkretisiert. Nationalstaatliche Demokratiemodelle können nicht einfach auf die EU übertragen und ihr entgegengehalten werden, sondern haben ihren Eigenstand zu respektieren und sind entsprechend zu modifizieren. In der Grundrechtsanwendung zeigte sich die Autonomie darin, dass der 68 EuGH bei der Übernahme in den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten verwurzelter Grundrechte auf die Ebene der EU darauf geachtet hat, dass sich das Grundrecht in Struktur und Ziele der EU einfügte.125 Dieses Vorgehen war solange akzeptabel, als es nicht zur Relativierung der Grundrechte nur aufgrund institutioneller Erwägungen führte. Der Vorbehalt des Sicheinfügens in Struktur und Ziele wurde mit dem Inkrafttreten der EU-Grundrechtecharta unzulässig.126 Die Grundrechtecharta hat den EU-Grundrechtsschutz aus der Verbindung mit

_____ 124 Classen S 30. 125 Vgl schon EuGH, Rs 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft, Rn 4; Morano-Foadi/Vickers/ Weiß, S 69 (83 ff). 126 Daran ändert auch die Fortgeltung der EU-Grundrechte in Gestalt allgemeiner Rechtsgrundsätze (Art 6 III EUV) nichts, weil es sich bei den Chartarechten um eine eigenständige Grundrechtsquelle handelt, die vorrangig im Einklang mit der EMRK auszulegen ist, Art 52 III GRCh; dazu Weiß ZEuS 2005, 323. Wolfgang Weiß

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den nationalen Verfassungstraditionen herausgelöst und ihn in einen gemeinsamen europäischen Grundrechtsraum mit der EMRK als Mindeststandard eingebettet. Daher bedarf es seither nicht mehr der Betonung der Autonomie des EU-Grundrechtsschutzes zur Legitimation von dem Wesen der EU entsprechender Grundrechte. Die Auslegung und Anwendung der Chartarechte durch den EuGH kann nicht mehr unter einem solchen Vorbehalt erfolgen.127 II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung

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1. Vorbemerkung: Zur Kollision zwischen EU-Recht und nationalem Recht a) Zur Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Kollisionen Die Frage nach der Wirkung von Normen einer Rechtsordnung in einer anderen wird dort virulent, wo ein Konflikt zwischen den Normen vorliegt. Dann bedarf es der Klärung des Konflikts und der Existenz entsprechender Regeln. Dabei ist zwischen verschiedenen Kollisionsfällen zu differenzieren, nämlich zwischen direkten und indirekten Kollisionen von Normen. Direkte Kollisionen liegen vor, wenn zum selben Sachbereich EU-rechtliche Normen und nationale Normen unterschiedliche Rechtsfolgen anordnen. Da die Rechtsfolgen sich unterscheiden, muss geklärt werden, welche Norm anzuwenden ist und welche Kollisionsregel das entscheidet. Der Konflikt kann durch die Anordnung des Vorrangs einer Norm geklärt werden; die andere Norm bleibt außer Anwendung. Das Auflösen der Konfliktlage durch Nichtanwendung der einen zugunsten der Anwendung der anderen Norm setzt voraus, dass die vorrangig anzuwendende Norm auch unmittelbar anwendbar ist. Daher bedarf es für die Klärung direkter Kollisionen nicht nur einer Vorranganordnung für eine der beiden kollidierenden Normen, sondern auch der unmittelbaren Anwendbarkeit der vorrangigen Norm. Vorrang und Anwendbarkeit gehören zusammen, wie die Judikatur des EuGH zum Anwendungsvorrang128 zeigt. Bei indirekten Kollisionen gibt es keinen Widerspruch zweier unterschiedlicher Rechtsfolgen. Vielmehr kollidieren in dieser Situation Normen der einen Rechtsordnung mit Regelungen der anderen Rechtsordnung aus einem anderen Bereich. Indirekte Kollisionen sind davon gekennzeichnet, dass die anzuwendenden Regeln aus unterschiedlichen Bereichen kommen. Typisches Beispiel ist ein Konflikt zwischen Sachnormen und Verfahrensnormen. Konkret kann eine sachliche Regelung, die das Unionsrecht vorgibt, nationalen Prozessregeln zuwiderlaufen, etwa weil eine vom Unionsrecht in einer bestimmten Weise vorgesehene Lösung

_____ 127 Anders aber EuGH, Gutachten 2/13, Rn 170 – EMRK. Weitere Nachweise und Kritik dazu bei Weiß EuZW 2013, 287 (291 f); Weiß (Fn 125) S 84 ff. 128 S Rn 87–90, 144 ff. Wolfgang Weiß

II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung | 389

eines Sachproblems (zB Kriterien für eine Anlagengenehmigung) sich infolge nationaler Verfahrensregeln über Verwaltungs- und Gerichtsverfahren, etwa Rechtsbehelfsfristen oder Bestandskraft von Verwaltungsakten, nicht mehr durchsetzen lässt. Es kommt zu einem Konflikt nicht zwischen divergierenden sachrechtlichen Lösungen, sondern zwischen unionsrechtlicher materieller Regelung und mitgliedstaatlichen Verfahrensregeln zur Umsetzung.129 Ein solcher Konflikt kann – anders als bei direkten Kollisionen − nicht durch die Anwendung der einen und die Nichtanwendung der anderen Regeln gelöst werden, weil sowohl Sachnorm als auch Verfahrensnorm bei der Klärung eines Sachverhalts beachtet werden müssen. Anders als bei direkten Kollisionen besteht keine Alternativität der Normen. In der EU ist typischerweise nationales Verfahrensrecht die Grundlage für die Anwendung des unionalen Sachrechts. Daher können nationale Behörden nicht auf die Anwendung des einschlägigen nationalen Rechts verzichten.130 Bei dessen Befolgung haben sie zugleich die Anforderungen der unionsrechtlichen Sachnorm zu beachten. Das kann unter bestimmten, noch näher darzulegenden Umständen dazu führen, dass die nationale Norm zwar angewendet wird, aber nur teilweise oder modifiziert, so dass die Ziele der Sachnorm nicht untergraben werden. Die Rechtsordnung der EU enthält für beide Konfliktkonstellationen nicht völlig deckungsgleiche Konfliktlösungsregeln, die nur im Ausgangspunkt identisch sind, sich in ihren konkreten Folgen aber klar unterscheiden: Bei direkten Kollisionen zwischen unionalen und nationalen Sachnormen ist vorrangig das EU-Recht anzuwenden. Es gilt der nachstehend näher erklärte Anwendungsvorrang des EU-Rechts. Die nationale Regel bleibt außer Anwendung, zugunsten der Anwendung der unionalen Regel (dazu Rn 77, 83). Bei indirekten Kollisionen geht es im Grundsatz gleichfalls um die Befolgung des EU-Rechts und die Wahrung seines Vorrangs. Das führt aber nicht notwendig zur Nichtanwendung der nationalen Norm. Im Gegenteil: Die nationale Regel bleibt zu befolgen, aber in einer Weise, die die Durchsetzung der unionalen Norm und ihrer Gebote nicht von vornherein verhindert. Vielmehr ist der in der EU-Norm zum Ausdruck gelangenden Zielsetzung Rechnung zu tragen (dazu Rn 83, 148). In beiden Situationen haben die Mitgliedstaaten entsprechend ihrer Verpflichtung aus der Unionstreue (Art 4 III EUV) das Unionsrecht effektiv umzusetzen. Der Vorrang des Unionsrechts hat somit nicht immer die gleichen Wirkungen.131

_____ 129 Niedobitek Verwaltungsarchiv 2001, 58 (74). 130 vDanwitz/Heintzen/Jestaedt/Kadelbach S 133 f. 131 S auch Jarass/Beljin NVwZ 2004, 1 (5). Beim EuGH, der die Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Kollisionen nicht explizit kennt, klingt das durchaus an: Rs C-392/04 und 422/04 – i21 Germany und Arcor, Rn 49 f. Wolfgang Weiß

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b) Konsequenzen für die nationale Anwendung des EU-Rechts 77 Diese unterschiedliche Behandlung eines Konflikts zwischen nationalem und

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EU-Recht zeigt sich bei der seiner Anwendung durch mitgliedstaatliche Stellen. Den Sachverhalten der direkten und der indirekten Kollision lassen sich unterschiedliche Vollzugssituationen zuordnen: Im Falle direkter Kollision geht es um die direkte, unmittelbare Anwendung des Unionsrechts durch nationale Stellen. Hier ist dann das Unionsrecht unverändert und vollständig anzuwenden. Bei einer indirekten Kollision geht es auch um die Anwendung des Unionsrechts. Allerdings liegt ein Sachverhalt vor, in dem die Anwendung des Unionsrechts im Rahmen nationaler Verfahrensregeln erfolgt. Dann ist bei der Anwendung des nationalen Rechts Sorge für die effektive Wirkung des Unionsrechts zu tragen. Das Unionsrecht ist zu respektieren, anstatt unmittelbar anzuwenden; das Gebot der effektiven Umsetzung zeigt der Anwendung nationalen Rechts Schranken auf. Diese Vollzugssituation wird in Abgrenzung von der direkten Anwendung des Unionsrechts als respektierender Vollzug bezeichnet.132 Die nationalen Behörden bewegen sich im Anwendungsbereich des Unionsrechts und müssen dessen Ziele, Vorgaben und Wertungen beachten und zur effektiven Durchsetzung gegenüber nationalen Regeln verhelfen. Beide Situationen, sowohl die der direkten Anwendung von EU-Recht als auch die des respektierenden Vollzugs, gehören zur Thematik der nationalen Durchführung von Unionsrecht, deren Grundlinien hier kurz vorzustellen sind.133 Die Durchführung des Unionsrechts ist grundsätzlich Angelegenheit und Verantwortung der Mitgliedstaaten, Art. 291 I AEUV. Regelmäßig wird Unionsrecht nicht von europäischen Organen vollzogen, sondern ist – angesichts fehlender Verwaltungskompetenzen und -kapazitäten der EU – Aufgabe nationaler Stellen. Das wird als dezentraler, dh mitgliedstaatlicher Vollzug bezeichnet (im Gegensatz zum zentralen, unionseigenen). Die nationalen Stellen sind aus der Unionstreue, Art 4 III EUV, auf effektive Umsetzung des EU-Rechts verpflichtet. Dieser dezentrale Vollzug erfolgt entweder dadurch, dass nationale Stellen Unionsrecht unmittelbar anwenden. Oder aber Mitgliedstaaten setzen EURichtlinien in nationales Recht um und wenden dieses dann an. Mittelbar wird dann EU-Recht vollzogen. Die Situation des respektierenden Vollzugs lässt sich von dem unmittelbaren und dem mittelbaren dezentralen Vollzug des Unionsrechts unterscheiden. Beim respektierenden Vollzug geht es um die Anwendung genuin nationalen Rechts im Zuge der Vollziehung von Unionsrecht. Mit anderen Worten: Die indirekten Kollisionen ergeben sich bei Gelegenheit der Vollziehung von Unionsrecht mithilfe des nationalen Rechts.

_____ 132 Vgl Hegels S 32. 133 S vertieft Schroeder § 8 (in diesem Band) Rn 11 ff. Wolfgang Weiß

II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung | 391

Hintergrund des respektierenden Vollzugs ist der Umstand, dass das EU-Recht 83 sich regelmäßig auf sachrechtliche, also materielle Vorgaben beschränkt und keine oder nur wenige Vorgaben für den nationalen Vollzug enthält. Die (mittelbare oder unmittelbare) Anwendung von Unionsrecht vollzieht sich nach dem nationalen Verfahrensrecht. Denn soweit spezielle EU-Vorgaben fehlen, findet das nationale Recht Anwendung; die Mitgliedstaaten sind aus der Unionstreue, Art 4 III EUV, aufgefordert, für entsprechende Regeln zu sorgen und genießen insoweit Regelungsautonomie (Rn 84). Dieses nationale Recht darf in seiner Anwendung die effektive Vollziehung des Unionsrechts nicht behindern. Daher dürfen EU-rechtliche Sachverhalte im Vergleich zu vergleichbaren rein nationalen Sachverhalten nicht benachteiligt werden. Zum anderen müssen die Anforderungen des Unionsrechts effektiv umgesetzt werden; das gebietet eine modifizierte, den unionalen Anforderungen Rechnung tragende Anwendung des nationalen Rechts im Interesse der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten.134 Diese Anforderungen werden als Äquivalenzgebot und Effektivitätsgebot bezeichnet. 135 Die beiden Gebote aus der Unionstreue, Art 4 III EUV, werden relevant bei indirekten Kollisionen,136 während für direkte Kollisionen die Wirksamkeit des Unionsrechts seine unmittelbare Anwendung fordert. Während der Vorrang des Unionsrechts bei direkten Kollisionen zur Ersetzung des nationalen Rechts durch das EU-Recht in der Rechtsanwendung führt, bewirkt der Vorrang des Unionsrechts bei indirekten Kollisionen eine Modifizierung der Anwendung des nationalen Rechts, das im Grunde anwendbar bleibt. Aus der grundsätzlichen Anwendbarkeit des nationalen Rechts folgert der EuGH 84 die verfahrens- und organisationsrechtliche Autonomie der Mitgliedstaaten, die – innerhalb obiger Vorgaben – dem nationalen Recht die Gestaltungsfreiheit in der Verwaltungsorganisation, im –verfahren und im Prozessrecht belässt. Diese Verfahrensautonomie ist infolge der genannten Gebote stark beschnitten.

2. Der Vorrang des EU-Rechts aus der Sicht des Unionsrechts Der Rang des EU-Rechts in den nationalen Rechtsordnungen ist im Primärrecht nie 85 explizit geregelt worden (außer für Verordnungen, die nicht nur für, sondern in den Mitgliedstaaten gelten, s Art 288 II AEUV). Die allgemeine Vorrangregel im Ver-

_____ 134 EuGH, verb Rs 205 – 215/82 – Milchkontor, Rn 17 ff. Die für die Rückforderung unionsrechtswidriger nationaler Beihilfen einschlägigen §§ 48 ff VwVfG sind daher modifiziert anzuwenden: Der Vertrauensschutz nach § 48 II VwVfG und das Ermessen bei der Rücknahme entfällt, die Jahresfrist nach § 48 IV läuft nicht. Dazu EuGH, Rs C-24/95 – Alcan. 135 Vgl EuGH, Rs C-231/96 – Edis, Rn 34 ff; Rs C-505/14 – Klausner Holz, Rn 40. 136 Niedobitek Verwaltungsarchiv 2001, 58 (78). Wolfgang Weiß

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fassungsvertrag (Art I-6)137 trat infolge seines Scheiterns in den Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden nie in Kraft. Eine Vorrangregel wurde dann bewusst nicht in den Vertrag von Lissabon aufgenommen.138 Dort findet sich nur eine Erklärung (Nr 17) der Mitgliedstaaten in der Schlussakte, in der die Vertragsstaatenkonferenz darauf hinweist, dass „die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben.“139 Diese Erklärung ist − anders als Protokolle − nicht Bestandteil des Primärrechts, sondern bei der Auslegung der Verträge gemäß Art 31 II lit b) WVK zu beachten. Die Erklärung hat nur deklaratorischen Charakter. Das ist angesichts der festen Verankerung des Vorrangs durch den EuGH kein Nachteil.140 Unklar sind die dort angesprochenen Bedingungen, die die Vermutung nahelegen könnten, auch unional sei der Vorrang nicht grenzenlos.141 Eine allenfalls mittelbare primärrechtliche Verankerung hatte das Vor86 rangprinzip in Ziffer 2 des dem Vertrag von Amsterdam beigefügten Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit erlangt, wonach die vom EuGH „aufgestellten Grundsätze“ für das Verhältnis zwischen nationalem und EU-Recht nicht berührt werden. Dieser Verweis findet sich im heutigen Protokoll nicht mehr. Art 103 II lit e) AEUV enthält nur eine Rechtsetzungsermächtigung zur Klärung der Rangfrage und keine inhaltliche Regelung.

a) Begründung eines absoluten Vorrangs in der Rechtsprechung des EuGH 87 Der EuGH hat den Vorrang des EU-Rechts gegenüber nationalem Recht bereits 1963 herausgearbeitet. Die EWG stellt eine „neue Rechtsordnung des Völkerrechts dar“, deren Rechtssubjekte auch die Einzelnen sind. Das Gemeinschaftsrecht ist von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängig; es verleiht Einzelnen Rechte und legt Pflichten auf.142 Der EWGV hat „[z]um Unterschied von gewöhnlichen interna-

_____ 137 „Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der der Union übertragenen Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten.“ 138 Vgl Rn 3 mit Fn 1 des Mandats der Regierungskonferenz (die den späteren Lissabonner Vertrag vorbereitete) durch den Europäischen Rat vom 21./22.Juni 2007. Das Mandat ist wiedergegeben als Anhang I zu den Schlussfolgerungen des Vorsitzes, die sich finden unter: europa.eu/rapid/pressrelease_DOC-07-2_en.pdf. 139 ABl 2016 C 202/344. Im nächsten Satz wird das Gutachten des Juristischen Dienstes zur Vorrangfrage beigefügt und sodann zitiert. Das Gutachten verweist wiederum auf die zentralen Aussagen in der EuGH-Entscheidung Costa / E.N.E.L. 140 Schwarze Band II, S 35. 141 Vgl Streinz Rn 197, Fn 120. 142 EuGH, Rs 26/62 – van Gend & Loos, Slg 1963, 1. Wolfgang Weiß

II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung | 393

tionalen Verträgen […] eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die … in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist. [...] Die Mitgliedstaaten [haben] … einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist. Diese Aufnahme der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts in das Recht der einzelnen Mitgliedstaaten und, allgemeiner, Wortlaut und Geist des Vertrages haben zur Folge, dass es den Staaten unmöglich ist, gegen eine von ihnen angenommene Rechtsordnung nachträgliche einseitige Maßnahmen ins Feld zu führen. [...] Aus alledem folgt, daß dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll.“143 Eine primärrechtliche Bestätigung für seine Vorrangthese sieht der EuGH in der Vorgabe, dass Verordnungen in den Mitgliedstaaten unmittelbar gelten (Art 288 II AEUV) und dem Einzelnen Rechte gewähren können. Das Unionsrecht stellt demnach eine eigenständige, unabhängige Rechtsord- 88 nung dar. Der EuGH wendet sich gegen eine Sichtweise von EU-Recht und nationalem Recht als einheitliche Rechtsordnung, trotz der Durchgriffswirkung des Unionsrechts in das nationale Recht hinein. Der expliziten Feststellung der Durchgriffswirkung des Unionsrechts bedürfte es nicht, wenn EU-Recht und nationales Recht eine einheitliche Rechtsordnung darstellten.144 Andererseits sind Unionsrecht und nationales Recht keine vollständig autonomen Rechtsordnungen. EU-Recht wurde Teil der nationalen Rechtsordnung. Die Unionsrechtsordnung bleibt aber eigenständig. Die Begründung des EuGH geht davon aus, dass die Etablierung einer Gemein- 89 schaft, nunmehr Union, als eigener Rechtsordnung bedingt, ihrem Recht Vorrang vor nationalem Recht einzuräumen, weil anderenfalls die Einheitlichkeit dieser Rechtsordnung, ihre einheitliche Geltung, Auslegung und Anwendung in den Mitgliedstaaten gefährdet wäre, würde nationales Recht von EU-Vorgaben abweichen können. Der Charakter als gemeinsames Recht wäre aufgegeben. Tragende Argumente für den EuGH145 sind neben dem Wesen einer Integrationsgemeinschaft die Rechtseinheit, die Gleichheit, Funktionsfähigkeit, Eigenständigkeit und Effektivität des EU-Rechts. Der EuGH arbeitet auch, aber nicht nur mit einer Vermutung über den Willen der Vertragsparteien, die er dem Vertragswerk vor allem im Hinblick auf seine Ziele entnimmt.

_____ 143 EuGH, Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L., Slg 1964, 1253 (1270); Hervorhebungen vom Verfasser. 144 Pernice VVDStRL 60 (2001), 148 (172) interpretiert diese Aussage aber gerade als Beleg der materiellen Einheit von europäischem und nationalem Verfassungsrecht. 145 Vgl nachfolgend EuGH, Rs 11/70 − Internationale Handelsgesellschaft; Rs 106/77 – Simmenthal. Wolfgang Weiß

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Der Vorrang des Unionsrechts wirkt als reiner Anwendungsvorrang146 und gilt gegenüber allem nationalen Recht, auch gegenüber Verfassungsrecht und Grundrechten, ferner gegenüber allen nationalen Hoheitsakten, auch Verwaltungsakten.147 Allerdings macht der EuGH insoweit in Fällen indirekter Kollision Modifikationen bei der Durchsetzung des Anwendungsvorrangs, die aus dem Respekt für die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten resultieren und der Eigenart dieser Kollisionskonstellation entsprechen (dazu Rn 75, 83).

b) Legitimität und Grenzen des Vorrangs aa) Zur Überzeugungskraft und Legitimität der Argumentation 91 Die Begründung des Vorrangs durch den EuGH ist angesichts der völkerrechtlichen Ursprünge der EU richtig; sie entspricht völkerrechtlich akzeptierten Argumentationsweisen. Die Parteien eines völkerrechtlichen Abkommens können festlegen, welche innerstaatliche Wirkung ein Abkommen hat. Dies kann durch explizite Festlegung oder konkludent erfolgen. Der EuGH als der für die authentische Auslegung des EU-Rechts Berufene hat 92 dem Vertragswerk diese implizite Regelung der Staaten bei Vertragsabschluss entnommen. Dies ist angesichts des Charakters einer Integrationsgemeinschaft überzeugend. Aufgabe der 1958 ins Leben gerufenen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war gemäß Art 2 EWGV die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung der nationalen Wirtschaftspolitiken, um das Wirtschaftsleben harmonisch zu entwickeln und engere Beziehungen zu fördern. Dadurch sollten, so die Präambel, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der Völker geschaffen werden. Die Union war von Anfang an auf einen immer engeren Zusammenschluss angelegt. Dieser Integrationsauftrag kann nicht erfüllt werden, wenn ihre Regeln nationalem Regelwerk nachrangig wären. Der EuGH ist bei seiner Vorrangbegründung nicht beim mutmaßlichen Willen 93 der Vertragsparteien stehen geblieben. Er argumentiert mit der Eigenart der Unionsrechtsordnung und der Bedeutung für den einzelnen. Außerdem wäre sonst der Geltungsgrund des Unionsrechts allein im nationalen Recht zu sehen, so dass für die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung allein die dortigen Regeln maßgeblich wären. Demgegenüber betont der EuGH die Eigenständigkeit des Unionsrechts auch gegenüber dem nationalen Recht. Dass es dem EuGH nicht allein um den Willen der Parteien ging, erhellt daraus, dass sonst die aus dem Sinn und Zweck einer Integrationsgemeinschaft abgeleitete Vorrangthese unter dem Vorbehalt na-

_____ 146 Näher Rn 211 ff. 147 EuGH, Rs C-224/97 – Ciola, Rn 26. Der Vorrang des EU-Rechts begründet bei direkten Kollisionen nicht nur einen Vorrang in der Anwendung gegenüber nationalem Recht, sondern auch ein Vollstreckungshindernis. Dazu Weiß DÖV 2008, 477 (480, 487). Wolfgang Weiß

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tionalstaatlicher Abweichung stünde. Punktuelle Abweichungen vom Vorrang wären damit nicht ausgeschlossen, sondern lägen auf der Linie der vom EuGH postulierten Autonomie des Unionsrechts.148 Die Möglichkeit innerstaatlicher Abweichung vom Unionsrecht bestreitet der EuGH sehr grundsätzlich. Der Vorrang wird absolut formuliert. Die Ablehnung einer nationalen Abweichungsmöglichkeit belegt, dass die Argumentation des EuGH nur im Ausgangspunkt völkerrechtlich ist. Sie hätte sonst unterscheiden müssen zwischen dem völkerrechtlich Vereinbarten und dem innerstaatlich Umgesetzten, zumindest nach der dualistischen Konzeption (wonach Völkerrecht und nationales Recht getrennte Rechtsordnungen sind und ersteres innerstaatlich nur gemäß Umsetzung gilt), die bei einem innerstaatlichen Abweichen nur einen Bruch des Völkerrechts feststellt.149 Eine Unterscheidung zwischen Vereinbartem und Umgesetztem sieht der EuGH nicht vor. Der völkerrechtliche Argumentationsansatz geht daher in einen eigenständigen Ansatz eines auch innerstaatlich zu respektierenden Vorrangs über. Der EuGH nimmt die die Zuordnung beider Rechtsordnungen nicht im Sinne eines pluralistischen Nebeneinanders vor, sondern eines absoluten Vorrangs des unionsrechtlich Gebotenen. Die Legitimation des Vorranganspruchs kann somit nicht abschließend auf die 94 akzeptierte völkerrechtlich-dualistische Argumentation verweisen. Sie bedarf weiterer Begründung. Insoweit kann darauf verwiesen werden, dass die Vertragsstaaten und die vom Volk legitimierten Parlamente bei nachfolgenden Vertragsrevisionen implizit den Vorranganspruch akzeptiert haben. Auch liegt der Vorrang in dem Wesen einer Integrationsgemeinschaft begründet. In der Wissenschaft wird der eigentliche Grund für den Vorrang des EU-Rechts 95 in seinem Beitrag zur Überwindung des demokratischen Defizits auf nationaler Ebene gesehen: Die nationale Gesetzgebung eines Staates hat insofern ein demokratisches Defizit, als staatliche Gesetzgebung weitgehend nur nationale Interessen und deren Vertreter beteiligt, obschon jede national-staatliche Regelung Auswirkungen hat außerhalb ihres Hoheitsgebiets, insbesondere bei handelsrelevanten Regeln. EU-Gesetzgebung lässt demgegenüber die Interessen aller anderen europäischen Handelspartner gleichberechtigt mitwirken. Die inhärente Legitimationsgrenze nationaler Gesetzgebung wird damit überwunden; es werden Regeln erlassen, die auch den Belangen anderer aus deren Sicht Rechnung tragen. Die EU-Mitgliedstaaten lassen sich daher auf die vorrangige supranationale Rechtsetzung in dem

_____ 148 Die Autonomie des EU-Rechts mag umgekehrt auch eine Autonomie des nationalen Rechts bedeuten, mit der Konsequenz, dass nationales Recht zumindest punktuell sein Verhältnis zum EURecht anders regeln kann, so Kruis S 49, Fn 195. 149 Einer monistischen Interpretation der Zuordnung von Unions- und nationalem Recht hat der EuGH durch die Betonung der Eigenständigkeit des Unionsrechts eigentlich eine Absage erteilt, mit der Durchgriffswirkung in die nationale Rechtsordnung hinein aber wieder eröffnet. Vgl Huber VVDStRL 60 (2001), 194 (211 f); Schroeder Gemeinschaftsrechtssystem S 113. Wolfgang Weiß

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Bewusstsein ein, damit wechselseitig zur Behebung inhärenter nationaler Legitimationsdefizite zusammenzuwirken.150 Bemerkenswert ist dieser Begründungsansatz, weil die verfassungsgerichtliche 96 Wahrnehmung umgekehrt von einem demokratischen Legitimationsdefizit der EU-Regelsetzung ausgeht (und daher auch deswegen letzte Grenzen für den Vorranganspruch des EU-Rechts aufzeigen will). Festzuhalten ist: Der vom EuGH postulierte Vorrang des EU-Rechts gegenüber 97 allem nationalen Recht ist tradierter Bestandteil des acquis communautaire. Die Mitgliedstaaten haben sich nicht widersetzt. Die nationalen Verfassungsgerichte haben den Vorrang akzeptiert, wenn auch teils mit Grenzen (dazu noch unten). Die nationale Politik ist von der grundsätzlichen Akzeptanz des Vorrangs geprägt. Die Staaten haben auf eine Korrektur in nachfolgenden Vertragsänderungen verzichtet, vielmehr in der Erklärung Nr 17 zum Vertrag von Lissabon den Vorrang bekräftigt (Rn 84). Dass der Vorrang dem Willen der Vertragsparteien entspricht, hat sich grund98 sätzlich bestätigt. Das bedeutet nicht, dass es keine national-verfassungsrechtlichen Grenzen des Vorrangs des EU-Rechts gäbe. Auch wenn Staaten auf völkerrechtlicher Ebene Bindungen eingehen können, zu denen sie verfassungsrechtlich nicht berechtigt sind, schließt das nicht aus, dass solche Bindungen innerstaatlich keine Geltung haben.

bb) Unionale Grenzen des Vorrangs? 99 Die völkerrechtliche Begründungskategorien nutzende Argumentation des EuGH

schließt nicht von vornherein aus, dass die Vertragsstaaten keinen ausnahmslosen Vorrang wollten. Vielmehr liegt es auf der Linie der Argumentation des EuGH mit der Gründung einer Gemeinschaft, den Vorrang des Unionsrechts abzulehnen, wenn grundlegende Werte der Gemeinschaft verletzt werden oder wenn zentrale nationale Verfassungsgüter beseitigt werden. Auf den Willen der Vertragsstaaten abzustellen, lässt den Einbezug grundsätzlicher, für die jeweilige Nation wesentlicher, in der nationalen Verfassung verankerter oder implizit angelegter Verfassungswerte als Grenze des Vorrangs zu. Man kann nicht davon ausgehen, dass die Vertragsstaaten sich bei der Gründung der Gemeinschaft über zentrale nationale Verfassungswerte hinwegsetzen. Außerdem nimmt der EuGH Bezug auf die Aufnahme des Unionsrechts in die nationale Rechtsordnung. Den Weg dazu erklärt er nicht,151 insbesondere wird nicht deutlich, ob er dafür die nationalen verfassungsrechtlichen Integrationsklauseln für maßgeblich hält. Wenn das so wäre, kämen damit auch von unionaler Seite die jeweiligen verfassungsrechtlichen Schranken

_____ 150 Joerges/Petersmann/Joerges S 494. 151 Kruis S 15, Fn 50; S 47, Fn 190. Wolfgang Weiß

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der Integrationsermächtigung als Grenzen für den Vorrang in den Blick (vgl Rn 46). Interessanterweise hat der EuGH die Formulierung von der „Aufnahme“ des Unionsrechts „in die nationale Rechtsordnung“ nicht wiederholt.152 Die EU setzt sich über zentrale Verfassungswerte nicht hinweg. Sie wurde schon 100 vor dem Vertrag von Lissabon auf die Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten verpflichtet (Art F I EUV-Maastricht; Art 6 III EUV-Amsterdam), was durch den Vertrag von Lissabon wesentlich ausgeweitet, zumindest – in Art 4 II EUV – konkretisiert wurde. Demzufolge kann der Integrationsprozess nicht die nationale Staatlichkeit beseitigen. Dies ist keine Einschränkung für die Weiterentwicklung der Union durch die Mitgliedstaaten, sondern eine Verpflichtung der Unionsorgane und damit eine Grenze der verfassten Unionsgewalt.153 Mit Art 4 II EUV wird die nationale Identität über den reinen Fortbestand der 101 Nationalstaaten hinaus definiert als ihre „grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen“. Es geht um die grundlegenden, für das nationale politische System konstituierenden Besonderheiten.154 Darunter ist die verfassungsrechtliche Entscheidung für eine republikanische Staatsform, die Gleichstellung der Bürger unbeschadet ihres Standes, der Schutz der offiziellen Landessprache oder die innerstaatliche Zuständigkeitsverteilung und deren Neuordnung gezählt worden.155 Explizit benannt sind auch die regionale und lokale Selbstverwaltung und grundlegende Staatsfunktionen. Fraglich wurde, ob Art 4 II EUV als unionsrechtliche Schranke des absolu- 102 ten Vorrangs anzusehen ist. Man könnte Art 4 II EUV als unionale Reaktion auf manche Verfassungsgerichte der EU-Mitgliedstaaten ansehen, die verfassungsrechtliche Vorbehalte gegen einen unbegrenzten Vorrang anmelden. Zahlreiche nationale Verfassungsordnungen legen, in der jeweiligen Konstruktion durch die Verfassungsgerichte, der Mitwirkung am Integrationsprozess Schranken auf, ähnlich Deutschland in Art 23 I GG. Verfassungsordnungen können sich darüber nicht hinwegsetzen, und es ist konsequent, dass Verfassungsgerichte diese gegen den Vorrang des Unionsrechts in Stellung bringen. Das BVerfG verfolgt diesen Ansatz in der Begründung verbleibender Verfassungsidentitätsvorbehalte.156 Von ihrer nationalverfassungsrechtlichen Sichtweise ist das in sich konsequent und im Ansatzpunkt legitim.

_____ 152 Huber VVDStRL 60 (2001), 194 (213). 153 Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy/Schill Art 4 EUV Rn 40. 154 Streinz/Streinz Art 4 EUV Rn 14. Zitat von EuGH, Rs C-58/13 und C-59/13 – Torresi, Rn 54. 155 EuGH, Rs C-208/09 – Sayn-Wittgenstein, Rn 92; Rs C-438/14 – von Wolffersdorff, Rn 64; Rs C391/09 − Malgožata Runevič-Vardyn, Rn 86; Rs. C-51/15 – Remondis, Rn 40 f. 156 BVerfGE 140, 317 (337, Rn 44) – Identitätskontrolle: „Die Identitätskontrolle verstößt nicht gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit … Sie ist vielmehr in Art 4 Abs 2 Satz 1 EUV der Sache nach angelegt“. Wolfgang Weiß

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Zumal in der Sichtweise eines pluralistischen Verfassungsverbunds könnte Art 4 II EUV als unionale Beschränkung des Anwendungsvorrangs verstanden werden. Entsprechende Unionsakte wären weiterhin vertragskonform, im jeweiligen Mitgliedstaat lösten sie aber keinen Anwendungsvorrang aus. Zweifel an der Legitimität dieser individualisierten Sichtweisen bleiben, weil sie der Idee einer Verfassungsrechtslage, die sich aus verschiedenen Teilverfassungen ergibt, nicht Rechnung trägt. Die Verfassungsrechtslage in der EU zutreffend zu erfassen, verlangt das EU-Primärrecht und das nationale Verfassungsrecht gemeinsam zu betrachten. Es bestehen insoweit gerade keine getrennten Verfassungsräume (dazu Rn 1 ff). Art 4 II EUV könnte die Funktion einer Scharniernorm zugewiesen werden, die nationale Integrationsgrenzen aufnimmt und ihre unionale Berechtigung auch gegenüber der Gesamtverfassung festhält. Nationalverfassungsrechtliche Grenzen des Vorrangs wären darin verankert, so dass die national-verfassungsrechtlich postulierten Grenzen des Vorrangs (dazu Rn 159 ff) auch von der Unionsrechtslage her respektiert werden. Die jeweiligen nationalen Grenzen gälten nicht für alle EUMitgliedstaaten, sondern nur im jeweiligen Mitgliedstaat. Zugleich würde Art 4 II EUV mit seinen inhaltlichen Anforderungen auch absichern, dass nicht beliebig national-verfassungsrechtliche Grenzen geschaffen werden können. Unionale Vorranggrenzen bestünden dann nicht einheitlich, sondern entlang den Linien des jeweiligen nationalen Verfassungsrechts. Das entspräche wiederum dem Verfassungspluralismus in der EU. Art 4 II EUV böte somit die Möglichkeit, von unionaler Seite her die jeweils national-verfassungsrechtlichen Grenzen des Anwendungsvorrangs zu respektieren und Verfassungskonflikte zu vermeiden. Die damit einhergehende Durchbrechung der Einheitlichkeit des Unionsrechts wäre in einem verfassungspluralistischen Rahmen kein grundsätzliches Problem und erfolgte punktuell und ausnahmsweise. Damit würde die Verflechtung zwischen EU und nationaler Verfassungsordnung auch zugunsten der nationalen Verfassungen wirken. Der Wortlaut des Art 4 II EUV deutet nicht auf eine pauschale unionale Rezeption der jeweiligen nationalverfassungsrechtlichen Schranken der Integrationsermächtigung oder gar der verfassungsgerichtlichen Judikatur. Umgekehrt kann man in Art 4 II EUV in seiner durch den Vertrag von Lissabon novellierten Fassung, die die Achtungspflicht auf die grundlegenden Strukturen beschränkt, eine Bekräftigung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten sehen:157 Die Zuständigkeiten der Union dürfen jedenfalls bis zur Grenze der Beeinträchtigung grundlegender nationaler Strukturen ausgeübt werden. Vor diesem Hintergrund hat man versucht, Art 4 II EUV zumindest als Berücksichtigungsgebot zu interpretieren. In dieser Lesart würde Art 4 II EUV keine abso-

_____ 157 Vgl Schwarze Band II, S 38 ff. Wolfgang Weiß

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luten Grenzen für den Anwendungsvorrang statuieren, sondern verfassungsrechtliche Vorbehalte als mögliche Rechtfertigung für die Nichtbefolgung von EU-Recht vorgeben und in eine Abwägung mit der Einheitlichkeit des EU-Rechts einstellen. Art 4 II EUV etablierte keine starren Grenzen– zumindest nicht außerhalb eines eng zu bestimmenden Kernbereichs −, sondern nur eine Abwägung, in der die nationalen Grenzen auch überwunden werden könnten, 158 umgekehrt aber auch im EU-Recht der Vorrang des Unionsrechts überwunden werden könnte.159 Eine Berücksichtigung und ein verhältnismäßiger Ausgleich wäre anzustreben, und keine absolute Sperrwirkung (im Sinne eines unbedingten Verbotes, wesentliche Grundstrukturen auch nur zu beeinträchtigen).160 Diese Überlegung kann sich auf Rechtsprechung des EuGH stützen, die nationale Verfassungswerte und den Schutz der nationalen Identität nach Art 4 II EUV als Schranken für die Ausübung von Grundfreiheiten heranzieht, in Auslegung des Begriffs der öffentlichen Ordnung.161 Gegen eine Sicht des Art 4 II EUV als unionale Zurücknahme des absoluten An- 109 wendungsvorrangs spricht, dass Art 4 II EUV die Hoheitsgewalt der EU strukturell nicht mehr einschränkt als jede andere im Vertrag formulierte Begrenzung. Im Primärrecht verankerte Schranken für die unionale Hoheitsausübung beschränken ihren Anwendungsbereich. Sie definieren, wie weit das Unionsrecht gehen kann und geben damit die Reichweite seines Vorrangs an, bringen aber keine zusätzliche Einschränkung für das unional Rechtmäßige zum Ausdruck. Der Vorrang steht dem Unionsrecht nur zu, soweit es sich im Rahmen dieser Kompetenzen und Schranken hält. Gegen eine Auslegung von Art 4 II EUV als unionale Grenze des Anwendungs- 110 vorrangs spricht auch die Systematik: Art 4 EUV befasst sich mit Grundfragen der Zuständigkeitsabgrenzung: Sein Abs 1 betont, dass alle nicht übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten bleiben; Abs 3 hebt die wechselseitigen Loyalitätspflichten bei der Zuständigkeitswahrnehmung hervor. In diesem Kontext muss Abs 2 als Zuständigkeitsschranke angesehen werden,162 der unionaler Hoheitsgewalt im Interesse nationaler Eigenständigkeit Grenzen setzt. Die Rechtsprechung des EuGH befruchtet Art 4 II EUV und andere Bekenntnisse 111 zur Einheit in Vielfalt (vgl Art 3 III UAbs 4 EUV, Art 22 GRCh) im Rahmen unionaler Schrankendogmatik für die Einschränkung der Ausübung von Grundfreihei-

_____ 158 Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy/Schill Art 4 EUV Rn 38. 159 vBogdandy/Schill ZaöRV 2010, 701 (702). 160 S Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy/Schill Art 4 EUV Rn 35 ff; Calliess/Ruffert/Kahl Art 4 EUV Rn 111. 161 Vgl EuGH, Rs C-36/02 – Omega, Rn 33 ff; Rs C-202/11 − Las, Rn 26 ff; Rs C-438/14 – von Wolffersdorff, Rn 64 ff, s auch Rn 197 mit Fn 295. 162 Laut Calliess/Ruffert/Kahl Art 4 EUV Rn 22 eine „äußerste Grenze für ein Tätigwerden der EU“; ebd Rn 111 (im Kontext des Art 4 III EUV): „Kompetenzausübungsschranke“. Wolfgang Weiß

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ten. Eine solche Einschränkung kann mit vernünftigen Erwägungen des Gemeinwohls begründet werden. Für die inhaltliche Bestimmung dieser Formel erlaubt der EuGH den Rückgriff auf nationale Werte, denen er in der Abwägung einen hohen Stellenwert beilegt. Diese Rechtsprechung kann aber nicht als pauschale unionale Rezeption national-verfassungsrechtlicher Grundanliegen in die unionale Rechtsanwendung aufgefasst werden. Der EuGH bleibt im unionalen Rahmen163 und achtet auf die Entsprechung der nationalen Werte zu unionalen Werten. Eine weitere unmittelbar unionsrechtliche Einschränkung seines Vorranganspruchs ist in Art 53 GRCh gesehen worden, wonach keine Bestimmung der Grundrechtecharta als eine Einschränkung der Menschenrechte auszulegen ist, die in dem jeweiligen Anwendungsbereich durch, unter anderem, internationale Übereinkommen, die die EU oder alle Mitgliedstaaten ratifiziert haben, oder durch das nationale Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten anerkannt werden. Auch dies ist äußerst umstritten. Manche sehen darin eine Schutzniveausicherung bezüglich anderer Grundrechtsschutzinstrumente, die in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich weiterhin gelten sollen; andere verstehen Art 53 als Auslegungsvorgabe für die Chartarechte auf der jeweils höchsten Schutzebene.164 Teilweise wird Art 53 GRCh aber auch als Durchbrechung des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts zugunsten weitergehender nationaler Grundrechte eingeschätzt.165 Der EuGH sieht in Art 53 GRCh keine Erlaubnis zur Anwendung höheren nationalen Grundrechtsschutzes oder gar eine Vorgabe zur Auslegung der GRCh am höchsten Schutzstandard. Er hielt an dem Vorrang des EU-Rechts fest.166 Art 53 GRCh kann nur als „Rückschrittsverbot“ in dem Sinne verstanden werden, dass die GRCh weitergehenden Grundrechtsschutz durch andere Grundrechtsquellen in deren jeweiligen Anwendungsbereich, aber auch nur insoweit, unberührt lässt.167 Allerdings lässt nach Ansicht des EuGH Art 53 GRCh die Anwendung nationalen Grundrechtsschutzes auf nationale Durchführungsmaßnahmen von EURecht grundsätzlich zu; dabei dürfe weder das Schutzniveau der GRCh in der Auslegung des EuGH durchbrochen werden (was bei höherem nationalen Schutzniveau in einpoligen Grundrechtslagen nie der Fall sein dürfte), „noch [dürfe] der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden.“168 Eine solche Beeinträchtigung erkennt der EuGH, wenn höherer nationaler Grundrechtsschutz von einer sekundärrechtlichen Regel (im Fall ging es um die Zulässigkeit der

_____ 163 Vgl auch Schwarze Band II S 40. 164 Zu den Auslegungsproblemen Calliess/Ruffert/Kingreen Art 53 GRCh Rn 4 ff; Streinz/Streinz/ Michl Art 53 GRCh Rn 1 ff; Weiß ZEuS 2005, 323 (333 ff). 165 Duschanek/Griller/Griller S 167 ff; Seidel, EuZW 2003, 97. 166 EuGH, Rs C-399/11 – Melloni, Rn 57 ff. 167 Dazu Schwarze Band II, S 37. 168 EuGH, Rs C-399/11 – Melloni, Rn 60. Wolfgang Weiß

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Vollstreckung eines ausländischen Haftbefehls, der infolge einer strafrechtlichen Verurteilung des Angeklagten in seiner Abwesenheit durch italienische Gerichte erging, gemäß Art 4a Rahmenbeschluss 2002/584 zum europäischen Haftbefehl) abweicht. Es würde die Wirksamkeit des EU-Rahmenbeschlusses beeinträchtigen, könnte ein Mitgliedstaat sich auf Art 53 GRCh berufen, um die Übergabe einer in Abwesenheit verurteilten Person von der im Rahmenbeschluss nicht vorgesehenen Bedingung abhängig machen, dass die Verurteilung in dem den Haftbefehl ausstellenden Mitgliedstaat einer Überprüfung unterworfen werden kann, um zu vermeiden, dass das Recht auf ein faires Verfahren und die Verteidigungsrechte, wie sie in der Verfassung des vollstreckenden Mitgliedstaats garantiert sind, verletzt werden.169 Damit entnimmt der EuGH der Regel des Art 53 GRCh die Möglichkeit, höheren 116 Schutz gewährende nationale Grundrechte bei der nationalen Durchführung von EU-Recht zur Anwendung zu bringen, allerdings ausdrücklich unter der Bedingung der Wahrung des Vorrangs und der Wirksamkeit des Unionsrechts. Eine Durchbrechung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ist damit nicht möglich. Neu ist an dieser Rechtsprechung des EuGH das ausdrückliche Bekenntnis, dass nationale Grundrechte grundsätzlich bedeutsam werden können bei der nationalen Vollziehung von EU-Recht. Die Bedeutung des Vorrangs des Unionsrechts für die Grundrechtsanwendung verdient daher vertiefte Behandlung (Rn 118 ff).

cc) Systemische Mängel der Grundrechtsbeachtung in anderen Mitgliedstaaten Jüngere Judikatur des EuGH erlaubt nationalen Behörden eine Abweichung von der 117 Anwendung von EU-Sekundärrecht. Der EuGH statuiert in diesen Fällen eine Art von Ausnahme vom Vorrang des Unionsrechts. Anlass dafür sind systemische Mängel in der Anwendung von EU-Recht, insbesondere im Hinblick auf die Einhaltung von grundlegenden menschenrechtlichen oder rechtsstaatlichen Standards in anderen EU-Mitgliedstaaten. Diese Fragen stellen sich bislang bei Auslieferungssachverhalten. Behörden eines EU-Mitgliedstaats sind in Anwendung von EU-Recht, insbesondere im Dublin-System und im Europäischen Haftbefehl, verpflichtet, Personen in einen anderen EU-Mitgliedstaat zu überstellen, in dem die Wahrung unionsrechtlicher Mindeststandards bezüglich Aufenthalt, Versorgung, Haftbedingungen oder Rechtstaatlichkeit und Fairness des Verfahrens nicht gesichert sein könnten. So hat der EuGH jüngst betont, dass von einer Auslieferung im Rahmen des Europäischen Haftbefehls nach Polen (nur) „unter außergewöhnlichen Umständen“ abgesehen werden kann, nämlich, wenn die Justizbehörde „nach einer konkreten und genauen Prüfung des Einzelfalls feststellt, dass es ernsthafte und

_____ 169 EuGH, ebd Rn 63. Dazu Rn 133. Wolfgang Weiß

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durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person … nach ihrer Übergabe … einer echten Gefahr ausgesetzt sein wird, dass ihr Grundrecht auf ein unabhängiges Gericht verletzt wird“. Die Behörde muss über Anhaltspunkte verfügen, „dass wegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats eine echte Gefahr der Verletzung des … Grundrechts auf ein faires Verfahren besteht“, und daher „konkret und genau prüfen, ob es in Anbetracht der persönlichen Situation dieser Person sowie der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des Sachverhalts, auf denen der Europäische Haftbefehl beruht, und unter Berücksichtigung der Informationen, die der Ausstellungsmitgliedstaat … mitgeteilt hat, ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die besagte Person im Fall ihrer Übergabe … einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird.“170 Es geht anders als früher nicht mehr allein um die Gefahr unmenschlicher Behandlung.

c) Insbesondere: Maßstäblichkeit der EU-Grundrechte 118 Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts beinhaltet auch den Vorrang der EUGrundrechte. Schon früh hat der EuGH den Vorrang gegenüber Grundrechten oder nationalverfassungsrechtlichen Strukturprinzipien festgestellt.171 Soweit das Unionsrecht einen Sachverhalt regelt, ist der Anwendung nationaler 119 Grundrechte der Boden entzogen. Stattdessen sind die EU-eigenen Grundrechte heranzuziehen. Die EU erhielt eigene Grundrechtsverbürgungen zunächst im Wege prätorischer Entwicklung durch den EuGH, der EU-Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts anerkannte und als Maßstabsnormen für die Rechtmäßigkeit von unionalen Akten heranzog. Heute finden sich EU-Grundrechte vor allem in der Grundrechtecharta, die den unionalen Grundrechtsschutz konsolidierte und besser sichtbar machte. Daneben stehen die Grundrechte aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen entsprechend der tradierten Rechtsprechung des EuGH fort (Art 6 III EUV). Sehr umstritten ist indes die Reichweite der EU-Grundrechte im Hinblick auf 120 die Mitgliedstaaten bei der Vollziehung des Unionsrechts und das Verhältnis der EU-Grundrechte zu den nationalen Grundrechten insoweit.

_____ 170 EuGH, Rs C-216/18 PPU – LM, Rn 73, 79; ferner Rs C-411/10 und 493/10 – NS, Rn 86; C-404/15 und C-659/15 PPU – Aranyosi, Rn 104; C-578/16 PPU – C.K., Rn 65. Kritikwürdig ist, dass die Nichtbefolgung erst bei systemischen Mängeln und nicht schon bei individuellen Grundrechtsverletzungen eingreift. Indes hat der EuGH in einigen Entscheidungen individuelle Gefahren genügen lassen, nicht zuletzt in Reaktion auf den EGMR, s. Lenaerts CMLRev 2017, 805 (831–833). 171 EuGH, Rs 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft, Rn 3; Rs C-399/11 – Melloni, Rn 59. Wolfgang Weiß

II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung | 403

aa) Bindung der Mitgliedstaaten bei der Vollziehung des Unionsrechts Ausgangspunkt ist, dass die EU-Grundrechte Bindungen für die unionale Hoheitsgewalt darstellen. So, wie nationale Grundrechte die nationale Hoheitsgewalt binden und öffentlichen Stellen Achtungs- und Schutzpflichten auferlegen, verpflichten die EU-Grundrechte die EU-Organe und Stellen. Die EU-Grundrechte sind unstreitig Rechtmäßigkeitsmaßstab für die unionale Hoheitsgewalt. EURechtsakte sind an unionalen und nicht an nationalen Grundrechten zu messen. Die Bindung der unionalen Hoheitsgewalt an Grundrechte begründet die Legitimität und Akzeptanz ihrer Durchgriffswirkung in den nationalen Rechtsraum hinein. Da die EU-Grundrechte wie jede hinreichend bestimmte und unbedingte Norm des Unionsrechts an seinem Vorrang gegenüber nationalen Regeln teilhaben, binden die EU-Grundrechte auch die Mitgliedstaaten und entfalten Durchgriffswirkung. Die Bindung der Mitgliedstaaten an die EU-Grundrechte ist zum einen Konsequenz der funktionalen Stellung der Mitgliedstaaten als Akteure des Unionsrechts172 und folgt zum anderen daraus, dass die EU-Grundrechte Teil des Unionsrechts sind.173 Auch nationale Hoheitsakte müssen die EU-Grundrechte beachten. Die EUGrundrechte sind genauso einzuhalten wie andere EU-Regeln. Doch ist auch ihre Geltung begrenzt auf den Anwendungsbereich des Unionsrechts. Nur soweit dieser eröffnet ist, sind die Mitgliedstaaten an EU-Grundrechte gebunden. Die EUGrundrechte sind damit nicht mehr nur Maßstab für EU-Sekundärrecht, sondern auch für nationale Hoheitsakte im Anwendungsbereich des EU-Rechts (näheres aus Art 51 I GRC; dazu sogleich). Deshalb müssen die Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Unionsrecht auch die EU-Grundrechte beachten, also dann, wenn sie EU-Richtlinien in nationales Recht umsetzen,174 das so erlassene nationale Recht anwenden,175 oder wenn sie Normen des EU-Rechts (etwa Verordnungen) unmittelbar anwenden. 176 Der EuGH hat früh betont, dass die Mitgliedstaaten bei ihrer Vollziehung von Unionsrecht auch einschlägige allgemeine Rechtsgrundsätze und damit auch EU-Grundrechte einhalten müssen.177 Der EuGH hat die Sachverhalte, in denen die Mitgliedstaaten an die EUGrundrechte gebunden sind, über die Durchführungssituation hinaus ausgeweitet. Die Mitgliedstaaten haben die EU-Grundrechte auch zu beachten, wenn sie EUGrundfreiheiten einschränken. EU-Grundrechte sind damit für die Mitgliedstaa-

_____ 172 173 174 175 176 177

Zur agency situation insoweit s bereits oben Rn 56. Vgl Kokott/Sobotta EuGRZ 2010, 265 (270). EuGH, Rs C-540/03 – Familienzusammenführungsrichtlinie, Rn 71, 103 ff. EuGH, verb Rs C-74/95 und C-129/95 – Strafverfahren gegen X, Rn 25 f. EuGH, Rs 5/88 – Wachauf, Rn 19; Rs C-2/92 – Bostock, Rn 16. Zur Entwicklung dieser Rechtsprechung Calliess S 344 – 346; vBogdandy/Bast/Kühling S 680 f.

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ten zu beachtende Schranken bei der ihnen grundsätzlich zustehenden Möglichkeit zur Beschränkung von Grundfreiheiten (sog ERT-Situation).178 Schließlich hat der EuGH die Mitgliedstaaten generell auf die EU-Grundrechte verpflichtet, wann immer sie sich im Anwendungsbereich des EU-Rechts bewegen.179 Diese weite Auffassung von der Bindung der Mitgliedstaaten an allgemeine 125 Rechtsgrundsätze des EU-Rechts und der EU-Grundrechte über reine Durchführungssituationen hinaus wird kritisiert. Gerügt wird die Uferlosigkeit der Ausweitung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts. Die Mitgliedstaaten bewegten sich bei Einschränkungen von Grundfreiheiten in einem vom EU-Recht gerade den Mitgliedstaaten überlassenen Raum.180 Allerdings ist der Kritik zu erwidern, dass die Einschränkung von Grundfreiheiten im Interesse der Einheitlichkeit des Unionsrechts unionalen Konzepten folgen muss und dass auch vom Unionsrecht eröffnete nationale Spielräume kein unionsrechtsfreier Raum sind; die Mitgliedstaaten handeln auch insoweit als funktionale EU-Akteure. 181 Die Bindung an die EU-Grundrechte ist Konsequenz einer grundrechtskonformen Auslegung der Grundfreiheiten und ihrer vom EU-Recht vorgesehenen Schranken.182 Das weite Verständnis der Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten hat der 126 EuGH seiner Auslegung von Art 51 GRCh zugrunde gelegt, wonach die Chartarechte die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts binden. Das gibt den bisherigen Rechtsstand wieder, wonach die EU-Grundrechte die Mitgliedstaaten binden, wenn ein Sachverhalt unionsrechtlich geregelt ist und sie somit im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln.183 Die Fortführung der tradierten Rechtsprechung unter Art 51 GRCh hat zu Irrita127 tionen im Verhältnis von EuGH und BVerfG geführt. Das BVerfG sah sich veranlasst, in einem obiter dictum zum EuGH-Urteil Åkerberg Fransson Stellung zu beziehen. Danach dürfe das EuGH-Urteil nicht dahingehend ausgelegt werden, dass jeder sachliche Bezug eines Sachverhalts zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrechts oder rein tatsächliche Auswirkungen genügten, um die EUMitgliedstaaten an die EU-Grundrechte zu binden.184

_____ 178 EuGH, Rs C-260/89 – ERT, Rn 43; C-390/12 – Pfleger, Rn 36. 179 EuGH, Rs C-71/02 – Karner, Rn 49. 180 Ablehnend etwa Calliess/Ruffert/Kingreen Art 51 GRCh Rn 19; kritisch auch Huber EuR 2008, 190 (194 f). 181 Zum Vergleich zur agency situation vBogdandy/Bast/Kühling S 682. 182 Vgl insoweit Oppermann/Classen/Nettesheim S 273. 183 EuGH, Rs C-617/10 – Åkerberg Fransson, Rn 18 ff. 184 BVerfGE 133, 277 (316, Rn 91) – Antiterrordatei. Zu diesem Konflikt vDanwitz EuGRZ 2013, 253 (261) und Thym NVwZ 2013, 889 (890 f) und oben Rn 36. Wolfgang Weiß

II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung | 405

bb) EU-Grundrechte und nationale Grundrechte: Verdrängung der nationalen Grundrechte oder parallele Anwendung? Nicht ausdrücklich geklärt wurde die Frage, ob und inwieweit die nationalen 128 Grundrechte noch eine Bedeutung haben, wenn die Mitgliedstaaten Unionsrecht durchführen oder sich anderweitig in seinem Anwendungsbereich bewegen. Verdrängen die Unionsgrundrechte die nationalen Grundrechte vollständig? Dass die Mitgliedstaaten auch bei der Umsetzung von Richtlinien – selbst dort, wo die Mitgliedstaaten einen Spielraum haben und nicht nur zwingende Richtlinienvorgaben umsetzen − den EU-Grundrechten unterliegen,185 hat man dahin verstanden, dass der EuGH allein die EU-Grundrechte zum Maßstab erhebt, unter vollständiger Verdrängung der nationalen Grundrechte, zumal der EuGH insoweit bei Zweifelsfragen die nationalen Gerichte zur Vorlage von unionalen Grundrechtsfragen bei der Auslegung von Sekundärrecht auffordert. Der EuGH gebietet die EU-grundrechtskonforme Handhabe eines vom EU-Recht gewährten Ermessens.186 Auch ein vom EU-Recht den Mitgliedstaaten eröffneter Ermessenspielraum ist von diesen konform zu den EU-Grundrechten anzuwenden. Nationale Grundrechte schienen damit verdrängt.187 Der EuGH hat den EU-Grundrechtsschutz auch nirgends als bloßen Mindeststandard ins Spiel gebracht. Daher greift nationaler Grundrechtsschutz auch nicht, soweit er höhere Schutzgehalte aufweist. Das würde auch der Einheitlichkeit des EU-Rechts widersprechen. Dennoch hat der EuGH die Verdrängung des nationalen Grundrechtsschut- 129 zes nirgends ausdrücklich ausgesprochen. Das gab in der Literatur Anlass, noch Raum für die Anwendung nationaler Grundrechte zu sehen und eine doppelte Grundrechtsloyalität einzufordern,188 zumal der Erlass eines nationalen Gesetzes zur Umsetzung einer EU-Richtlinie klassische nationalverfassungsrechtlich grundrechtsgebundene Hoheitsausübung ist. Das BVerfG führte demgegenüber eine Differenzierung ein. Während das 130 BVerfG bei der nationalen Anwendung oder Umsetzung zwingender, keinen Spielraum belassender Vorgaben des EU-Rechts keinen Raum mehr für die Anwendung nationaler Grundrechte des GG sieht, bekennt es sich aber, wenn das EU-Recht den Mitgliedstaaten Spielräume gewährt, zur Anwendbarkeit und Verpflichtung aus den nationalen Grundrechten. Relevant ist diese Differenzierung insbesondere für die Umsetzung von EU-Richtlinien, doch können nationale Spielräume auch durch andere EU-Rechtsakte wie Verordnungen oder Beschlüsse eröffnet werden. Räumt

_____ 185 Vgl EuGH, Rs C-540/03 – Familienzusammenführungsrichtlinie, Rn 104 f; verb Rs C-20/00 und Rs 64/00 – Booker Aquaculture, Rn 88 ff; Rs C-411/10 und 493/10 – N.S. und M.E., Rn 76 f, 99 f. 186 S etwa EuGH, Rs C-2/92 – Bostock, Rn 14. 187 Augsberg DÖV 2010, 153 (156); Calliess S 345, 348; ders JZ 2009, 113 (119); Thym NJW 2006, 3249 (3250). Andere Auffassung etwa Matz-Lück EuGRZ 2011, 207 (208, 209). 188 Matz-Lück EuGRZ 2011, 207 (208); Pernice NJW 1990, 2409 (2417). Wolfgang Weiß

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die EU-Richtlinie dem nationalen Gesetzgeber keinen Umsetzungsspielraum ein, ist allein das Unionsrecht und damit auch die EU-Grundrechte der Prüfungs- und Auslegungsmaßstab. Besteht ein Spielraum, ist in diesem Bereich die nationale Grundrechtsbindung zu beachten, und insoweit ist das BVerfG zur Entscheidung zuständig. Konkret bedeutet das, dass das BVerfG die nationale Umsetzungsgesetzgebung in dem Ausmaß, wie ein nationaler Spielraum besteht oder eine nationale Regelung trifft, die über Vorgaben des Sekundärrechts hinausgehen, an nationalen Grundrechten prüft; es bleibt ihm eine Grundrechtsprüfungszuständigkeit.189 Besteht kein Spielraum, sind die Vorgaben der EU zwingend und unterliegen nur der Grundrechtskontrolle des EuGH (abgesehen vom Solange II-Vorbehalt und der Wahrung der Verfassungsidentität).190 Zu den zwingenden Vorgaben kann auch eine Entscheidung des Richtliniengebers für ein bestimmtes Regelungssystem („Systementscheidung“) zählen.191 Diese Differenzierung widerspricht der Rechtsprechung des EuGH, der auch für 131 durch das EU-Recht eröffnete nationale Spielräume eine Bindung entweder nur oder – nach der anderen Auffassung − jedenfalls auch an die EU-Grundrechte bejaht. Gerade für diesen Bereich will das BVerfG nur die nationalen Grundrechte als bindend anerkennen; diese Exklusivität der Anwendung der nationalen Grundrechte wird soweit ersichtlich vom BVerfG zwar nirgends ausdrücklich formuliert, ergibt sich aber daraus, dass bei Geltung auch noch der EU-Grundrechte eine parallele Grundrechtsprüfung durch EuGH und BVerfG stattfinden könnte, was das BVerfG durch die Solange II-Entscheidung eigentlich ausschließen will und auf den darin formulierten Vorbehalt beschränkt. In seiner der Differenzierung zugrundelie-

_____ 189 BVerfG, 1 BvF 1/05, BVerfGE 118, 79 (95) – Treibhausgas- Emissionsberechtigungen; BVerfG, 1 BvF 4/05, BVerfGE 122, 1 (20) – Agrarmarktbeihilfen; 1 BvR 256/08, BVerfGE 125, 260 (308 f) – Vorratsdatenspeicherung; 1 BvF 1/13, JZ 2018, 994 (995, Tz 20). Zu den Widersprüchen in der Vorratsdatenentscheidung Calliess S 349 ff. 190 Der Solange-Vorbehalt meint, dass das BVerfG seine Grundrechtsprüfung erst wieder aufnimmt, wenn das EU-Recht generell keinen wirksamen Grundrechtsschutz mehr gewährleistet, BVerfG, 2 BvR 197/83, BVerfGE 37, 339 (387) – Solange II: „Solange die Europäischen Gemeinschaften … einen wirksamen Schutz der Grundrechte … generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, …wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit … nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte“ des GG überprüfen. Kürzlich wurde das erweitert um die Prüfung der in der Verfassungsidentität enthaltenen Menschenwürdegehalte, BVerfGE 140, 317 (337, Rn 43; 352, Rn 76; 355, Rn 84) – Verfassungsidentität: „Die Absicherung des integrationsfesten Schuldprinzips rechtfertigt und gebietet eine auf diese verfahrensrechtlichen Mindestgarantien beschränkte Prüfung der Entscheidung des Oberlandesgerichts am Maßstab des Grundgesetzes, obwohl diese unionsrechtlich determiniert ist.“ Dazu Sauer NJW 2016, 1134, der ebd S 1135 darin eine partielle Verabschiedung von Solange II sieht. Er stellt mit Recht fest, dass der Sachverhalt keinen Anlass gab, eine Kollision mit Unionsrecht anzunehmen. 191 Vgl BVerfG, 1 BvR 2036/05, NVwZ 2007, 942 (942) − Emissionshandel. Wolfgang Weiß

II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung | 407

genden Rechtsprechung bekennt sich das BVerfG zu seiner Solange II-Rechtsprechung und sieht die nationale Grundrechtsanwendung außerhalb zwingender EU-Vorgaben nicht als Abweichung vom oder Ausweitung des Solange IIVorbehalts. Der Differenzierung des BVerfG liegt eine Alternativität des Grundrechtsschutzes entweder nach dem GG oder nach EU-Recht zugrunde.192 Problematisch an dieser Differenzierung ist auch, dass die Frage, inwieweit 132 eine Richtlinie Spielraum gewährt, nicht immer einfach zu beantworten sein wird. Das BVerfG will selbst befinden, ob und inwieweit ein EU-Rechtsakt einen Spielraum einräumt und damit, ob und inwieweit welcher Grundrechtsschutz eingreift. Diese die Auslegung des EU-Rechtsakts betreffende Frage sollte besser dem EuGH als dem für die verbindliche Auslegung des EU-Rechts Zuständigen vorgelegt werden. Die unterschiedliche Sichtweise von BVerfG und EuGH wurde jüngst um eine 133 Facette erweitert. In seiner bereits angesprochenen Åkerberg Fransson-Entscheidung lässt der EuGH die Anwendung nationaler Grundrechte im Rahmen von durch das EU-Recht den Mitgliedstaaten gewährten Spielräumen zu, solange der Vorrang des EU-Rechts und seine Einheit und Wirksamkeit gewahrt bleiben. Der EuGH bewegt sich damit auf das BVerfG zu. „Hat das Gericht eines Mitgliedstaats zu prüfen, ob mit den Grundrechten eine nationale Vorschrift oder Maßnahme vereinbar ist, die in einer Situation, in der das Handeln eines Mitgliedstaats nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt wird, das Unionsrecht im Sinne von Art 51 I [GRC] durchführt, steht es somit den nationalen Behörden und Gerichten weiterhin frei, nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden.“193 „Art 53 der Charta [bestätigt], dass es den nationalen Behörden und Gerichten, wenn ein Unionsrechtsakt nationale Durchführungsmaßnahmen erforderlich macht, weiterhin freisteht, nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden.“194 In dem der Entscheidung Åkerberg Fransson zugrunde liegenden Sachverhalt ging es nicht

_____ 192 Vgl Augsberg DÖV 2010, 153 (159); Thym NVwZ 2013, 889 (892), der dies als Trennungsthese bezeichnet. Zur wechselseitigen Überschneidungsfreiheit der Abgrenzung der Grundrechtszuständigkeiten von BVerfG und EuGH s BVerfG, 2 BvL 1/97, BVerfGE 102, 147 (165) – Bananenmarktordnung: „in BVerfGE 73, 339 niedergelegte Auffassung über die Abgrenzung der Rechtsprechungszuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs im Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht und umgekehrt.“ Nach Britz EuGRZ 2015, 275 (280) bestimmt sich die Reichweite des Spielraums auch im Hinblick auf EU-Grundrechte. 193 EuGH, Rs C-617/10 – Åkerberg Fransson, Rn 29. 194 EuGH, Rs C-399/11 – Melloni, Rn 60. Wolfgang Weiß

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um eine Richtlinienumsetzung, sondern um die nationale Pflicht, Verletzungen des Unionsrechts effektiv zu sanktionieren, wofür den Mitgliedstaaten ein weiter Spielraum zukommt. Gar keinen nationalen Spielraum gab es in der Rs Melloni. Dort ging es um die klar geregelte, insoweit keinen Spielraum gewährende Pflicht aus dem EU-Rahmenbeschluss zum EU-Haftbefehl zur Anerkennung ausländischer Haftbefehle. Der EuGH stellt in dieser Entscheidung anders als in der Entscheidung Åkerberg Fransson nicht auf das Bestehen eines Spielraums ab; die klare EU-Regelung führte daher in der Entscheidung Melloni auch dazu, dass die Anwendung spanischen Verfassungsrechts, das einen über die EU-Grundrechtsstandards hinausgehenden, höheren Individualschutz dahingehend gewährte, dass eine erneute Überprüfung eines in Abwesenheit getroffenen Urteils durchzuführen wäre, vom EuGH als nicht vereinbar mit dem Vorrang und der Wirksamkeit des EU-Rechts erachtet wurde.195 Das Bekenntnis des EuGH zur Anwendbarkeit auch nationaler Grundrechte 134 steht damit unter dem Vorbehalt der Wahrung des Vorrangs, der Einheit und Wirksamkeit des EU-Rechts. Damit dürfte im Ergebnis nur dort Raum für die Anwendung nationaler Grundrechte sein, wo das EU-Recht keine abschließende Regelung trifft. Eröffnet das EU-Recht Spielräume, können höhere nationale Schutzstandards durchaus in besagten Grenzen zur Anwendung gelangen. Das dürfte der Haltung des BVerfG entsprechen, das bei vom EU-Recht gewährten nationalen Spielräumen eine Grundrechtsprüfung unter dem GG beansprucht; der EuGH belässt dem BVerfG in Grenzen diesen Raum. Allerdings geht der EuGH nicht von einer Anwendbarkeit allein der nationalen Grundrechte aus.

d) Insbesondere: Vorrang und GASP 135 Nach der Vereinheitlichung des Aufbaus der EU durch den Vertrag von Lissabon,

der das Nebeneinander von EU und EG beendete, besteht nur noch eine EU, die die frühere EG als ihre Rechtsnachfolgerin (Art 1 EUV) in sich aufnimmt. Das frühere Nebeneinander von EU und EG brachte Folgeprobleme mit sich, da die EU weit überwiegend als bloß völkerrechtliche, rein intergouvernementale Struktur angesehen wurde, die im Vergleich zur supranationalen EG gerade keine eigenständigen Aufgaben, schon gar nicht mit Durchgriffswirkung in den nationalen Rechtsraum hinein innehatte. Von daher stellte sich etwa die Frage nach den Rechtswirkungen des früheren reinen EU-Rechts ieS, also der Rechtsakte, die von den Mitgliedstaaten in der sog zweiten und dritten Säule der alten EU angenommen wurden. Die zweite Säule befasste sich nach der Reform durch den Vertrag von Amsterdam mit dem Politikfeld der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen,

_____ 195 EuGH, Rs C-399/11 – Melloni, Rn 63 f; s dazu schon oben Rn 115 f. Wolfgang Weiß

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die dritte Säule mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Beim EuGH waren Tendenzen zu erkennen, in Überwindung der Säulenstruktur die Rechtswirkung des früheren intergouvernementalen EU-Rechts denen des supranationalen Gemeinschaftsrechts anzugleichen.196 Durch die Vereinheitlichung der EU hat das gesamte Unionsrecht seit Lissabon supranationalen Charakter mit der Folge, dass das gesamte EU-Recht an der supranationalen Rechtswirkung teilhat. Damit ist auch das Recht der GASP vorrangig vor nationalem Recht und grundsätzlich der Möglichkeit einer unmittelbaren Anwendung zugänglich, sofern die Voraussetzungen dafür vorliegen. Der Anwendungsvorrang gilt damit für das Unionsrecht insgesamt.197 Dennoch wird das für die GASP bezweifelt. Nach einer verbreiteten Auffassung sollen die GASP-Rechtsakte nicht den supranationalen Charakter des übrigen Unionsrechts teilen. Verwiesen wird auf die Sonderregeln für die GASP: Als einziger Politikbereich finden sich die einschlägigen Regelungen im EUV (Art 23 EUV ff) statt wie für alle anderen Politikfelder im AEUV. Gemäß Art 24 I EUV gelten für die GASP besondere Bestimmungen und Verfahren. Konkret: Die GASP unterliegt weitgehend dem Grundsatz der Einstimmigkeit. Gesetzgebungsakte sind ausgeschlossen. Kommission und Europäisches Parlament haben hier nur eine „spezifische Rolle“, da die Festlegung und Durchführung der GASP den Mitgliedstaaten und der Hohen Vertreterin obliegt. Auch hat der Gerichtshof keine Zuständigkeit für die GASP (außer für Art 40 EUV, der die wechselseitige Unbeeinflusstheit der Kompetenzen im Rahmen der GASP einerseits und im Rahmen der übrigen Politikfelder andererseits bestimmt, und gemäß Art 275 II AEUV über die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von smart sanctions). Mit diesen Sonderregeln sind zentrale Merkmale der Supranationalität im Vergleich zur reinen Intergouvernementalität ausgeschlossen: Es gibt keine gemeinsame Gesetzgebung, was aber Rechtsetzung außerhalb von Gesetzgebungsverfahren nicht ausschließt (Umkehrschluss zu Art 289 III AEUV). Eine gemeinsame Gerichtsbarkeit ist ausgeschlossen. Zentrale supranationale Akteure wie Kommission und Europäisches Parlament haben nur eine vernachlässigbare Rolle. Allerdings hat es das Parlament verstanden, seinen Einfluss auch auf das Feld der GASP auszuweiten, indem es seine Haushaltsbefugnisse auch gezielt dafür einsetzt, seinen Einfluss in der GASP zu mehren. Zum anderen wird darauf hingewiesen, dass es angesichts der Beschränkung der GASP auf die Formulierung gemeinsamer außen- und sicherheitspolitischer Po-

_____ 196 S EuGH, Rs C-105/03 – Pupino, Rn 42 ff, der den Grundsatz gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung auch auf Rahmenbeschlüsse im Rahmen der früheren 3. Säule anwendet. Zur Einebnung der Säulenstruktur bereits vor Lissabon vgl etwa Giegerich ZaöRV 2007, 1; Cremona/de Witte/Herrmann S 20 ff; Prechal/vRoermond/Lenaerts/Corthaut S 495. 197 So auch Streinz/Streinz Art 4 EUV Rn 38. Wolfgang Weiß

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sitionen im Rahmen der GASP kaum je eine für den Vorrang relevante Normenkollision zwischen unionsrechtlichen Rechtsakten im Bereich der GASP und nationalen Regelungen wird geben können.198 Diese Argumente überzeugen nicht. Zum einen besagt die Aussage, dass die 140 GASP besonderen Regelungen unterliegt, nichts darüber, ob die zentralen Kennzeichen des Unionsrechts nicht auch den im Rahmen der GASP angenommenen Rechtsakten zukommen können. In der Tat mögen denkbare Konfliktfälle zwischen im Rahmen der GASP angenommenen Rechtsakten und nationalen Regeln von geringer Wahrscheinlichkeit sein; auszuschließen sind sie nicht. Von daher sollte man nicht a priori die Möglichkeit von GASP-Rechtsakten, an dem Vorrang und der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts teilhaben zu können, ausschließen. Auch die Erklärung Nr 17 zum Vorrang des Unionsrechts nimmt die GASP nicht aus, sondern verweist auf die Rechtsprechung des EuGH, die schon zur intergouvernementalen GASP Vereinheitlichungstendenzen zum Ausdruck brachte.

3. Der Vorrang und die unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts 141 Der Vorrang des EU-Rechts gilt bei direkten wie bei indirekten Kollisionen zwischen

EU-Recht und nationalem Recht, entfaltet insoweit aber unterschiedliche Rechtsfolgen.199 Ferner entfaltet der Vorrang des Unionsrechts weitere Rechtsfolgen, die nicht mit der unmittelbaren Anwendung des Unionsrechts in Zusammenhang stehen (dazu Rn 148 ff). Es lässt sich daher in der Terminologie von Jarass und Beljin unterscheiden zwischen dem Vorrang des Unionsrechts im engeren Sinne eines Anwendungsvorrangs, und einem Vorrang des Unionsrechts im weiteren Sinne in anderen Konstellationen.200 Rechtslogisch ist zwischen der Geltung und der unmittelbaren Anwendbar142 keit einer Norm zu differenzieren. Die Geltung einer Norm in einer Rechtsordnung bedeutet nicht sogleich ihre unmittelbare Anwendbarkeit. Eine objektiv gültige Rechtsnorm ist nicht stets ihrer Anwendung durch ein Gericht oder eine Behörde zugänglich, sondern bedarf gegebenenfalls weiterer Konkretisierung, etwa ein reines Grundsatz- oder Maßstäbegesetz. Diese Differenzierung der Rechtswirkung gibt es auch im EU-Recht. Die Unterscheidung zwischen Geltung und unmittelbarer Anwendbarkeit liegt der Differenzierung zwischen Richtlinie und Verordnung in Art 288 II und III AEUV zugrunde. Während die Verordnung allgemeine Geltung hat und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt, gilt die Richtlinie nur für den Mitgliedstaat. Eine von der EU erlassene Richtlinie gilt zwar mit ihrem Inkrafttreten und verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Zielerreichung, bedarf für ihre unmittelbare An-

_____ 198 So Schwarze Band II, S 36; vgl insoweit auch Streinz/Streinz Art 4 EUV Rn 38. 199 Dazu oben Rn 69 ff. 200 Beljin EuR 2002, 351 (355); Jarass/Beljin NVwZ 2004, 1 (2 f). Wolfgang Weiß

II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung | 411

wendung aber weiterer Voraussetzungen. Die Differenzierung zwischen „binding effect“ und „applicability“ lässt sich auch für den englischen Wortlaut feststellen.201 Auch ein von der EU abgeschlossener völkerrechtlicher Vertrag gilt mit Ratifikation durch die EU; er wird dadurch integrierender Teil der Unionsrechtsordnung und bindet nach Art 216 II AEUV die Union und ihre Organe; er ist damit aber nicht sogleich anwendbar.202 Rechtsfolge einer bloßen Geltung eines völkerrechtlichen Vertrags auch ohne unmittelbare Anwendbarkeit ist etwa die völkerrechtskonforme Auslegung. Das Unionsrecht muss nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit einem solchen Vertrag ausgelegt werden.203 Weiterhin lässt sich zwischen objektiver und subjektiver Anwendbarkeit 143 differenzieren. Im deutschen öffentlichen Recht wird zwischen objektivem Recht und subjektiver Berechtigung deutlich unterschieden: Während die objektive Anwendung einer Norm durch eine nationale Stelle ohne Rücksicht darauf erfolgt, ob sie günstige Rechtsfolgen für den Einzelnen bewirkt, gewährt die subjektive Anwendung zugleich eine subjektive, individuelle Berechtigung eines Einzelnen gegenüber dem Staat. Die unmittelbare Anwendung hat daher nicht sogleich zur Folge, dass damit dem Einzelnen ein Recht gewährt wird, auch wenn der EuGH das regelmäßig in eins setzt.

a) Unmittelbare Anwendbarkeit als Voraussetzung des Anwendungsvorrangs Der Vorrang des EU-Rechts kommt als Anwendungsvorrang im Falle kollidierender 144 Rechtsfolgenanordnungen zum Tragen. Dann liegt eine direkte Kollision zwischen Unionsrecht und nationalem Recht vor.204 Unions- und nationales Recht können infolge ihres Widerspruchs nicht gleichzeitig zur Anwendung kommen. Die vorrangige Anwendung setzt aber voraus, dass die unionsrechtliche Norm eine eindeutige, konkrete Rechtsfolge anordnet; nur dann kann sie die nationale Regel ersetzen. Der nationale Rechtsanwender muss der unionsrechtlichen Regelung eine Rechtsfolge entnehmen können. Dazu muss die einschlägige Norm des Unionsrechts inhaltlich bestimmt (dh in- 145 haltlich klar gefasst) und unbedingt sein (dh, dass ihre Anwendung von keinen weiteren konkretisierenden Umsetzungsakten abhängt, die nationalen Stellen Spiel-

_____ 201 Bezüglich der Verordnung: “A regulation shall have general application. It shall be binding in its entirety and directly applicable in all Member States”, bezüglich der Richtlinie: “A directive shall be binding … upon each Member State”. Es heißt nicht „binding […] in“; der Terminus applicability fehlt (Hervorhebungen vom Verfasser). 202 Vergleichbar zur Richtlinie lautet Art 216 II AEUV: “Agreements […] shall be binding on the institutions of the Union and on the Member States” (Hervorhebung vom Verfasser). 203 EuGH, Rs C-61/94 − Kommission / Deutschland, Rn 52. 204 S oben Rn 71. Wolfgang Weiß

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raum lassen). Nur dann eignet sich diese Norm zur sofortigen Anwendung durch eine nationale Stelle. Die vorrangig anzuwendende Norm muss daher rechtlich vollkommen gefasst und somit geeignet sein, unmittelbare rechtliche Wirkungen in dem Rechtsverhältnis zwischen Mitgliedstaat und Bürger zu erzeugen. Die Norm ist dann unmittelbar anwendbar.205 Der im EuGH-Urteil Van Gend & Loos festgestellte Vorrang des Unionsrechts 146 war bereits damals verbunden damit, dass das Unionsrecht eine Rechtsordnung begründet, die nicht nur für die Mitgliedstaaten, sondern auch für den Einzelnen Relevanz hat. Ausdrücklich hat der EuGH später den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts auf „Vertragsbestimmungen und die unmittelbar geltenden Rechtsakte“ bezogen, also ausdrücklich einen Zusammenhang zwischen Vorrang und unmittelbarer Anwendbarkeit hergestellt,206 später auch das BVerfG.207 Daraus ergaben sich in der Rechtsprechungsentwicklung des EuGH zwei kon147 krete Folgen, die mit der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts direkt zusammenhängen: Das Unionsrecht begründet Rechte des Einzelnen. Und der Einzelne kann diese vor nationalen Gerichten durchsetzen. Die Positivierung einklagbarer subjektiver Rechte verdeutlicht die Verpflichtung nationaler Gerichte, das EURecht anzuwenden. Der Vorrang könnte sich nicht durchsetzen, wenn er nicht gerade vom nationalen Richter umgesetzt werden muss. Die nationale Gerichtsbarkeit ist berufen, Unionsrecht unmittelbar, direkt anzuwenden. Vorrang und unmittelbare Anwendung des Unionsrechts gehören untrennbar zusammen. Das gleiche gilt für die subjektive Geltendmachung von Unionsrecht durch den Bürger. Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts mit der das nationale Recht ersetzenden Wirkung entfaltet sich nur, wo die unionsrechtliche Norm unmittelbar anwendbar ist.208

b) Der Vorrang des Unionsrechts bei indirekten Kollisionen und in anderen Fällen 148 Der Vorrang des Unionsrechts zeitigt nicht nur bei unmittelbar anwendbaren Unionsregeln Wirkung. Der Vorrang des Unionsrechts bringt weitere Rechtsfolgen hervor als die Verdrängungswirkung in der unmittelbaren Anwendung. So ist in den Sachverhalten indirekter Kollision, wie erörtert, die Wirksamkeit des Unionsrechts durch eine modifizierende Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts zu wahren, die den Anforderungen des Äquivalenz- und Effizienzgebots gerecht wird.209 Das EU-Recht tritt dann nicht an die Stelle des nationalen Rechts. Die Modi-

_____ 205 206 207 208 209

Vgl EuGH, Rs 57/65 − Lütticke, Slg 1966, 259 (266). EuGH, Rs 106/77 – Simmenthal, Rn 17/18. BVerfG, 1 BvF 1/05, BVerfGE 118, 79 (96 f) – Treibhausgas-Emissionsberechtigungen. Zu Ausnahmen sogleich Rn 149 ff. Vgl dazu Rn 72, 75, 83, 224. Wolfgang Weiß

II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung | 413

fizierungswirkung bedeutet im einstweiligen Rechtsschutz, dass der nationale Richter bei erheblichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit eines EU-Rechtsakts einstweilige Maßnahmen unter Abweichung vom Unionsrecht treffen kann, sofern er das Interesse der EU an der Befolgung ihrer Rechtsakte angemessen berücksichtigt und die Maßnahmen geboten sind, um schwere und nicht wiedergutzumachende Schäden zu vermeiden. Auch muss eine Vorlage an den EuGH in der Hauptsache erfolgen.210 Ferner verpflichtet das Unionsrecht zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts auch und gerade dort, wo das Unionsrecht nicht unmittelbar anwendbar ist (sonst würde in der Rechtsanwendung an die Stelle des nationalen Rechts ohnehin gleich das Unionsrecht treten). Demgemäß prüft der EuGH die unionsrechtskonforme Auslegung, nachdem er dessen unmittelbare Anwendbarkeit abgelehnt hat.211 Eine weitere Rechtswirkung des Vorrangs ist die Sperrwirkung von Richtlinien. Vor Ablauf der Umsetzungsfrist einer Richtlinie bindet die Richtlinie die Mitgliedstaaten an die Zielerreichung, so dass nationale Maßnahmen unzulässig sind, die die Zielerreichung nach Ablauf der Umsetzungsfrist unterlaufen.212 Schließlich kann eine Richtlinie den nationalen Spielraum auch bei fehlender unmittelbarer Anwendbarkeit dadurch einschränken, dass sie eine abdrängende Wirkung entfaltet, die die Anwendung mit der Richtlinie nicht vereinbarer nationaler Regeln untersagt, ohne dass an deren Stelle eine unionale Norm träte (sog negative unmittelbare Wirkung der Richtlinie).213 Die Wirkungen des Vorrangs des Unionsrechts sind damit nicht beschränkt auf die Ersetzungswirkung unmittelbar anwendbarer Unionsregeln. Das Unionsrecht kann auch eine nationales Recht modifizierende oder nur abdrängende Wirkung entfalten, allerdings beschränkt auf bestimmte Sachverhalte. Auch diese Fälle können erklärt werden mithilfe der unmittelbaren Anwendbarkeit zumindest von begrenzten Aussagen aus den einschlägigen unionalen Normen.214 So lässt sich die Sperrwirkung von Richtlinien vor Ablauf der Umsetzungsfrist mit der unmittelbaren Wirkung von Richtlinienzielen begründen. Dem EU-Recht lassen sich dann in einem gewissen Umfang hinreichend genaue und bestimmte Verbote nationaler Regelungen entnehmen.

_____ 210 Näher EuGH, Rs 217/88 – Tafelwein; Rs C-465/93 – Atlanta. 211 EuGH, C-131/97 – Carbonari, Rn 47 f; Rs C-192/94 – El Corte Inglés / Blázquez Rivero, Rn 21 f; Rs C-91/92 – Paola Faccini Dori / Recreb Srl, Rn 25 f. Dazu Rn 221. 212 EuGH, Rs C-129/96 – Inter Environnment Wallonie; dazu bereits Weiß DVBl 1998, 568. 213 EuGH, Rs C-443/98 − Unilever, Rn 45–52; dazu Hummer/Ohler S 175 f. 214 Dazu näher Kruis S 118–120. Wolfgang Weiß

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4. Der (begrenzte) Vorrang des EU-Rechts aus der Sicht der nationalen Rechtsordnung a) Deutschland aa) Akzeptanz und Grenzen (1) Grundsätzliche Akzeptanz Das GG regelt das Verhältnis des deutschen Rechts zum Unionsrecht nicht. Die einschlägige Integrationsnorm des Art 23 GG schweigt dazu; ihr lassen sich – anders als Art 288 II AEUV − auch keine indirekten Aussagen entnehmen. Das BVerfG hat gleichwohl den vom EuGH postulierten Vorranganspruch akzeptiert.215 Die nationale Rechtsordnung hat sich derart geöffnet, dass „der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb des staatlichen Herrschaftsbereichs Raum gelassen wird.“216 Die Herleitung des BVerfG ist gemäß seiner Funktion als deutschem Verfassungsgericht anders als beim EuGH, nämlich eine verfassungsrechtliche Begründung. Demgemäß ist der Vorrang des EU-Rechts Folge der parlamentarischen Zustimmung der Legislativorgane zum Vertrag, die ihre Grundlage in der Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU in Art 23 GG (und vor Änderung des Art 23 GG in Art 24 GG) hat. Im Ansatz folgt das BVerfG der Argumentation des EuGH, die auf den Willen der Mitgliedstaaten abstellt, allerdings entscheidet nicht der auf völkerrechtlicher Ebene erklärte Wille der Regierung, sondern der auf verfassungsrechtlicher Ebene durch die in Deutschland dafür zuständigen Verfassungsorgane Bundestag und Bundesrat erklärte. Das BVerfG gründet den Vorrang des Unionsrechts auf den dahingehenden nationalen Willen, der im Vertragsziel zum Ausdruck kam (das BVerfG spricht von einer „ungeschriebenen Norm des primären Gemeinschaftsrechts“)217 und der damit Gegenstand der parlamentarischen Zustimmung war. Somit ergibt sich der Vorrang „allein aus einem dahingehenden innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl, und zwar auch bei Verträgen, die ihrem Inhalt zufolge die Parteien dazu verpflichten, den innerstaatlichen Geltungs- oder Anwendungsvorrang herbeizuführen.“ Das GG ermöglicht es, Verträgen, die Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen, und dem von ihnen gesetzten Recht Geltungs- und Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht durch einen innerstaatlichen Anwendungsbefehl beizulegen. Das erfolgte durch die Zustimmungsgesetze zu den Verträgen.218 Das BVerfG holt die national-verfassungsrechtlich wirksame Vorrangsanordnung des Unionsrechts aus dem deutschen Zustimmungsgesetz. Der Vorrang des

_____ 215 Vgl BVerfG, 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (375) – Solange II; 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223 (244) – Kloppenburg-Beschluss; 1 BvR 1025/82, BVerfGE 85, 191 (204) − Nachtarbeitsverbot. 216 BVerfG, 2 BvL 52/71, BVerfGE 37, 271 (280) – Solange I. 217 BVerfG, 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223 (244) – Kloppenburg-Beschluss. 218 BVerfG, 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (374) – Solange II. Wolfgang Weiß

II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung | 415

Unionsrechts wird in den Vertrag und damit in die Zustimmung hierzu hineininterpretiert219 und somit in der verfassungsrechtlichen Ermächtigung zur Verwirklichung der EU verankert.220 Das BVerfG löst sich von dem mit dem EuGH gemeinsamen Ausgangspunkt des 157 Abstellens auf den Willen der Vertragsstaaten und folgt nicht der Autonomieargumentation des EuGH. Es kann dies auch nicht, sondern muss in verfassungsrechtlichen Kategorien weiterdenken. Die konkrete Bedeutung des Anwendungsvorrangs, seine Reichweite und Grenzen ergeben sich nicht aus dem insoweit nicht weiter fassbaren Staatswillen, sondern aus verfassungsrechtlichen Regelungen, die insbesondere daran anknüpfen, dass die deutschen Staatsorgane keine völkerrechtlichen Bindungen eingehen dürfen, die verfassungswidrig sind. Maßstab ist das Verfassungsrecht, aus einer nationalen Sichtweise notwendig so. Folge der zum EuGH unterschiedlichen Argumentation des BVerfG ist ein mehr 158 oder minder offener Dissens um die Begründung des Vorrangs,221 der sich in der Debatte um seine Grenzen zeigt, die das BVerfG aufgrund verfassungsrechtlicher Argumentation ausschließlich der nationalen Verfassung entnimmt. Dieser Dissens ist unausweichliche Folge der pluralistischen Zuordnung von unionalem und nationalem Recht.222

(2) Grenzen des Vorrangs: Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle der Europäischen Integration (a) Allgemeines Entsprechend der verfassungsrechtlichen Argumentation des BVerfG mit dem auf 159 der Integrationsermächtigung fußenden Rechtsanwendungsbefehl ergeben sich die Grenzen des Vorrangs des Unionsrechts aus den Grenzen der Integrationsermächtigung. Der Vorrang gilt kraft und daher nur im Rahmen der verfassungsrechtlichen Ermächtigung.223 Der Vorrang des Unionsrechts besteht nur in den Grenzen, in denen die Legislative Hoheitsgewalt übertragen kann; diese sind in dem „Europaartikel“ Art 23 iVm Art 79 GG festgelegt. Als Grenzen zeigt Art 23 GG in seinem Abs 1 Strukturanforderungen im Hin- 160 blick auf eine den demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen, der Subsidiarität und einem vergleichbaren Grundrechtsschutz verpflichtete EU auf. Damit werden materiell-inhaltliche Vorgaben formuliert, die fundamentale verfassungsrechtliche Errungenschaften festschreiben, der eine EU

_____ 219 220 221 222 223

Huber VVDStRL 60 (2001), 194 (217). Bekräftigt in BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (397) − Lissabon. Isensee FS Klaus Stern, 1997, S 1239. Dazu oben Rn 17 ff. BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (354, Rn 240) − Lissabon.

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entsprechen muss, an der Deutschland mitwirkt. Die Anforderungen leiten als Zielvorgabe für die anzustrebenden Strukturen der EU auch die deutsche Europapolitik.224 Die Mitwirkung in der EU ist dabei nicht an die Ausgestaltung dieser Grundsätze, wie sie im GG für die nationale deutsche Verfassungslage anzutreffen ist, gebunden.225 Die primärrechtlichen Grundlagen der EU können und müssen davon abweichen, um den Funktionalitäten und Anforderungen einer supranationalen Gemeinschaft zu entsprechen. Eine „strukturelle Kongruenz“ zu staatlichen Maßstäben zu verlangen, wäre verfehlt,226 hier drückt sich die Autonomie der Unionsrechtsordnung aus.227 Eine endgültige Grenze für die Hoheitsübertragung und damit den Anwendungsvorrang findet sich gemäß Art 23 I 3 GG in der Ewigkeitsgarantie des Art 79 III GG. Somit können die vertraglichen Grundlagen der EU das GG substantiell ändern, aber nicht soweit, wie es selbst dem verfassungsändernden Gesetzgeber entzogen ist. Über die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Grenzen der Integration und damit des Vorrangs des Unionsrechts wacht das BVerfG.228 Das BVerfG hat diese Vorgaben dahingehend umgesetzt, dass grundlegende national-verfassungsrechtliche Kerngehalte und insbesondere ein grundlegender Grundrechtsschutz durch die EU nicht beseitigt werden dürfen. Das BVerfG führt eine Grundrechtskontrolle und eine Kontrolle der Verfassungsidentität aus. Hinzu kommt, dass das BVerfG prüft, ob die Kompetenzbeanspruchung durch die EU von der Zustimmung des Bundestages gedeckt ist. Das BVerfG untersucht mithin, ob die EU die Grenzen ihrer übertragenen Kompetenzen einhält. Kompetenzüberschreitende, sog „ausbrechende Rechtsakte“ sind als ultra vires-Handlungen in Deutschland nicht anzuwenden. Das BVerfG kontrolliert damit zum einen in der Identitätskontrolle, was der EU überhaupt an Hoheitsgewalt übertragen werden kann. Es geht darum, ob die äußersten Grenzen des national-verfassungsrechtlich an die EU Übertragbaren eingehalten wurden. Zum anderen kontrolliert das BVerfG in der ultra vires Kontrolle die Beachtung der Grenzen des bereits an die EU Übertragenen.229 Der Anwendungsvorrang steht damit unter verfassungsrechtlichen Vorbehalten der Wahrung der Verfassungsidentität einschließlich der unabdingbaren Grundrechtsstandards und der Einhaltung der Kompetenzverteilung. Durch diese Kontrollen zeigt es dem Unionsrecht und seiner weiteren Entwicklung durch Rechtsprechung, Gesetzgebung, Rechtsanwendung als auch Vertrags-

_____ 224 225 226 227 228 229

Streinz FS Klaus Stern, 2012, S 963 (964 f). Sommermann DÖV 2013, 708 (709). BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (365 f) − Lissabon; Streinz Rn 233. S oben Rn 67. BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (398 f) – Lissabon. Vgl BVerfGE 142, 123 (203, Rn 153) – OMT. Wolfgang Weiß

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änderung verfassungsrechtliche Grenzen auf. Das BVerfG unterwirft die auch von ihm als eigenständig angesehene Rechtsordnung der Union nationalen Prüfungsvorbehalten. Das ist im Grundsatz legitim, weil es damit nicht um die Kontrolle von Unionsrecht als Unionsrecht geht. Es geht nicht um Überprüfung des Unionsrechts auf unionaler Ebene, sondern es geht um die Bestimmung der Grenzen, die das GG der deutschen Mitwirkung am Integrationsprozess aufzeigt, und damit um die Bestimmung, wann Unionsrecht in Deutschland nicht mehr nicht mehr angewendet werden darf. Entsprechend dem prozessualen Trennungsgrundsatz230 entscheidet es über die Auslegung nationalen Verfassungsrechts und damit über die Grenzen des deutschen Rechtsanwendungsbefehls für das Unionsrecht. Dabei besteht aber die Gefahr, dass dem BVerfG die Verschränkung und Wech- 165 selbezüglichkeit der deutschen und der europäischen Verfassungsrechtslage außer Blick gerät. Denn das GG gibt nur einen Teil der verfassungsrechtlichen Regeln in Deutschland wieder.231 Seine Kontrolle will das BVerfG nur in Kooperation mit dem EuGH durchfüh- 166 ren.232 Auch bekennt es sich infolge der Europarechtsfreundlichkeit des GG233 dazu, seine Kontrollbefugnisse zurückhaltend auszuüben.234 Das ist angesichts der aufgezeigten Verflechtung zwischen unionalem und nationalem Recht notwendig. Kern dieses Kooperationsverhältnisses ist die Respektierung der primären Zuständigkeit des EuGH für die Auslegung und damit Inhaltsbestimmung des Unionsrechts. Ehe das BVerfG seine abschließende national-verfassungsrechtliche Kontrolle anlegt, will – und muss – es zuvor dem EuGH im Wege einer Vorlage nach Art 267 AEUV Gelegenheit geben, den grundrechtlichen oder anderen verfassungsrechtlichen Einwänden von unionaler Seite durch eine entsprechende Auslegung oder Nichtigerklärung des Unionsrechts zu begegnen. Sosehr diese Erwägung zu begrüßen ist, sosehr mangelt es in der Praxis an Befolgung. Das BVerfG hat bislang erst zweimal vorgelegt und andere notwendige Vorlagen versäumt.235 Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Integration sind nach der Rechtspre- 167 chung des BVerfG über Verfassungsbeschwerden individuell einklagbar. Nicht unumstrittener Ansatzpunkt für die Grundrechtsbeschwerde ist die Rüge einer Verletzung des Wahlrechts nach Art 38 I GG wegen Entleerung des Zuständigkeitsbereichs des Bundestags. Das Wahlrecht aus Art 38 I GG fordert nach Lesart des BVerfG, dass auf mitgliedstaatlicher Ebene noch Aufgaben vom hinreichenden Gewicht bestehen bleiben, damit die Voraussetzungen für eine lebendige Demokratie

_____ 230 231 232 233 234 235

S oben Rn 31 f. Zur Verschränkung von EU und nationalen Recht s Rn 12 ff. Dazu schon oben Rn 31, 39 ff. BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (354) – Lissabon. BVerfG, 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 (307) – Honeywell; 142, 123 (188 ff) – OMT. Vgl oben Rn 36.

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gewahrt bleiben und die Bundesrepublik auf zentralen Lebens- und Regelungsbereichen noch substantielle innerstaatliche Gestaltungsmöglichkeiten hat. 236 Das BVerfG umreißt dabei in seinem Lissabon-Urteil die „für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaates“ „besonders sensib[len]“ Bereiche: „Entscheidungen über das materielle und formelle Strafrecht, die Verfügung über das Gewaltmonopol polizeilich nach innen und militärisch nach außen, die fiskalischen Grundentscheidungen über Einnahmen und − gerade auch sozialpolitisch motivierte − Ausgaben der öffentlichen Hand, die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen sowie kulturell besonders bedeutsame Entscheidungen etwa im Familienrecht, Schul- und Bildungssystem oder über den Umgang mit religiösen Gemeinschaften.“237 Diese Konkretisierung erfolgt in methodisch kritikwürdiger Weise, da das BVerfG sie ohne Anhaltspunkte im Verfassungstext vorgeblich aus dem Demokratie- und Subsidiaritätsprinzip, vor allem aber aus der Historie („seit jeher“) ableitet,238 und damit nach Art einer Staatsaufgabenlehre239 konkrete Politikfelder benennt, für die eine weitere Supranationalisierung nur mit erheblicher Sensibilität für verbleibende staatliche Zuständigkeiten erfolgen darf. Diese Bereiche wurden daher auch als „integrationsentschleunigte Bereiche“240 oder als Vorbehaltsbereiche bezeichnet,241 definieren selbst aber nicht die Verfassungsidentität. Die Verfassungsidentität bestimmt sich nur aus Art 79 III GG. Materiell-rechtliche Ergänzung der Kontrolle der Integrationsgrenzen durch das 168 BVerfG ist eine Verpflichtung der deutschen Verfassungsorgane auf Wahrnehmung ihrer Integrationsverantwortung, vom BVerfG im Lissabon-Urteil begrifflich eingeführt. Demnach sind die Verfassungsorgane der Bundesrepublik, allen voran die Bundesregierung und der Bundestag, verpflichtet, die europäische Integration aktiv zu gestalten und sich dem nicht durch pauschale Ermächtigungen zu entziehen.242 Ferner sind sie verpflichtet, bei ihrer Mitwirkung im Integrationsprozess auf die Einhaltung der Schranken der verfassungsrechtlichen Ermächtigung nach Art 23 GG zu achten.243 Die Fortentwicklung der Integration durch Veränderung des Primärrechts ohne Ratifikationsverfahren, etwa durch autonome Reform durch die EU-Organe, darf nur in einer Weise erfolgen, die den Anforderungen von Art 23 GG genügt.244

_____ 236 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (406) – Lissabon. Zu Kritik und Rechtfertigung des Ansatzes über Art 38 GG Huber AöR 2016, 117 (128 ff). 237 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (359) – Lissabon. 238 Vgl BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (359) – Lissabon. 239 S Calliess S 258; Terhechte EuZW 2009, 724 (730); vMangoldt/Klein/Starck/Classen Art 23 GG Rn 28. 240 Terhechte EuZW 2009, 724 (731). 241 Ruffert DVBl 2009, 1197 (1202). Dort S 1202 ff auch näher zu diesen Bereichen. 242 Zum Verbot von Blankettermächtigungen s bereits oben Rn 43. 243 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (351, 356 ff) – Lissabon. Dazu Pechstein (Hrsg) passim. 244 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (351) – Lissabon. Wolfgang Weiß

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Die Integrationsverantwortung nimmt die Verfassungsorgane nicht nur bei der 169 Begründung und kompetenziellen Ausweitung der EU in die Pflicht, die Verfassungsgrenzen nach Art 23 GG zu wahren (sog. Grundlagenverantwortung), sondern verpflichtet sie auch, die Entwicklung des EU-Rechts in Hinsicht auf ihr Sekundärrecht zu begleiten, um diese Grenzen zu verdeutlichen, aber auch Legitimation zu vermitteln (sog Alltagsverantwortung).245 Das BVerfG fordert dies im Bewusstsein, dass die Hoheitsübertragung einen eigenen Hoheitsträger etabliert, dessen Existenz Eigendynamiken entfaltet, gerade in Bezug auf eine „evolutive Auslegung des Vertragstexts.“ Die mangelnde Vorhersehbarkeit der Entwicklung der Integration wird damit ausgeglichen.246 In diesem Kontext hat das BVerfG die stärkere Einbeziehung des Parlaments 170 bei der Gestaltung der Europäischen Integration als Ausgleich der integrationsbedingten Kompetenzverschiebungen zulasten der Parlamente und zugunsten der Exekutiven als Verfassungsgebot betont und daraus konkrete Anforderungen im Hinblick auf Informations- und Beteiligungsrechte und Kontrollbefugnisse des Bundestags abgeleitet.247

(b) Grundrechtskontrolle Als erste verfassungsrechtliche Grenze der europäischen Integration und damit des 171 Anwendungsvorrangs des EU-Rechts hat das BVerfG die Grundrechte hochgehalten und die Beachtung des grundgesetzlichen Grundrechtsschutzniveaus durch die damalige EWG eingefordert. Das erscheint im Lichte heutiger Dogmatik als erster wesentlicher Baustein der vom BVerfG heute ausgeübten sog Identitätskontrolle,248 denn der Grundrechtsschutz ist durch die zentrale Stellung der Grundrechte im ersten Abschnitt des GG und durch die Aufnahme ihres Menschenwürdegehaltes in die Ewigkeitsklausel des Art 79 III GG ein Kernbestandteil der deutschen Verfassungsordnung. Daher gehört die Überwachung des in der EU gewährten Grundrechtsschutzes durch das BVerfG letztlich zur Identitätskontrolle, soll hier aber aufgrund ihrer eigenständigen Bedeutung in der Entwicklung der bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle der Integration eigens betrachtet werden.

_____ 245 Tischendorf Theorie und Wirklichkeit der Integrationsverantwortung deutscher Verfassungsorgane, 2017, S 85 ff; Weiß JuS 2018, 1046 (1047). 246 Voßkuhle NVwZ-Beilage 2013, 27 (29). 247 BVerfG, 2 BvE 4/11, BVerfGE 131, 152 (197 ff) – Unterrichtungspflicht (ohne Bezugnahme auf die Integrationsverantwortung, sondern auf Art 23 II GG); im Kontext der Integrationsverantwortung aber BVerfG, 2 BvR 1390/12, BVerfGE 132, 195 (240, Rn 108; 270, Rn 178) − ESM, unter Hinweis auf BVerfG, 2 BvR 987, BVerfGE 129, 124 (179 und 186) – Rettungsschirm. 248 BVerfGE 142, 123 (188 Rn 121) verortet die Einhaltung der Grundsätze des Art 1 iVm Art 79 III GG, neben denen des Art 20 iVm. Art 79 III GG, explizit in der Identitätskontrolle Dazu näher Rn 185 ff. Wolfgang Weiß

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Der nach Art 23 I GG geforderte, dem GG „im wesentlichen vergleichbare Grundrechtsschutz“, der den Anforderungen des Art 79 III GG genügt, bedeutet in der Sicht des BVerfG die Sicherstellung eines Grundrechtsschutzes in der EU, der „im wesentlichen“ dem vom Grundgesetz „als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz“ gleich zu achten ist, insbesondere „den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt.“249 Das dürfte gleichzusetzen sein mit den Anforderungen aus der Menschenwürde und den Menschenwürdegehalten der Grundrechte.250 Das BVerfG hatte seine Grundrechtskontrolle in Solange I zunächst hochgehal173 ten, weil der Integrationsprozess noch nicht so weit fortgeschritten war, dass es im Unionsrecht einen eigenen Grundrechtskatalog gab, der dem des Grundgesetzes adäquat gewesen wäre.251 In seiner Solange II-Entscheidung vollzog das BVerfG dann eine Wende und 174 judizierte, dass es seine Grundrechtsgerichtsbarkeit nicht mehr ausübe, solange die EU, und insbesondere der EuGH „einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist.“252 Das BVerfG bejahte damit die grundsätzliche Gleichwertigkeit des vom EuGH gewährten EU-Grundrechtsschutzes mit den Grundrechten des GG, obschon der zuvor geforderte Grundrechtskatalog damals auch nicht vorlag.253 Er kam erst mit dem Vertrag von Lissabon in Gestalt der Grundrechtecharta. Auffällig ist auch eine gewisse Absenkung des Standards: Während das BVerfG in Solange I einen den Grundrechten des GG entsprechenden Grundrechtsstandard fordert, genügt in Solange II eine generelle Gewährleistung des unabdingbaren Grundrechtsschutzes. Die Formel des im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz dieser Judikatur nach fand später in Art 23 GG Eingang. In Solange II hat das BVerfG seine Befugnis zur Grundrechtsprüfung zu175 rückgenommen, soweit es um die Rüge unzureichenden Grundrechtsschutzes durch EU-Akte oder bei auf EU-Akte gestützten nationalen Hoheitsakten geht. Dieses Recht wird nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des GG überprüft.254 Daher

_____ 249 BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (174 f) – Maastricht. 250 Vgl BVerfGE 140, 317 (341) – Identitätskontrolle; BVerfG, 2 BvR 890/16, Beschluss vom 6.9.2016, Rn 36 ff. 251 BVerfG, 2 BvL 52/71, BVerfGE 37, 271 (LS und S 285) – Solange I. 252 BVerfG, 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (387) – Solange II. 253 Das BVerfG verwies auf die Grundrechtsjudikatur des EuGH; die Forderung eines parlamentarisch verabschiedeten Grundrechtskatalogs spielte keine Rolle mehr; es scheint, als habe das BVerfG das einfach vergessen wollen, vgl BVerfG, 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (377 ff) – Solange II. 254 Dass sich das BVerfG damit in Solange I zu einer Gerichtsbarkeit über abgeleitetes Gemeinschaftsrecht, also EU-Sekundärrecht, bekennt, erhellt aus BVerfG, 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (385) – Solange II. Wolfgang Weiß

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sind Verfassungsbeschwerden oder auf Grundrechtsrügen gestützte konkrete Normenkontrollen gemäß Art 100 I GG unzulässig, es sei denn, es wird dargelegt, dass die unionale Rechtslage oder die Rechtsprechung des EuGH den nach dem GG verfassungsrechtlich gebotenen unabdingbaren Grundrechtsschutz „generell nicht gewährleistet“.255 Zuletzt hat das BVerfG allerdings eine Kontrolle auf Einhaltung der Menschenwürdegehalte aufgenommen und übt den von Art 23 I 3, Art. 79 III und 1 I GG „unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz uneingeschränkt und im Einzelfall“ im Rahmen der Identitätskontrolle aus.256 Mit Recht prüft das BVerfG aber bei einer Urteilsverfassungsbeschwerde zunächst auf Verletzung des gesetzlichen Richters wegen Nichtvorlage an den EuGH (BVerfGE 147, 364). Das entspricht dem Kooperationsverhältnis zum EuGH (Rn 164, 177). Das eben Gesagte gilt auch für die Kontrolle nationalen Rechts, das zwin- 176 gend durch EU-Recht inhaltlich vorgegeben ist (in Umsetzung einer EURichtlinie),257 wie auch für nationale Vollzugsakte, die EU-rechtliche Vorgaben auf nationaler Ebene umsetzen oder für den Einzelfall anwenden. In dagegen gerichteten Rechtsbehelfen reduziert sich der Prüfungsumfang durch die nationale Behörde oder Richter (bei Prüfung auf die Einhaltung höherrangigen Rechts) dahingehend, dass sie von Vorgaben des EU-Rechts nicht abweichen dürfen,258 es sei denn, die Integrationsgrenzen sind überschritten, so dass Gerichte das BVerfG befassen müssen. Prüfungsmaßstab durch das BVerfG im Hinblick auf die grundrechtlichen Schranken der Integration sind die unabdingbaren, aus der Menschenwürde gebotenen Grundrechtsgehalte des GG, bei deren Anwendung das europäische Gemeinwohl im Rahmen der Eingriffsrechtfertigung einzustellen ist.259 Seine Grundrechtskontrolle will das BVerfG in einem Kooperationsverhältnis 177 (Rn 166) mit dem EuGH ausüben, welches das BVerfG dergestalt skizziert, dass der EuGH für den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall zuständig ist, der in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, während das BVerfG sich zurücknimmt auf die generelle Sicherstellung des grundgesetzlich unabdingbaren Grundrechtsstandards in Deutschland260, was nach der neueren Judikatur um die Kontrolle der Einhaltung der Menschenwürde (Rn 175) in jedem Einzelfall (!) erweitert wurde. Deren Zulässigkeit erfordert die substantiierte Darlegung im Einzelnen, inwieweit die Menschenwürde verletzt ist, was detaillierte Auseinandersetzung mit einschlägiger Rechtsprechung von EuGH, EGMR und BVerfG gebietet.

_____ 255 256 257 258 259 260

BVerfG, 2 BvL 1/97, BVerfGE 102, 147 – Bananenmarktordnung. BVerfGE 140, 317 (341) – Identitätskontrolle. BVerfG, 1 BvF 1/05, BVerfGE 118, 79 – Emissionshandel. Vgl BVerfG, 1 BvR 256/08, BVerfGE 125, 260 (308 ff) – Vorratsdatenspeicherung; Frenz S 54. Vgl Streinz Rn 231. Vgl BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (175) – Maastricht.

Wolfgang Weiß

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Das BVerfG macht die Wahrnehmung seiner Grundrechtskontrolle261 von hohen Hürden abhängig. Der Solange II-Vorbehalt zur Grundrechtskontrolle wird nur ausgelöst, und damit eine Verfassungsbeschwerde oder Richtervorlage wegen Grundrechtsverletzung infolge eines Hoheitsakts der EU nur für zulässig erachtet, wenn der auf EU-Ebene gewährte Grundrechtsschutz generell den vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Standard nicht mehr gewährleistet. Ein Absinken des EU-Standards unter diesen unabdingbaren Standard des GG im Einzelfall schadet daher nicht. Diese hohe Hürde ist bisher noch nie überwunden worden, und hat daher die 179 bundesverfassungsgerichtliche Grundrechtskontrolle praktisch bedeutungslos gemacht.262 Dass das BVerfG nunmehr die Kontrolle auf die Menschenwürdegehalte in der Identitätskontrolle wiederbelebt hat (Rn 177), dürfte klare Konsequenz daraus sein (vgl Rn 192).

178

(c) ultra vires-Kontrolle: sog ausbrechende Rechtsakte 180 Das BVerfG prüft seit seiner Maastricht-Entscheidung ferner, ob die Rechtsakte der EU sich in den Grenzen der der EU im Wege der begrenzten Einzelermächtigung eingeräumten Hoheitsrechte halten. Gehen sie darüber hinaus, stellen sie sog ausbrechende Rechtsakte dar.263 Wenden die EU-Organe die Regeln des Primärrechts in einer Weise an, dass sie vom Primärrecht, wie es Gegenstand der deutschen Zustimmung und damit des deutschen Rechtsanwendungsbefehls ist, nicht mehr gedeckt wäre, überschritte die EU die Grenzen der ihr übertragenen Hoheitsrechte und bewegte sich auf „einem Pfad, an dessen Ende die Verfügungsgewalt über ihre vertraglichen Grundlagen steht, dh die Kompetenz, über ihre Kompetenzen zu disponieren.“ 264 Die aus einer Kompetenzüberschreitung hervorgegangen EURechtsakte sind nach Ansicht des BVerfG im deutschen Hoheitsraum nicht anzuwenden, weil sie sich nicht in den Grenzen des deutschen Rechtsanwendungsbefehls befinden, sondern Vertragserweiterungen außerhalb der dafür vorgesehenen Formen darstellen.265 Werden die vertraglichen Grundlagen der EU durch richterliche Auslegung oder 181 durch den Erlass von Sekundärrecht so ausgedehnt, dass sie die Grenzen des Übertragenen überschreiten, greift die sog ultra vires-Kontolle eines ausbrechenden Rechtsakts: Das BVerfG erklärt dann das EU-Recht im Rahmen zulässiger Verfas-

_____ 261 BVerfG, 2 BvL 1/97, BVerfGE 102, 147 – Bananenmarkt. 262 Streinz Rn 223. 263 BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 58, 1 (30 f); 89, 155 (188) – Maastricht; 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (LS 4, 353 f) − Lissabon. 264 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (352) – Lissabon. 265 BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (188) – Maastricht. Wolfgang Weiß

II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung | 423

sungsrechtsbehelfe insoweit für nicht in Deutschland anwendbar. Das EU-Recht verdrängt dann auch nicht deutsches Recht; es entfaltet keinen Anwendungsvorrang. In der Lissabon-Entscheidung wurde die Kontrolle auf ersichtliche Grenzüberschreitungen zurückgenommen.266 Die praktische Anwendung der ultra vires-Kontrolle unterliegt seit der Honey- 182 well-Entscheidung267 zur richterlichen Rechtsfortbildung durch den EuGH weiteren hohen (Zulässigkeits-?)Hürden.268 Das BVerfG hat sich verpflichtet, vor Nichtanwendungserklärung von EU-Sekundärrecht zunächst dem EuGH Gelegenheit zu geben, sich zu der Reichweite der EU-Kompetenzen zu äußern. Der Honeywell-Beschluss hat – zunächst nur in Bezug auf Kompetenzüberschreitungen durch Urteile des EuGH – die Hürden für die ultra vires-Kontrolle ähnlich angehoben wie der Bananenmarktbeschluss für die Grundrechtskontrolle.269 Danach greift die ultra viresKontrolle erst, wenn es sich um eine evidente, offensichtliche Befugnisüberschreitung handelt, die das Kompetenzgefüge zwischen EU und den Mitgliedstaaten durch eine strukturell bedeutsame Verschiebung der Kompetenzen zulasten der Mitgliedstaaten tangiert.270 Das BVerfG gibt aber einer dynamischen Interpretation der EU-Kom- 183 petenzen recht weiten Raum. Es akzeptiert richterliche Rechtsfortbildung auch für den EuGH, die „zu einer der grundlegenden Verantwortung der Mitgliedstaaten über die Verträge gerecht werdenden Kompetenzabgrenzung“ beitragen könne. Das erlaubt aber nicht, „deutlich erkennbare, möglicherweise sogar ausdrücklich im Wortlaut dokumentierte (vertrags-)gesetzliche Entscheidungen ab[zu]ändern oder ohne ausreichende Rückbindung an gesetzliche Aussagen neue Regelungen [zu] schaffen … Dies ist vor allem dort unzulässig, wo Rechtsprechung über den Einzelfall hinaus politische Grundentscheidungen trifft oder …[wo] strukturelle Verschiebungen im System konstitutioneller Macht- und Einflussverteilung stattfinden.“271 Die Integrationsverantwortung der Mitgliedstaaten würde in besonders schwerwiegender Weise untergraben, wenn sich eigenmächtige Kompetenzerweiterungen des EuGH „auf Sachbereiche erstrecken, die zur verfassungsrechtlichen Identität der Mitgliedstaaten rechnen oder besonders vom demokratisch diskursiven Prozess in den Mitgliedstaaten abhängen.“272 Das BVerfG gesteht dem EuGH aber einen

_____ 266 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (353) – Lissabon. 267 BVerfG, 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 − Honeywell. 268 Die nachfolgenden Ausführungen des BVerfG ergingen nicht zur Zulässigkeit, sondern zur Begründetheit, so dass diese hohen Schwellen sich wohl eher nur auf die Begründetheit beziehen, Isensee/Kirchhof/Streinz HStR X § 218 Rn 53. 269 Streinz Rn 223. 270 Dieser Maßstab gilt nunmehr für alle ultra vires-Rügen, BVerfGE 142, 123 (186, 188 ff) – OMT. 271 BVerfG, 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 (306) − Honeywell. 272 BVerfG, 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 (307) – Honeywell. Wolfgang Weiß

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methodischen Spielraum und Fehlbarkeit zu: Die „unionseigenen Methoden der Rechtsfindung, … die der ‚Eigenart‘ der Verträge und den ihnen eigenen Zielen Rechnung tragen …, [sind] zu respektieren … Zum anderen hat der Gerichtshof Anspruch auf Fehlertoleranz.“ Daher setzt das BVerfG bei der Auslegung des Unionsrechts, die bei methodischer Gesetzesauslegung zu verschiedenen Ergebnissen führen kann, nicht seine Auslegung an die Stelle der des EuGH. Es nimmt auch Interpretationen des Primärrechts hin, die ohne gewichtige Verschiebung im Kompetenzgefüge nur Einzelfälle betrifft und keine belastende Wirkungen auf Grundrechte zeitigt oder deren Belastungen sich ausgleichen lassen.273 Diese Aussagen in Honeywell weichen das Lissabon-Urteil des BVerfG auf. Die Senatsmehrheit stellt nun neben der Offensichtlichkeit eines ultra vires-Akts auch auf die „strukturell bedeutsame Verschiebung im Kompetenzgefüge“ zwischen Mitgliedstaaten und EU ab.274 Das BVerfG hat damit seine Kontrolle auf offenkundige und strukturwirksame 184 ultra vires-Akte zurückgenommen und übt diese nur zurückhaltend aus.275

(d) Kontrolle der Verfassungsidentität 185 Das BVerfG prüft im Rahmen der Identitätskontrolle, ob der „unantastbare Kernge-

halt der Verfassungsidentität des GG“276 gewahrt ist. Grundlage dafür ist Art 23 I iVm Art 79 III GG, wonach für materielle Verfassungsänderungen im Zuge der Integration die Ewigkeitsgarantie nach Art 79 III GG gilt. Das, was dem verfassungsändernden Gesetzgeber entzogen ist, ist der Übertragung auf die EU nicht zugänglich. Das verfassungsrechtlich Unverfügbare gilt als integrationsfest.277 Wiederum hat die Sicherung der Verfassungsidentität beim BVerfG weiter zu186 rückreichende Wurzeln. Bereits zu Art 24 GG hatte das BVerfG betont, dass diese Ermächtigung zur Hoheitsübertragung nicht ohne verfassungsrechtliche Grenzen sei, da sie „nicht den Weg [eröffne], die Grundstruktur der Verfassung, auf der ihre Identität beruht, ohne Verfassungsänderung“, auch nicht durch zwischenstaatliche

_____ 273 BVerfG, 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 (308) − Honeywell. 274 Kritisch zur Abweichung von Lissabon die abweichende Meinung Landau, BVerfG, 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 (322) − Honeywell. Dazu Streinz FS Klaus Stern, 2012, S 963 (974). 275 BVerfG, 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 (307 f) − Honeywell. 276 BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 75, 223 (235, 242) – Kloppenburg-Beschluss; 89, 155 (188) – Maastricht; 2 BvR 2236/04, BVerfGE 113, 273 (296) – Darkazanli; 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (LS 4, S 353) – Lissabon. Die Beschränkung auf unantastbare Kerngehalte findet sich in BVerfG 142, 123 – OMT nicht mehr. Die Verfassungsidentität und nicht nur deren Kerne sind unverfügbar, BVerfGE 140, 317 (342) – Verfassungsidentität. Der „Identitätskern“ begegnet noch in BVerfG, 2 BvR 1390/12, BVerfGE 132, 195 (240) – ESM. 277 Voßkuhle NVwZ-Beilage 2013, 27. Wolfgang Weiß

II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung | 425

Gesetzgebung zu ändern.278 Art 24 erlaubt nicht, durch Hoheitsübertragung „die Identität der geltenden Verfassungsordnung … aufzugeben.“279 Wie die ultra vires-Kontrolle kann auch die Identitätskontrolle dazu führen, dass Unionsrecht in Einzelfällen für unanwendbar erklärt wird.280 Das stellt eine Grenze seines Anwendungsvorrangs dar. Die Identitätskontrolle bezieht sich auf EU Primär- und Sekundärrecht und hat Bedeutung auch bei seiner Vollziehung.281 Die durch Art 79 III geschützte Verfassungsidentität des GG erfasst die dort benannten föderalen Grundsätze und die in Bezug genommenen Grundsätze der Staatsstrukturprinzipien des Art 20 GG, also die Grundsätze von demokratischer und sozialer Rechtsstaatlichkeit und Bundesstaatlichkeit, ferner die Menschenwürdesubstanz der Grundrechte (zur Grundrechtskontrolle als Teil der Identitätskontrolle Rn 171 ff). Diese Grundprinzipien bedingen nach dem BVerfG ferner die Wahrung der Eigenstaatlichkeit Deutschlands. Es dürfe nicht Gliedstaat eines europäischen Bundesstaats werden.282 Das könne nur über eine neue Verfassung nach Art 146 GG erfolgen.283 Das Demokratieprinzip erfordert insbesondere, dass der Bundesrepublik ein ausreichender Raum zur eigenständigen politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebensverhältnisse bleiben müsse. Dem Bundestag müssten Aufgaben und Befugnisse von „substantiellem politischem Gewicht“ bleiben.284 Das Gericht zählt dann bestimmte Sachbereiche auf, die sich hier besonders auszeichnen, um Felder nationaler politischer Gestaltungsfreiheit zu bestimmen.285 Als Kerngehalt des Demokratieprinzips hat das BVerfG – bei der rechtlichen Bewertung der Maßnahmen zur Bewältigung der Finanzkrise – auch das parlamentarische Budgetrecht angesehen, weil die Entscheidungsfähigkeit über öffentliche Einnahmen und Ausgaben grundlegend für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit sei.286 Die finanzielle Gesamtverantwortung der Bundesrepublik mit politischen Freiräumen müsse beim Bundestag bleiben.287 Der Bundestag dürfe daher seine Budgetverantwortung nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere, supranationale oder zwischenstaatliche Akteure übertragen, oder sich finanzwirksamen Mechanismen ausliefern, die zu nicht überschaubaren

_____ 278 BVerfG, 2 BvL 52/71, BVerfGE 37, 271 (279) – Solange I. 279 BVerfG, 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 39 (375 f) – Solange II. 280 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (354 f) – Lissabon; BVerfGE 142, 123 (204) – OMT. 281 Isensee/Kirchhof/Streinz HStR X § 218 Rn 54. 282 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (331 f, 364) – Lissabon. 283 Angesichts des Verfassungsauftrags für die Europäische Integration ist das höchst strittig, Sachs/Streinz Art 23 GG Rn 93. 284 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (356) – Lissabon. 285 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (358) – Lissabon. S oben Rn 167. 286 BVerfG, 2 BvR 987, BVerfGE 129, 124 (177) − Rettungsschirm. 287 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (361 f) − Lissabon. Wolfgang Weiß

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Belastungen führen können („Verbot der Entäußerung der Budgetverantwortung“).288 Mit dem Postulat einer Identitätskontrolle hat sich das BVerfG recht weit von 191 verfassungsrechtlich verankerten Grenzen für die Integration gelöst, weil es dadurch die einzelnen in Art 23 I und 79 III GG vergleichbar benannten geschützten Verfassungskerngehalte zu einer Identitätsgarantie des GG zusammenfasst und ausweitet. Darauf ist die Souveränitätsfixierung des BVerfG in seinen Entscheidungen seit Lissabon zurückzuführen. Diese etatistische Seite der Begründung von Integrationsgrenzen dient einer viel stärkeren Selbstbeharrung als die ultra vires-Kontrolle, die nur darüber wacht, dass die völkerrechtliche Bindung Deutschlands dem innerstaatlich Zugestimmtem entspricht, oder die Grundrechts- und insbesondere Menschenwürdekontrolle, die unhintergehbare Rechte des Einzelnen wahrt.

(e) Bewertung und Schlussfolgerung zum Verhältnis von Karlsruhe und Luxemburg 192 Die Rechtsprechung des BVerfG zur verfassungsrechtlichen Kontrolle der Integration erscheint zwiespältig. Einerseits findet sich eine klare Betonung der verfassungsrechtlichen Grenzen. Das BVerfG behält sich eine Kontrolle auf Wahrung der deutschen Verfassungsidentität, insbesondere auf Beibehaltung deutscher souveräner Staatlichkeit und neuerdings Achtung der Menschenwürde, und eine ultra viresKontrolle der Integration vor. Auch die generelle Grundrechtskontrolle könnte durchaus wieder aktualisiert werden, insbesondere in Bereichen, in denen das BVerfG den nationalen Grundrechtsschutz und nicht den europäischen für ausschlaggebend hält, weil und insofern das BVerfG eine engere Sichtweise des Anwendungsbereichs des unionalen Grundrechtsschutzes in den Mitgliedstaaten verfolgen könnte.289 Konflikte mit dem EuGH können sich auch daraus ergeben, dass sich das BVerfG im Rahmen seiner Kontrolle auf Einhaltung der Integrationsschranken zur Auslegung von Unionsrecht äußert, ohne zuvor den EuGH zu befassen. Weitere Schwierigkeiten könnte schließlich die identitätswahrende verfassungsgerichtliche Kontrolle der parlamentarischen Budgethoheit auslösen. Andererseits hat das BVerfG sich zu einer zurückhaltenden Handhabung ver193 pflichtet und erkennen lassen, dass es seine Kontrollzuständigkeit nur als letzten Ausweg, als ultima ratio290 und Reservekompetenz291 aktualisiert. Diese Haltung zeigt sich zum einen in hohen Zulässigkeitshürden für Grundrechtsrügen, die ultra vires-Beschwerde und auch die jüngst aufgenommene Menschenwürderüge als

_____ 288 289 290 291

BVerfG, 2 BvR 987, BVerfGE 129, 124 (179) − Rettungsschirm. Deutlich die Andeutung bei Voßkuhle NVwZ-Beilage 2013, 27 (29). Streinz FS Klaus Stern, 2012, S 963 (972). BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (400 f) – Lissabon. Wolfgang Weiß

II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung | 427

Sonderfall der Verfassungsidentitätsprüfung, 292 zum zweiten in der (Selbst-) Verpflichtung zur vorherigen Befassung des EuGH, zum dritten in der Rücknahme des materiellen Prüfungsmaßstabs (die sich zunächst deutlich im Hinblick auf die Grundrechtskontrolle und die Anforderung an eine ultra vires-Rüge zeigte und auch bei der Identitätskontrolle durchscheint)293 und schließlich zum vierten in der gerichtlichen Betonung politischer Gestaltungsspielräume und damit umgekehrt einer zurückgenommenen Kontrolldichte. Das BVerfG wurde daher als wenig glaubwürdig kritisiert, weil es der Feststellung einer Nichtanwendbarkeit von EU-Recht bislang stets auswich und sein Heil in der steten Veränderung der diesbezüglichen Anforderungen in Richtung auf eine Erschwerung der Erkenntnis eines Verfassungsverstoßes suchte. Die Zurückhaltung sollte aber nicht Anlass für Kritik sein, sondern belegt die Notwendigkeit einerseits der Rücksichtnahme national-verfassungsgerichtlicher Judikate auf die supranationalen Akteure, insbesondere den EuGH, und andererseits der Respektierung des den deutschen Verfassungsorganen zukommenden europapolitischen Gestaltungsspielraums. Zwischen diesen Polen bewegt sich die Entscheidungsfindung des BVerfG mit Recht vorsichtig. Verfassungstheoretisch ist das angesichts des Verfassungspluralismus in der EU (Rn 1 ff) notwendig. Die Praxis der verfassungsgerichtlichen Kontrolle wie auch die Überlegungen zum Gerichtsverbund zeigen, dass die theoretisch klare Abschichtung und Verschiedenheit der Zuständigkeiten von EuGH und BVerfG (hier Unionsrecht, dort deutsches Verfassungsrecht) Konflikte zwischen den Spruchkörpern nicht ausschließt. Die Luxemburger Auslegung des Unionsrechts im Lichte nationaler Maßnahmen führt zu bestimmten Folgen für deren Anwendung, und die verfassungsgerichtliche Kontrolle bedingt Aussagen aus Karlsruhe zu Unionsrechtsakten. Nicht ohne weiteres miteinander vereinbare Erkenntnisse sind daher zu erwarten. Das BVerfG ist sich dieser Spannungslage bewusst. Es hat verfassungsrechtlich substantiierten Rügen gegen Unionsrecht nachzugehen und dabei zugleich die Aufgabe des EuGH zu respektieren, durch seine Auslegung die Einheit und Kohärenz des Unionsrechts zu sichern.294 Ein gewisser Ausweg aus diesem Dilemma nicht bruchlos vereinbarer Anforderungen könnte eine weniger souveränitätsorientierte Herangehensweise des BVerfG an die Bewertung der EU anbieten, die insbesondere seiner Identitätskon-

_____ 292 BVerfGE 140, 317 (341 f) – Verfassungsidentität, betont hier hohe Zulässigkeitshürden für Verfassungsbeschwerden, die im Einzelnen substantiiert darlegen müssen, inwieweit im konkreten Fall die Menschenwürde verletzt ist. 293 Vgl auch Streinz FS Klaus Stern, 2012, S 963 (973). 294 BVerfG, 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 (302 f) – Honeywell, bezüglich der ultra viresKontrolle. Wolfgang Weiß

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trolle zugrunde liegt. Eine solche Haltung wird sich Karlsruhe aber erst erlauben, wenn auch der EuGH durchweg eine Sensibilität für nationalverfassungsrechtliche Kernwerte zeigt, die bislang eher punktuell erfolgt und auch kein Bewusstsein für einen Verfassungspluralismus erkennen lässt.295 Das Unionsrecht stellt mit dem Vorabentscheidungsverfahren nach Art 267 198 AEUV ein Instrument gerichtlichen Dialogs zur Verfügung. Dieses Instrument kann auch genutzt werden, vorliegende Spannungslagen zu lösen. Auf diesem Wege kann das BVerfG seine verfassungsrechtlichen Problematisierungen dem EuGH zur Kenntnis bringen, was ihn dazu auffordert, sie in der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen und damit seinen Teil zum Verfassungsdialog in Wahrnehmung seiner verfassungsgerichtlichen Funktion zu leisten. Zumindest fiele es dann leichter, den Umgang des EuGH mit nationalen Verfassungswerten zu bewerten. Die Karlsruher Vorlage-Praxis befriedigt nicht.296 Bezeichnend ist, wenn der Präsident des BVerfG bei der Darstellung der Rolle des BVerfG als Mittler zwischen GG und EU-Recht bezüglich des Vorlageverfahrens nur darauf hinweist, dass das BVerfG die Vorlagepflicht der (anderen) Gerichte verfassungsrechtlich überwacht.297

bb) Insbesondere: Grundrechtsgeltung bei der Richtlinienumsetzung 199 Das Spannungsverhältnis zwischen dem Anwendungsvorrang des EU-Rechts und damit der vorrangigen Anwendung der EU-Grundrechte auf der einen Seite und den verfassungsrechtlichen Grenzen des Vorrangs im Hinblick auf die Grundrechts- und insbesondere Menschenwürdekonformität von Unionsrechtsakten auf der anderen Seite zeigt sich bei der Maßstabswirkung von Grundrechten für die Umsetzung von EU-Richtlinien. EU-Richtlinien als Sekundärakte der EU haben die EU-Grundrechte zu respektieren; die EU-Legislative hat sie bei ihrer Rechtsetzungstätigkeit zu beachten (Art 51 I GRCh). Die nationalen Grundrechte sind kein Maßstab ihrer Rechtmäßigkeit. Das BVerfG aktualisiert gemäß dem Solange-Vorbehalt seine Grundrechtsprüfung anhand nationaler Grundrechte erst, wenn der EU-Grundrechtsschutz insgesamt unter den vom GG als unabdingbar gebotenen Standard abgesunken ist. Zwar greift der Menschenwürdeschutz auch im Einzelfall, doch erfordert das das Vorliegen einer Verletzung von Menschenwürdegehalten eines

_____ 295 Ansätze zur Berücksichtigung nationaler Besonderheiten finden sich in neuerer Rechtsprechung, vgl EuGH, Rs C-36/02 – Omega, Rn 30 ff. Weitere Nachweise bei vBogdandy/Schill ZaöRV 2010, 701 (707 f). Zu den unterschiedlichen, einerseits eher hierarchischen, andererseits eher verfassungspluralistischen Tendenzen in seiner diesbezüglichen Rechtsprechung s de Vries/Bernitz/ Weatherill/de Vries S 63 ff, 93 f. 296 Dazu Rn 36, 166. 297 Voßkuhle NVwZ-Beilage 2013, 27 (29 f). Wolfgang Weiß

II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung | 429

Grundrechts (Rn 175). Erst dann würde die vorrangige Anwendung des EU-Rechts unterbleiben. Die nationale Umsetzung von Richtlinien hingegen ist Ausübung national- 200 staatlicher Zuständigkeit. Insoweit gelten an sich nationale Grundrechte als Rechtmäßigkeitsmaßstab; da bei der Umsetzung aber unionale Vorgaben der Richtlinie zu beachten sind, und die Richtlinie EU-Grundrechten entsprechen muss, stellt sich die Frage nach dem verbleibenden Raum für die Anwendung nationaler Grundrechte. Hier geht es nicht um die Frage der vorrangigen Anwendung von Unionsrecht, sondern um die Frage der Abgrenzung der Grundrechtsregime; dennoch ist der Anwendungsvorrang des Unionsrechts insoweit auch betroffen, da das EU-Recht in Art 51 GRCh regelt, wie weit die EU-Grundrechte gelten. Die nationale Umsetzung von Richtlinien ist als Durchführung von Unionsrecht im Sinne von Art 51 I GRCh zu werten. Daher ist der umsetzende Mitgliedstaat an die EUGrundrechte gebunden. Die nationalen Grundrechte kommen nicht zur Anwendung; sie werden verdrängt. Grundrechtsschutz insoweit wird gewahrt durch die Anwendung der EU-Grundrechte. Diese Verdrängungswirkung greift nicht, wenn das EU-Recht infolge der Verletzung der Grenzen seines Vorrangs in Deutschland nicht anzuwenden ist. Diese Abgrenzung der Geltungsbereiche der nationalen und der EU-Grund- 201 rechte wird dort schwierig, wo eine Richtlinie den Mitgliedstaaten Spielräume gewährt. Für die Ausübung der Spielräume gelten die EU-Grundrechte; daneben bleibt aber nach der neueren Judikatur des EuGH auch noch Raum für nationale Grundrechte, solange deren Anwendung den Vorrang des EU-Rechts und seines Grundrechtsschutzes nicht beeinträchtigt. Demgegenüber will das BVerfG wohl nur nationale Grundrechte angewendet sehen, soweit die Richtlinie Spielräume belässt; Deutschland müsste insoweit allein die Grundrechte des GG respektieren. Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts greift nicht, weil nach dem BVerfG keine Durchführungssituation vorliegt; das BVerfG fasst den Anwendungsbereich des EUGrundrechtsschutzes im Ergebnis enger (näher Rn 118 ff).

b) Andere Mitgliedstaaten: Überblick Die Verfassungsrechtslage in den anderen EU-Mitgliedstaaten unterscheidet sich 202 durchaus von der Situation in Deutschland, indes teilweise nur in Details. Alle Mitgliedstaaten anerkennen den Vorrang des EU-Rechts, im Hinblick auf nationales Verfassungsrecht nicht unbedingt aber in vollem Umfang. Nationalverfassungsrechtliche Schranken des Vorrangs finden sich in unterschiedlicher Gestalt,298

_____ 298 S die Gesamtanalyse bei Wendel S 211. Wolfgang Weiß

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was angesichts der regelmäßig – aber nicht stets299 – rein verfassungsrechtlichen Fundierung des Vorrangs nicht wundert; Schranken finden sich aber auch bei Mitgliedstaaten, die für die Zuordnung des nationalen zum Unionsrecht auf das EURecht verweisen. Die Anerkennung des Vorrangs erfolgt zum Teil im Unterschied zu Deutschland durch mehr oder minder explizite Verankerung in der jeweiligen Verfassung, so in den Niederlanden, Irland und der Slowakei. Der Vorrang wird in manchen Mitgliedstaaten auch als Geltungsvorrang angesehen. In einigen wenigen Mitgliedstaaten gilt der Vorrang gegenüber nationalem 203 Verfassungsrecht ohne Einschränkungen. Art 29 IV UAbs 6 Verfassung Irlands ordnet den Vorrang des Unionsrechts auch vor dem Verfassungsrecht an. Demgemäß kontrolliert der irische Supreme Court die Verfassungsmäßigkeit von EU-Akten nicht, bekennt sich aber zu deren verfassungskonformer Auslegung und deutet die Möglichkeit an, dass nachfolgende Verfassungsänderungen vom Vorrang abweichen könnten.300 Unbeschränkter Vorrang besteht infolge einer unionsrechtlich bestimmten Herleitung nach Art 94 Verfassung der Niederlande, wie vom Hoge Raad bestätigt wurde.301 Infolge seiner monistischen Haltung ist auch für Luxemburg von einem unbegrenzten Vorrang des Unionsrechts auszugehen, obschon eine gerichtliche Bestätigung fehlt.302 Estland hat durch ein in der Verfassung nicht vorgesehenes Verfassungsergänzungsgesetz dem EU-Recht uneingeschränkten Vorrang auch gegenüber der Verfassung eingeräumt, wie vom Obersten Gerichtshof bestätigt wurde.303 Finnland hat in seinem besonderen Verfassungsausnahmegesetz für die europäische Integration304 die Bestimmung des Rangverhältnisses dem Unionsrecht überlassen, so dass der unionale Vorranganspruch anerkannt wird, wie vom obersten Verwaltungsgerichtshof bestätigt.305 In Zypern ist infolge einer Entscheidung des Obersten Gerichthofs der unbedingte Vorrang des EU-Rechts anerkannt und verfassungsrechtlich in einer Weise verankert, die Beschränkungen des Vorrangs etwa auf kompetenzgemäß erlassenes EU-Recht erlauben würde.306 Ein Mitgliedstaat mit umfassendem Vorrang des Unionsrechts ist Österreich, außer bei einem Konflikt mit grundlegenden Verfassungsprinzipien.307

_____ 299 So ist der Vorrang in den Niederlanden Konsequenz der Anerkennung der Autonomie des EURechts; dazu sogleich, Rn 203. 300 Kruis S 63; Pernice VVDStRL 60 (2001), 148 (183, Fn 181); differenziert auch Wendel S 432 f. 301 Dazu vBogdandy/Bast/Grabenwarter S 123; Wendel S 429; vBogdandy/Cruz Villalón/Huber/ Wessel/van de Griedt IPE II § 19 Rn 16. 302 Kruis S 58. Das Verfassungsgericht hat bislang den Vorrang der EMRK gegenüber der luxemburgischen Verfassung bestätigt, Dutheil de la Rochère/Pernice S 29. 303 Kruis S 57; Wendel S 304–306. 304 Dazu Wendel S 302 f. 305 Kruis S 58; Oppenheimer/Oppenheimer S 193 f. 306 Supreme Court of Cyprus, CMLRev 2007, 1163 (1171); Kruis S 60; Wendel S 433 f. 307 vBogdandy/Bast/Grabenwarter S 123 f; vBogdandy/Cruz Villalón/Huber/Grabenwarter IPE II § 20 Rn 55; Oppermann/Classen/Nettesheim S 155. Wolfgang Weiß

II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung | 431

Neben diesen Mitgliedstaaten, die den Vorrang umfassend anerkennen, gibt es 204 zahlreiche Mitgliedstaaten, die ähnlich Deutschland den Vorrang nur innerhalb verfassungsrechtlicher Grenzen akzeptieren. In Belgien wird nach zunächst umfassender Akzeptanz des Vorrangs nunmehr auch das EU-Primärecht an der Verfassung gemessen.308 In Dänemark ist die Verfassungslage geprägt durch eine Entscheidung des Obersten Gerichtshof zum Vertrag von Maastricht, in der er die Zuständigkeit der nationalen Gerichte betonte, unbeschadet der Vorlagepflicht und der Zuständigkeit des EuGH, Akte der EU auf die Beachtung der Grenzen der Souveränitätsübertragung zu prüfen. Bestätigt der EuGH nach Vorlage den EU-Akt, kann ein Gericht diesen bei offensichtlichem Verstoß gegen die Souveränitätsübertragung verwerfen.309 Dies erfolgte nunmehr im Fall Ajos. Dort hat der Oberste Gerichtshof eine auf das Verbot der Altersdiskriminierung (Art 21 GRC) gestützte EuGHEntscheidung (C-441/14) als kompetenzwidrig eingestuft, weil die Beitrittsakte EUGrundrechte insofern nicht als unmittelbar anwendbares Recht einordne.310 In Italien hat der Corte Costituzionale frühzeitig den grundsätzlichen Vor- 205 rang anerkannt. Er hält unionsrechtswidriges nationales Recht für verfassungswidrig, behält sich jedoch – nach Vorlage an den EuGH – die Prüfung der nationalen Grundrechte als fundamentale Prinzipien und unveräußerliche Rechte des einzelnen gegenüber EU-Akten vor.311 Ob diese verfassungsrechtlichen Grenzen durch eine nachfolgende Änderung der Verfassung bestätigt wurden, ist umstritten.312 Zu einem Konflikt zwischen der unionsrechtlich gebotenen effektiven Strafverfolgung für Straftaten zum Schaden der EU nach Art 325 AEUV und verfassungsrechtlichen strafrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen kam es in der Taricco Saga. Der EuGH hatte auf Vorlage des Verfassungsgerichts entschieden, dass nationale Gerichte, die eine Verletzung des verfassungsrechtlichen Bestimmtheits- und Gesetzmäßigkeitsgebotes erkennen, wenn sie dem unionsrechtlichen Gebot der Nichtanwendung einer der effektiven Strafverfolgung hinderlichen nationalen strafrechtlichen Verjährungsregelung folgen, dann doch nicht verpflichtet sind, diese Regelung nicht anzuwenden.313 Dementsprechend erkannte das Verfassungsgericht darauf, dass das unionsrechtliche Effektivitätsgebot in dem zugrunde liegenden Fall

_____ 308 vBogdandy/Bast/Grabenwarter S 126; Oppermann/Classen/Nettesheim S 155. 309 Hojesteret, EuGRZ 1999, 49 (50 f); vBogdandy/Bast/Grabenwarter S 125 f; Thomas ZaöRV 1998, 879 (896 ff). 310 Højesteret, Entscheidung vom 6.12.2016, Az 15/2014. Dazu Krunke/Klinge European Papers (1) 2018, S 157 ff. 311 Classen S 289; vBogdandy/Bast/Grabenwarter S 124 f; vBogdandy/Cruz Villalón/Huber/ Dogliani/Pinelli IPE I § 5 Rn 39. Eine abschließende Aufzählung der Grenzen des Unionsvorrangs besteht nicht, vgl Mannefeld S 184 ff. 312 vBogdandy/Cruz Villalón/Huber/Panara IPE II § 18 Rn 37 ff. 313 EuGH, Rs C-42/17 – Taricco II, Rn 59. Wolfgang Weiß

432 | § 5 Unionsrecht und nationales Recht

nicht anwendbar sei.314 Auch das spanische Tribunal Constitutional hat sich die Prüfung von Unionsrecht auf eine Vereinbarkeit mit der spanischen Verfassung vorbehalten, zuletzt im Hinblick darauf konkretisiert, ob die europäische Integration der Vorgabe eines demokratischen und sozialen Rechtsstaats entspricht.315 In Schweden ist der grundsätzlich anerkannte Vorrang an verfassungsrechtliche Grenzen ähnlich wie in Deutschland im Hinblick auf gleichwertige Grundrechtsstandards und die grundlegenden Staatsprinzipien geknüpft.316 Die Entscheidungen des tschechischen Verfassungsgerichtshofs zum Vertrag von Lissabon wie schon seine früheren Urteile sprechen ebenfalls für verfassungsrechtliche Grenzen des grundsätzlich anerkannten Vorrangs des EU-Rechts auch vor nationalem Verfassungsrecht einschließlich nationalen Grundrechten, in Übernahme von Solange II.317 Die Grenzen des Vorrangs lassen eine verfassungsgerichtliche Kontrolle der Einhaltung der Grenzen der übertragenen Hoheitsrechte und der Achtung der Verfassungsidentität zu.318 Demgemäß hat der tschechische Verfassungsgerichtshof in 2012 die Entscheidung des EuGH zu slowakischen Pensionen (C-399/09) für ultra vires angesehen.319 In Großbritannien ergibt sich der Vorrang aus dem European Communities Act 206 1972.320 Seine Grenzen sind umstritten, da wegen der Souveränität des Parlaments nachfolgende Gesetze theoretisch auch den European Communities Act aufheben könnten.321 Grenzen des Vorrangs im Hinblick auf die nationale Verfassungsidentität klingen in der britischen Rechtsprechung durchaus an.322 Da die slowenische Verfassung für die innerstaatliche Geltung des Rechts einer internationalen Organisation auf deren Regeln verweist, wird vom slowenischen Verfassungsgericht der

_____ 314 Corte Costituzionale, sentenza N. 115, 2018, vom 31. Mai 2018. Dazu Amalfitano/Pollicino Two Courts, two Languages? The Taricco Saga Ends on a Worrying Note, https://verfassungsblog.de/ two-courts-two-languages-the-taricco-saga-ends-on-a-worrying-note/. 315 Tribunal Constitutional, EuGRZ 1993, 285 (288 f); EuR 2005, 339 (342 f); M Bleckmann S 201; vBogdandy/Bast/Grabenwarter S 126; Oppermann/Classen/Nettesheim S 156. 316 Vgl Bernitz CMLRev 2001, 903 (925 ff); vBogdandy/Cruz Villalón/Huber/Grabenwarter IPE II § 22 Rn 28; Kruis S 65; Wendel S 449 f. 317 Tschechischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 26.11.2008, Pl. ÚS 19/08, Rz 3; Entscheidung vom 3.11.2009, Pl. ÚS 29/09, Rz 146 ff; Bríza EuConst 2009, 143 (150 ff); Wendel S 454– 459; Mannefeld S 212. 318 Tschechischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 26.11.2008, Pl. ÚS 19/08, Rz 120, 139. 319 Tschechischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 31.1.2012, Pl. ÚS 5/12. Dazu Faix EuGRZ 2012, 597; Zbiral CMLRev 2012, 1. 320 Kruis S 61; vBogdandy/Cruz Villalón/Huber/Loughlin IPE I § 4 Rn 77. 321 Craig YEL 1991, 221 (222 ff); vBogdandy/Bast/Grabenwarter S 129; vBogdandy/Cruz Villalón/Huber/Loughlin IPE I § 4 Rn 75. 322 vBogdandy/Cruz Villalón/Huber/Birkinshaw/Künnecke IPE II § 17 Rn 36 ff. UK Supreme Court Entscheidung vom 25.3.2015, Pham v Secretary of State for the Home Department. Wolfgang Weiß

II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung | 433

unionale Vorranganspruch auch vor der nationalen Verfassung respektiert. Der Verfassung lässt sich die Möglichkeit von Begrenzungen entnehmen, die von einem Verfassungsrichter in Bezug auf Grundrechte und verfassungsrechtliche Kerngehalte angedeutet wurden.323 Auch die Verfassung Portugals verweist in Art 8 III für die innerstaatliche Geltung auf die unionalen Grundsätze und akzeptiert damit den Vorrang. Das wird indes nach Art 7 VI unter die Bedingung der Beachtung fundamentaler demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien und des Subsidiaritätsprinzips gestellt.324 Etwas komplexer ist die verfassungsrechtliche Lage in Polen und Ungarn. Die 207 Verfassung von Ungarn ist hinsichtlich Souveränitätsbeschränkungen widersprüchlich. Zuletzt hat das Ungarische Verfassungsgericht die Menschenwürde, essentielle Grundrechtsgehalte und Kerngehalte der Verfassung als Grenze für den Vorrang festgestellt und dies unter intensivem Rückgriff auf vergleichbare Grenzziehungen durch andere Verfassungsgerichte begründet.325 Auch Polen sieht EURecht und nationales Recht als selbständige Rechtsordnungen an. Art 91 III der Verfassung sieht den Vorrang des Rechts einer internationalen Organisation gegenüber Gesetz vor. Konflikte sollen durch eine beiderseitig freundliche Auslegung vermieden werden. Die Feststellung eines Konflikts ist Aufgabe des Verfassungsgerichts, seine Lösung die der Legislative.326 Ein nicht mehr durch Auslegung auszuräumender Konflikt ergab sich zum europäischen Haftbefehl; die polnische Verfassung musste an EU-Recht angepasst werden.327 Die Notwendigkeit der Verfassungsänderung kann als Indiz für den Vorrang der polnischen Verfassung gegenüber Unionsrecht angesehen werden.328 Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Hoheitsübertragung verdeutlicht der polnische Verfassungsgerichtshof. Er schließt grundlegende Prinzipien der Verfassung, die Rechte des Einzelnen, die Staatlichkeit, Rechtsstaat, Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Subsidiarität und die Kompetenz-Kompetenz von der Übertragung aus.329 Er prüft Unionsakte am Maßstab der nationalen Grundreche aber nur bei erheblicher Rechtsverletzung bzw erheblichem Zurückbleiben des EU-Schutzniveaus.330

_____ 323 Kruis S 65; Wendel S 459. 324 Kruis S 62. 325 Ungarisches Verfassungsgericht, Entscheidung vom 30.11.2016, 22/2016. Es bekennt sich zu einer Souveränitäts-, Identitäts- und ultra vires-Kontrolle. Dazu Halmai EUI Working Paper LAW 2017/08. 326 Verfassungsgerichtshof Polen, EuR 2006, 236 (237 f); Bainczyk/Ernst EuR 2006, 247 (265); Brandt EuR 2009, 131 (139); vBogdandy/Cruz Villalón/Huber/Tuleja IPE I § 8 Rn 50. 327 vBogdandy/Cruz Villalón/Huber/Tuleja IPE I § 8 Rn 50; Verfassungsgerichtshof Polen, EuR 2005, 494 (501). 328 Hierzu Kruis S 70. 329 Verfassungsgerichthof Polens, EuGRZ 2012, 172 (179). 330 Verfassungsgerichthof Polens, Urteil vom 16.11.2011; dazu Voßkuhle NVwZ-Beilage 2013, 27 (30). Wolfgang Weiß

434 | § 5 Unionsrecht und nationales Recht

Es sind indes nur wenige Mitgliedstaaten, die den Vorrang des Unionsrechts unter einen generellen Vorbehalt zugunsten ihres nationalen Verfassungsrechts stellen. In Frankreich ergibt sich der Vorrang vor dem Gesetz für das EU-Primärrecht aus Art 55 der Verfassung, wonach völkerrechtliche Abkommen nach ihrer Ratifikation höhere Rechtskraft als Gesetze erhalten. Dem französischen Conseil constitutionnel wird mittlerweile sowohl eine Vorabprüfung als auch eine nachträgliche Überprüfung von Unionsrecht am Maßstab der nationalen Verfassung gewährt. Daher dürfte das EU-Recht im Rang unter dem Verfassungsrecht stehen und somit kein Vorrang zukommen, zumindest nicht über Kernbestandteile der Verfassung. Das EU-Recht wird daher zwischen Gesetzesrecht und der nationalen Verfassung eingeordnet.331 Auch in Griechenland wurde der Vorrang der Verfassung postuliert, da Art 28 I der Verfassung einen Vorrang gegenüber einfachem Recht bestimmte. Heute scheint ein grundsätzlich umfassender Vorrang anerkannt.332 Litauen regelt den Vorrang des Unionsrechts in § 2 des Verfassungsgesetzes über die EU-Mitgliedschaft Litauens, der aber nach Entscheidungen des Verfassungsgerichts nicht für die nationale Verfassung gilt.333 Für eine vierte Gruppe von EU-Mitgliedstaaten (zu der auch Lettland und Bul209 garien gehören) fehlt es an einer Klärung der Zuordnung zumindest bezüglich des Verfassungsrechts. Art 11 II Verfassung Rumäniens ordnet den Vorrang vor Gesetzen an; zum Vorrang vor der Verfassung fehlt eine Aussage. Ähnliches gilt für die Slowakei. Zwar bestimmt Art 7 V der Verfassung explizit den Vorrang des Unionsrechts vor slowakischem Recht, doch ob und gegebenenfalls inwieweit das auch für die Verfassung gilt, ist offen.334 In Malta lässt sich nur dem Gesetz über die EU der Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber nationalen Gesetzen entnehmen. Zusammenfassend lässt sich eine verbreitete Tendenz erkennen, den Vorrang 210 des EU-Rechts entweder in der Verfassung oder infolge verfassungsgerichtlicher Handhabung unter verfassungsrechtliche Vorbehalte zu stellen, die vor allem um die Wahrung eines Mindestgrundrechtsschutzes und unabdingbarer verfassungsrechtlicher Kerngehalte kreisen.335 Nicht nur Deutschland kennt eine verfassungsgerichtliche ultra vires-Kontrolle, sondern auch Italien, Ungarn, Tschechien, Polen, Dänemark und Rumänien. Es lässt sich eine Konvergenz der Judikatur nationaler

208

_____ 331 vBogdandy/Bast/Grabenwarter S 129; vBogdandy/Cruz Villalón/Huber/Jouanjan IPE I § 2 Rn 36; Oppermann/Classen/Nettesheim S 155 f. 332 vBogdandy/Bast/Grabenwarter S 131; Oppermann/Classen/Nettesheim S 156; vBogdandy/Cruz Villalón/Huber/Koutnatzis IPE I § 3 Rn 69. 333 Kruis S 69. 334 Kruis S 72. 335 Zur Motivation nationaler Höchstgerichte bei der Beschränkung des Vorrangs Dyevre EuConst 2013, 139. Wolfgang Weiß

II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung | 435

Verfassungsgerichte hin zu einer Bewahrung ihrer Verfassungsidentität feststellen; die Gerichtsurteile bestärken sich insoweit wechselseitig.336

5. Der Anwendungsvorrang, seine Wirkungsweise und seine Konsequenzen a) Anwendungs- statt Geltungsvorrang Der EuGH begnügt sich mit einem bloßen Anwendungs-, statt einem Geltungsvorrang des EU-Rechts. Erste Formulierungen wiesen indes auf die Nichtigkeit eines unionsrechtswidrigen nationalen Hoheitsakts337; der EuGH schien anfangs zu einem Geltungsvorrang zu tendieren. Das EU-Recht sollte sogar ein wirksames Zustandekommen entgegenstehender nationaler Gesetze verhindern; andererseits sprach der EuGH von der Unanwendbarkeit entgegenstehender Bestimmungen staatlichen Rechts. Mittlerweile hat der EuGH sich explizit zu einem Anwendungsvorrang bekannt, der nationales Recht im Kollisionsfall nur verdrängt, nicht aber nichtig macht.338 Auch das BVerfG war anfangs noch nicht auf den Anwendungsvorrang festgelegt;339 das erfolgte später und ist mittlerweile gefestigt.340 Ein Anwendungs- statt eines Geltungsvorrangs hat zur Folge, dass bei Konflikten zwischen EU-Recht und nationalem Recht das EU-Recht in der Rechtsanwendung vorgeht und entgegenstehendes nationales Recht außer Anwendung bleibt.341 Abweichendes nationales Recht ist nicht nichtig, sondern behält seine Geltung und kann daher in Sachverhalten, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen (rein innerstaatliche Sachverhalte, Sachverhalte mit Drittlandbezug) Rechtswirkung entfalten. Das ist sinnvoll, da solche Sachverhalte weiterhin rein national geregelt werden. Die Nichtigkeit würde sonst eine Regelungslücke bewirken. Die vorrangige Anwendung unionalen Rechts bedeutet nicht zwangsläufig die vollständige Außerachtlassung der entgegenstehenden nationalen Normen. Entscheidend ist die Reichweite eines Unionsrechtsverstoßes. Soweit eine nationale Norm nur unter bestimmten Gegebenheiten oder in bestimmter Hinsicht unionsrechtswidrig ist, greift auch nur insoweit der Vorrang ein. Daher kann es dem An-

_____ 336 Vgl BVerfGE 142, 123 (197 ff) – OMT; Fichera The Foundations of the EU as a Polity, 2018, S 154 ff. Ruffert EuGRZ 2017, 241 (244): Grundrechts- und Kompetenzkontrolle als „gemeineuropäische[r] Befund“. 337 EuGH, Rs 106/77 – Simmenthal, Rn 17/18; Streinz/Streinz Art 4 EUV Rn 37. 338 EuGH, verb Rs C-10/97 bis C-22/97 – IN.CO.GE, Rn 21. 339 Vgl BVerfG, 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (374) – Solange II. 340 S BVerfG, 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223 (244) – Kloppenburg-Beschluss; 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (398, 400) – Lissabon; 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 (302) – Honeywell. 341 Zu den Wirkungen des Vorrangs bereits oben Rn 74 f, 83, 90. Wolfgang Weiß

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wendungsvorrang entsprechen, unionsrechtswidrige Tatbestandsmerkmale einfach außer Acht zu lassen.342 Der die Souveränität der Mitgliedstaaten weniger intensiv beeinträchtigende 215 Anwendungsvorrang genügt für die Sicherung des mit dem Vorrangpostulat Bezweckten: Die einheitliche und effektive Anwendung des EU-Rechts in allen Mitgliedstaaten und seine vorrangige Beachtung auch gegenüber entgegenstehendem nationalen Recht setzt sich schon bei vorrangiger Anwendung durch und bedarf nicht auch noch der Nichtigkeit entgegenstehenden nationalen Rechts. Die Mitgliedstaaten müssen aber Unklarheiten über das zu beachtende Recht umgehend legislativ klären und dürfen die Korrektur ihres unionsrechtswidrigen Rechts nicht unter Verweis auf die ohnehin gegebene vorrangige Anwendung des EU-Rechts unterlassen.343 Schließlich spricht für die Beschränkung auf den Anwendungsvorrang auch die 216 begrenzte Rechtsprechungshoheit des EuGH nur für Fragen der Geltung und Auslegung von Unionsrecht (s Art 19 I 2 EUV, Art 267 AEUV). Über die Auslegung und Geltung von nationalem Recht hat er nicht zu befinden. Er kann daher für nationales Recht nicht die Nichtigkeit bei Widerspruch zum unionalen Recht vorgeben.344 Das EU-Recht entfaltet auch in Bereichen ausschließlicher EU-Zuständig217 keiten einen bloßen Anwendungsvorrang. Zwar dürfen Mitgliedstaaten in Bereichen ausschließlicher Zuständigkeit der EU von vornherein nicht tätig werden, Art 2 I AEUV. Die fehlende Zuständigkeit fordert aber nicht die Nichtigkeit345 nationalen Rechts insoweit. Auch ist die gegenständliche Reichweite ausschließlicher EUZuständigkeiten trotz Art 3 AEUV nicht einfach zu bestimmen, zumal die Mitgliedstaaten kraft unionaler Ermächtigung weiterhin tätig werden können. Auch dürfen die Mitgliedstaaten auch in Bereichen ausschließlicher EU-Zuständigkeit weiterhin das für die Durchführung notwendige Recht setzen (Art 2 I AEUV). Schließlich spricht gegen eine Nichtigkeitsfolge auch die oben Rn 59 ff bereits ausgeführte Überlegung, dass die Übertragung von Hoheitsgewalt an die EU als gemeinsame Souveränitätsausübung anzusehen ist und gerade nicht als Abgabe nationaler Souveränität und damit Zuständigkeit.

b) Folgen des Anwendungsvorrangs für den Vollzug des EU-Rechts: unionsrechtskonforme Auslegung und Sicherung der praktischen Wirksamkeit 218 Der Anwendungsvorrang bewirkt, dass das EU-Recht vorrangig anzuwenden ist. Entgegenstehendes nationales Recht, gleich welcher Ebene, auch nationales Verfas-

_____ 342 343 344 345

Vgl näher Kruis S 124–125. Streinz/Streinz Art 4 EUV Rn 37. Streinz Rn 219. So Ehlers JURA 2011, 187 (191). Wolfgang Weiß

II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung | 437

sungsrecht, bleibt außer Anwendung. Das gilt auch gegenüber später erlassenem nationalen Recht wie auch gegenüber speziellerem nationalem Sachrecht, so dass im Verhältnis des Unionsrechts zum nationalen Recht weder die lex posteriorRegel, die einen Vorrang des später erlassenen nationalen Rechts ermöglichen würde (lex posterior derogat legi priori), noch die lex specialis-Regel (lex specialis derogat legi generali) greifen.346 Der Anwendungsvorrang ist nicht nur durch vorrangige Anwendung des unmit- 219 telbar anwendbaren EU-Rechts umzusetzen, sondern verlangt weiter, dass auch im Übrigen der Vorrang der Regelungen und Wertungen des EU-Rechts im nationalen Recht sicherzustellen ist. Das ergibt sich auch aus der Loyalitätsverpflichtung des Art 4 III EUV.347 Daher ist EU-Recht und dieses umsetzendes nationales Recht in einer Weise 220 auszulegen, die die praktische Wirksamkeit (effet utile) des Unionsrechts wahrt.348 Das vom EU-Recht Gebotene muss in einer effektiven, wirksamen Weise im nationalen Recht ankommen. Das Unionsrecht muss sich in der nationalen Rechtsordnung zu voller Wirksamkeit entfalten können, was eine Auslegung des nationalen Rechts anhand des „effet utile“ des Unionsrechts bedingt. Dazu gehört die unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts. Sie 221 stellt sicher, dass nationales Recht, auch wenn es im Konfliktfall nicht durch EURecht verdrängt wird, dennoch im Einklang mit Vorgaben des Unionsrechts ausgelegt und angewendet wird. Auf diese Weise lassen sich Konflikte zwischen EU-Recht und nationalem Recht vorbeugen. Das nationale Recht wird im Anwendungsbereich des EU-Rechts so ausgelegt, dass der Einklang mit EU-Recht, insbesondere dessen Wortlaut und Zweck gewahrt wird.349 Dafür muss die nationale Norm Auslegungsspielräume bieten, was sich nach den einschlägigen nationalen Auslegungsregeln bestimmt.350 Seine Grenze findet die unionsrechtskonforme Auslegung in einem klar entgegenstehenden Wortlaut; eine Auslegung contra legem verbietet auch das EURecht.351 Die unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts kann aber zu einer Rechtsfortbildung führen,352 etwa wenn bei einer unionsrechtswidrigen Diskriminierung durch Vorenthaltung eines Vorteils der Vorteil wegen des Unionsrechts auch auf die benachteiligte Gruppe erstreckt wird (obschon eine Diskriminie-

_____ 346 Jarass/Beljin NVwZ 2004, 1 (2). 347 Zu den verschiedenen, kumulativen Verankerungen des Grundsatzes der unionsrechtskonformen Auslegung s Herrmann S 105 ff; Kruis S 155 ff. Kritisch zu Verankerung im Anwendungsvorrang Gänswein S 252 ff. 348 S etwa EuGH, Rs 157/86 – Murphy, Rn 10. 349 Vgl EuGH, Rs 14/83 – von Colson und Kamann, Rn 26; Rs 79/83 – Harz (zur richtlinienkonformen Auslegung). 350 Vgl Brechmann S 77 ff; Herrmann S 134 ff. 351 Vgl EuGH, Rs C-212/04 – Adeneler ua / Ellinikos Organismos Galaktos, Rn 110. 352 Kruis S 164 f. Wolfgang Weiß

438 | § 5 Unionsrecht und nationales Recht

rung durch den nationalen Gesetzgeber auch durch Beseitigung des Vorteils bereinigt werden könnte; der EuGH belässt es nicht bei einer bloßen Feststellung des Unionsrechtsverstoßes).353 Auch der BGH leitet aus der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung (als 222 Unterfall der unionsrechtskonformen Auslegung) eine Verpflichtung ab, das nationale Recht, wo dies nötig und möglich ist, richtlinienkonform fortzubilden, etwa in Form einer teleologischen Reduktion. Diese setzt eine verdeckte Regelungslücke infolge einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes voraus.354 Der EuGH weist es den nationalen Gerichten zu, „das innerstaatliche Gesetz un223 ter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des [EU-Rechts] auszulegen und anzuwenden; soweit eine solche gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nicht möglich ist, darf es entgegenstehende innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden.“355 Der Vorrang der unionsrechtskonformen Auslegung vor einer unmittelbaren Anwendung des EU-Rechts gilt aufgrund ihres Umsetzungsbedürfnisses jedenfalls für EU-Richtlinien. Sind Richtlinien nicht oder nicht hinreichend umgesetzt, ist zunächst das nationale Recht im Einklang mit der Richtlinie auszulegen. Ist das nicht möglich, ist Raum für eine unmittelbare Anwendung von Normen der Richtlinie. Sind diese nicht unmittelbar anwendbar, wird ein Staatshaftungsanspruch relevant.356 Die unionsrechtskonforme Auslegung und die Anforderung der Wahrung der 224 praktischen Wirksamkeit des EU-Recht spielen vor allem in Situationen eine Rolle, in denen nur eine indirekte Kollision zwischen nationalem Recht und Unionsrecht vorliegt, also in den Fällen des respektierenden Vollzugs des EU-Rechts, in denen beim Vollzug nationale Regeln angewendet werden sollen, die mit dem Effektivitäts- und dem Äquivalenzgebot des Unionsrechts nicht vereinbar sind.357

c) Anwendung des EU-Rechts und Nichtanwendung des nationalen Rechts durch Behörden und Gerichte 225 Die aus dem Anwendungsvorrang folgende Pflicht, nationales Recht unionsrechtskonform auszulegen und kollidierendes nationales Recht außer Anwendung zu lassen, trifft jeden durch das EU-Recht Verpflichteten, insbesondere hoheitliche Stellen der Mitgliedstaaten (einige Bestimmungen des Unionsrechts wie Art 157

_____ 353 Vgl EuGH, verb Rs C-231/06 bis 233/06 – Jonkman ua, Rn 41. 354 BGH, NJW 2009, 427 (428 f); ablehnend Ehlers JURA 2011, 187 (190). Zur richtlinienkonformen Auslegung Herrmann S 87 ff. 355 EuGH, Rs 157/86 – Murphy, Rn 11. 356 Dazu Kruis S 160 f. 357 Dazu Rn 77 ff. Wolfgang Weiß

II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung | 439

AEUV und unter bestimmten Bedingungen auch die Grundfreiheiten entfalten auch unmittelbare Drittwirkung zwischen Privaten), allen voran Gerichte und Behörden.

aa) Nichtanwendung nationalen Rechts durch Gerichte Die Gerichte sind zur wirksamen Anwendung des EU-Rechts und insbesondere zur 226 Durchsetzung von Rechten verpflichtet, die das EU-Recht dem Einzelnen gewährt. Nationale Gerichte werden auf diese Weise zu Unionsgerichten. Zweifelsfragen der Vereinbarkeit nationaler Regelungen mit dem Unionsrecht können, unter bestimmten Umständen müssen sie dem EuGH nach Art 267 AEUV vorgelegt werden. Diese Norm verbindet die europäische und nationale Gerichtsbarkeit358 und trägt zur Umsetzung des Anwendungsvorrangs vor Gericht bei. Ihre Stellung als Unionsgerichte darf den nationalen Gerichten dabei nicht abgenommen werden. Die Feststellung von Unvereinbarkeiten nationalen Rechts mit EU-Recht beim nationalen Verfassungsgericht zu monopolisieren, ist mit Unionsrecht nicht vereinbar.359 Nicht zuletzt könnte damit auch die Vorlagemöglichkeit nationaler Gerichte an den EuGH eingeschränkt werden. Das EU-Recht gebietet eine autonome Zuständigkeit nationaler Gerichte, mit EU-Recht kollidierendes Gesetzesrecht unangewendet zu lassen.360 Diese von den nationalen Verfassungsgerichten akzeptierte361 Folge des Anwen- 227 dungsvorrangs des Unionsrechts führt in Systemen zentralisierter Kontrolle von Legislativakten wie in Deutschland, in dem die Nichtigerklärung von Gesetzen (zumindest was Parlamentsgesetze angeht) beim BVerfG monopolisiert ist, zu Systembrüchen, weil nunmehr kraft EU-Recht nationale Gesetze bei Kollision mit Unionsrecht auch ohne Klärung durch das BVerfG von nationalen Richtern außer Anwendung gelassen werden müssen. Die Zuständigkeit nationaler Verfassungsgerichte, über die Vereinbarkeit mit nationalem Verfassungsrecht zu judizieren, bleibt unberührt.362

bb) Nichtanwendung nationalen Rechts durch Behörden Die aus dem Vorrang folgende Verpflichtung zur Nichtanwendung mit dem effekti- 228 ven Vollzug des Unionsrechts unvereinbarer nationaler Vorschriften gilt auch für nationale Behörden und Gebietskörperschaften.363 Auch sie müssen die praktische

_____ 358 Zum Gerichtsverbund s Rn 30 ff. 359 EuGH, Rs 106/77 – Simmenthal, Rn 24. 360 EuGH, Rs C-555/07 – Kücükdeveci, Rn 54 f. 361 Claes S 149 ff. 362 Popelier/Mazmanyan/Vandenbruwaene/Torres Pérez S 53. 363 EuGH, Rs 103/88 – Fratelli Costanzo, Rn 30 – 33; Rs C-118/00 – Larsy, Rn 52 f; Rs C-243/09 − Fuß, Rn 61, 63. Wolfgang Weiß

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Wirksamkeit des EU-Rechts gewährleisten. Diese Pflicht ist für Behörden mit besonderen Schwierigkeiten verbunden, da sie anders als Gerichte Zweifelsfragen der Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit EU-Recht nicht durch eine Vorlage nach Art 267 AEUV vom EuGH klären lassen können. Sie müssen daher selbst entscheiden, ob eine Kollision vorliegt. Da jede Behörde einzeln entscheidet und es keinen Abstimmungsmechanismus gibt, entstehen Gefahren für die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung. Probleme der Gewaltenteilung und der Gesetzesbindung der Verwaltung sind nicht in gleicher Weise zu besorgen, da es im Kollisionsfall nicht um eine Freizeichnung von der Gesetzesbindung geht, sondern um die Auflösung eines Verpflichtungskonflikts zwischen nationalem und EU-Recht. Dieser Konflikt wird im Sinne des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts aufgelöst. In der Literatur wird vorgeschlagen, die Nichtanwendung durch Behörden auf 229 Fälle offensichtlicher Unvereinbarkeit nationaler Rechtsakte mit EU-Recht zu beschränken oder die Feststellung einer Normenkollision bei der Verwaltungsspitze zu monopolisieren, die durch Verwaltungsanweisung oder im Rechtsaufsichtswege tätig werden soll. Eine solche Monopolisierung begegnet Bedenken. Die Zuweisung der Nichtanwendungskompetenz an die Verwaltungsspitze ist ein Hemmnis für die volle, zeitnahe und damit effektive Wirkung des EU-Rechts.364 Daher wurde vorgeschlagen, nur die Kompetenz zur Feststellung von Normkonflikten bei der Verwaltungsspitze anzusiedeln, nicht aber die Zuständigkeit für die Nichtanwendung mit Unionsrecht unvereinbaren nationalen Rechts; letztere habe weiter bei den für die Anwendung des Rechts zuständigen Behörden zu bleiben.365 Doch ginge auch damit eine Verzögerung in der effektiven Anwendung des EU-Rechts einher.

d) Verfassungs- und verwaltungsprozessuale Umsetzung 230 Die verfassungsrechtliche Kontrolle der Integration, insbesondere ihre Monopolisie-

rung beim BVerfG und ihr Ausnahmecharakter, hat Konsequenzen für die verfassungsrechtlichen Rechtsbehelfe. Ferner bedingt die Respektierung des Anwendungsvorrangs durch die nationale Gerichtsbarkeit einige Veränderungen im Verwaltungsprozessrecht bei Klagen gegen auf EU-Rechtsakte beruhende nationale Hoheitsakte vor deutschen Gerichten.

aa) Verfassungsprozessuale Konsequenzen 231 Prüfungsgegenstand verfassungsprozessualer Rechtsbehelfe ist der nationale

Rechtsakt, der EU-Recht zustimmt oder umsetzt,366 ferner das Abstimmungsverhal-

_____ 364 EuGH, Rs C-118/00 – Larsy, Rn 51 ff. 365 Kruis S 190 ff, 194. 366 Streinz FS Klaus Stern, 2012, S 963 (965 f). Wolfgang Weiß

II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung | 441

ten deutscher Ratsvertreter oder auch ein Unterlassen deutscher Regierungsorgane;367 das BVerfG wacht über die Verfassungskonformität der Akte deutscher öffentlicher Gewalt. Unionales Recht ist nur mittelbar Gegenstand der Prüfung, weil es bei einer ultra vires- oder Identitätskontrolle das einschlägige EU-Recht seiner Prüfung zugrunde legen muss. Denn es geht um die Prüfung, ob ein bestimmter Inhalt des Unionsrechts mit den verfassungsrechtlichen Grenzen vereinbar ist. Der deutsche Umsetzungsakt ist unionsrechtlich determiniert, so dass diese Determinierung geprüft werden muss. Der Unionsakt wird damit nur mittelbar Gegenstand der Prüfung, als Vorfrage.368 Das BVerfG differenziert zwischen Geltung und Anwendbarkeit: Es ist „grundsätzlich gehindert, über die Gültigkeit“ von EU-Recht zu entscheiden (das sind keine Akte deutscher Staatsgewalt), bekennt sich aber dazu, über die Anwendbarkeit sekundären Unionsrechts zu befinden, das Grundlage deutscher Hoheitsakte ist.369 Dazu muss das BVerfG sich inhaltlich damit auseinandersetzen. Prüfungsmaßstab verfassungsprozessualer Rechtsbehelfe sind je nach ein- 232 schlägiger Kontrollvariante die verfassungsrechtlichen Grenzen, die aber integrationsfreundlich anzulegen und daher relativiert sind. Bei der Grundrechtskontrolle sind Prüfungsmaßstab durch das BVerfG die unabdingbaren Grundrechtsgehalte der Grundrechte des GG, die Modifikationen im Hinblick auf die Beachtung des europäischen Gemeinwohls bei der Eingriffsrechtfertigung erfahren.370 Bei der Identitätskontrolle ist der Prüfungsmaßstab reduziert auf die Wahrung der Verfassungsidentität als integrationsfesten Kern des GG gemäß Art 23 I iVm Art 79 III GG (Rn 185 ff), wozu auch die Wahrung der Menschenwürde zählt (Rn 175). Rechtsfolge der verfassungsgerichtlichen ultra vires- und Identitäts- als auch 233 Grundrechtskontrolle ist die Unanwendbarerklärung von Unionsrechtsakten in Deutschland. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Schranken der Integration erfolgt in- 234 nerhalb der bestehenden Verfassungsrechtsbehelfe, dh durch abstrakte (Art 93 I Nr 2 GG) und konkrete (Art 100 I GG) Normenkontrollen, durch Organstreitigkeiten (Art 93 I Nr 1 GG), den Bund-Länder-Streit (Art 93 I Nr 3 GG) oder durch eine Verfassungsbeschwerde (Art 93 I Nr 4a GG). Die Anregung des BVerfG, ein zusätzliches, speziell auf die ultra-vires- und die Identitätskontrolle zugeschnittenes Verfahren zu schaffen, das die Verpflichtung deutscher Organe, kompetenzüberschreitende oder identitätsverletzende EU-Akte im Einzelfall unangewendet zu lassen, absi-

_____ 367 BVerfG, 2 BvG 1/89, BVerfGE 92, 203 (227) – EG-Fernsehrichtlinie; BVerfGE 142, 123 (172 ff) – OMT. 368 BVerfGE 142, 123 (180) – OMT. Für Unionsrecht als Prüfungsgegenstand vor dem BVerfG Gröpl/Windthorst/von Coelln/Windthorst Art 23 GG Rn 45. 369 BVerfG, 1 BvF 1/05, BVerfGE 118, 79 (95) – Treibhausgas-Emissionsberechtigungen; BVerfGE 142, 123 (180 ff) – OMT. 370 Vgl Streinz Rn 231. Wolfgang Weiß

442 | § 5 Unionsrecht und nationales Recht

chert371 und das diesbezügliche Monopol des BVerfG herausstellt, wurde nicht aufgegriffen. Das BVerfG begründet sein Monopol zur Nichtanwendbarerklärung von Unionsrecht unter Hinweis auf den Rechtsgedanken des Art 100 I GG bezüglich des Schutzes parlamentarischer Akte vor dezentraler gerichtlicher Nichtigerklärung.372 Die verfassungsgerichtlichen Verfahren unterliegen erheblichen Zulässig235 keitshürden. Für eine Grundrechtskontrolle durch Verfassungsbeschwerde oder konkrete Normenkontrolle muss der Antragsteller bereits in der Zulässigkeit darstellen, dass die „europäische Rechtsentwicklung … unter den erforderlichen Grundrechtsstandards abgesunken sei. Deshalb muss die Begründung … im Einzelnen darlegen, dass der unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet ist.“373 Die Begründung erfordert eine detaillierte Gegenüberstellung des nationalen und des unionalen Grundrechtsschutzes, wobei das BVerfG seine Solange II-Entscheidung insoweit als maßgebliches Beispiel anführt.374 Der Grundrechtsschutz des GG findet damit gegenüber EU-Akten, soweit sie zwingende Vorgaben machen,375 nur mehr unter dieser Voraussetzung statt. Bei der Rüge der Verletzung der Menschenwürdegehalte greift der Schutz allerdings schon im Einzelfall (Rn 171 ff); für die Zulässigkeit ist substantiiert darzulegen, inwieweit im konkreten Fall die Menschenwürde verletzt ist.376 Verfassungsbeschwerden gegen Inhalte deutscher Umsetzungsgesetze, die auf 236 zwingende Richtlinienbestimmungen zurückzuführen sind, wurden durchaus für zulässig erachtet,377 ohne dass die Anforderungen erfüllt waren. Begründung war, dass es im Fall der Erhebung einer Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen ein Umsetzungsgesetz keine Möglichkeit gibt, zuvor vor Fachgerichten eine Klärung der Vereinbarkeit der EU-Richtlinie mit primärem Unionsrecht gemäß Art 267 AEUV zu erreichen, so dass eine solche Vorlage an den EuGH erst durch das BVerfG erfolgen kann.378 Das setzt aber die grundsätzliche Zulassung der Verfassungsbeschwerde

_____ 371 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (354 f) – Lissabon. 372 Dazu näher Thiemann JURA 2012, 902 (906 f). Kritisch Sauer EuR 2017, 186 (199 f). 373 BVerfG, 2 BvL 1/97, BVerfGE 102, 147 (LS 1 und 2, S 160 ff) – Bananenmarktordnung. 374 BVerfG, 2 BvL 1/97, BVerfGE 102, 147 (LS 2) – Bananenmarktordnung mit Verweis auf BVerfG, 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (378–381). 375 Soweit ein EU-Rechtsakt den Mitgliedstaaten Spielraum belässt, greift die nationale Grundrechtskontrolle ein, dazu oben Rn 128 ff. 376 BVerfGE 140, 317 (341 f) – Identitätskontrolle. 377 BVerfG, 1 BvR 256/08, BVerfGE 125, 260 (307) – Vorratsdatenspeicherung. 378 Beachte aber für nicht-förmliche Gesetze die Ausweitung des Rechtsschutzes gegen exekutive Rechtsetzung gemäß BVerfG, 1 BvR 541/02, BVerfGE 115, 81 (92) – Rechtsschutz gegen Verordnungen: Infolge der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ist sie für die untergesetzliche Rechtsetzung kein Primärrechtsschutz. Es kann immer noch eine Feststellungsklage erhoben werden, so dass eine fachgerichtliche Vorlagemöglichkeit nach Art 267 AEUV zur Verfügung steht. Wolfgang Weiß

II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung | 443

voraus. Insoweit lag hier eine besondere prozessuale Konstellation vor, und die Beschwerdeführer wollten damit gerade nicht die Grundrechte des GG gegen die EURichtlinie ins Feld führen. Daraus wird geschlossen, dass diese hohen Zulässigkeitshürden erst greifen im Hinblick auf eine begehrte Verwerfung von EUSekundärrecht durch das BVerfG.379 Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts hat auch zur Konsequenz, dass eine na- 237 tionale Monopolisierung der Verwerfungsbefugnis für unionsrechtswidrige Parlamentsgesetze bei einem Verfassungsgericht, wie in Deutschland in Art 100 I GG (konkrete Normenkontrolle), unionsrechtlich unzulässig ist.380 Der EuGH spricht die Verwerfungsbefugnis für EU-widriges nationales Recht allen Gerichten zu.381 Infolge des Anwendungsvorrangs darf entgegenstehendes nationales Recht nicht mehr zur Anwendung kommen. Die gerichtliche Feststellung dieses Umstands wirkt letztlich nur deklaratorisch. Daran hat das BVerfG die Folgerung geknüpft, dass eine Richtervorlage eines 238 angeblich verfassungswidrigen deutschen Gesetzes nach Art 100 I GG nicht zulässig ist, wenn das Gesetz bereits aus unionsrechtlichen Gründen nicht mehr anwendbar ist, und auch schon dann, wenn das vorlegende Gericht nicht geklärt hat, ob das Gesetz in Umsetzung eines dem nationalen Gesetzgeber durch EU-Recht belassenen Spielraums ergangen ist.382 Denn in ersterem Fall fehlt der Norm die Entscheidungserheblichkeit für den beim Gericht anhängigen Fall; einer Vorlage zum BVerfG zur Prüfung der Verfassungswidrigkeit bedarf es nicht. In letzterem Fall ist die Vorlage an das BVerfG unzulässig, wenn der Norminhalt auf zwingenden unionalen Vorgaben beruht, weil das BVerfG insoweit grundsätzlich keine Zuständigkeit ausübt. In bestimmten Fällen erhebt das BVerfG gar die vorherige Befassung des 239 EuGH zur Voraussetzung einer zulässigen Normenkontrolle. Denn eine Vorlage nach Art 100 I GG ist unzulässig, wenn das Gericht nicht geprüft hat, ob das von ihm als verfassungswidrig angesehene nationale Gesetz auf zwingenden unionsrechtlichen Vorgaben beruht oder aber in Umsetzung eines durch das Unionsrecht belassenen Gestaltungsspielraums ergangen ist.383 Nur in letzterem Falle kann eine vollumfängliche Prüfung durch das BVerfG erfolgen und ist die Vorlage somit entscheidungserheblich. Das vorlegende Gericht muss die Frage der Reichweite

_____ 379 Vgl Isensee/Kirchhof/Streinz HStR X § 218 Rn 52. 380 S Rn 226. 381 EuGH, Rs 106/77 – Simmenthal, Rn 14/16 ff. 382 BVerfG, 1 BvR 1025/82, BVerfGE 85, 191 – Nachtarbeitsverbot; BVerfGE 129, 286, Ls. 1 – Insolvenzzulage. 383 BVerfG, 1 BvL 3/08, BVerfGE 129, 186 (198 ff) – Investitionszulagengesetz. Diese Linie des BVerfG hat komplexe Überlegungen zur Folge bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln bezüglich der Abschichtung der jeweils einschlägigen Auslegungsdirektive: Liegt EU-Recht zugrunde? Wie weit reicht ein eventuell von diesem gelassener Umsetzungsspielraum? Vgl BVerfG, 1 BvR 1916/09, BVerfGE 129, 78 (102 f) – Anwendungserstreckung. Wolfgang Weiß

444 | § 5 Unionsrecht und nationales Recht

unionaler Vorgaben gegebenenfalls durch eine Vorlage nach Art 267 AEUV klären, um die Entscheidungserheblichkeit darzutun. Über diesen verfassungsprozessualen Hebel werden damit auch nicht-vorlagepflichtige, nicht-letztinstanzliche Gerichte zur Vorlage verpflichtet384 und unterstehen der Kontrolle des BVerfG im Hinblick auf die Gewährung des gesetzlichen Richters; das BVerfG übt dabei ein weitgehendes Prüfungsrecht aus und beschränkt sich nicht auf eine Kontrolle auf Willkür oder offensichtliche Fehlerhaftigkeit. 385 Denn halten die Fachgerichte eine vollständige Bindung durch das EU-Recht ohne Vorabentscheidung des EuGH für einschlägig, entscheiden sie über die Maßgeblichkeit der Grundrechte des GG und über die Möglichkeiten bundesverfassungsgerichtlicher Kontrolle. 386 Die Fachgerichte müssen dann aber die EU-Grundrechte prüfen und bislang ungeklärte Zweifelsfragen dem EuGH vorlegen. Das Fachgericht kann erst dann das nationale Gesetz als unionsrechtswidrig außer Anwendung lassen. Eine „Vorlage [zum EuGH] kann aus grundrechtlicher Sicht insbesondere dann erforderlich sein, wenn das Gericht Zweifel an der Übereinstimmung eines europäischen Rechtsakts oder einer Entscheidung des EuGH mit den Grundrechten des Unionsrechts […] hat oder haben muss.“387 Eine Vorlage zum BVerfG nach Art 100 I GG ist freilich dann zulässig, wenn 240 der EuGH eine EU-Richtlinie, auf der ein deutsches Umsetzungsgesetz beruht, für ungültig erklärt. Die Ungültigkeit der EU-Richtlinie führt nicht automatisch zur Ungültigkeit des nationalen Umsetzungsgesetzes; es bleibt in Kraft, weil die Richtlinie nur den Anlass für den nationalen Rechtsetzungsakt bildete. Beide sind nicht in ihrem rechtlichen Schicksal verbunden.388 Dann ist Raum für eine umfassende Prüfung des deutschen Gesetzes am GG und für eine Vorlage nach Art 100 I GG.389 Die Vorlage ist dann nicht wegen des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts unzulässig.

bb) Verwaltungsprozessuale Umsetzung 241 Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts führt auch zu verwaltungsprozessrechtli-

chen Modifikationen, angefangen von der Klagebefugnis infolge subjektiver Berechtigungen aus dem Unionsrecht, die nicht dem klassischen Konzept subjektiv-

_____ 384 Dazu Wendel EuZW 2012, 213. 385 BVerfG, 1 BvL 3/08, BVerfGE 129, 186 (203 f) – Investitionszulagengesetz. 386 BVerfG, 1 BvR 1916/09, BVerfGE 129, 78 (103) – Anwendungserstreckung. 387 BVerfG, 1 BvR 1916/09, BVerfGE 129, 78 (104) – Anwendungserstreckung. 388 Allerdings: Wenn die EU-Richtlinie gegen EU-Grundrechte verstößt, dürfte sich dieser Grundrechtsverstoß vergleichbar im nationalen Umsetzungsgesetz abbilden, so dass ein Verstoß gegen Grundrechte des GG vorliegen müsste, Thiemann JURA 2012, 902 (911). 389 BVerfG, 1 BvF 1/05, BVerfGE 118, 79 (97) – Treibhausgas-Emissionsberechtigungen. Wolfgang Weiß

II. Die Wirkung des EU-Rechts in der nationalen Rechtsordnung | 445

öffentlicher Rechte nach deutscher Dogmatik entsprechen, bis hin zu Modifikationen im einstweiligen Rechtsschutz.390 Infolge des Anwendungsvorrangs sind alle deutschen Gerichte zugleich Uni- 242 onsgerichte (Rn 31). Sie haben EU-Recht auszulegen und anzuwenden und entgegenstehendes nationales Recht außer Anwendung zu lassen oder zu modifizieren. Da auch deutsche Rechtsakte, die auf EU-Recht beruhen, gemäß den allgemeinen Vorschriften vor den Verwaltungsgerichten angefochten werden können, müssen die Verwaltungsgerichte dabei den Anforderungen des Unionsrechts gerecht werden, wobei sie Fragen der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts dem EuGH nach Art 267 AEUV vorlegen können und ggf müssen. Insbesondere wenn ein Gericht einen Unionsakt für ungültig hält, ist der EuGH anzurufen. Die Verwerfung von Unionsrechtsakten kommt nur dem EuGH zu.391 Eine vorübergehende Nichtanwendung von EU-Sekundärrecht im einstweiligen Rechtsschutz vor nationalen Gerichten, die über die Rechtmäßigkeit nationaler Vollzugsakte zu entscheiden haben, wird vom EuGH in engen Grenzen zugelassen (Rn 148). Das nationale Gericht muss die Voraussetzungen wie bei einstweiligem Rechtsschutz vor dem EuGH einhalten.392

e) Staatshaftung Die effektive Wirksamkeit des EU-Rechts zeigt sich auch in den innerstaatlichen 243 Folgen einer Verletzung des Unionsrechts, nämlich in der Verpflichtung des Mitgliedstaats zum Schadensersatz, entwickelt aus dem Loyalitätsgebot, Art 4 III EUV.393 Vermag der Einzelne seine aus dem Unionsrecht folgenden Rechte nicht oder nicht hinreichend im primären Rechtsschutz durchzusetzen, kann er auf sekundärer Ebene Schadensersatzansprüche geltend machen. Die Anforderungen gewähren entweder einen genuin unionsrechtlich begründeten Schadensersatzanspruch oder modifizieren nationale Staatshaftungsregeln.394 Konkrete Voraussetzungen sind die hinreichend qualifizierte Verletzung ei- 244 ner individualschützenden Norm des Unionsrechts, die einen Schaden ausgelöst hat, der vom Schutzzweck der Norm erfasst ist, ferner die unmittelbare Kausalität zwischen Rechtsverletzung und Schaden.

_____ 390 Zu den unionsrechtlichen Veränderungen in der Anwendung der VwGO s nur Sodan/Ziekow/ Dörr Rn 228 ff. 391 EuGH, Rs 314/85 – Foto Frost, Rn 15. 392 EuGH, Rs 143/88 und 92/89 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen, Rn 21, 33; Rs C-453/03 u.a. – ABNA ua, Rn 103 ff. 393 EuGH, verb Rs C-6/90 und C-9/90 – Francovich und EuGH, verb Rs C-46/93 und C-48/93 – Brasserie du Pecheur. 394 Zur alternativen Verankerung des Haftungsanspruchs Sodan/Ziekow/Dörr Rn 260. Wolfgang Weiß

446 | § 5 Unionsrecht und nationales Recht

245

Eine hinreichend qualifizierte Rechtsverletzung stellt sicher, dass nicht jede Verletzung einer unionalen Verpflichtung die Haftungsfolge auslöst. Denn das EURecht kann den Mitgliedstaaten Spielräume belassen. Wo diese bestehen, greift die Haftung erst bei einem hinreichend qualifizierten Verstoß, dessen nähere Bestimmung von den Umständen des Einzelfalls abhängt, insbesondere von der Klarheit der verletzten Norm und der Entschuldbarkeit eines Rechtsirrtums des Mitgliedstaats. Befolgt der Mitgliedstaat eine unionale Verpflichtung gar nicht, etwa weil er eine EU-Richtlinie nicht umsetzt, liegt eine qualifizierte Rechtsverletzung vor. Sind die Voraussetzungen des Schadensersatzanspruchs gegeben, ist es Sache 246 des nationalen Gerichts, die Konsequenzen gemäß nationalen Bestimmungen zuzusprechen.395

NEUE RECHTE SEITE

_____ 395 EuGH, verb Rs C-231/06 ua – Jonkman ua, Rn 40. Wolfgang Weiß

§ 6 Die Zuständigkeiten der Union | 447

Ines Härtel

§ 6 Die Zuständigkeiten der Union § 6 Die Zuständigkeiten der Union Ines Härtel § 6 Die Zuständigkeiten der Union https://doi.org/10.1515/9783110498349-006

Gliederungsübersicht I. Normativer Grund, primärrechtliche Ausgangslage und semantischer Bezug II. Die föderale Kompetenzordnung in der Europäischen Union 1. Die Europäische Union als föderales Mehrebenensystem 2. Entwicklungen der föderalen Kompetenzordnung bis zum Lissabon-Vertrag 3. Grundsystematik der Kompetenzen in der Europäischen Union a) Primärrechtliche Systematik b) Staatsverfassungsrechtliche Anforderungen 4. Gerichtliche Kontrolle der Kompetenzausübung a) Die Rolle des Europäischen Gerichtshofes bei der Kompetenzausübung b) Ultra-vires Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht III. Typologie der Zuständigkeiten 1. Grundstruktur der Typologie 2. Ausschließliche Kompetenzen der Europäischen Union a) Funktionsweise b) Anwendungsbereiche 3. Geteilte Kompetenzen a) Konkurrierende und parallele Kompetenzen b) Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungskompetenzen der Union c) Sonderstellung: Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik und Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik 4. Komplementäre Kompetenzen IV. Die richtige Wahl der Kompetenzgrundlage (Rechtsgrundlage) 1. Die politische und unionsverfassungsrechtliche Relevanz der Wahl der Rechtsgrundlage 2. Kriterien für die Abgrenzung der Kompetenzgrundlagen 3. Die Doppelabstützung von Unionsrechtsakten 4. Rechtswirkungen einer falsch gewählten Kompetenznorm V. Kompetenzausübungsregeln 1. Das Subsidiaritätsprinzip a) Anwendungsbereich, Verpflichtete und Begünstigte b) Materiell-rechtlicher Prüfungsmaßstab 2. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip 3. Prozedurale Mechanismen zur Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und des Verhältnismäßigkeitsprinzips a) Subsidiaritätsrüge b) Subsidiaritätsklage c) Prüfungsmaßstab im Rahmen der Kontrollmechanismen d) Praktische Anwendungsfälle der Subsidiaritätsrüge aa) Europäische Ebene bb) Nationale Ebene

Ines Härtel https://doi.org/10.1515/9783110498349-006

Rn 1 7 7 19 26 26 31 35 35 41 50 50 52 52 54 65 65 82 91 94 95 95 100 107 108 110 111 111 113 120 125 128 133 136 140 141 145

448 | § 6 Die Zuständigkeiten der Union

VI. Sonderprobleme an den Beispielen der Finanzkrise und der Europäischen Grundrechtecharta 1. Auf dem Weg zur Stabilisierungs- und Fiskalunion 2. Einwirkungen des Grundrechtsföderalismus und der Grundfreiheiten in das Kompetenzsystem VII. Ausblick

146 146 154 157

Spezialschrifttum Bickenbach, Christian Das Subsidiaritätsprinzip in Art 5 EUV und seine Kontrolle, EuR 2013, 523; Burchardt, Dana Die Ausübung der Identitätskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht – Zugleich Besprechung des Beschlusses 2 BvR 2735/14 des BVerfG vom 15.12.2015 („Solange III“/“Europäischer Haftbefehl II“), ZaöRV 2016, 527; Burchardt, Dana Kehrtwende in der Grundrechts- und Vorrangrechtsprechung des EuGH? – Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 5.12.2017 in der Rechtssache M.A.S. und M.B. (C-42/17, „Taricco II“); Calliess, Christian Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 2. Aufl, 1999; Grzeszick, Bernd/Hettche, Juliane Zur Beteiligung des Bundestags an gemischten völkerrechtlichen Abkommen. Internationale Freihandelsabkommen als Herausforderung des deutschen Europa- und Außenverfassungsrechts, AöR 141 (2016), 225; Häde, Ulrich, Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Bankenunion – Strategiewechsel in Karlsruhe?, in: Frankfurter Institut für das Recht der Europäischen Union (Hrsg.), 37. Frankfurter Newsletter zum Recht der Europäischen Union vom 12.8.2019; Härtel, Ines (Hrsg) Handbuch Föderalismus – Föderalismus als demokratische Rechtsordnung und Rechtskultur in Deutschland, Europa und der Welt, Band I: Grundlagen des Föderalismus und der deutsche Bundesstaat; Band II: Probleme, Reformen, Perspektiven des deutschen Föderalismus, Band IV: Föderalismus in Europa und der Welt, 2012; Härtel, Ines Handbuch Europäische Rechtsetzung, 2006; Heuck, Jennifer Die Außenkompetenzen der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, JA 2013, 199; Kahl, Wolfgang Der Rechtsgrundlagenstreit vor dem Gerichtshof – „Fortsetzung folgt …“, in: Müller-Graff, PeterChristian/Schmahl, Stefanie/Skouris, Vassilios (Hrsg), Europäisches Recht zwischen Bewährung und Wandel. Festschrift für Dieter H Scheuing, 2011, S 92 – 109; Kingreen, Thorsten Die Grundrechte des Grundgesetzes im europäischen Grundrechtsföderalismus, JZ 2013, 801 ff; Klein, Hans H Integration und Verfassung, AöR 139 (2014), 165; Klein, Marvin Das Recht der Kirchen im Tauziehen zwischen Luxemburg und Karlsruhe – Das kirchliche Arbeitsrecht als Machtprobe?, EuR 2019, 338; Ludwigs, Markus Die Krisenpolitik der EZB zwischen Verfassungs- und Unionsrecht, NJW 2017, 3563; Mayer, Franz Die Mitwirkung deutscher Gesetzgebungsorgane an der EU-Handelspolitik, ZEuS 2016, 391; Mayer, Franz Zurück zur Rechtsgemeinschaft: Das OMT-Urteil des EuGH, NJW 2015, 1999, Mayer, Franz Rebels without a cause? Zur OMT-Vorlage des Bundesverfassungsgerichts, EuR 2014, 473; Mayer, Franz/Ermes, Marina Rechtsfragen zu den EU-Freihandelsabkommen CETA und TTIP, ZRP 2014, 237; Mayer, Franz C/Walter, Maja Die Europarechtsfreundlichkeit des BVerfG nach dem Honeywell-Beschluss, JURA 2011, 532 ff; Molsberger, Philipp Das Subsidiaritätsprinzip im Prozess europäischer Konstitutionalisierung, 2009; Nowak, Carsten Europarecht nach Lissabon, 2011; Pechstein, Matthias Die Kodifizierung der AETR-Rechtsprechung durch den Vertrag von Lissabon, in: Breuer, Marten/Epiney, Astrid/Haratsch, Andreas/Schmahl, Stefanie/Weiß, Norman (Hrsg) FS Eckart Klein, 2013, S 619 – 632; Sauer, Heiko „Solange“ geht in Altersteilzeit – Der unbedingte Vorrang der Menschenwürde vor dem Unionsrecht, NJW 2016, 1134; Schroeder, Werner Freihandelsabkommen und Demokratieprinzip – Eine Untersuchung zur parlamentarischen Legitimation gemischter Verträge, EuR 2018, 119; Schwartz, Christina Die Wahl der Rechtsgrundlage im Recht der Europäischen Union, 2013; Trüe, Christiane Das System der Rechtsetzungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union, 2002; Valta, Stefanie Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013; Weiß, Wolfgang Verfassungsanforderungen und Integrationsverantwortung bei beschließenden Vertragsorganen in Freihandelsabkommen, EuZW 2016, 286.

Ines Härtel

I. Normativer Grund, primärrechtliche Ausgangslage und semantischer Bezug | 449

Leitentscheidungen EuGH, Gutachten 2/15 – Freihandelsabkommen Singapur; EuGH, Rs C-68/17 – IR gegen JQ; EuGH, Rs C-414/16 – Egenberger; EuGH, Rs C-42/17 – M.A.S. und M.B. (Taricco II); Rs C-62/14 – Gauweiler; Rs C-370/12 – Pringle; Rs 617/10 – Åkerberg Fransson; Rs C-144/04 – Mangold; Rs C-380/03 – Tabakwerberichtlinie II; Rs C-491/01 – British American Tobacco; Rs C-376/98 – Tabakwerberichtlinie I; Rs C-300/89 – Titandioxid; Rs 804/79 – Seefischerei-Erhaltungsmaßnahmen; Rs 22/70 – AETR; Rs 8/55 – Fédéchar; BVerfG, 2 BvR 1685/15; 2 BvR 2631/14; BVerfGE 146, 216 – PSPP-Vorlage; BVerfGE 142, 123 – OMT-Programm; BVerfGE 140, 317 – Europäischer Haftbefehl; BVerfGE 126, 286 – Honeywell; BVerfGE 123, 267 – Lissabon; BVerfGE 89, 155 – Maastricht.

I. Normativer Grund, primärrechtliche Ausgangslage und semantischer Bezug I. Normativer Grund, primärrechtliche Ausgangslage und semantischer Bezug Die Zuständigkeitsordnung der Europäischen Union ist Teil der verfassungsrecht- 1 lichen Grundordnung der Europäischen Union als politisches supranationales Gemeinwesen. Sie bezieht sich auf das im Primärrecht festgelegte Fundament gemeinschaftlicher Werte und Normen (Art 2, Art 3 I, II, Art 6, Art 9, Art 10 EUV). Die Zuständigkeitsordnung ist des Weiteren fundamental auf die föderale Struktur der Europäischen Union bezogen, die die Räume freiheitlicher Gestaltung ordnet und zugleich verbürgt. Sie ist darüber hinaus spezifischer Ausdruck eines supranationalen Staatenverbundes, dessen Genese über die Erweiterungen hinaus von einer vertieften politischen wie rechtlichen Integration gekennzeichnet ist. Die europäische Integration lebt zum einen von den kulturellen Bezügen und den Diskursen zu Europa, in denen „jede Generation von Menschen in Europa sich immer wieder neu darauf verständigt, was unter Europa verstanden werden soll“.1 Zum anderen ist sie gekennzeichnet durch europäische Institutionen, deren Architektur gerade auch aufgrund des normativen Fundamentes und der föderalen Gesamtstruktur des europäischen Hauses letztlich auf Dauerhaftigkeit und Beherrschbarkeit der politischen Prozesse zielt. Deshalb sind Statik und Prozessabläufe im europäischföderalen Institutionengefüge auf eine rechtlich eingefasste Zuständigkeitsordnung angewiesen, die diese Dauerhaftigkeit verbürgt, dem normativen Anspruch gerecht wird und eine schlüssig-praktische Funktionalität ermöglicht. Diese Zuständigkeitsoder Kompetenzordnung ist gewissermaßen die Hausordnung der Innenräume des gesamteuropäischen Gebäudes. Sie bildet als politisch-rechtlicher Legitimationsrahmen die entscheidende Richtschnur für Handlungsbefugnisse des Rechtssubjekts Europäische Union in Bezug auf die Ebenen und Prozesse. Im Mittelpunkt steht die zentrale Frage, in welchem Umfang die Europäische 2 Union über Hoheitsgewalt im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten verfügt und sie damit ausüben darf. In diesem rechtlichen Regelungsgefüge der Zuständigkeiten können die Befugnisse der Organe öffentlicher Gewalt auf EU- wie mitgliedstaatlicher

_____ 1 Thiemeyer S 25. Ines Härtel

450 | § 6 Die Zuständigkeiten der Union

Ebene eine legislative, administrativ-exekutive oder judikative Ausrichtung aufweisen. Die aktuell vorfindliche Zuständigkeits- oder Kompetenzordnung als adäquater Ausdruck der politisch-rechtlichen Gesamtarchitektur der Europäischen Union hat sich im historischen Verlauf schrittweise entfaltet. Inzwischen ist sie als ein ausdifferenziertes Gefüge etabliert, das vor allem Kompetenzgrundlagen, ausschließliche und geteilte Kompetenzen und Kompetenzausübungsregeln umfasst. Der Begriff „Zuständigkeit“, der die Zuschreibung von Hoheitsrechten, Rechts3 befugnissen bzw die Befähigung, Rechtshandlungen vorzunehmen2 impliziert, wird in der Regel (so auch hier) synonym mit dem Begriff „Kompetenzen“ verwendet. Damit wird ein gleicher semantischer Bedeutungsgehalt (propositionaler Gehalt) angenommen. Dies entspricht auch der etymologischen Bedeutung des Begriffs Kompetenz, der sich vom lateinischen Partizip Präsens „competens“ ableitet und mit „zuständig“ übersetzt werden kann.3 Auch wenn in der deutschsprachigen Version des EUV und des AEUV nicht der Begriff Kompetenz, sondern „Zuständigkeit“ verwendet wird, hat sich im deutschen Sprachgebrauch der Wissenschaften, der Rechtsprechung und Politik ebenso der Begriff Kompetenz etabliert. In der englischen Fassung von EUV und AEUV wird der Begriff „competence“, in der französischen Fassung der Begriff „compétence“ gebraucht. Sowohl der EUV als auch der AEUV bilden das rechtliche Zuweisungssystem für 4 die Kompetenzen. Die Verträge unterscheiden dabei zwischen der Zuständigkeit der Union als Verband im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten – der sog vertikalen Kompetenzordnung4 – und der Zuständigkeit der Unionsorgane – der sog horizontalen Kompetenzordnung. Zwischen den beiden Ausformungsebenen der Zuständigkeitsordnung bestehen wichtige systematische Verknüpfungen (s zB unten zur Wahl der richtigen Rechtsgrundlage/Kompetenznorm). Als Ausgangspunkt stellt Art 1 I EUV klar, dass die Mitgliedstaaten der Union Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen. Nach Art 3 VI EUV verfolgt die Union ihre Ziele mit geeigneten Mitteln entsprechend den Zuständigkeiten, die ihr in den Verträgen übertragen sind. Gleich an zwei Stellen wird betont, dass alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten verbleiben (Art 4 I, Art 5 II 2 EUV). Für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art 5 I 1 EUV). Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union zur Verwirklichung der Ziele, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen übertragen haben (Art 4 II EUV), sind die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Art 5 I 2 EUV) maßgebend. Auch mit Blick auf mögliche Vertragsänderungen nimmt Art 48 EUV auf die Frage der Zuständig-

_____ 2 Vgl zum Begriff Kompetenz in diesem Sinne ua vBogdandy/Bast/Nettesheim S 390. 3 Vgl Valta S 145. 4 Zum institutionellen Gleichgewicht vBogdandy/Bast/Nettesheim S 405; Hatje/Müller-Graff EnzEuR 1/Härtel § 11, Rn 129, 162. Ines Härtel

II. Die föderale Kompetenzordnung in der Europäischen Union | 451

keiten explizit Bezug. Für das ordentliche Änderungsverfahren5 regelt Art 48 II 2 EUV, dass die Entwürfe zur Änderung der Verträge „unter anderem eine Ausdehnung oder Verringerung der der Union in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten zum Zielen haben“ können. Hingegen gilt das vereinfachte Änderungsverfahren nicht für eine „Ausdehnung der der Union im Rahmen der Verträge übertragenen Zuständigkeiten“ (vgl Art 48 VI UAbs 3 EUV). In Art 1 I AEUV heißt es, dass dieser Vertrag die Arbeitsweise der Union regelt 5 und die Bereiche, die Abgrenzung und die Einzelheiten der Ausübung der Zuständigkeiten festlegt. Titel I des AEUV (Art 2 bis Art 6) widmet sich den „Arten und Bereiche[n] der Zuständigkeit der Union“. Die Norm zu den klassischen Handlungsformen lautet in ihrem ersten Satz: „Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union nehmen die Organe Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen an“ (Art 288 I AEUV). Die Grundrechte-Charta (GRCh) nimmt die Frage der Grenzen der Kompe- 6 tenzgeltung auf und stellt in Bezug auf ihren Anwendungsbereich in Art 51 II GRCh hinreichend klar, dass sie die Zuständigkeiten nicht ausweitet. Dies gilt gem Art 6 II EUV auch für den Beitritt zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK). II. Die föderale Kompetenzordnung in der Europäischen Union II. Die föderale Kompetenzordnung in der Europäischen Union 1. Die Europäische Union als föderales Mehrebenensystem Das System, die Grundstrukturen und die Ausprägungen der Zuständigkeiten der 7 Europäischen Union im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten spiegeln den spezifischen Charakter der supranationalen Union als föderales Gebilde „eigener Art“ wider. Dabei ist Föderalismus als eine Geisteshaltung (Idee und Ethos des Handelns), als ein normatives Konzept und als Strukturprinzip von Territorialstaaten und/oder hoheitlichen Kompetenzträgern im Mehrebenensystem zu verstehen. „Der Sinn von Föderalismus ist Freiheit durch organisierte Gliederung. Föderalismus als Idee (als geistiges Prinzip) und als politisch-rechtliche Praxis zielt auf eine spezifische Organisation der Freiheitsermöglichung, Freiheitsentfaltung und Freiheitssicherung in den lebensweltlichen Räumen und staatlichen Gebilden“6 sowie hoheitlichen Einheiten. Ein spezifisches Wesensmerkmal eines föderalen Gebildes ist dementsprechend die Existenz eigenständiger (kleinerer) Einheiten, die auch angesichts von

_____ 5 Diese Vertragsänderungen treten erst in Kraft, nachdem sie von allen Mitgliedstaaten nach Maßgabe ihrer verfassungsrechtlichen Vorschriften ratifiziert worden sind (Art 48 IV 2 EUV). Zum Unterschied zwischen dem ordentlichen und vereinfachten Änderungsverfahren s ua Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler Art 48 EUV Rn 28 ff; Calliess/Ruffert/Cremer Art 48 EUV Rn 3 ff. 6 Härtel/Härtel Hdb Föderalismus Bd I S 6. Ines Härtel

452 | § 6 Die Zuständigkeiten der Union

Konkurrenzen unterschiedlicher Art insgesamt in einem in der Regel verbundmäßigen, integrativen Zusammenhalt stehen und so auf mindestens zwei Ebenen agieren – was als Mehrebenensystem zu charakterisieren ist.7 Diese Einheiten können hoheitlicher und staatlicher Natur sein (staatszentrierter hoheitlicher Föderalismus), hoheitlich und nichtstaatlich organisiert sein (nichtstaatlich hoheitlicher Föderalismus) oder aber auch nichthoheitliche Qualität entfalten (nichthoheitlicher Föderalismus).8 In verfassungsrechtlicher Perspektive stellt ein föderales Gebilde einen hoheit8 lichen Zusammenschluss von Gliedstaaten dar, wobei eine Eigenständigkeit der Glieder einerseits und der Gesamtheit andererseits bei deren gleichzeitiger Verbundenheit besteht. In diesem Sinne weist die Europäische Union föderale Strukturen eines politischen Gemeinwesens ohne Staatsqualität auf (nichtstaatlich hoheitlicher Föderalismus). Sie ist trotz des hoheitlichen Zuschnitts und der horizontalen wie vertikalen Integrationstiefe kein Bundesstaat wie beispielsweise die Bundesrepublik Deutschland oder die Vereinigten Staaten von Amerika. Im Lichte der Zuständigkeitsordnung liegen die Gründe vor allem darin, dass die Mitgliedstaaten als „Vertragsgeber“9 die Herren der Verträge10 sind und der Union die Zuständigkeiten übertragen, es der Europäischen Union an einer Kompetenz-Kompetenz11 fehlt und auch weiterhin das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gilt.12 Dies verdeutlichte explizit das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon9 Urteil im Jahre 2009. Dabei betonte es zugleich, dass das Grundgesetz nicht die in Deutschland handelnden Organe ermächtige, durch einen Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben.13 Dieser Schritt sei wegen der mit ihm verbundenen unwiderruflichen Souveränitätsübertragung auf ein neues Legitimationssubjekt allein dem unmittelbar erklärten Willen des deutschen Volkes vor-

_____ 7 Zum Folgenden Härtel/Härtel Hdb Föderalismus Bd IV S 79 ff. 8 Härtel FS Paul Kirchhof, 2013, S 273 (278). 9 „Der Begriff Vertragsgeber bezeichnet die durch Art 48 EUV zu einem Kollektiv zusammengeschlossenen Mitgliedstaaten“; vBogdandy/Bast/vBogdandy S 25. 10 Vgl die unterschiedlichen Positionen von vBogdandy/Bast/Oeter S 73 ff; vBogdandy/Bast/Möllers S 227 ff; vBogdandy/Bast/Kirchhof S 1009 ff; vBogdandy/Bast/Zuleeg S 1045 ff. 11 Zum gebotenen differenzierten Inhalt dieser Aussage s ua vBogdandy/Bast/Nettesheim S 389 (402). 12 Die Antragsteller im Verfahren vor dem BVerfG hatten die Kompetenz-Kompetenz der EU angenommen und das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung als durchbrochen angesehen, insb durch die Generalermächtigungsnorm und die Passerelle-Klauseln, s dazu BVerfG, 2 BvE 2, 5/08, BVerfGE 123, 267 (394 ff) – Lissabon. 13 BVerfGE 123, 267 (347 f) – Lissabon; s dazu Härtel/Härtel Hdb Föderalismus Bd I S 387 ff; Härtel/Härtel Hdb Föderalismus Bd IV S 317 ff; zur kritischen Auseinandersetzung mit dem LissabonUrteil des BVerfG s die Beiträge in ZEuS 2009, Heft 4. Ines Härtel

II. Die föderale Kompetenzordnung in der Europäischen Union | 453

behalten.14 Das Grundgesetz ermächtige mit Art 23 GG zur Beteiligung und Entwicklung einer als Staatenverbund konzipierten Europäischen Union. In der Tat bildet die Europäische Union einen Staaten- und Verfassungsverbund,15 der mit seinen zwei integrierten Ebenen – der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union – eine hoheitlich-föderale Gestaltung aufweist.16 Hinzu treten über unterschiedliche Regionalentwicklungen auch nichthoheitliche Föderalstrukturen.17 Auf dem kohäsiven Fundament gemeinschaftlicher Werte sowie der Übereinstimmung in rechtlichen und demokratischen Grundsätzen einschließlich darauf bezogener Selbstbindung der Mitgliedstaaten lässt sich diese Ordnung aufgrund ihrer Stufung wie Integralität auch als konsoziativer Föderalismus bezeichnen.18 Die Struktursicherungsklausel des Art 23 I 1 GG bezieht und beschränkt die In- 10 tegrationsermächtigung sogar unter anderem auf eine Europäische Union, „die […] föderativen Grundsätzen […] verpflichtet ist“. Diese grundsätzliche Verpflichtung der EU auf eine föderativ-strukturelle Gestaltung beruht zugleich auf der Einsicht, dass der Gestaltungsreichtum des Föderalismus nicht auf einen Bundesstaat deutscher Prägung beschränkt ist.19 Der Föderalismus kann auf supranationaler Ebene in verschiedener Weise und in abgestuften Formen verwirklicht werden.20 Zentrale Kohäsiv- und Integrativkraft der föderalen Europäischen Union ins- 11 gesamt wie auch ihrer Mitgliedstaaten ist die Selbstbindung an gemeinsame Werte,

_____ 14 Der Rekurs auf den letzten Legitimationsgrund aller Herrschafts- und Entscheidungsbefugnisse, das souveräne deutsche Volk, führt dabei in Erinnerung, dass „der Verfassungsstaat den Souverän invisibilisiert hat. Volkssouveränität ist nicht reale Gegebenheit, sondern Zuschreibung. Der Souverän bleibt nur als abstraktes Zurechnungssubjekt für Herrschaftsakte übrig“, was allerdings „regimeunterscheidende Bedeutung“ hat, so Grimm Souveränität S 75; in europäischer, historischkritischer Perspektive wies der polnische Philosoph Kolakowski auf die Zweideutigkeit des Souveränitätsbegriffs in Form des nationalen Selbstbestimmungsrechts hin: „Nationales Selbstbestimmungsrecht ist eine vortreffliche Erfindung, sofern es als Grundlage dient, auf der wir territoriale Ansprüche gegen unsere Nachbarn erheben können, nicht aber, wenn analoge Ansprüche von Seiten der Nachbarn gemacht werden.“ Münkler/Llanque/Stepina/Kolakowski S 18; zur Aufweichung des Souveränitätsbegriffs s Grimm Souveränität S 1 ff und Haltern S 1 ff; zum Begriff PostSouveränität vBogdandy/Bast/Haltern S 307 ff; Härtel/Härtel Hdb Föderalismus Bd I S 387 ff. 15 Dazu s Pernice VVDStRL 60 (2001), 163 ff; Huber VVDStRL 60 (2001), 194 ff; vBogdandy/Bast/ Mayer S 593 ff; Härtel/vBogdandy Hdb Föderalismus Bd IV S 37 ff. 16 Mazan S 1 ff; Zuleeg NJW 2000, 2846 ff; vBogdandy/Bast/Oeter S 73 ff; Herdegen FS Helmut Steinberger, 2002, S 1193 ff; Sachs/Streinz Art 23 GG Rn 32 ff; Dreier/Pernice Art 23 GG Rn 65; vMünch/Kunig/Uerpmann-Wittzack Art 23 GG Rn 22 ff. 17 Zur Entfaltung nichthoheitlicher Föderalstrukturen s die Beiträge Härtel/Härtel Hdb Föderalismus Bd II S 611 ff; Härtel/Dallinger/Böhringer Hdb Föderalismus Bd II S 667 ff; Härtel/Swoboda Hdb Föderalismus Bd II S 697 ff; Härtel/Härtel Hdb Föderalismus Bd II S 717 ff. 18 Vgl dazu Nettesheim ZEuS 2002, 507 ff; vBogdandy/Bast/Nettesheim S 402; Watts S 6 ff; Grande/Jachtenfuchs/Schmidt S 33 ff. 19 Badura FS Peter Lerche, 1993, S 369 (371, 381 ff). 20 Härtel/vBogdandy Hdb Föderalismus Bd IV S 37 ff; vBogdandy S 1 ff. Ines Härtel

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Normen, rechtliche Verfahren, Institutionen, an das (europäische) Gemeinwohl sowie an Rechtsprinzipien wie Loyalität, Solidarität und Subsidiarität. In grundlegender Weise lässt sich das kohäsiv wirkende Prinzip der Selbstbindung unterteilen in erstens die moralisch-praktische Selbstbindung an Grundwerte und Normen, zweitens die rechtliche Selbstbindung an Gesetze und drittens die vernunftstrategische Selbstbindung durch institutionelle Konstellationen.21 Weitere Integrativkräfte sind dann die europäische(n) Geschichte(n), die euro12 päische (Zivil-)Kultur, die europäischen Kunst-, Bildungs- und Wissenschaftsverbünde, die Entwicklung grenzüberschreitender Regionen sowie die wachsende Zusammenarbeit in politischen und gesellschaftlichen Feldern mittels der Methode der offenen Koordinierung. Integrativkraft entfalten auch die trotz der Sprachenvielfalt stattfindenden europäischen Diskurse in unterschiedlichen Arenen und differenzierten europäischen Öffentlichkeiten. Mit der gewählten Aufteilung der Hoheitsgewalt zwischen der Europäischen 13 Union und den Mitgliedstaaten herrscht eine Eigenständigkeit der Gliedstaaten bei gleichzeitiger fester Integration in das Ganze vor. Dabei sind – was oft übersehen wird – „die Mitgliedstaaten nicht nur Träger, sondern zugleich auch Glieder der Union und […] in vieler Hinsicht von ihr abhängig“.22 Insofern „tragen die Mitgliedstaaten die Union und die Gemeinschaft einerseits als Gründer und Vertragsparteien sowie als wichtige Akteure, und sind andererseits deren Glieder und ebenso wie die Bürger Adressaten ihres Rechts und diesem unterworfen.“23 Der europäische Integrationsprozess ist deshalb gekennzeichnet von gleichzeitig bestehender „Einheit“ und „Vielfalt“. „In Vielfalt geeint“ – das ist sogar ausdrücklicher Leitspruch in dem Entwurf für einen Verfassungsvertrag aus dem Jahre 2004 in Art I-8 III24 gewesen. Zugleich existiert mit der föderalen Ebenenstruktur über das Konsensuale hinaus ein (durchaus auch produktives) „Spannungsfeld zwischen den Interessen des Nationalstaates und den Prinzipien der Supranationalität“,25 das immer wieder auszugleichen ist. Auch wenn das Föderalismusprinzip nicht ausdrücklich in den Vertragstext 14 aufgenommen worden ist, ergibt es sich aus der konkreten Ausgestaltung der Europäischen Union und gilt damit immanent.26 Die vorfindlichen supranationalen, integrativen Strukturen sichern zusammen mit den verbliebenen intergouvernementalen Elementen die Vielfalt der Mitgliedstaaten sowie Integration und Einheit der Union zugleich, und zwar auf der Basis stets neu zu sichernder kohäsiver Selbstbin-

_____ 21 22 23 24 25 26

Härtel/Härtel Hdb Föderalismus Bd IV S 87 ff. vBogdandy/Bast/Everling S 1003. vBogdandy/Bast/Everling S 962. ABl 2004 C 310/1. Gehler S 167. Ausführlich vBogdandy S 733 ff; Giegerich S 733 ff; Zuleeg NJW 2000, 2846 ff. Ines Härtel

II. Die föderale Kompetenzordnung in der Europäischen Union | 455

dungsprozesse sowie einer immer wieder herzustellenden föderalen Balance (zB hinsichtlich der Regelungen zur Finanz- und Bankenkrise – sog Bankenunion – und zur Bewältigung der mitgliedstaatlichen Verschuldungskrise – sog Fiskalunion). Zu den einheitsstiftenden Rechtsprinzipien des EU-Föderalismus27 gehören auf der Basis der gemeinschaftlichen Selbstbindung an Werte und Normen vor allem die Rechtsstaatlichkeit (Art 2 EUV), der (Anwendungs-)Vorrang des Unionsrechts,28 das Prinzip der Wirksamkeit des Unionsrechts, der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 III EUV), auch Unionstreue genannt, das Solidaritätsprinzip (Art 2, 3 EUV) und das Subsidiaritätsprinzip (Art 5 III EUV). Gliederschützende und vielfaltwahrende Elemente enthält vor allem Art 4 II 15 EUV. Erstens wird darin nunmehr das Prinzip der föderalen Gleichheit verankert, indem es heißt „Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen […]“. Zweitens achtet die Union die jeweilige nationale Identität der Mitgliedstaaten,29 die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Drittens achtet sie die grundlegenden Funktionen des Staates. Zugleich ist die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union föderal strukturiert.30 Ausgangspunkt dieser Kompetenzordnung ist, dass das Primärrecht zwar der Europäischen Union positive Kompetenzen zuweist, nicht aber Kompetenzen der Mitgliedstaaten begründet. Dies stellt der EU-Vertrag gleich zu Beginn in Art 1 I klar, in dem es heißt, dass die Mitgliedstaaten der Union die Zuständigkeiten übertragen. Im Vergleich zur typischen Verfassung eines Bundesstaates ist die EU-Kompetenzordnung damit einpolig und nicht bipolar.31 Entscheidend für den Charakter einer föderalen Kompetenzordnung ist, dass 16 die „Kompetenzen der einander zugeordneten Verbände begrenzt sind“ und „sich die föderalen verbundenen Ebenen gegenseitig Betätigungsraum lassen“.32 Die inhaltliche Begrenzung der Kompetenzen des Verbands erfolgt durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, wonach jeder abgeleitete Unionsrechtsakt eine Rechtsgrundlage besitzen muss (vgl Art 5 II EUV). Auch wird gleich an zwei Stellen

_____ 27 Vgl dazu Härtel/vBogdandy Hdb Föderalismus Bd IV S 37 ff. 28 EuGH, Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L., Slg 1964, 1251 (1269 f); der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem einzelstaatlichen Recht hat nicht wie der in Art 31 GG verankerte Grundsatz „Bundesrecht bricht Landesrecht“ Geltungs-, sondern nur Anwendungsvorrang, vgl hierzu zB Haratsch/Koenig/ Pechstein Rn 181 ff. 29 Vormals in Art 6 I EUV aF verankert gewesen. Der Begriff „nationale Identität“ weist mit seinem Homogenitätsbezug allerdings Schwierigkeiten auf in Bezug auf Minderheiten, insb in Mehrvölkerstaaten wie beispielsweise Ungarn, wo die ungarische Mehrheit mit einer zahlenmäßig größeren rumänischen Minderheit zusammenlebt. 30 Härtel/vBogdandy Hdb Föderalismus Bd IV S 37 ff. 31 Vgl Götz/Martínez/Götz S 86; vBogdany/Bast/Nettesheim S 410. 32 vBogdany/Bast/Nettesheim S 398. Ines Härtel

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– in Art 4 I und Art 5 II 2 EUV – deutlich gemacht, dass alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten verbleiben. Dies betrifft hauptsächlich den Vollzug des Unionsrechts, der durch die Mitgliedstaaten erfolgt, sofern er nicht ausnahmsweise durch Zuständigkeitsübertragung bei der Europäischen Union liegt. Dieses Phänomen wird auch als Vollzugsföderalismus bezeichnet.33 Föderaler Natur ist auch das Subsidiaritätsprinzip,34 das als Kompetenzaus17 übungsschranke der Union ausgestaltet ist (Art 5 III EUV). Aber auch in der Institutionenarchitektur – der horizontalen Kompetenzordnung – kommt der genuin föderale Charakter der Europäischen Union zum Ausdruck.35 Darüber hinaus deutet eine Vielzahl von Einzelbestimmungen im Primärrecht 18 auf den kohäsiv-föderalen, „Vielfalt und Einheit“ wahrenden Charakter der Europäischen Union hin.36

2. Entwicklungen der föderalen Kompetenzordnung bis zum Lissabon-Vertrag 19 Während zentrale Grundpfeiler der supranationalen föderalen Zuständigkeitsordnung – wie insb das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung – seit Beginn der europäischen Integration fortbestehen, gab es allerdings hinsichtlich des Zuwachses an Zuständigkeiten, der Ausgestaltung en détail und der Ausübungsschranken wichtige Weiterentwicklungen. Die Zuständigkeiten der Union wurden mit den verschiedenen Vertragsreformen immer weiter ausgedehnt, insb im Kontext des Binnenmarktprogramms. Eine für die Rechtspraxis nach wie vor entscheidende Rolle spielt die großzügige Inanspruchnahme der Kompetenznormen durch die Unionsorgane bei der Sekundärrechtsetzung und die weitgezogene, extensive Interpretation durch die europäische Gerichtsbarkeit. Der Schutz der föderalen Balance,37 insb der Schutz für den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten, wird vor diesem Hintergrund immer wieder im nationalen politischen Raum wie auch in den Wissenschaften eingefordert und setzt auch föderale Ausgleichsbestrebungen in Gang. Vor allem auf Drängen der deutschen Länder, die von den Zentralisierungsten20 denzen der Gemeinschaft betroffen waren, wurde mit dem Vertrag von Maastricht

_____ 33 Vgl zB Pernice JZ 2000, 866 (871). Von dem Vollzug zu unterscheiden ist die Umsetzung von Richtlinien. Allerdings kommt es bei der Umsetzung von Richtlinien oftmals nicht zu einer eins-zueins-Umsetzung, sondern zu für den jeweiligen Staat angepassten Veränderungen, teilweise auch zu Verschärfungen von Bestimmungen. Zur Rechtsumsetzung s Härtel/Härtel Hdb Föderalismus Bd IV S 389. 34 Zur Subsidiarität als föderalem Prinzip vgl zB auch Bickenbach EuR 2013, 523 (546). 35 Dazu ausführlicher Härtel/Härtel Hdb Föderalismus Bd IV S 317. 36 Exemplarisch sei auf folgende Textstellen hingewiesen, die für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union maßgeblich sind: Art 22 GRCh; Art 3 III UAbs 3, 4 EUV; Art 167 I AEUV; Art 174 I AEUV. 37 Pernice S 9. Ines Härtel

II. Die föderale Kompetenzordnung in der Europäischen Union | 457

(1992) das Subsidiaritätsprinzip verankert, das die Kompetenzausübung der Gemeinschaft begrenzen sollte.38 Konkretisiert wurden die Vorgaben für dieses Prinzip im Zuge des Vertrages von Amsterdam (1997) durch das Protokoll Nr 30 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Auch wenn der Vertrag von Nizza (2001) selbst die vertikale Zuständigkeits- 21 ordnung mit Blick auf zunehmende Kompetenzkonflikte zwischen der Union und den Mitgliedstaaten nicht reformierte, wurde ihm jedoch eine „Erklärung zur Zukunft der Union“39 beigefügt, die dazu aufforderte, dass im weiteren Reformprozess die Frage behandelt werden sollte, „wie eine genauere, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten hergestellt und danach aufrechterhalten werden kann“. In der „Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union“40 wurde in konkretisierender Weise die Forderung nach einer „besseren Verteilung und Abgrenzung der Zuständigkeiten in der Europäischen Union“ gestellt. In dem daraufhin eingesetzten Verfassungskonvent, 41 der zwischen dem 22 28. Februar 2002 und dem 18. Juli 2003 den Entwurf eines Verfassungsvertrages42 für die Europäische Union erarbeitete, wurde zwar keine eigene Arbeitsgruppe zu den Zuständigkeiten eingerichtet. Jedoch befassten sich im Verfassungskonvent die Arbeitsgruppe I „Subsidiarität“ und die Arbeitsgruppe V „Ergänzende Zuständigkeiten“ intensiv mit den aufgeworfenen kompetentiellen Fragen. Im Ergebnis wurde im Konvent die Einigkeit darüber erzielt, dass die Verteilung der Zuständigkeiten in materieller Hinsicht nicht geändert werden sollte. Die Zuständigkeiten sollten aber immerhin redaktionell neugefasst und einer Kategorisierung zugeführt werden.43 Mit Blick auf die Effektivierung des Subsidiaritätsprinzips sprachen sich die Konventsmitglieder für einen spezifischen prozeduralen Kontrollmechanismus aus – die Subsidiaritätsrüge und Subsidiaritätsklage. Der Verfassungsvertrag ist zwar aufgrund der ablehnenden Referenda in den Niederlanden und Frankreich gescheitert, seine Substanz – auch im Hinblick auf die Zuständigkeiten – wurde aber in den am 13.12.2007 unterzeichneten und am 1.12.2009 in Kraft getretenen Lissabon-Reformvertrag (EUV und AEUV) hinübergerettet. Die Kategorisierung der Zuständigkeiten (Art 2 bis Art 6 AEUV) ist ein „Ein- 23 stieg in eine bundesstaatsähnliche Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der

_____ 38 Art 3b EGV; s hierzu Calliess Subsidiaritätsprinzip S 35 ff; Calliess/Ruffert/Calliess Art 5 EUV Rn 1; Härtel/Härtel Hdb Föderalismus Bd IV S 210. 39 ABl 2001 C 80/85. 40 Europäischer Rat von Laeken, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, BullEU 12/2001, I 9 ff. 41 Zu den Konventsdokumenten s http://european-convention.europa.eu/de/bienvenue/bienven ue390c.html?lang=DE. 42 Vertrag über eine Verfassung für Europa (Entwurf), ABl 2003 C 169. 43 S Art I-11 ff Verfassungsvertrag. Ines Härtel

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Union und ihren Mitgliedstaaten“44 und hat zur Transparenz des Kompetenzsystems beigetragen. Sie beruht im Wesentlichen auf der Rechtsprechung des EuGH und den rechtswissenschaftlichen Systematisierungen im Schrifttum und knüpft damit an Kontinuitätslinien an.45 Das Primärrecht unterscheidet nunmehr ausdrücklich zwischen: – ausschließlichen Zuständigkeiten der Union (Art 2 I, Art 3 AEUV), – geteilten Zuständigkeiten (Art 2 II, Art 4 AEUV), – der Zuständigkeit zur Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik (Art 2 III, Art 5 AEUV), – der Zuständigkeit zur Erarbeitung und Verwirklichung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (Art 2 IV AEUV, Art 24 EUV) und – den Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen (Art 2 V, Art 6 AEUV). 24 Die Grundnormen zur Aufteilung der Zuständigkeiten in verschiedene Arten (Art 2

AEUV) und zu den Zuordnungen der Zuständigkeitsarten zu verschiedenen Sachbereichen bzw Sachpolitiken (Art 3 bis 6 AEUV) bilden keine Ermächtigungsnormen für die Union. Die Ermächtigungen, das heißt „der Umfang der Zuständigkeiten der Union und die Einzelheiten ihrer Ausübung ergeben sich aus den Bestimmungen der Verträge zu den einzelnen Bereichen“ (Art 2 VI AEUV). Die Grundnormen in Form von Zuständigkeitskatalogen, die nicht selbst „befugnisbegründender Natur“46 sind, unterscheiden sich somit schon in dieser Hinsicht von den Kompetenzkatalogen im Grundgesetz, die mit den einzelnen Kompetenztiteln den Bund zur Gesetzgebung berechtigen.47 Nicht nur die Einführung eines GG-analogen Kompetenzkataloges wurde verworfen, sondern auch andere weniger geeignete Vorschläge. So wurde die Kategorie „ausschließliche Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten“ nicht in den Vertrag aufgenommen;48 lediglich als Ausnahme ist mit Art 4 II 3 EUV für den Bereich „nationale Sicherheit“ geregelt worden, dass sie in die „alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten“ fällt. Ebenso wenig wurden Befugnisse der Union gestrichen, wie dies beispielsweise für die Vertragsabrundungskompetenz (Flexibilitätsklausel) eingefordert worden war. Vielmehr wurden die Unionszuständigkeiten erweitert – vor allem in der gemeinsamen Handelspolitik.

_____ 44 Oppermann DVBl 2003, 1165 (1170). 45 Vgl hierzu zB Trüe ZaöRV 2004, 391 (420 ff); Härtel Hdb Europäische Rechtsetzung S 74 f. 46 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 2 AEUV Rn 15. 47 Die Mehrheit der Konventsmitglieder lehnte einen abschließenden Kompetenzkatalog ab, da sie Flexibilität und Dynamik in der Kompetenzordnung für wichtig hielt (Aufzeichnung über die Plenartagung vom 23./24. Mai 2002, CONV 60/02, S 4 Ziff 9). 48 Zur argumentativen Auseinandersetzung s zB Hummer/Obwexer/Eilmansberger S 190; Grabitz/ Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 2 AEUV Rn 14. Ines Härtel

II. Die föderale Kompetenzordnung in der Europäischen Union | 459

So erstreckt sich die ausschließliche Zuständigkeit der Union zum Abschluss völkerrechtlicher Handelsübereinkommen auf die Bereiche Dienstleistungen insgesamt, Handelsaspekte des geistigen Eigentums sowie ausländische Direktinvestitionen (vgl Art 207 AEUV).49 Zudem wurden neue Zuständigkeitsnormen eingeführt, wie zum Beispiel zur Energiepolitik, wenngleich dieser Bereich auch schon vorher durch die Union geregelt werden durfte. Nicht zuletzt gehört zu den zurückgewiesenen Vorschlägen auch die Schaffung eines separaten Kompetenzgerichtes.50 Neue besondere Schutzvorkehrungen zugunsten der Mitgliedstaaten wur- 25 den ebenso grundsätzlich nicht getroffen. Ausnahmsweise wurde mit den Harmonisierungsverboten – zB im Rahmen der Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungszuständigkeit (Art 2 V UAbs 2 AEUV) – eine besondere Schranke der Unionsrechtsetzung gezogen.51

3. Grundsystematik der Kompetenzen in der Europäischen Union a) Primärrechtliche Systematik Anders als die typische Verfassung eines Bundesstaates ist die Kompetenzordnung 26 der Union einpolig und nicht bipolar. Das Unionsprimärrecht weist der Union positive Kompetenzen zu, begründet aber nicht die Kompetenzen der Mitgliedstaaten. Das Primärrecht verfasst insofern die Europäische Union, nicht jedoch die Mitgliedstaaten. Deren Kompetenzen ergeben sich nicht aus einer von der Unionsverfassung abgeleiteten Hoheitsgewalt, sondern beruhen auf den mitgliedstaatlichen Verfassungen. 52 Die Europäische Union besitzt keine (alleinige) KompetenzKompetenz,53 das heißt die Kompetenz, Kompetenzen zu begründen – im Unterschied zu einem Bundesstaat wie der Bundesrepublik Deutschland, in der sich der Bund im Verhältnis zu den Ländern durch Verfassungsänderung gemäß Art 79 II GG Kompetenzen zuweisen kann.54 Vielmehr gilt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art 5 II EUV). Danach wird die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben. Dementsprechend dürfen nur dann Unionsgesetze/Rechtsakte erlassen werden, soweit das Primärrecht eine

_____ 49 Ladenburger ZEuS 2011, 389 (390 f). 50 Ablehnend zB vBogdandy/Bast/Westphal integration 2003, S 414 (418); Härtel Hdb Europäische Rechtsetzung S 75. 51 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 2 AEUV Rn 5. 52 Götz/Martínez/Götz S 86; Härtel Hdb Europäische Rechtsetzung S 55; vgl auch vBogdandy/Bast/Nettesheim S 410 f. 53 Zu einer überzeugenden Differenzierung mit Blick auf die Beschreibung der „KompetenzKompetenz in gesamthänderischer Verbundenheit von EU und Mitgliedstaaten“ s vBogdandy/Bast/ Nettesheim S 401 f. 54 Härtel/Streinz Hdb Föderalismus Bd IV, S 305. Ines Härtel

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Kompetenzgrundlage zur Verfügung stellt. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung umfasst sowohl das vertikale Verhältnis zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten als auch das horizontale Verhältnis zwischen den jeweiligen Unionsorganen.55 Im Bereich der vertikalen Kompetenzordnung schützt es die Mitgliedstaaten vor einem „ungewollten Souveränitätsverlust“ (vgl Art 5 I, II EUV) und in Bezug auf die horizontale Kompetenzordnung sichert es das „institutionelle Gleichgewicht“ (vgl Art 13 II 1 EUV).56 So müssen sich die zuständigen Unionsorgane an das in den Verträgen vorgesehene Gesetzgebungsverfahren (ordentliches oder besonderes Gesetzgebungsverfahren, Beschlussfassungsmodus des jeweiligen Unionsorganes) und die jeweilige Handlungsform (Verordnung, Richtlinie, Beschluss) halten, aber auch die materiellen Begrenzungen der Regelungsdichte (je nach Kompetenznorm) beachten.57 Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung wird indes durch weitreichende 27 Kompetenznormen relativiert. Dazu gehören insb die Harmonisierungskompetenzen, die wegen ihrer Zielorientierung potenziell alle Sachbereiche für die Unionsgesetzgebung eröffnen, und die Flexibilitätsklausel (Art 352 AEUV), die dem Rat nach Zustimmung des Europäischen Parlaments gestattet, die „geeigneten“ Vorschriften zu erlassen, wenn ein Tätigwerden der Union im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche erforderlich erscheint, um eines der Ziele der Verträge zu verwirklichen, und in den Verträgen die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen sind. Dem Schutz der Mitgliedstaaten dient die verfahrensrechtliche Sicherung der Einstimmigkeit im Rat. Zwar weist die Flexibilitätsklausel noch praktische Bedeutung auf,58 allerdings ist diese inzwischen stark minimiert, da die einzelnen Kompetenzgrundlagen der Union stark ausgedehnt wurden. Eine Zeit lang wurde Art 352 AEUV für die Errichtung von Verwaltungseinrichtungen/ Agenturen der Union herangezogen. Mittlerweile zieht der Unionsgesetzgeber aber hierfür die jeweilige spezielle Rechtsgrundlage heran, wobei er die Schaffung von Verwaltungsstellen als Annexkompetenz zu den Sachregelungsbefugnissen begreift. Diese Praxis hält der EuGH für rechtmäßig.59 Darüber hinaus kann das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung durch die 28 wirksame Kompetenzauslegung im Sinne der US-amerikanischen implied powersDoktrin bzw der effet utile-Regel des Völkervertragsrechts relativiert werden. Die implied powers-Doktrin, die auf ein Urteil des US Supreme Court zurückgeht,60

_____ 55 Härtel Hdb Europäische Rechtsetzung S 55. 56 Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 160. 57 Härtel/Streinz Hdb Föderalismus Bd IV S 305. 58 S hierzu Calliess/Ruffert/Rossi Art 352 AEUV Rn 19 ff. 59 EuGH, Rs C-217/04 – Großbritannien / Rat, Rn 44 f; s a Bast JURA 2013, 404 (405). 60 McCulloch vs Maryland, 17. US (4 Wheat) 316 (421), 4 L.Ed. 579 (1819); noch heute wird der Kerngehalt der Doktrin wie folgt beschrieben: “No axiom is more clearly established in law, or in Ines Härtel

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begründet ungeschriebene oder stillschweigend mitgeschriebene Kompetenzen der Union, um eine effektive Zielerreichung zu ermöglichen. Damit aber die Flexibilitätsklausel mit ihren hohen Hürden nicht ausgehöhlt und so auch nicht das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung umgangen wird, bedarf es für die Annahme ungeschriebener Kompetenzen stets der Anknüpfung an ausdrücklich zugewiesene Kompetenzen.61 Dementsprechend handelt es sich bei den implied powers im Kern um eine Spielart der teleologischen Auslegung der geschriebenen Kompetenznormen.62 Beim effet utile63 handelt es sich ebenso um eine (teleologische) Auslegungs- 29 methode, die an Sinn und Zweck der Norm ausgerichtet ist, wobei die Ermittlung der nützlichen Wirkung von besonderer Bedeutung ist.64 Der EuGH hat in seiner Rolle als „Motor der Integration“ den effet utile in der Vergangenheit vielfach großzügig angewendet.65 „Unter verschiedenen möglichen Auslegungen [ist diejenige zu wählen], die die praktische Wirksamkeit der Bestimmung zu wahren geeignet ist.“66 Allerdings bildet der Wortlaut der Norm eine Grenze.67 Der effet utile spielte in der Spruchpraxis des EuGH eine erheblich größere Rolle als die implied powersDoktrin. Dies liegt naturgemäß nicht zuletzt an dem weiteren Anwendungsbereich des effet utile, der sich auf die gesamten Unionsnormen erstreckt, während die implied powers-Doktrin allein zur Auslegung von Kompetenznormen dienen kann.68 Beide Auslegungsmethoden überschneiden sich, sind aber nicht deckungsgleich. Die implied powers-Doktrin hatte der EuGH frühzeitig im Jahr 1956 in seiner Entscheidung Fédéchar69 anerkannt, wobei er keine dogmatischen Grenzen erkennen ließ. Der mitunter bedeutendste Anwendungsbereich der implied powers ist bzw war 30 aber die Begründung von Außenkompetenzen der EU. In der AETR-Entscheidung stellte der EuGH nämlich fest, dass die Union die ungeschriebene Kompetenz zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge hat und zwar auf den Gebieten, wo ihr eine

_____ reason, than that wherever the end is required, the means are authorized; wherever a general power to do a thing is given, every particular power necessary for doing it is included.” (The Federalist Nr 44 ed Wright 1961 S 322; zitiert nach Nicolaysen EuR 1966, 129 [134]). 61 Nicolaysen EuR 1966, 129 (135); vBogdandy/Bast/Nettesheim S 412, 414; Calliess/Ruffert/Rossi Art 352 AEUV Rn 62; Schulze/Zuleeg/Kadelbach/König § 2 Rn 4. 62 Nicolaysen EuR 1966, 129 (131); Ehlers JURA 2000, 323 (328). 63 Seine Wurzeln lassen sich bis in das römische Recht zurückverfolgen, vgl dazu Potacs EuR 2009, 465 (466). 64 Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 474. 65 S hierzu Potacs EuR 2009, 465 (467 f, 479 ff). 66 EuGH, Rs C-63/00 – Schilling / Nehring, Rn 24. 67 Seyr S 293. 68 Seyr S 109 f. 69 EuGH, Rs 8/55. Ines Härtel

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ausdrückliche Kompetenz zusteht.70 Diese Rechtsprechung ist mittlerweile vertraglich verankert worden, ihre Aussage ist nunmehr in Art 3 II, 216 I AEUV geregelt.71 Dieser Umstand belegt im Übrigen, dass jedenfalls „dieses Teilelement der implied powers vom Vertrag von Lissabon als mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung vereinbar angesehen wurde“.72

b) Staatsverfassungsrechtliche Anforderungen 31 Die Grundsystematik der Zuteilung der Zuständigkeiten an die Europäische Union ist für das Staatsverfassungsrecht von grundlegender Bedeutung. Sie beruht auf den freiheitlichen Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten und steht in Verbindung mit den tragenden Verfassungsprinzipien wie dem Demokratieprinzip und – insb für Deutschland – dem Bundesstaatsprinzip (einschließlich der souveränen Staatlichkeit). Die weitreichende staatsverfassungsrechtliche Dimension hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil deutlich aufgezeigt: Die Integrationsermächtigung Art 23 I GG „ermächtigt den Gesetzgeber zwar zu einer weitreichenden Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union. Die Ermächtigung steht aber unter der Bedingung, dass dabei die souveräne Verfassungsstaatlichkeit auf der Grundlage eines Integrationsprogramms nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und unter Achtung der verfassungsrechtlichen Identität als Mitgliedstaaten gewahrt bleibt und zugleich die Mitgliedstaaten ihre Fähigkeit zu selbstverantwortlicher politischer und sozialer Gestaltung der Lebensverhältnisse nicht verlieren.“73 Das Gericht betont, dass die „Ermächtigung, supranationale Zuständigkeiten auszuüben“ von den Mitgliedstaaten stammt, die Mitgliedstaaten also dauerhaft die Herren der Verträge sind. Der Union steht keine Kompetenz zu, sich eigene Kompetenzen zu schaffen und eine solche darf ihr auch nicht von deutschen Verfassungsorganen übertragen werden.74 Zugleich muss das Integrationsprogramm der Europäischen Union „hinrei32 chend bestimmt sein“. Die deutschen Verfassungsorgane dürfen keine „Blankettermächtigung“ zur Ausübung öffentlicher Gewalt erteilen. Neben der Bundesregierung obliegt den gesetzgebenden Körperschaften eine besondere Verantwortung im Rahmen der Mitwirkung, die in Deutschland innerstaatlich den Anforderungen des Art 23 I GG genügen muss (Integrationsverantwortung).75 „Ein zur Integration er-

_____ 70 EuGH, Rs 22/70 – AETR. Im Folgenden dann zB EuGH, verb Rs 3/76 ua – Kramer; EuGH, Gutachten 1/76 – Binnenschifffahrt, NJW 1977, 2017 ff. 71 Jochum S 107. 72 Calliess/Ruffert/Calliess Art 5 EUV Rn 17. 73 BVerfGE 123, 267 (347) – Lissabon. 74 BVerfGE 123, 267 (349) – Lissabon. 75 BVerfGE 123, 267 (351) – Lissabon. Ines Härtel

II. Die föderale Kompetenzordnung in der Europäischen Union | 463

mächtigendes Gesetz […] kann […] immer nur ein Programm umreißen, in dessen Grenzen dann eine politische Entwicklung stattfindet, die nicht in jedem Punkt vorherbestimmt sein kann.“ Auch wenn das Bundesverfassungsgericht vor diesem Hintergrund explizit feststellt, dass eine Tendenz zur wirksamen Kompetenzauslegung im Sinne der US-amerikanischen implied powers-Doktrin oder effet utile-Regel des Völkervertragsrechts hinzunehmen und dies Teil des vom Grundgesetz gewollten Integrationsauftrages ist, deutet es an, dass eine überdehnte Auslegung der Zuständigkeiten durch die Unionsorgane nicht mehr vom Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung abgedeckt sei.76 Hoheitsrechte dürfen auf die Union gemäß dem besonderen Gesetzesvorbehalt 33 nach Art 23 I 2 GG nur durch Gesetz und mit Zustimmung des Bundesrates übertragen werden. Die Art und der Umfang der Übertragung von Hoheitsrechten muss den demokratischen Grundsätzen entsprechen (Art 23 I, Art 20 I und II in Verbindung mit Art 79 III GG).77 Dabei hängen die konkreten Anforderungen an die demokratischen Grundsätze vom Umfang der übertragenen Hoheitsrechte und vom Grad der Verselbstständigung europäischer Entscheidungsverfahren ab. „Solange die europäische Zuständigkeitsordnung nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in kooperativ ausgestalteten Entscheidungsverfahren unter Wahrung der staatlichen Integrationsverantwortung besteht und solange eine ausgewogene Balance der Unionszuständigkeiten und der staatlichen Zuständigkeiten erhalten bleibt, kann und muss die Demokratie der Europäischen Union nicht staatsanalog ausgestaltet sein.“78 „Wenn dagegen die Schwelle zum Bundesstaat und zum nationalen Souveränitätsverzicht überschritten wäre, was in Deutschland eine freie Entscheidung des Volkes jenseits der gegenwärtigen Geltungskraft des Grundgesetzes voraussetzt, müssten demokratische Anforderungen auf einem Niveau eingehalten werden, das den Anforderungen an die demokratische Legitimation eines staatlich organisierten Herrschaftsverbandes vollständig entspräche.“79 Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe gelangt das Bundesverfassungsgericht zum Ergebnis, dass der Lissabon-Vertrag und das Zustimmungsgesetz den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen. Allerdings kritisiert es die Ausgestaltung der Flexibilitätsklausel Art 352 AEUV und äußert verfassungsrechtliche Bedenken. In Anbetracht der Unbestimmtheit möglicher Anwendungsfälle der Flexibilitätsklausel setzt ihre Inanspruchnahme verfassungsrechtlich die „Ratifikation“ durch den Deutschen Bundestag und den Bundesrat auf der Grundlage von Art 23 I 2 und 3 GG voraus. Der deutsche Vertreter im Rat darf die förmliche Zustimmung zu einem entsprechenden Rechtssetzungsvorschlag der Kommission für die Bundesrepublik

_____ 76 77 78 79

BVerfGE 123, 267 (351 f) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (355 f) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (368 f) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (364) – Lissabon.

Ines Härtel

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Deutschland nicht erklären, solange diese verfassungsrechtlich gebotenen Voraussetzungen nicht erfüllt sind.“80 Mit Blick auf die Ausübung der Zuständigkeiten der Union hat sich das Bundes34 verfassungsgericht sogar eine Kontrollkompetenz vorbehalten (dazu näher unter Rn 42 ff), die wiederum mit der Kontrollkompetenz der europäischen Gerichtsbarkeit in Konflikt geraten kann.

4. Gerichtliche Kontrolle der Kompetenzausübung a) Die Rolle des Europäischen Gerichtshofes bei der Kompetenzausübung 35 Die gerichtliche Überprüfung von möglichen Verletzungen der primärrechtlichen Zuständigkeitsordnung durch die Union oder durch die Mitgliedstaaten obliegt einerseits der europäischen Gerichtsbarkeit, sei es im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens, eines Vorabentscheidungsverfahrens oder weil eine Nichtigkeitsklage erhoben wird. Gemäß Art 19 I 2 EUV sichert der Gerichtshof der Europäischen Union die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge. Diese Aufgabe kann der Gerichtshof der Europäischen Union allerdings nicht allein gewährleisten. Deshalb übernehmen andererseits die nationalen Gerichte auch die Rolle „funktionaler Unionsgerichte“.81 Das Unionsrecht, das unmittelbare Geltung in jedem Mitgliedstaat und auch Anwendungsvorrang vor mitgliedstaatlichem Recht besitzt, ist auch Prüfungsmaßstab der nationalen Gerichte. Da diese neben dem Gerichtshof Unionsrecht auslegen und anwenden, kann es zu divergierenden Entscheidungen kommen. Um aber eine unionseinheitliche Auslegung und Gültigkeitsbeurteilung zu sichern, ist ein Kooperationsverhältnis zwischen unionalen und nationalen Gerichten etabliert worden, das durch das Vorabentscheidungsverfahren (Art 267 AEUV) konkretisiert wird:82 Bereitet den mitgliedstaatlichen Gerichten die Prüfung entscheidungserheblicher Unionsrechtsfragen Probleme, sind sie befugt und in bestimmten Fällen verpflichtet, den Europäischen Gerichtshof um Klärung dieser Fragen zu ersuchen. Aus europarechtlicher Sicht ist dann die Entscheidung des Gerichtshofes maßgeblich. Dementsprechend steht dem Europäischen Gerichtshof auch insofern die Letztentscheidungsbefugnis zu, und er nimmt die Rolle als „Verfassungsgericht“ ein.83 Der EuGH hat sich zugleich durch seine Rechtsfortbildung und Rechtsergänzung sowie durch seine dynamische Interpretationsmethode als eine Art „Motor der Integration“ erwiesen.84

_____ 80 BVerfGE 123, 267 (394 f) – Lissabon. 81 Streinz/Huber Art 19 EUV Rn 36. 82 Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 565. 83 Streinz Rn 610; L Bauer S 67 ff, S 159 ff. 84 Zu diesem Selbstverständnis s Streinz/Huber Art 19 EUV Rn 25 mit Verweis auf BVerfGE 89, 155 (210) – Maastricht; Everling EuR 1987, 212 (235); Streinz Rn 170, 610. Ines Härtel

II. Die föderale Kompetenzordnung in der Europäischen Union | 465

So hat der EuGH in seiner Rechtsprechung die Zuständigkeiten der Union eher 36 großzügig zugunsten der Union ausgelegt. Seinem „judicial activism“ steht aber auch sein „judicial self-restraint“ gegenüber.85 Letzterer fällt indes gering aus. In über 60 Jahren erklärte der EuGH lediglich vier Rechtsakte für nichtig wegen fehlender Zuständigkeit.86 Eine Vielzahl von Entscheidungen des EuGH zeugen von einer extensiven Auslegung der Unionskompetenzen.87 Als erstes Beispiel hierfür ist das Urteil vom 12.12.2006 in Sachen Tabakwerberichtlinie II88 anzuführen. Während der EuGH in seinem Urteil zur Tabakwerberichtlinie I89 im Jahre 2000 die Binnenmarktkompetenz (Art 95 I EGV) als Rechtsgrundlage ablehnte, hielt er sie für die (geänderte) Richtlinie für einschlägig, obgleich der Gesundheitsschutz maßgeblich betroffen ist. Entscheidend war für ihn, dass der Rechtsakt tatsächlich die Bedingungen für das Funktionieren des Binnenmarktes verbessern soll. Darin lag nach seiner Ansicht auch der tatsächliche Zweck der Richtlinie. Ein zweiter Beleg für eine ausgreifende Auslegung der Unionszuständigkeiten 37 ist das Urteil zur Vorratsdatenspeicherung vom 10.2.2009.90 Irland hatte Nichtigkeitsklage gegen die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung erhoben, da es der Ansicht war, dass die Richtlinie nicht auf einer geeigneten Rechtsgrundlage erlassen worden sei. Die Vorratsdatenspeicherung sei eine Maßnahme zur Erleichterung der Strafverfolgung und nicht der Binnenmarktharmonisierung.91 Der EuGH hingegen beurteilte die Binnenmarktkompetenz als richtige Rechtsgrundlage, da sich die Richtlinie nur an die Dienstleister wende und keine Regelung der Handlungen staatlicher Stellen zu Strafverfolgungszwecken enthalte.92 Kritisch ist hierzu anzumerken, dass laut Erwägungsgründen der Richtlinie ihr Zweck doch überwiegend in der Strafverfolgung liegt und die Vorratsdatenspeicherung wohl eher dem Bereich der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) zuzuordnen war.93 GA Cruz Villalón war jedoch der Ansicht, dass die Richtlinie gegen den Gesetzesvorbehalt nach der GRCh und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoße.94 Dieser Sichtweise schloss sich der Gerichtshof an. Er bemängelte, dass die Richtlinie keine klaren und präzisen Regeln beinhalte, um sicherzustellen, dass ein Eingriff in

_____ 85 Kritisch gegenüber seinem Schwanken Streinz/Huber Art 19 EUV Rn 26. 86 Streinz/Huber Art 19 EUV Rn 33 mwN. 87 Vgl hierzu Klein AöR 139 (2014), 165 (176 ff); Streinz, Europarecht, Rn 622 f. 88 EuGH, Rs C-380/03 – Tabakwerbeverbot II. 89 EuGH, Rs C-376/98 – Deutschland / EP und Rat. 90 EuGH, Rs C-301/06 – Irland / EP; kritisch zB Terhechte EuZW 2009, 199 (200 ff); Rossi ZJS 2009, 289 (299). 91 EuGH, Rs C-301/06 – Irland / EP, Rn 28 ff. 92 EuGH, Rs C-301/06 – Irland / EP, Rn 83, 91. 93 Ambos JZ 2009, 468 (469 f); Petri EuZW 2009, 214 (214); Terhechte EuZW 2009, 199 (203); Hirsch ZRP 2009, 250 (251); Simitis NJW 2009, 1782 ff; aA Frenz Hdb 5 S 211 f; Frenz DVBl 2009, 374 (374 f). 94 GA Cruz Villalón, verb Rs C-293/12 ua – Digital Rights Ireland, Seitliniger ua, Nr 131, 133 ff. Ines Härtel

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Art 7 und 8 der GRCh auf das absolut Notwendige begrenzt werde und somit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt sei.95 In der Konsequenz erklärte er daher die Richtlinie für ungültig. Zum „judicial activism“ gehört das EuGH-Urteil vom 22.11.2005 in der Rechtssa38 che Mangold.96 Das Arbeitsgericht München hatte den EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens mit der Frage befasst, ob eine gesetzliche Möglichkeit der Altersbefristung mit den Vorgaben des Europarechts vereinbar sei.97 Der EuGH hielt eine solche Regelung mit dem Unionsrecht unvereinbar, da sie gegen das Diskriminierungsverbot aus Gründen des Alters verstoße. Dieses Verbot sei ausdrücklich in der Richtlinie 2000/78/EG enthalten. Diese Richtlinie gelte zwar mangels Umsetzung noch nicht in Deutschland (die Umsetzungsfrist der Richtlinie war zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses auch noch nicht abgelaufen). Das Altersdiskriminierungsverbot sei allerdings ein allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts und so Bestandteil des Primärrechts, der auch im vorliegenden Fall zu beachten sei. Das Mangold-Urteil weist über den konkreten Fall hinausgehende allgemeingül39 tige Kernaussagen auf.98 So verfestigt der EuGH seine Rechtsprechung zur Vorwirkung von Richtlinien. Die Mitgliedstaaten dürfen schon während der Umsetzungsfrist im Sinne des effet utile keine Vorschriften erlassen, die geeignet sind, die Erreichung der Ziele ernsthaft in Frage zu stellen (sog Frustrationsverbot).99 Des Weiteren qualifizierte er das Verbot der Altersdiskriminierung als allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, dessen Quelle er in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen und den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sah.100 Schließlich stellte der EuGH fest, dass es den nationalen Gerichten obliege, die volle Wirksamkeit des Unionsrechts dadurch sicherzustellen, dass sie jede möglicherweise entgegenstehende nationale Bestimmung unangewendet lassen.101 Diese Rechtsauslegung und -fortbildung stieß im Schrifttum auf heftige Kritik. 40 So wurde die weitreichende Vorwirkung einer Richtlinie vor Ablauf der Umsetzungsfrist abgelehnt.102 Ebenso wurde moniert, dass sich aus dem EuGH-Urteil indirekt die Anerkennung einer horizontalen Drittwirkung von Richtlinien (unmittelbare Wirkung zulasten Privater) ablesen lasse.103 Den Hauptkern der Kritik betraf aber

_____ 95 EuGH, verb Rs C-293/12 ua – Digital Rights Ireland, Seitliniger ua, Rn 54 ff. 96 EuGH, Rs C-144/04 – Mangold. 97 ArbG München, EuGH-Vorlage – 26 Ca 14314/03. 98 Instruktiv zusammenfassend durch Mayer/Walter JURA 2011, 532 (535). 99 EuGH, Rs C-144/04 – Mangold, Rn 67, 72. 100 EuGH, Rs C-144/04 – Mangold, Rn 67, 74 f. 101 EuGH, Rs C-144/04 – Mangold, Rn 67, 77 f. 102 ZB Reich EuZW 2006, 20 (21). 103 Gas EuZW 2005, 737; Bauer/Arnold NJW 2006, 6 (9); aA Hermann EuZW 2006, 69 f; Streinz/ Hermann RdA 2007, 167 (167). Ines Härtel

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die Anerkennung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes, der heute jedoch in Art 21 GRCh normiert ist.104 Das Verbot der Altersdiskriminierung sei nur in zwei mitgliedstaatlichen Verfassungen geregelt und könne deswegen noch keinen allgemeinen Grundsatz darstellen.105

b) Ultra-vires Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht In seinem Honeywell-Beschluss vom 6.7.2010106 hat sich das Bundesverfassungsge- 41 richt mit dem Mangold-Urteil des EuGH auseinandergesetzt und in dem Zuge seine Rechtsprechung zur Ultra-vires-Kontrolle107 weiterentwickelt. Im Ergebnis hat das Bundesverfassungsgericht jedoch das EuGH-Urteil nicht als Ultra-vires-Akt qualifiziert.108 Der Honeywell-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts steht mit Blick auf 42 die Rechtsprechung zur Ultra-vires-Kontrolle in dem größeren Gesamtkontext des Verhältnisses von nationalem Verfassungsrecht und Unionsrecht. Für das Verhältnis gilt als Grundregel, dass das Unionsrecht Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht (einschließlich dem Verfassungsrecht) genießt.109 Während der EuGH in seiner Rechtsprechung den Vorrang aus der besonderen Rechtsnatur des Unionsrechts ableitet und bislang keine Ausnahmen hiervon anerkannt hat, gilt der Anwendungsvorrang nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgrund des Zustimmungsgesetzes der Verträge und insofern auch „nur kraft und im Rahmen der fortbestehenden verfassungsrechtlichen Ermächtigung“.110 Das Bundesverfassungsgericht hat zugleich aus dem Grundgesetz selbst (enge) Ausnahmen vom Anwendungsvorrang des Unionsrechts entwickelt111 und sich für diese Ausnahmen einen eigenen Kontrollvorbehalt gesichert.

_____ 104 Zur Diskussion vgl Gerken/Rieble/Roth/Stein/Streinz S 1 ff; Bauer/Arnold NJW 2006, 6 (8, 12). 105 Nach heutiger Rechtslage würde sich die Frage nach der Anerkennung des Verbotes der Altersdiskriminierung nicht mehr stellen, da dieses in Art 21 I GRCh verankert und die GrundrechteCharta seit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages rechtsverbindlich ist. 106 BVerfGE 126, 286. Es handelt sich um eine Verfassungsbeschwerde, bezogen auf die BAGEntscheidung, in deren Rahmen die Mangold-Entscheidung des EuGH erging. 107 Ultra-vires lateinisch für „außerhalb der Befugnisse“. 108 Richter Landau hat hingegen in dem EuGH-Urteil einen ausbrechenden Akt gesehen und die Verfassungsbeschwerde für begründet gehalten. Er meint, dass der Maßstab, den die Senatsmehrheit für die Ultra-vires-Kontrolle („hinreichend qualifizierter“ Kompetenzverstoß) angelegt hat, überspannt sei (BVerfG, 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 [318 ff] – Honeywell). Konkret ist nach seiner Ansicht auch die Herleitung eines spezifischen Diskriminierungsverbotes wegen Alters durch den EuGH nicht vertretbar gewesen. 109 Seit der Rechtsprechung des EuGH von 1964 in der Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L. 110 BVerfGE 123, 267 (354) – Lissabon. 111 Polzin JuS 2012, 1 (2 ff). Ines Härtel

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Die erste Ausnahme, die den Grundrechtsschutz112 betrifft, wird in der Praxis wohl keine Rolle spielen. Da seit dem Solange II-Urteil von 1987 das Bundesverfassungsgericht113 davon ausgeht, dass das Unionsrecht einen dem Grundgesetz adäquaten Grundrechtsschutz gewährleistet, prüft das Gericht nicht die Vereinbarkeit von Unionsrecht mit den Grundrechtsgarantien des Grundgesetzes. Auch wenn die „Aktivierung des Kontrollvorbehalts“ mit Blick auf den Grundrechtsschutz nur hypothetisch erscheint, wirkt schon die geringe Wahrscheinlichkeit einer Kontrolle disziplinierend.114 Die zweite Ausnahme bezieht sich auf die Wahrung der Kompetenzen, insb 44 des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung und des Subsidiaritätsprinzips. Mit dem Maastricht-Urteil von 1993115 und dem Lissabon-Urteil von 2009116 hat das Bundesverfassungsgericht das Konzept zu den Ultra-vires-Akten bzw ausbrechenden Rechtsakten geprägt117 und einen entsprechenden Kontrollvorbehalt gesichert. Es prüft, ob Rechtsakte der europäischen Organe und Einrichtungen sich unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten. Im Lissabon-Urteil hat das Gericht mit dem „unantastbaren Kerngehalt der Ver45 fassungsidentität“118 einen dritten Ausnahmebereich zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts aufgestellt. Das Grundgesetz verbietet nach Art 23 I 3 GG Zuständigkeiten im Bereich des von Art 79 III GG geschützten Kerngehalts der Verfassungsidentität zu übertragen. Handlungen der Union, die gegen Art 79 III GG verstoßen, sind nicht vom Zustimmungsgesetz abgedeckt und in Deutschland nicht anwendbar. In der Konsequenz hierzu hat sich das Gericht neben der Ultra-vires-Kontrolle eine Identitätskontrolle vorbehalten: 119 Das Bundesverfassungsgericht prüft, ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität nach Art 23 I 3 iVm Art 79 III, Art 1 und 20 GG gewahrt ist. „Sowohl die Ultra-vires- als auch die Identitätskontrolle können dazu führen, dass […] Unionsrecht in Deutschland für unanwendbar erklärt wird.“ Für beide Kontrollvorbehalte legt das Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes zugrunde. Für die Verfassungsidentitätskontrolle hat das Gericht im Lissabon-Urteil allgemeine Grundsätze aufgestellt. 43

_____ 112 BVerfGE 37, 271 (291, 296) – Solange I; BVerfGE 73, 339 (375) – Solange II. 113 BVerfGE 73, 339 – Solange II; bestätigt durch BVerfGE 102, 147 (161 ff) – Bananenmarktordnung; BVerfGE 123, 267 (335) – Lissabon. 114 Mayer/Walter JURA 2011, 532 (540). 115 BVerfGE 89, 155 – Maastricht. 116 BVerfGE 123, 267 – Lissabon. 117 Terminologisch bereits in der Kloppenburg-Entscheidung angelegt BVerfGE 75, 223 (242). 118 BVerfGE 123, 267 (354) – Lissabon. 119 Zur Identitätskontrolle Voßkuhle NVwZ 2010, 1 (6 f); vBogdandy NJW 2010, 1 (4 f); Calliess ZEuS 2009, 559 (569 ff). Ines Härtel

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Eine Konkretisierung erfolgte durch den Beschluss des Bundesverfassungsge- 46 richts vom 25.12.2015 zum europäischen Haftbefehl,120 in dem Art 1 I GG als Hebel zur Überprüfung von Unionsrechtsakten genutzt wurde.121 Ein in Deutschland befindlicher amerikanischer Staatsbürger war in Abwesenheit von einem italienischen Strafgericht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden und sollte mittels europäischem Haftbefehl ausgeliefert werden. Gegen die Entscheidung des OLG, die die Auslieferung für zulässig erklärte, wandte sich der Beschwerdeführer mit einer Verfassungsbeschwerde. Dieser gab das Bundesverfassungsgericht statt: Es führte eine Identitätskontrolle anhand des Schuldprinzips (Art 1 I iVm Art 23 I 3 und Art 79 III GG) durch und kam zu dem Ergebnis, dass der Identitätsvorbehalt nicht durch die unionsrechtlichen Regelungen zum Europäischen Haftbefehl verletzt wurde, die Entscheidung des OLG jedoch Art 1 I GG nicht hinreichend beachtet hatte. Zunächst führte das Bundesverfassungsgericht allgemein zur Identitätskontrolle aus, dass diese nicht gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verstoße (Art 4 II 1 EUV), da sie vielmehr in Art 4 II 1 EUV angelegt sei.122 Auch bestehe keine substantielle Gefahr für die einheitliche Anwendung des Unionsrechts, denn eine Verletzung von Art 1 GG komme selten vor, was auf den wirksamen Grundrechtsschutz auf Unionsebene und der zurückhaltenden sowie europarechtsfreundlichen Handhabung durch das Bundesverfassungsgericht zurück zu führen sei.123 Sodann stellt das Verfassungsgericht fest, dass der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl grundsätzlich Art 1 I GG verletzten könne und somit eine Verfassungsidentitätskontrolle zur Anwendung komme.124 Die Überprüfung der fachgerichtlichen Entscheidung wird trotz der unionsrechtlichen Determiniertheit anhand des Grundgesetzes vorgenommen.125 Das Bundesverfassungsgericht nimmt indes keinen Fall der Durchbrechung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts an. Vielmehr gelangt es im Wege der Auslegung und unter Berücksichtigung der GRCh sowie der EMRK zu dem Ergebnis, dass die unionsrechtlichen Vorgaben den gebotenen Garantien des Schuldprinzips genügen.126 Beanstandet wird, dass das OLG die Bedeutung und Tragweite des Art 1 I GG verkannt habe,127 Bemerkenswert ist darüber hinaus die Bezugnahme auf die Honeywell-Entscheidung, wonach grundsätzlich auch im Rahmen der Identitätskontrolle eine Vorlage nach Art 267 AEUV an den EuGH durchzufüh-

_____ 120 BVerfGE 140, 317 – Europäischer Haftbefehl. 121 Von einigen Stimmen wurde das Urteil als „Solange III“ bezeichnet, Burchardt ZaöRV 2016, 527 (543). 122 BVerfGE 140, 317 – Europäischer Haftbefehl, Rn 44. 123 BVerfGE 140, 317 – Europäischer Haftbefehl, Rn 46. 124 BVerfGE 140, 317 – Europäischer Haftbefehl, Rn 51 ff. 125 BVerfGE 140, 317 – Europäischer Haftbefehl, Rn 76 ff. 126 BVerfGE 140, 317 – Europäischer Haftbefehl, Rn 84 ff. 127 BVerfGE 140, 317 – Europäischer Haftbefehl, Rn 109 ff. Ines Härtel

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ren sei.128 Aus der Formulierung „soweit erforderlich“ ergibt sich, dass das Bundesverfassungsgericht keine Pflicht zur Vorlage an den EuGH vorsieht.129 Auffällig ist, dass das Bundesverfassungsgericht hier das nationale Grundrecht als Maßstab anlegt, ohne hierbei auf das in Solange-II aufgestellte Kriterium des generellen grundrechtlichen Schutzniveaus auf Unionsebene abzustellen, sodass es so wirkt, als sei die Garantie der Menschenwürde immer und unabhängig von der Unionsrechtslage anzuwenden.130 Hierin ist eine im Lissabon-Urteil bereits anklingende Reaktivierung der Grundrechtskontrolle im Einzelfall durch das Bundesverfassungsgericht zu sehen.131 Für die Fachgerichte läuft dieser Ansatz auf das Dilemma hinaus, dass sie zumindest im Falle eines vermeintlichen Menschenwürdeverstoßes durch ein Umsetzungsgesetz zu entscheiden haben, ob sie dem Bundesverfassungsgericht, dem EuGH oder beiden vorlegen.132 Ob das Bundesverfassungsgericht bezüglich des Vorrangs des Unionsrechts auf diesem Kollisionskurs beharrt, bleibt abzuwarten. Mit Blick auf die Ultra-vires-Kontrolle hat hingegen das Bundesverfassungsge47 richt das Prüfungsregime in seinem bereits oben erwähnten Honeywell-Beschluss fest umrissen. Für die Prüfung legt das Gericht fest, dass die Ultra-vires-Kontrolle nur zurückhaltend und europarechtsfreundlich ausgeübt werden darf. Die zentralen inhaltlichen Voraussetzungen der Ultra-vires-Kontrolle betreffen die Art und Reichweite des Kompetenzverstoßes und die Beachtung der Prägorative des EuGH. So steht nunmehr fest, dass nicht jeder (einfache) Kompetenzverstoß ausreicht.133 Der Verstoß gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und damit der Kompetenzverstoß der europäischen Organe muss „hinreichend qualifiziert“ sein. Das setzt voraus, „dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten führt“.134 Vor dem Hintergrund des supranationalen Integrationsprinzips muss die Ultra-vires-Kontrolle zurückhaltend ausgeübt werden. In diesem Sinne wird dem Gerichtshof ein „Anspruch auf Fehlertoleranz“ eingeräumt.135 Das Bundesverfassungsgericht darf also nicht einfach seine Auslegungsalternative anstelle der des EuGH setzen, sofern sich die Auslegung des EuGH im Rahmen des üblicherweise methodisch Vertretbaren hält.136 Eine weitere

_____ 128 BVerfGE 140, 317 – Europäischer Haftbefehl, Rn 46. 129 Vgl Burchardt ZaöRV 2016, 527 (536 f.). 130 Vgl Sauer NJW 2016, 1134 (1135), der eine partielle Verabschiedung von der Solange-IIRechtsprechung attestiert. 131 Sauer NJW 2016, 1134 (1136). 132 Vgl Sauer NJW 2016, 1134 (1137). 133 Michels JA 2011, 518 ff. 134 BVerfGE 126, 286, (Leitsatz 1a, 304 f) – Honeywell. 135 BVerfGE 126, 286 (307) – Honeywell. 136 Vgl Honeywell-Beschluss; Herdegen EuR S 240 f, Kufer/Weishaupt EuZA 2011, 236 ff; Frenz EWS 2010, 401 ff. Ines Härtel

II. Die föderale Kompetenzordnung in der Europäischen Union | 471

Voraussetzung für eine Ultra-vires-Kontrolle ist, dass der EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art 267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Rechtsakte gehabt hat (Kooperationsverhältnis).137 Solange der Gerichtshof diese Gelegenheit nicht hatte, darf das Bundesverfassungsgericht für Deutschland keine Unanwendbarkeit des Unionsrechts feststellen.138 Demzufolge müsste das Bundesverfassungsgericht im Fall fehlender Kontrolle durch den EuGH entweder eine Verfassungsbeschwerde oder ggf einen anderen Antrag139 zurückweisen (möglicherweise als unzulässig) oder die Frage selbst dem EuGH im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens vorlegen.140 Im Hauptsacheverfahren ESM/EZB hat das Bundesverfassungsgericht am 14. Januar 2014141 erstmals in seiner Geschichte einen Vorlagebeschluss gefasst und dem EuGH mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt; damit hat das Bundesverfassungsgericht seine zuvor entwickelte Ultravires-Doktrin durchaus konsequent angewendet.142 Die Vorlagefragen betrafen die Vereinbarkeit des OMT-Beschlusses der Europäischen Zentralbank vom 6. September 2012 mit dem Primärrecht der Europäischen Union.143 Laut OMT-Beschluss darf die EZB Staatsanleihen ausgewählter Mitgliedstaaten in unbegrenzter Höhe ankaufen. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts geht der OMT-Beschluss über das Mandat der EZB für die Währungspolitik hinaus.144 Er sei als eigenständige wirtschaftspolitische Maßnahme zu qualifizieren und nicht als Währungs-, bzw Geldpolitik und greife damit in die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten über.145 Auch verstoße der OMT-Beschluss gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung.146 Die EZB habe damit offensichtlich ihre Kompetenzen überschritten. Demzufolge neigte das Bundesverfassungsgericht erstmals zur Annahme eines Ultra-vires-Aktes, schloss aber auch nicht aus, den OMT-Beschluss primärrechtskonform auszulegen.

_____ 137 Proelß EuR 2011, 241 (244 ff); das heißt aber auch, dass sich der EuGH mit den Argumenten des vorlegenden Gerichts auseinanderzusetzen hat. 138 BVerfGE 126, 286 (304) – Honeywell unter Verweis auf BVerfG, 2 BvE 2, 5/08, BVerfGE 123, 267 (353) – Lissabon. 139 Die Ultra-vires-Kontrolle kann bei der abstrakten und konkreten Normenkontrolle, dem Organstreit, dem Bund-Länder-Streit sowie bei der Verfassungsbeschwerde eine Rolle spielen. 140 Gerade vor dem Hintergrund des Urteils des BVerfG zur Antiterrordatei (BVerfGE 133, 277), vgl hierzu Herdegen EuR S 238. 141 BVerfGE 142, 123. 142 Mayer, EuR 2014, 473 (482); vgl auch die positive Resonanz auf den Vorlagebeschluss von Di Fabio, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 9.2.2014, S 20. 143 Beschluss des Rates der Europäischen Zentralbank vom 6. September 2012 über Technical Features of Outright Monetary Transactions („OMT-Beschluss“). 144 Zum beschränkten Mandat der EZB vgl Art 119 und 127 ff AEUV, Art 17 ff ESZB-Satzung. 145 Vgl hierzu auch Mayer NJW 2015, 1999 (2000). 146 Zu diesem Verbot vgl Art 123 I AEUV. Ines Härtel

472 | § 6 Die Zuständigkeiten der Union

Der EuGH 147 hat die Vorlagefragen dahin beantwortet, dass der Beschluss rechtmäßig ergangen ist. Das vorrangig verfolgte Ziel sei ein währungspolitisches im Sinne des Art 127 I AEUV. Etwaige mittelbare Auswirkungen auf den Bereich der Wirtschaftspolitik, die nicht vom Mandat der EZB erfasst sind, seien unbeachtlich.148 Aufgrund der Komplexität des Gebietes sei dem Europäischen System der Zentralbanken (ESZB) ein weites Ermessen einzuräumen, das aber über die besondere Gewichtung der verfahrensrechtlichen Garantien kompensiert werde.149 Einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verneint der EuGH, dennoch stellt er ein umfassendes Rahmenprogramm auf, das es zu beachten gilt, um ein kompetenzkonformes Handeln zu gewährleisten.150 So werde das Verbot der monetären Staatsfinanzierung nur dann verletzt, wenn die Ankäufe der EZB so ausgestaltet sind, dass die Marktteilnehmer hierüber Gewissheit haben.151 Das Bundesverfassungsgericht antwortet auf diese Auslegung des EuGH mit einem Urteil,152 in welches es eine ausführliche Darstellung seiner Überprüfungsmöglichkeiten des Unionsrechts am Maßstab des deutschen Grundgesetzes einbindet. Letztendlich erkennt das Bundesverfassungsgericht aber die Auslegung durch den EuGH an, auch wenn dessen mangelnde Hinterfragung der zugrunde gelegten Annahmen zur Abgrenzung der Wirtschafts- und Währungspolitik bemängelt wird.153 Sofern der vom EuGH vorgegebene Rahmen aber beachtet werde, liege kein Ultra-vires-Akt vor.154 Ein offener Konflikt zwischen den beiden Gerichten konnte durch ein kooperatives, einander zugewandtes Vorgehen und Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten verhindert werden. Zwischenzeitlich wurden weitere Verfassungsbeschwerden eingereicht,155 die 49 ebenfalls eine Maßnahme der EZB betreffen. Konkret richten sie sich gegen den Ankauf von Wertpapieren im öffentlichen Sektor durch die EZB (sogenanntes Public Sector Purchase Programme, PSPP).156 Auch in diesen Fällen wurde eine Überschreitung der Kompetenzen durch die EZB sowie eine verbotene monetäre Staatsfinanzierung gerügt, was das Bundesverfassungsgericht dazu veranlasste, dem EuGH

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_____ 147 EuGH, Rs C-62/14 – Gauweiler. 148 EuGH, Rs C-62/14 – Gauweiler, Rn 52 ff. 149 EuGH, Rs C-62/14 – Gauweiler, Rn 68 ff. 150 EuGH, Rs C-62/14 – Gauweiler, Rn 106 ff. 151 EuGH, Rs C-62/14 – Gauweiler, Rn 104, 106 f. 152 BVerfGE 142, 123 – OMT-Beschluss. 153 BVerfGE 142, 123 ff – OMT-Beschluss, Rn 182. 154 BVerfGE 142, 123 ff – OMT-Beschluss, Rn 206 f. 155 Anhängig unter BVerfG, 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16. 156 Beschluss (EU) 2015/774 der europäischen Zentralbank vom 4.3.2015 über ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten (EZB/2015/10), ABl 2015 L 121/220. Ines Härtel

II. Die föderale Kompetenzordnung in der Europäischen Union | 473

hierzu erneut Vorlagefragen zu stellen.157 Das Bundesverfassungsgericht thematisiert auch eine mögliche Verletzung der Verfassungsidentität aufgrund einer unbegrenzten Risikoteilung innerhalb des Eurosystems.158 Es sieht gewichtige Anhaltspunkte für eine Kompetenzüberschreitung der EZB darin, dass das Programm ein großes Volumen sowie eine mehr als zweijährige Laufzeit hat und dadurch eine überwiegend wirtschaftspolitische Maßnahme darstellen könnte.159 Die Kompetenzüberschreitung als Tatbestandsmerkmal ist als Hinweis auf einen möglichen Ultravires-Akt zu verstehen.160 Die Ankäufe der EZB im Rahmen des PSPP sind für Marktteilnehmer erkennbar, sodass sich die Frage der Vereinbarkeit mit den im Gauweiler-Urteil aufgestellten Kriterien stellte.161 Der EuGH gelangte in seinem Urteil vom 11. Dezember 2018162 zu dem Ergebnis, dass das PSPP nicht über das Mandat der EZB hinausgeht,163 da es in den Bereich der Währungspolitik fällt und auch keine verbotene monetäre Finanzierung darstellt.164 Nach mündlicher Verhandlung am 30. und 31. Juli 2019 steht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsbeschwerden noch aus. Eine Feststellung eines Ultra-vires-Akts ist indes nicht zu erwarten. Wahrscheinlich ist es vielmehr, dass das Bundesverfassungsgericht seinen Anspruch, ein Mitspracherecht in der rechtlichen Beurteilung des Handelns der EZB zu haben, unterstreichen wird.165 Gleichwohl scheint damit die Auseinandersetzung zwischen den beiden Gerichten bezüglich der Kompetenz(-überschreitungen) der EZB nicht abgeschlossen zu sein.166 Allerdings könnte sich jedoch in der Rechtssache Egenberger ein erster Ultra-vires-Akt in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichtes anbahnen. Im zugrunde liegenden Rechtsstreit ging es erneut um die bereits in dem anderen Fall eines katholischen Chefarztes streitig gewordene Auslegung des § 9 Abs. 2 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), seinerseits beruhend auf Art 4 II UAbs 1 der Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG. Während im Falle des Chefarztes der EuGH die durch eine Ehescheidung bedingte Kündigung für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärt wurde, urteilte der EuGH nunmehr im Falle einer Bewerbung durch die Beschwerdeführerin Egenberger beim Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung, dass es nicht

_____ 157 BVerfGE 146, 216 – PSPP-Vorlage. 158 BVerfGE 146, 216 – PSPP-Vorlage, Rn 131. 159 BVerfGE 146, 216 – PSPP-Vorlage, Rn 114. 160 Ludwigs NJW 2017, 3563 (3564). 161 BVerfGE 146, 216 – PSPP-Vorlage, Rn 78, 80 ff; Mayer NJW 2015, 1999 (2001). 162 EuGH, Rs C-493/17 – Weiss. 163 EuGH, Rs C-493/17 – Weiss, Rn 53 ff. 164 EuGH, Rs C-493/17 – Weiss, Rn 101 ff. 165 Wieland BVerfG ruft den EuGH an, Überschreitet die EZB ihre Befugnisse?, Artikel vom 15.8.2017, erschienen auf LTO (www.lto.de). 166 Ludwigs NJW 2017, 3563 (3567) unter Verweis auf eine aktuell noch unter Az 2 BvR 1685/14 anhängige Verfassungsbeschwerde die „Bankenunion“ betreffend. Ines Härtel

474 | § 6 Die Zuständigkeiten der Union

zur Voraussetzung gemacht werden dürfe, dass die Beschwerdeführerin für eine erfolgreiche Stellenbewerbung Mitglied der evangelischen Kirche sein müsse.167 In beiden Fällen hat der EuGH das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen begrenzt. In der Rechtssache Egenberger hat das Evangelische Werk für Diakonie nunmehr Verfassungsbeschwerde erhoben gegen das Urteil des Bundesarbeitsgerichtes, weil nach Ansicht der Diakonie hierin ein schwerwiegender Verstoß gegen das kirchliche Selbstbestimmungsrecht liege, wie es von Art 4 I und II GG sowie Art 140 GG i.V.m. dem als Verfassungsrecht inkorporierten Art 137 III Weimarer Reichsverfassung etabliert werde. Da nach Art 17 AEUV die Union den Status der Kirchen zu achten habe, sei dieser ein Bestandteil der indisponiblen Verfassungsidentität. Der EuGH habe diesen Aspekt verkannt, weshalb es sich um einen Ultra-vires-Akt handele. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes in dieser Sache steht noch aus.168 Erhellende Hinweise für die zu erwartenden vorgenannten Entscheidungen enthält das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 30. Juli 2019.169 Der erste Gegenstand des Urteiles betrifft die Etablierung einer unionsweit einheitlichen Bankenaufsicht nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 1024/2013 über den so genannten Single Supervisory Mechanism. Während der EuGH ohne Bezugnahme auf die primärrechtliche Vereinbarkeit mit der insoweit einschlägigen Kompetenzgrundlage des Art 127 VI AEUV entschied, dass nach der vorgenannten Verordnung die im zugrunde liegenden Fall streitige Aufsicht auch über weniger systemrelevante Banken zulässig sei, urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass Art 127 VI AEUV nur dergestalt eng ausgelegt werden dürfe, dass eine unionale Bankenaufsicht nur für besonders systemrelevante Banken zulässig sei.170 Das Bundesverfassungsgericht definiert also auf diese Weise hermeneutische Grenzen, deren Überschreitung zu einem Ultra-vires Akt führen sollen.171 Der zweite Urteilsgegenstand befasst sich mit dem durch die Verordnung (EU) Nr. 806/2014 vorgesehenen Single Resolution Mechanism, d.h. dem unionseinheitlichen Abwicklungsmechanismus für Kreditinstitute. Fraglich war dabei, ob die Binnenmarktkompetenz des Art. 114 AEUV eine hinreichende primärrechtliche Kompetenzgrundlage liefert. 172 Während der EuGH auch dies bejahte, setze das Bundesverfassungsgericht erneut hermeneutische Grenzen, indem lediglich im Falle einer restriktiven Auslegung der Aufgabenwahrnehmung ein Ultra-vires Akt nicht angenommen werden könne.173 M.a.W.

_____ 167 EuGH, Rs C-68/17 – IR gegen JQ; EuGH, Rs C-414/16 – Egenberger. 168 Siehe eingehend Klein EuR 2019, 338. 169 BVerfG, 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14; siehe hierzu: BB 2019, 1793. 170 EuGH, Rs C-450/17 P – Landeskreditbank Banden Württemberg gegen Europäische Zentralbank, Rn 37; BVerfG, 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14, Rn 174, 188. 171 BVerfG, 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14, Rn 194; siehe hierzu analytisch Häde, 37. Frankfurter Newsletter zum Recht der Europäischen Union vom 12.08.2019, S 3. 172 BVerfG, 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14, Rn 240. 173 BVerfG, 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14, Rn 246. Ines Härtel

III. Typologie der Zuständigkeiten (Kompetenzen) | 475

überschreite jedwede weitergehende Auslegung die Grenze zu einem Ultra-vires Akt.174 III. Typologie der Zuständigkeiten (Kompetenzen) III. Typologie der Zuständigkeiten (Kompetenzen) 1. Grundstruktur der Typologie Die Reichweite der Zuständigkeit der Union richtet sich danach, in welche Kompe- 50 tenzkategorie das Rechtshandeln eingeordnet wird und welchen Rahmen die jeweilige Ermächtigungsgrundlage vorgibt (vgl Art 2 AEUV). Eine Kategorisierung der Kompetenzen hat erst der Lissabon-Vertrag sichtbar gemacht. Dabei wurde in den Grundstrukturen auf die zuvor im Schrifttum entwickelte Typologie der Unionskompetenzen zurückgegriffen.175 Auch wenn das Primärrecht nunmehr ausdrücklich zwischen verschiedenen Zuständigkeitsarten unterscheidet, bedarf es für eine geordnete und logisch strukturierte Typologie auch weiterhin einer zusätzlichen rechtswissenschaftlichen Systematisierung. Die Grundnorm zur Aufteilung der Zuständigkeiten in verschiedene Arten (Art 2 II–V AEUV) differenziert zum einen übergreifend kategorial zwischen ausschließlichen und geteilten Zuständigkeiten und benennt zum anderen auch die Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen. Darüber hinaus weist sie auch sachbezogen auf die Zuständigkeiten zur Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik sowie die Zuständigkeiten zur Erarbeitung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik hin. Diese Unterscheidungen spiegeln allerdings noch keine umfassende strukturgeordnete Typologie der Kompetenzen wider. Denn einerseits differenziert das Primärrecht bei den geteilten Zuständigkeiten noch einmal zwischen unterschiedlichen Erscheinungsformen (vgl Art 4 AEUV), andererseits ist die gesonderte Aufführung der Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik und der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik kategorial zuordnungsbedürftig. Darüber hinaus kennt das Unionsrecht mit den komplementären Zuständigkeiten eine weitere Zuständigkeitsart, die in Art 2 AEUV nicht genannt ist. Unter Berücksichtigung dieses Ausgangsbefundes lassen sich aus rechtswissen- 51 schaftlicher Sicht die Zuständigkeitsarten in systematischer Weise wie folgt kategorisieren:176 Zuerst ist zwischen den beiden Grundtypen der ausschließlichen und der geteilten Zuständigkeiten der Union zu unterscheiden. Die Erscheinungsformen der geteilten Zuständigkeiten in Art 4 AEUV werden als konkurrierende und parallele Zuständigkeiten bezeichnet. Darüber hinaus wird die Kategorie „geteilte Zuständig-

_____ 174 BVerfG, 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14, Rn 265; Häde, 37. Frankfurter Newsletter zum Recht der Europäischen Union vom 12.08.2019, S 4. 175 Dazu s Trüe ZaöRV 64 (2004), 391 ff; Härtel Hdb Europäische Rechtsetzung S 67 ff, 74 f. 176 So in überzeugender Weise bei Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 2 AEUV Rn 42 f. Ines Härtel

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keiten“ als systematisierender Oberbegriff in der Weise verstanden, dass die Unterstützungszuständigkeiten gemäß Art 2 V AEUV und die koordinierende Politik nach Art 2 III AEUV ebenso unter die geteilten Zuständigkeiten fallen. Die Zuständigkeit der Union für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die vom Vertrag nicht kategorial zugeordnet wurde,177 ist als Sonderfall der geteilten Zuständigkeiten zu behandeln.

2. Ausschließliche Kompetenzen der Europäischen Union a) Funktionsweise 52 Vor dem Lissabon-Vertrag war umstritten, welche Sachgebiete und Befugnisse der Union als ausschließliche Kompetenzen zu qualifizieren sind.178 Durch die expliziten Regelungen ist dieser Streit jedoch obsolet geworden. Im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeiten darf nur die Union selbst gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen (Art 2 I AEUV). Unabhängig vom konkreten Tätigwerden der Union sind die Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht mehr rechtsetzungsbefugt. In den jeweiligen Bereichen der ausschließlichen Zuständigkeiten, die der Vertrag als solche ausweist, tritt für die Mitgliedstaaten eine Sperrwirkung ein.179 Erlässt ein Mitgliedstaat gleichwohl unberechtigterweise eine Rechtsnorm in diesem Bereich, dann ist diese Norm zwar nicht nichtig, aber unanwendbar und stellt eine Vertragsverletzung nach Art 4 III EUV dar.180 Die Einordnung einer Materie in die ausschließliche Zuständigkeit der Union hat indes auch weitere Auswirkungen. So ist das Subsidiaritätsprinzip nicht anwendbar (Art 5 III EUV) und eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten nicht zulässig (Art 20 I EUV, Art 329 I AEUV).181 Im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeiten gibt es drei Durchbrechun53 gen für ein Tätigwerden der Mitgliedstaaten.182 Zwei Ausnahmen, in denen die Mitgliedstaaten tätig werden dürfen, regelt Art 2 I AEUV, und zwar, wenn sie von der Union hierzu ermächtigt werden oder um Rechtsakte der Union durchzuführen. Art und Umfang einer Ermächtigung für die Mitgliedstaaten hat der Vertrag offengelassen.183 Eine Ermächtigung bedeutet eine Rückübertragung einer Zuständigkeit

_____ 177 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 2 AEUV Rn 43. 178 Vgl dazu Schulze/Zuleeg/Kadelbach/König § 2 Rn 19; vBogdandy/Bast/Nettesheim S 424. 179 vBogdandy/Bast/Nettesheim S 389 (424); Streinz/Ohler/Herrmann S 107. 180 Streinz/Streinz Art 2 AEUV Rn 5 und Rn 9; Streinz/Ohler/Herrmann S 107; vBogdandy/Bast/Nettesheim S 424. 181 Calliess/Ruffert/Calliess Art 3 AEUV Rn 2; Schwarze/Pelka Art 3 AEUV Rn 4. 182 Geiger/Khan/Kotzur/Kotzur Art 2 AEUV Rn 3. 183 Vgl zu möglichen Ansätzen hinsichtlich der Ausgestaltung der Ermächtigung Schaefer EuR 2008, 722 ff. Ines Härtel

III. Typologie der Zuständigkeiten (Kompetenzen) | 477

auf die Mitgliedstaaten und erfolgt durch Sekundärrechtsakt.184 Dabei stellt sich die Frage, bei welchem Regelungsgehalt eine dauerhafte Ermächtigung der Mitgliedstaaten auf eine unzulässige Änderung der primärrechtlichen Kompetenzverteilung hinausliefe.185 Die zweite Ausnahme von der Sperrwirkung besteht darin, dass die Mitgliedstaaten für die Durchführung des Unionsrechts zuständig sind. Diese Ausnahme steht im Kontext mit Art 291 I AEUV. Danach haben die Mitgliedstaaten alle erforderlichen (legislativen und exekutiven) Maßnahmen zu ergreifen, um die Rechtsakte der Union durchzuführen.186 Die dritte Ausnahme ist nicht im Vertrag geregelt, sondern vom EuGH entwickelt worden. Für die Mitgliedstaaten besteht eine inhaltlich und zeitlich eng begrenzte Reservezuständigkeit als „Sachwalter des gemeinsamen Interesses“, wenn die Union bei dringend gebotenen Maßnahmen handlungsunfähig ist.187 Der EuGH sieht eine Sachwalterschaft der Mitgliedstaaten in Notlagen der gemeinschaftlichen Rechtsetzung als gerechtfertigt an.188 Allerdings müssen die Mitgliedstaaten ihr Handeln in diesem Fall eng mit der Kommission abstimmen. Diese Rechtsprechung des EuGH zur impliziten subsidiären Zuständigkeit der Mitgliedstaaten bei Untätigkeit der Unionsorgane bleibt auch nach dem Lissabon-Vertrag anwendbar.189

b) Anwendungsbereiche Die Bereiche der ausschließlichen Zuständigkeiten der Union führt Art 3 AEUV 54 grundsätzlich abschließend190 auf. Unerwähnt bleibt allerdings die Regelung des Beamtenstatuts (vgl Art 336 AEUV), die ebenfalls eine ausschließliche Unionskompetenz darstellt.191 Als Bereiche der ausschließlichen Zuständigkeit nennt Art 3 I AEUV die Zollunion, die Festlegung der Wettbewerbsregeln, soweit diese für das Funktionieren des Binnenmarktes erforderlich sind, die Währungspolitik für die Mitgliedstaaten der Eurozone, die Erhaltung der biologischen Meeresschätze im Rahmen der gemeinsamen Fischereipolitik sowie die gemeinsame Handelspolitik. Nach Art 3 II AEUV gehört unter bestimmten Voraussetzungen ebenso der Abschluss internationaler Übereinkünfte zur ausschließlichen Zuständigkeit.

_____ 184 Schwarze/Pelka Art 2 AEUV Rn 10; Calliess/Ruffert/Calliess Art 2 AEUV Rn 16. 185 Vgl zu diesem Problemkreis Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 2 AEUV Rn 19; Streinz/ Streinz Art 2 AEUV Rn 7. 186 Schwarze/Pelka Art 2 AEUV Rn 10; Calliess/Ruffert/Ruffert Art 291 AEUV Rn 4 f. 187 Geiger/Khan/Kotzur/Kotzur Art 2 AEUV Rn 3. 188 EuGH, Rs 804/79 – Seefischerei-Erhaltungsmaßnahmen, Rn 17 f. 189 Schulze/Zuleeg/Kadelbach/König § 2 Rn 20; Schwarze/Pelka Art 2 AEUV Rn 12; Calliess/Ruffert/Calliess Art 2 AEUV Rn 9. 190 Schulze/Zuleeg/Kadelbach/König § 2 Rn 19; Streinz/Ohler/Herrmann S 107; Schwarze/Pelka Art 3 AEUV Rn 3; Geiger/Khan/Kotzur/Kotzur Art 3 AEUV Rn 1. 191 C Nowak S 120. Ines Härtel

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55

Die in Art 3 I AEUV aufgeführten Bereiche der ausschließlichen Zuständigkeit sind durch die jeweiligen Normen der Politikfelder zu definieren. So umfasst die Zollunion den freien Warenverkehr innerhalb der Union und den gemeinsamen Zolltarif (Art 3 I lit a iVm Art 28, 30 ff AEUV), der auch Teil der gemeinsamen Handelspolitik ist.192 Die „Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen 56 Wettbewerbsregeln“ ist erst mit dem Lissabon-Vertrag zur ausschließlichen Zuständigkeit der Union geworden (Art 3 I lit b AEUV). Zuvor wurde das Wettbewerbsrecht als eine parallele Zuständigkeit der Union und der Mitgliedstaaten klassifiziert.193 Dieser Kompetenzbereich ist in seiner Abgrenzung problematisch. Dies liegt zum einen daran, dass der „Binnenmarkt“ auch als Bereich der geteilten Zuständigkeit aufgeführt ist (Art 4 II lit a AEUV). Zum anderen ist umstritten, welche konkreten Regelungen der Art 101 ff AEUV (Kapitel 1 des Titels VII „Wettbewerbsregeln“) der ausschließlichen Zuständigkeit der Union zuzuordnen sind.194 Nach einer Ansicht gehören sämtliche Vorschriften des Kapitels „Wettbewerbsregeln“ zu der ausschließlichen Zuständigkeit der Union, insb auch die materiellen Vorschriften über das Kartellverbot (Art 101 AEUV) und über das Verbot des Missbrauchs marktbeherrschender Stellungen (Art 102 AEUV).195 Dem steht aber die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes entgegen, nach der europäisches und nationales Kartellrecht nebeneinander anwendbar sind.196 Diese Rechtsprechung hat bei differenzierter Betrachtung auch noch heute Geltung. So ist nach der Rechtsnatur der einschlägigen Normen (Art 101 ff AEUV) zu unterscheiden. Sofern es sich um Rechtsetzungskompetenzen (vgl Art 103, 105 III, 106 III, 108 IV und 109 AEUV) handelt, gehören diese zu den ausschließlichen Zuständigkeiten der Union, nicht aber die materiellen Verbotsvorschriften nach Art 101 und Art 102 AEUV,197 die eine Kontrollkompetenz der Union begründen. Für diese kompetentielle Differenzierung sprechen der Wortlaut des Art 3 I lit b AEUV, wonach nur die Festlegung der Wettbewerbsregelungen in die ausschließliche Kompetenz fällt, und die Definition der ausschließlichen Zuständigkeit in Art 2 I AEUV, die sich auf die Gesetzgebung und den Erlass verbindlicher Rechtsakte bezieht.198 Dementsprechend gehört zur ausschließlichen Zuständigkeit im Rahmen der Festlegung der Wettbewerbsregeln al-

_____ 192 Scharf Beiträge zum Europa- und Völkerrecht, Heft 3, 2009, http://telc.jura.uni-halle.de/sites/ default/files/telc/Heft3.pdf, 1 (14). 193 Schwarze EuZW 2004, 135 (137). 194 Vgl dazu Ludwigs ZEuS 2004, 211 (226 ff); Schwarze/Pelka Art 3 AEUV Rn 9. 195 Dougan ELRev 2003, 763; Craig ELRev 2004, 323 (328); Ludwigs ZEuS 2004, 211 (226 mwN). 196 EuGH, Rs 14/68 – Walt Wilhelm, Rn 2 ff; EuGH, verb Rs 253/78 ua – Parfums Guerlain. 197 Ludwigs ZEuS 2004, 211 (227). 198 Calliess/Ruffert/Calliess Art 3 AEUV Rn 9. Ines Härtel

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lein die dazugehörige Rechtsetzung der Union199 und deren Anwendung und Durchsetzung.200 Daraus folgt, dass europäisches und nationales Kartellrecht auch weiterhin partiell nebeneinander anwendbar sind und nicht das gesamte Wettbewerbsrecht der ausschließlichen Kompetenz der Union zugeordnet ist.201 Die ausschließliche Zuständigkeit im Bereich der Währungspolitik der Euro- 57 Staaten im Sinne des Art 3 I lit c AEUV erstreckt sich auf die grundlegenden Aufgaben des Europäischen Systems der Zentralbanken (gemäß Art 127 ff AEUV), so insb auf die Festlegung und Ausführung der Geldpolitik der Union (Art 127 II AEUV). Bei dem im Titel VIII enthaltenen Kapitel 4 über die „Besonderen Bestimmungen für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist“ (Art 136 ff AEUV) werden der Union nicht ausschließliche Zuständigkeiten übertragen, sondern die Grundlage für ergänzende Maßnahmen geschaffen.202 Die „Erhaltung der biologischen Meeresschätze im Rahmen der gemein- 58 samen Fischereipolitik“ (Art 3 I lit d AEUV) bildet einen Teilbereich der gemeinsamen Agrarpolitik (Art 38 ff AEUV) und gehörte nach der Rechtsprechung des EuGH schon vor dem Lissabon-Vertrag zu den ausschließlichen Zuständigkeiten der Union.203 Ebenso vom EuGH als ausschließliche Zuständigkeit eingeordnet wurde bereits 59 lange vor dem Lissabon-Vertrag die gemeinsame Handelspolitik,204 das heißt die handelspolitische weltweite Außenvertretung des Binnenmarktes (Art 3 I lit e, 207 I AEUV). Allerdings ist mit dem Lissabon-Vertrag der sachliche Anwendungsbereich für die gemeinsame Handelspolitik ausgedehnt worden. Neben dem Abschluss von Zoll- und Handelsabkommen für Waren unterfallen ihr nunmehr auch die Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen und für Handelsaspekte des geistigen Eigentums sowie ausländische Direktinvestitionen (vgl Art 208 I AEUV). Betroffen sind damit insb Abkommen im Rahmen der WTO wie das Allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) und das Abkommen über handelsbezogene Aspekte des geistigen Eigentums (TRIPS). Die Auswirkungen der Überführung der Materien in die ausschließliche Zuständigkeit der Union sind für die Mit-

_____ 199 Anstatt vieler Scharf Beiträge zum Europa- und Völkerrecht (Heft 3) 2009, http://telc.jura.unihalle.de/sites/default/files/telc/Heft3.pdf, 1 (15) mwN. 200 Schwarze EuZW 2004, 135 (137); Ludwigs ZEuS 2004, 211 (227). 201 Ludwigs ZEuS 2004, 211 (227). 202 Vgl übergreifend Calliess/Ruffert/Calliess Art 3 AEUV Rn 11 f; speziell mit Blick auf Art 136 AEUV Häde JZ 2011, 333 (336); speziell mit Blick auf Art 138 I AEUV Grabitz/Hilf/Nettesheim/ Nettesheim Art 3 AEUV Rn 17; zum Streitstand s a Schwarze/Pelka Art 3 AEUV Rn 12. 203 Zur Feststellung als ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft s EuGH, Rs 804/79 – Seefischerei-Erhaltungsmaßnahmen, Rn 17. 204 EuGH, Gutachten 1/75 – Lokale Kosten, Rn 32; Rs 41/76 – Donckerwolke, Rn 32; Rs 174/84 – Bulk Oil, Rn 31; Gutachten 1/94 – WTO, Rn 22 ff; Rs C-70/94 – Werner, Rn 12; Rs C-83/94 – Leifer ua, Rn 12. Ines Härtel

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gliedstaaten von besonderer Tragweite. So entfällt in diesen Bereichen die Grundlage für die bisherige Rechtsprechung des EuGH zu den gemischten Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten. Das Bundesverfassungsgericht hat den weitreichenden Verlust der mitgliedstaatlichen Kompetenz zum Abschluss internationaler Handelsabkommen erheblich kritisiert,205 da von internationalen Handelsabkommen „wesentliche Umgestaltungen der inneren Ordnung der Mitgliedstaaten ausgehen können“ und durch die „Ausschaltung der gesetzgeberischen Mitwirkung von Bundestag und Bundesrat nach Art 59 II GG“ die Mitgliedschaft auf einen „nur formellen Status reduziert“ werden könnte. „Jedenfalls kann der Vertrag von Lissabon die Mitgliedstaaten nicht zur Aufgabe ihres Mitgliedsstatus zwingen.“206 Die Ermittlung des Umfangs der ausschließlichen Zuständigkeit zum Abschluss 60 internationaler Übereinkünfte im Rahmen des Art 3 II AEUV bereitet erhebliche Auslegungsprobleme, da der Wortlaut dieser Rechtsnorm teilweise unverständlich und das systematische Verhältnis zu der Kompetenzgrundlage für den Abschluss internationaler Abkommen nach Art 216 AEUV von Komplexität geprägt ist. Für die Auslegung der beiden Rechtsnormen der Art 3 II und 216 AEUV ist die bereits zuvor ergangene Judikatur des EuGH im Lichte der neuen Rechtslage heranzuziehen,207 denn diese sollte mit dem Lissabon-Vertrag kodifiziert werden. Eine Gegenüberstellung von Art 3 II AEUV und Art 216 I AEUV zeigt, dass beide Normen zum Teil gleiche, ähnliche, aber auch divergierende Formulierungen enthalten. Für das systematische Grundverständnis ist zunächst entscheidend, dass 61 Art 216 I AEUV die Rechtsgrundlage für den Abschluss von internationalen Übereinkünften (materielle Vertragsschlusskompetenz im Außenbereich) bildet208 und Art 3 II AEUV die Frage regelt, ob der Vertragsabschluss eine ausschließliche Zuständigkeit der Union begründet. Die Unterscheidung ist deshalb so bedeutsam, weil der Abschluss internationaler Übereinkünfte auf der Grundlage des Art 216 AEUV nicht von vornherein in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fällt, sondern eine geteilte Zuständigkeit darstellen kann. Dementsprechend traf auch der EuGH in seiner bisherigen Judikatur zur Vertragsschlusskompetenz der Union im Außenbereich differenzierte Aussagen zur Frage, ob die Union die Kompetenz überhaupt besitzt und wenn ja, ob diese allein der Union als ausschließliche Kompetenz zukommt. Für die ausschließliche Zuständigkeit sieht Art 3 II AEUV drei Varianten vor.209 62 Nach der ersten Variante ist die Union für den Abschluss internationaler Überein-

_____ 205 BVerfG, 2 BvE 2, 5/08, BVerfGE 123, 267 (418 ff) – Lissabon, mit Gegenkritik Calliess/Ruffert/ Calliess Art 3 AEUV Rn 16, ihm folgend Schwarze/Pelka Art 3 AEUV Rn 16. 206 BVerfG, 2 BvE 2, 5/08, BVerfGE 123, 267 (419) – Lissabon. 207 Hierzu s Pechstein FS Eckart Klein, 2013, S 619 ff; Heuck JA 2013, 199 ff; Streinz/Mögele Art 3 AEUV Rn 13 ff; Hummer/Obwexer/Vedder S 275 f. 208 Diese wird mit dem Lissabon-Vertrag erstmals explizit geregelt. 209 Zum Folgenden s insb die instruktive Darstellung bei Heuck JA 2013, 199 (203 ff). Ines Härtel

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künfte ausschließlich zuständig, wenn der Abschluss einer solchen Übereinkunft in einem Gesetzgebungsakt vorgesehen ist. Mit dieser Variante wird das WTO-Gutachten des EuGH210 in Bezug genommen. Für die Abschlusskompetenz nach Art 216 I AEUV ist hingegen nicht erforderlich, dass der Vertragsschluss in einem Gesetzgebungsakt vorgesehen ist, ausreichend ist vielmehr ein verbindlicher Rechtsakt ohne Gesetzescharakter. Nach der zweiten Variante von Art 3 II AEUV liegt eine ausschließliche Zu- 63 ständigkeit vor, wenn der Abschluss einer internationalen Übereinkunft durch die Union „notwendig ist, damit sie ihre interne Zuständigkeit ausüben kann“. Auch diese Norm wurde auf das WTO-Gutachten211 gestützt. Dabei verlangt der EuGH für die Notwendigkeit entweder eine „untrennbare Verbindung“ zwischen der Innenund Außenkompetenz der Union212 oder dass nur durch den Vertragsschluss durch die Union die „praktische Wirksamkeit“ der Innenkompetenz entfaltet werden kann.213 Geringer ist die Hürde für die Vertragsabschlusskompetenz gemäß Art 216 I Var 2 AEUV, wonach der Abschluss zur Verwirklichung eines Unionsziels erforderlich ist. Im Gegensatz zur Notwendigkeit im Sinne des Art 3 II Var 2 AEUV ist für die Erforderlichkeit im Sinne des Art 216 I Var 2 AEUV ausreichend, wenn durch den Vertragsschluss durch die Union die Unionsziele einfacher und schneller erreicht werden können.214 Nach der dritten Variante von Art 3 II AEUV besteht eine ausschließliche Zu- 64 ständigkeit der Union, „soweit er [der Abschluss einer internationalen Übereinkunft] gemeinsame Regeln beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern kann“. Die Formulierung dieser Regelung ist nicht gelungen und würde bei wörtlicher Auslegung ins Leere laufen.215 Einen Sinn ergibt sie erst bei einer korrigierenden Interpretation im Lichte der AETR-Judikatur.216 Danach kommt es für die ausschließliche Zuständigkeit der Union nicht wie im Wortlaut der Norm darauf an, dass „durch den Abschluss einer Übereinkunft“ durch die Union, sondern durch Abkommen der Mitgliedstaaten das Unionsrecht beeinträchtigt wird. Diese Variante der ausschließlichen Zuständigkeit hatte der EuGH bereits in seiner AETR-Rechtsprechung217 anerkannt und mit dem Prinzip der Unionstreue218 begründet, wonach die Mitgliedstaa-

_____ 210 EuGH, Gutachten 1/94 – WTO, Rn 95. 211 EuGH, Gutachten 1/94 – WTO, Rn 85. 212 EuGH, Gutachten 1/94 – WTO, Rn 86. 213 EuGH, Gutachten 1/94 – WTO, Rn 100. 214 Vgl Heuck JA 2013, 199 (201). 215 So zu Recht Streinz/Mögele Art 3 AEUV Rn 18. 216 Hummer/Obwexer/Vedder S 276. 217 EuGH, Rs 22/70 – AETR, Rn 20, 22, welche nach wie vor ausdrücklich vom EuGH herangezogen wird, vgl EuGH Rs C-114/12 – Kommission / Rat, Rn 66 f; zur Folgerechtsprechung diesbezüglich siehe EuGH, Gutachten 1/94 – WTO, Rn 77; Gutachten 2/92 – OECD, Rn 31. 218 Heute nach Art 4 III AEUV. Ines Härtel

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ten alle Maßnahmen unterlassen, die die Verwirklichung der Ziele des Vertrags gefährden könnten. Dies könnte dann der Fall sein, wenn der Abschluss eines Abkommens durch die Mitgliedstaaten mit der Einheit des Marktes und der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts unvereinbar ist.219 Mit der einschränkenden Voraussetzung „soweit“ wird klargestellt, dass nur die Bestimmungen eines internationalen Abkommens eine ausschließliche Zuständigkeit begründen, die das Unionsrecht beeinträchtigen können. Soweit Bestimmungen dieses Potenzial nicht aufweisen, fallen sie unter die geteilte Zuständigkeit der Union. Für die Vertragsschlusskompetenz nach Art 216 I Var 4 AEUV ist hingegen nicht erforderlich, dass alle Bereiche des Abkommens das Unionsrecht beeinträchtigen können, sondern es reicht aus, wenn dies nur einige tun.220

3. Geteilte Kompetenzen a) Konkurrierende und parallele Kompetenzen 65 Die geteilten Zuständigkeiten der Union bilden den Regelfall. Dies ergibt sich aus Art 4 I AEUV als Auffangtatbestand gegenüber den Anwendungsbereichen der ausschließlichen Zuständigkeiten (Art 3 AEUV) und der Unterstützungszuständigkeiten (Art 6 AEUV).221 Bei der Kategorie „geteilte Zuständigkeiten“ können die Union und die Mitgliedstaaten gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen (Art 2 II 1 AEUV). Sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit ausübt, entsteht für die Mitgliedstaaten eine Sperrwirkung (vgl Art 2 II 2 AEUV). Entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht wird dadurch unanwendbar.222 Dabei stellt der einzige Artikel des Protokolls (Nr 25) über die Ausübung der geteilten Zuständigkeiten223 klar, dass sich bei Ausübung der Zuständigkeit durch die Union diese „nur auf die durch den entsprechenden Rechtsakt der Union geregelten Elemente und nicht auf den gesamten Bereich“ erstreckt. Demzufolge ist die Reichweite der Sperrwirkung für die Mitgliedstaaten stets im Einzelfall durch Auslegung des konkreten Regelungsgehalts des Unionsrechtsaktes zu ermitteln.224 Beabsichtigt ein Mitgliedstaat ein Gesetz zu erlassen oder gibt es bereits ein Gesetz, das in den Anwendungsbereich der geteilten Zuständigkeiten fällt, so ist genau zu prüfen, ob und inwieweit die Union die jeweilige Materie geregelt hat. Es stellt sich für die Sperrwirkung die Frage, welche Elemente/Aspekte die Union in dem jeweiligen Sachbereich geregelt

_____ 219 Vgl hierzu EuGH, Gutachten 1/03 – Lugano Convention, Rn 112 mit Verweis auf EuGH, Rs 22/70 – AETR, Rn 30 f. 220 Streinz/Mögele Art 216 AEUV Rn 35; Heuck JA 2013, 199 (202). 221 Streinz Europarecht, Rn 157. 222 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 2 AEUV Rn 27. 223 Protokoll (Nr 25) über die Ausübung der geteilten Zuständigkeiten, ABl 2016 C 202/306. 224 Vgl hierzu auch Weber EuZW 2008, 7 (12); Calliess/Ruffert/Calliess Art 2 AEUV Rn 15. Ines Härtel

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hat, ob die Union den betreffenden Gegenstand bzw den gesamten Bereich möglicherweise sogar abschließend geregelt hat oder nur einzelne Elemente und damit vielmehr Regelungslücken belässt. Der Unionsrechtsakt entfaltet für die Mitgliedstaaten selbstverständlich nur in dem Umfang rechtliche Sperrwirkung, soweit der Unionsakt auch von der jeweiligen einschlägigen Rechtsgrundlage abgedeckt ist. Die Sperrwirkung entfällt wieder und die Mitgliedstaaten können erneut ihre 66 Zuständigkeit wahrnehmen, sofern und soweit die Union entschieden hat, ihre Zuständigkeit nicht mehr auszuüben (Art 2 II 3 AEUV). Die dem Vertrag von Lissabon beigefügte Erklärung Nr 18 der Regierungskonferenz „zur Abgrenzung der Zuständigkeiten“225 konkretisiert die Voraussetzungen für eine solche Entsperrung. Diese tritt ein, „wenn die zuständigen Organe der Union beschließen, einen Gesetzgebungsakt aufzuheben, insb um die ständige Einhaltung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit besser sicherzustellen“. Hierzu kann der Rat die Kommission gemäß Art 241 AEUV auffordern, Vorschläge für die Aufhebung eines Gesetzgebungsakts zu unterbreiten. Aufgrund der Sperrwirkung ist es vorzugswürdig, diese Erscheinungsform der 67 geteilten Zuständigkeiten als „konkurrierende Kompetenz“ zu bezeichnen, um sie auch von der zweiten Erscheinungsform der geteilten Zuständigkeiten abzugrenzen, der diese Sperrwirkung nicht zukommt. So bestimmen Art 4 III und IV AEUV, dass für die dort genannten Bereiche die Ausübung dieser Unionszuständigkeit die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, ihre Zuständigkeiten auszuüben. Union und Mitgliedstaaten können hier nebeneinander Recht setzen, sie verfügen also über „parallele Zuständigkeiten,“.226 Auch wenn bei den parallelen Zuständigkeiten keine Sperrwirkung für die Mitgliedstaaten besteht, so kann auch in diesen Bereichen über den allgemeinen Vorrang des Unionsrechts das mitgliedstaatliche Recht unanwendbar werden. Zugleich haben die Mitgliedstaaten das Gebot der gegenseitigen Loyalität zu beachten und dürfen deshalb keine Maßnahmen ergreifen, mit denen die einheitliche und gleiche Wirkung des Unionsrechts beeinträchtigt wird.227 Die parallelen Zuständigkeiten weisen eine gewisse Nähe zu den Ergänzungs-, Koordinierungs- und Unterstützungskompetenzen (Art 2 V, Art 6 AEUV) auf, unterscheiden sich aber von ihnen darin, dass für sie kein Harmonisierungsverbot besteht (wie nach Art 2 V UAbs 2 AEUV). Entsprechend dem Ausnahmecharakter der parallelen Zuständigkeiten sind 68 auch die Anwendungsbereiche dieser Kompetenzkategorie enger gezogen als der für

_____ 225 ABl 2016 C 202/344. 226 Für den Begriff parallele Zuständigkeiten plädiert die überwiegende Ansicht im Schrifttum, s zB Vedder/Heintschel vHeinegg/Vedder Art 4 AEUV Rn 7; Geiger/Khan/Kotzur/Kotzur Art 4 AEUV Rn 4; Streinz Rn 158; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 2 AEUV Rn 32; Calliess/Ruffert/Calliess Art 4 AEUV Rn 1; Lenz/Borchardt/Lenski Art 4 AEUV Rn 20. 227 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 2 AEUV Rn 33. Ines Härtel

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die konkurrierenden Zuständigkeiten. Zudem ist der Katalog für die konkurrierenden Zuständigkeiten gemäß Art 4 II AEUV nicht abschließender Natur. Als konkurrierende Zuständigkeit ist zum Beispiel auch die Flexibilitätsklausel des Art 352 AEUV ausgestaltet. Über die konkurrierende Zuständigkeit verfügt die Union in elf Hauptbereichen (vgl Art 4 II lit a bis k AEUV), die nachfolgend im Einzelnen behandelt werden (Rn 70–80). Der „Binnenmarkt“ (Art 4 II lit a AEUV) umfasst nach der Definition des Art 26 II AEUV „einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist“. Dementsprechend erstreckt sich die Zuständigkeit (als Rechtsetzungskompetenz) für den Binnenmarkt auf die allgemeinen Binnenmarktleitlinien (Art 26 f AEUV), die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art 46, 48 AEUV), die Niederlassungsfreiheit (Art 50, 52 f AEUV), die Dienstleistungsfreiheit (Art 56, 59 f AEUV), die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit (Art 64 ff AEUV) und die Binnenmarktharmonisierungskompetenz gemäß Art 114 AEUV (sowie Art 115 bis 118 AEUV).228 Bei der Inanspruchnahme der breit angelegten Binnenmarktkompetenz gemäß Art 114 AEUV kann es zu Abgrenzungsproblemen zu anderen Kompetenzen kommen, die vor allem dann praktisch relevant sind, wenn im Rahmen der Zuständigkeiten Harmonisierungsverbote bestehen (wie zB bei der Unterstützungszuständigkeit zum Gesundheitsschutz, vgl Art 2 V, Art 6 AEUV). Die Zuständigkeit zur „Sozialpolitik“ (Art 4 II lit b AEUV) wird mit dem Hinweis „hinsichtlich der in diesem Vertrag genannten Aspekte“ (also nach Art 151 ff AEUV) eingeschränkt. Damit wird klargestellt, dass mit der Aufnahme der Sozialpolitik in den Katalog der geteilten Zuständigkeiten die Kompetenz der Union in diesem Bereich nicht ausgedehnt wird und so auch weiterhin eine allgemeine sozialpolitische Zuständigkeit der Union ausgeschlossen ist. 229 Gewisse Schwierigkeiten kann es bereiten, die geteilte Zuständigkeit für die Sozialpolitik im Sinne von Art 4 II lit b AEUV von der Zuständigkeit der Union zur „Koordinierung der Sozialpolitik der Mitgliedstaaten“ nach Art 5 III AEUV abzugrenzen. Der „wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalt“ (Art 4 II lit c AEUV) bezieht sich auf die Regional- und Strukturpolitik (Art 174 bis 178 AEUV). Die „Landwirtschaft und Fischerei“ (Art 38 ff AEUV) mit Ausnahme der ausschließlichen Kompetenz für die Erhaltung der biologischen Meeresschätze (Art 4 II lit d AEUV) gehört nun explizit zu den geteilten Zuständigkeiten. Mit dieser Regelung ist nunmehr geklärt worden, dass die Agrarpolitik keine ausschließliche Zuständigkeit der Union darstellt, wie es teilweise vor dem Lissabon-Vertrag noch ver-

_____ 228 Lenz/Borchardt/Lenski Art 4 AEUV Rn 7. 229 Vgl CONV 724/03, S 74. Ines Härtel

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treten wurde.230 Auch dieser Bereich der geteilten Zuständigkeiten löst vielseitige Fragen der Abgrenzung zu anderen Kompetenzbereichen aus. Dies liegt vor allem daran, dass die agrarpolitischen Rahmenbedingungen der mittlerweile „multifunktionalen Landwirtschaft“ in der Europäischen Union nicht nur in den Anwendungsbereich der Gemeinsamen Agrarpolitik fallen, sondern auch andere Politikfelder der Union berühren.231 Der Politikbereich „Umweltschutz“ (Art 4 II lit e AEUV) ist mit Blick auf seine Kompetenznormen in den Art 191 bis 193 AEUV geregelt. Aufgrund der Querschnittsverpflichtung der Union (gemäß Art 11, Art 114 III AEUV, Art 37 GRCh) wirkt der Umweltschutz in Kompetenznormen anderer Politikbereiche hinein, sofern eine Umweltrelevanz besteht. Was die Gesetzgebungskompetenz der Union zum „Verbraucherschutz“ angeht (Art 4 II lit f AEUV), bezieht sich diese gemäß Art 169 III iVm II lit b AEUV auf „Maßnahmen zur Unterstützung, Ergänzung und Überwachung der Politik der Mitgliedstaaten“. Auch wenn hier Maßnahmen zur Unterstützung und Ergänzung in Bezug genommen werden, handelt es sich um eine geteilte Zuständigkeit in Form der konkurrierenden Kompetenz der Union im Sinne des Art 2 II AEUV und nicht in Form der Unterstützungszuständigkeit im Sinne des Art 2 V AEUV, für die ein Harmonisierungsverbot besteht. Wie für den Umweltschutz besteht auch für den Verbraucherschutz eine Querschnittsklausel (Art 12, Art 114 III AEUV, Art 38 GRCh), wodurch der Verbraucherschutz in andere Politikfelder hineinwirkt. Die Gesetzgebungskompetenz im Rahmen der gemeinsamen Politik zum „Verkehr“ gem Art 4 II lit g AEUV (Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehr) regelt Art 91 I AEUV. Für die Unionsgesetzgebung zu den „transeuropäischen Netzen“ in den Bereichen der Verkehrs-, Telekommunikations- und Energieinfrastruktur (Art 4 II lit h AEUV) sind verschiedene Handlungsinstrumente vorgesehen, wie etwa Leitlinien und Vorhaben von gemeinsamem Interesse (vgl Art 170 bis 172 AEUV). Die „Energiepolitik“ (Art 4 II lit i AEUV) mit der dazugehörigen expliziten Gesetzgebungskompetenz (Art 194 AEUV) ist erst mit dem Lissabon-Vertrag eingeführt worden. Zuvor wurden die Energie-Rechtsakte auf andere Kompetenznormen gestützt, insb auf die Wettbewerbs-, Umwelt-, Binnenmarktkompetenzen und die Flexibilitätsklausel (Abrundungskompetenz Art 308 EGV, heute Art 352 AEUV).232 Der neue Energieartikel stellt nicht nur die Unionskompetenz klar, sondern zieht für diese auch Grenzen. So ist von der Unionsgesetzgebung „das Recht eines Mitgliedstaats, die Bedingungen für die Nutzung seiner Energieressourcen, seine Wahl zwi-

_____ 230 Härtel Hdb Europäische Rechtsetzung S 60 f mwN. 231 Ruffert EnzEuR 5/Härtel S 423 f; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe Art 38 AEUV Rn 37 ff. 232 Ausf hierzu s Schulze-Fielitz/Müller/Kahl S 21 ff; Schulenberg S 1 ff; Hackländer S 1 ff; Nettesheim JZ 2010, 19 ff. Ines Härtel

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schen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung zu bestimmen“ ausgeklammert (Art 194 II UAbs 2 AEUV).233 Der „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (Art 4 II lit j AEUV) 79 ist in den Art 67 bis 89 AEUV näher geregelt. Er umfasst die Politik im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung (Art 77 bis 80 AEUV), die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen (Art 81 AEUV) und in Strafsachen (Art 82 bis 86 AEUV) und die polizeiliche Zusammenarbeit (Art 87 bis 89 AEUV).234 Dieser Regelungskomplex ist durch den Lissabon-Vertrag erheblich reformiert worden. Während dieser vorher auf den EGV (1. Säule) und den EUV aF (3. Säule) verteilt war, wurde er nunmehr zusammengeführt und in Bezug auf seinen intergouvernementalen Bereich „vergemeinschaftet“.235 Des Weiteren wurden nicht nur Kompetenzbestände klargestellt, sondern auch erweitert. Ausgedehnt wurden die Unionszuständigkeiten zB mit Blick auf ein integriertes Grenzschutzsystem an den Außengrenzen (Art 77 I lit c, II lit d AEUV) und ein Asylstatut von Drittstaatsangehörigen (Art 78 II lit a AEUV). Allerdings werden hier auch mitgliedstaatliche Kompetenzen explizit gesichert – so der Schutz der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit (Art 72 AEUV) und „das Recht der Mitgliedstaaten, festzulegen, wie viele Drittstaatsangehörige aus Drittländern in ihr Hoheitsgebiet einreisen dürfen, um dort als Arbeitnehmer oder Selbstständige Arbeit zu suchen“ (Art 79 V AEUV). Darüber hinaus wurden auch die Kompetenzen der Union im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen erheblich erweitert und zwar im Verfahrensbereich (Art 82 II lit a bis d AEUV), im materiellen Bereich (Art 83 I AEUV) und im Exekutivbereich mit der möglichen Einführung einer Europäischen Staatsanwaltschaft (Art 86 AEUV). Das Bundesverfassungsgericht fordert in seinem Lissabon-Urteil eine strikte sowie enge Auslegung der Kompetenzgrundlagen für das Straf- und Strafverfahrensrecht vor dem Hintergrund, dass es sich hier um eine „besonders sensible demokratische Entscheidung über das rechtsethische Minimum“ handelt.236 Nicht die Gesundheitspolitik im Ganzen wird von der geteilten Zuständigkeit er80 fasst, sondern die „gemeinsamen Sicherheitsanliegen im Bereich der öffentlichen Gesundheit“ (Art 4 II lit k AEUV). Die Gesetzgebungskompetenz ergibt sich hierfür aus Art 168 IV AEUV. Danach ist die Union ermächtigt, Maßnahmen zur Festlegung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Organe und Substanzen menschlichen Ursprungs (lit a) und für Arzneimittel und Medizinprodukte (lit c) zu erlassen sowie Maßnahmen in den Bereichen Veterinärwesen und Pflanzenschutz, die unmittelbar den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung zum Ziel haben

_____ 233 234 235 236

Unbeschadet bleibt die Rechtsetzungskompetenz für diese Bereiche nach Art 192 II AEUV. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 4 AEUV Rn 21 ff. Streinz/Streinz Art 4 AEUV Rn 10; Calliess/Ruffert/Calliess Art 4 AEUV Rn 18. BVerfGE 123, 267 (406 ff, 410 ff, 418 ff) – Lissabon. Ines Härtel

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(lit b).237 Im Übrigen besteht in der Gesundheitspolitik lediglich eine Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungskompetenz (Art 6 lit a AEUV). Für die parallelen Kompetenzen als zweite Unterkategorie der geteilten Zu- 81 ständigkeiten der Union sehen Art 4 III und IV AEUV folgende spezielle Anwendungsbereiche vor: die Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt238 (Art 179 ff AEUV) sowie die Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe (Art 208 ff AEUV, Art 214 AEUV).

b) Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungskompetenzen der Union Die besondere Kategorie der „Unterstützung-, Koordinierungs- und Ergän- 82 zungskompetenzen“ der Union (Art 2 V, Art 6 AEUV) kennzeichnet sich vor allem durch zwei Merkmale. Zum einen ist sie durch ihre Akzessorietät zu mitgliedstaatlichem Handeln geprägt. Voraussetzung für die Ausübung dieser Zuständigkeit ist, dass ein Handeln der Mitgliedstaaten vorliegt, zu dem die Union einen „Beitrag“ (in Form der Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung) leisten kann. Bei dem für den Unionsbeitrag anzuknüpfenden Handeln der Mitgliedstaaten kann es sich im föderalen System um Tätigkeiten auf verschiedenen Rechtsebenen handeln. Dabei ist eine mitgliedstaatliche Tätigkeit auf einer Rechtsebene ausreichend, sei es auf der Ebene des Zentralstaates, der Gliedstaaten, der Regionen oder der Kommunen.239 Für die Anknüpfung eines Beitrages der Union (im Rahmen der Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungskompetenz) muss allerdings ein europäisches Interesse gegeben sein.240 Der Akzessorietät dieser Zuständigkeitsart ist zugleich immanent, dass die pri- 83 märe Rechtsetzungsbefugnis241 bei den Mitgliedstaaten liegt und diese nicht durch die Unionskompetenz verdrängt wird. Auch bei den parallelen Kompetenzen (als Unterkategorie der geteilten Zuständigkeiten) bestehen die Zuständigkeit der Union und der Mitgliedstaaten nebeneinander, allerdings ist hier die Ausübung der Unionszuständigkeit nicht von einem Tätigwerden der Mitgliedstaaten abhängig. Das zweite wesentliche Merkmal der „Unterstützungs-, Koordinierungs- und Er- 84 gänzungskompetenzen“ ist das für sie bestehende Harmonisierungsverbot gemäß Art 2 V UAbs 2 AEUV: „Die verbindlichen Rechtsakte der Union […] dürfen keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten beinhalten.“ Aufgrund dieses Merkmals ist die Abgrenzung zu anderen Kompetenzen, die eine Harmonisie-

_____ 237 Die Maßnahmen gemäß Art 168 IV lit b AEUV sind von anderen verbraucherschützenden Maßnahmen im Agrarbereich abzugrenzen. 238 Die Raumfahrtspolitik ist durch den Lissabon-Vertrag aufgenommen worden (Art 189 AEUV). 239 Streinz/Streinz Art 6 AEUV Rn 2; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 6 AEUV Rn 5. 240 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 6 AEUV Rn 5. 241 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 6 AEUV Rn 3. Ines Härtel

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rung zulassen – wie vor allem die Binnenmarktkompetenz nach Art 114 AEUV –, besonders praktisch relevant. Die drei Formen der besonderen Zuständigkeitsart „Unterstützungs-, Koordinie85 rungs- und Ergänzungsmaßnahmen“ sind im Primärrecht nicht definiert und lassen sich auch nur allgemein umreißen. Für die Unterstützung ist charakteristisch, dass die Maßnahme von den Mitgliedstaaten gestaltet und von der Union gefördert wird,242 wie zB durch die finanzielle Begleitung. Bei der Koordinierung werden Handlungen der Mitgliedstaaten abgestimmt, wofür die Union aber eine entsprechende Gestaltungsmacht besitzen muss. Die Ergänzung muss im Unterschied zur Unterstützung keine (finanzielle) Förderung enthalten, sondern kann durch rechtliche Begleitung mitgliedstaatlicher Maßnahmen diese vervollständigen bzw forcieren. Der Versuch einer Beschreibung zeigt zugleich, dass zwischen den Begriffen Unterstützung und Ergänzung keine trennscharfe Unterscheidung getroffen werden, sondern lediglich festgehalten werden kann, dass der Begriff der Ergänzung weiter gefasst ist als der der Unterstützung. Die Anwendungsbereiche der Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergän86 zungskompetenzen erstrecken sich gemäß Art 6 AEUV auf sieben Kompetenznormen: a) Schutz und Verbesserung der menschlichen Gesundheit (Art 168 AEUV), b) Industrie (Art 173 AEUV), c) Kultur (Art 167 AEUV), d) Tourismus (Art 195 AEUV), e) allgemeine und berufliche Bildung, Jugend und Sport (Art 165 f AEUV), f) Katastrophenschutz (Art 196 AEUV), g) Verwaltungszusammenarbeit (Art 197 AEUV). 87 Gemäß dem argumentum a maiore ad minus kann die Union darüber hinaus Un-

terstützung-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen auch in den Anwendungsfeldern weitergreifender Zuständigkeitsarten ergreifen,243 wie in denjenigen Bereichen, in denen der Union die ausschließliche Zuständigkeit oder die geteilte Zuständigkeit in Form der konkurrierenden und parallelen Kompetenzen zukommt. Da bei dieser besonderen Zuständigkeit ua von Koordinierungsmaßnahmen die 88 Rede ist, stellt sich die Frage, ob ein Zusammenhang mit der „offenen Koordinierungsmethode“ (OMK)244 besteht und wie diese Methode in das Spektrum der Zuständigkeiten der Union einzuordnen ist. Die OMK ist ein rechtlich unverbindliches

_____ 242 Streinz/Streinz Art 6 AEUV Rn 4. 243 Vgl Schwarze/Pelka Art 6 AEUV Rn 2. 244 Diese wurde vom Europäischen Rat von Lissabon im März 2000 eingeführt (Europäischer Rat von Lissabon, 23./24.3.2000, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, BullEU 3/2000, Ziff I.5.5.7). Zur Begriffsbestimmung s zB Bergmann/Scherb S 706 ff; Höchstetter S 1 ff. Ines Härtel

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und flexibles Steuerungsinstrument für die Zusammenarbeit der Union mit den Mitgliedstaaten. Vor allem in Bereichen, in denen die Union keine Zuständigkeit hat, aber hierfür Leitlinien und Ziele aufstellt, sollen die Mitgliedstaaten diesbezüglich nationale Politiken schrittweise entwickeln und gegenseitig anpassen.245 Mit der OMK werden Unionsverhältnisse im weitesten Sinne mittelbar durch die Mitgliedstaaten gestaltet.246 Die Koordinierung soll durch Festlegung von Leitlinien, gemeinsamen Zielen, Strategien, Aktionsplänen durch die Union und deren Umsetzung durch die Mitgliedstaaten erfolgen, wobei diese sich dabei gegenseitig überwachen sollen („peer review“).247 Die OMK selbst stellt keine Kompetenz der Union dar. Es handelt sich vielmehr um ein Instrument der „weichen Politiksteuerung“.248 Die Umsetzung erfolgt durch „Ermutigung der Mitgliedstaaten“249 ohne Zwangsmaßnahmen. Dementsprechend kann die Nichteinhaltung der Ziele etc nicht als unionswidrig angesehen werden.250 Durch politische Selbstbindung und den „peer review“ kann aber faktischer Handlungsdruck erzeugt werden.251 Die Gefahr dabei ist eine „schleichende Harmonisierung“ in Bereichen, in denen die Union über keine Kompetenz verfügt.252 Auch wird nicht zuletzt deshalb ein Spannungsverhältnis zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung moniert.253 Insb der Bundesrat hat gefordert, die OMK auf Bereiche zu begrenzen, in denen der EU auch Kompetenzen zustehen.254 Im Verfassungskonvent wurde darüber diskutiert, ob und inwiefern für die OMK ein primärrechtlicher Rahmen geschaffen werden sollte.255 Im Ergebnis wurde entschieden, die OMK nicht allgemein, sondern nur für einige Spezialbereiche zu regeln.256 So gibt es nunmehr Sonderbestimmungen als Verfahrensvorgaben für die OMK, die jedoch die OMK nicht namentlich nennen:257

_____ 245 Vgl C Nowak S 123; Bodewig/Voß EuR 2003, 310 (322); Oppermann/Classen/Nettesheim S 135. 246 Bodewig/Voß EuR 2003, 310 (326). 247 Bodewig/Voß EuR 2003, 310 (311, 320). 248 C Nowak S 123. 249 Bodewig/Voß EuR 2003, 310 (320). 250 Bodewig/Voß EuR 2003, 310 (322). 251 Von der Kommission durchaus gewünscht, vgl Bodewig/Voß EuR 2003, 310 (325); Streinz/ Ohler/Herrmann S 109. 252 Bodewig/Voß EuR 2003, 310 (Überschrift, 323 f). 253 Da es sich aber um eine faktische und nicht um eine rechtliche Bindung handele, werde das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nicht berührt (Streinz/Ohler/Herrmann S 110; Bodewig/Voß EuR 2003, 310 [322]; Oppermann/Classen/Nettesheim S 136). 254 BR-Drs 274/00; BR-Drs 600/01; Bodewig/Voß EuR 2003, 310 (324). 255 CONV 357/02, Schlussbericht der AG VI „Ordnungspolitik“, S 5; CONV 548/03, Synthesebericht über die Plenartagung am 6./7.2003, S 6. 256 CONV 548/03, Synthesebericht über die Plenartagung am 6./7.2003, S 5. 257 C Nowak S 124; Oppermann/Classen/Nettesheim S 135. Ines Härtel

490 | § 6 Die Zuständigkeiten der Union





im Bereich der Koordinierungszuständigkeiten gemäß Art 6 AEUV für die Gesundheitspolitik (Art 168 III UAbs 2 AEUV) und für die Industriepolitik (Art 173 II AEUV) sowie im Bereich der besonderen Koordinierungszuständigkeiten gemäß Art 5 III AEUV für die Beschäftigungspolitik (Art 148 AEUV),258 aber auch im Bereich der geteilten Zuständigkeiten für die Sozialpolitik (Art 156 I UAbs 2 AEUV)259 als Form der konkurrierenden Zuständigkeit und für die Bereiche Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt (Art 168 II UAbs 2 AEUV) als Form der parallelen Zuständigkeit.

89 Die jeweiligen Vorschriften zur OMK bestimmen, dass die Mitgliedstaaten im Be-

nehmen/in Verbindung mit der Kommission ihre Politiken untereinander koordinieren und die Kommission „in enger Verbindung mit den Mitgliedstaaten alle Initiativen ergreifen [kann], die dieser Koordinierung förderlich sind, insb Initiativen, die darauf abzielen, Leitlinien und Indikatoren festzulegen, den Austausch bewährter Verfahren durchzuführen und die erforderlichen Elemente für eine regelmäßige Überwachung und Bewertung auszuarbeiten.“ Das Europäische Parlament ist in vollem Umfang zu unterrichten. Diese Spezialregelungen zur OMK machen deren Verhältnis zur Koordinie90 rungszuständigkeit der Union nach Art 2 V, Art 6 AEUV deutlich. So ist die OMK als rechtlich unverbindliches Instrument zwar spezieller Bestandteil der Koordinierungszuständigkeit der Union gemäß Art 6 AEUV – explizit für die Gesundheitspolitik und Industriepolitik. Jedoch sind die Koordinierungsmaßnahmen gemäß Art 2 V, Art 6 AEUV nicht auf die OMK reduziert.260 Vielmehr können diese – über die rechtlich unverbindlichen Maßnahmen der OMK hinausgehend – auch rechtlich verbindliche Maßnahmen beinhalten.

c) Sonderstellung: Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik und Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik 91 Eine Sonderstellung in der Regelungssystematik der Zuständigkeiten nehmen einerseits die allgemeinen Kompetenznormen zur Koordinierung der „Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik“ ein (vgl Art 2 III AEUV und Art 5 AEUV). Die separate Hervorhebung der Materien in Art 5 AEUV gegenüber den Koordinierungsbereichen nach Art 6 AEUV ist mit der besonderen politischen Bedeutung für die

_____ 258 Zum Anwendungsfall der Beschäftigungspolitik vgl Streinz/Niedobitek Art 148 AEUV Rn 1, 20 mwN. 259 Art 153 II UAbs 1 lit a AEUV wird auch als Kompetenzgrundlage für die OMK im Bereich der Sozialpolitik bezeichnet; Davy § 18 (in diesem Band) Rn 58. 260 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 6 AEUV Rn 6 f; Calliess/Ruffert/Calliess Art 6 AEUV Rn 15. Ines Härtel

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Mitgliedstaaten zu begründen.261 Allerdings besteht zwischen den Koordinierungskonzepten von Art 5 und Art 6 AEUV in materieller Hinsicht kein Unterschied.262 Die Normierung dieser besonderen Koordinierungszuständigkeit bricht allein in 92 formeller Hinsicht aus der Methodik der Normierung der (anderen) Zuständigkeitsarten (ausschließliche, geteilte Zuständigkeiten, Unterstützungs-, Koordinierungsund Ergänzungszuständigkeiten nach Art 2 I, II, V AEUV) heraus, da Art 2 III AEUV sich speziell auf die Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik bezieht und nicht eine Zuständigkeitsart abstrakt beschreibt. Zudem ist die dazugehörige Norm mit Blick auf den Anwendungsbereich nicht ganz kongruent. So führt nämlich Art 5 AEUV – im Gegensatz zu Art 2 III AEUV – neben der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik auch die Sozialpolitik263 als Gegenstand der Koordinierung an. Dass die drei Bereiche Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik in Art 5 AEUV gemeinsam geregelt sind, ist wiederum in sachlogischer Sicht auch positiv zu bewerten, da sie in der Praxis wechselseitig einander bedingen.264 Die drei Bereiche sind an sich in den Kompetenzen der Mitgliedstaaten verblieben, bedürfen aber aufgrund ihrer Auswirkungen auf andere Kernbereiche (insb den Binnenmarkt) der Union einer Koordinierung durch die Mitgliedstaaten, die durch die Union zu forcieren ist. Die maßgeblichen Bestimmungen für die Ausübung der Wirtschaftspolitik ergeben sich aus Art 120 bis 126 AEUV und für die Beschäftigungspolitik aus Art 145 bis 150 AEUV. Die entscheidende Vorschrift für die Koordinierung der Sozialpolitik bildet Art 156 II AEUV, der die offene Koordinierungsmethode rechtlich verankert hat. Abzugrenzen ist im Rahmen der Sozialpolitik die Koordinierungszuständigkeit nach Art 5 AEUV von der geteilten Zuständigkeit in Form der konkurrierenden Kompetenz nach Art 4 II lit b AEUV. Andererseits nimmt eine noch eigentümlichere Sonderstellung die allgemei- 93 ne Zuständigkeitsnorm zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (Art 2 IV AEUV) ein. Hier wird überhaupt keine spezielle Zuständigkeitskategorie, sondern allein ein Sachbereich besonders eingefasst und damit die Regelungsmöglichkeit der Union aufgezeigt. Die Reichweite der Unionskompetenz normiert Art 24 EUV.

4. Komplementäre Kompetenzen Eine weitere Zuständigkeitskategorie, die allerdings nicht explizit als eigene in den 94 Zuständigkeitskatalog des Art 2 AEUV aufgenommen wurde, bilden die komplemen-

_____ 261 Streinz/Streinz Art 6 AEUV Rn 3; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Bandilla Art 5 AEUV Rn 8. 262 Calliess/Ruffert/Calliess Art 6 AEUV Rn 15, im Ergebnis ebenso Grabitz/Hilf/Nettesheim/ Nettesheim Art 2 AEUV Rn 42. 263 Die Sozialpolitik erwähnt Art 2 III AEUV nicht. 264 Streinz/Streinz Art 6 AEUV Rn 3. Ines Härtel

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tären Kompetenzen.265 Dieser Kompetenztyp verlangt für die wirksame Ausübung der Zuständigkeit das Zusammenwirken mehrerer Verbände bzw föderaler Einheiten – im Unionsrecht der Union und der Mitgliedstaaten. Zentrale Beispiele für eine Komplementärkompetenz, bei denen die gemeinsame Wahrnehmung der Zuständigkeit durch die Unionsebene und die mitgliedstaatliche Ebene nötig ist, sind die Fortentwicklung der Unionsbürgerschaft gemäß Art 20 ff AEUV und die Vertragsänderung gemäß Art 48 AEUV.266 IV. Die richtige Wahl der Kompetenzgrundlage (Rechtsgrundlage) IV. Die richtige Wahl der Kompetenzgrundlage (Rechtsgrundlage) 1. Die politische und unionsverfassungsrechtliche Relevanz der Wahl der Rechtsgrundlage 95 Ein Unionsrechtsakt ist nur rechtmäßig, wenn er auch auf die rechtlich treffende Rechtsgrundlage gestützt wird. Die Regelungsgegenstände eines Rechtsaktes sind in der Praxis allerdings vielseitig und können sich im Schnittfeld verschiedener Kompetenznormen bewegen.267 Bei der Vielzahl der verschiedenen Kompetenznormen und den unterschiedlichen Kompetenzarten ist die Abgrenzung zwischen diesen und damit die Ermittlung der richtigen Rechtsgrundlagen oftmals von hoher Komplexität gekennzeichnet. In der Praxis treten immer wieder Kompetenzkonflikte im vertikalen Verhält96 nis zwischen der Union und den Mitgliedstaaten, aber auch im horizontalen Verhältnis zwischen den Unionsorganen auf. Ein Grund für eine Kompetenzstreitigkeit liegt wohl zumeist darin, dass ein Akteur (sei es ein Mitgliedstaat oder ein Unionsorgan wie zB das Europäische Parlament) im politischen Entscheidungsprozess eine andere (inhaltliche) Position zu einem Regelungsgegenstand einnimmt als der jeweilige Urheber des Unionsrechtsakts. Sofern ein politischer Kompromiss zwischen allen Beteiligten gefunden wird, liegt es nahe, dass ein möglicher Kompetenzfehler nicht als Rechtsstreitigkeit ausgetragen wird. Allerdings kommt es auch in solchen Fällen zu einer nachträglichen Rechtsprüfung eines Kompetenzfehlers, etwa anlässlich eines Vorabentscheidungsverfahrens. Überdies spielt die Subsidiaritätskontrolle durch die nationalen Parlamente eine zunehmende Rolle bei der Überprüfung der Kompetenzgrundlage (ausführlich unter Rn 109 ff). Die richtige Wahl der Kompetenzgrundlage nimmt neben der politischen eine 97 unionsverfassungsrechtliche Bedeutung268 ein, die zugleich in einem Verbund

_____ 265 Diese Zuständigkeitsart hat für das Europarecht Nettesheim erfasst und begrifflich treffend geprägt, s Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 2 AEUV Rn 45; vBogdandy/Bast/Nettesheim S 426. 266 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 2 AEUV Rn 45. 267 Oppermann/Classen/Nettesheim S 165. 268 Zur unionsverfassungsrechtlichen (primärrechtlichen) Relevanz s insb Chr Schwartz S 76–80. Ines Härtel

IV. Die richtige Wahl der Kompetenzgrundlage (Rechtsgrundlage) | 493

mit dem mitgliedstaatlichen Verfassungsrecht (insb nach Art 23 GG) steht. So wird das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur gewahrt, wenn der jeweilige Unionsrechtsakt auf die treffende Rechtsgrundlage gestützt wird. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung269 schützt dabei die vertikale Kompetenzordnung (auch in Bezug auf die Regelungsdichte) und die horizontale Kompetenzordnung einschließlich des institutionellen Gleichgewichts, also die in den Verträgen verankerten Rechte aller Unionsorgane im Rahmen des Rechtsetzungsverfahrens (dazu Rn 15). So sehen die Kompetenznormen unterschiedliche Beteiligungsrechte der Organe in den Rechtsetzungsverfahren vor. Je nach Kompetenznorm sind einzelne Unionsorgane stärker oder gar nicht beteiligt. In der Vergangenheit war insb dieser Aspekt mit Blick auf die Rechte des Europäischen Parlaments eine erhebliche Konsequenz der Zuordnung zu einer Kompetenznorm. Seitdem aber die meisten Kompetenznormen das ordentliche Gesetzgebungsverfahren vorsehen, ist die praktische Bedeutung der Wahl der Rechtsgrundlage hinsichtlich dieser Frage zurückgegangen, allerdings immer noch existent. Eine ebenso unionsverfassungsrechtlich erhebliche Konsequenz der Wahl der Kompetenznorm betrifft die einschlägigen Beschlussfassungsmodi der Organe, vor allem die Frage, ob im (Minister)Rat das Einstimmigkeitsprinzip oder Mehrheitsprinzip gilt. Auch in dieser Hinsicht hat die praktische Brisanz quantitativ nachgelassen, da nunmehr die meisten Kompetenznormen eine qualifizierte Mehrheitsentscheidung des Rates ausreichen lassen und nicht mehr die Einstimmigkeit fordern. Allerdings sind in der Praxis nach wie vor Kompetenzstreitigkeiten denkbar, bei denen der Beschlussfassungsmodus im Rat und/oder die Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlamentes virulent sind. Praktische Rechtsprechungsbeispiele hierzu finden sich in der Gemeinsamen Agrar- und Fischereipolitik.270 Konkrete Anhaltspunkte für die Wahl der Rechtsgrundlage sind der Begrün- 98 dung eines Unionsrechtsaktes zu entnehmen. Die Begründungspflicht für den Urheber eines Rechtsaktes, die sich im Allgemeinen aus Art 296 II AEUV ergibt, erstreckt sich nach der Rechtsprechung des EuGH in ihrem Inhalt auch auf die Angabe der Rechtsgrundlage; dabei muss grundsätzlich der Vertragsartikel benannt werden. Dieses Erfordernis leitet der EuGH aus dem Gebot der Rechtssicherheit und dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung her.271 Von der einschlägigen Kompetenzgrundlage und damit der richtigen Wahl der 99 Grundlage hängen aber nicht nur die Organzuständigkeiten und die Rechtsetzungsverfahren ab, sondern auch die mögliche Regelungs-/Integrationstiefe und -dich-

_____ 269 Zur Bedeutung und Reichweite des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung, s ua Kraußer insb S 23 ff; zur Bedeutung nach dem Grundgesetz vgl BVerfGE 123, 267 (350 ff) – Lissabon. 270 Siehe hierzu Streinz/Härtel Art. 43 AEUV Rn 16-19. 271 EuGH, Rs C-325/91 – Frankreich / Kommission, Rn 26; Rs C-370/07 – C.I.T.E.S., Rn 42; Calliess/ Ruffert/Calliess Art 296 AEUV Rn 16; Chr Schwartz S 51 – 53, 77. Ines Härtel

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te und Ausrichtung eines Unionsrechtsaktes.272 Zu beachten sind in dem Kontext zum einen bestehende Harmonisierungsverbote wie zB bei den Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungskompetenzen gemäß Art 2 V UAbs 2 AEUV, zum anderen die unterschiedlichen Voraussetzungen für Schutzverstärkungen durch die Mitgliedstaaten gegenüber dem Unionsrechtsakt. So ist zB die nationale Schutzverstärkung gegenüber Rechtsakten, die auf der Umweltkompetenz (Art 193 AEUV) beruhen, großzügiger angelegt als gegenüber Rechtsakten im Rahmen der Harmonisierungskompetenz (Art 114 AEUV).273

2. Kriterien für die Abgrenzung der Kompetenzgrundlagen 100 Kommen für den Erlass eines Rechtsaktes in finaler (Ziel) und/oder regelungsgegen-

ständlicher Hinsicht (Inhalt)274 mehrere Kompetenznormen in Betracht, so stellt sich die Frage, auf welche Kompetenznorm der Rechtsakt zu stützen ist. Sollte die Auslegung des Umfangs der in Erwägung zu ziehenden Kompetenznormen ergeben, dass die Normen einen Überschneidungsbereich aufweisen und möglicherweise nebeneinander anwendbar sind, sind sie voneinander abzugrenzen und ist ihr Verhältnis zueinander zu qualifizieren.275 Für die Abgrenzung der Rechtsgrundlagen gibt es verschiedene Kriterien sowie Regeln. Zuerst ist bei mehreren anwendbaren Rechtsgrundlagen zu prüfen, ob sie in ei101 nem Subsidiaritäts-/Spezialitätsverhältnis276 zu einander stehen und damit eine Norm die andere(n) vollständig oder teilweise verdrängt. Gelangt die lex specialisRegel zur Anwendung, so besteht zwischen den betreffenden Normen eine unechte Normenkonkurrenz. Greift diese hingegen nicht ein und verdrängt die eine Norm nicht die andere, sondern sind beide Normen nebeneinander anwendbar, liegt eine echte Normenkonkurrenz vor.277 An einigen Stellen hat das Primärrecht ausdrückliche Vorrangregeln veran102 kert. So gilt etwa die binnenmarktbezogene Rechtsangleichungskompetenz nur, „soweit in den Verträgen nichts anderes bestimmt ist“ (vgl Art 114 I AEUV). Auf diese Weise ist zB die Agrarkompetenz nach Art 43 AEUV in Bezug auf die Rechtsangleichung (die für den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen und damit für den freien Warenverkehr besonders relevant ist) die speziellere Norm gegenüber Art 114 AEUV. Sofern Art 43 AEUV einschlägig ist, tritt die allgemeine Kompetenz für

_____ 272 Trüe S 57 ff; vBogdandy/Bast/Nettesheim S 418 ff; Härtel Hdb Europäische Rechtsetzung, S 53 f. 273 Calliess/Ruffert/Korte Art 114 AEUV Rn 144 f. 274 Kahl FS Dieter H Scheuing, 2011, S 92 (93). 275 Chr Schwartz S 82 f. 276 Hierzu s ua Ullrich ZEuS 2000, 243 (248); Ludwigs S 286, Trüe S 441 ff. 277 Vgl Kahl FS Dieter H Scheuing, 2011, S 92 (100). Ines Härtel

IV. Die richtige Wahl der Kompetenzgrundlage (Rechtsgrundlage) | 495

die Rechtsangleichung nach Art 114 AEUV als subsidiär zurück.278 Des Weiteren ist die Flexibilitätsklausel nur subsidiär insofern anwendbar, als „in den Verträgen die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen“ sind (Art 352 I 1 AEUV). Aufgrund der unterschiedlichen Konzeptionen der Kompetenznormen ist es mitunter sehr schwierig, ein Spezialitätsverhältnis zwischen zwei Rechtsgrundlagen festzustellen. Dies zeigen beispielsweise die Diskussionen um das Verhältnis zwischen der Umweltkompetenz (Art 192 AEUV) und der Rechtsangleichungskompetenz für den Binnenmarkt (Art 114 AEUV) sowie um die Beziehung zwischen der Umweltkompetenz (Art 192 AEUV) und der Energiekompetenz (Art 194 AEUV).279 Vor dem Hintergrund ist es auch verständlich und konsequent, dass der EuGH 103 ein Spezialitätsverhältnis grundsätzlich ablehnt, wenn dieses primärrechtlich nicht explizit verankert, also auch sehr zweifelhaft ist, und dann von einer Gleichrangigkeit der Normen ausgeht. Scheidet ein Spezialitätsverhältnis aus, ist für die Abgrenzung und Zuordnung der Rechtsgrundlagen nach der Judikatur des EuGH auf den Schwerpunkt der jeweiligen sekundärrechtlichen Regelungen abzustellen. Dieser Prüfungsansatz wird im Schrifttum als Schwerpunkt-Theorie bezeichnet. Bei der Ermittlung des Schwerpunktes einer Regelung sollen „objektive, ge- 104 richtlich nachprüfbare Kriterien“ herangezogen werden. Dazu gehören nach Ansicht des EuGH Ziel und Inhalt des Rechtsaktes.280 Verfolgt ein Rechtsakt zwei Ziele oder weist er zwei Komponenten auf und lässt sich eine(s) davon als wesentliche(s) oder überwiegende(s) ausmachen, während das/die andere nur von untergeordneter Bedeutung ist, so ist der Rechtsakt auf die Rechtsgrundlage zu stützen, die die wesentliche oder überwiegende Zielsetzung oder Komponente erfordert.281 Maßnahmen, die nur „nebenbei“ bestimmte Wirkungen erzielen, sind für die Wahl der richtigen Ermächtigungsgrundlage nicht ausschlaggebend.282 Während das Kriterium des „Regelungsinhaltes“ eines Rechtsaktes als objektiv 105 zu charakterisieren ist, da der tatsächliche Regelungsgegenstand maßgeblich ist, ist das Kriterium „Zielsetzung“ einer Maßnahme insofern subjektiver Natur, als auf den Willen bzw die Vorstellungen des Gesetzgebers abgestellt wird. Obgleich der EuGH die Kriterien nur als objektiv bezeichnet, tragen sie aufgrund der Zielsetzung auch subjektive Züge. Dementsprechend ist die Prüfungsmethode des EuGH als gemischt

_____ 278 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe Art 38 AEUV Rn 47; Dauses/Norer/Bloch G. Agrarrecht Rn 152 ff; Ruffert EnzEuR 5/Härtel S 430. 279 S hierzu insb Kahl FS Dieter H Scheuing, 2011, S 92 ff mwN. 280 Ständige Rechtsprechung, s zB EuGH, Rs C-45/86 – Kommission / Rat, Rn 11; Rs C-271/94 – Parlament / Rat, Rn 14; Rs C-491/01 – British American Tabacco, Rn 93; Rs C-533/03 – Kommission / Rat, Rn 43; vgl dazu auch Frenz Hdb 5 Rn 664 ff; Streinz/Streinz Art 5 EUV Rn 11; Calliess/Ruffert/Korte Art 114 AEUV Rn 138; Kahl FS Dieter H Scheuing, 2011, S 92 ff. 281 S insb EuGH, Rs C-491/01 – British American Tobacco, Rn 94. 282 Breier EuR 1995, 46 (50); weiterhin ist bei Breier EuR 1995, 46 (47 ff) umfangreich die Kasuistik des EuGH dargestellt. Ines Härtel

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subjektiv-objektiv zu bewerten.283 Bei der Ermittlung von Hauptziel und Inhalt des Rechtsaktes legt der EuGH die Erwägungsgründe, Entstehungsgeschichte und den Wortlaut zugrunde. Ergänzend zieht er auch den Regelungszusammenhang zu Rechtsnormen heran, auf die der auszulegende Rechtsakt verweist.284 Besonders relevant ist dies im Falle des Abschlusses von Abkommen mit 106 Drittstaaten. Zusätzlich zur immer wieder geäußerten Demokratiekritik, entwickelten sich in der näheren Vergangenheit vor allem Konflikte aus den Freihandelsabkommen der „neuen Generation“.285 Bei diesen werden neben klassischen Inhalten eines Freihandelsabkommens – wie etwa dem Abbau von Handelshemmnissen in Form von Zöllen – auch weitere Aspekte eingeführt, die zumindest in einem Zusammenhang mit dem Handel stehen können.286 Dies können etwa der Schutz des Eigentums, soziale Arbeitsbedingungen oder Umweltbelange sein. Unter diesem Gesichtspunkt stellt sich die Frage, ob die EU das Abkommen mit dem Drittstaat alleine abschließen kann oder ob es einer Beteiligung der Mitgliedstaaten bedarf. Es muss dazu geklärt werden, unter welche Art der Zuständigkeit die jeweilige Regelung des Abkommens fällt, was durch eine unklare Kompetenzverteilung erschwert wird.287 Soweit die EU keine eigenen Zuständigkeiten besitzt, ist sie auf die Mitgliedstaaten angewiesen. In diesen Fällen handelt es sich um sogenannte gemischte Abkommen und die Mitgliedstaaten sind nicht nur über den Rat miteinzubeziehen, sondern durch ein nationales Ratifikationsverfahren.288 Der EuGH setzte sich auf Antrag der Kommission in seinem Gutachten 2/15 vom 16.5.2017289 mit der Frage auseinander, ob es sich bei den von dem Singapur-Abkommen (EUSFTA) tangierten Bereichen um ausschließliche oder geteilte Zuständigkeiten der EU oder der Mitgliedstaaten handelt.290 Diskutiert wurde zwischen den Parteien auch die Auswirkungen von geteilten Zuständigkeiten für das zwingende Einbeziehen der Mitgliedstaaten: Eine Lösung bestand nach Ansicht von GA Sharpston darin, sich an Art 2 II AEUV zu orientieren, sodass auch eine (externe) Zuständigkeit der Mitgliedstaaten nur dann besteht, wenn die Union nicht oder nicht mehr tätig werden möchte. Da sich das Vertragsabschlussverfahren nach Art 218 AEUV richtet, würden der Rat und damit de facto die in ihm vertretenen Mitgliedstaaten politisch darüber entscheiden,

_____ 283 So zu Recht Calliess/Ruffert/Korte Art 114 AEUV Rn 141; im Ergebnis ihm folgend Chr Schwartz S 98. 284 Zur gründlichen Analyse der jüngeren Rechtsprechung s Chr Schwartz S 101 ff. 285 Schroeder EuR 2018, 119 (126 f); auch das Europäisches Parlament und der EuGH haben diese Bezeichnung aufgegriffen, EuGH Gutachten 2/15 – Freihandelsabkommen Singapur, Rn 17, 140. 286 EuGH, Gutachten 2/15 – Freihandelsabkommen Singapur, Rn 140. 287 Schroeder EuR 2018, 119 (127 ff). 288 Mayr/Ermes ZRP 2014, 237 (237 f). 289 EuGH, Gutachten 2/15 – Freihandelsabkommen Singapur. 290 EuGH, Gutachten 2/15 – Freihandelsabkommen Singapur, Rn 30 f., unter Klarstellung, dass eine Vereinbarkeit des geplanten Abkommens mit Unionsrecht nicht Prüfungsgegenstand ist. Ines Härtel

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ob die EU tätig wird oder nicht.291 Der EuGH folgt dem indes nicht und stellt ohne weitere Begründung fest, dass die Union nicht alleine Inhalte genehmigen kann, die in den Bereich geteilter Zuständigkeiten fallen.292 Im Ergebnis bejahte der EuGH unter anderem eine ausschließliche Zuständigkeit der EU für Regelungen, die Verkehrsdienstleistungen sowie die Liberalisierung des Handelsverkehrs unter Beachtung des Schutzes der Arbeitnehmer und der Umwelt betreffen.293 Andere Bereiche des Abkommens sollen dagegen in die geteilte Zuständigkeit fallen, weshalb die EU das Abkommen nicht ohne die Mitwirkung der Mitgliedstaaten schließen kann.294 Die allgemeine Bedeutung des Gutachtens für den Umgang mit zukünftigen Abkommen wird unterschiedlich beurteilt.295 Das Freihandelsabkommen mit Singapur wurde am 19. Oktober 2018 unterzeichnet und am 13. Februar 2019 vom Europäischen Parlament gebilligt, sodass dessen Inkrafttreten nunmehr maßgeblich von der Ratifikation der Mitgliedstaaten abhängt.296 Zuständigkeitsfragen stellen sich auch bei anderen Abkommen, insb dem abgeschlossenen CETA und dem bisher gescheiterten TTIP-Abkommen.297 Die Relevanz dieser Zuständigkeitsfragen zeigte sich auch bei der Problematisierung von Handelsabkommen durch die USA u.a. zu Mitgliedstaaten der EU, wobei letztere auf ihre verankerten Zuständigkeiten beharrten.

3. Die Doppelabstützung von Unionsrechtsakten Problematisch bleibt jedoch die Konstellation, wenn sich im Einzelfall kein objekti- 107 ver Schwerpunkt feststellen lässt. Denkbar erscheint dann zur Lösung des Kompetenzkonflikts eine Kombination der in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen. Nach der Lehre von der Doppel-/Mehrfachabstützung wird der Rechtsakt dann auf zwei oder mehrere Rechtsgrundlagen gestützt. Der EuGH hält dies für zulässig, wenn ein Rechtsakt gleichzeitig mehrere, untrennbar miteinander zusammenhängende Komponenten (Ziele, Inhalte) enthält und sich keine Haupt- und Nebenkom-

_____ 291 Schlussanträge GA Sharpston zu EuGH, Gutachten 2/15 – Freihandelsabkommen Singapur, Rn 73 ff; vgl auch Behrends/Kubicki/Rathke Das Gutachten des EuGH zum EU-Freihandelsabkommen mit Singapur (EUSFTA), Infobrief Fachbereich Europa des Deutschen Bundestags, PE63010-044/17, S 10. 292 EuGH, Gutachten 2/15 – Freihandelsabkommen Singapur, Rn 244, 282, 304. 293 EuGH, Gutachten 2/15 – Freihandelsabkommen Singapur, Rn 149 ff. 294 EuGH, Gutachten 2/15 – Freihandelsabkommen Singapur, Rn 241 ff. 295 Behrends/Kubicki/Rathke Das Gutachten des EuGH zum EU-Freihandelsabkommen mit Singapur (EUSFTA), Infobrief Fachbereich Europa des Deutschen Bundestags, PE6-3010-044/17, S 11 mwN; Schroeder EuR 2018, 119, der für einen pragmatischen Umgang unter stärkerer Einbindung des Europäischen Parlaments plädiert. 296 Pressemitteilung der Kommission vom 13.2.2019, IP/19/906, Verfahren 2018/0093M(NLE). 297 Vgl beispielhaft Grzeszick/Hetteche AöR 141 (2016), 225; Mayer/Ermes ZRP 2014, 237; Mayer ZEuS 4/2016, 391; Schroeder EuR 2018, 119; Weiß EuZW 2016, 286, der verfassungsrechtliche Bedenken näher beleuchtet. Ines Härtel

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ponente feststellen lässt. 298 Er schließt eine Doppelabstützung aus, wenn die Rechtsgrundlagen auf der Rechtsfolgenseite unterschiedliche Verfahrensregelungen aufweisen und die Verfahren nicht miteinander vereinbar sind. So dürften insb im Sinne der Titandioxid-Entscheidung 299 die Rechte des Europäischen Parlaments nicht ausgehöhlt werden. Sofern aber durch die Verbindung der Verfahren die Rechte des Europäischen Parlaments nicht beeinträchtigt werden, ist eine Kombination der Rechtgrundlagen durchaus möglich. Dabei hielt der EuGH die Verfahren der Mitentscheidung und der Anhörung für kompatibel.300 Die Doppelabstützung eines Rechtsaktes kann nach Ansicht des EuGH aus Gründen der Rechtssicherheit sogar geboten sein. Er erklärte auch bereits einen Rechtsakt für nichtig, weil er nur auf eine Rechtsgrundlage und nicht zusätzlich auf die zweite erforderliche Rechtsgrundlage gestützt wurde.301 Allerdings hatte er die Wirkungen des Rechtsaktes bis zum Erlass des neuen aufrechterhalten.302

4. Rechtswirkungen einer falsch gewählten Kompetenznorm 108 Hat der Unionsgesetzgeber nicht die richtige Rechtsgrundlage gewählt, so kommt eine Nichtigerklärung (im Rahmen einer Nichtigkeitsklage gemäß Art 263 AEUV) oder eine Ungültigkeitserklärung (beim Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art 267 AEUV) durch den EuGH in Betracht. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der Fehler nicht nur rein formaler Art ist, sondern Auswirkungen auf das anwendbare Verfahren und dementsprechend auch auf den Inhalt des Rechtsaktes haben kann.303 So hat der EuGH zB in der Rechtssache British American Tobacco entschieden, dass – im Fall einer eindeutigen Zuordnung eines Rechtsaktes zu einer bestimmten Rechtsgrundlage – die irrige Heranziehung einer zweiten Rechtsgrundlage nicht zur Ungültigkeit des Rechtsaktes führt, wenn das nach der zutreffenden Rechtsgrundlage erforderliche Verfahren eingehalten wurde.304 Im Fall einer Nichtigerklärung oder Ungültigkeitserklärung kann der EuGH aber auch die Wirkungen eines Rechtsaktes aufrechterhalten. Für die Nichtigkeitsklage sieht Art 264 II AEUV

_____ 298 EuGH, Gutachten 2/00 – Cartagena-Protokoll, Rn 22 f; Rs C-281/01 – Kommission / Rat, Rn 35; Rs C-491/01 – British American Tobacco, Rn 94. 299 EuGH, Rs C-300/89 – Kommission / Rat, Rn 20 f. 300 Vgl EuGH, Rs C-178/03 – Kommission / Parlament und Rat, Rn 58 f; Rs C-155/07 – Parlament / Rat, Rn 72. 301 EuGH, Rs C-155/07 – Parlament / Rat, Rn 85. 302 EuGH, Rs C-155/07 – Parlament / Rat, Rn 89. 303 EuGH, Rs 165/87 – Kommission / Rat, Rn 18 f; Rs C-268/94 – Portugal / Rat, Rn 79; Rs C491/01 – British American Tobacco, Rn 98; Rs C-210/03 – Swedish Match, Rn 44. 304 So EuGH, Rs C-491/01 – Britisch American Tobacco,; bestätigt in EuGH, Rs C-210/03 – Swedish Match, Rn 43 ff; Rs C-380/03 – Tabakwerberichtlinie II, Rn 95 f. Ines Härtel

V. Kompetenzausübungsregeln | 499

explizit diese Möglichkeit vor und für das Vorabentscheidungsverfahren wird diese Vorschrift entsprechend angewendet.305 Der EuGH hat jedoch auch schon in verschiedenen Fällen die Doppelabstützung 109 eines Rechtsaktes für rechtmäßig und geboten gehalten, wenn es sich bei den Einzelregelungen um zwei gleichrangige Zielsetzungen handelt, die untrennbar miteinander verbunden sind, keine der beiden die andere eindeutig überwiegt und die Rechtsgrundlage nicht prozedural unvereinbar sind (insb die Rechtsetzungsverfahren). Das Erfordernis unterschiedlicher Abstimmungsquoren oder die unterschiedliche Form der Beteiligung des Europäischen Parlaments führt aber noch nicht zur Unvereinbarkeit.306 V. Kompetenzausübungsregeln V. Kompetenzausübungsregeln Das Primärrecht regelt in Art 5 I 2 EUV ausdrücklich, dass für die Ausübung der 110 Unionszuständigkeiten die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit gelten. Beide Kompetenzausübungsschranken werden im Folgenden hinsichtlich ihres Inhalts und ihrer prozeduralen Kontrolle näher beleuchtet.

1. Das Subsidiaritätsprinzip a) Anwendungsbereich, Verpflichtete und Begünstigte Das Subsidiaritätsprinzip ist auf alle „nicht ausschließlichen“ Zuständigkeiten 111 der Union anwendbar, also auf alle, die nicht in Art 3 AEUV aufgeführt sind (Art 5 III EUV). Hinsichtlich des verpflichteten Adressatenkreises wendet es sich an alle Organe der Union.307 Als „Begünstigte“308 dieses Prinzips sind in erster Linie die Mitgliedstaaten und ihre Untergliederungen (wie zB die deutschen Länder und Kommunen oder die autonomen Regionen in Spanien) anzusehen. Die regionale und lokale Ebene wird auch seit dem Lissabon-Vertrag explizit im Primärrecht zum Subsidiaritätsprinzip genannt.309 Schließlich soll das Prinzip dazu beitragen, dass „die nationale Identität der Mitgliedstaaten gewahrt [wird] und ihre Befugnisse erhalten bleiben“310 und so die föderale Vielfalt gleichzeitig gestärkt wird. Es bezweckt, dass

_____ 305 Zur entsprechenden Anwendung in Bezug auf die Vorgängervorschrift des Art 264 II AEUV, nämlich ex-Art 231 II EGV vgl EuGH, verb Rs 117/76 ua – Ruckdeschel ua, Rn 13; Rs 145/79 – Roquettes Frères, Rn 51; Rs 112/83 – Société des produits de maïs, Rn 17. 306 Borchardt Rn 489 mwN. 307 Schwarze/Lienbacher Art 5 EUV Rn 21. 308 Lenz/Borchardt/Langguth Art 5 EUV Rn 29. 309 S Art 5 III EUV und Art 2 S 2, Art 5 S 3 u 5, Art 6 I und S 2 Subsidiaritätsprotokoll; zur Entwicklung des Subsidiaritätsprinzips s Streinz/Streinz, Art 5 Rn 20 f. 310 Europäischer Rat von Edinburgh vom 11./12.1992, Teil A Anlage 1 I. Ines Härtel

500 | § 6 Die Zuständigkeiten der Union

„Beschlüsse im Rahmen der Europäischen Union so bürgernah wie möglich gefasst werden“.311 Während föderale Hoheitsträger (zum Kreis der Rüge- und Klageberechtigten 112 Rn 126) als Hüter des Subsidiaritätsprinzips mit einem dazugehörigen spezifischen Rüge- und Klagerecht ausgestattet sind und eine Verletzung des Prinzips direkt geltend machen können, bleibt den Bürgern und Unternehmen (als natürliche oder juristische Person) – ebenso als Begünstigte (wenn auch mittelbar) – immerhin die Möglichkeit, einen Verstoß dagegen inzident von der Gerichtsbarkeit überprüfen zu lassen. Eine Inzidentprüfung kann indes von jedem Klageberechtigten im jeweiligen Gerichtsverfahren veranlasst werden, da die Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip eine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit eines Unionsrechtsaktes ist.312

b) Materiell-rechtlicher Prüfungsmaßstab 113 Für ein Tätigwerden der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips verankert

Art 5 III EUV zwei materiell-rechtliche Kriterien, die kumulativ vorliegen müssen: Die Union wird nur tätig, – „sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend [Hervorhebung durch die Autorin] verwirklicht werden können“ (sog Negativkriterium),313 – „sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser [Hervorhebung durch die Autorin] zu verwirklichen sind“ (sog Positivkriterium).314 114 Die Anwendung der unbestimmten Prüfkriterien („nicht ausreichend“ und „besser“)

bereitet in der Rechtspraxis allerdings erhebliche Probleme, da ihre Auslegung umstritten ist.315 Eine Konkretisierung der Kriterien fand sich noch im Amsterdamer Protokoll Nr 30 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Ver-

_____ 311 Europäischer Rat von Edinburgh vom 11./12.1992, Teil A Anlage 1 I. 312 Streinz/Streinz Art 5 EUV Rn 24. 313 Zur Bezeichnung als Negativ- und Positivkriterium s zB Calliess/Ruffert/Calliess Art 5 EUV Rn 31 ff; Härtel Hdb Europäische Rechtsetzung S 76; das erste Kriterium wird auch als Erforderlichkeitskriterium bezeichnet (so zB Mager ZEuS 2003, 471 (474); Schwarze/Lienbacher Art 5 EUV Rn 31, 34 ff; Europäische Kommission SEK(2009) 92, S 26 f). 314 Das zweite Kriterium wird auch Effizienzkriterium genannt; s dazu Lorz/Koenig JZ 2003, 167 (167); ähnlich Ritzer/Ruttloff EuR 2006, 116 (120). 315 Zum Meinungsstreit bezüglich der Auslegung und Handhabung der Prüfkriterien s Streinz/ Streinz Art 5 EUV Rn 28 ff; Calliess/Ruffert/Calliess Art 5 EUV Rn 34–41 mwN. Ines Härtel

V. Kompetenzausübungsregeln | 501

hältnismäßigkeit.316 Die dortigen materiellen Leitlinien basierten auf den Schlussfolgerungen des Rates von Edinburgh von 1992. Das mit dem Lissabon-Vertrag neu eingeführte Protokoll 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Subsidiaritätsprotokoll) ersetzte das Amsterdamer Protokoll und nahm leider nicht mehr die detaillierten materiellen Prüfkriterien auf, sondern ist auf die prozedurale Sicherung des Subsidiaritätsprinzips fokussiert. Auch wenn jene detaillierten materiellen Prüfkriterien nicht mehr unmittelbar rechtsverbindlich sind, dienen sie auch weiterhin als Orientierungshilfe zur Auslegung von Art 5 III EUV.317 Demzufolge stellt sich beim Negativkriterium zuerst die Frage, ob der Unions- 115 rechtsakt „transnationale Aspekte“ betrifft, die durch die Mitgliedstaaten „nicht zufriedenstellend geregelt werden können“. Des Weiteren wäre das Negativkriterium erfüllt, wenn alleinige Maßnahmen der Mitgliedstaaten „zu den Erfordernissen des Vertrags im Widerspruch stehen (beispielsweise zu dem Erfordernis, Wettbewerbsverzerrungen zu beheben oder verschleierte Handelsbeschränkungen zu vermeiden oder den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt zu stärken) oder in anderer Weise die Interessen der Mitgliedstaaten erheblich beeinträchtigen“.318 Da das Subsidiaritätsprinzip an die Gemeinwohlbelange der föderalen Union anknüpft, kommt es bei der Frage der Regelungsfähigkeit auf mitgliedstaatlicher Ebene darauf an, dass diese bei allen oder zumindest bei der Mehrheit der Mitgliedstaaten besteht. So kann eine Unionsregelung erforderlich sein, „weil eine Mehrzahl der Mitgliedstaaten zur Zielverwirklichung nicht in der Lage ist, obwohl ein großer Mitgliedstaat wie die Bundesrepublik Deutschland ausreichend leistungsfähig ist“.319 Die Kommission prüft im Rahmen eines Tests der vergleichenden Effizienz, 116 ob die Mitgliedstaaten über die tatsächlichen und finanziellen Mittel zur Erreichung des (Unions-)Ziels verfügen. Als Mittel werden ua nationale, regionale und lokale Gesetzgebung angesehen.320 Bei der Prüfung des Negativkriteriums kommt es allein darauf an, dass die Mitgliedstaaten das Ziel nicht ausreichend erreichen können;

_____ 316 Das Protokoll (Nr 30) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit wurde dem 1997 in Kraft getretenen Vertrag von Amsterdam beigefügt und war gemäß Art 311 EG-Vertrag Bestandteil des EG-Vertrages. 317 Ladenburger ZEuS 2011, 389 (397); Streinz/Streinz Art 5 EUV Rn 27 mwN; anders Calliess/ Ruffert/ Calliess Art 5 EUV Rn 32, wonach die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Edinburgh als Orientierungshilfe dienen sollen – wie bereits vor Einführung des Amsterdamer Protokolls Nr 30. 318 Vgl Europäischer Rat von Edinburgh vom 11./12.1992, Teil A Anlage 1 II Leitlinien Absatz 2 ii. 319 Puttler Stellungnahme zum Expertengespräch des Unterausschusses Europarecht am 16. Juni 2010, S 9; Everling EuR 2009, Beiheft 1, 71 (77). 320 Kommissionsdokument SEC(92) 1990, S 10, 12; hierzu s Calliess/Ruffert/Calliess Art 5 EUV Rn 33. Ines Härtel

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nicht entscheidend ist die Frage der besseren oder optimalen Zielerreichung.321 Diese Frage spielt erst beim Positivkriterium eine Rolle. Wird die Frage nach der ausreichenden Zielverwirklichung durch mitgliedstaat117 liches Handeln verneint, ist im Rahmen des Positivkriteriums zu prüfen, ob das Ziel der Maßnahme besser auf Unionsebene verwirklicht werden kann. Hier ist zu untersuchen, ob die Maßnahme auf Unionsebene „wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen“322 im Vergleich zu Maßnahmen auf mitgliedstaatlicher Ebene323 einen tatsächlichen Mehrwert hat.324 Das Subsidiaritätsprotokoll regelt in Art 5 S 4: „Die Feststellung, dass ein Ziel der Union besser auf Unionsebene erreicht werden kann, beruht auf qualitativen und, soweit möglich, quantitativen Kriterien.“ Der Bezug auf qualitative und quantitative Kriterien erleichtert jedoch kaum die Prüfung. Hinter dem Positivkriterium steht letztlich ein „wertender Vergleich zwischen zusätzlichem Integrationsgewinn und mitgliedstaatlichem Kompetenzverlust“.325 Bei der Abwägung sind Kosten und Nutzen der Problemlösung auf der Unionsebene und der mitgliedstaatlichen Ebene gegenüber zu stellen. Die „voraussichtlichen finanziellen Auswirkungen“ eines Gesetzgebungsaktes der Union sollen auch nach dem neuen Subsidiaritätsprotokoll berücksichtigt werden. Dieser Aspekt spielt sowohl bei der Prüfung der Subsidiarität als auch der Verhältnismäßigkeit eine Rolle326 und deutet damit bereits die Überschneidungen der Prüfung beider Prinzipien an. Die Prüfung des Negativ- und Positivkriteriums erweist sich nicht nur wegen der 118 inhaltlichen Offenheit als schwierig, sondern auch, weil es sich um eine Prognoseentscheidung327 handelt, die mit den damit verbundenen typischen Problemen der Vorhersehbarkeit und Einschätzung einhergeht. Demzufolge wird dem Unionsgesetzgeber eine Einschätzungsprägorative – ein weiter Prognose- und Ermessensspielraum – eingeräumt und zugleich die Kontrolldichte des EuGH begrenzt.328 Die Europäische Kommission erfüllt ihre Pflicht zur Prüfung und Begründung 119 eines Gesetzesvorschlages hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip durch den Einsatz des Instruments der Folgenabschätzung.329 Sie hat einen

_____ 321 Frenz JURA 2010, 641 (643). 322 So der Wortlaut in Art 5 III 1 EUV. 323 So noch das Amsterdamer Subsidiaritätsprotokoll in Ziff 5. 324 Lenz/Borchardt/Languth Art 5 EUV Rn 35; Frenz JURA 2010, 641 (643). 325 Calliess/Ruffert/Calliess Art 5 EUV Rn 41. 326 Vgl Art 5 S 3 Subsidiaritätsprotokoll. 327 S Streinz/Streinz Art 5 EUV Rn 31. 328 Albin NVwZ 2006, 629 (631); Puttler Stellungnahme zum Expertengespräch des Unterausschusses Europarecht am 16. Juni 2010, S 11; Suhr Stellungnahme zum Expertengespräch des Unterausschusses Europarecht am 16. Juni 2010, S 56; Shirvani JZ 2010, 753 (758). 329 Vgl hierzu Interinstitutionelle Vereinbarung über bessere Rechtsetzung vom 13.4.2016, ABl 2016 L 123/1; instruktiv hierzu Mayer Stellungnahme zum Expertengespräch des Unterausschusses Europarecht am 16. Juni 2010, S 3 f. Ines Härtel

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Ausschuss eingerichtet, der eine gesonderte, von politischen Weisungen unabhängige Arbeitseinheit auf Direktorenebene bildet und unter anderem die Subsidiaritätskontrolle durchführt.330 Für die präventive interne Subsidiaritätskontrolle hat die Kommission in ihrer „Better Regulation Toolbox“331 eine interne Leitlinie aufgestellt, die das Instrumentarium zur besseren Rechtsetzung332 ergänzen und in Kapitel 5333 Prüffragen aufstellt.334

2. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip Ebenso als Kompetenzausübungsschranke fungiert das Prinzip der Verhältnis- 120 mäßigkeit (Art 5 I 2 EUV). Es gilt für alle Unionsorgane und alle Zuständigkeitsarten, auch im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeiten.335 Nach ihm „gehen die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das für die Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinaus“ (Art 5 IV 1 EUV). Das Verhältnismäßigkeitsprinzip betrifft Art und Umfang des Unionsrechtsaktes und bildet so den Maßstab für die Regelungsintensität.336 Es schützt als Kompetenzausübungsschranke die Mitgliedstaaten und trägt ebenso den Grundgedanken der Subsidiarität.337 Seine Schutzwirkung zugunsten der Mitgliedstaaten war vor dessen expliziter 121 Regelung nicht selbstverständlich. Denn die genuine Ausrichtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips gilt dem Grundrechtsschutz. In dieser Perspektive hat der EuGH auch schon frühzeitig die Verhältnismäßigkeit als allgemeinen Rechtsgrundsatz anerkannt.338 Für das Verhältnis zwischen hoheitlichen föderalen Kompetenzträgern (wie Bund und Ländern) hatte beispielsweise das Bundesverfassungsgericht die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips ursprünglich abgelehnt, da nach seiner Ansicht dem Prinzip nur eine Schutz-

_____ 330 Ausschuss für Regulierungskontrolle, der den Ausschuss für Folgenabschätzung ersetzt, Europäische Kommission C(2015) 3263. 331 Abrufbar unter https://ec.europa.eu/info/better-regulation-toolbox_en. 332 Europäische Kommission SWD(2017) 350. 333 Europäische Kommission SEC(2009) 92, S 26 f. 334 S dazu Mayer Stellungnahme zum Expertengespräch des Unterausschusses Europarecht am 16. Juni 2010, S 4, 6 f. 335 Hingegen ist das Subsidiaritätsprinzip im engeren Sinne gemäß Art 5 III UAbs 1 EUV nicht anwendbar im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeiten der Union. 336 Streinz/Streinz Art 5 EUV Rn 41. 337 vdGroeben/Schwarze/Kadelbach Art 5 EUV Rn 3, 49. 338 EuGH, Rs 8/55 – Fédéchar; Rs 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft; als weitere einschlägige Judikatur ist zu nennen EuGH, Rs 44/79 – Lieselotte Hauer / Land Rheinland-Pfalz, Rn 23; verb Rs 46/87 ua – Hoechst AG / Kommission, Rn 19; Rs C-22/94 – Irish Farmer Asscociation / Minister for Agriculture, Food and Forestry, Rn 30; Rs C-183/95 – Affish BV / Rijksdienst voor de keuring van Vee en Vlees, Rn 30; s dazu auch Pache NVwZ 1999, 1033 ff; Kischel EuR 2000, 380 ff. Ines Härtel

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funktion für die individuelle Rechts- und Freiheitssphäre zukam.339 Mit der Verankerung des Verhältnismäßigkeitsprinzips durch den Maastricht-Vertrag 340 hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil konsequenterweise seine Ansicht insofern geändert, als es die Funktionen des Verhältnismäßigkeitsprinzips für den Staatenverbund wie folgt beschreibt: Das Prinzip „enthält zunächst ein grundrechtliches Übermaßverbot, kann aber auch […] die Regelungsintensität von Gemeinschaftsmaßnahmen […] beschränken und so die nationale Identität der Mitgliedstaaten […] gegen ein Übermaß europäischer Regelungen wahren“.341 Die zweidimensionale Ausrichtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips – Schutz 122 der Grundrechte und der Rechte der Mitgliedstaaten – wirkt in der Union entsprechend ihrem Charakter als föderales Gebilde und der dahinter stehenden Freiheitsidee schließlich freiheitsschützend und dient der Bürgernähe.342 Materiell-rechtliche Vorgaben zum Verhältnismäßigkeitsprinzip finden sich im 123 Subsidiaritätsprotokoll (Art 5). Danach soll bei Entwürfen von Gesetzgebungsakten berücksichtigt werden, „dass die finanzielle Belastung und der Verwaltungsaufwand der Union, der nationalen Regierungen, der regionalen und lokalen Behörden, der Wirtschaftsteilnehmer und der Bürgerinnen und Bürger so gering wie möglich gehalten werden und in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel stehen [Hervorhebungen durch die Autorin]“. Das Protokoll Nr 30 zum Vertrag von Amsterdam, das nicht mehr gilt (s Rn 114), enthielt noch weitere Konkretisierungen, die allerdings weiterhin als Orientierungshilfe – wie beim Subsidiaritätsprinzip – dienen können. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip fördert so die föderale Balance zwischen den 124 Mitgliedstaaten und der Union bei gleichzeitiger Beachtung des Gemeinwohls. Wie die Prüfkriterien oben gezeigt haben, bestehen Überschneidungsbereiche zum Subsidiaritätsprinzip. Die Verknüpfung beider Prinzipien zeigt sich auch in ihrer Zusammenführung im Subsidiaritätsprotokoll Nr 2. Wie bei der Prüfung des Subsidiaritätsprinzips nimmt die Europäische Kommission ihre Prüfung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Rahmen der Folgenabschätzung der Rechtsaktentwürfe wahr.343 Auch hierfür hat sie einen Fragenkatalog entwickelt. Nach bisheriger Judikatur des EuGH344 steht dem Unionsgesetzgeber bei der Wahrung des Verhältnismä-

_____ 339 Vgl zB BVerfGE 79, 311 (314) – Staatsverschuldung; BVerfGE 81, 310 (338) – Kalkar II; Härtel/Härtel Hdb Föderalismus Bd I S 588 f. 340 Ex-Art 5 III EGV lautete: „Die Maßnahmen der Gemeinschaft gehen nicht über das für die Erreichung der Ziele dieses Vertrages erforderliche Maß hinaus.“ 341 BVerfGE 89, 115 (212) – Maastricht. 342 Calliess/Ruffert/Calliess Art 5 EUV Rn 45; Streinz/Streinz Art 5 EUV Rn 43. 343 Europäische Kommission SWD(2017) 350 sowie Kapitel 5 der begleitenden „Better Regulation Toolbox“. 344 Vgl zB EuGH, Rs C-84/94 – Vereinigtes Königreich / Rat, Rn 57; Rs C-233/94 – Deutschland / Parlament und Rat (RL über Einlagensicherungssysteme), Rn 56. Ines Härtel

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ßigkeitsprinzips ein weites politisches Ermessen zu, das nur mit Blick auf evidente Fehler überprüft wird. Eine bloße Evidenzkontrolle durch den EuGH erscheint zwar bei komplexen Lebenssachverhalten und Abwägungen als sachgerecht, aber nicht verallgemeinernd hinnehmbar.345

3. Prozedurale Mechanismen zur Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und des Verhältnismäßigkeitsprinzips Durch verfahrensrechtliche Neuerungen hat der Lissabon-Vertrag explizit das Sub- 125 sidiaritätsprinzip gestärkt.346 Die neuen prozeduralen Mechanismen – die Subsidiaritätsrüge und die Subsidiaritätsklage – erstrecken sich aber implizit auch auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Kompetenzausübungsregel, da die materiellen Prüfungskriterien für die Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und der Subsidiarität sich erheblich überschneiden. Auch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ist Gegenstand der neuen Mechanismen, denn in der logischen Abfolge der juristischen Prüfung steht zuerst das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und danach das Subsidiaritätsprinzip (zum Problemkreis der Reichweite der Subsidiaritätsrüge und -klage s Rn 136 ff). Mit dem Lissabon-Vertrag sind vor allem die nationalen Parlamente durch 126 Art 12 lit b EUV zum Hüter der Subsidiarität erkoren worden.347 In den Worten des Bundesverfassungsgericht stehen die gesetzgebenden Körperschaften – also der Deutsche Bundestag und der Bundesrat – in einer besonderen Verantwortung im Rahmen ihrer Mitwirkung, die in Deutschland innerstaatlich den Anforderungen des Europa-Artikel 23 I GG genügen muss („Integrationsverantwortung“).348 In seinem Lissabon-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht zwar auch sein Recht und seine Pflicht zur Ultra-vires-Kontrolle auf die Wahrung des unionsrechtlichen Subsidiari-

_____ 345 Ebenso kritisch Streinz/Streinz Art 5 EUV Rn 50; Calliess/Ruffert/Calliess Art 5 EUV Rn 66. 346 Die maßgeblichen Rechtsgrundlagen für die Subsidiaritätskontrollmechanismen bilden einerseits Art 5 III EUV und zwei Protokolle, die gemäß Art 51 EUV Bestandteil der Verträge sind – das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Subsidiaritätsprotokoll) und das Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union (Parlamentsprotokoll). Andererseits haben die Mitgliedstaaten zu den Kontrollrechten Ausführungsvorschriften erlassen. So wurde in Deutschland mit Blick auf die Subsidiaritätsklage Absatz I a in Art 23 GG eingefügt und einfachgesetzlich auf die Subsidiaritätsrüge und Subsidiaritätsklage in §§ 11, 12 IntVG Bezug genommen. 347 Die Darstellung der prozeduralen Mechanismen zur Wahrung des Subsidiaritätsprinzips beruht auf der Abhandlung Härtel/Härtel Hdb Föderalismus Bd 4 S 215–223. 348 BVerfGE 123, 267 (381, 383) und Leitsatz 2a – Lissabon; s dazu Puttler Stellungnahme zum Expertengespräch des Unterausschusses Europarecht am 16. Juni 2010, S 3 f; Calliess in: Protokoll der 8. Sitzung des Rechtsausschusses – Unterausschuss Europarecht am 16. Juni 2010, S 3; vArnauld/Hufeld/Kötter S 263; Nettesheim NJW 2010, 177 (180 f); Daiber ZParl 2012, 293 ff. Ines Härtel

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tätsprinzips bezogen.349 Angesichts des darauf ergangenen Honeywell-Beschlusses hat das Gericht jedoch die Ultra-vires-Kontrolle erheblich eingeschränkt (dazu Rn 43 f), so dass diese auch mit Blick auf das Subsidiaritätsprinzip in der Praxis wohl kaum eine Rolle spielen wird. Ein Novum verfahrensrechtlicher Sicherung des Subsidiaritätsprinzips nach dem 127 Lissabon-Vertrag bildet das Frühwarnsystem, das eine politische ex ante-Kontrolle im Gesetzgebungsverfahren durch die nationalen Parlamente gewährt. Eine weitere Neuerung ist die Subsidiaritätsklage vor dem EuGH als ex post-Kontrolle. Diese sichert das Frühwarnsystem ab und räumt auch erstmals dem Ausschuss der Regionen das Recht ein, bei Subsidiaritätsverstößen vor dem EuGH zu klagen. Diese prozeduralen Schutzmechanismen gelten allerdings nicht für jegliche Entwürfe aller möglichen Handlungsformen, sondern nur für Entwürfe von Gesetzgebungsakten.350

a) Subsidiaritätsrüge 128 Als „natürliche“ Hüter des europäischen Subsidiaritätsprinzips können die nationa-

len Parlamente der Mitgliedstaaten im Gesetzgebungsverfahren eine Subsidiaritätsrüge erheben.351 Erstmals erhalten die nationalen Parlamente ein direktes Mitwirkungsrecht am Gesetzgebungsprozess der Union.352 Auf diese Weise wird zugleich die demokratische Legitimation der Unionsgesetzgebung – mit Blick auf den mitgliedstaatlichen mittelbaren Legitimationsstrang – gestärkt.353 Um den nationalen Parlamenten eine wirksame ex ante-Kontrolle zu ermögli129 chen,354 besteht die Pflicht der EU-Kommission, die Entwürfe von Gesetzgebungsakten den nationalen Parlamenten und dem Unionsgesetzgeber gleichzeitig zuzuleiten und diese im Hinblick auf die Subsidiarität zu begründen. Die nationalen Parlamente oder die Kammern eines dieser Parlamente – in Deutschland der Bundestag und der Bundesrat – können binnen acht Wochen355 nach Übermittlung eines Gesetz-

_____ 349 Als Ultra-vires-Kontrolle, also in Bezug auf so genannte „ausbrechende“ Rechtsakte der Europäischen Union, s BVerfGE 123, 267 (353 f, 400) – Lissabon; zum Problemkreis Subsidiaritätskontrolle durch das BVerfG s a Puttler Stellungnahme zum Expertengespräch des Unterausschusses Europarecht am 16. Juni 2010, S 3; Shirvani JZ 2010, 753 (758); Calliess Stellungnahme zum Expertengespräch des Unterausschusses Europarecht am 16. Juni 2010, S 22; kritisch hierzu vBogdandy NJW 2010, 1 (4 f). 350 Dabei ist der Gesetzesbegriff nach Art 289 III AEUV maßgeblich, wonach Gesetzgebungsakte solche Rechtsakte sind, die gemäß einem Gesetzgebungsverfahren angenommen werden, sei es im ordentlichen oder im besonderen Gesetzgebungsverfahren (vgl Art 289 I und II AEUV). 351 Vgl Art 5 III 3 EUV, Art 7 Subsidiaritätsprotokoll, § 11 IntVG. 352 Papier FCE 1/08, S 5; Müller-Graff integration 2008, S 143; Schoo EuR 2009, Beiheft 1, 51 (55). 353 Zur demokratischen Legitimation der supranationalen Rechtsetzung s Härtel/Härtel Hdb Föderalismus Bd IV S 331 ff. 354 Art 4 Subsidiaritätsprotokoll; s dazu Uerpmann-Wittzack/Edenharter EuR 2009, 313 (322). 355 Der Verfassungsvertrag sah eine Frist von nur sechs Wochen vor. Ines Härtel

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entwurfs in einer begründeten Stellungnahme an die Präsidenten der drei Organe (Europäisches Parlament, Rat und Kommission) darlegen, weshalb der Entwurf mit dem Subsidiaritätsprinzip unvereinbar ist.356 Die Rechtsfolgen begründeter Stellungnahmen unterscheiden sich danach, 130 ob die nationalen Parlamente ein bestimmtes Quorum erreichen. Dabei verfügt jedes nationale Parlament über zwei Stimmen; in Zweikammersystemen entfällt auf jede Kammer eine Stimme. Nur wenn die Anzahl begründeter Stellungnahmen mindestens ein Drittel der Gesamtzahl der den nationalen Parlamenten zugewiesenen Stimmen erreicht, besteht eine förmliche Überprüfungspflicht des Entwurfsverfassers,357 der in der Regel die Kommission ist („gelbe Karte“358). Bei Materien des sensiblen Bereiches der Justiz- und Innenpolitik359 reicht bereits ein Viertel der Stimmen aus. Nach dem Überprüfungsverfahren bedarf die Entscheidung der Kommission360 eines formellen Beschlusses sowie einer Begründung. Erreicht die Zahl der begründeten Stellungnahmen im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren361 eine einfache Mehrheit der Gesamtzahl und hält die Kommission an ihrem Vorschlag fest, so prüft der Gesetzgeber (das Europäische Parlament und der Rat), ob der Vorschlag das Subsidiaritätsprinzip verletzt („orangene Karte“362). Gelangen das Europäische Parlament mit einer Mehrheit der abgegebenen Stimmen oder der Rat mit einer Mehrheit von 55% seiner Mitglieder zu der Ansicht, dass der Vorschlag nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang steht, so wird der Vorschlag nicht weiter geprüft. Ohne Erreichen dieser bestimmten Quoren besteht lediglich eine Berücksichti- 131 gungspflicht der Entwurfsverfasser, aber keine Pflicht zur Begründung der Behandlung des Gesetzgebungsentwurfs.363 Die Vorgehensweise steht also im Ermessen der Entwurfsverfasser (Kommission).364

_____ 356 Art 3 S 1 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente sowie Art 6 S 1 Subsidiaritätsprotokoll. Dadurch, dass jede einzelne Kammer ein Recht zur Stellungnahme besitzt, können sich unterschiedliche Entscheidungen innerhalb eines Parlaments ergeben (Streinz/Ohler/Hermann S 63; Zoller Jahrbuch des Föderalismus 2005, S 276). 357 Art 7 II Subsidiaritätsprotokoll. 358 Buzogány/Stuchlik ZParl 2012, 340 (347). 359 Das Vorhaben betrifft den „Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts“; vgl Art 7 II S 2 Subsidiaritätsprotokoll. 360 Bzw des jeweiligen Entwurfsverfassers – der Gruppe von Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments etc (s Art 7 II UAbs 2 Subsidiaritätsprotokoll). 361 Art 7 III Subsidiaritätsprotokoll; s dazu auch Schoo EuR 2009, Beiheft 1, 51 (56). 362 Buzogány/Stuchlik ZParl 2012, 340 (347); die Begriffe gelbe und orange Karte werden immer öfter dafür verwendet, s zB Bickenbach EuR 2013, 523 (532); s auch die EU-Kommission in ihren Berichten, zB Europäische Kommission COM(2012) 373. 363 Vgl Art 7 I UAbs 1 Subsidiaritätsprotokoll. 364 Vgl Puttler Stellungnahme zum Expertengespräch des Unterausschusses Europarecht am 16. Juni 2010, S 6. Ines Härtel

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132

Zwar können die nationalen Parlamente mit der Subsidiaritätsrüge rechtlich nicht erzwingen, dass ein Gesetzgebungsentwurf geändert oder zurückgezogen wird. Jedoch erzeugt eine Rüge eine faktische und politische Wirkung auf die Kommission,365 wie die bisherige Praxis schon gezeigt hat (Rn 140 ff). Der Druck auf die Kommission wird bei Erreichen des entsprechenden Quorums weiter erhöht.366

b) Subsidiaritätsklage 133 Erlangt eine „gelbe“ oder „orange“ Karte nicht die erstrebte Wirkung, dann kann eine Subsidiaritätsklage vor dem EuGH („rote Karte“) erhoben werden. Die Subsidiaritätsklage dient der ex-post-Kontrolle und ist eine besondere Art der Nichtigkeitsklage.367 Während nach früherer Rechtslage ein Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip gerichtlich nur von den Unionsorganen und den Mitgliedstaaten mit der allgemeinen Nichtigkeitsklage geltend gemacht werden konnte,368 wurde mit der Subsidiaritätsklage der Kreis der Klageberechtigten erweitert auf die Kammern der nationalen Parlamente sowie den Ausschuss der Regionen, soweit er im konkreten Fall anhörungsberechtigt ist.369 Der Ausschuss der Regionen muss allerdings nicht die Verletzung eigener Rechte geltend machen, sondern kann – wie die anderen Klageberechtigten auch – allein die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips durch den Unionsgesetzgeber rügen.370 Ein Klagerecht für einzelne Regionen oder Länder wurde indes nicht eingeführt.371 Zur innerstaatlichen Ausgestaltung der Subsidiaritätsklage372 hat der deutsche 134 Gesetzgeber Regelungen im Grundgesetz und im Integrationsverantwortungsgesetz erlassen. Nach Art 23 Ia 1 GG haben der Bundestag und der Bundesrat das Recht, wegen Verstoßes eines Gesetzgebungsaktes gegen das Subsidiaritätsprinzip vor dem Gerichtshof der Europäischen Union Klage zu erheben. Der Bundestag kann den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ermächtigen, das

_____ 365 Härtel Hdb Europäische Rechtsetzung S 77 ff. 366 Vgl Wuermeling in: Protokoll der 8. Sitzung des Rechtsausschusses – Unterausschuss Europarecht am 16. Juni 2010, S 22. 367 Vgl Art 8 Subsidiaritätsprotokoll iVm Art 263 AEUV. Vorschläge zur Einrichtung eines besonderen Kompetenzgerichts bzw einer eigenständigen Kompetenzkammer innerhalb des EuGH konnten sich nicht durchsetzen (vgl Härtel Hdb Europäische Rechtsetzung S 75; Molsberger S 215). 368 Ex-Art 230 EGV. 369 Papier FS Josef Isensee, 2007, S 691 (700); Uerpmann-Wittzack/Edenharter EuR 2009, 313 (313). 370 S Hummer/Obwexer/Obwexer S 261. 371 Dies wurde zB im Bundesratsbeschluss vom 12.7.2002 gefordert (s Leiße/Schmuck S 266); zur möglichen indirekten Einbeziehung der regionalen Ebene in eine Subsidiaritätsklage nach innerstaatlichem Recht s Molsberger VBlBW 2005, 169 (170). 372 In Art 8 Subsidiaritätsprotokoll heißt es „[…] oder entsprechend der jeweiligen innerstaatlichen Rechtsordnung“. Ines Härtel

V. Kompetenzausübungsregeln | 509

Recht zur Erhebung der Subsidiaritätsklage wahrzunehmen (vgl Art 45 S 3 GG). Des Weiteren ist das Klagerecht des Bundestages als parlamentarisches Minderheitenrecht ausgeformt (Art 23 Ia 2 GG). Der Bundestag ist auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder verpflichtet, die Klage zu erheben. Das Bundesverfassungsgericht hält diese Ausgestaltung für verfassungsmäßig.373 Für die Subsidiaritätsklage des Bundesrates besteht kein entsprechendes Minderheitenrecht.374 Die Frist für die Subsidiaritätsklage beträgt zwei Monate375 und beginnt mit der 135 Veröffentlichung des Gesetzgebungsaktes im Amtsblatt der Europäischen Union zu laufen. Eine vorherige erfolglose Subsidiaritätsrüge ist keine Zulässigkeitsvoraussetzung der Subsidiaritätsklage.376

c) Prüfungsmaßstab im Rahmen der Kontrollmechanismen Begründet ist eine Subsidiaritätsrüge oder eine Subsidiaritätsklage, wenn der Ent- 136 wurf eines Gesetzgebungsaktes (bei der Rüge) oder der Gesetzgebungsakt (bei der Klage) das Subsidiaritätsprinzip verletzt,377 aber auch, wenn ein formeller Verstoß gegen das Subsidiaritätsprotokoll vorliegt – also ein Verfahrens-, Beteiligungs- oder Begründungsfehler.378 Hinsichtlich der Begründetheit von Subsidiaritätsrüge und

_____ 373 Zwar weiche das Erfordernis eines Quorums von einem Viertel der Mitglieder vom Mehrheitsprinzip des Art 42 II GG ab, dies sei jedoch schon deshalb unbedenklich, da es nicht um Entscheidungen mit regelnder Wirkung, sondern um die Befugnis zur Anrufung eines Gerichts gehe, s BVerfGE 123, 267 (431 f) – Lissabon; zustimmend Shirvani JZ 2010, 753 (754 f); zur Kritik an der Ausgestaltung als Minderheitenrecht s Mellein S 385; Uerpmann-Wittzack/Edenharter EuR 2009, 313 (326). 374 Shirvani JZ 2010, 753 (756). 375 Vgl Art 8 I Subsidiaritätsprotokoll iVm Art 263 VI AEUV. 376 Puttler Stellungnahme zum Expertengespräch des Unterausschusses Europarecht am 16. Juni 2010, S 10; vArnauld/Hufeld/Kötter S 292. 377 Art 8 I Subsidiaritätsprotokoll. 378 Als formelle Fehler können unter Umständen gerügt werden: Verstöße gegen die Anhörungspflicht der Kommission gemäß Art 2 Subsidiaritätsprotokoll, wonach bei ihren durchzuführenden umfangreichen Anhörungen ggf der regionalen und lokalen Bedeutung der in Betracht gezogenen Maßnahme Rechnung zu tragen ist; Verstöße gegen die Begründungspflicht bei einem Gesetzgebungsentwurf gemäß Art 5 S 1 Subsidiaritätsprotokoll oder Verstöße gegen Beteiligungsrechte der nationalen Parlamente, sei es, dass sie nicht in der vorgesehenen Weise gemäß Art 4 Subsidiaritätsprotokoll von dem Gesetzgebungsentwurf informiert wurden oder Mängel im Ablauf des Frühwarnverfahrens eintraten. S dazu Shirvani JZ 2010, 753 (757); Puttler Stellungnahme zum Expertengespräch des Unterausschusses Europarecht am 16. Juni 2010, S 10, 12 f (mit der Differenzierung, dass ein Verstoß gegen die Pflicht zu umfangreichen Konsultationen nach Art 2 Subsidiaritätsprotokoll nicht von den nationalen Parlamenten, sondern nur von einem Mitgliedstaat gerügt werden könne); Suhr Stellungnahme zum Expertengespräch des Unterausschusses Europarecht am 16. Juni 2010, S 27 f. Für die Begründetheit der Subsidiaritätsklage ist dabei maßgeblich, ob der jeweilige formelle Verstoß auch zur Nichtigkeit des Gesetzgebungsaktes führt. Dafür ist wiederum nach Art 263 II Ines Härtel

510 | § 6 Die Zuständigkeiten der Union

-klage ist die Frage umstritten, ob auch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zum Prüfungsmaßstab gehören.379 Das Primärrecht regelt alle drei Prinzipien in derselben Norm (Art 5 EUV), unterscheidet aber zugleich deutlich zwischen ihnen. So gilt für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, wonach die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig werden darf, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben.380 Die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit bilden Kompetenzausübungsschranken und sind jeweils in unterschiedlichen Absätzen definiert (vgl Art 5 I 2, III, IV EUV). Für eine Begrenzung des Prüfungsumfangs – im Rahmen der Subsidiaritäts137 rüge und -klage – auf die Subsidiarität könnte der Wortlaut der einschlägigen Rechtsnormen zu den beiden Kontrollinstrumenten sprechen, die explizit nur auf das Subsidiaritätsprinzip Bezug nehmen.381 Zudem könnte für diese Sichtweise die Entstehungsgeschichte des Subsidiaritätsprotokolls angeführt werden, da im Verfassungskonvent festgehalten wurde, dass sich das Frühwarnsystem ausschließlich auf die Frage der Achtung des Subsidiaritätsprinzips bezieht und Änderungsvorschläge zur Ausdehnung des Frühwarnmechanismus auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht berücksichtigt wurden.382 Auch deutet die systematische Stellung der Subsidiaritätskontrolle in Art 5 III EUV, wo das Subsidiaritätsprinzip geregelt ist, auf den engen Prüfungsumfang hin. So wird die Subsidiaritätskontrolle nicht im Zusammenhang mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art 5 II EUV) oder mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip (Art 5 IV EUV) geregelt.

_____ AEUV erforderlich, dass es sich um die Verletzung „wesentlicher Formvorschriften“ handelt. Dies dürfte bei den genannten möglichen formellen Verstößen anzunehmen sein. 379 Für einen engen Prüfungsmaßstab: Albin NVwZ 2006, 629 (630); Molsberger S 223 ff; Fastenrath/Nowak/Groh S 88; Uerpmann-Wittzack EuGRZ 2009, 461 (462); Mayer Stellungnahme zum Expertengespräch des Unterausschusses Europarecht am 16. Juni 2010, S 16 f; für eine Ausdehnung des Prüfungsmaßstabes: Schwarze/Schwarze S 523; Wuermeling EuR 2004, 216 (225); Wuermeling 10 Thesen zur Subsidiaritätsrüge, Expertenanhörung des Unterausschusses Europarecht des Deutschen Bundestages am 16. Juni 2010, S 1; Ritzer/Ruttloff EuR 2006, 116 (132); Thiele EuR 2010, 39 (46 f); Calliess Stellungnahme zum Expertengespräch des Unterausschusses Europarecht am 16. Juni 2010, S 13 f; Puttler Stellungnahme zum Expertengespräch des Unterausschusses Europarecht am 16. Juni 2010, S 11; Suhr Stellungnahme zum Expertengespräch des Unterausschusses Europarecht am 16. Juni 2010, S 26 f, 32; Shirvani JZ 2010, 753 (757); im Ergebnis wohl auch Lorz Stellungnahme für den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages 2010, S 5; Bickenbach EuR 2013, 523 (543). 380 Vgl Art 5 I 1 und 5 II 1 EUV. 381 So Art 5 III UAbs 2 EUV sowie Art 6 und Art 8 des Subsidiaritätsprotokolls. 382 Vgl die Schlussfolgerungen der Gruppe I „Subsidiaritätsprinzip“ des Verfassungskonvents, CONV 286/02, S 6; ferner CONV 724/03 Anlage 2, S 145. Ines Härtel

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All diesen Argumenten ist jedoch zum einen entgegenzuhalten, dass das Subsi- 138 diaritätsprinzip bei ausschließlicher Kompetenz nicht zur Anwendung gelangt. Schon aus dem Grunde geht der Prüfung der Subsidiaritätskriterien stets als Vorfrage die Prüfung der Zuständigkeit voraus.383 Zum anderen sind für die Subsidiaritätsprüfung auch die Ziele maßgeblich, die der in Anspruch genommenen Kompetenzgrundlage immanent sind.384 Demzufolge ist die Einbeziehung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung aus Gründen der Systematik geboten.385 Auch mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergibt sich eine Er- 139 weiterung des Prüfungsumfangs für die Subsidiaritätskontrolle.386 So können im Einzelfall der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Grundsatz der Subsidiarität inhaltlich sehr eng verwoben und damit schwer voneinander abgrenzbar sein. Dies spiegelt auch zum Teil die Regelungstechnik zum gemeinsamen „Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“ wider. Insb trennt die Vorschrift zur Begründungspflicht (Art 5 des Protokolls Nr 2) nicht klar danach, welche Anforderungen für die Subsidiaritäts- oder für die Verhältnismäßigkeitsprüfung gelten sollen.387

d) Praktische Anwendungsfälle der Subsidiaritätsrüge Ein Blick auf die bisherige Praxis zur Subsidiaritätsrüge zeigt, dass auch die nationa- 140 len Parlamente von einem weiteren Prüfungsmaßstab ausgehen, der neben dem Subsidiaritätsprinzip im engeren Sinne auch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und das Verhältnismäßigkeitsprinzip umfasst.388 Auch belegt die Praxis, dass nationale Parlamente von ihrer Kontrollbefugnis zunehmend Gebrauch machen.

aa) Europäische Ebene So sind in den Jahren 2009 bis 2017 insgesamt 398 Stellungnahmen bei der Europäi- 141 schen Kommission eingegangen. Die Anzahl der mit Gründen versehenen Stellung-

_____ 383 Vgl Schwarze/Schwarze S 523. 384 Vgl Suhr Stellungnahme zum Expertengespräch des Unterausschusses Europarecht am 16. Juni 2010, S 32. 385 Bickenbach EuR 2013, 523 (543); außerdem wird als Argument die Verfahrensökonomie angeführt vgl Buschmann/Daiber DÖV 2011, 504 (508). 386 Bickenbach EuR 2013, 523 (543). 387 So Puttler Stellungnahme zum Expertengespräch des Unterausschusses Europarecht am 16. Juni 2010, 2010, S 11; vgl auch Suhr Stellungnahme zum Expertengespräch des Unterausschusses Europarecht am 16. Juni 2010, S 26 f. 388 Daiber ZParl 2012, 293 (312); Ngyuen ZEuS 2012, 277 (280); für die europäische Ebene Buzogány/ Stuchlik ZParl 2012, 340 (351 ff) mit einer umfassenden Auswertung von Subsidiaritätsrügen in den Mitgliedstaaten in den Jahren 2010 und 2011. Ines Härtel

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nahmen variiert teils stark: 2013 gingen insgesamt 88389 ein, 2015 hingegen lediglich 8390 und im Folgejahr 65,391 was einem Anstieg um 713% entspricht. Nicht alle Parlamente sind gleich aktiv. Der schwedische Riksdag reichte in den Jahren 2011,392 2012,393 2013394 und 2016395 jeweils die meisten Stellungnahmen ein. Während die orange Karte noch nie ausgelöst wurde, kam die gelbe Karte insge142 samt drei Mal zum Einsatz. Der notwendige Schwellenwert von einem Drittel der nationalen Parlamente wurde erstmals 2012 erreicht bezüglich des Vorschlags für eine Verordnung über die Ausübung des Rechts auf Durchführung kollektiver Maßnahmen.396 Die Kommission kam zu dem Ergebnis, dass der Vorschlag nicht gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt, gleichwohl beschloss sie den Vorschlag zurück zu nehmen, da die für die Annahme notwendige politische Unterstützung im Parlament und Rat fehlte.397 2013 wurde die gelbe Karte im Zusammenhang mit dem Vorschlag einer Verord143 nung über die Einrichtung der europäischen Staatsanwaltschaft398 ausgelöst und 2016 bezüglich des Kommissionsvorschlags zur Überarbeitung der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern.399 In beiden Fällen kam die Kommission zu der Einschätzung, dass die Vorschläge mit der Subsidiarität vereinbar sind.400 Die Rechtsprechung des EuGH401 tendiert dazu, das Subsidiaritäts- und das Ver144 hältnismäßigkeitsprinzip großzügig zu Gunsten der Union auszulegen, was die folgenden Urteile illustrieren. In der Rechtssache Estland gegen Parlament und Rat402 urteilte der EuGH, dass eine Richtlinie in ihrer Gesamtheit zu betrachten sei, um

_____ 389 Jahresbericht 2013 der Kommission über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, COM(2014) 506, S 4. 390 Dies stellt die niedrigste Zahl seit der Einführung im Jahr 2009 dar, Jahresbericht 2015 der Kommission über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit COM(2016) 469, S 9. 391 Jahresbericht 2016 der Kommission über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit COM(2017) 600, S 8 f. 392 Jahresbericht 2011 der Kommission über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, COM(2012) 373, S 4. 393 Er reichte 20 mit Gründen versehene Stellungnahmen ein, Jahresbericht 2012 der Kommission über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, COM(2013) 566, S 4. 394 COM(2014) 506, S 4. 395 COM(2017) 600, S 9. 396 Sog Monti-II-Verordnung, COM(2012) 130. 397 COM(2013) 566, S 8 f. 398 COM(2013) 534. 399 COM(2016) 128. 400 Die Entscheidungen wurden jeweils schriftlich begründet: Mitteilungen COM(2013) 851; COM(2016) 505. 401 Eine Übersicht findet sich bei Schwarze/Lienbacher Art 5 EUV Rn 31. 402 EuGH, Rs C-508/13 – Estland / Parlament und Rat. Ines Härtel

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festzustellen, ob der Subsidiaritätsgrundsatz gewahrt wurde; eine isolierte Prüfung der einzelnen Bestimmungen findet nicht statt.403 Des Weiteren wird bei der Subsidiaritätsprüfung auch nicht isoliert die besondere Situation eines Mitgliedstaats als Maßstab angewandt. Entscheidend ist vielmehr, dass die Maßnahme wegen ihrer Wirkung oder Dimension auf Unionsebene besser als auf nationaler Ebene umgesetzt werden kann, was sich aus detaillierten Angaben ohne Beurteilungsfehler des Unionsgesetzgebers ergeben muss.404 In einer Reihe von Entscheidungen zur Tabakrichtlinie im Jahr 2016405 stellte der EuGH zunächst heraus, dass die Richtlinie zwei Ziele verfolgte: das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts und den Schutz der Gesundheit. Selbst wenn unterstellt werde, dass das zweite Ziel besser auf nationaler Ebene geschützt werden könne, so könnten hierdurch Situationen hervorgerufen werden, die der Erreichung des ersten Ziels entgegen laufen würden. Aufgrund dieser Wechselwirkungen dürfe der Unionsgesetzgeber davon ausgehen, dass sein Handeln die erstrebten Ziele besser erreichen kann.406 Darüber hinaus äußert sich der EuGH zu der Aufgabe der Wahrung des Subsidiaritätsgrundsatzes durch die nationalen Parlamente. Diese üben eine politische Kontrolle aus (ex-ante), bevor eine Kontrolle durch den Gerichtshof aus einer ex-post-Perspektive stattfinde.407 Die Entscheidungen verdeutlichen, dass die Wahrung des Subsidiaritätsgrundsatzes in den Aufgabenbereich der Mitgliedstaaten fällt und diese somit aktiv an der Durchsetzung mitwirken müssen.

bb) Nationale Ebene In den Jahren 2010 bis 2017 wurden durch den Deutschen Bundestag neun Subsidia- 145 ritätsrügen erhoben. Der Deutsche Bundesrat erhob insgesamt 14 mit Gründen versehene Stellungnahmen.408 Auffällig ist, dass in den Jahren 2014 bis 2016 keine mit Gründen versehenen Stellungnahmen des Bundestages bzw -rates verfasst wurden und der Bundestag zunächst weniger aktiv als der Bundesrat war, in 2017 aber erstmals mehr Stellungnahmen verfasst hat.409

_____ 403 EuGH, Rs C-508/13 – Estland / Parlament und Rat, Rn 51. 404 EuGH, Rs C-508/13 – Estland / Parlament und Rat, Rn 53 f. 405 EuGH, Rs C-547/14 – Philip Morris; Rs C-477/14 – Pillbox 38; C-358/14 – Polen / Parlament und Rat. 406 EuGH, Rs C-358/14 – Polen / Parlament und Rat, Rn 116 ff, C-547/14 – Philip Morris, Rn 220 ff. 407 EuGH, Rs C-547/14 – Philip Morris, Rn 216 f; Rs C-477/14 – Pillbox 38, Rn 145 f; Rs C-358/14 – Polen / Parlament und Rat, Rn 112 f. 408 S dazu BT-Drs 17/3239 und BR-Drs 437/10. 409 Die Statistiken wurden der Auflistung im jeweiligen Anhang 1 der Jahresberichte der Kommission über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit entnommen: KOM(2011) 344; COM(2012) 373; COM(2013) 566; COM(2014) 506; COM(2015); COM(2016) 469; COM(2017) 600; COM(2018) 490. Ines Härtel

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VI. Sonderprobleme an den Beispielen der Finanzkrise und der Europäischen Grundrechtecharta VI. Sonderprobleme a. d. Bsp. d. Finanzkrise u. d. Europäischen Grundrechtecharta

1. Auf dem Weg zur Stabilisierungs- und Fiskalunion 146 Die Finanz- und Staatsschuldenkrise in der Europäischen Union hat ein Konglomerat an spezifischen völkerrechtlichen Regelungen auf mitgliedstaatlicher Ebene nach sich gezogen, die eine Reihe von kompetenzrechtlichen Fragen aufwerfen. Vor allem stellt sich das Problem, ob und inwiefern die Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des geltenden Vertragsrechts daneben miteinander völkerrechtliche Verträge abschließen dürfen. Dieses völkerrechtliche Neben- und Komplementärrecht war an Stelle des supranationalen EU-Sekundärrechts entstanden, da die Verträge keine Instrumente zur Bewältigung der Krise bereithielten und ein diesbezügliches Vertragsänderungsverfahren als zu langwierig angesehen wurde. Dieses zwischenstaatliche Sonderrecht umfasst vor allem den Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und den Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (VSKS oder Fiskalvertrag).410 Der ESM ist am 2. Februar 2012 als völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Mit147 gliedstaaten des Euroraums geschlossen worden und am 27. September 2012 in Kraft getreten.411 Er löste das temporäre Vorgängerregime – den Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) sowie die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) aus dem Jahre 2010 – ab. Der ESM ist als dauerhafter Schutzund Notfallmechanismus konstruiert. Dabei geht es um die Unterstützung von EuroMitgliedstaaten, die in Zahlungsschwierigkeiten geraten sind. So kann auf Antrag eines ESM-Mitgliedes der neu geschaffene Gouverneursrat eine Finanzhilfe gewähren, wenn eine Gefahr für die Finanzstabilität des Euro-Währungsgebietes vorliegt und die Staatsverschuldung des jeweiligen ESM-Mitgliedes tragbar ist. Zwecks möglicher Gewährung von Finanzhilfen wurde insb der ESM mit einem Stammkapital von 700 Milliarden Euro ausgestattet (wobei der Anteil Deutschlands rund 190 Milliarden Euro beträgt).412 Der ESM-Vertrag ist eng mit dem Fiskalvertrag verknüpft. Schließlich können nur solche Länder Stabilitätshilfen aus dem ESM erhalten, die den Fiskalpakt ratifiziert und eine verbindliche nationale Schuldenbremse eingeführt haben. Der Fiskalvertrag dient der Vermeidung und Zurückführung der Staatsver148 schuldung sowie der Stärkung der Haushaltsdisziplin. Er wurde am 2. März 2012 von

_____ 410 Der Fiskalvertrag wird auch oft als Fiskalpakt bezeichnet, vgl Isensee/Kirchhof/Lewinski HStR X, § 217 Rn 32, Fn 88. 411 S Bekanntmachung vom 1. Oktober 2012, BGBl II S 1086. 412 Vgl Art 7 und Anhang II des ESM-Vertrages. Die Haftung jedes ESM-Mitgliedes beschränkt sich auf seinen Anteil am Stammkapital (Art 8 ESMV). Ines Härtel

VI. Sonderprobleme a. d. Bsp. d. Finanzkrise u. d. Europäischen Grundrechtecharta | 515

25 Mitgliedstaaten der EU ebenso als völkerrechtlicher Vertrag geschlossen. Das Vereinigte Königreich und Tschechien haben den Vertrag nicht unterzeichnet. Aufgrund ihres Widerstands konnte auch nicht die erforderliche Einstimmigkeit für eine entsprechende und auch ursprünglich gewollte Vertragsveränderung nach Art 48 AEUV413 erreicht werden, die eine deutliche Rechtsgrundlage für einen supranationalen Fiskal-Rechtsakt geschaffen hätte. Eine Vertragsänderung und damit eine primärrechtliche Verankerung ist mit 149 Blick auf den ESM erfolgt. So hat der Europäische Rat am 25. März 2011 auf der Grundlage von Art 48 VI EUV (im vereinfachten Vertragsänderungsverfahren) beschlossen, Art 136 AEUV folgenden Absatz 3 anzufügen: „Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen.“ Diese Rechtsvorschrift ist mit Wirkung vom 1. Mai 2013 in Kraft getreten.414 Bereits am 27.11.2012 erging in einem Vorabentscheidungsverfahren das sog 150 Pringle-Urteil des EuGH415 zu Art 136 III AEUV und der mitgliedstaatlichen Vertragsabschlusskompetenz für die „Rettungspolitik“. Der irische Abgeordnete Pringle hatte gegen den ESM-Vertrag vor dem Irischen Supreme Court geklagt. Der Supreme Court hatte dem EuGH verschiedene Fragen vorgelegt, so insb die Frage, ob der Beschluss 2011/199 des Europäischen Rates zur Einführung des Art 136 III AEUV im vereinfachten Vertragsänderungsverfahren nach Art 48 VI AEUV ergehen durfte und ob dieser Beschluss gegen die Verträge verstößt, ferner die Fragen, ob ein EuroMitgliedstaat im Hinblick auf die Zuständigkeitsordnung der Union und die NoBailout-Klausel gem Art 125 AEUV416 berechtigt ist, eine internationale Übereinkunft wie den ESM-Vertrag abzuschließen und zu ratifizieren. Im Ergebnis hielt der EuGH die angegriffenen Maßnahmen für unionsrechtskon- 151 form. So konnte Art 136 III AEUV im Wege des vereinfachten Änderungsverfahrens iSv Art 48 VI EUV eingeführt werden. Eine vereinfachte Vertragsänderung setzt nämlich materiell-rechtlich voraus, dass sie sich auf Bestimmungen des Dritten Teils des AEUV bezieht und sie nicht zu einer Ausdehnung der Unionszuständigkei-

_____ 413 Vgl BT-Drs 17/9046, 1. 414 Also nach dem Abschluss und Inkrafttreten des ESM-Vertrages im Jahr 2012; zur Bedeutung dieser Norm s zB Kube WM 2012, 245 ff; Rathke DÖV 2011, 753 ff. 415 EuGH, Rs C-370/12 – Pringle, Rn 92 ff; im Schrifttum zu dieser Problematik zB Nettesheim NJW 2013, 14 ff; Schunder NVwZ 2013, 1 f; Calliess NVwZ 2013, 97 ff; Craig Maastricht Journal of European and Comparative Law 2013, 3 ff; Ruffert JZ 2013, 257 ff; Ruffert JuS 2013, 278 ff; Thym JZ 2013, 259 ff, Müller-Graff Recht der internationalen Wirtschaft 2013, 111 ff; Repasi EuR 2013, 45 ff; Weiß/ Haberkamm EuZW 2013, 95 ff. 416 Zu der genauen Formulierung der einzelnen Fragen und der Bezugnahme auf die verschiedenen primären Rechtsnormen vgl EuGH, Rs C-370/12 – Pringle, Rn 28. Ines Härtel

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ten führt (Art 48 VI UAbs 2 S 1 und UAbs 3 EUV). Mit der neuen Vorschrift in Art 136 III AEUV wird keine Unionszuständigkeit begründet, sondern die Befugnis der Mitgliedstaaten zur Einrichtung eines Stabilitätsmechanismus klargestellt.417 Damit ist eine wesentliche Voraussetzung für eine vereinfachte Vertragsänderung erfüllt. Durch den Beschluss 2011/199 wurde auch eine Rechtsvorschrift des Dritten Teils des AEUV geändert, nämlich Art 136 AEUV. Allerdings stellte sich die Frage, ob durch die Vertragsänderung auch Regelungen des Ersten Teils des AEUV betroffen sind. Tangiert sein könnte die Regelung zur ausschließlichen Zuständigkeit der Union im Bereich der „Währungspolitik für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist“ nach Art 3 I lit c AEUV. Der Begriff der Währungspolitik ist primärrechtlich nicht definiert.418 Allein aufgrund der systematischen Stellung der Norm des Art 136 III AEUV im Kapitel 4 des achten Titels des Vertrages, der „besondere Bestimmungen für die Mitgliedstaaten, der Währung der Euro ist“ enthält, subsumiert der EuGH den Art 136 III AEUV nicht unter „Währungspolitik der Mitgliedstaaten“. Er nimmt vielmehr anhand der Ziele der Norm die Zuordnung zur Zuständigkeitsart vor.419 Vorrangiges Ziel der Währungspolitik ist die Gewährleistung der Preisstabilität. Davon unterscheidet sich der Zweck des Mechanismus, die Stabilität des EuroWährungsraums zu sichern. Auch wenn die Stabilität des Euro-Währungsraums mittelbare Auswirkungen auf die Preisstabilität haben kann, führt dies nicht dazu, dass eine wirtschaftspolitische Maßnahme einer währungspolitischen Maßnahme gleichgestellt wird.420 Der Stabilitätsmechanismus, der Finanzhilfen an notleidende Euro-Mitglieder vorsieht, ist ein wirtschaftspolitisches Instrument, das nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fällt.421 Auch wird durch die einfache Vertragsänderung die – im ersten Teil des AEUV geregelte – Zuständigkeit der Union im Bereich der Koordinierung der Wirtschaftspolitik gemäß Art 2 III und Art 5 I AEUV nicht geändert. Die Rolle der Union im Bereich der Wirtschaftspolitik beschränkt sich auf Koordinierungsmaßnahmen, umfasst aber keine spezielle Zuständigkeit für die Schaffung eines Stabilitätsmechanismus.422 In Bezug auf die Frage der Vertragsabschlusskompetenz der Mitgliedstaaten hat 152 der EuGH in seiner Pringle-Entscheidung verschiedene Voraussetzungen aufgestellt.423 Die erste Voraussetzung für einen zwischenstaatlichen völkerrechtlichen Vertrag besteht darin, dass die Union in dem betreffenden Bereich keine ausschließliche Zuständigkeit besitzt. Wie auch bereits im Zusammenhang mit Art 48

_____ 417 418 419 420 421 422 423

EuGH, Rs C-370/12 – Pringle, Rn 71–75. EuGH, Rs C-370/12 – Pringle, Rn 53. Vgl EuGH, Rs C-370/12 – Pringle, Rn 53, 55. EuGH, Rs C-370/12 – Pringle, Rn 56. EuGH, Rs C-370/12 – Pringle, Rn 56 ff. EuGH, Rs C-370/12 – Pringle, Rn 64. Vgl Nettesheim NJW 2013, 14 (15); Repasi EuR 2013, 45 ff. Ines Härtel

VI. Sonderprobleme a. d. Bsp. d. Finanzkrise u. d. Europäischen Grundrechtecharta | 517

VI AEUV festgestellt wurde, gehört die Stabilisierung von Mitgliedstaaten zur Wirtschaftspolitik und nicht zur ausschließlichen Unionszuständigkeit für Währungspolitik. Zweitens verlangt der EuGH unter Verweis auf Art 3 II AEUV (der an sich auf Verträge mit Drittstaaten bezogen ist), dass der zwischenstaatliche Vertrag nicht zu einer Beeinträchtigung oder einer Veränderung der Tragweite unionsrechtlicher Regelungen führen darf. Auch diese Bedingung sieht der EuGH als erfüllt an.424 Drittens dürfen die mitgliedstaatlichen Verträge nicht direkt in Konflikt mit den Vorgaben des Unionsrechts treten.425 In dem Zusammenhang prüft der EuGH insb die Vereinbarkeit des Stabilisierungsmechanismus mit Art 125 I AEUV – der sog No-BailoutKlausel426 bzw Nichtbeistands-Klausel – und hat sie im Ergebnis aufgrund einer engen Auslegung des Art 125 I AEUV angenommen.427 Die vom EuGH aufgestellten Kriterien für völkerrechtliche Verträge der Mitglied- 153 staaten untereinander können im übertragenen Sinne auch für andere plurilaterale Kooperationen herangezogen werden, insb für die Bewertung des Fiskalvertrages.428 Neben den unionsverfassungsrechtlichen Fragen haben der Vertrag zum ESM (und seine Vorgänger) und der Fiskalvertrag innerstaatlich verfassungsrechtliche Probleme aufgeworfen, die auch schon Gegenstand von verschiedenen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht waren und sind.429 Einen weiteren Problemkreis auf dem Weg zur Stabilisierungs- und Finanzunion stellt insb der OMT-Beschluss der EZB zum möglichen unbegrenzten Ankauf von Staatsanleihen sowie der zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten dar.430

2. Einwirkungen des Grundrechtsföderalismus und der Grundfreiheiten in das Kompetenzsystem Ein besonderes supranationales föderales Phänomen betrifft das Verhältnis zwi- 154 schen vertikaler Kompetenzordnung und den Grundrechten sowie Grundfreiheiten.

_____ 424 EuGH, Rs C-370/12 – Pringle, Rn 100–107. 425 EuGH, Rs C-370/12 – Pringle, Rn 108 ff. 426 Bail-out bedeutet so viel wie „aus der Klemme helfen“. 427 So untersage Art 125 I AEUV nicht jegliche Form finanzieller Unterstützung eines anderen Mitgliedstaates, sondern einen finanziellen Beistand, der den Anreiz für den Empfängermitgliedstaat beeinträchtigt, eine solide Haushaltspolitik zu betreiben. Erlaubt sei eine Finanzhilfe, die an strenge Auflagen für eine solide Haushaltspolitik knüpft; hierzu EuGH, Rs C-370/12 – Pringle, Rn 129 – 147; zu dem Grundsatzproblem des finanziellen Beistandes s a Häde EuR 2010, 854 (857 ff); Hentschelmann EuR 2011, 282 ff; Seidel EuZW 2011, 529 ff. 428 Vgl zur Prüfung des Fiskalvertrages Repasi EuR 2013, 45 ff. 429 Vgl BVerfGE 123, 267 (339 ff) – Lissabon; BVerfGE 129, 127 (167 ff) – Finanzhilfen für die Hellenische Republik; BVerfGE 130, 318 (342 ff) – Euro-Stabilisierungsmechanismusgesetz; BVerfGE 131, 152 (194 ff) – Europäischer Stabilitätsmechanismus und Euro-Plus-Pakt; BVerfGE 132, 195 – ESMVertrag und VSKS-Gesetz. 430 S zu den Verfahren vor dem EuGH und dem BVerfG Rn 47 ff. Ines Härtel

518 | § 6 Die Zuständigkeiten der Union

An sich verfügt die Union gemäß dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur über die Zuständigkeiten, die ihr in den Verträgen zugewiesen sind. In sichtbarer Weise werden die Mitgliedstaaten nur auf diesem Weg in ihren Kompetenzen eingeschränkt. Dieser Ausgangsbefund der vertikalen Kompetenzordnung wird jedoch durch die Wirkungsweise der europäischen Grundrechte und der Grundfreiheiten durchbrochen. So wirken die europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten selbst in Materien hinein, die nach der Zuständigkeitsverteilung den Mitgliedstaaten verblieben sind.431 Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Europäische Grundrechtecharta und die Grundfreiheiten „zentralisiert“ zugleich „gerichtliche Entscheidungsbefugnisse, die quer liegen zur legislativen Kompetenzverteilung“.432 Mit Blick auf die Einwirkung der europäischen Grundrechte in die vertikale 155 Kompetenzordnung ist vor allem das Åkerberg Fransson-Urteil des EuGH vom 26. Februar 2013433 bedeutsam. Einfallstor für einen europäischen Grundrechtsföderalismus434 und für die damit verbundene Einwirkung auf die Kompetenzen der Mitgliedstaaten ist die großzügige Auslegung des Anwendungsbereichs der Grundrechte-Charta gemäß ihrem Art 51 I 1435 durch den EuGH. Mit der Fransson-Entscheidung werden die EU-Grundrechte als eigenständige umgekehrte Kompetenzausübungsschranke für nationales Recht im Rahmen der von den Mitgliedstaaten wahrgenommenen Zuständigkeit verstanden.436 Das Bundesverfassungsgericht machte im Anschluss an dieses EuGH-Urteil in seiner Antiterrordatei-Entscheidung437 seine Auslegung des Anwendungsbereichs der Grundrechte-Charta deutlich. Zwar werden in Folge des Fransson-Urteils des EuGH die Kompetenzen der Mitgliedstaaten tangiert, jedoch nicht die Gesetzgebungskompetenzen der Union ausgedehnt. Allerdings hat sich der Kontrollumfang durch den EuGH vergrößert. Für die Frage der Vereinbarkeit mit Art 51 II GRCh und Art 6 I UAbs 2 EUV, wonach durch die Charta die Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert werden, kommt es darauf an, ob darunter auch die Zuständigkeiten des EuGH fallen. Nach einer Lesart mei-

_____ 431 S hierzu Härtel/Streinz Hdb Föderalismus Bd IV S 312; Isensee/Kirchhof/Kirchhof HStR X, § 214 Rn 61 ff; Isensee/Kirchhof/Gärditz HStR IX, § 189 Rn 50 ff; Kingreen JZ 2013, 801 (802); Valta passim. 432 Kingreen JZ 2013, 801 (802). 433 EuGH, Rs C-617/10 – Åkerberg Fransson. 434 Zu dem Begriff s Kingreen JZ 2013, 801 (810 f). 435 Danach gilt die Charta „für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“. 436 S dazu Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Aktueller Begriff – Europa: Bindung der Mitgliedstaaten an EU-Grundrechte und EuGH, Rs C-617/10 (Åkerberg Fransson) 2013, S 2. 437 BVerfG, 1 BvR 1215/07 – Antiterrordatei-Gesetz, Rn 88: So bewirkt nach seiner Ansicht die Existenz einzelner EU-Regeln zur Terrorismusbekämpfung keineswegs, dass auch die Charta gilt, weil Einrichtung und Ausgestaltung der Antiterrordatei „nicht durch Unionsrecht determiniert sind“ und daher keine „Durchführung“ von Unionsrecht darstellen; hierzu vgl Möllers/Redcay EuR 2013, 409 ff; Thym NVwZ 2013, 889 (890). Ines Härtel

VI. Sonderprobleme a. d. Bsp. d. Finanzkrise u. d. Europäischen Grundrechtecharta | 519

nen beide Normen die neu gefassten Zuständigkeiten der Union nach Art 2 bis 6 AEUV.438 Diese Auslegung betrifft das Urteil hingegen nicht. Für die Einwirkung der Grundfreiheiten auf die Kompetenzen der Mitgliedstaa- 156 ten ist auch die Rechtsprechung des EuGH besonders relevant. Danach müssen die Mitgliedstaaten auch bei der Ausübung ihrer Zuständigkeiten das Unionsrecht beachten, „sofern es sich um einen internen Sachverhalt handelt, der keinen Bezug zum Gemeinschaftsrecht aufweist“.439 Demnach gibt es fast keinen Lebensbereich mehr, der nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt440 und damit „unionsfest“441 wäre. Forciert wird die Einwirkung der Grundfreiheiten in die mitgliedstaatlichen Kompetenzen auch durch die Rechtsprechung des EuGH zur Unionsbürgerschaft, bei der er diese mit dem Diskriminierungsverbot (Art 18 I AEUV) und der Freizügigkeitsgarantie (Art 21 I AEUV) verknüpft und einen Anspruch auf Gewährung der Inländern zustehenden Sozialleistungen herleitet.442 Gleichwohl ist zu beachten, dass die Rechtsprechung des EuGH zumindest im Ansatz auch eine Tendenz zur Stärkung des Kooperationsverhältnisses zwischen EuGH und nationalen (Verfassungs-)Gerichten und damit eine Lockerung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts zeigt. In der Rechtssache „Taricco II“443 wandte sich das italienische Verfassungsgericht im Wege eines Vorlageverfahrens an den EuGH. Zu entscheiden war über die Frage, ob nationale Verjährungsregelungen des Strafrechts aufgrund des Gebots der effektiven Bekämpfung rechtswidriger Maßnahmen, die den finanziellen Interessen der Union zuwiderlaufen (Art 325 I, II AEUV), unangewendet bleiben müssen. Da die Verjährungsregeln dem materiellen italienischen Recht unterfallen, könne deren Nichtanwendung nach Ansicht des Vorlagegerichts möglicherweise gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit (der ua das Bestimmtheitsgebot und das Rückwirkungsverbot in Strafsachen umfasst) verstoßen.444 Der EuGH nahm zu dieser im Taricco I Verfahren noch nicht geklärten Frage dergestalt Stellung, dass es primär dem nationalen Gesetzgeber oblie-

_____ 438 Thym NVwZ 2013, 889 (891 und Fn 32). 439 Vgl zB EuGH, Rs C-353/06 – Grunkin ua; Streinz JuS 2009, 257 (258). 440 Merten/Papier/Huber HGR VI/2, § 172, Rn 98; Härtel/Streinz Hdb Föderalismus Bd IV S 312; Isensee/Kirchhof/Kirchhof HStR X, § 214 Rn 68. 441 Härtel/Streinz Hdb Föderalismus Bd IV S 312. 442 Vgl zB EuGH, Rs C-184/99 – Grzelczyk, Rn 27 ff; Rs C-224/98 – D’Hoop, Rn 30 f; zu diesem Problemfeld s Kingreen JZ 2013, 801 (805) auch mwN; indes fand eine (zwischenzeitliche) Abkehr des EuGH von dieser Rechtsprechungslinie statt unter Einräumung der Möglichkeit, EU-Bürgern Inländer-Sozialleistungen zu verweigern, vgl EuGH, Rs C-140/12 – Brey; Rs C-333/13 – Dano; Rs C-67/14 – Alimanovic; Rs C-299/14 – García-Nieto, sowie Thym NJW 2015, 130, Cremer EuR 2017, 681; ein Indiz für eine Abkehr von der Abkehr bzw eine Rückbesinnung auf eine großzügigere Auslegung kann in dem Urteil EuGH C-322/17 – Bogatu gesehen werden, wobei dies erst die zukünftige Rechtsprechung zeigen wird. 443 EuGH, Rs C-42/17 – M.A.S. und M.B.; vgl hierzu auch Burchardt, EuR 2018, 248. 444 EuGH, Rs C-42/17 – M.A.S. und M.B, Rn 13. Ines Härtel

520 | § 6 Die Zuständigkeiten der Union

ge, die nationalen Verjährungsregeln den Anforderungen des Art 325 AEUV anzupassen. 445 Die Gerichte dürfen indes die den unionsrechtlichen Anforderungen zuwiderlaufende Verjährungsfristen anwenden, wenn andernfalls das (Verfassungs-)Prinzip der Gesetzmäßigkeit verletzt würde.446 VII. Ausblick VII. Ausblick 157 Die Zuständigkeits- oder Kompetenzordnung der Europäischen Union als Legitima-

tionsgrundlage der Ordnung politischen Handelns auf den föderalen Ebenen ist ein Produkt der sukzessiven historischen Entwicklung. In ihren jeweiligen spezifischen Rechtsmaterien und Regelungsausformungen hat sich inzwischen eine deutlich komplexe Ausdifferenzierung ergeben. Dabei ist diese Zuständigkeitsordnung nicht nur ein Ergebnis rationaler Wahl und systematischer Rechts(fort)bildung, sondern immer auch bestimmt von den politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und rechtlichen Zeitumständen, die sich ebenfalls in einem stetigen heterogenen Wandlungsprozess befinden. Die supranationale Europäische Union mit ihren vielfältigen Erweiterungs- und Vertiefungsschritten ist insgesamt ein markantes Beispiel für solche Veränderungen.447 Zwar ist die Kompetenzordnung der Europäischen Union als rechtliche Hausgrundordnung auf Dauerhaftigkeit angelegt. Aber deren Wandel kann und darf grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden. Die Veränderung der sozioökonomischen und soziokulturellen Umstände, vor allem der stete Einbruch des Kontingenten in menschlich planvolles Handeln,448 gehören zur „conditio humana“ selbst. Grundsätzliche Kontingenz und Wandel der Gegebenheiten bedingen Veränderungen, die Reflexionsprozesse in Politik und Recht auslösen und oft institutionelle Reorganisationen und neue Regelungen zur Folge haben. Die erste Reaktion des Rechts auf gewandelte Verhältnisse wird wie gewohnt in neuer interpretativer Variabilität der Auslegungsmethodik in Bezug auf das Unionsprimärrecht bestehen. Reicht diese nicht mehr als angemessene Rechtsinterpretation aus, kann es zu Veränderungen des Vertragsrechts selbst kommen. Vermutlich wird – wenn auch oft erst mit zeitlichen Verzögerungen – der Wan158 del des politisch-rechtlichen Gefüges auch Veränderungen in der Zuständigkeitsordnung der Europäischen Union mit sich bringen. Verschiedene Strömungen werden die real absehbaren Veränderungsprozesse mit konturieren. Dazu werden

_____ 445 EuGH, Rs C-42/17– M.A.S. und M.B, Rn 41. 446 EuGH, Rs C-42/17– M.A.S. und M.B, Rn 59 ff. 447 Clemens/Reinfeldt/Wille S 1 ff; Wirsching S 1 ff; am Beispiel der Verfassungsfrage s Grimm Zukunft der Verfassung S 212 ff. 448 S dazu Marquard S 217 ff; zu den historischen Veränderungen des Öffentlichen Rechts und seinen heutigen Herausforderungen s Grimm Öffentliches Recht S 1 ff. Ines Härtel

VII. Ausblick | 521

beispielsweise im Rahmen des gesamten Rechts Entwicklungen gehören, die von den neuen Herausforderungen des öffentlichen Rechts449 selbst bis hin zu Ausweitungen von Rechtsmaterien auf andere Gebiete reichen, was dann als nicht adäquat angesehen wird und zur Infragestellung der bisherigen Zuständigkeitsordnung führen könnte. Erwähnt sei als Beispiel das europäische Beihilfenrecht, das ursprünglich auf die ökonomische Wettbewerbsordnung des Binnenmarktes bezogen war und nun auch in solche disparate, eher von nicht direkt marktbezogenen Gemeinschaftsgütern geprägte Bereiche wie Bildung und Kultur einwirkt. Auch die künftigen Weiterentwicklungen in den Bereichen der „Haushaltsunion“ (mit der Fortentwicklung des „Europäischen Semesters“), der „Bankenunion“ oder der „Fiskalunion“ können zu Veränderungen der bestehenden Kompetenzordnung führen. Auch Reformbestrebungen einiger Mitgliedstaaten der Europäischen Union können (unter anderem aus neuen Subsidiaritätsbestrebungen heraus oder aus nationalen innenpolitischen Gründen) Kompetenzverlagerungen oder gar eine Neuordnung der Zuständigkeiten nach sich ziehen. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf das politische Programm des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, der seit seinem Amtsantritt 2017 eine Reform der Union anstrebt, die auch Vertragsänderungen mit umfasst.450 Auch der Austritt Großbritanniens und die damit verbundenen und nicht vorhersehbaren Auswirkungen können zu Kompetenzveränderungen führen. Weitere gravierende Veränderungen der Kompetenzordnung könnten die Folge 159 tiefgreifender Entwicklungen sein, entweder bei einem Zerfall der Europäischen Union angesichts eines wachsenden Neo-Nationalismus oder aber umgekehrt bei einem noch erheblich intensivierten integrativen Zusammenschluss über das jetzige föderale, supranationale Gebilde mit seinem Vorrang des Unionsrechts hinaus als eine Art Bundesstaat mit neuer historisch-innovativer Form und Qualität.451 In diesem imaginären Fall würden dann die Institutionen eine veränderte Funktion bekommen und dementsprechend die Zuständigkeitsordnung neu zu bestimmen sein; insb würde das Europäische Parlament ein eigenständiges demokratisches Vollor-

_____ 449 Zu den historischen Veränderungen des Öffentlichen Rechts und seinen heutigen Herausforderungen s Grimm Öffentliches Recht S 1 ff. 450 Vgl exemplarisch Macrons Brief „Für einen Neubeginn in Europa“, Gastbeitrag in Die Welt vom 4.3.2019, abrufbar auch unter https://de.ambafrance.org/Fur-einen-Neubeginn-in-Europa. 451 Nach Grimm hat sich die Europäische Union im Laufe der Entwicklung „von einer traditionellen internationalen Organisation weiter entfernt und ist zu jener föderalen Einheit geworden, die den klassischen Dualismus von Staatenbund und Bundesstaat sprengt, aber noch nicht auf einen überzeugenden Begriff gebracht worden ist […] Die Europäische Union hat zwar bislang keine Staatsqualität erlangt, steht aber an Organen und Kompetenzen dem Oberstaat in dezentralisierten Bundesstaaten nicht nach“, Grimm Zukunft der Verfassung S 217 und 227; zur Diskussion s a Schönberger Archiv des öffentlichen Rechts 2004, S 81 ff sowie Härtel/Härtel Hdb Föderalismus Bd I S 387 ff und Härtel/Härtel Hdb Föderalismus Bd IV S 63 ff. Ines Härtel

522 | § 6 Die Zuständigkeiten der Union

gan, wodurch gleichzeitig eine tragfähige europäische Eigenlegitimation geschaffen und das oft beklagte europäische Demokratiedefizit behoben wäre.452 Mit einer solchen Entwicklung zu einer demokratisch legitimierten, selbstbestimmten und sich selbst tragenden Europäischen Union, die dann mit ihren legislativen, exekutiven und judikativen Organen insgesamt als Herrin und Hüterin der Unionsverfassung fungierte und so die Kompetenz-Kompetenz inne hätte, müssten sich dann auch die Kompetenzebenen und Kompetenzbereiche fundamental ändern und neu zugewiesen werden.453 Ob angesichts bisheriger Erfahrungen ein solcher europäischer Konstitutionalisierungsprozess in Gang gesetzt wird und Gewicht bekommt und damit eine neue Zuständigkeitsordnung entsteht, oder ob es in der jetzigen supranationalen Konstellation zu einem Erhalt der bestehenden Kompetenzordnung mit vielleicht eher pragmatisch orientierten behutsamen Veränderungen kommt, wird von einem Zusammenspiel vielerlei Interessen und politischen, rechtlichen, sozialen, kulturellen wie ökonomischen Entwicklungen, Willensbildungs- und Entscheidungsverläufen abhängen. In welcher Form die Europäische Union in Zukunft besteht und welcher Ge160 staltwandel sich auch vollziehen mag454 – die Zuständigkeitsordnung als solche ist und bleibt als rechtsbezogene existentielle Infrastruktur des europäischen Hauses Garant für die normativ rückgekoppelte Handlungslegitimierung und Funktionsfähigkeit der notwendigen Abläufe auf den jeweiligen föderalen Ebenen und in deren Zusammenspiel. Unabhängig von der konkreten Ausformung im Einzelnen bleibt die Europäische Union gerade auch mit einer rechtlich verbindlichen, föderal austarierten Kompetenzordnung im Möglichkeitsraum des Einigungswerks „Gesamteuropa“. Dies fördert den Einheit in Vielfalt stiftenden, auf demokratischer Selbstbestimmung wie Selbstverantwortung aufbauenden und Identität im gemeinsamen Recht findenden Prozess. Auf dieser Basis kann die kompetenzgeordnete Union jenseits der erodierenden, porösen Souveränität455 des Nationalstaats als sich weiterentwickelndes supranationales Gebilde „sui generis“ bedeutsame Impulse geben für eine menschengerechtere Globalisierung und den Aufbau transnationaler demokratisch-rechtlicher Strukturen. Das ist viel in einer Welt, in der angesichts des Lösungsimperativs der bestehenden großen Probleme nationalstaatliche Kompetenz nicht mehr ausreicht, auf globaler Ebene trotz mancher Bestrebungen zu kos-

_____ 452 Grimm Zukunft der Verfassung S 218 ff. 453 Grimm Zukunft der Verfassung S 230 f; die Weiterentwicklung der Europäischen Union, die „vor der Entscheidung zwischen transnationaler Demokratie und postdemokratischem Exekutivföderalismus“ stehend begriffen wird und als Verfassungsprojekt in den Schwierigkeiten der Konstitutionalisierungsbedingungen steckt, wird diskutiert bei Habermas Verfassung Europas S 1 ff sowie Habermas Technokratie S 132 ff. 454 Härtel/Härtel Hdb Föderalismus Bd IV, § 82, insb S 225 ff. 455 So Grimm Souveränität, insb S 99 ff. Ines Härtel

VII. Ausblick | 523

mopolitischen Normsetzungen aber bisher nur – wenn überhaupt – von fragmentiertem Recht456 ausgegangen werden kann.

_____ 456 Zur Problematik der nebeneinander stehenden einzelnen Rechtsregime auf Weltebene s Teubner S 1 ff; Fischer-Lescano/Teubner S 1 ff; s a die Beiträge in Isensee/Kirchhof HStR IX: Internationale Bezüge; sowie Härtel Hdb Föderalismus Bd IV S 1 ff; Neyer S 135 ff. Ines Härtel

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NEUE RECHTE SEITE Ines Härtel

§ 7 Rechtsakte und Rechtssetzung der Union | 525

Siegfried Magiera

§ 7 Rechtsakte und Rechtssetzung der Union § 7 Rechtsakte und Rechtssetzung der Union Siegfried Magiera § 7 Rechtsakte und Rechtssetzung der Union https://doi.org/10.1515/9783110498349-007

Gliederungsübersicht I. Die Rechtsordnung der Union 1. Rechtsquellen a) Primärrecht b) Sekundär- und Tertiärrecht c) Ungeschriebenes Unionsrecht aa) Gewohnheitsrecht bb) Allgemeine Rechtsgrundsätze cc) Richterrecht d) Rechtshandlungen der Mitgliedstaaten 2. Rechtsgemeinschaft a) Ziele und Werte b) Herrschaft des Rechts c) Rechtseinheit und Rechtsdurchsetzung d) Supranationalität II. Rechtsakte der Union 1. Förmliche Rechtsakte a) Verordnung aa) Allgemeine Geltung bb) Vollständige Verbindlichkeit cc) Unmittelbare Geltung b) Richtlinie aa) Verbindlichkeit bb) Wahl der Form und der Mittel cc) Unmittelbare Wirkung c) Beschluss aa) Adressatengebundenheit bb) Adressatenunabhängigkeit d) Empfehlung und Stellungnahme aa) Rechtliche Unverbindlichkeit bb) Rechtliche Relevanz 2. Gesetzgebungsakte a) Begriff und Bedeutung b) Ordentliche Gesetzgebungsakte c) Besondere Gesetzgebungsakte 3. Rechtsakte ohne Gesetzescharakter a) Delegierte Rechtsakte aa) Begriff und Bedeutung bb) Delegierungsbedingungen b) Durchführungsrechtsakte aa) Begriff und Bedeutung bb) Kompetenzverteilung zwischen Mitgliedstaaten und Union cc) Abgrenzung zu delegierten Rechtsakten c) Rechtsakte sui generis d) Atypische Rechtsakte Siegfried Magiera https://doi.org/10.1515/9783110498349-007

Rn 1 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 19 20 24 24 27 28 30 31 35 38 39 40 41 41 44 45 46 47 47 49 50 50 51 54 55 56

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4. Rechtsakte unter Beteiligung der Mitgliedstaaten Rechtssetzung der Union 1. Rechtssetzungskompetenz a) Union b) Unionsinstitutionen 2. Rechtssetzungsanforderungen a) Ermächtigungsgrundlage aa) Erfordernis bb) Auswahl b) Art des Rechtsakts c) Bezeichnung, Form und Qualität des Rechtsakts d) Begründung des Rechtsakts 3. Rechtssetzungsverfahren a) Entwicklung b) Ordentliches Gesetzgebungsverfahren aa) Begriff und Bedeutung bb) Verfahrenseinleitung cc) Verfahrensverlauf c) Besonderes Gesetzgebungsverfahren d) Sonstige Rechtssetzungsverfahren aa) Delegierte Rechtsakte bb) Durchführungsrechtsakte cc) Rechtsakte sui generis dd) Atypische Rechtsakte e) Verfahrensabschluss aa) Unterzeichnung bb) Veröffentlichung cc) Bekanntgabe IV. Wirksamkeit des Unionsrechts 1. Normenhierarchie 2. Zeitliche Geltung a) Inkrafttreten b) Gültigkeit c) Aufhebbarkeit 3. Durchsetzung 4. Zwangsvollstreckung III.

58 59 59 59 60 62 62 62 64 65 66 67 70 70 73 73 74 76 82 85 86 87 89 90 91 92 93 95 96 96 99 99 100 101 102 103

Spezialschrifttum Achenbach, Jelena von Demokratische Gesetzgebung in der EU, 2014; Bast, Jürgen Grundbegriffe der Handlungsformen der EU, 2006; Bast, Jürgen New categories of acts after the Lisbon reform: Dynamics of parliamentarization in EU law, CMLRev 2012, 885–927; Bogdandy, Armin von/Bast, Jürgen/Arndt, Felix Handlungsformen im Unionsrecht, ZaöRV 2002, 77–161; Brohm, Markus Die „Mitteilungen“ der Kommission im Europäischen Verwaltungs- und Wirtschaftsraum, 2012; Bumke, Christian Rechtsetzung in der Europäischen Gemeinschaft, in: Schuppert, Gunnar/Pernice, Ingolf/Haltern, Ulrich (Hrsg), Europawissenschaft, 2005, S 643–702; Buttlar, Christian von Das Initiativrecht der Europäischen Kommission, 2003; Everling, Ulrich Zur rechtlichen Wirkung von Beschlüssen, Entschließungen, Erklärungen und Vereinbarungen des Rates oder der Mitgliedstaaten der EG, in: GS Léontin-Jean Constantinesco, 1983, S 133–156; Grabitz, Eberhard Quellen des Gemeinschaftsrechts: Rechtshandlungen der Gemeinschaftsorgane, in: Kommission der Europäischen Ge-

Siegfried Magiera

I. Die Rechtsordnung der Union | 527

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I. Die Rechtsordnung der Union I. Die Rechtsordnung der Union 1. Rechtsquellen Die Europäische Union ist eine Rechtsgemeinschaft. Sie beruht auf Verträgen, die 1 von ihren Mitgliedstaaten abgeschlossen wurden, und sie schafft eigenes Recht durch ihre Institutionen. Ein ausdrücklicher Rechtsquellenkatalog, wie er mit dem Völkervertrags- und Völkergewohnheitsrecht sowie anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen für die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs im Rahmen des allgemeinen Völkerrechts festgelegt ist,1 findet sich im Unionsrecht nicht. Dessen Quellen sind weit verzweigt und vielschichtig sowie entwicklungsbedürftig.2 Grund dafür ist die Neuartigkeit der Union, die eine Staatengemeinschaft

_____ 1 Art 38 IGH-Statut; näher dazu Vitzthum/Proelß/Graf Vitzthum 1. Abschnitt Rn 113 ff. 2 Ausführlich zu den Handlungsformen der EU Bast S 5 ff; Härtel S 141 ff. Siegfried Magiera

528 | § 7 Rechtsakte und Rechtssetzung der Union

ohne Vorbild ist und damit erhebliche Flexibilität bei der Gestaltung ihrer Institutionen, Verfahren und (Rechts-)Instrumente benötigt. Allgemein lässt sich zwischen primärem, sekundärem und tertiärem sowie zwischen verbindlichem und unverbindlichem Unionsrecht unterscheiden, ferner zwischen geschriebenem und ungeschriebenem Unionsrecht.

a) Primärrecht 2 Als primäres Unionsrecht (Primärrecht) wird das zwischen den Mitgliedstaaten vereinbarte Recht der Verträge bezeichnet, auf denen die Europäische Union beruht. Dieses Recht nahm seinen Ausgang mit den Verträgen über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) vom 18. April 1951 sowie zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) vom 25. März 1957. Die Gründungsverträge wurden in der Folgezeit mehrfach, insbesondere durch die Einheitliche Europäische Akte (1986) sowie die Verträge von Maastricht (1992), Amsterdam (1997), Nizza (2001) und Lissabon (2007), geändert und ergänzt. Wie ursprünglich vorgesehen, ist der EGKSVertrag im Jahre 2002 außer Kraft getreten. An die Stelle des ursprünglichen EWGVertrags sind nunmehr der EU- und der AEU-Vertrag getreten, während der EAGVertrag als solcher fortbesteht. Hinzugekommen ist die mit dem übrigen Vertragsrecht gleichrangige Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Art 6 I EUV). Zum Primärrecht gehören neben den Vertragstexten im engeren Sinn die ihnen beigefügten Protokolle und Anhänge (Art 51 EUV) sowie – als Auslegungsinstrument3 – die ebenfalls beigefügten Erklärungen (Art 31 II WVK).4

b) Sekundär- und Tertiärrecht 3 Sekundäres Unionsrecht (Sekundärrecht) ist demgegenüber das von den Institutio-

nen der Union geschaffene sog abgeleitete Unionsrecht. Dazu gehören eine begrenzte Anzahl förmlicher Rechtsakte, die im Vertragsrecht einzeln benannt und hinsichtlich ihrer Struktur und Wirkungen näher umschrieben sind, sowie eine Vielzahl atypischer Rechtsakte, deren Voraussetzungen und Wirkungen sich aus einzelnen Vertragsbestimmungen oder dem Vertragszusammenhang ergeben. Förmliche Rechtsakte sind die verbindlichen Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse sowie die nicht verbindlichen Empfehlungen und Stellungnahmen. Die verbindlichen Rechtsakte können als ordentliche oder besondere Gesetzgebungsakte sowie – ohne Gesetzescharakter – als delegierte Rechtsakte, Durchführungsrechtsakte oder Rechtsakte sui generis ergehen. Atypische Rechtsakte ergehen ua

_____ 3 EuGH, Rs C-135/08 – Rottmann, Rn 40. 4 Ausführlich zum Primärrecht Niedobitek § 1 (in diesem Band) Rn 56 ff. Siegfried Magiera

I. Die Rechtsordnung der Union | 529

als Entschließungen, Schlussfolgerungen, Leitlinien, Mitteilungen, Erklärungen oder Vereinbarungen. Beruhen Rechtsakte der Unionsorgane auf Normen des Sekundärrechts (Basisrechtsakten), so lässt sich von tertiärem Unionsrecht (Tertiärrecht) sprechen.

c) Ungeschriebenes Unionsrecht Ergänzt wird das geschriebene Recht durch ungeschriebenes Unionsrecht, mithin 4 durch Rechtssätze, die nicht allein dadurch ausgeschlossen sind, dass sie nicht dem geschriebenen Recht angehören.5 Auch ist es Aufgabe der europäischen Gerichtsbarkeit, bei der Auslegung und Anwendung der Verträge allgemein die Wahrung des Rechts zu sichern (Art 19 I UAbs 1 EUV). Zum ungeschriebenen Recht gehören das Gewohnheitsrecht, die allgemeinen Rechtsgrundsätze und das Richterrecht.

aa) Gewohnheitsrecht Gewohnheitsrecht ist im Völkerrecht als Ausdruck einer allgemeinen, als Recht 5 anerkannten Übung zu verstehen (Art 38 I lit b IGH-Statut). Diese Umschreibung ist auch im Recht der Europäischen Union als einer internationalen Organisation maßgeblich. Infolge des – auf Primär- wie auf Sekundärrechtsebene – umfangreichen und detaillierten Unionsrechts und dessen häufiger Änderung und Anpassung an neue Erfordernisse findet sich bisher jedoch kein allseits anerkanntes Beispiel für unionsrechtliches Gewohnheitsrecht.6

bb) Allgemeine Rechtsgrundsätze Allgemeine Rechtsgrundsätze sind auf der Ebene des Primärrechts7 in der Recht- 6 sprechung des Europäischen Gerichtshofs – gestützt auf deren allgemeine Verankerung in Art 215 II EWGV (nunmehr Art 340 II AEUV) – herausgearbeitet und schritt-

_____ 5 EuGH, Rs 108/63 – Merlini / Hohe Behörde, Slg 1965, 1 (15) betr den EGKS-Vertrag; vgl auch Knauff FS Scheuing, 2011, S 127 ff. 6 Ein – umstrittenes – Beispiel ist die Vertretung Deutschlands im Rat der Union durch Staatssekretäre, obwohl diese nicht der Bundesregierung angehören (Art 62 GG) und das Vertragsrecht die Mitgliedstaaten von Anfang an verpflichtete, Regierungsmitglieder (ua Art 146 I EWGV) bzw seit dem Vertrag von Maastricht Vertreter auf Ministerebene zu entsenden, die befugt sind, für die Regierung des Mitgliedstaats verbindlich zu handeln (Art 146 EGV [Maastricht], Art 203 I EGV [Amsterdam], Art 16 II EUV), was für Deutschland nunmehr auch die Entsendung von Landesministern einschließt (Art 23 VI GG); vgl auch Bieber/Epiney/Haag/Kotzur § 6 Rn 21; Streinz/Obwexer Art 16 EUV Rn 31; EuGH, Rs C-687/15 – Kommission/Rat, Rn 42. 7 Vgl dazu näher Niedobitek § 1 (in diesem Band) Rn 72 ff. Siegfried Magiera

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weise auch in einzelnen Vertragsbestimmungen festgeschrieben worden.8 Sie finden ihre Grundlage in den Werten, auf die sich die Union gründet und die allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind, insbesondere Achtung der Menschenwürde und Wahrung der Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Gleichheit, Nichtdiskriminierung und Solidarität (Art 2 EUV). Im Einzelnen gehören dazu materielle Grundrechte (GRCh, EMRK ua),9 Verfahrensgarantien (rechtliches Gehör, Akteneinsicht, Entscheidungsbegründung ua)10 sowie rechtsstaatliche Prinzipien (Rechtssicherheit, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Vertrauensschutz, Verhältnismäßigkeit ua).11

cc) Richterrecht 7 Das sog Richterrecht der Union beschränkt sich nach dem vertraglich festgelegten Aufgabenbereich der Unionsgerichte darauf, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern (Art 19 I UAbs 1 EUV), insbesondere das vertragsgemäße Verhalten der Mitgliedstaaten und der Unionsinstitutionen zu überwachen und zu gewährleisten (Art 258 ff AEUV). Insoweit können die Unionsgerichte weitreichende Entscheidungen treffen, wie die Feststellung des Vorrangs des Unionsrechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten, die unmittelbare Wirkung von Richtlinien oder die Staatshaftung der Mitgliedstaaten bei Verletzung des Unionsrechts. Auch wenn es sich dabei nicht um eine einfache Rechtserkenntnis oder Rechtskonkretisierung, sondern um eine Rechtsfortbildung12 handelt, bedarf diese stets der Anknüpfung an das geschriebene Recht, etwa um Lücken zu schließen oder Widersprüche aufzulösen. Fehlt es daran, so handelt es sich nicht um ergänzendes Recht, sondern um ein gerichtliches Fehlurteil, auch wenn es mit Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbar sein sollte.

d) Rechtshandlungen der Mitgliedstaaten 8 Zum Unionsrecht in einem weiteren Sinn gehören auch Rechtshandlungen der Mit-

gliedstaaten, die im Rahmen des Vertragsrechts vorzunehmen sind, nicht jedoch

_____ 8 Vertiefend Schwarze DVBl 2011, 721 ff; Lenaerts/Guttiérrez FS Dashwood, 2011, S 179 ff; Jarass DVBl 2018, 1249 ff. 9 Art 6 EUV. 10 Art 41 GRCh. 11 EuGH, Rs 42/59 – SNUPAT / Hohe Behörde, Slg 1961, 109 (172) [Rechtssicherheit; Gesetzmäßigkeit der Verwaltung]; Rs 84/78 – Tomadini, Rn 20 [Vertrauensschutz]; Rs 41/79 – Testa, Rn 21; Art 5 IV EUV [Verhältnismäßigkeit]. 12 Eine solche steht auch dem EuGH zu; vgl BVerfG, 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223 (200 ff) – Richtlinien-Wirkung; 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 (305 ff) – Honeywell; ausführlich K Walter S 54 ff; Di Fabio S 6 ff. Siegfried Magiera

I. Die Rechtsordnung der Union | 531

solche, die zwar Bezug zum Unionsrecht, aber keine Grundlage im Vertragsrecht haben.

2. Rechtsgemeinschaft Die Europäische Union besteht bisher im Wesentlichen als eine Rechtsgemein- 9 schaft, die Eigenständigkeit gegenüber ihren Mitgliedstaaten besitzt, mit diesen jedoch weiterhin eng verflochten ist. Sie ist in ihrer Existenz auf die Beachtung und Wirksamkeit ihres Rechts angewiesen und zugleich zur Einhaltung der ihr durch das Vertragsrecht gesetzten Grenzen verpflichtet.

a) Ziele und Werte Das allgemeine Ziel der Europäischen Union ist auf einen immer engeren Zusam- 10 menschluss der europäischen Völker gerichtet.13 Die einzelnen Ziele, zu denen die Förderung des Friedens, ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, ein Binnenmarkt mit einer wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft, die Förderung sozialer Gerechtigkeit und sozialen Schutzes, der Schutz und die Förderung des kulturellen Erbes sowie die Wahrung der Grundsätze der Vereinten Nationen gehören, sind in Art 3 EUV zusammengefasst und im übrigen Vertragsrecht näher ausgeformt.14 Entsprechendes gilt für die Werte, zu denen sich die Europäische Union bekennt, insbesondere Achtung der Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die zugleich den Mitgliedstaaten gemeinsam sind (Art 2 EUV) und bei Missachtung Sanktionen auslösen können (Art 7 EUV).15

b) Herrschaft des Rechts Als Rechtsgemeinschaft ist die Europäische Union auf eine Herrschaft des Rechts 11 beschränkt. Anders als die Mitgliedstaaten verfügt sie über keine hoheitlichen Zwangsmittel und kann sie sich auch noch nicht auf ein vergleichbares Loyalitätsempfinden ihrer Bürger stützen. Für die Beachtung und tatsächliche Durchsetzung ihres Rechts16 ist die Union auf den im Vertragsrecht ausdrücklich verankerten

_____ 13 So die Präambel des AEUV, während die Präambeln des EUV und der GRCh von einer immer engeren Union der Völker Europas sprechen; ein Bedeutungsunterschied lässt sich daraus nicht ableiten, wie sich anderen Sprachfassungen entnehmen lässt, die nur einen einzigen Begriff kennen, wie etwa die französische („union sans cesse plus étroite“) oder die englische („ever closer union“). 14 Näher dazu Niedobitek § 1 (in diesem Band) Rn 172 ff. 15 Näher dazu Magiera integration 2012, 94 ff; Sommermann § 3 (in diesem Band) Rn 22 ff. 16 Näher Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Magiera § 13; Schroeder § 8 (in diesem Band) Rn 6 ff. Siegfried Magiera

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Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten angewiesen (Art 4 III EUV),17 die auch als „Herren der Verträge“ bezeichnet werden.18

c) Rechtseinheit und Rechtsdurchsetzung 12 Die Rechtsordnung der Europäischen Union ist eine neue Rechtsordnung des Völ-

kerrechts, die selbstständig neben die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten getreten,19 mit diesen jedoch zugleich in vielfältiger Weise verflochten ist.20 Kennzeichnend für sie wie für jede demokratische und rechtsstaatliche Rechtsordnung ist die Einheit und Wirksamkeit ihrer Normen.21 Ohne diese Wesenselemente wären der Zusammenhalt der Union wie die Bewahrung und Verfolgung der gemeinschaftlichen Ziele und Werte gefährdet oder unmöglich.22

d) Supranationalität 13 Im Unterschied zu traditionellen internationalen Organisationen ist die Europäische

Union dementsprechend durch das Prinzip der Supranationalität23 geprägt, das gekennzeichnet ist durch das Mehrheits-, das Vorrang- und das Unmittelbarkeitsprinzip.24 Das Mehrheitsprinzip ermöglicht der Union den Erlass von Rechtsakten, die

_____ 17 Vgl auch BVerfG, 2 BvL 52/71, BVerfGE 37, 271 (278) – Solange I; 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (369) – Solange II. 18 BVerfG, 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223 (242) – Richtlinien-Wirkung; 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (190, 199) – Maastricht; 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (368, 381, 398) – Lissabon; 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 (303, 319) – Honeywell; 2 BvR 2728/13 – BVerfGE 142, 123 Rn 140 – OMT-Programm; vertiefend Puttler EuR 2004, 669 ff. 19 EuGH, Rs 13/61 – Bosch, Slg 1962, 97 (110); Rs 26/62 – Van Gend & Loos, Slg 1963, 1 (25); BVerfG, 1 BvR 248/63, BVerfGE 22, 293 (295 f) – Verfassungsbeschwerde gegen EWG-Verordnung; 2 BvL 52/71, BVerfGE 37, 271 (278) – Solange I. 20 BVerfG, 2 BvL 52/71, BVerfGE 37, 271 (277 f) – Solange I; 2 BvL 6/77, BVerfGE 52, 187 (200) – Vielleicht; 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (368) – Solange II. 21 EuGH, Rs 44/79 – Hauer, Rn 14; Rs C-399/11 – Melloni, Rn 60; weiterführend Nettesheim GS Grabitz, 1995, S 447 ff; Streinz FS Everling, 1995, S 1491 ff. 22 EuGH, Rs 14/68 – Wilhelm, Rn 6; Rs 44/79 – Hauer, Rn 14. 23 Die Bezeichnung „supranational“ (französisch) bzw „überstaatlich“ (deutsch) wurde – ursprünglich und einmalig im europäischen Vertragsrecht – für die Hohe Behörde der EGKS, die später durch die für den EGKS-, den EWG- und den EAG-Vertrag gemeinsame Kommission abgelöst wurde, verwendet (Art 9 EGKSV, aufgehoben durch Art 9 des sog Fusionsvertrags v 8.4.1965, ABl 1967 L 152/1). Das Bundesverfassungsgericht nannte die EWG eine „supranationale“ öffentliche Gewalt (1 BvR 248/63, BVerfGE 22, 293 (296) – Verfassungsbeschwerde gegen EWG-Verordnung) und stellte eine „supranationale“ Entscheidungsstruktur des Gemeinschaftsrechts (2 BvR 2236/06, BVerfGE 113, 273 (301) – Europ Haftbefehl) sowie „supranationale“ Zuständigkeiten der Gemeinschaft (2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (348 f) – Lissabon) fest. 24 Vgl dazu auch Niedobitek § 1 (in diesem Band) Rn 124 ff. Siegfried Magiera

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nicht stets der Zustimmung aller Mitgliedstaaten bedürfen und dennoch alle Mitgliedstaaten binden.25 Das Vorrangprinzip bewirkt, dass dem Unionsrecht keine wie auch immer gearteten Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten vorgehen können, so dass eine mitgliedstaatliche Bestimmung, soweit sie dem Unionsrecht widerspricht, unanwendbar ist.26 Bei Unklarheit und Ungewissheit über die Tragweite einer solchen Unanwendbarkeit ist die mitgliedstaatliche Norm darüber hinaus umzuformulieren oder aufzuheben.27 Das Unmittelbarkeitsprinzip folgt daraus, dass das Unionsrecht nicht, wie regelmäßig das Recht traditioneller internationaler Organisationen, nur die beteiligten Mitgliedstaaten bindet, sondern auch unmittelbar – und nicht nur durch Zwischenschaltung mitgliedstaatlichen Rechts – Quelle von Rechten und Pflichten für Einzelpersonen sein kann.28 II. Rechtsakte der Union II. Rechtsakte der Union Die Rechtsakte der Europäischen Union lassen sich nach ihrer näheren Ausgestal- 14 tung im Vertragsrecht einteilen in förmliche Rechtsakte aufgrund ihrer Bezeichnung, Struktur und Wirkung, in Gesetzgebungsakte aufgrund ihres Erlassverfahrens, in Rechtsakte ohne Gesetzescharakter (delegierte Rechtsakte, Durchführungsrechtsakte und förmliche Rechtsakte sui generis) aufgrund ihrer besonderen Zielsetzung und Erlassverfahren, in atypische Rechtsakte, die sich vorwiegend in der Praxis herausgebildet haben, und in Rechtsakte unter Beteiligung der Mitgliedstaaten.29

_____ 25 Art 16 III EUV. Zur Zulässigkeit nach deutschem Verfassungsrecht vgl BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (182 ff) – Maastricht. 26 17. Erklärung (der Regierungskonferenz zum EUV/AEUV) zum Vorrang, ABl 2016 C 202/346; EuGH, Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L., Slg 1964, 1251 (1269 f); Rs 14/68 – Wilhelm, Rn 6; Rs 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft, Rn 3; Rs 106/77 – Simmenthal, Rn 17/18; Rs C-10/97 – IN. CO. GE’90, Rn 21; Rs C-555/07 – Kücükdevici, Rn 51; Rs C-399/11 – Melloni, Rn 59; Rs C-378/17 – Minister for Justice and Equality ua, Rn 35 ff; BVerfG, 2 BvR 225/69, BVerfGE 31, 145 (173 ff) – Anwendungsvorrang; BVerfG, 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223 (244 f) – Richtlinien-Wirkung; aA – im Hinblick auf das deutsche Verfassungsrecht („Ultra-Vires-Kontrolle“) – BVerfG, 2 BvL 52/71, BVerfGE 37, 271 (278 f) – Solange I; 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (375 f) – Solange II; 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (396 ff) – Lissabon; 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 (301 f) – Honeywell; 2 BvR 859/15 ua, BVerfGE 146, 216 (259 ff) – EZBWertpapier-Ankauf; ausführlich zum Vorranggrundsatz Niedobitek/Zemánek/Niedobitek S 63 ff. 27 EuGH, Rs 159/78 – Kommission / Italien, Rn 22; Rs 168/85 – Kommission / Italien, Rn 11; Rs 74/86 – Kommission / Deutschland, Rn 10; Rs C-259/01 – Kommission / Frankreich, Rn 18; Rs C512/08 – Kommission / Frankreich, Rn 55. 28 EuGH, Rs 26/62 – Van Gend & Loos, Slg 1963, 1 (24 f); Rs 106/77 – Simmenthal, Rn 14/16; Gutachten 1/91 – Europäischer Wirtschaftsraum, Rn 21; Rs C-539/10 P – Al Aqsa, Rn 87; BVerfG, 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (374 f) – Solange II. 29 Ausführlich dazu – noch vor dem Vertrag von Lissabon – Kommission/Grabitz S 91 ff; Magiera JURA 1989, 595 ff; Einzelbeiträge in Winter (ed), S 315 ff; vBogdandy/Bast/F Arndt ZaöRV 2002, 77 ff; Schuppert/Pernice/Haltern/Bumke S 643 (658 ff); Türk S 77 ff. Siegfried Magiera

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1. Förmliche Rechtsakte 15 Für die Ausübung der Unionszuständigkeiten nehmen die Organe Verordnungen,

Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen an (Art 288 I AEUV). Dieser Katalog förmlicher („klassischer“) 30 Rechtsakte ist nicht abschließend, 31 sondern wird ergänzt durch eine Vielzahl – zumeist unverbindlicher – atypischer Rechtsaktformen. Er hat seinen Ursprung im EGKS-Vertrag, der die Hohe Behörde, die spätere Kommission, zur Annahme von Entscheidungen, Empfehlungen und Stellungnahmen ermächtigte (Art 14 EGKSV). Im EWG-Vertrag wurden die Entscheidungen in Verordnungen und die Empfehlungen in Richtlinien umgeformt und kamen Entscheidungen sowie Empfehlungen in neuer Wirkungsform zu den Stellungnahmen hinzu (Art 189 EWGV). Durch den AEU-Vertrag von Lissabon schließlich wurden die Entscheidungen in Beschlüsse umbenannt32 und in ihrer Wirkung erweitert sowie die entsprechenden Bestimmungen des EAG-Vertrags durch eine Verweisungsnorm auf den AEU-Vertrag ersetzt (Art 288 AEUV; Art 106a EAGV). Wegen der Eigenständigkeit des Unionsrechts darf bei der näheren Bestimmung dieser Rechtsakte nicht auf Kategorien des mitgliedstaatlichen Rechts zurückgegriffen werden und etwa die europäische Verordnung an der Rechtsverordnung des deutschen Rechts (Art 80 GG) gemessen werden.33 Art 288 AEUV bestimmt lediglich den Urheber, die Struktur und die Wirkung der dort benannten förmlichen Rechtsakte, nicht hingegen das Annahmeverfahren34 und auch nicht die erforderliche Ermächtigungsgrundlage.35

a) Verordnung 16 Die Verordnung hat allgemeine Geltung, ist in allen ihren Teilen verbindlich und

gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat (Art 288 II AEUV). Damit erfüllte sie von Anfang an die wesentlichen materiellen Voraussetzungen, die allgemein mit dem Begriff des Gesetzes verbunden werden.36 Diese Bezeichnung wurde jedoch nicht in die Gründungsverträge von 1957 aufgenommen,37 auch wenn der Gerichtshof schon

_____ 30 Europäischer Konvent, Präsidium, Die Rechtsakte: das derzeitige System, CONV 162/02, S 5. 31 Ebenso Kaltenborn Rechtstheorie 2003, 459 (472); vBogdandy/Bast/Bast S 489 (526 ff, 545); Schulze/Zuleeg/Kadelbach/D König § 2 Rn 36; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 288 AEUV Rn 75 (2012). 32 Die Umbenennung war nicht erforderlich und ist in anderen Sprachfassungen (zB englisch: decision, französisch: décision, italienisch: decisione) auch nicht erfolgt. Ausführlicher zum Sprachgebrauch dieser Begriffe Bast S 110 ff. 33 Ausführlich dazu HP Ipsen S 410 ff. 34 Dazu unten, Rn 70 ff. 35 Dazu unten, Rn 62 ff. 36 Näher dazu – für die deutsche Rechtsordnung – Magiera S 174 ff mwN. 37 Näher zu den Gründen Wohlfarth/Everling/Glaesner/Sprung/Wohlfarth vor Art 189 EWGV Nr 2, Art 189 EWGV Nr 1 ff; Constantinesco S 602 f. Siegfried Magiera

II. Rechtsakte der Union | 535

zuvor im Hinblick auf die Vorgängerinnen der Verordnungen, die allgemeinen Entscheidungen des EGKS-Vertrages, festgestellt hatte, dass es sich bei diesen „fast um Gesetzgebungsakte“ handelt.38 Erstmals der Vertrag von Amsterdam bekannte sich zu dem Begriff, indem er auf den Rat als „Gesetzgeber“ verwies (Art 207 EGV).39 Mit dem Verfassungsvertrag sollte die Verordnung ohne materielle Änderung in „Europäisches Gesetz“ umbenannt werden (Art I-33 VVE). Der Reformvertrag von Lissabon verzichtete auf die Umbenennung, die mit dem Scheitern des Verfassungsvertrags in Verbindung gesehen wurde,40 behielt aber den Gesetzesbegriff in anderen Bezeichnungen (zB Gesetzgebungsverfahren, Art 289 AEUV; Gesetzgebungsakt, Art 290 AEUV) bei.

aa) Allgemeine Geltung Das Merkmal der allgemeinen Geltung unterscheidet die Verordnung von Beschlüs- 17 sen, sofern diese an bestimmte Adressaten gerichtet sind (Art 288 IV 2 AEUV), und ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil natürliche und juristische Personen nur dann gegen Handlungen der Unionsinstitutionen Klage erheben können, wenn die Handlung an sie gerichtet ist oder sie unmittelbar und individuell betrifft oder wenn es sich um Rechtsakte mit Verordnungscharakter, dh um Rechtsakte unter Ausschluss von Gesetzgebungsakten,41 handelt, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen (Art 263 IV AEUV).42 Bedeutung erlangt das Abgrenzungsmerkmal zudem in allen Fällen, in denen das Vertragsrecht ausdrücklich eine nähere Regelung der Unionsinstitutionen durch Verordnung vorschreibt.43 Eine Maßnahme oder Handlung der Unionsorgane hat allgemeine Geltung, 18 wenn sie für objektiv bestimmte Sachverhalte gilt und Rechtswirkungen für allgemein und abstrakt umschriebene Personengruppen entfaltet.44 Im Zweifel

_____ 38 EuGH, Rs 8/55 – Fédération charbonnière de Belgique, Slg 1955–1956, 197 (227). 39 Zu weiteren Einzelheiten Härtel S 167 ff. 40 Als Gründe für die Ablehnung des Verfassungsvertrags galten vor allem „staatstypische“ Begriffe und Symbole; vgl Europäischer Rat v 21./22.6.2007, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Anlage I, Entwurf des Mandats für die Regierungskonferenz, Ziff I.3, BullEU 6-2007 Ziff I.37; vgl demgegenüber auch die 52. Erklärung von 16 Mitgliedstaaten einschließlich der Bundesrepublik Deutschland zum Vertrag von Lissabon mit einem Bekenntnis zu den Symbolen (Flagge, Hymne, Leitspruch, Europatag, Euro), ABl 2016 C 202/357. 41 EuG, Rs T‑18/10 – Inuit Tapiriit Kanatami / EP und Rat; EuGH, Rs C-583/11 P – Inuit Tapiriit Kanatami / EP und Rat; Rs C-622/16 P – Scuola Elementare Maria Montessori / Kommission, Rn 22 ff; ebenso Streinz/Ehricke Art 263 AEUV Rn 53 mwN (auch zur Gegenansicht). – Zu den Gesetzgebungsakten vgl unten, Rn 41 ff. 42 Ausführlich zum Rechtsschutz Schroeder § 8 (in diesem Band) Rn 125 ff. 43 Vgl ua Art 14, 15, 24, 45, 75 AEUV. 44 EuGH, Rs 6/68 – Zuckerfabrik Watenstedt / Rat, Slg 1968, 611 (620); Rs 101/76 – Koninklijke Scholten Honig / Rat und Kommission, Rn 20/22; Rs 147/83 – Binderer / Kommission, Rn 13; Rs CSiegfried Magiera

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darf die Maßnahme nicht bestimmte Personen individuell betreffen.45 Sie verliert ihren Verordnungscharakter jedoch nicht dadurch, dass sich diejenigen Personen, auf die sie in einem bestimmten Zeitpunkt anzuwenden ist, der Zahl nach oder sogar namentlich bestimmen lassen.46 Vielmehr ist lediglich erforderlich, dass die Maßnahme nach ihrer Zweckbestimmung aufgrund eines von ihr festgelegten objektiven Tatbestands rechtlicher oder tatsächlicher Art anwendbar ist.47 Die Verordnung hat somit wesentlich normativen Charakter.48 Sie muss abstrakt und generell, dh in die Zukunft hinein offen,49 gefasst und damit auf eine unbestimmte Vielzahl von Sachverhalten (abstrakt) und Personen (generell) anwendbar sein. Dies schließt jedoch nicht aus, dass in einem konkreten Zeitpunkt während ihrer Geltungsdauer nur bestimmte oder bestimmbare Personen von ihr erfasst werden.

bb) Vollständige Verbindlichkeit 19 Die Verordnung ist – im Unterschied zur Empfehlung und zur Stellungnahme

(Art 288 V AEUV) – verbindlich, und zwar – anders als die Richtlinie (Art 288 III AEUV) – in allen ihren Teilen. Verbindlichkeit heißt „rechtliche Gehorsamspflicht und rechtliche Berufungsmöglichkeit“50 in dem Sinne, dass die Verordnung Rechte und Pflichten für alle begründet, die von ihr tatbestandsmäßig erfasst werden. Dies können die Unionsinstitutionen – auch die erlassenden selbst, solange die Verordnung in Geltung ist51 –, die Mitgliedstaaten oder (natürliche und juristische) Einzelpersonen52 sein. Die Verbindlichkeit der Verordnung in allen ihren Teilen bedeutet, dass die Bestimmungen der Verordnung ausnahmslos und vollständig

_____ 270/95 P – Kik / Rat und Kommission, Rn 9 ff; Rs C-221/09 – AJD Tuna, Rn 51; Rs C-622/16 P – Scuola Elementare Maria Montessori / Kommission, Rn 29. 45 EuGH, Rs 16/62 – Confédération Nationale / Rat, Slg 1962, 961 (979); Rs 19/62 – Fédération nationale / Rat, Slg 1962, 1003 (1020). 46 EuGH, Rs 6/68 – Zuckerfabrik Watenstedt / Rat, Slg 1968, 611 (621); Rs 101/76 – Koninklijke Scholten Honig / Rat und Kommission, Rn 23/25; Rs 307/81 – Alusuisse / Rat, Rn 11; Rs 147/83 – Binderer / Kommission, Rn 13; Rs C-10/95 P – Asocarne / Rat, Rn 30; Rs C-145/17 P – Internacional de Productos Metálicos / Kommission, Rn 35. 47 Ebd. 48 EuGH 16/62 – Confédération Nationale / Rat, Slg 1962, 961 (979); Rs 19/62 – Fédération nationale / Rat, Slg 1962, 1003 (1020). 49 EuGH, Rs 41/70 – Fruit Company / Kommission, Rn 16/22; Rs 100/74 – CAM / Kommission, Rn 14/18; Rs 232/81 – Agricola / Kommission, Rn 11. 50 HP Ipsen S 451. 51 EuGH, Rs 113/77 – NTN Toyo Bearing Company / Rat, Rn 21. 52 Auch – anders als im Falle von Richtlinien – im Verhältnis der Einzelpersonen untereinander (Horizontalwirkung): EuGH, Rs C-91/92 – Faccini Dori, Rn 24; Rs C-253/00 – Muñoz und Superior Fruiticula, Rn 30. Siegfried Magiera

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anzuwenden sind.53 Zu den verbindlichen Bestimmungen gehören auch solche in Form von Anmerkungen oder Fußnoten, die Willensausdruck der erlassenden Unionsinstitutionen und damit integrierender Bestandteil der Verordnung sind,54 nicht jedoch Erklärungen im Rahmen des Erlassverfahrens, die im Text des Rechtsakts keinen Ausdruck gefunden haben.55 Der Anwendungsbereich einer Verordnung ergibt sich regelmäßig aus ihr selbst und kann grundsätzlich nicht auf von ihr nicht geregelte Fälle ausgedehnt werden.56 Eine analoge Anwendung ist jedoch ausnahmsweise zulässig, wenn sich die Regelungsbereiche weitgehend entsprechen und eine Lücke geschlossen wird, die mit einem allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, etwa dem der Gleichbehandlung, unvereinbar ist.57

cc) Unmittelbare Geltung Die Verordnung gilt – im Unterschied zur Richtlinie (Art 288 III AEUV) – unmittelbar 20 in jedem Mitgliedstaat. Unmittelbare Geltung bedeutet, dass die Verordnung mit ihrem Inkrafttreten Rechtswirkungen zu Gunsten und zu Lasten der einzelnen betroffenen Rechtssubjekte entfaltet, ohne dass es dazu irgendwelcher weiteren Maßnahmen zur Umwandlung in nationales Recht bedarf.58 Sie gilt in allen Mitgliedstaaten allein aufgrund ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Union (Art 297 AEUV); eine zusätzliche Bekanntmachung seitens der Mitgliedstaaten ist nicht erforderlich.59 Ihre Wirkung verbietet die Anwendung aller – auch späteren – mitgliedstaatlichen Maßnahmen, die mit ihren Bestimmungen nicht vereinbar sind.60 Die unmittelbare wie die allgemeine Geltung soll die gleichzeitige und einheitli- 21 che Anwendung der Verordnung in der gesamten Union gewährleisten.61 Deshalb dürfen die Mitgliedstaaten keine autonomen Maßnahmen zur Durchführung der Verordnung ergreifen, die eine Änderung ihrer Tragweite oder eine Ergänzung ihrer Bestimmungen bewirken.62 Da die Verordnung aufgrund ihrer Rechtsnatur und

_____ 53 EuGH, Rs 39/72 – Kommission / Italien, Rn 20; Rs 128/78 – Kommission / Vereinigtes Königreich, Rn 9. 54 EuGH, Rs 80/72 – Koninklijke Lassiefabrieken, Rn 15/17. 55 EuGH, Rs C-292/89 – Antonissen, Rn 18; Rs C-25/94 – Kommission / Rat, Rn 38. 56 EuGH, Rs 165/84 – Krohn, Rn 13. 57 EuGH, Rs 165/84 – Krohn, Rn 14, 23 ff. 58 EuGH, Rs 34/73 – Variola, Rn 10; Rs 50/76 – Amsterdam Bulb, Rn 4/7; Rs 31/78 – Bussone, Rn 28/33. 59 EuGH, Rs 20/72 – Cobelex, Rn 22; Rs 39/72 – Kommission / Italien, Rn 17; Rs 272/83 – Kommission / Italien, Rn 26. 60 EuGH, Rs 43/71 – Politi, Rn 9; Rs 84/71 – Marimex, Rn 5. 61 EuGH, Rs 34/73 – Variola, Rn 10; Rs 50/76 – Amsterdam Bulb, Rn 4/7; Rs 94/77 – Zerbone, Rn 22/27. 62 EuGH, Rs 40/69 – Bollmann, Rn 4; Rs 74/69 – Krohn, Rn 4. Siegfried Magiera

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ihrer Funktion im Unionsrecht unmittelbare Wirkungen erzeugt und damit Rechte für Einzelpersonen begründen kann, zu deren Schutz die Gerichte verpflichtet sind,63 dürfen die Mitgliedstaaten insbesondere keine Maßnahmen treffen oder ihren Rechtssetzungsorganen gestatten, die die Betroffenen über den Unionscharakter einer Rechtsnorm oder deren Folgen im Unklaren lassen.64 Bestehende nationale Rechtsnormen, die mit unmittelbar geltendem Unionsrecht unvereinbar sind und deren Beibehaltung die Normadressaten in einem Zustand der Ungewissheit über ihre Unionsrechte belässt, sind unzulässig und müssen durch gleichrangige verbindliche Rechtsnormen unionsrechtskonform angepasst werden; eine unionsrechtskonforme Verwaltungspraxis oder -mitteilung reicht demgegenüber nicht.65 Wenn die Verordnung es zulässt oder erfordert, indem sie den Mitgliedstaaten 22 einen weiten Ermessensspielraum belässt,66 können oder müssen die Mitgliedstaaten ausnahmsweise die notwendigen Rechts-, Verwaltungs- und Finanzvorschriften – etwa zur Sanktionierung von Rechtsverstößen – erlassen, um die Verordnung wirksam durchzuführen.67 Insoweit kann die Verordnung Ähnlichkeiten mit der Richtlinie aufweisen, die allgemein einer Umsetzung durch mitgliedstaatliche Rechtsnormen bedarf.68 Unabhängig davon bewirkt die unmittelbare Geltung der Verordnung, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte die Übereinstimmung solcher Durchführungsbestimmungen mit den Anforderungen der Verordnung überprüfen können.69 Die unmittelbare Geltung der Verordnung in jedem Mitgliedstaat erstreckt 23 sich geographisch grundsätzlich auf den räumlichen Geltungsbereich der Unionsverträge (Art 52 EUV; Art 355 AEUV),70 kann aber auch Sachverhalte außerhalb des

_____ 63 EuGH, Rs 43/71 – Politi, Rn 9; Rs 84/71 – Marimex, Rn 5; Rs 65/75 – Tasca, Rn 31/32. 64 EuGH, Rs 34/73 – Variola, Rn 11; Rs 50/76 – Amsterdam Bulb, Rn 4/7; Rs 74/86 – Kommission / Deutschland, Rn 10. 65 EuGH, Rs 74/86 – Kommission / Deutschland, Rn 9 f; Rs C-160/99 – Kommission / Frankreich, Rn 20 ff. 66 EuGH, Rs C-403/98 – Monte Arcosu, Rn 26 ff. Dies kann insbesondere bei sog Grund- oder Rahmenverordnungen der Fall sein; vgl zB VO (EU) 2016/679 des EP und des Rates v 27.4.2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der RL 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung), ABl 2016 L 119/1; VO (EU) Nr 468/2014 der EZB v 16.4.2014 zur Einrichtung eines Rahmenwerks für die Zusammenarbeit zwischen der EZB und den nationalen zuständigen Behörden und den nationalen benannten Behörden innerhalb des einheitlichen Aufsichtsmechanismus (SSM-Rahmenverordnung), ABl 2014 L 141/1. 67 EuGH, Rs 30/70 – Scheer, Rn 6 ff; Rs 31/78 – Bussone, Rn 28/33; Rs 54/81 – Fromme, Rn 4 ff; Rs 272/83 – Kommission / Italien, Rn 27; Rs C-251/91 – Teulie, Rn 13; Rs C-336/00 – Huber, Rn 61; Rs C459/02 – Gerekens, Rn 25. 68 Vgl auch Streinz/Schroeder Art 288 AEUV Rn 42 mwN. 69 EuGH, Rs 230/78 – Eridania, Rn 34. 70 EuGH, Rs 61/77 – Kommission / Irland, Rn 45/51; Rs C-214/94 – Boukhalfa, Rn 13. Siegfried Magiera

II. Rechtsakte der Union | 539

Unionsgebiets einschließen, wenn ein hinreichend enger Bezug zum Recht eines Mitgliedstaats und zugleich zum Unionsrecht besteht.71 Verordnungen können sich nach ihrem Regelungsgegenstand nur auf einzelne Mitgliedstaaten oder Regionen der Union – auch zeitlich unterschiedlich72 – auswirken (zB See- oder Berggebiete bzw bei vertraglichen Ausnahmevorbehalten73), dürfen jedoch nicht nur an einzelne Mitgliedstaaten gerichtet sein.74

b) Richtlinie aa) Verbindlichkeit Die Richtlinie ist für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet ist, hinsichtlich des zu 24 erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel (Art 288 III AEUV).75 Anders als die Verordnung, die allgemein und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt, bedarf die Richtlinie eines zusätzlichen Rechtsakts des jeweiligen Mitgliedstaats, um in dessen Rechtsordnung die zielgemäße Wirkung zu entfalten. Verbindlich ist die Richtlinie lediglich für den Mitgliedstaat, an den sie gerichtet ist, und nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels; die Wahl der Form und der Mittel zur Erreichung ihres Ziels überlässt sie hingegen den mitgliedstaatlichen Stellen. Im Unterschied zur Verordnung sieht das Unionsrecht damit für die Richtlinie ein zweistufiges Verfahren vor, wonach die Unionsinstitutionen die Grund- oder Rahmenregelung erlassen und die Mitgliedstaaten die dazu erforderlichen Durchführungsmaßnahmen.76 Den Mitgliedstaaten verbleibt somit – entsprechend den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Art 5 III, IV EUV; Art 296 I AEUV) – ein Gestaltungsspielraum, um den Besonderheiten ihrer jeweiligen Rechtsordnung Rechnung zu tragen. Die Richtlinie ist deshalb das typische Instrument der Rechtsangleichung,77 die Verordnung demgegenüber das typische Instrument der Rechtvereinheitlichung im Rahmen des Unionsrechts.78

_____ 71 Rs C-214/94 – Boukhalfa, Rn 14 f. 72 EuGH, Rs C-221/09 – AJD Tuna, Rn 86 ff. 73 Vgl zB die Prot Nr 15, 16, 17 und 18 zum EU-/AEU-Vertrag über Sonderbestimmungen betr das Vereinigte Königreich, Dänemark und Frankreich, ABl 2016 C 202/284. 74 Ebenso Wohlfarth/Everling/Glaesner/Sprung/Wohlfarth Art 189 EWGV Nr 5; Constantinesco S 601; HP Ipsen S 449; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 288 AEUV Rn 99 (2012); aA Streinz/ Schroeder Art 288 AEUV Rn 57 mwN. 75 Neben der Pflicht aus Art 288 III AEUV zieht der Gerichtshof auch die allgemeine Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten aus Art 4 III EUV heran, wenn noch ein weiterer Verstoß gegen das Unionsrecht zu prüfen ist; EuGH, Rs C-374/89 – Kommission / Belgien, Rn 13; Rs C-507/04 – Kommission / Österreich, Rn 1 und 344; Rs C-132/06 – Kommission / Italien, Rn 37 ff. 76 Kritisch zur Praxis Hilf EuR 1993, 1 ff. 77 Vgl dazu näher Blanke/Böttner § 13 (in diesem Band) Rn 121 ff. 78 Constantinesco S 611 ff. Siegfried Magiera

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Unter dem zu erreichenden Ziel der Richtlinie sind nicht die allgemeingehaltenen Vertragsziele der Präambel und der Eingangsbestimmungen der Verträge (Art 3 EUV; Art 2 ff AEUV) zu verstehen, sondern entsprechend dem deutlicheren Wortlaut anderer Sprachfassungen (englisch: result, französisch: résultat, italienisch: risultato) das „Ergebnis“, das nach dem Inhalt der Richtlinie erreicht werden soll.79 Aus der Verbindlichkeit der Richtlinie für die Mitgliedstaaten folgt, dass diese die Richtlinie zur Erreichung des von ihr bestimmten Ziels vollständig, genau, fristgerecht und rechtswirksam durchzuführen haben, da die Beibehaltung unterschiedlicher Regelungen in den einzelnen Mitgliedstaaten zu Diskriminierungen führen könnte.80 Ein Tätigwerden der mitgliedstaatlichen Rechtssetzungsorgane ist dazu nicht zwingend erforderlich, so dass besondere Vorschriften entbehrlich sein können, wenn die Umsetzung der Richtlinie in das nationale Recht durch allgemeine verfassungs- oder verwaltungsrechtliche Grundsätze gewährleistet ist.81 Soweit die Richtlinie Ansprüche der Einzelnen begründen soll, erfordert dies jedoch eine Rechtslage, die hinreichend klar und bestimmt ist sowie den Einzelnen ermöglicht, von ihren Rechten Kenntnis zu nehmen und diese vor den nationalen Gerichten geltend zu machen.82 Eine bloße Verwaltungspraxis, die die Verwaltung naturgemäß beliebig ändern kann und die nur unzureichend bekannt ist, genügt deshalb nicht.83 Gleiches gilt für Verwaltungsvorschriften, die – etwa als einfaches Rundschreiben – keine zwingende Rechtswirkung mit sich bringen,84 oder für „Technische Regeln“, die nicht von einem umsetzenden Rechtsakt in Bezug genommen werden.85 Da die Richtlinie ohne vollständige Wirkung bleibt, solange sie nicht von den 26 Mitgliedstaaten durchgeführt wird, und da diesen dafür die Wahl der Form und der Mittel überlassen ist, stellt der Gerichtshof strenge Anforderungen an die Einhaltung der in ihr bestimmten Durchführungsfristen. Allgemein gilt, dass sich ein Mitgliedstaat nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände in seiner internen Rechtsordnung berufen kann, um damit die Nichteinhaltung der Verpflichtungen und Fristen zu rechtfertigen, die in den Richtlinien festgelegt sind.86 Kein Rechtfer25

_____ 79 HP Ipsen S 458. 80 EuGH, Rs 79/72 – Kommission / Italien, Rn 4 ff; Rs 52/75 – Kommission / Italien, Rn 10; Rs 92/79 – Kommission / Italien, Rn 6. 81 EuGH, Rs 29/84 – Kommission / Deutschland, Rn 23; Rs 247/85 – Kommission / Belgien, Rn 9. 82 EuGH, Rs 29/84 – Kommission / Deutschland, Rn 23. 83 EuGH, Rs 102/79 – Kommission / Belgien, Rn 11; Rs 96/81 – Kommission / Niederlande, Rn 12; Rs 168/85 – Kommission / Italien, Rn 13. 84 EuGH, Rs 239/85 – Kommission / Belgien, Rn 7; Rs C‑361/88 – Kommission / Deutschland, Rn 15 ff; Rs C‑433/93 – Kommission / Deutschland, Rn 18 f; Rs C‑394/00 – Kommission / Irland, Rn 10 f. 85 EuGH, Rs 208/85 – Kommission / Deutschland, Rn 30. 86 Rs 52/75 – Kommission / Italien, Rn 14; Rs 49/86 – Kommission / Italien, Rn 6; Rs 227/85 – Kommission / Belgien, Rn 10; Rs C-241/11 – Kommission / Tschechische Republik, Rn 48. Siegfried Magiera

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tigungsgrund für eine Fristüberschreitung ist etwa das entsprechende Versäumnis eines anderen Mitgliedstaats,87 der angeblich fehlende Einfluss auf das Funktionieren des Binnenmarkts,88 das Erfordernis institutioneller Reformen in dem Mitgliedstaat89 oder das Fehlen einer von der Richtlinie betroffenen Praxis.90 Die Richtlinie wird mit ihrem Inkrafttreten wirksam, überlässt den Mitgliedstaaten jedoch die Entscheidung über den Zeitpunkt ihrer Umsetzung innerhalb der dafür festgelegten Frist, verpflichtet die Mitgliedstaaten jedoch zugleich, während der Frist den Erlass von Vorschriften zu unterlassen, die das Richtlinienziel ernstlich in Frage stellen könnten.91 Ab dem Inkrafttreten der Richtlinie muss eine nationale Vorschrift, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt, zudem die in der Unionsrechtsordnung anerkannten allgemeinen Grundsätze und Grundrechte beachten.92

bb) Wahl der Form und der Mittel Die Wahl der Form und der Mittel zur Durchführung der Richtlinie obliegt den mit- 27 gliedstaatlichen Stellen entsprechend ihrer horizontalen (Parlament, Regierung, Verwaltung, Gerichtsbarkeit) und vertikalen (zentrale, regionale, kommunale Ebene) Zuständigkeit nach nationalem Recht93 und unabhängig davon, ob sie öffentlich- oder privatrechtlich handeln.94 Einbezogen sind auch mit besonderen Rechten ausgestattete privatrechtliche Einrichtungen, die kraft staatlichen Rechtsakts unter staatlicher Aufsicht Dienstleistungen im öffentlichen Interesse erbringen.95 Bei der Wahrnehmung der Durchführungspflichten sind die von der jeweiligen Richtlinie vorgegebenen Ermessensgrenzen und die sonstigen Vorschriften des Unionsrechts zu beachten.96 Die Grenzen der inhaltlichen Regelungsintensität der Richtlinie sind

_____ 87 Rs 52/75 – Kommission / Italien, Rn 11/13. 88 EuGH, Rs 95/77 – Kommission / Niederlande, Rn 12/14. 89 Rs 52/75 – Kommission / Italien, Rn 7/9; Rs 68/81 – Kommission / Belgien, Rn 4 f; Rs 227/85 – Kommission / Belgien, Rn 9. 90 EuGH, Rs C-372/00 – Kommission / Irland, Rn 11; Rs C-441/00 – Kommission / Vereinigtes Königreich, Rn 15 ff; Rs C-422/05 – Kommission / Belgien, Rn 59. 91 EuGH, Rs C-129/96 – Inter-Environnement Wallonie, Rn 41 ff; Rs C-422/05 – Kommission / Belgien, Rn 62; Rs C-144/04 – Mangold, Rn 67 ff. 92 EuGH, Rs C-246/06 – Velasco Navarro, Rn 32 ff. 93 EuGH, Rs 14/83 – von Colson und Kamann, Rn 26; Rs 222/84 – Johnston, Rn 53; Rs 8/88 – Deutschland / Kommission, Rn 13; Rs 103/88 – Costanzo, Rn 30 f; Rs C-91/92 – Faccini Dori, Rn 26; Rs C-462/99 – Connect Austria, Rn 38; Rs C-397/01 – Pfeiffer ua, Rn 110; Rs C-555/07 – Kücükdevici, Rn 47. 94 EuGH, Rs 152/84 – Marshall, Rn 40. 95 EuGH, Rs C-188/89 – Foster, Rn 20; Rs C-157/02 – Rieser Internationale Transporte, Rn 24; Rs C356/05 – Farrell, Rn 40. 96 EuGH, Rs 51/76 – Nederlandse Ondernemingen, Rn 20/29 f; Rs 79/83 – Harz, Rn 28; Rs 48/75 – Royer, Rn 69/73. Siegfried Magiera

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im Vertragsrecht nicht näher bestimmt. In der Praxis gibt es detaillierte Richtlinien, die den mitgliedstaatlichen Stellen kaum oder gar keinen Gestaltungsspielraum belassen.97 Von der Verordnung unterscheiden sich solche Richtlinien dennoch dadurch, dass auch sie grundsätzlich erst aufgrund einer staatlichen Durchführungsmaßnahme in dem betreffenden Mitgliedstaat, insbesondere auf Einzelne, anwendbar sind. Um der Kommission ihre Pflicht zur Überwachung der Anwendung des Unionsrechts (Art 17 I 3 EUV), die sich auch auf die ordnungsgemäße Umsetzung der Richtlinien durch die Mitgliedstaaten erstreckt, zu erleichtern, sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, ihr klare und genaue Informationen zu übermitteln, die die konkret getroffenen Umsetzungsvorschriften oder diejenigen Vorschriften eindeutig angeben, die eine solche Umsetzung entbehrlich machen.98

cc) Unmittelbare Wirkung 28 Ausnahmsweise kommt einer Richtlinie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs

eine unmittelbare Wirkung zu.99 Der Einzelne kann sich gegenüber einem Mitgliedstaat in allen Fällen, in denen Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, unmittelbar auf diese Bestimmungen berufen, wenn der Staat die Richtlinie nicht frist- oder ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt hat100 oder sie nicht zielentsprechend anwendet.101 Im Vergleich zur Verordnung handelt es sich insoweit um eine ähnliche Wirkung, die verhindern soll, dass der Mitgliedstaat aus seiner Pflichtversäumnis Vorteile zieht, und die ihn nicht davon entbindet, die Richtlinie ordnungsgemäß durchzuführen.102 Deshalb sind die

_____ 97 Zu deren Zulässigkeit vgl EuGH, Rs 278/85 – Kommission / Dänemark, Rn 17; Rs C-96/95 – Kommission / Deutschland, Rn 37. 98 EuGH, Rs C-427/07 – Kommission / Irland, Rn 107 f; Gemeinsame Politische Erklärungen v 28.9.2011 bzw 27.10.2011 der Mitgliedstaaten und der Kommission bzw des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission „zu Erläuternde Dokumente“ (on explanatory documents), ABl 2011 C 369/14 bzw 15. 99 EuGH, Rs 33/70 – SACE, Rn 14/16; Rs 41/74 – van Duyn, Rn 12; Rs 8/81 – Becker, Rn 20 ff; vertiefend Grabitz EuR 1971, 1 ff; Magiera DÖV 1985, 937 ff; Hilf EuR 1993, 1 ff; Epiney DVBl 1996, 409 ff; W Weiß DVBl 1998, 568 ff; Gundel EuZW 2001, 143 ff; Jarass/Beljin JZ 2003, 768 ff; Skouris ZEuS 2005, 463 ff; Prokopf S 170 ff; von Danwitz JZ 2007, 697 ff; Craig ELRev 2009, 349 ff; Dubout RTDE 2010, 277 ff. 100 EuGH, Rs 41/74 – van Duyn, Rn 12 ff; Rs 148/78 – Ratti, Rn 18 ff; Rs 8/81 – Becker, Rn 25; Rs 152/84 – Marshall, Rn 46; Rs 190/87 – Kreis Borken, Rn 23; Rs C-258/97 – Hospital Ingenieure, Rn 34; Rs C‑141/00 – Kügler, Rn 51; Rs C-276/01 – Steffensen, Rn 38; Rs C-472/07 – AGIM ua, Rn 26; Rs C384/17 – Link Logistik N&N, Rn 47 f. 101 EuGH, Rs C-62/00 – Marks & Spencer, Rn 27; Rs C-465/07 – Elgafaji, Rn 42. 102 EuGH, Rs 102/79 – Kommission / Belgien, Rn 12; Rs C-433/93 – Kommission / Deutschland, Rn 24; Rs C-192/94 – El Corte Inglès, Rn 16; Rs C-168/95 – Arcaro, Rn 36; Rs C-387/02 – Berlusconi, Rn 73 f. Siegfried Magiera

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zuständigen mitgliedstaatlichen Stellen auch verpflichtet, die entsprechenden Bestimmungen zugunsten des Einzelnen anzuwenden, wenn sich dieser – etwa mangels ausreichender Rechtskenntnis – nicht auf sie beruft, aber berufen könnte.103 Eine Richtlinie kann somit Rechte, nicht jedoch selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen, so dass der Mitgliedstaat, solange er die Richtlinie nicht umgesetzt hat, daraus auch keine Verpflichtungen für den Einzelnen herleiten kann.104 Auch Einzelne untereinander können sich nicht auf eine noch nicht umgesetzte Richtlinie berufen.105 In sog Dreiecksverhältnissen zwischen zwei oder mehr Einzelnen und dem Staat,106 etwa in den Bereichen des Umweltschutzes107 oder des Auftragswesens,108 lässt die Rechtsprechung jedoch zu, dass sich aus einer nicht oder nicht ordnungsgemäß umgesetzten Richtlinie „bloße negative Auswirkungen“ (englisch: mere adverse repercussions, französisch: simples répercussions négatives) zu Lasten Einzelner ergeben können.109 Die vom Gerichtshof insgesamt geschaffene „neue Sanktionskategorie“ hält sich, wie das Bundesverfassungsgericht für das deutsche Verfassungsrecht festgestellt hat, im Rahmen einer zulässigen richterlichen Rechtsfortbildung.110 Die unmittelbare Wirkung von Richtlinien ist damit begrenzt und mit Unsicher- 29 heiten behaftet. Sie setzt inhaltlich unbedingte und hinreichend genaue Bestimmungen voraus, soll Versäumnisse der Mitgliedstaaten sanktionieren und kann dennoch den Einzelnen nicht nur berechtigen, sondern auch belasten. Damit bringt sie Auslegungsschwierigkeiten und entsprechende Prozessrisiken mit sich. Insgesamt stellt sie lediglich eine Mindestgarantie111 dar und entbindet die Mitgliedstaaten keinesfalls von der Pflicht zur ordnungsgemäßen Umsetzung der Richtlinien. Diese wird nicht selten auch durch zusätzliche „Veredelungsbestimmungen“ aus rein nationalen Motiven („gold-plating“) zeitlich verzögert oder gar inhalt-

_____ 103 EuGH, Rs 103/88 – Costanzo, Rn 32; Rs C-72/95 – Kraaijeveld, Rn 55 ff. 104 EuGH, Rs 152/84 – Marshall, Rn 47 ff; Rs 372/85 – Traen, Rn 24; Rs 80/86 – Kolpinghuis Nijmegen, Rn 9; Rs C-201/02 – Wells, Rn 56; Rs C-425/12 – Portgás, Rn 21 ff. 105 EuGH, Rs 14/86 – Pretore di Salò, Rn 19; Rs C-192/94 – El Corte Inglès, Rn 17; Rs C-201/02 – Wells, Rn 56; Rs C-80/06 – Carp, Rn 20; Rs C-555/07 – Kücükdevici, Rn 46; Rs C-569/16 und C-570/16 – Bauer und Broßonn, Rn 76 ff. 106 Näher dazu Streinz/Schroeder Art 288 AEUV Rn 103; Calliess/Ruffert/Ruffert Art 288 AEUV Rn 63 ff. 107 EuGH, Rs C-431/92 – Kommission / Deutschland, Rn 24 ff. 108 EuGH, Rs 103/88 – Costanzo, Rn 28 ff. 109 EuGH, Rs C-443/98 – Unilever, Rn 45 ff; Rs C-201/02 – Wells, Rn 57 ff; Rs C-152/07 – Arcor, Rn 36 ff; Rs C-244/12 – Salzburger Flughafen, Rn 44 ff. 110 BVerfG, 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223 (240 ff) – Richtlinien-Wirkung; entgegen Bundesfinanzhof, V R 123/84, BFHE 143, 183; näher dazu Magiera DÖV 1985, 937 ff. 111 EuGH, Rs 102/79 – Kommission / Belgien, Rn 12; Rs C-433/93 – Kommission / Deutschland, Rn 24. Siegfried Magiera

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lich verzerrt.112 Ergänzt wird die Mindestgarantie der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien durch den Grundsatz der Staatshaftung und durch die Möglichkeit der Verhängung finanzieller Sanktionen als weiteren Durchsetzungsinstrumenten.113

c) Beschluss 30 Beschlüsse sind in allen ihren Teilen verbindlich; sind sie an bestimmte Adressaten

gerichtet, so sind sie nur für diese verbindlich (Art 288 IV AEUV). Im Unterschied zu den anderen förmlichen Rechtsakten (Verordnung, Richtlinie, Empfehlung, Stellungnahme) ist damit durch den Vertrag von Lissabon eine zweifache Änderung eingetreten. Zum einen wurde die bisherige Entscheidung (Art 249 IV EGV) in Beschluss umbenannt, was jedoch – wie die Beibehaltung der früheren Bezeichnung in anderen Sprachfassungen zeigt114 – keinerlei rechtliche Auswirkungen hat; zum anderen ist der Regelungsbereich weiter gefasst worden. Die frühere Entscheidung beschränkte sich darauf, dass sie in allen ihren Teilen nur für diejenigen verbindlich war, die sie bezeichnete. Ihr entspricht nunmehr der Beschluss in seiner zweiten Alternative. Hinzugekommen ist der Beschluss in seiner ersten Alternative, der zwar ebenfalls in allen seinen Teilen verbindlich ist, jedoch nicht an einen bestimmten Adressaten gerichtet ist. Es muss sich jedoch um einen Beschluss handeln, der den Unionsinstitutionen und nicht etwa den Mitgliedstaaten zuzurechnen ist, dh es genügt nicht, wenn der Beschluss etwa – statt vom Rat – von den „(Vertretern der) Regierungen der Mitgliedstaaten“ erlassen wird.115

aa) Adressatengebundenheit 31 Der adressatengebundene Beschluss, die frühere Entscheidung, ist – wie die Ver-

ordnung – in allen seinen Teilen verbindlich, jedoch nicht allgemein, sondern – wie die Richtlinie – lediglich für diejenigen, an die er gerichtet ist (Art 288 IV 2 AEUV). Anders als bei der Richtlinie kommen neben den Mitgliedstaaten,116 die ursprünglich nur an die sie verpflichtenden Richtlinien gebunden sein sollten,117 auch – natürliche und juristische – Einzelpersonen als Adressaten in Betracht. Staatengerichtete Beschlüsse ergehen etwa im Bereich des Beihilfenrechts (Art 107, 108

_____ 112 Kommission, Strategische Überlegungen zur Verbesserung der Rechtsetzung in der Europäischen Union, KOM(2006) 689, S 7; Kommission, Erster Fortschrittsbericht, KOM(2006) 690, S 18. 113 Näher dazu Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Magiera § 13 Rn 53 ff. 114 Oben, Rn 15. 115 EuGH, Rs C-181/91 – EP / Rat und Kommission, Rn 11 f; vgl dazu auch unten, Rn 58. 116 EuGH, Rs 249/85 – Albako, Rn 17. 117 Wohlfarth/Everling/Glaesner/Sprung/Wohlfarth Art 189 EWGV Nr 11. Siegfried Magiera

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AEUV), personengerichtete Beschlüsse etwa im Bereich des Wettbewerbsrechts (Art 105, 106 AEUV). Die Verbindlichkeit für diejenigen, an die er gerichtet ist, macht den adressa- 32 tengebundenen Beschluss zum typischen Regelungsinstrument für Einzelfälle. Von der Verordnung als dem typischen Regelungsinstrument mit allgemeiner Geltung – und nunmehr auch von dem adressatenunabhängigen Beschluss – unterscheidet er sich dadurch, dass er sich an eine begrenzte Zahl von Personen richtet, deren Kreis bei Erlass feststeht und nicht mehr erweitert werden kann.118 Ist dies nicht der Fall, so liegt in Wirklichkeit ein adressatenunabhängiger Beschluss oder eine „verschleierte“ Verordnung vor.119 Die Adressaten müssen jedoch nicht namentlich benannt, sondern lediglich der Zahl und der Person nach feststellbar (individualisierbar) sein.120 Dies lässt sich den Zulässigkeitsanforderungen der sog Nichtigkeitsklage entnehmen. Eine solche kann von Einzelpersonen ua gegen Handlungen der Unionsinstitutionen erhoben werden, die sie unmittelbar und individuell betreffen (Art 263 IV AEUV). Individuell betroffen sind Personen von einer Maßnahme allerdings nicht schon dann, wenn sie nach Zahl oder sogar Identität mehr oder weniger genau bestimmbar sind.121 Erforderlich ist vielmehr, dass die Maßnahme den Einzelnen wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten (sog Plaumann-Formel).122 Dies trifft etwa auf einen Unternehmer zu, wenn der Beschluss dem Konkurrenten Vorteile einräumt. Ein und dieselbe Maßnahme kann auch unterschiedliche Wirkungen haben; so kann eine Verordnung, die Antidumpingzölle einführt, produzierende und exportierende (Drittlands-)Unternehmen unmittelbar und individuell treffen, auf importierende (Unions-)Unternehmen hingegen objektiv und mit allgemeiner Geltung anwendbar sein.123 Verbindlichkeit in allen seinen Teilen verlangt, dass der adressatengebundene 33 Beschluss darauf gerichtet ist, seinem Adressaten Rechte zu gewähren oder Pflichten aufzuerlegen.124 Für die Adressaten muss an der äußeren Form erkennbar sein,

_____ 118 EuGH, Rs 25/62 – Plaumann / Kommission, Slg 1963, 211 (238); Rs 41/70 – Fruit Company / Kommission, Rn 16/22; Rs 113/77 – NTN Toyo Bearing Company / Kommission, Rn 11; Rs C-354/87 – Weddel / Kommission, Rn 21. 119 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 288 AEUV Rn 175 mwN (2012). 120 EuGH, Rs 106/63 – Töpfer / Kommission, Slg 1965, 547 (556); Rs 112/77 – Töpfer / Kommission, Rn 9. 121 EuGH, Rs 123/77 – UNICME / Rat, Rn 16/19; Rs C-298/89 – Gibraltar / Rat, Rn 17. 122 EuGH, Rs 25/62 – Plaumann / Kommission, Slg 1963, 211 (238); Rs 11/82 – Piraiki-Patraiki / Kommission, Rn 11; Rs C-309/89 – Cordoniu / Kommission, Rn 19 ff; Rs C-50/00 P – UPA / Rat, Rn 36; Rs C-71/09 P – Comitato „Venezia vuole vivere“ / Kommission, Rn 52. 123 EuGH, Rs 239/82 – Allied Corporation / Kommission, Rn 11 ff; Rs C-358/89 – Extramet Industrie / Kommission, Rn 13 ff. 124 EuGH, Rs 23/63 – Usines Émile Henricot / Hohe Behörde, Slg 1963, 467 (484) zu Art 14 EGKSV. Siegfried Magiera

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dass es sich um eine das interne Verfahren – uU auch nur vorläufig125 – abschließende Verlautbarung der zuständigen Unionsinstitution handelt, die dazu bestimmt ist, Rechtswirkungen hervorzurufen.126 Daran fehlt es bei Maßnahmen, die sich in der Einleitung eines Verfahrens und der Mitteilung der Beschwerdepunkte an den Adressaten erschöpfen, wenn sie nicht die Rechtswidrigkeit gewissermaßen auf der Stirn tragen.127 Wie für Richtlinien und bestärkt dadurch, dass der adressatengebundene Be34 schluss für den Adressaten in allen seinen Teilen verbindlich ist, hat der Gerichtshof jedoch festgestellt, dass sich nicht nur die Unionsinstitutionen, sondern alle betroffenen Personen gegenüber dem Adressaten auf die durch den Beschluss auferlegte Verpflichtung berufen können. 128 Dementsprechend muss im Einzelfall geprüft werden, ob die Bestimmung, um die es geht, nach Rechtsnatur, Systematik und Wortlaut geeignet ist, unmittelbare Wirkungen in den Rechtsbeziehungen zwischen dem Adressaten der Handlung und Dritten zu begründen.129 Dies ist bei sog Schein-Verordnungen130 und allgemein der Fall, wenn die auferlegte Pflicht klar und eindeutig ist, nicht von einer Bedingung abhängt und dem Adressaten keinen Ermessensspielraum zu ihrer Umsetzung belässt,131 die Durchführung somit rein automatisch zu erfolgen hat.132 Das Gleiche gilt auch, wenn ein Mitgliedstaat als Adressat eines Beschlusses schon vor dessen Erlass klar zu erkennen gegeben hat, dass er die durch den Beschluss ermöglichte, den Einzelnen beschwerende Entscheidung treffen wird, eine andere Entscheidung somit nur rein theoretisch möglich erschiene.133

_____ 125 EuGH, Rs 8/66 – Cimenteries / Kommission, Slg 1967, 99 (123 f). 126 EuGH, Rs 23/63 – Usines Émile Henricot / Hohe Behörde, Slg 1963, 467 (484) zu Art 14 EGKSV. Dies gilt auch für Verordnungen: EuGH, Rs 194/83 – Asteris / Kommission, Rn 17. 127 EuGH, Rs 60/81 – IBM / Kommission, Rn 21 ff. 128 EuGH, Rs 9/70 – Grad, Rn 5 f; Rs 23/70 – Haselhorst, Rn 5 f. 129 Ebd. 130 EuGH, Rs 41/70 – Fruit Company / Kommission, Rn 2 (VO-Bestimmung als „Bündel individueller … Entscheidungen“); Rs 113/77 – NTN Toyo Bearing Company / Kommission, Rn 11 (VO-Bestimmung als „Sammelentscheidung“); Rs C-354/87 – Weddel / Kommission, Rn 23 (VO-Bestimmung als „Bündel von Einzelentscheidungen“). 131 So – die Rechtsprechung des Gerichtshofs zusammenfassend – GA Reischl, Rs 130/78 – Salumificio di Cornuda, Slg 1979, 867 Nr II 1. 132 EuGH, Rs 113/77 – NTN Toyo Bearing Company / Kommission, Rn 11; Rs C‑386/96 P – Dreyfus / Kommission, Rn 43; Rs C-15/06 P, Regione Siciliana / Kommission, Rn 31; Rs C-343/07 – Bavaria, Rn 43; Rs C-463/10 P – Deutsche Post / Kommission, Rn 66. 133 EuGH, Rs 62/70 – Bock / Kommission, Rn 6 ff; Rs 11/82 – Piraiki-Patraiki / Kommission, Rn 7 ff; Rs C-386/96 P – Dreyfus / Kommission, Rn 44. Siegfried Magiera

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bb) Adressatenunabhängigkeit Der durch den Vertrag von Lissabon als förmlicher Rechtsakt neu hinzugekommene 35 adressatenunabhängige Beschluss geht – im Anschluss an Art 14 II EGKSV134 – zurück auf Art I-33 VVE. Danach sollte er ein in allen seinen Teilen verbindlicher Rechtsakt, jedoch ohne Gesetzescharakter sein. Gemäß dem Vertrag von Lissabon kann er demgegenüber als (delegierter oder durchführender) Rechtsakt ohne Gesetzescharakter (Art 290, 291 AEUV) wie auch im Gesetzgebungsverfahren und damit als Gesetzgebungsakt (Art 289 AEUV) erlassen werden. Zuvor wurde er in der Praxis für zahlreiche Rechtsakte mit normativem Charakter und allgemeiner Geltung verwendet,135 vor allem in den intergouvernementalen Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (Titel V ex-EUV) und der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (Titel VI ex-EUV), aber auch im gemeinschaftlichen Bereich, etwa zur Regelung der Eigenmittel136 und der Komitologie,137 zur Ausgestaltung von ESF138 und EFRE139 oder aufgrund der subsidiären Kompetenznorm.140 Ziel war es, im Interesse der Transparenz und der Verständlichkeit, derartige „unspezifische“ Rechtshandlungsformen zahlenmäßig zu begrenzen und erschöpfend aufzulisten.141 Geschaffen werden sollte ein harmonisiertes, flexibles, effizientes und verbindliches Rechtsinstrument, das in vielen Fällen – unter Berücksichtigung bereichsspezifischer Besonderheiten – anwendbar ist.142 Indem er in allen seinen Teilen verbindlich, aber nicht an bestimmte Adressaten 36 gerichtet ist, handelt es sich bei dem adressatenunabhängigen Beschluss um einen förmlichen Rechtsakt von normativem Charakter. Damit unterscheidet er sich

_____ 134 Europäischer Konvent, Präsidium, Entwurf der Artikel 24 bis 33 des Verfassungsvertrags, CONV 571/03, S 11. 135 Aufzählungen finden sich in European Convention, Working Group IX on Simplification, List of instruments of action available to the Union, Working Document 04; La rationalisation des instruments de l’Union – exposé de M. Jean-Claude Piris, Working Document 06. 136 Art 269 EGV (nunmehr Art 311 AEUV); Beschluss 2007/436 des Rates v 7.6.2007 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften, ABl 2007 L 163/17. 137 Art 202 Spstr 3, Art 211 Spstr 4 EGV; Beschluss 1999/468 des Rates v 28.6.1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse, ABl 1999 L 184/23; EP und Kommission, Vereinbarung v 3.6.2008 über die Modalitäten der Anwendung des Beschlusses 1999/468 des Rates idF des Beschlusses 2006/512, ABl 2008 C 143/1; näher dazu Bergström S 189 ff; Einzelbeiträge in Christiansen/Oettel/Vaccari (Hrsg) passim; aufgehoben durch die – auf Art 291 III AEUV gestützte – VO 182/2011 des EP und des Rates; vgl dazu unten, Rn 88. 138 Art 148 EGV (nunmehr Art 164 AEUV). 139 Art 162 EGV (nunmehr Art 178 AEUV). 140 Art 308 EGV (nunmehr Art 352 AEUV). 141 Europäischer Konvent, Präsidium, Die Rechtsakte: das derzeitige System, CONV 162/02, S 7. 142 Europäischer Konvent, Gruppe IX „Vereinfachung“, Schlussbericht, CONV 424/02, S 3 ff; Europäischer Konvent, Präsidium, Entwurf der Artikel 24 bis 33 des Verfassungsvertrags, CONV 571/03, S 10. Siegfried Magiera

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deutlich von dem adressatengebundenen Beschluss, der an einen oder mehrere bestimmte Adressaten gerichtet ist, und auch von der Richtlinie, die an einen oder mehrere Mitgliedstaaten gerichtet ist. Weniger klar erscheint die Abgrenzung zur Verordnung. Diese ist wie der adressatenunabhängige Beschluss ebenfalls in allen ihren Teilen verbindlich, hat jedoch zusätzlich allgemeine und unmittelbare Geltung in jedem Mitgliedstaat. Das Merkmal der allgemeinen Geltung dient der Abgrenzung zur individuellen Geltung, die den adressatengebundenen Beschluss kennzeichnet. Dieser unterscheidet sich dadurch von der Verordnung ebenso wie von dem adressatenunabhängigen Beschluss, dem damit ebenfalls allgemeine Geltung zukommt. Auch die unmittelbare Geltung in jedem Mitgliedstaat, die unmittelbare Wir37 kungen für natürliche und juristische Einzelpersonen erzeugen kann, ist nicht auf die Verordnung begrenzt.143 Ähnliche Wirkungen können ebenfalls von einer Richtlinie oder einem an die Mitgliedstaaten gerichteten Beschluss ausgehen, so dass sie auch für den adressatenunabhängigen Beschluss nicht ausgeschlossen erscheinen. Letztlich hängt es daher von der Ermächtigungsnorm, auf die der adressatenunabhängige Beschluss zu stützen ist, sowie von dessen Gegenstand und Inhalt ab, ob und inwieweit die Unionsinstitutionen, die Mitgliedstaaten und/oder Einzelpersonen daraus berechtigt oder verpflichtet werden. Ausdrückliche Ermächtigungsnormen144 finden sich im Vertragsrecht etwa in den Bereichen der Unionsinstitutionen,145 der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik,146 der Vertragsänderung,147 des Verkehrs,148 der internationalen Übereinkommen149 und der Eigenmittel.150

d) Empfehlung und Stellungnahme 38 Die Empfehlung und die Stellungnahme sind im Unterschied zu den anderen förm-

lichen Rechtsakten der Union (Verordnung, Richtlinie, Beschluss) nicht verbindlich (Art 288 V AEUV). Empfehlungen ergehen zumeist aus eigener Initiative der sie abgebenden Unionsinstitution, Stellungnahmen hingegen zu einer fremden Initiative, ohne dass diese Abgrenzung im Vertragsrecht strikt vorgeschrieben ist.151

_____ 143 EuGH, Rs 41/74 – van Duyn, Rn 12; Rs C-322/88 – Grimaldi, Rn 11. 144 Gruppierungsversuche finden sich ua bei Lenz/Borchardt/Hetmeier Art 288 AEUV Rn 21 ff. 145 Art 14 II EUV (Zusammensetzung des EP). 146 Art 25 EUV (Festlegung von Aktionen und Standpunkten). 147 Art 48 VI, VII EUV (Vereinfachte Verfahren). 148 Art 95 IV AEUV (Diskriminierungsverbot). 149 Art 218 AEUV (Abschluss völkerrechtlicher Übereinkünfte der Union). 150 Art 311 III AEUV (System der Eigenmittel). 151 Wohlfarth/Everling/Glaesner/Sprung/Wohlfarth Art 189 EWGV Nr 15; HP Ipsen S 460; Constantinesco S 636 f. Siegfried Magiera

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aa) Rechtliche Unverbindlichkeit Nicht verbindlich sind Empfehlungen und Stellungnahmen insoweit, als mit ihnen 39 für den Empfänger keine unmittelbare rechtliche Verpflichtung begründet werden kann.152 Als förmliche Rechtsakte unterliegen sie jedoch dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art 5 II EUV).153 Allerdings bedürfen sie nicht stets einer ausdrücklichen Ermächtigung im Vertragsrecht. Vielmehr können sie auch bei Bedarf von den Unionsorganen im Rahmen ihrer allgemeinen Kompetenzen abgegeben werden. Dies gilt etwa für die Kommission, soweit sie es auf den im Vertragsrecht bezeichneten Gebieten für notwendig erachtet.154

bb) Rechtliche Relevanz Trotz ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit sind Empfehlungen und Stellungnahmen 40 nicht rechtlich irrelevant. Dies folgt allgemein daraus, dass sie auf der Kompetenz und Autorität der sie erlassenden Unionsinstitutionen beruhen. Für natürliche und juristische Einzelpersonen sind sie zwar bloße Ratschläge, deren Beachtung den Adressaten freisteht.155 Die Mitgliedstaaten haben sie jedoch aufgrund ihrer Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit (Art 4 III EUV) ernsthaft zu prüfen und sich ihnen gegenüber unionsfreundlich einzulassen.156 So sind die mitgliedstaatlichen Gerichte verpflichtet, die Empfehlungen zu berücksichtigen, insbesondere, wenn diese der Ergänzung des verbindlichen Unionsrechts oder der Auslegung des staatlichen Durchführungsrechts dienen sollen.157 Rechtliche Relevanz kommt Empfehlungen und Stellungnahmen ferner aufgrund besonderer Vertragsvorschriften zu, die ihren Erlass unter Umständen vorschreiben (ua Art 121, 126, 134, 218 AEUV) oder zur unentbehrlichen Voraussetzung für Prozesshandlungen (Art 258, 259, 265 AEUV) oder für weitergehende Rechtshandlungen (Art 22 EUV; Art 117, 148, 228, 255, 294, 296 AEUV) erklären. Auch insoweit bleiben die rechtlichen Wirkungen jedoch begrenzt.

_____ 152 EuGH, Rs 1/57 – Société des Usines à Tubes de la Sarre, Slg 1957, 213 (236) zu Stellungnahmen gemäß Art 14 EGKSV; Rs C-322/88 – Grimaldi, Rn 16; Rs C-593/15 P – Slowakei / Kommission, Rn 57 ff. 153 Ebenso Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 288 AEUV Rn 200 (2012); aA Geiger/Khan/ Kotzur/Kotzur Art 288 AEUV Rn 26. 154 So ausdrücklich Art 155 EWGV bzw Art 211 EGV, der in Art 17 I EUV aufgegangen ist, ohne die entsprechende Aussage ausdrücklich zu übernehmen, aber auch nicht auszuschließen. Vgl auch Art 292 AEUV, wonach der Rat und die Kommission allgemein und die EZB in vertraglich bestimmten Fällen Empfehlungen abgeben können. 155 EuGH, Rs 1/57 – Société des Usines à Tubes de la Sarre, Slg 1957, 213 (236) zu Stellungnahmen gemäß Art 14 EGKSV. 156 HP Ipsen S 461. 157 EuGH, Rs C-322/88 – Grimaldi, Rn 18; Rs C-188/91 – Deutsche Shell, Rn 18; Rs C-55/06 – Arcor, Rn 94. Siegfried Magiera

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So kann die Kommission mit ihrer Stellungnahme nach Art 258 AEUV dem Mitgliedstaat zwar Gelegenheit geben, seinen Standpunkt zu rechtfertigen, nicht jedoch die Rechte und Pflichten des Mitgliedstaats verbindlich feststellen oder ihm die Vereinbarkeit seines Verhaltens mit dem Vertragsrecht zusichern. 158 Die Kommission überwacht die Anwendung des Unionsrechts vielmehr unter der Kontrolle des Gerichtshofs (Art 17 I EUV), dem insoweit die endgültige Entscheidung zusteht.159 Anders als gegen die verbindlichen Rechtshandlungen und gegen Rechtshandlungen mit Rechtswirkungen gegenüber Dritten kann gegen Empfehlungen und Stellungnahmen keine Nichtigkeitsklage und von natürlichen oder juristischen Personen keine Unterlassungsklage erhoben werden (Art 263 I, 265 III AEUV). Der Gerichtshof kann jedoch Empfehlungen und Stellungnahmen im Vorabentscheidungsverfahren überprüfen, das entsprechende Ausnahmen nicht vorsieht (Art 267 AEUV).160 Ferner sind bei fehlerhaftem Verhalten der Organe und Bediensteten der Union Schadensersatzansprüche der Betroffenen aus außervertraglicher Haftung möglich (Art 340 II AEUV).

2. Gesetzgebungsakte a) Begriff und Bedeutung 41 Gesetzgebungsakte sind Rechtsakte, die gemäß einem Gesetzgebungsverfahren angenommen werden (Art 289 III AEUV). Sie werden jedoch nicht, wie es im Verfassungsvertrag vorgesehen war, als Gesetz (Art I-34 VVE) bezeichnet, sondern sie ergehen in der Form eines verbindlichen förmlichen Rechtsakts als Verordnung, Richtlinie oder Beschluss (Art 289 I, II AEUV). Diese Formen dienen auch dem Erlass von Rechtsakten ohne Gesetzescharakter, insbesondere von delegierten und durchführenden Rechtsakten, aber auch von weiteren Rechtsakten sui generis. Gesetzgebungsakte unterscheiden sich von Rechtsakten ohne Gesetzescharakter somit weder durch ihre Bezeichnung noch nach ihrem Gegenstand und Inhalt,161 sondern ausschließlich danach, ob sie in einem Gesetzgebungsverfahren zustande gekommen sind oder nicht. Der Europäische Konvent hatte sich für eine Änderung der ursprünglichen Be42 zeichnungen der gemeinschaftlichen Rechtsakte ausgesprochen, um sie den Traditionen der Mitgliedstaaten anzunähern und damit den Unionsbürgern vertrauter zu

_____ 158 EuGH, Rs 142/80 – Amministrazione delle Finanze dello Stato, Rn 15 ff. 159 Ebd. 160 EuGH, Rs C-322/88 – Grimaldi, Rn 8; Rs C-16/16 P – Belgien / Kommission, Rn 25 ff. 161 Wesentliche Aspekte eines Regelungsbereichs sind jedoch dem Gesetzgebungsakt vorbehalten und dürfen nicht der Regelung durch einen delegierten Rechtsakt überlassen werden (Art 290 II UAbs 2 AEUV). Siegfried Magiera

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machen.162 Die Verordnung und die Richtlinie als die verbindlichen, allgemein gültigen Rechtsakte sollten umbenannt werden in Europäisches Gesetz und Europäisches Rahmengesetz.163 Die Gesetzgebungsakte sollten die wesentlichen Bestimmungen für einen bestimmten Bereich enthalten, delegierte und durchführende Rechtsakte ohne Gesetzescharakter die sonstigen Bestimmungen.164 Der neue, adressatenunabhängige Beschluss sollte kein Gesetzgebungsakt sein.165 Die Unterscheidung zwischen Europäischem Gesetz und Europäischem Rahmengesetz einerseits (Art I-34 VVE) und Europäischem Beschluss als Rechtsakt ohne Gesetzescharakter (Art I-35 VVE) andererseits wurde ebenso wie die Bezeichnung Gesetz – als staatstypisches Symbol – im Vertrag von Lissabon aufgegeben. Wie die Verordnung und die Richtlinie kann auch der Beschluss nunmehr als Gesetzgebungsakt ergehen (Art 289 I bis III AEUV). Damit handelt es sich jeweils um verbindliche, allgemeingültige förmliche Rechtsakte. Der adressatengebundene Beschluss als verbindlicher, aber individueller förmlicher Rechtsakt kommt insoweit – entsprechend der Richtlinie – lediglich in Betracht, wenn er an Mitgliedstaaten, nicht jedoch, wenn er an eine Einzelperson gerichtet ist.166 Ohne dass es in ihrer Bezeichnung zum Ausdruck kommt, werden die Gesetzge- 43 bungsakte danach unterschieden, ob der Rechtsakt in dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art 294 AEUV) oder in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren, wie es in bestimmten, im Vertragsrecht vorgesehenen Fällen festgelegt ist, erlassen wird (Art 289 I, II AEUV). An zahlreichen Stellen enthält das Vertragsrecht allerdings Bestimmungen, die für alle Gesetzgebungsakte gelten und diese insoweit von den Rechtsakten ohne Gesetzescharakter abgrenzen. So sind den nationalen Parlamenten Entwürfe von Gesetzgebungsakten zuzuleiten, zu denen sie sich äußern können (Art 12 lit a EUV; Art 69 AEUV), tagt der Rat öffentlich, wenn er über Entwürfe zu Gesetzgebungsakten berät und abstimmt (Art 16 VIII EUV; Art 15 II AEUV), darf ein Gesetzgebungsakt grundsätzlich nur auf Vorschlag der Kommission erlassen werden (Art 17 II EUV; Art 289 IV AEUV), können delegierte Rechtsakte nur auf Gesetzgebungsakte gestützt werden (Art 290 AEUV), sind Gesetzgebungsakte im Amtsblatt der Union zu veröffentlichen (Art 297 I AEUV), ist der Erlass von Gesetzgebungsakten im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ausgeschlossen (Art 24 I, 31 I EUV). Ein erleichterter Übergang vom besonderen zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren ist für Fälle im Rahmen des AEU-Vertrags

_____ 162 Europäischer Konvent, Synthesebericht über die Plenartagung – 12./13.9.2002, CONV 284/02, S 3; Europäischer Konvent, Synthesebericht über die Plenartagung – 5./6.12.2002, CONV 449/02, S 4. 163 Europäischer Konvent, Gruppe IX „Vereinfachung“, Schlussbericht, CONV 424/02, S 3, 6. 164 Ebd, S 9 f. 165 Ebd, S 4, 6. 166 Ebenso Calliess/Ruffert/Ruffert Art 289 AEUV Rn 8. Siegfried Magiera

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ua durch Beschluss des Europäischen Rates mit Zustimmung des Europäischen Parlaments im vereinfachten Vertragsänderungsverfahren möglich (Art 48 VII EUV; Art 353 AEUV).

b) Ordentliche Gesetzgebungsakte 44 Als ordentliche Gesetzgebungsakte lassen sich diejenigen förmlichen Rechtsakte

bezeichnen, die als Verordnung, Richtlinie oder Beschluss gemeinsam vom Europäischen Parlament und vom Rat auf Vorschlag der Kommission gemäß Art 294 AEUV im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren angenommen werden (Art 289 I AEUV). Es handelt sich, worauf seine Bezeichnung in Abgrenzung zu dem besonderen Gesetzgebungsverfahren hinweist, um das regelmäßige Verfahren der Unionsgesetzgebung. In welchen Fällen Rechtsakte in diesem Regelverfahren zu erlassen sind, ergibt sich nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art 5 II EUV) aus den zahlreichen Bestimmungen des Vertragsrechts, die den Erlass des Rechtsakts „gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ ausdrücklich vorschreiben (vgl zB Art 14, 15 III, 16 II, 19 II, 21 II AEUV).167

c) Besondere Gesetzgebungsakte 45 Als besondere Gesetzgebungsakte lassen sich diejenigen förmlichen Rechtsakte bezeichnen, die als Verordnung, Richtlinie oder Beschluss in bestimmten, im Vertragsrecht vorgesehenen Fällen entweder vom Europäischen Parlament mit Beteiligung des Rates oder umgekehrt vom Rat mit Beteiligung des Europäischen Parlaments in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren angenommen werden (Art 289 II AEUV). Im Einzelnen wird weiter danach unterschieden, ob der Rat einstimmig oder mit bestimmter Mehrheit zu beschließen hat und ob das Parlament nur anzuhören ist oder zustimmen muss. Da sich Gesetzgebungsakte ausschließlich danach bestimmen, ob sie in einem Gesetzgebungsverfahren zustande gekommen sind oder nicht, muss ihr Erlass „gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren“ in der – nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art 5 II EUV) – erforderlichen Vertragsgrundlage ausdrücklich festgelegt sein.168 Eine entsprechende Liste wurde im Europäischen Konvent für den Verfassungsvertrag erarbeitet und fand ihren Niederschlag auch im Vertrag von Lissabon.169

_____ 167 Eine Gesamtaufstellung der 85 Fälle findet sich bei Schwarze/Schoo Art 289 AEUV Rn 7. 168 EuGH, Rs C-643/15 und C-647/15 – Slowakei / Rat und Ungarn / Rat, Rn 62. 169 Europäischer Konvent, Präsidium, Entwurf der Verfassung, Band I, CONV 724/03, S 90; Europäischer Konvent, Präsidium, Textentwurf für Abschnitte des Teils III mit Kommentaren, CONV 727/03, S 120 f; Europäischer Konvent, Sekretariat, Teil II der Verfassung, CONV 729/03, S 2 ff – Zum Vertrag von Lissabon vgl die Auflistung bei Streinz/Gellermann Art 289 AEUV Rn 5 ff. Siegfried Magiera

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3. Rechtsakte ohne Gesetzescharakter Rechtsakte ohne Gesetzescharakter unterscheiden sich von Gesetzgebungsakten 46 dadurch, dass sie nicht gemäß einem Gesetzgebungsverfahren zustande gekommen sind. Ebenso wie Gesetzgebungsakte können sie als Verordnung, Richtlinie oder Beschluss und damit als verbindliche Rechtsakte ergehen (Art 297 II AEUV). Das Vertragsrecht unterscheidet zwischen delegierten Rechtsakten, Durchführungsrechtsakten und nicht näher benannten Rechtsakten sui generis.

a) Delegierte Rechtsakte aa) Begriff und Bedeutung Delegierte Rechtsakte sind Rechtsakte ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Gel- 47 tung,170 die ausschließlich von der Kommission171 auf der Grundlage eines Gesetzgebungsakts („Basisrechtsakt“) erlassen werden können, um bestimmte nicht wesentliche Vorschriften des betreffenden Rechtsakts zu ergänzen oder zu ändern (Art 290 I UAbs 1 AEUV).172 Die Bestimmung ähnelt weitgehend dem Regelungsverfahren mit Kontrolle im Sinne des früheren Komitologiebeschlusses.173 Es handelt sich um eine das Primärrecht und das Sekundärrecht ergänzende dritte Rechtsebene, die als Tertiärrecht bezeichnet werden kann. Sie dient der Entlastung des Gesetzgebers, dh des Parlaments und des Rates (Art 14 I EUV), von Detailregelungen vor allem kurzfristiger und technischer Art. Die wesentlichen, dh die grundlegenden und bedeutsamen Regelungen, die den Erlass politischer Entscheidungen erfordern, bleiben jedoch dem Gesetzgeber vorbehalten.174 Die Grenzziehung zwischen wesentlichen und sonstigen Regelungen lässt 48 sich kaum eindeutig bestimmen und fällt damit weitgehend in den Gestaltungs-

_____ 170 Im Unterschied zu Einzelmaßnahmen, die sich an einen begrenzten Adressatenkreis wenden und damit ausgeschlossen sind; ebenso Kommission, Umsetzung von Artikel 290 AEUV, KOM(2009) 673, S 4; zweifelnd Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 290 AEUV Rn 32 (2012). 171 Ebenso GA Cruz Villalón, Rs C-427/12 – Kommission / EP und Rat, Nr 23, 25. Nicht ausgeschlossen ist damit jedoch eine von Art 290 und Art 291 AEUV unabhängige Übertragung von Befugnissen auf Einrichtungen und sonstige Stellen der Union, wie Regulierungsagenturen mit spezifisch technischem Fachwissen; vgl dazu EuGH, Rs C-270/12 – Vereinigtes Königreich / EP und Rat, Rn 77 ff; Rs C-521/15 – Spanien / Rat, Rn 43 f; näher dazu Bertrand RTDE 2015, 21 ff. 172 Als Beispiel für eine Delegierung vgl die Erwägungsgründe 123, 173, 208 VO (EU, Euratom) 2018/1046 des EP und des Rates v 18.7.2018 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union …, ABl 2018 L 193/1. 173 Kommission, Umsetzung von Artikel 290 AEUV, KOM(2009) 673, S 3; näher dazu Greiner S 41 ff; zum früheren Komitologiebeschluss vgl oben, Rn 35. 174 EuGH, Rs 25/70 – Köster, Rn 6; Rs C-240/90 – Deutschland / Kommission, Rn 37; Rs C-355/10 – EP / Rat, Rn 64 f; Rs C-44/16 – Dyson / Kommission, Rn 59 ff; vertiefend Grabitz/Hilf/Nettesheim/ Nettesheim Art 290 AEUV Rn 36 ff (2012); Lenz/Borchardt/Hetmeier Art 290 AEUV Rn 5 ff. Siegfried Magiera

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spielraum des Gesetzgebers, der jedoch auch insoweit der Kontrolle der Gerichtsbarkeit unterliegt.175 Zur Erleichterung und besseren Handhabung der Grenzziehung sieht das Vertragsrecht verschiedene Orientierungspunkte vor, die zu beachten sind. Sie sollen möglichst durch eine Standardformulierung für die Delegierung im Basisrechtsakt zum Ausdruck gebracht werden.176 So müssen in dem Gesetzgebungsakt Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer der Befugnisübertragung an die Kommission ausdrücklich festgelegt werden (Art 290 I UAbs 2 S 1 AEUV). Ferner wird zusätzlich hervorgehoben, dass die wesentlichen Aspekte eines Bereichs dem Gesetzgebungsakt vorbehalten sind und eine Befugnisübertragung für sie deshalb ausgeschlossen ist (Art 290 I UAbs 2 S 2 AEUV). Die festzulegende Dauer kann nach den Bedürfnissen der Regelung befristet („sunset clause“) oder unbefristet sein und wird zusätzlich durch das – im jeweiligen Basisrechtsakt festzulegende – Widerrufsrecht des Parlaments und des Rates flexibel gehalten. Nicht wesentliche Vorschriften des Gesetzgebungsakts können durch den delegierten Rechtsakt förmlich geändert oder durch Hinzufügen neuer, nicht wesentlicher Vorschriften ergänzt werden.177 Änderung bedeutet die Abänderung, Hinzufügung oder Aufhebung nicht wesentlicher Bestimmungen des Basistextes, Ergänzung die Hinzufügung nicht wesentlicher Bestimmungen in einem gesonderten Rechtsakt.178

bb) Delegierungsbedingungen 49 Die Bedingungen, unter denen die Übertragung erfolgt, werden in den Gesetzge-

bungsakten ausdrücklich, wenn auch nicht obligatorisch,179 festgelegt, wobei nur180 zwei Möglichkeiten – ein Widerrufsrecht (Evokationsrecht) und ein Einspruchs-

_____ 175 Europäischer Konvent, Gruppe IX „Vereinfachung“, Schlussbericht, CONV 424/02, S 9, 11; EuGH, Rs C-355/10 – EP / Rat, Rn 64 ff; Chamon CMLRev 2013, 849 ff. 176 EP, Entschließung v 7.5.2009 zu den neuen Aufgaben und Zuständigkeiten des Parlaments bei der Umsetzung des Vertrags von Lissabon, Ziff 68, ABl 2009 C 212 E/44; Kommission, Umsetzung von Artikel 290 AEUV, KOM(2009) 673, S 2, 12 ff. 177 Zu dabei auftretenden Abgrenzungsproblemen zwischen delegierten Rechtsakten und Durchführungsrechtsakten vgl unten, Rn 54. 178 EuGH, Rs C-286/14 – EP / Kommission, Rn 40 ff. 179 Ebenso Schwarze/Schoo Art 290 AEUV Rn 18; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 290 AEUV Rn 59 (2012); Lenz/Borchardt/Hetmeier Art 290 AEUV Rn 18; wohl auch Kommission, Umsetzung von Artikel 290 AEUV, KOM(2009) 673, S 8; aA Streinz/Gellermann Art 290 AEUV Rn 10. 180 Ebenso Schwarze/Schoo Art 290 AEUV Rn 18; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 290 AEUV Rn 66 (2012); Geiger/Khan/Kotzur/Kotzur Art 290 AEUV Rn 7; Kommission, Umsetzung von Artikel 290 AEUV, KOM(2009) 673, S 8, 12 ff; vgl aber auch Kommission, 39. Erklärung zu Art 290 AEUV, ABl 2016 C 202/352; aA EP, Entschließung v 5.5.2010 zur legislativen Befugnisübertragung, Ziff 2, ABl 2011 C 81 E/6 f. Siegfried Magiera

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recht181 – vorgesehen sind. Dadurch wird eine gleichberechtigte Kontrolle der Delegierung durch das Parlament und den Rat ermöglicht und sichergestellt.182 Zum einen können das Parlament oder der Rat jeweils allein die Übertragung widerrufen (Art 290 II 1 lit a AEUV), obwohl beide Organe, wenn auch in unterschiedlicher Weise, an dem Erlass des Gesetzgebungsakts beteiligt sind. Umstritten ist insoweit, ob bei besonderen Gesetzgebungsakten lediglich das dominierende oder – wofür der Wortlaut spricht – beide Organe widerrufsberechtigt sind.183 Zum anderen kann der delegierte Rechtsakt nur in Kraft treten, wenn das Parlament oder der Rat innerhalb der im Gesetzgebungsakt festgelegten Frist keine Einwände erheben (Art 290 II 1 lit b AEUV). In beiden Fällen beschließt das Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglieder und der Rat mit qualifizierter Mehrheit (Art 290 II 2 AEUV), auch wenn der Gesetzgebungsakt andere Mehrheitserfordernisse vorsieht. Schließlich wird zur Erhöhung der Transparenz bestimmt, dass in den Titel der delegierten Rechtsakte das Wort „delegiert“ einzufügen ist (Art 290 III AEUV). In der Praxis finden sich dementsprechend „Delegierte Verordnungen“,184 „Delegierte Richtlinien“185 und „Delegierte Beschlüsse“,186 wobei die ersteren die beiden anderen Formtypen zahlenmäßig erheblich übertreffen. Insgesamt zeigt die Regelung, dass das Vertragsrecht die Unterscheidung und Abgrenzung zwischen ermächtigendem Gesetzgebungsakt, der vom Parlament und vom Rat zu erlassen ist, und delegiertem Rechtsakt, den die Kommission erlässt, sehr eingehend ausgestaltet hat, um die notwendige Transparenz und die Achtung der demokratischen und rechtstaatlichen Grundsätze im Verhältnis zwischen den beteiligten Organen zu gewährleisten.187

_____ 181 Vgl dazu Europäischer Konvent, Gruppe IX „Vereinfachung“, Schlussbericht, CONV 424/02, S 11. 182 Näher dazu auch Härtel S 255 ff. 183 Näher dazu Ilgner S 210 ff mwN. 184 Ein Beispiel ist die Delegierte VO (EU) 2018/1620 der Kommission v 13.7.2018 zur Änderung der Delegierten VO (EU) 2015/61 der Kommission zur Ergänzung der VO (EU) Nr 575/2013 des EP und des Rates in Bezug auf die Liquiditätsdeckungsanforderung an Kreditinstitute, ABl 2018 L 271/10. 185 Ein Beispiel ist die Delegierte RL (EU) 2018/970 der Kommission v 18.4.2018 zur Änderung der Anhänge II, III und V der RL (EU) 2016/1629 des EP und des Rates zur Festlegung technischer Vorschriften für Binnenschiffe, ABl 2018 L 174/15. 186 Ein Beispiel ist der Delegierte Beschluss (EU) 2017/2113 der Kommission v 11.9.2017 zur Änderung des Anhangs V der RL 2005/36/EG des EP und des Rates hinsichtlich von Ausbildungsnachweisen und den Titeln von Ausbildungsgängen, ABl 2017 L 317/119. 187 Vgl dazu Europäischer Konvent, Gruppe IX „Vereinfachung“, Schlussbericht, CONV 424/02, S 2, 8 ff. Siegfried Magiera

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b) Durchführungsrechtsakte aa) Begriff und Bedeutung 50 Die Durchführung (englisch: implementation; französisch: mise en œuvre)188 der verbindlichen189 Rechtsakte der Union liegt grundsätzlich bei den Mitgliedstaaten, ausnahmsweise bei der Kommission oder dem Rat, wenn einheitliche Bedingungen erforderlich sind (Art 291 I, II AEUV), um eine einheitliche Anwendung in der Union zu gewährleisten.190 Erfasst wird damit die Durchführung von Verordnungen, Richtlinien und Beschlüssen der Unionsorgane unabhängig davon, ob sie als Gesetzgebungsakte in einem ordentlichen oder besonderen Gesetzgebungsverfahren, ob sie als delegierte oder sonstige Rechtsakte ohne Gesetzescharakter oder ob sie als Rechtsakte mit allgemeiner oder einzelfallbegrenzter Geltung erlassen sind.191 Der Art nach können Durchführungsmaßnahmen normativen Charakter haben (Ausführung durch generell-abstrakte Regelungen) oder Einzelfälle betreffen (Anwendung durch individuell-konkrete Handlungen).192 Für die Durchführung durch die Kommission werden allgemeine Regeln und Grundsätze gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren festgelegt (Art 291 III AEUV). In den Titel der Durchführungsrechtsakte wird der Wortteil „Durchführungs-“ eingefügt (Art 291 IV AEUV). Bis auf die zuletzt genannte Bezeichnungspflicht, die der Transparenzverbesserung dient, und die Verweisung auf das ordentliche Gesetzgebungsverfahren entspricht die Regelung allgemein dem früheren Vertragsrecht und dessen Komitologieverfahren.193 Die Anforderungen für Durchführungsrechtsakte gemäß Art 291 AEUV gelten nur, soweit das Vertragsrecht keine Sonderregelungen enthält, wie für Maßnahmen der Kommission im Bereich der Wettbewerbsregeln für Unternehmen (Art 105 III, 106 III AEUV) und staatliche Beihilfen (Art 108 AEUV) oder des Europäischen Sozialfonds (Art 163 AEUV).

bb) Kompetenzverteilung zwischen Mitgliedstaaten und Union 51 Art 291 AEUV bestimmt in seinem ersten Absatz, dass die Mitgliedstaaten alle zur Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union erforderlichen Maßnahmen nach innerstaatlichem Recht ergreifen. Damit wird den Grundsätzen der begrenzten

_____ 188 Zum im Übrigen unterschiedlichen Sprachgebrauch in Wissenschaft und Praxis vgl Schulze/ Zuleeg/Kadelbach/Magiera § 13 Rn 10 ff; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 291 AEUV Rn 12 ff (2012). 189 Näher zu diesem Erfordernis EuGH, Rs C-521/15 – Spanien / Rat, Rn 46 ff. 190 EuGH, Rs C-521/15 – Spanien / Rat, Rn 46 ff; dazu Chamon CMLRev 2018, 1495 ff. 191 Europäischer Konvent, Gruppe IX „Vereinfachung“, Schlussbericht, CONV 424/02, S 9, 11. 192 Ebd, S 12 (II.C.c) iVm S 4 (I.A.1.c); Rs C-440/14 P – National Iranian Oil Company, Rn 36; Kommission, Umsetzung von Art 290 AEUV, KOM(2009) 673, S 4; Bast CMLRev 2012, 885 (910); aA (keine Einzelfallmaßnahmen) Stelkens EuR 2012, 511 (531 ff, 543). 193 Nachweise dazu oben, Rn 35. Siegfried Magiera

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Einzelermächtigung, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit entsprochen, nach denen die Aufgabenzuständigkeit und -wahrnehmung in Abgrenzung zur Union grundsätzlich bei den Mitgliedstaaten liegt (Art 5 EUV). Andererseits sind die Mitgliedstaaten nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gehalten, ihre Unionspflichten zu erfüllen und damit auch die Durchführung des Unionsrechts zu gewährleisten (Art 4 III AEUV). Grundsätzlich verlangt das Unionsrecht nur, dass die Mitgliedstaaten ihre vertraglichen Pflichten ordnungsgemäß erfüllen, überlässt ihnen jedoch die Ausgestaltung der dafür erforderlichen organisatorischen und verfahrensmäßigen Voraussetzungen.194 Die damit verbundene Autonomie der Mitgliedstaaten hat zur Folge, dass die 52 Mitgliedstaaten für die Erfüllung ihrer Pflichten auch die volle Verantwortung tragen. Sie können sich deshalb nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände ihrer internen Rechtsordnung berufen, um etwaige Pflichtversäumnisse zu rechtfertigen.195 Die Autonomie der Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts besteht allerdings nur, soweit das Unionsrecht einschließlich seiner allgemeinen Grundsätze hierfür keine gemeinsamen Vorschriften enthält.196 Für einzelne Bereiche finden sich spezielle unionsrechtliche Organisations- und Verfahrensvorschriften.197 Zu den allgemeinen Grundsätzen gehören die Grundsätze der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit sowie Verfahrensgarantien wie der Anspruch auf rechtliches Gehör oder die Pflicht zur Entscheidungsbegründung. Zwei weitere allgemeine Grundsätze dienen der Sicherung der Tragweite und der Wirksamkeit des Unionsrechts. Das Äquivalenzprinzip verlangt, dass die Mitgliedstaaten ihr Verfahren bei der Durchsetzung des Unionsrechts nichtdiskriminierend, dh nicht ungünstiger gestalten als bei der Durchsetzung ihres eigenen Rechts in rein innerstaatlichen Fällen. Demgegenüber verlangt das Effektivitätsprinzip, dass die Mitgliedstaaten ihr nationales Recht wirksam, dh so anwenden, dass die Durchsetzung des Unionsrechts nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert und das Unionsinteresse voll berücksichtigt wird. Genügt die einzelstaatliche Organisations- und Verfahrensgestaltung nicht, 53 sondern bedarf es – nach dem Subsidiaritätsprinzip198 – einheitlicher Bedingungen für die Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union, so werden mit diesen

_____ 194 EuGH, Rs 39/70 – Norddeutsches Vieh- und Fleischkontor, Rn 5; Rs 94/71 – Schlüter, Rn 11; Rs 205/82 – Deutsche Milchkontor, Rn 17; Rs C-30/02 – Recheio, Rn 17. 195 EuGH, Rs 52/75 – Kommission / Italien, Rn 14; Rs 49/86 – Kommission / Italien, Rn 6; Rs 227/85 – Kommission / Belgien, Rn 10; Rs C-503/04 – Kommission / Deutschland, Rn 38; Rs C-241/11 – Kommission / Tschechische Republik, Rn 48. 196 EuGH, Rs 205/82 – Deutsche Milchkontor, Rn 17; Rs C-63/01 – Evans, Rn 45; Rs C-30/02 – Recheio, Rn 17; näher dazu auch Krönke S 133 ff, 246 ff. 197 Vgl hierzu und zum Folgenden näher Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Magiera § 13 Rn 35 mwN. 198 Europäischer Konvent, Gruppe IX „Vereinfachung“, Schlussbericht, CONV 424/02, S 9, 12. Siegfried Magiera

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Rechtsakten der Kommission oder – in entsprechend begründeten Fällen199 und im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (Art 24, 25 EUV) – dem Rat Durchführungsbefugnisse übertragen (Art 291 II AEUV). Hierfür legen das Parlament und der Rat allgemeine Regeln und Grundsätze fest (Art 291 III AEUV).200 Aus Gründen einer besseren Transparenz ist in den Titeln der Durchführungsrechtsakte der Wortteil „Durchführungs-“ einzufügen (Art 291 IV AEUV). In der Praxis finden sich alle Formen verbindlicher förmlicher Rechtsakte, dh „Durchführungsverordnungen“, 201 „Durchführungsrichtlinien“ 202 und „Durchführungsbeschlüsse“, 203 die regelmäßig von der Kommission, in Sonderfällen auch vom Rat204 erlassen werden.

cc) Abgrenzung zu delegierten Rechtsakten 54 Im Vergleich zu delegierten Rechtsakten, die allein auf Gesetzgebungsakte gestützt und von der Kommission zu erlassen sind, können Durchführungsrechtsakte auf alle verbindlichen Rechtsakte gestützt und auch vom Rat erlassen werden.205 Beim Erlass von delegierten Rechtsakten ist die Kommission ausnahmsweise an der Gesetzgebungsfunktion von Parlament und Rat beteiligt, beim Erlass von Durchführungsrechtsakten ausnahmsweise an der Durchführungsfunktion der Mitgliedstaaten.206 Nach ihrem Gegenstand und Inhalt beschränken sich delegierte Rechtsakte auf nicht wesentliche Bestimmungen eines Regelungsbereichs, sind für sie durch den Basisrechtsakt Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer der Befugnisübertragung festzulegen und können durch sie bestimmte nicht wesentliche Vorschriften des Basisrechtsakts ergänzt oder geändert werden.207 Durchführungsrechtsakte sind

_____ 199 EuGH, Rs 16/88 – Kommission / Rat, Rn 10. 200 Näher dazu unten, Rn 87. 201 Vgl zB Durchführungs-VO (EU) 2018/2042 der Kommission v 18.12.2018 zur Änderung der Durchführungs-VO (EU) 2017/1152 zur Präzisierung der WLTP-Prüfbedingungen und zur Überwachung der Typgenehmigungsdaten, ABl 2018 L 327/53. 202 Vgl zB Durchführungs-RL (EU) 2018/1581 der Kommission v 19.10.2018 zur Änderung der RL 2009/119/EG des Rates in Bezug auf die Methoden zur Berechnung der Bevorratungsverpflichtungen, ABl 2018 L 263/57. 203 Vgl zB Durchführungsbeschluss (EU) 2018/1855 der Kommission v 27.11.2018 über die unter die Entscheidung Nr 406/2009/EG des EP und des Rates fallenden Treibhausgasemissionen für jeden Mitgliedstaat für das Jahr 2016, ABl 2018 L 302/75. 204 Durchführungsbeschluss (EU) 2018/1958 des Rates v 6.12 2018 zur Ernennung des Vorsitzenden des EZB-Aufsichtsgremiums, ABl 2018 L 315/25. 205 Vgl zu Einzelheiten auch Härtel S 234 f, 240 f; Craig ELRev 2011, 671 ff; C H Hofmann/Türk ZG 2012, 105 (112 ff). 206 Europäischer Konvent, Präsidium, Entwurf der Artikel 24 bis 33 des Verfassungsvertrags, CONV 571/03, S 17. 207 Durchführungsrechtsakte, deren Basisrechtsakt vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon erlassen wurde, können jedoch auch, wenn dies im Basisrechtsakt vorgesehen ist, weiterhin ergänSiegfried Magiera

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demgegenüber nach ihrem Gegenstand und Inhalt nicht näher umschrieben, sondern bestimmen sich nach ihrem Ziel, einheitliche Bedingungen für die Durchführung der verbindlichen Unionsrechtsakte in den Mitgliedstaaten zu schaffen. Zudem unterliegt die Kommission beim Erlass von Durchführungsrechtsakten einem mitgliedstaatlichen Kontrollverfahren, das im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zu regeln ist, beim Erlass von delegierten Rechtsakten hingegen lediglich einer von ihr bestimmten mitgliedstaatlichen Beratung.208 Bei der Entscheidung, ob er der Kommission eine delegierte oder eine durchführende Befugnis überträgt, verfügt der Unionsgesetzgeber über ein Ermessen, das die gerichtliche Kontrolle auf offensichtliche Beurteilungsfehler begrenzt.209 Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben sich damit für die Unterscheidung zwischen ergänzenden Bestimmungen, die delegierten Rechtsakten vorbehalten sind, und durchführenden Bestimmungen, die den normativen Inhalt des Basisrechtsakts nur präzisieren dürfen,210 damit aber ebenfalls ergänzend wirken. Die Unterscheidung hat für jeden Rechtsakt konkret und begründet in dem Basisrechtsakt zu erfolgen und wird in der Praxis sowohl in den Erwägungsgründen wie in den Einzelbestimmungen vorgenommen.211 Der Durchführungsrechtsakt muss die mit dem Gesetzgebungsakt verfolgten allgemeinen Ziele beachten, für die Durchführung erforderlich oder zweckmäßig sein und darf den Gesetzgebungsakt weder ändern noch ergänzen.212

_____ zende oder ändernde Bestimmungen enthalten; vgl zB Kommission, Durchführungsrichtlinie 2013/45 zur Änderung der RL 2002/55 und 2008/72 des Rates sowie der RL 2009/145 der Kommission, ABl 2013 L 213/20. 208 Vgl dazu unten, Rn 86 f. 209 EuGH, Rs C-427/12 – Kommission / EP und Rat, Rn 40; Rs C-88/14 – Kommission / EP und Rat, Rn 28. 210 EuGH, Rs C-427/12 – Kommission / EP und Rat, Rn 38 f; Rs C-88/14 – Kommission / EP und Rat, Rn 29 ff; vgl dazu auch Kommission, Umsetzung von Artikel 290 AEUV, KOM(2009) 673, S 3 ff; EP, Rat und Kommission, Nicht bindende Kriterien für die Anwendung der Artikel 290 und 291 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union – 18. Juni 2019, ABl 2019 C 223/1; Griller/Ziller/Ponzano S 135 ff; Haselmann S 236 ff. 211 Vgl für delegierte Rechtsakte: zB VO 528/2012 des EP und des Rates über die Bereitstellung auf dem Markt und die Verwendung von Biozidprodukten, ABl 2012 L 167/1 (Erwägungsgrund 72, Art 3, 5, 6, 21 ua); RL 2010/30 des EP und des Rates über die Angabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen, ABl 2010 L 153/1 (Erwägungsgründe 7, 14, 15, 16, 19, Art 2 ff); für Durchführungsrechtsakte zB VO 389/2012 des EP und des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der Verbrauchsteuern, ABl 2012 L 121/1 (Erwägungsgründe 21, 22, Art 8, 9, 15 ua); zugleich für delegierte und durchführende Rechtsakte: zB RL 2011/24 des EP und des Rates über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, ABl 2011 L 88/45 (Erwägungsgründe 59 ff, Art 11, 12, 16 ff). 212 EuGH, Rs C-65/13 – EP / Kommission, Rn 46. Siegfried Magiera

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c) Rechtsakte sui generis 55 Als Rechtsakte sui generis lassen sich diejenigen förmlichen Rechtsakte (Verord-

nungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen, Stellungnahmen) bezeichnen, die weder ordentliche oder besondere Gesetzgebungsakte noch delegierte oder durchführende Rechtsakte ohne Gesetzescharakter sind.213 Diese Residualgruppe umfasst Rechtsakte in der Form von – verbindlichen wie unverbindlichen – förmlichen Rechtsakten, die von den Unionsorganen in bestimmten Fällen unmittelbar aufgrund von Vertragsbestimmungen angenommen werden. Es handelt sich im Wesentlichen um Maßnahmen der internen Unionsorganisation,214 wie Geschäftsordnungen der Organe 215 oder Ernennung und Beschäftigungsbedingungen von Organwaltern,216 sowie die eher technische oder exekutive Ausgestaltung politisch vorbestimmter Aufgaben.217 Als Rechtsakte sui generis lassen sich auch Rechtsakte der Unionsorgane im Bereich des auswärtigen Handelns bezeichnen, die für den Abschluss von internationalen Übereinkünften zwischen der Union und Drittstaaten oder internationalen Organisationen erforderlich sind. Ausdrücklich im Vertragsrecht vorgesehen sind insoweit Empfehlungen der Kommission und Beschlüsse des Rates (Art 207, 218 AEUV).

d) Atypische Rechtsakte 56 Neben den förmlichen (klassischen) Rechtsakten (Verordnung, Richtlinie, Beschluss, Empfehlung, Stellungnahme), wie sie in Art 288 AEUV definiert sind, finden sich im Vertragsrecht und in der Vertragspraxis seit langem weitere (atypische) Rechtsaktformen, die grundsätzlich nicht rechtlich verbindlich sind, aber eine gewisse, wenn auch schwierig zu bestimmende rechtliche Wirkung entfalten.218 Zahlreiche Beispiele, wie interinstitutionelle Vereinbarungen, Entschließungen, Schlussfolgerungen oder Erklärungen, wurden in den Beratungen des Europäischen Konvents aufgelistet.219 Trotz der allgemein angestrebten Vereinfachung sprach sich

_____ 213 Vgl auch GA Kokott, Rs C-583/11 P – Inuit Tapiriit Kanatami / EP und Rat, Nr 52, 54. 214 Europäischer Konvent, Gruppe IX „Vereinfachung“, Schlussbericht, CONV 424/02, S 9, 12 f. 215 Beschluss des EP über die Änderungen an der GO, ABl 2013 C 165 E/70; Beschluss 2009/937/EU des Rates zur Annahme seiner GO, ABl 2009 L 325/35; Beschluss 2011/737/EU, Euratom der Kommission zur Änderung ihrer GO, ABl 2011 L 296/58. 216 Beschluss 2013/277/EU, Euratom des EP zur Wahl des Europ Bürgerbeauftragten, ABl 2013 L 193/17. 217 Beschluss (EU, Euratom) 2018/767 des Rates v 22.5.2018 zur Festsetzung des Zeitraums für die neunte allgemeine unmittelbare Wahl der Abgeordneten des EP, ABl 2018 L 129/76. 218 Europäischer Konvent, Präsidium, Die Rechtsakte: das derzeitige System, CONV 162/02, S 9 f; Europäischer Konvent, Gruppe IX „Vereinfachung“, Schlussbericht, CONV 424/02, S 6; Walzel S 91 ff. 219 European Convention, Working Group IX on Simplification, List of instruments of action available to the Union, Working Document 04, S 6 f; La rationalisation des instruments de l’Union – Siegfried Magiera

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der Europäische Konvent dafür aus, bei der Vereinfachung der atypischen Rechtsakte aus Gründen der erforderlichen Flexibilität behutsam vorzugehen.220 Zur besseren Abgrenzung und Transparenz sollten das Parlament und der Rat als Gesetzgeber jedoch keine atypischen Rechtsakte annehmen dürfen, wenn sie zum gleichen Thema mit Gesetzesvorhaben befasst sind.221 Dieser Vorschlag wurde in den Vertrag von Lissabon übernommen (Art 296 III AEUV). Gleichwohl sind im Vertragsrecht weiterhin zahlreiche atypische Rechtsakte 57 vorgesehen, ua Leitlinien, 222 Programme, 223 Aktionen, 224 Schlussfolgerungen 225 und Erklärungen.226 Dazu gehören auch interinstitutionelle Vereinbarungen, die seit dem Vertrag von Lissabon ausdrücklich auch bindenden Charakter haben können.227 Entsprechend bezeichnete Rechtsakte ergehen in der Praxis der Unionsorgane jedoch weiterhin auch ohne eine im Vertragsrecht ausdrücklich benannte Ermächtigungsgrundlage, ua Leitlinien, 228 Schlussfolgerungen, 229 Erklärungen 230 und Entschließungen.231 Selbst wenn diesen Maßnahmen keine verbindliche Rechtwirkung zukommen soll, sind sie zumeist auf eine politische oder rechtsinitiierende Wir-

_____ exposé de M Jean-Claude Piris, Working Document 06, S 19 ff; vgl auch Everling GS Constantinesco, 1983, S 133 ff. 220 Europäischer Konvent, Präsidium, Die Rechtsakte: das derzeitige System, CONV 162/02, S 6 f; Europäischer Konvent, Präsidium, Entwurf der Artikel 24 bis 33 des Verfassungsvertrags, CONV 571/03, S 11. 221 Ebd; vgl dazu auch Art I-33 II VVE. 222 Art 17, 25, 26, 50 EUV; Art 5, 26, 68, 148 AEUV; vgl dazu auch Immenga S 10 ff; Lecheler DVBl 2008, 873 ff; W Weiß EWS 2010, 257 ff. 223 Art 17, 45 EUV; Art 4, 47, 168, 182 ff AEUV. 224 Art 25, 31, 35 EUV; Art 154, 171, 175, 180, 182, 192 AEUV. 225 Art 121 II, 135, 148 AEUV. 226 Art 31, 41 EUV; Art 126, 287 AEUV. 227 Art 295 AEUV. – Die rechtliche Verbindlichkeit war zuvor umstritten; vgl auch Schwarze EuR 1995, 49 ff; Härtel S 302 ff; F vAlemann passim; Driessen ELRev 2008, 550; Einzelbeiträge in Kietz/ Slominski/Maurer/Puntscher Riekmann (Hrsg) passim. 228 Kommission, Leitlinien für Regionalbeihilfen 2014–2020, ABl 2013 C 209/1; ESSA HygieneLeitlinie [der Kommission] für die Erzeugung von Sprossen und von Samen zur Erzeugung von Sprossen, ABl 2017 C 220/29; ausführlich dazu Härtel S 279 ff; Pechstein/Nowak/Häde/Gundel Art 288 AEUV Rn 120 ff. 229 Schlussfolgerungen des Rates zur Stärkung europäischer Inhalte für die Digitalwirtschaft, ABl 2018 C 457/2. 230 Gemeinsame Erklärung [von EP, Rat und Kommission] über die gesetzgeberischen Prioritäten der EU für den Zeitraum 2018–2019, ABl 2017 C 446/1; Erklärung des Präsidenten des EP zur Reform des Eigenmittelsystems der Union, ABl 2017 C 446/4. 231 Entschließung des Rates zum strukturierten Dialog und zur künftigen Entwicklung des Dialogs mit jungen Menschen im Zusammenhang mit politischen Maßnahmen für die jugendpolitische Zusammenarbeit in Europa nach 2018, ABl 2017 C 189/1. Siegfried Magiera

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kung im Sinne eines „soft law“232 oder einer „offenen Koordinierung“233 angelegt, weil die Zeit für eine abschließende Regelung noch nicht reif erscheint oder der Union eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage fehlt.234 Sie können jedoch auch eine Ermessensbeschränkung des erlassenden Unionsorgans bewirken, so dass dieses von seiner Bekanntmachung nicht abweichen darf, ohne gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und des Vertrauensschutzes zu verstoßen.235 Keine verbindliche Rechtswirkung haben auch Berichte,236 Mitteilungen,237 Grün- und Weißbücher238 oder ähnliche Instrumente der Unionsorgane, die der Information und Aufklärung dienen, es sei denn hinter der Bezeichnung verbirgt sich nach Gegenstand und Inhalt in Wahrheit ein Rechtsakt, der Verpflichtungen herbeiführt.239 Im Zweifel muss die rechtliche Tragweite und Wirkung der Maßnahme im konkreten Einzelfall festgestellt werden, wobei die Veröffentlichung im Amtsblatt der Union – Teil L (Rechtsvorschriften) oder Teil C (Mitteilungen und Bekanntmachungen) – einen Anhalt für die von dem betreffenden Urheber angestrebte rechtliche Bindungswirkung geben kann.240

4. Rechtsakte unter Beteiligung der Mitgliedstaaten 58 Als Rechtsakte im Rahmen der Union lassen sich die sog uneigentlichen Ratsbe-

schlüsse241 bezeichnen, die von den (Vertretern der) Regierungen der Mitgliedstaa-

_____ 232 Vgl dazu EP, Rechtsausschuss (Berichterstatter Medina Ortega), Arbeitsdokument zu institutionellen und rechtlichen Auswirkungen der Anwendung der Instrumente des „soft law“, EP-Dok PE 384.581v02-00 v 22.2.2007; Senden S 107 ff; A Peters FS Bieber, 2007, S 405 ff; Knauff S 213 ff; Schwarze EuR 2011, 3 ff; Müller-Graff EuR 2012, 18 ff. 233 Europäischer Rat von Lissabon, BullEU 3-2000, Ziff I.18.37; Höchstetter S 25 ff. 234 Oppermann/Classen/Nettesheim § 9 Rn 29 f, 134 f. 235 EuGH, Rs C-226/11 – Expedia, Rn 28; Rs C-439/11 P – Ziegler / Kommission, Rn 59 f. 236 Kommission, Jahresbericht 2017 über die Beziehungen zwischen der Europäischen Kommission und den nationalen Parlamenten, COM(2018) 491; Kommission, Jahresbericht 2017 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, COM(2018) 490. 237 EP, Mitteilung zum Europäischen Bürgerpreis – CIVI EUROPAEO PRAEMIUM, ABl 2015 C 217/17; Kommission, Mitteilung: Auf dem Weg zu einer wirksamen und echten Sicherheitsunion – Siebzehnter Fortschrittsbericht, COM(2018) 845; vgl auch Siegel NVwZ 2008, 620 ff; A Thieme S 114 ff; Brohm S 25 ff; Kallmayer FS T Stein, 2015, S 662 ff; Pechstein/Nowak/Häde/Gundel Art 288 AEUV Rn 110 ff. 238 Grünbücher sollen einen Konsultationsprozess einleiten, Weißbücher geplante Maßnahmen vorstellen; vgl zB Kommission, Grünbuch: Schaffung einer Kapitalmarktunion, COM(2015) 63; Kommission, Weißbuch zur Zukunft Europas: Die EU der 27 im Jahr 2025 – Überlegungen und Szenarien, COM(2017) 2025. 239 EuGH, Rs C-57/95 – Frankreich / Kommission, Rn 15 ff; EuG, Rs T-258/06 – Deutschland / Kommission, Rn 25 ff. 240 EuGH, Rs C-226/11 – Expedia, Rn 30; Rs C-613/14 – James Elliot Construction, Rn 32 ff. 241 HP Ipsen S 468 ff. Siegfried Magiera

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ten beschlossen werden,242 wenn sie im Vertragsrecht vorgesehen sind, wie die Ernennung von Richtern und Generalanwälten der europäischen Gerichtsbarkeit243 oder die Bestimmung der Sitze der Organe.244 Um eine Rechtshandlung im Rahmen der Union handelt es sich bei der für das Zustandekommen von Rechtsakten erforderlichen Zustimmung der Mitgliedstaaten, die gemäß den jeweiligen staatlichen Verfassungsbestimmungen zu erfolgen hat, ua zu vereinfachten Vertragsänderungen,245 zu Ergänzungen der Rechte und Pflichten von Unionsbürgern,246 zum Wahlverfahren des Parlaments247 und zu Eigenmittelbeschlüssen.248 In Bereichen, in denen die Union lediglich für Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten zuständig ist (Art 6 AEUV), finden sich zudem entsprechend den jeweiligen Zuständigkeiten erlassene sog gemischte Rechtsakte, die als Schlussfolgerungen und Entschließungen des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten ergehen.249 Darüber hinaus kennt die Praxis im Bereich des auswärtigen Handelns sog gemischte Verträge, die von der Union und den Mitgliedstaaten gemeinsam – im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten – mit Drittstaaten und internationalen Organisationen geschlossen werden.250 Im Rahmen der ihnen verbliebenen Zuständigkeiten251 können die Mitgliedstaaten schließlich auch unionsbezogene Rechtshandlungen, insbesondere koordinierender Art, mit oder ohne Einbeziehung von Unionsorganen vornehmen, müssen dabei aber das Unionsrecht und den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 III EUV) achten.252

_____ 242 Da sie nicht von einer Unionsinstitution erlassen werden, unterliegen sie auch nicht der europäischen Gerichtsbarkeit gemäß Art 263 AEUV; EuGH, Rs C-181/91 – EP / Rat und Kommission, Rn 12. 243 Art 19 II EUV; Art 253 I, 254 II AEUV; vgl zB Beschluss (EU, Euratom) 2018/1150 der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten v 25.7.2018 zur Ernennung eines Richters beim Gerichtshof, ABl 2018 L 209/1. 244 Art 341 AEUV; vgl zB Beschluss der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten zur Bestimmung des Sitzes des Europ Unterstützungsbüros für Asylfragen, ABl 2010 L 324/47. 245 Art 48 VI UAbs 2 EUV. 246 Art 25 II AEUV. 247 Art 223 I AEUV. 248 Art 311 III AEUV. 249 Schlussfolgerungen des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten zur wirtschaftlichen Dimension des Sports und seinen sozioökonomischen Vorteilen, ABl 2018 C 449/1. 250 EuGH, Gutachten 1/76 – Stillegungsfonds, Rn 7; Gutachten 1/78 – Naturkautschuk, Rn 60; Gutachten 2/15 – Freihandelsabkommen EU-Singapur, Rn 305. Das ausdrückliche Erfordernis gemischter Verträge in Art 133 VI UAbs 2 EGV ist mit Art 207 AEUV entfallen. 251 EuGH, Rs 22/70 – Kommission / Rat (AETR), Rn 30/31, 52/54. 252 EuGH, Rs 43/75 – Defrenne, Rn 56/58; Rs 44/84 – Hurd, Rn 36 ff; Rs C‑181/91 – EP / Rat und Kommission, Rn 16 ff. Siegfried Magiera

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III. Rechtssetzung der Union III. Rechtssetzung der Union 1. Rechtssetzungskompetenz a) Union 59 Anders als die Mitgliedstaaten besitzt die Europäische Union keine KompetenzKompetenz. Sie verfügt nur über die ihr in den Gründungs- und Folgeverträgen von den Mitgliedstaaten eingeräumten Zuständigkeiten, kann diese also nicht selbst verändern.253 Dazu bedarf es vielmehr einer Änderung der Vertragsgrundlagen (Art 48 EUV). Für die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung.254 Danach ist die Union auf die Wahrnehmung der ihr vertraglich – ausdrücklich oder implizit – zur Verwirklichung der Vertragsziele übertragenen Zuständigkeiten beschränkt (Art 5 I, II EUV).255 Für die Zuständigkeitswahrnehmung durch die Union gelten die Prinzipien der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Dementsprechend darf die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur bei unzureichender Fähigkeit der Mitgliedstaaten und bei eigener besserer Befähigung tätig werden (Art 5 III EUV), und muss ihre Maßnahmen allgemein – inhaltlich wie formal – auf das für die Zielerreichung erforderliche Maß begrenzen (Art 5 IV EUV).256

b) Unionsinstitutionen 60 Zum Erlass förmlicher Rechtsakte, dh von Verordnungen, Richtlinien, Entschei-

dungen (nunmehr Beschlüssen), Empfehlungen und Stellungnahmen, befugt waren nach dem Vertragswortlaut zunächst nur der Rat und die Kommission (Art 189 EWGV), seit der Einheitlichen Europäischen Akte mitentscheidend auch das Parlament, das zuvor auf ein Anhörungsrecht beschränkt war, und sind es mit dem Vertrag von Lissabon nunmehr alle Organe der Union (Art 288 AEUV), dh auch der Europäische Rat, der Gerichtshof, die Europäische Zentralbank und der Rechnungshof (Art 13 EUV).257 Ob auch Einrichtungen und sonstige Stellen der Union, wie der Wirt-

_____ 253 Ausführlicher dazu Magiera integration 2002, 269 ff; Härtel § 6 (in diesem Band) Rn 7 ff. 254 Dieser Begriff wurde durch den Europäischen Konvent eingeführt (Art 9 II VVE-Entwurf; Art I11 II VVE), erscheint jedoch pleonastisch, während es in anderen Sprachfassungen einfacher „principle of conferral“ (englisch), „principe d’attribution“ (französisch) oder „principio di attribuzione“ (italienisch) heißt; zur unterschiedlichen Terminologie vgl auch Kraußer S 16 f. 255 Vgl auch die 18. Erklärung (der Regierungskonferenz zum EUV/AEUV) zur Abgrenzung der Zuständigkeiten, ABl 2016 C 202/346; EuGH, Rs C-376/98 – Deutschland / EP und Rat, Rn 83. 256 Vgl auch das Prot (Nr 2) zum EUV/AEUV über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, ABl 2016 C 202/206; ferner die Berichte der Kommission über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, ua den (25.) Jahresbericht 2017, COM(2018) 490. 257 Näher dazu unten, Rn 70 ff. Siegfried Magiera

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schafts- und Sozialausschuss, der Ausschuss der Regionen oder Agenturen,258 förmliche Rechtsakte im Sinne von Art 288 AEUV erlassen können, ist umstritten.259 Dagegen spricht, dass diese Institutionen in dieser Bestimmung nicht wie in anderen Vertragsbestimmungen260 genannt sind, und dass durch die im Europäischen Konvent eingeleitete Reform im Interesse erhöhter Transparenz eine Straffung der Rechtsinstrumente erfolgen sollte.261 Ausdrücklich zur Abgabe von Stellungnahmen befugt sind nach dem Vertragsrecht der Wirtschafts- und Sozialausschuss (Art 304 AEUV) und der Ausschuss der Regionen (Art 307 AEUV) sowie – im Rahmen der GASP – das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (Art 38 EUV). Einrichtungen und sonstige Stellen der Union können jedoch, soweit das Vertrags- 61 recht es zulässt oder gebietet, Rechtshandlungen anderer Art vornehmen, die zudem, wenn sie Rechtswirkungen gegenüber Dritten entfalten, der Überwachung des Gerichtshofs der Europäischen Union unterliegen (Art 263, 265, 267 AEUV). Auf die Bezeichnung (zB „Beschluss“) kommt es dabei nicht entscheidend an, da sich der Charakter eines Rechtakts aus dessen Gegenstand, Inhalt und Wirkung ergibt.262 In der Praxis finden sich ua Beschlüsse der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten,263 des Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees,264 und der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik,265 Empfehlungen des Europäischen Ausschusses für Systemrisiken266 sowie Stellungnahmen des Europäischen Datenschutzbeauftragten267 und des Beratenden Ausschusses für Kartell- und Monopolfragen.268

_____ 258 Dazu näher Niedobitek, § 1 (in diesem Band) Rn 344 ff. 259 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 288 AEUV Rn 71 f (2012). 260 Art 9 EUV; Art 15, 16, 71, 123 ua AEUV. 261 Europäischer Konvent, Präsidium, Die Rechtsakte: das derzeitige System, CONV 162/02, S 7 ff; Europäischer Konvent, Gruppe IX „Vereinfachung“, Schlussbericht, CONV 424/02 S 2 ff. 262 EuGH, Rs 16/62 – Confédération nationale / Rat, Slg 1962, 961 (978); Rs 6/68 – Zuckerfabrik Watenstedt / Rat, Slg 1968, 611 (620); Rs 147/83 – Binderer / Kommission, Rn 11 ff; Rs C-322/88 – Grimaldi, Rn 14 f. 263 Beschluss (EU, Euratom) 2018/879 der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten v 13.6.2018 zur Ernennung von Richtern beim Gerichtshof, ABl 2018 L 155/4. 264 Beschluss (GASP) 2018/2061 des Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees v 18.12.2018 zur Verlängerung des Mandats des Leiters der Mission der Europäischen Union zur Unterstützung des integrierten Grenzmanagements in Libyen (EUBAM Libya), ABl 2018 L 329/22. 265 Beschluss der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik v 19.9.2017 über die Sicherheitsvorschriften für den Europäischen Auswärtigen Dienst – ADMIN(2017) 10, ABl 2018 C 126/1. 266 Empfehlung des Europäischen Ausschusses für Systemrisiken v 7.12.2017 zu Liquiditäts- und Hebelfinanzierungsrisiken von Investmentfonds (ESRB/2017/6), ABl 2018 C 151/1. 267 Zusammenfassung der Stellungnahme des Europäischen Datenschutzbeauftragten zu dem Vorschlag für eine Verordnung zur Erhöhung der Sicherheit der Personalausweise von Unionsbürgern und anderen Dokumenten, ABl 2018 C 338/22. 268 Stellungnahme des Beratenden Ausschusses für Kartell- und Monopolfragen aus seiner Sitzung v 2.5.2018 zum Beschlussentwurf in der Sache AT.39816 – Vorgelagerte Gasversorgungsmärkte in Mittel- und Osteuropa – Berichterstatter: Portugal, ABl 2018 C 258/4. Siegfried Magiera

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2. Rechtssetzungsanforderungen a) Ermächtigungsgrundlage aa) Erfordernis 62 Eine vertragliche Grundlage für den Erlass von Rechtsakten der Union ist nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art 5 I, II EUV) und zudem deshalb erforderlich, weil den Organen im Rahmen der ihnen vertraglich zugewiesenen Befugnisse (Art 13 II EUV) die Annahme der förmlichen Rechtsakte „[f]ür die Ausübung der Zuständigkeiten der Union“ übertragen ist (Art 288 I AEUV).269 Welche Rechtsgrundlage im konkreten Fall heranzuziehen ist, ergibt sich nicht allgemein aus dem Vertragsrecht, sondern jeweils aus den einzelnen Bestimmungen.270 Eine mit dem Vertrag von Lissabon eingeführte Sonderregelung besteht für 63 Empfehlungen, die zwar rechtlich unverbindlich, nicht jedoch rechtlich irrelevant sind. Auch für sie gilt grundsätzlich das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, da ihr Erlass eine Unionszuständigkeit voraussetzt. Im Vertragsrecht finden sich – wie für die verbindlichen förmlichen Rechtsakte – zahlreiche Bestimmungen, die den Rat,271 die Kommission272 und die Europäische Zentralbank273 zur Abgabe von Empfehlungen ermächtigen. Nach der Sonderregelung geben der Rat, unter bestimmten verfahrensrechtlichen Voraussetzungen, ferner die Kommission und, in bestimmten im Vertrag vorgesehenen Fällen, die Europäische Zentralbank Empfehlungen ab (Art 292 AEUV). Eine entsprechende Regelung war im früheren Vertragsrecht vorgesehen, nach der die Kommission Empfehlungen abgeben konnte, soweit der Vertrag dies ausdrücklich vorsah oder soweit sie es für notwendig erachtete (Art 211 Spstr 2 EGV). Der Vertrag von Lissabon hat diese ausführliche Formulierung in die allgemeine Aufgabenbestimmung der Kommission (Art 17 I EUV) nicht übernommen, lässt aber mit seiner knapperen Formulierung zur Abgabe von Empfehlungen der Kommission (Art 292 S 4 AEUV) auch nicht erkennen, dass dadurch inhaltlich eine Änderung eintreten sollte. Im Unterschied dazu ist die Ermächtigung der Europäischen Zentralbank enger gefasst und auf die Abgabe von Empfehlungen in bestimmten in den Verträgen vorgesehenen Fällen begrenzt (Art 292 S 4 AEUV). Eine solche Einschränkung wird für Empfehlungen des Rates nicht vorgenommen; vielmehr wird der Rat insoweit der Kommission gleichgestellt (Art 292 S 1 AEUV).274 Jedoch wird zusätzlich das Verfahren des Rates beim

_____ 269 Ausführlich dazu Kraußer S 16 ff. 270 EuGH, Rs C-325/91 – Frankreich / Kommission, Rn 26; Rs C-687/15 – Kommission / Rat, Rn 36 ff. 271 Art 7 I, 22 I ua EUV; Art 121 II, 126 VII, 148 IV, 165 IV, 166 IV, 167 V, 168 VI ua AEUV. 272 Art 60 II, 97 III, 117 I, 143 I ua AEUV. 273 Art 129 III, 219 I, II ua AEUV. 274 Lenz/Borchardt/Hetmeier Art 292 AEUV Rn 2; Streinz/Schroeder Art 292 AEUV Rn 3; vgl auch Art 34 II VVE-Entwurf, der den Verweis auf das Verfahren des Rates noch nicht enthielt, und dazu Europäischer Konvent, Präsidium, Entwurf der Verfassung, Band I, Überarbeiteter Text von Teil I, CONV 724/03, S 91 f. Siegfried Magiera

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Erlass von Rechtsakten an ggf zu beachtende Verfahrenserfordernisse (Vorschlagsrecht der Kommission; Einstimmigkeitsprinzip) gebunden (Art 292 S 1 bis 3 AEUV).275 Insoweit ist eine Verknüpfung der Empfehlungen des Rates mit einem Politikbereich des Vertragsrechts276 oder einer Rechtssetzungskompetenz des Rates277 erforderlich.

bb) Auswahl Die Wahl der Rechtsgrundlage eines Rechtsakts muss sich auf objektive, gericht- 64 lich nachprüfbare Umstände stützen, wozu das Ziel und der Inhalt des Rechtsakts gehören.278 Zudem ist der Rechtsakt, wenn das Vertragsrecht dafür eine spezifischere Bestimmung enthält, auf diese zu stützen.279 Kommen wegen des Sachzusammenhangs der Regelungsmaterie mehrere Rechtsgrundlagen in Betracht, so ist auf die hauptsächliche oder überwiegende Zielsetzung oder Komponente des Rechtsakts abzustellen.280 Fehlt es bei untrennbaren Zielsetzungen oder Komponenten an einem solchen Schwerpunkt, so sind auch verschiedene Rechtsgrundlagen zulässig, wenn diese dasselbe Rechtssetzungsverfahren vorsehen281 oder wenn deren unterschiedliche Rechtssetzungsverfahren miteinander vereinbar sind.282 Letzteres ist im Lichte des grundlegenden demokratischen Prinzips auf Unionsebene etwa der Fall, wenn der Rückgriff auf die doppelte Rechtsgrundlage nicht die Rechte des Parlaments beeinträchtigt.283

_____ 275 Eingefügt in Art I-35 II VVE durch die Regierungskonferenz. 276 Kommission, Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zu einem umfassenden Ansatz für das Lehren und Lernen von Sprachen, COM(2018) 272. 277 Geiger/Khan/Kotzur/Kotzur Art 292 AEUV Rn 2; Schwarze/Biervert Art 292 AEUV Rn 2. 278 EuGH, Rs 45/86 – Kommission / Rat, Rn 11; Rs C-155/91 – Kommission / Rat, Rn 7; Rs C301/06 – Irland / EP und Rat, Rn 60; Rs C-130/10 – EP / Rat, Rn 42; Gutachten 1/15 – Fluggastdaten, Rn 76 ff; Rs C-244/17 – Kommission / Rat, Rn 36 ff; ausführlich – auch zum Folgenden – Nettesheim EuR 1993, 243 ff; Eilmansberger/Griller/Obwexer/Kröll S 313 ff; Chr Schwartz S 75 ff. 279 EuGH, Rs C-338/01 – Kommission / Rat, Rn 60; Rs C-155/07 – EP / Rat, Rn 34; Rs C-490/10 – EP / Rat, Rn 44. 280 EuGH, Rs C-70/88 – EP / Rat, Rn 15 ff; Rs C-155/91 – Kommission / Rat, Rn 17 ff; Rs C-301/06 – Irland / EP und Rat, Rn 79 ff; Rs C-130/10 – EP / Rat, Rn 43. 281 EuGH, Rs C-300/89 – Kommission / Rat, Rn 17 ff; Rs C-130/10 – EP / Rat, Rn 46; ausführlich dazu Chr Schwartz S 183 ff mwN. 282 EuGH, Rs C-155/07 – EP / Rat, Rn 73 ff; Rs C-166/07 – EP / Rat, Rn 69; Rs C-130/10 – EP / Rat, Rn 45 ff; Rs C-490/10 – EP / Rat, Rn 46 f. 283 EuGH, Rs C-300/89 – Kommission / Rat, Rn 20; Rs C-155/07 – EP / Rat, Rn 76 ff. Siegfried Magiera

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b) Art des Rechtsakts 65 In den vertraglichen Ermächtigungsgrundlagen kann eine einzige Art von zulässigen

Rechtsakten (Verordnung,284 Richtlinie,285 Beschluss286) festgelegt sein, so dass die Organe darauf verwiesen und zugleich beschränkt sind.287 Es gibt jedoch auch Ermächtigungsgrundlagen, die mehrere Arten von Rechtsakten288 oder keine bestimmte Art von Rechtsakten benennen, sondern allgemein Regelungen,289 Leitlinien,290 Vorschriften, 291 Bestimmungen, 292 Maßnahmen 293 oder Vorkehrungen 294 vorsehen. Wird die Art des zu erlassenden Rechtsakts vom Vertragsrecht nicht bestimmt, so entscheiden darüber die Organe in jedem Einzelfall unter Einhaltung der geltenden Verfahren und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art 296 I AEUV). Damit darf die gewählte Art des Rechtsakts inhaltlich wie formal nicht über das zur Zielerreichung erforderliche Maß hinausgehen (Art 5 IV EUV).295 Unter sonst gleichen Voraussetzungen wäre etwa die Richtlinie als der in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaten weniger intensiv und detailliert eingreifende Rechtsakt einer Verordnung vorzuziehen.296 Ferner dürfen das Parlament und der Rat, wenn sie mit dem Entwurf eines Gesetzgebungsakts (Art 289 III AEUV) befasst sind, keine Rechtsakte annehmen, die gemäß dem für den betreffenden Bereich geltenden Gesetzgebungsverfahren nicht vorgesehen sind (Art 296 III AEUV).

c) Bezeichnung, Form und Qualität des Rechtsakts 66 Eine bestimmte äußere Form oder redaktionelle Qualität der Rechtsakte der Union

wird im Vertragsrecht nicht vorgeschrieben. Dahingehende Regelungen, wie sie die Hohe Behörde (Kommission) für den Erlass ihrer Rechtsakte nach dem EGKS-Vertrag

_____ 284 Art 14, 15 III, 24 I, 75 I ua AEUV. 285 Art 23 II, 50 I, 59 I, 115 ua AEUV. 286 Art 14 II, 20 II, 22 II, 48 VI, VII ua EUV; Art 81 III, 105 II, 222 III, 311 III ua AEUV. 287 EuGH, Rs C-687/15 – Kommission / Rat, Rn 36 ff. 288 Art 46, 103 I (VO und RL), 86 IV (VO und Beschluss), 106 III, 143 II (RL und Beschluss) AEUV. 289 Art 18 II, 95 III AEUV. 290 Art 26 III, 68, 148 II, 172 AEUV. 291 Art 16 II, 21 II, 95 III, 100 II, 192 II, 352 I AEUV. 292 Art 25 II, 77 III, 113, 126 XIV AEUV. 293 Art 21 III, 33, 48 I, 64 III, 74 AEUV. 294 Art 19 I AEUV. 295 EuGH, Rs C-84/94 – Vereinigtes Königreich / Rat, Rn 57 f; Rs C-233/94 – Deutschland / EP und Rat, Rn 54 ff; vertiefend Rösch S 136 ff. 296 So ausdrücklich Ziff 6 Prot (Nr 30) zum früheren EGV über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, ABl 2006 C 321 E/308, die insoweit zwar nicht in das entsprechende Prot (Nr 2) zum EUV/AEUV (ABl 2016 C 202/206) übernommen wurde, aber vom Ziel des Art 296 I AEUV umfasst wird; vgl auch Europäischer Konvent, Gruppe I „Subsidiarität“, Schlussfolgerungen, CONV 286/02, S 10. Siegfried Magiera

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getroffen hatte297 und wie sie gegenwärtig in Vereinbarungen der am Rechtssetzungsverfahren beteiligten Unionsorgane enthalten sind,298 können zweckmäßig sein, jedoch nicht bewirken, dass Verlautbarungen der Organe, die unwesentliche formelle Mängel aufweisen, im Übrigen aber die Voraussetzungen eines Rechtsakts im Sinne des Vertrags erfüllen, nicht als solcher anzusehen sind.299 Im Zweifel kommt es somit auf den materiellen Gehalt, nicht auf die äußere Form oder die Bezeichnung des Rechtsakts an. Ziel der Vereinbarungen ist es, die Rechtsakte der Union klar, einfach und genau sowie für die Adressaten verständlich abzufassen.300 Die Rechtsakte sollen gemäß einer Standardstruktur in einer festgelegten Reihenfolge gegliedert sein: Titel mit knapper Angabe des Regelungsgegenstandes, Bezugsvermerke zu den Rechtsgrundlagen und Verfahrensschritten, Erwägungsgründe zu den Zielen, verfügender Teil mit Angaben zu Gegenstand und Anwendungsbereich, zu Begriffsklärungen, zu Rechten und Pflichten, zu Durchführungsmaßnahmen, zu Übergangsund Schlussbestimmungen. Die dadurch bewirkte Transparenz der Rechtsakte dient präventiv der Rechtssicherheit und Durchsetzbarkeit des Unionsrechts, erleichtert dessen Kontrolle und bewahrt vor Rechtsverletzungen und Sanktionen.301

d) Begründung des Rechtsakts Die Rechtsakte der Union sind mit einer Begründung zu versehen und nehmen auf 67 die im Vertragsrecht vorgesehenen Vorschläge, Initiativen, Empfehlungen, Anträge oder Stellungnahmen Bezug (Art 296 II AEUV). Zusätzlich ist die Verwaltung im Rahmen des Grundrechts auf eine gute Verwaltung verpflichtet, ihre Entscheidungen zu begründen (Art 41 II lit c GRCh). Ferner sind die Entwürfe von Gesetzgebungsakten im Hinblick auf die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zu begründen.302 Nach ihrem Wortlaut erweitert die Bestimmung des Art 296 AEUV die Begründungspflicht auf alle Rechtsakte der Union, während das

_____ 297 Entscheidung Nr 22/60 über die Ausführung des Artikels 15 des [EGKS-] Vertrages, ABl 1960, S 1248. 298 EP, Rat und Kommission, Interinstitutionelle Vereinbarung v 22.12.1998 – Gemeinsame Leitlinien für die redaktionelle Qualität der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften, ABl 1999 C 73/1; Interinstitutionelle Vereinbarung [v 13.4.2016 ] zwischen dem EP, dem Rat der EU und der Europäischen Kommission über bessere Rechtsetzung, ABl 2016 L 123/1; Kommission, Vollendung der Agenda für bessere Rechtsetzung: bessere Lösungen für bessere Ergebnisse, COM(2017) 651. 299 EuGH, Rs 53/63 – Lemmerz / Hohe Behörde, Slg 1963, 517 (537 f); Rs 275/80 – Krupp / Kommission, Rn 7 ff. 300 Zur Qualität des Unionsrechts und seiner Durchsetzung vgl näher Schulze/Zuleeg/Kadelbach/ Magiera § 13 Rn 37 ff; Grüner S 35 ff; Peifer 103 ff; Schulze-Fielitz FS Scheuing, 2011, S 165 ff. 301 Vertiefend Magiera FS Siedentopf, 2008, S 75 (77 ff). 302 Art 2, 5 Prot (Nr 2) zum EUV/AEUV über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, ABl 2016 C 202/206. Siegfried Magiera

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frühere Vertragsrecht (Art 190 EWGV; Art 253 EGV) lediglich die verbindlichen Rechtsakte (Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen) betraf. Andererseits erstreckt sich die Bezugnahme wie zuvor auf Vorschläge303 und Stellungnahmen304 sowie zusätzlich auf Initiativen,305 Anträge306 und Empfehlungen,307 dh auch auf die unverbindlichen Rechtsakte der Union. Daraus ließe sich schließen, dass die Begründungs- und die Bezugnahmepflicht weiterhin lediglich für die verbindlichen Rechtsakte gilt. 308 Dem steht jedoch entgegen, dass auch die unverbindlichen Rechtsakte nicht rechtlich irrelevant sind und die Vertragsreform insgesamt zu mehr Transparenz und Rechtssicherheit führen soll.309 Diesem Verständnis entspricht auch die Praxis der Unionsorgane.310 Ferner unterliegen Empfehlungen und Stellungnahmen zwar nicht der gerichtlichen Kontrolle im Wege der Nichtigkeitsklage (Art 263 I AEUV); jedoch ist eine Prüfung im Wege der Unterlassungsklage mit Ausnahme einer Klage von Einzelpersonen (Art 265 AEUV) sowie im Wege von Vorabentscheidungsersuchen (Art 267 I lit b AEUV) möglich. Eine Rechtsmittelbelehrung ist im Unionsrecht nicht vorgesehen, obwohl die Nichtigkeitsklagen gegen verbindliche Rechtsakte innerhalb einer Ausschlussfrist von lediglich zwei Monaten zu erheben sind (Art 263 VI AEUV).311 Begründung und Bezugnahme haben zum Ziel, der Gerichtsbarkeit die Aus68 übung der Rechtskontrolle sowie den Mitgliedstaaten und den Betroffenen die Unterrichtung darüber zu ermöglichen, in welcher Weise die Unionsorgane das Vertragsrecht angewandt haben.312 Darüber hinaus erleichtern sie die Selbstkontrolle durch das erlassende Unionsorgan und die politische Kontrolle durch das Parla-

_____ 303 Art 17 II EUV; Art 293 AEUV (Kommission). 304 Art 287 IV AEUV (Rechnungshof), Art 304 AEUV (Wirtschafts- und Sozialausschuss), Art 307 AEUV (Ausschuss der Regionen). 305 Art 289 IV AEUV (Gruppe der Mitgliedstaaten, Parlament). 306 Art 252 I, 257 I, 281 II AEUV (Gerichtshof), Art 308 III AEUV (Europäische Investitionsbank). 307 Art 129 III, IV, 132 I, 219 I, II AEUV (Europäischen Zentralbank). 308 So Calliess/Ruffert/Calliess Art 296 AEUV Rn 8; Streinz/Gellermann Art 296 AEUV Rn 4; Vedder/Heintschel vHeinegg/Vedder Art 296 AEUV Rn 6. 309 Ebenso im Ergebnis Geiger/Khan/Kotzur/Kotzur Art 296 AEUV Rn 2; Schwarze/Schoo Art 296 AEUV Rn 7; Lenz/Borchardt/Hetmeier Art 296 AEUV Rn 5; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Krajewski/ Rösslein Art 296 AEUV Rn 14 (2017). 310 Vgl zB Empfehlung des Rates vom 26.11.2018 zur Förderung der automatischen gegenseitigen Anerkennung von im Ausland erworbenen Hochschulqualifikationen und von Qualifikationen der allgemeinen und beruflichen Bildung der Sekundarstufe II sowie der Ergebnisse von Lernzeiten im Ausland, ABl 2018 C 444/1; Stellungnahme des Europäischen Ausschusses der Regionen – Rechte und Werte, ABl 2018 C 461/196. 311 Vgl dazu EuGH, Rs C-154/98 P – Guérin automobiles, Rn 13 ff. 312 EuGH, Rs 18/57 – Nold / Hohe Behörde, Slg 1958/59, 89 (114); Rs 45/86 – Kommission / Rat, Rn 5; Rs C-417/11 P – Rat / Bamba, Rn 49. Siegfried Magiera

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ment. Ihr Umfang richtet sich nach der Art und dem Gegenstand des jeweiligen Rechtsakts. Zur Begründungspflicht gehört insbesondere die eindeutig bestimmbare Angabe der Rechtsgrundlage des erlassenen Akts.313 Zudem müssen die Gründe die Überlegungen des erlassenden Unionsorgans so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass es den Betroffenen möglich ist, zur Wahrnehmung ihrer Rechte die tragenden Gründe für die Maßnahmen zu erkennen, und dass die Gerichtsbarkeit ihre Kontrolle ausüben kann; nicht erforderlich ist es hingegen, dass alle tatsächlich oder rechtlich relevanten Gesichtspunkte genannt werden. 314 Bei normativen Rechtsakten mit allgemeiner Geltung genügt eine Erläuterung der wesentlichen Züge der getroffenen Maßnahmen, dh eine Darlegung der Gesamtsituation, die zu ihrem Erlass geführt hat, und der allgemeinen Ziele, die mit ihnen erreicht werden sollen.315 Die Begründungspflicht stellt zugleich einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der im Rahmen des Unionsrechts auch von den Mitgliedstaaten zu beachten ist.316 Bei der Begründungspflicht handelt es sich um ein wesentliches Formerfor- 69 dernis, das von der Richtigkeit der Begründung zu unterscheiden ist.317 Eine fehlende oder unzureichende Begründung oder Bezugnahme macht den Rechtsakt fehlerhaft und kann nach Erlass grundsätzlich nicht mehr geheilt werden,318 es sei denn, die fehlerhafte Maßnahme müsste durch eine identische neue Maßnahme ersetzt werden.319 Zur Nichtigkeit des Rechtsakts führt die Fehlerhaftigkeit jedoch grundsätzlich nur, wenn der Gerichthof die Verletzung der wesentlichen Formvorschrift ausdrücklich feststellt (Art 263, 264 AEUV). Nur ganz ausnahmsweise, wenn sie mit besonders schweren und offensichtlichen Fehlern behaftet sind, können einzelne Rechtshandlungen als rechtlich inexistent und damit ohne Rechtswirkung qualifiziert werden. Beispiele in der bisherigen Praxis sind äußerst selten und zudem umstritten gewesen.320 Eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften liegt etwa vor bei

_____ 313 EuGH, Rs C-370/07 – Kommission / Rat, Rn 28; Rs C-687/15 – Kommission / Rat, Rn 52, 57. 314 EuGH, Rs 185/83 – Rijksuniversiteit Groningen, Rn 38; Rs C-89/08 P – Kommission / Irland, Rn 77; Rs C-309/10 – Agrana Zucker, Rn 35. 315 EuGH, Rs 3/83 – Abrias / Kommission, Rn 30; Rs 37/83 – Rewe, Rn 13; Rs C-14/10 – Nickel Institute, Rn 99. 316 EuGH, Rs 222/86 – Heylens, Rn 14 f. 317 EuGH, Rs C-280/08 P – Deutsche Telekom / Kommission, Rn 130. 318 EuGH, Rs 18/57 – Nold / Hohe Behörde, Slg 1958/59, 89 (115 f); Rs C-353/01 P – Mattila / Rat und Kommission, Rn 32; Rs C-189/02 P – Dansk Rørindustri / Kommission, Rn 463; Rs C-511/11 P – Versalis / Kommission, Rn 141. 319 EuGH, Rs 117/81 – Geist / Kommission, Rn 7; Rs 432/85 – Souna / Kommission, Rn 20; ebenso Grabitz/Hilf/Nettesheim/Krajewski/Rösslein Art 296 AEUV Rn 41 (2017); aA Calliess/Ruffert/Calliess Art 296 AEUV Rn 36. 320 Vgl etwa EuG, Rs T-79/89 – BASF / Kommission, Rn 97 ff; aufgehoben durch EuGH, Rs C-137/92 P – Kommission / BASF, Rn 49 ff; Rs C-475/01 – Kommission / Griechenland, Rn 19 ff. Siegfried Magiera

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einer Begründung, die lediglich den Vertragstext wiedergibt,321 oder bei einer fehlenden Bezugnahme, wenn dadurch die vertragliche Ermächtigungsgrundlage im Unklaren bleibt,322 nicht jedoch bei einem Übersetzungsfehler in einer der verschiedenen Sprachfassungen einer Verordnung323 oder wenn der – tatsächlich erfolgte – Kommissionsvorschlag lediglich unerwähnt geblieben ist.324

3. Rechtssetzungsverfahren a) Entwicklung 70 Für den Erlass der Rechtsakte der Union ist kein einheitliches Verfahren vorgesehen. Die erforderlichen Voraussetzungen ergeben sich vielmehr aus den einzelnen Ermächtigungsgrundlagen im Vertragsrecht. Hintergrund sind die unterschiedlichen Kompetenzen der dabei tätigen Hauptorgane – Parlament, Rat und Kommission – und letztlich die Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten. In der Anfangszeit der Gründungsverträge lag die Rechtssetzung der Europäischen Gemeinschaften hauptsächlich bei der Kommission und dem Rat. Soweit die Kommission für den Erlass von Rechtsakten zuständig war, entschied sie in der Regel allein. Ausnahmsweise bedurfte sie der Zustimmung des Rates (Art 58 EGKSV); gelegentlich war die Anhörung anderer Gemeinschaftsinstitutionen (Art 73 II, 118 III EWGV) oder des betroffenen Mitgliedstaats (Art 80 II EWGV) vorgesehen. War der Rat für den Erlass zuständig, so fand in der Regel ein dreistufiges Verfahren statt, das aus Initiative, Beratung und Beschlussfassung bestand. Die Initiative lag allein bei der Kommission, die jedoch vom Rat (Art 152 EWGV) und in der Praxis auch vom Parlament zur Unterbreitung von Vorschlägen aufgefordert werden konnte. Die Beratung schloss die Anhörung des Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses ein, die in einzelnen Vertragsbestimmungen (Art 43 II, 75, 87, 100, 235 ua EWGV) vorgesehen war (obligatorische Konsultation), in der Praxis aber auch in anderen Fällen erfolgte (fakultative Konsultation). Die endgültige Beschlussfassung lag jedoch allein beim Rat. Durch die Einheitliche Europäische Akte wurde für den Erlass bestimmter 71 Rechtakte im Bereich des EWG-Vertrags zusätzlich ein Verfahren der Zusammenarbeit eingeführt (Art 6, 7 EEA). Danach verblieben zwar die Initiative bei der Kommission und die endgültige Beschlussfassung beim Rat; an die Stelle der einfachen Anhörung des Parlaments trat jedoch ein kompliziertes Verfahren der Abstimmung zwischen Rat und Parlament unter Beteiligung der Kommission, das dem Parlament einen stärkeren Einfluss auf die Rechtssetzung der Gemeinschaft einräumte (Art 149

_____ 321 322 323 324

EuGH, Rs 248/84 – Deutschland / Kommission, Rn 21 f. EuGH, Rs 45/86 – Kommission / Rat, Rn 9; Rs C-378/00 – Kommission / EP und Rat, Rn 67 f. EuGH, Rs 424/85 – Frico, Rn 25. EuGH, Rs 68/88 – Vereinigtes Königreich / Rat, Rn 32. Siegfried Magiera

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EWGV nF). Eine weitere Stärkung erfuhr das Parlament durch den Vertrag von Maastricht mit der zusätzlichen Einführung des Verfahrens der Mitentscheidung für den Erlass von Rechtsakten in bestimmten Bereichen (Art 189 b EGV), das durch den Vertrag von Amsterdam vereinfacht wurde (Art 251 EGV). Auch insoweit verblieb das Initiativrecht bei der Kommission, aber das Parlament erhielt in diesem Verfahren die Möglichkeit, den Erlass des Rechtsakts zu verhindern, selbst wenn der Rat ihn befürwortete (Vetorecht).325 Trotz der ständigen Bemühungen um eine Verbesserung und der schrittweisen 72 Reformen in den einzelnen Änderungsverträgen zeichneten sich die differenzierten Rechtssetzungsverfahren weiterhin durch hohe Komplexität und Intransparenz sowie einen Mangel an Kohärenz aus, wie eine Analyse der Rechtslage zu Beginn des Europäischen Konvents aufzeigte.326 Daran anschließende Denkansätze befürworteten eine bessere Verständlichkeit der Beschlussfassungsprozesse, insbesondere durch eine Verringerung und eine Vereinfachung der Rechtssetzungsverfahren.327 Dennoch weist auch der Vertrag von Lissabon eine Vielzahl von Rechtssetzungsverfahren auf, die sich einteilen lassen in ordentliche und besondere Gesetzgebungsverfahren sowie in sonstige Rechtssetzungsverfahren für Rechtsakte sui generis, für delegierte, für durchführende Rechtsakte und für atypische Rechtsakte.

b) Ordentliches Gesetzgebungsverfahren aa) Begriff und Bedeutung Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren besteht in der gemeinsamen Annahme ei- 73 ner Verordnung, einer Richtlinie oder eines Beschlusses durch das Parlament und den Rat auf Vorschlag der Kommission (Art 289 I 1 AEUV). Es ist das Hauptrechtssetzungsverfahren der Union und hat das frühere Mitentscheidungsverfahren abgelöst.328 Zudem hat sich die Anzahl der Anwendungsbereiche von 36 auf 85 erhöht.329 Wie im Verfassungsvertrag angestrebt, führt es zum Erlass von Gesetzgebungsakten, die jedoch nicht, wie noch im Verfassungsvertrag, als Gesetz (Art I-34 VVE), sondern differenziert entsprechend dem früheren Recht als Verordnung oder Richtlinie und nunmehr auch als Beschluss bezeichnet werden. Ob es sich bei einem so bezeichne-

_____ 325 Näher zur Rolle des EP Magiera FS Everling, 1995, S 789 (794 ff). 326 Europäischer Konvent, Präsidium, Die Rechtsakte: das derzeitige System, CONV 162/02, S 11 ff; Europäischer Konvent, Präsidium, Das Rechtsetzungsverfahren (einschließlich Haushaltsverfahren): Das derzeitige System, CONV 216/02, S 1 ff. 327 Europäischer Konvent, Präsidium, Das Rechtsetzungsverfahren (einschließlich Haushaltsverfahren): Das derzeitige System, CONV 216/02, S 20 f; Europäischer Konvent, Gruppe IX „Vereinfachung“, Schlussbericht, CONV 424/02, S 13 ff; vgl dazu auch Magiera Die Arbeit des europäischen Verfassungskonvents und der Parlamentarismus, DÖV 2003, 578 ff. 328 Zur demokratischen Bedeutung des neuen Verfahrens vgl Stie passim; Achenbach S 299 ff. 329 Schwarze/Schoo Art 294 AEUV Rn 10. Siegfried Magiera

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ten Rechtsakt um einen im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassenen Gesetzgebungsakt handelt, bestimmt sich allein danach, ob der Rechtsakt gemäß dem in Art 294 AEUV festgelegten Verfahren erlassen wurde (Art 289 I 2 AEUV).330 In welchen Fällen dieses Verfahren für den Erlass eines Rechtsakts anzuwenden ist, ergibt sich aus der konkreten Ermächtigungsgrundlage im Vertragsrecht, auf die der Rechtsakt gestützt wird (Art 294 I AEUV).331

bb) Verfahrenseinleitung 74 An dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren beteiligt sind die Kommission sowie

– als „Gesetzgeber“332 bzw „Unionsgesetzgeber“333 – das Parlament und der Rat. Die Kommission hat im Gesetzgebungsverfahren grundsätzlich, dh soweit im Vertragsrecht nichts anderes festgelegt ist, ein Vorschlagsrecht und zugleich ein Vorschlagsmonopol (Art 17 II 1 EUV; Art 294 II AEUV).334 Ausnahmsweise können – ordentliche oder besondere – Gesetzgebungsakte auf Initiative einer Gruppe von Mitgliedstaaten335 oder des Parlaments,336 auf Empfehlung der Europäischen Zentralbank337 oder auf Antrag des Gerichtshofs338 oder der Europäischen Investitionsbank339 erlassen werden (Art 289 IV AEUV). Unionsbürger können die Kommission durch eine Bürgerinitiative auffordern, Vorschläge für Rechtsakte zu unterbreiten.340 Solange ein Beschluss des Rates noch nicht ergangen ist, kann die Kommission ihren Vorschlag im Verlauf des Verfahrens zur Annahme des Rechtsakts jederzeit –

_____ 330 Ausführungsbestimmungen zur praktischen Handhabung des Verfahrens enthalten die Geschäftsordnungen der drei beteiligten Organe: EP, GO, 8. Wahlperiode 2014–2019, zugänglich auf der Website des EP (europarl.europa.eu); Beschluss des Rates zur Annahme seiner GO, ABl 2009 L 325/35; GO der Kommission, ABl 2000 L 308/26; vgl ferner Rahmenvereinbarung [v 20.10.2010] über die Beziehungen des EP und der Europ Kommission, ABl 2010 L 304/47; Interinstitutionelle Vereinbarung [v 13.4.2016] zwischen dem EP, dem Rat der EU und der Europäischen Kommission über bessere Rechtsetzung, ABl 2016 L 123/1. 331 Art 14, 15, 16, 18, 19, 21 ua AEUV; eine vollständige Liste findet sich zB bei Streinz/Gellermann Art 294 AEUV Rn 7. 332 Art 14 I, 16 I EUV. 333 EuGH, Rs C-270/12 – Vereinigtes Königreich / EP und Rat, Rn 43. 334 Ausführlich dazu vButtlar S 22 ff. 335 Art 76, 82, 86, 87 AEUV. 336 Art 14 EUV; Art 223, 228 AEUV. 337 Art 129 AEUV. 338 Art 257, 281 AEUV. 339 Art 308 AEUV. 340 Art 11 EUV; Art 24 AEUV; VO 211/2011 des EP und des Rates über die Bürgerinitiative, ABl 2011 L 65/1; wird mit Wirkung v 1.1.2020 aufgehoben und ersetzt durch VO (EU) 2019/788 des EP und des Rates über die Europäische Bürgerinitiative, ABl 2019 L 130/55; vgl auch Mross S 107 ff; Streinz/ Magiera Art 24 AEUV Rn 3 ff. Siegfried Magiera

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auch ohne Schriftform341 – ändern (Art 293 II AEUV)342 und – als stärkste Form der Änderung – auch begründet zurücknehmen.343 Das Änderungsrecht der Kommission, mit dem sie flexibel auf die Vorstellungen und Wünsche des Gesetzgebers reagieren kann, um erforderliche Kompromisse zu ermöglichen, besteht grundsätzlich bis zum endgültigen Abschluss des Verfahrens, während dies im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nur bis zur Annahme des Standpunkts des Parlaments und des Rates in der ersten Lesung der Fall sein soll.344 Wird der Rat gemäß dem Vertragsrecht auf Vorschlag der Kommission tätig, so kann er den Vorschlag grundsätzlich nur einstimmig (Art 238 IV AEUV) abändern.345 Ausnahmen gelten im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren und im Bereich der Finanzvorschriften, insbesondere für die Festlegung des mehrjährigen Finanzrahmens und die Aufstellung des jährlichen Haushaltsplans (Art 293 I AEUV). In der Regel unterbreitet die Kommission dem Parlament und dem Rat ihren Gesetzgebungsvorschlag aus eigener Initiative (Art 294 II AEUV). Sie kann dazu auch von jedem dieser Organe aufgefordert werden; legt sie daraufhin keinen Vorschlag vor, so hat sie ihnen ihre Gründe mitzuteilen (Art 225, 241 AEUV). Eine Pflicht der Kommission zur Vorlage eines Vorschlags ergibt sich aus der Aufforderung nicht, kann jedoch aufgrund des sonstigen Unionsrechts geboten sein.346 Die dem Parlament und dem Rat unterbreiteten Entwürfe von – ordentlichen 75 und besonderen – Gesetzgebungsakten, dh die Vorschläge der Kommission und die ihnen gleichgestellten Initiativen anderer Berechtigter (Art 289 IV AEUV), werden zugleich anderen Verfahrensbeteiligten zugeleitet. Dazu gehören die nationalen Parlamente, die sich im Hinblick auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips äußern können.347 Entsprechend einbezogen werden andere Institutionen der Union, die ein vertragliches Recht auf Anhörung und Stellungnahme haben, insbesondere der Rechnungshof (Art 322, 325 IV AEUV), der Wirtschafts- und Sozialausschuss (Art 304 AEUV) und der Ausschuss der Regionen (Art 307 AEUV), oder deren Anhörung von den Gesetzgebungsorganen als erforderlich oder hilfreich erachtet wird.

_____ 341 EuGH, Rs C-280/93 – Deutschland / Rat, Rn 36. 342 EuGH, Rs C-445/00 – Österreich / Rat, Rn 45 f. 343 EuGH, Rs C-409/13 – Rat / Kommission, Rn 73 ff. 344 Nr 13a der Entschließung des EP v 16.5.2006 zu dem Ergebnis der Überprüfung von Vorschlägen, die sich derzeit im Gesetzgebungsverfahren befinden, ABl 2008 C 297 E/140; Schwarze/Schoo Art 293 AEUV Rn 19 ff mwN. 345 Die Grenzen der Abänderung sind jedenfalls dann nicht überschritten, wenn der Rat weder vom Gegenstand noch vom Zweck des Kommissionsvorschlags abweicht; EuGH, Rs 355/87 – Kommission / Rat, Rn 44. 346 Vgl zB Art 291 III AEUV. 347 Prot (Nr 1) zum EUV/AEUV über die Rolle der nationalen Parlamente in der EU, ABl 2016 C 202/ 203 (Art 2 und 3); vgl dazu näher Siedentopf/Sommermann S 69 (76 ff); Baach passim; Cygan ELRev 2011, 480 ff. Siegfried Magiera

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Schon zuvor bemüht sich die Kommission, die Verabschiedung weitreichender Vorschläge regelmäßig mit Hilfe vielfältiger Kommunikationsverfahren, insbesondere aufgrund von Grün- und Weißbüchern, auf eine möglichst vollständige und abgewogene Informationsbasis zu stützen.348

cc) Verfahrensverlauf 76 Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren umfasst bis zu drei Lesungen und ein

Vermittlungsverfahren nach der zweiten Lesung, kann aber auch schon nach der ersten oder der zweiten Lesung erfolgreich abgeschlossen werden.349 Parlament und Rat sind im gesamten Verfahren gleichgestellt, dh der Erlass des angestrebten Rechtsakts setzt eine Einigung zwischen beiden Organen voraus. In der ersten Lesung (Art 294 III bis VI AEUV), für die das Vertragsrecht grund77 sätzlich keine Fristen bestimmt,350 legt zunächst das Parlament seinen Standpunkt fest, der Änderungen an dem Vorschlag der Kommission enthalten kann, und übermittelt ihn dem Rat. Billigt der Rat den Standpunkt des Parlaments nach dessen Kenntnisnahme,351 so ist der Rechtsakt in der Fassung dieses Standpunkts erlassen. Andernfalls legt der Rat seinen Standpunkt in erster Lesung fest und übermittelt ihn dem Parlament. Dabei unterrichtet er das Parlament in allen Einzelheiten über seine Änderungsgründe. Ferner unterrichtet die ebenfalls beteiligte Kommission das Parlament in vollem Umfang über ihren Standpunkt zu den Standpunkten des Parlaments und des Rates. Das Parlament tagt grundsätzlich öffentlich (Art 15 II AEUV; Art 115 GO EP), der Rat, wenn er über Entwürfe zu Gesetzgebungsakten berät und abstimmt (Art 16 VIII 1 EUV; Art 15 II AEUV). In der zweiten Lesung (Art 294 VII bis IX AEUV) gilt der Rechtsakt in der Fas78 sung des Standpunkts des Rates in erster Lesung als erlassen, wenn das Parlament ihn innerhalb von drei Monaten nach der Übermittlung billigt oder sich nicht äußert. Lehnt das Parlament den Standpunkt des Rates innerhalb der Frist mit der Mehrheit seiner Mitglieder ab, so gilt der Rechtsakt als nicht erlassen. Nimmt das Parlament innerhalb der Frist mit derselben Mehrheit Abänderungen an dem Standpunkt des Rates vor, so wird die abgeänderte Fassung dem Rat und der Kommission zugeleitet. Die Kommission gibt zu den Abänderungen eine Stellungnahme ab. Daraus wird geschlossen, dass sie gehindert ist, einen geänderten Vorschlag

_____ 348 Näher dazu Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Magiera § 13 Rn 46 f. 349 Einzelheiten zum Verfahrensverlauf sind in den Geschäftsordnungen und in Vereinbarungen der beteiligten Organe geregelt. Eine ausführliche Darstellung dazu findet sich zB bei Schwarze/ Schoo Art 294 AEUV Rn 20 ff. 350 Sollte ein vertraglich begründetes Fristerfordernis bestehen, so sind die Organe zu dessen Beachtung verpflichtet; vgl zur Anhörung des Parlaments EuGH, Rs C-65/93, Rn 21 ff. 351 EuGH, Rs C-417/93 – EP / Rat, Rn 9 ff. Siegfried Magiera

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vorzulegen oder ihren Vorschlag zurückzuziehen.352 Der betreffende Rechtsakt gilt als erlassen, wenn der Rat alle Abänderungen binnen drei Monaten nach deren Eingang mit qualifizierter Mehrheit (Art 16 IV, V EUV) billigt. Billigt der Rat mit dieser Mehrheit nicht alle Abänderungen, so beruft sein Präsident im Einvernehmen mit dem Präsidenten des Parlaments binnen sechs Wochen den Vermittlungsausschuss ein. Über Abänderungen, zu denen die Kommission eine ablehnende Stellungnahme abgegeben hat, muss der Rat – in Bestätigung von Art 293 I AEUV – einstimmig (Art 238 IV AEUV) beschließen.353 Kommt es in der zweiten Lesung weder zum Erlass noch zur Ablehnung des 79 Rechtsakts, so findet ein Vermittlungsverfahren (Art 294 X bis XII AEUV) statt, das eine Einigung auf der Grundlage der in zweiter Lesung festgelegten Standpunkte des Parlaments und des Rates herbeiführen soll. Der Vermittlungsausschuss, der nicht öffentlich tagt,354 besteht aus den Mitgliedern des Rates oder deren Vertretern und ebenso vielen das Parlament vertretenden Mitgliedern. Um die angestrebte Einigung zu erreichen, verfügt er über einen weiten Ermessensspielraum355 und einen Zeitraum von sechs Wochen nach seiner Einberufung, wobei die vom Rat entsandten Mitglieder mit qualifizierter Mehrheit und die vom Parlament entsandten Mitglieder mit der Mehrheit ihrer Mitglieder zustimmen müssen. Die Kommission ist ebenfalls beteiligt und ergreift alle erforderlichen Initiativen, um auf eine Annäherung der Standpunkte des Parlaments und des Rates hinzuwirken. Billigt der Vermittlungsausschuss binnen der Beratungsfrist von sechs Wochen keinen gemeinsamen Entwurf, so gilt der ursprünglich von der Kommission vorgeschlagene Rechtsakt als nicht erlassen. Die dritte Lesung (Art 294 XIII AEUV) findet statt, wenn der Vermittlungsaus- 80 schuss innerhalb der Beratungsfrist einen gemeinsamen Entwurf gebilligt hat. Ab dieser Billigung verfügen das Parlament und der Rat über eine Frist von sechs Wochen, um den Rechtsakt entsprechend diesem Entwurf zu erlassen, wobei im Parlament die Mehrheit der abgegebenen Stimmen und im Rat die qualifizierte Mehrheit erforderlich ist. Andernfalls gilt der Rechtsakt als nicht erlassen. Insgesamt gelten für das ordentliche Gesetzgebungsverfahren noch einige be- 81 sondere Bestimmungen. So können die regelmäßigen Verfahrensfristen von drei Monaten bzw sechs Wochen auf Initiative des Parlaments oder des Rates um bis zu

_____ 352 vdGroeben/Schwarze/Hatje/Schoo Art 294 AEUV Rn 39 mwN; vgl dazu auch Nr 37 der Rahmenvereinbarung [v 20.10.2010] über die Beziehungen des EP und der Europ Kommission, ABl 2010 L 304/47. 353 Kritisch dazu Lenz/Borchardt/Hetmeier Art 294 AEUV Rn 14; Schwarze/Schoo Art 294 AEUV Rn 41. 354 Zur Zulässigkeit, weil der Erlass des Rechtsakts von der anschließenden Annahme durch Parlament und Rat in öffentlicher Sitzung abhängt (Art 294 XIII AEUV), EuGH, Rs C-344/04 – IATA, Rn 60 ff. 355 EuGH, Rs C-344/04 – IATA, Rn 57 ff. Siegfried Magiera

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einem Monat bzw zwei Wochen verlängert werden (Art 294 XIV AEUV). Wird in den im Vertragsrecht vorgesehenen Fällen ein Gesetzgebungsakt auf Initiative einer Gruppe von Mitgliedstaaten, auf Empfehlung der Europäischen Zentralbank oder auf Antrag des Gerichtshofs (Art 289 IV AEUV) im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen, so finden die Bestimmungen von Art 294 II (Initiativmonopol der Kommission), Art 294 VI 2 (Unterrichtung seitens der Kommission) und Art 294 IX (Einstimmigkeit im Rat) AEUV keine Anwendung.

c) Besonderes Gesetzgebungsverfahren 82 Das besondere Gesetzgebungsverfahren ist dadurch gekennzeichnet, dass die An-

nahme einer Verordnung, einer Richtlinie oder eines Beschlusses in bestimmten, im Vertragsrecht vorgesehenen Fällen entweder durch das Parlament mit Beteiligung des Rates oder umgekehrt durch den Rat mit Beteiligung des Parlaments erfolgt (Art 289 II AEUV). Wie das ordentliche führt auch das besondere Gesetzgebungsverfahren nicht zu einem Rechtsakt, der als Gesetz bezeichnet wird (so Art I-34 VVE). Sein Rechtscharakter als „Gesetzgebungsakt“ (Art 289 III AEUV) lässt sich nur daran erkennen, ob er auf einer Ermächtigungsgrundlage im Vertragsrecht beruht, die seinen Erlass „gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren“ vorsieht.356 Eine Sonderstellung nimmt das Haushaltsverfahren ein, wonach der Jahreshaushaltsplan der Union vom Parlament und Rat nicht „gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren“, sondern „im Rahmen eines besonderen Gesetzgebungsverfahrens“ festgelegt wird (Art 314 vor Abs 1 AEUV).357 Eine allgemeine Bestimmung über das einzuhaltende Verfahren, wie es für das ordentliche Gesetzgebungsverfahren festgelegt ist (Art 294 AEUV), enthält das Vertragsrecht für das besondere Gesetzgebungsverfahren nicht. Die Voraussetzungen ergeben sich insoweit aus der konkreten Ermächtigungsgrundlage. Der Vertrag von Lissabon ermöglicht zudem den Übergang vom besonderen zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren aufgrund von spezifischen Vertragsbestimmungen („Brücken“- oder „Passerelle“Klauseln) in den Bereichen des Familienrechts (Art 81 III AEUV), der Sozialpolitik (Art 153 II AEUV), der Umweltpolitik (Art 192 II AEUV) und der verstärkten Zusammenarbeit (Art 333 II AEUV)358 sowie im vereinfachten Vertragsänderungsverfahren (Art 48 VII EUV). Beteiligte sind stets das Parlament und der Rat, wenn auch in unterschiedli83 cher Funktion, ferner regelmäßig die Kommission aufgrund ihres grundsätzlichen

_____ 356 Art 19 I, 21 III, 22 I, II, 23 II, 25 II, 64 III, 77 III ua AEUV; eine vollständige Liste findet sich ua bei Pechstein/Nowak/Häde/Saurer Art 289 AEUV Rn 33 f. 357 Vgl dazu näher Grabitz/Hilf/Nettesheim/Magiera Art 314 AEUV Rn 28 (2017); EuGH, Rs C-77/11 – Rat / EP, Rn 46 ff; Rs C-73/17 – Frankreich / Parlament, Rn 28 ff. 358 Vgl dazu auch 40. Erklärung zum EUV/AEUV zu Art 329 AEUV, ABl 2016 C 202/352. Siegfried Magiera

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Vorschlagsmonopols (Art 17 II EUV)359 sowie in bestimmten Fällen auch andere Unionsinstitutionen, insbesondere der Wirtschafts- und Sozialausschuss,360 der Ausschuss der Regionen361 und die Europäischen Zentralbank,362 in beratender Funktion. Wie die Entwürfe von ordentlichen sind auch die Entwürfe von besonderen Gesetzgebungsakten den nationalen Parlamenten im Hinblick auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zuzuleiten.363 Fälle, in denen das Parlament mit Beteiligung des Rates entscheidet, sind sel- 84 ten.364 Entscheidet der Rat mit Beteiligung des Parlaments, so trifft er seine Entscheidungen zumeist einstimmig,365 seltener mit qualifizierter Mehrheit,366 während das Parlament entweder nur ein Anhörungsrecht367 mit der Möglichkeit zur Stellungnahme oder auch ein Zustimmungsrecht368 hat. Ohne die – vertraglich vorgesehene – Zustimmung des Parlaments kommt ein Rechtsakt nicht zustande. Eine – erforderliche – Stellungnahme des Parlaments muss der Rat zur Kenntnis nehmen,369 jedoch nicht befolgen. Eine Missachtung des Anhörungsrechts seitens des Rates durch Ignorierung der Stellungnahme oder durch Unterlassen einer erneuten Anhörung bei wesentlichen Abweichungen von ihr ist eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften und führt zur Nichtigkeit des Rechtsakts.370 Letzteres ist jedoch nicht der Fall, wenn der Rat die Anhörung irrtümlich nicht für erforderlich hält, aber dennoch durchführt.371 Eine vertragswidrige illoyale Verzögerung der Stellungnahme seitens des Parlaments (Art 13 II EUV) kann jedoch den Erlass des Rechtsakts seitens des Rates ausnahmsweise ohne Stellungnahme des Parlaments rechtfertigen.372

_____ 359 Zu Ausnahmemöglichkeiten vgl Art 289 IV AEUV. 360 Art 113, 115 ua AEUV; vgl auch Prot [v 22.2.2012] über die Zusammenarbeit zwischen der Europ Kommission und dem Europ Wirtschafts- und Sozialausschuss, ABl 2012 C 102/1. 361 Art 153, 192 ua AEUV; vgl auch Prot [v 16.2.2012] über die Zusammenarbeit zwischen der Europ Kommission und dem Ausschuss der Regionen, ABl 2012 C 102/6. 362 Art 126, 127 AEUV. 363 Prot (Nr 1) zum EUV/AEUV über die Rolle der nationalen Parlamente in der EU, ABl 2016 C 202/203 (Art 2 und 3). 364 Art 223 II, 226 III, 228 IV AEUV. 365 Art 19 I, 21 III, 22 I, II, 25 II, 64 III, 77 III ua AEUV. 366 Art 23 II, 182 IV, 311 IV ua AEUV iVm Art 16 III EUV. 367 Art 21 III, 22 I, II, 23 II, 64 III, 77 III ua AEUV. 368 Art 19 I, 25 II, 82 II, 83 I ua AEUV. 369 EuGH, Rs C-417/93 – EP / Rat, Rn 10 f. 370 EuGH, Rs C-417/93 – EP / Rat, Rn 9; Rs C-65/93 – EP / Rat, Rn 21; Rs C-390/15 – RPO, Rn 26; Rs C-643/15 – Slowakei / Rat, Rn 160. 371 EuGH, Rs C-363/14 – EP / Rat, Rn 87 ff. 372 EuGH, Rs C-65/93 – EP / Rat, Rn 22 ff. Siegfried Magiera

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d) Sonstige Rechtssetzungsverfahren 85 Neben dem ordentlichen und dem besonderen Gesetzgebungsverfahren, die den

Erlass von Gesetzgebungsakten regeln, kennt das Unionsrecht Verfahren für den Erlass der Rechtsakte ohne Gesetzescharakter (delegierte Rechtsakte, Durchführungsrechtsakte und Rechtsakte sui generis) sowie der sonstigen (atypischen) Rechtsakte.

aa) Delegierte Rechtsakte 86 Delegierte Rechtsakte, dh Rechtsakte ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Gel-

tung zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften eines Gesetzgebungsakts, werden von der Kommission erlassen (Art 290 I AEUV).373 Die näheren Bedingungen, unter denen die Übertragung erfolgt, sind in den jeweiligen Basisrechtsakten festzulegen. Insoweit beschließen das Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglieder und der Rat mit qualifizierter Mehrheit, auch wenn der Gesetzgebungsakt andere Mehrheitserfordernisse vorsieht (Art 290 II AEUV). Das Verfahren für den Erlass der delegierten Rechtakte richtet sich nach den Bestimmungen der Geschäftsordnung der Kommission.374 Es steht in ihrem Ermessen, ob und inwieweit sie andere Unionsinstitutionen, insbesondere den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, sowie Experten zu ihrer Beratung heranzieht.375 Soweit die Durchführung der delegierten Rechtsakte letztlich den nationalen Behörden obliegt, zieht die Kommission schon beim Erlass der delegierten Rechtsakte Expertengruppen aus den Mitgliedstaaten zur Beratung heran.376

bb) Durchführungsrechtsakte 87 Die Durchführung verbindlicher Rechtsakte der Union obliegt grundsätzlich den

Mitgliedstaaten nach deren innerstaatlichem Recht (Art 291 I AEUV), ausnahmsweise, wenn es dazu einheitlicher Bedingungen bedarf, der Kommission oder in Sonderfällen dem Rat (Art 291 II AEUV). Für die Zwecke der Übertragung von Durchführungsbefugnissen auf die Unionsorgane legen das Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch „Legislativ“-Verordnungen377 im

_____ 373 Dazu auch Interinstitutionelles Register der delegierten Rechtsakte (https://webgate.ec.euro pa.eu/regdel/#/home). 374 GO der Kommission, ABl 2000 L 308/26 (mit späteren Änd). 375 Vgl auch die 39. Erklärung zum EUV/AEUV zu Art 290 AEUV, wonach die Kommission beabsichtigt, im Bereich der Finanzdienstleistungen weiterhin von den Mitgliedstaaten benannte Experten zu konsultieren, ABl 2016 C 202/352. 376 Kommission, Umsetzung von Artikel 290 AEUV, KOM(2009) 673, S 7. 377 EuGH, Rs C-183/16 P – Tilly-Sabco, Rn 88. Siegfried Magiera

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Voraus allgemeine Regeln und Grundsätze fest, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren (Art 291 III AEUV). Im Falle von delegierten Rechtsakten erfolgt die Kontrolle der Kommission demgegenüber unmittelbar durch das Parlament und den Rat als Gesetzgeber. Für die Übertragung von Durchführungsbefugnissen auf den Rat ist eine mitgliedstaatliche Kontrolle entbehrlich, da sich der Rat aus Regierungsvertretern der Mitgliedstaaten zusammensetzt (Art 16 II EUV). Entsprechende Vorschriften bestanden schon zuvor für das sog Komitologieverfahren, 378 das die Kommission verpflichtete, die ihr übertragenen Durchführungsmaßnahmen im Entwurfsstadium einem Ausschuss aus Vertretern der Mitgliedstaaten zur Stellungnahme vorzulegen. Der Komitologiebeschluss ist im Rahmen des Vertrags von Lissabon abgelöst 88 worden durch die Kontrollverordnung von 2011.379 Danach wird die Kommission durch Ausschüsse aus Vertretern der Mitgliedstaaten unterstützt, deren Vorsitz ein – nicht stimmberechtigter – Vertreter der Kommission führt. Unterschieden wird zwischen Prüfverfahren für den Erlass von Rechtsakten von allgemeiner Tragweite oder mit besonders bedeutenden Auswirkungen, zB in den Bereichen der gemeinsamen Agrarpolitik, der gemeinsamen Handelspolitik oder von Umwelt, Sicherheit, Gesundheit und Besteuerung, sowie Beratungsverfahren in grundsätzlich allen anderen Bereichen. Den Ausschüssen muss vom Vorsitz eine angemessene Beratungsfrist eingeräumt werden, deren Verletzung zur Nichtigkeit des Rechtsakts führt.380 Je nach Variante des weiterhin komplexen Verfahrens, das auch ein Berufungsverfahren sowie Sonderregelungen für Ausnahmefälle umfasst, kann die Stellungnahme des Ausschusses sich in einer Beratung der Kommission erschöpfen, aber auch zu einem Scheitern des Entwurfs führen.381

_____ 378 Oben, Rn 35. 379 VO 182/2011 des EP und des Rates zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren, ABl 2011 L 55/13; dazu Änderungsvorschlag der Kommission: COM(2017) 85. Ausgenommen blieb Art 5a, der das Regelungsverfahren mit Kontrolle betrifft; dazu Kommission, Bericht über die Tätigkeit der Ausschüsse im Jahr 2017, COM(2018) 675, und Änderungsvorschläge der Kommission: COM(2016) 798 und COM(2016) 799; Letzterer wurde umgesetzt durch VO (EU) 2019/1243 des EP und des Rates zur Anpassung von Rechtsakten, in denen auf das Regelungsverfahren mit Kontrolle Bezug genommen wird, an Artikel 290 und 291 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. 2019 L 198/241. 380 EuGH, Rs C-163/16 P – Tilly-Sabco / Kommission, Rn 97 ff. 381 Näher dazu Craig ELRev 2011, 671 (677 ff); Brandsma/Blom-Hansen JCMS 2012, 939 ff; Daiber EuR 2012, 240 ff; Sydow JZ 2012, 157 ff; zur Praxis: Kommission, Bericht über die Tätigkeit der Ausschüsse im Jahr 2017, COM(2018) 675. Siegfried Magiera

582 | § 7 Rechtsakte und Rechtssetzung der Union

cc) Rechtsakte sui generis 89 Rechtsakte sui generis, dh Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen

und Stellungnahmen, die weder in einem Gesetzgebungsverfahren noch als delegierte Rechtsakte oder als Durchführungsrechtsakte erlassen werden, bilden eine Residualgruppe, kommen jedoch nicht nach einem einheitlichen, sondern nach dem Verfahren zustande, das sich aus ihrer jeweiligen Rechtsgrundlage ergibt. Im Vertragsrecht finden sich insoweit Rechtsakte, die – bei unterschiedlicher Beteiligung der Kommission und anderer Unionsinstitutionen – hauptsächlich vom Rat nach Anhörung oder mit Zustimmung des Parlaments,382 aber auch von einzelnen Organen, insbesondere vom Rat383 oder von der Kommission,384 erlassen werden.

dd) Atypische Rechtsakte 90 Atypische Rechtsakte, dh solche Rechtsakte, die nicht als förmliche Rechtsakte

(Verordnung, Richtlinie, Beschluss, Empfehlung, Stellungnahme) ergehen, werden ebenso wie die Rechtsakte sui generis nicht nach einem einheitlichen, sondern nach dem Verfahren erlassen, das sich aus ihrer Rechtsgrundlage ergibt. So werden Schlussfolgerungen vom Europäischen Rat angenommen,385 Leitlinien vom Europäischen Rat386 und – teilweise auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Parlaments – vom Rat387 festgelegt, Erklärungen vom Rat388 und vom Rechnungshof389 abgegeben und – ausdrücklich auch verbindliche – interinstitutionelle Vereinbarungen vom Parlament, Rat und von der Kommission390 geschlossen.

_____ 382 Art 74, 78 III, 81 III UAbs 2, 86 I AEUV (Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts); Art 95 III AEUV (Verkehr); Art 103 I AEUV (Wettbewerb von Unternehmen); Art 109 AEUV (staatliche Beihilfen); Art 150, 160 AEUV (Einsetzung eines Beschäftigungsausschusses bzw eines Ausschusses für Sozialschutz); Art 218 VI lit a und b ua AEUV (internationale Übereinkünfte). 383 Art 31 AEUV (Zolltarif); Art 43 III AEUV (Agrarpreise); Art 66 AEUV (Kapitalverkehr); Art 70, 75 II AEUV (Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts); Art 122 I, 126 VI ff AEUV (Wirtschaftspolitik); Art 165 IV Spstr 2 AEUV (Bildung); Art 168 VI AEUV (Gesundheitswesen); Art 207 IV AEUV (Handelspolitik); Art 218 VI, IX AEUV (internationale Übereinkünfte). 384 Art 45 III lit d AEUV (Arbeitnehmerfreizügigkeit); Art 105 III, 106 III, 108 AEUV (Wettbewerbsregeln); Art 114 VI, 117 I AEUV (Rechtsangleichung); Art 126 V AEUV (Wirtschaftspolitik); Art 207 III AEUV (Handelspolitik); Art 218 III ua AEUV (internationale Übereinkünfte). 385 Art 121 II, 148 I AEUV. 386 Art 68 AEUV. 387 Art 26 III, 148 II AEUV. 388 Art 126 XII AEUV. 389 Art 287 I AEUV. 390 Art 295 AEUV. Siegfried Magiera

III. Rechtssetzung der Union | 583

e) Verfahrensabschluss Nachdem die Rechtsakte von den zuständigen Unionsinstitutionen beschlossen 91 sind, bedürfen sie abschließend der Unterzeichnung sowie der Veröffentlichung oder der Bekanntgabe. Die dafür erforderlichen Anforderungen richten sich nach dem jeweiligen Erlassverfahren.

aa) Unterzeichnung Gesetzgebungsakte, die gemäß dem ordentlichen bzw einem besonderen Gesetz- 92 gebungsverfahren erlassen wurden, werden vom Präsidenten des Parlaments und vom Präsidenten des Rates bzw vom Präsidenten desjenigen der beiden Organe, das sie erlassen hat, unterzeichnet (Art 297 I UAbs 1 u 2 AEUV). Rechtsakte ohne Gesetzescharakter, die als Verordnung, Richtlinie oder adressatenunabhängiger Beschluss erlassen wurden, werden vom Präsidenten des erlassenden Organs unterzeichnet (Art 297 II UAbs 1 AEUV). Eine Besonderheit besteht für den Haushaltsplan, den der Präsident des Parlaments als endgültig erlassen feststellt (Art 314 IX AEUV) und unterzeichnet.391

bb) Veröffentlichung Die Gesetzgebungsakte sowie die Rechtsakte ohne Gesetzescharakter, die als Ver- 93 ordnung, als an alle Mitgliedstaaten gerichtete Richtlinie oder als adressatenunabhängiger Beschluss erlassen wurden, werden im Amtsblatt der Europäischen Union,392 das seit dem 1.7.2013 rechtsverbindlich in elektronischer Form (e-ABl) erscheint,393 veröffentlicht (Art 297 I UAbs 3, Art 297 II UAbs 2 AEUV). Sofern es sich nicht um einen Rechtsakt mit allgemeiner Geltung handelt, der im Amtsblatt zu veröffentlichen ist, genügt jede andere zweckdienliche Veröffentlichungsform,394 was eine Veröffentlichung im Amtsblatt einschließt.

_____ 391 Näher dazu Grabitz/Hilf/Nettesheim/Magiera Art 314 AEUV Rn 28 (2017); EuGH, Rs C-77/11 – Rat / EP, Rn 46 ff. 392 Das Amtsblatt wird vom Amt für Veröffentlichungen der EU (Beschluss 2009/496/EG, Euratom des EP, des Rates, der Kommission, des Gerichtshofs, des Rechnungshofs, des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses und des Ausschusses der Regionen v 26.6.2009 über den Aufbau und die Arbeitsweise des Amts für Veröffentlichungen der EU, ABl 2009 L 168/41) herausgegeben und umfasst die Reihe L („Legislatio“ – Rechtsvorschriften), die Reihe C („Communicatio“ – Mitteilungen und Bekanntmachungen) sowie ab 1.1.2016 die Unterreihen CA (Aufforderungen zur Interessenbekundung ua) und LI bzw CI (Flexibilität bei Änderungen der geplanten Inhalte). 393 VO 216/2013 des Rates über die elektronische Veröffentlichung des Amtsblatts der EU, ABl 2013 L 69/1. 394 EuG, Rs T-229/11 – Lord Inglewood / EP, Rn 32 f. Siegfried Magiera

584 | § 7 Rechtsakte und Rechtssetzung der Union

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Die erforderliche Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union, das in allen Amtssprachen vorliegen muss,395 ist Voraussetzung für das Wirksamwerden des Rechtsakts und dafür, dass dieser dem Betroffenen entgegengehalten werden kann.396 Sie soll im Normalfall binnen zwei Monaten ab dem Erlass des Rechtakts erfolgen.397 Als Tag der Veröffentlichung gilt, falls diese Vermutung nicht widerlegt wird, das Datum der Nummer des Amtsblatts, das den Text des Rechtsakts enthält.398

cc) Bekanntgabe 95 Andere – nicht im Gesetzgebungsverfahren erlassene und sonstige nicht an alle

Mitgliedstaaten gerichtete – Richtlinien und adressatengebundene Beschlüsse werden denjenigen, für die sie bestimmt sind, bekanntgegeben und dadurch399 wirksam (Art 297 II UAbs 3 AEUV). Der Rechtsakt muss dem Adressaten zugehen, so dass dieser von ihm Kenntnis nehmen kann.400 Eine bestimmte Form der Bekanntgabe ist nicht vorgesehen; eine Zustellung per Einschreiben mit Rückschein erscheint angemessen.401 Eine anderweitige Übermittlung genügt ausnahmsweise, wenn sie Inhalt und Gründe des Rechtsakts detailliert und nicht nur kurz zusammenfassend darstellt.402 Eine zusätzliche Veröffentlichung im Amtsblatt ist zulässig und dann zu begrüßen, wenn Rechte und Interessen von Einzelnen in mehreren Mitgliedstaaten berührt werden.403 Dies ist insbesondere bei Richtlinien der Fall, die deshalb regelmäßig im Amtsblatt veröffentlicht werden. Bei adressatengebundenen Beschlüssen sind gegebenenfalls Geschäftsgeheimnisse (Art 339 AEUV) von der Veröffentlichung auszunehmen.404

_____ 395 EuGH, Rs 98/78 – Racke, Rn 15; Rs C-228/99 – Silos, Rn 15; vgl auch Art 5 VO 1/1958 des Rates zur Regelung der Sprachenfrage für die EWG, ABl 1958 L 17/385. 396 EuGH, Rs C-345/06 – Heinrich, Rn 42 f. 397 EP, Rat und Kommission, Nr 48 Gemeinsame Erklärung zu den praktischen Modalitäten des neuen Mitentscheidungsverfahrens (Art 251 EGV) [nunmehr ordentliches Gesetzgebungsverfahren, Art 294 AEUV], ABl 2007 C 145/5. In der Rs 185/73 – König, Rn 6, hat der EuGH eine nicht unbedenkliche Dauer von mehr als einem Jahr zwischen Verabschiedung und Veröffentlichung einer Verordnung gebilligt; näher dazu Grabitz/Hilf/Nettesheim/Krajewski/Rösslein Art 297 AEUV Rn 24 (2011). 398 EuGH, Rs 98/78 – Racke, Rn 15; Rs C-228/99 – Silos, Rn 15. 399 EuGH, Rs C-339/16 P – Portugal / Kommission, Rn 34 ff. 400 EuGH, Rs 6/72 – Europemballage / Kommission, Rn 10. 401 EuGH, Rs C-195/91 – Bayer / Kommission, Rn 21. 402 EuGH, Rs 143/95 P – Kommission / Socurte, Rn 30 ff. 403 EuGH, Rs 73/64 – Crediet- und Handelsvereniging, Slg 1964, 1 (29); EuG, Rs T-198/03 – Bank Austria / Kommission, Rn 69. 404 EuGH, Rs 41/69 – Chemiefarma, Rn 101/104; Rs 296/82 – Niederlande / Kommission, Rn 28; EuG, Rs T-198/03 – Bank Austria / Kommission, Rn 69. Siegfried Magiera

IV. Wirksamkeit des Unionsrechts | 585

IV. Wirksamkeit des Unionsrechts IV. Wirksamkeit des Unionsrechts 1. Normenhierarchie Im gegenwärtigen Unionsrecht lassen sich mit dem primären, dem sekundären und 96 dem tertiären Recht drei Rangstufen unterscheiden. Das von den Mitgliedstaaten geschaffene Vertragsrecht (Primärrecht) genießt Vorrang vor dem von den Unionsorganen geschaffenen abgeleiteten Recht (Sekundär- und Tertiärrecht). Dem gesamten Unionsrecht kommt Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten zu.405 Damit lässt sich allgemein eine Normenhierarchie zwischen Vertragsrecht und abgeleitetem Recht sowie zwischen Sekundärrecht und Tertiärrecht feststellen. Im Einzelnen bestehen hingegen nicht unerhebliche Abgrenzungs- und Zuordnungsprobleme.406 Die sogenannte vereinfachte Vertragsänderung, wonach etwa der Europäische Rat die Zahl der Mitglieder der Kommission407 und der Rat die Zahl der Generalanwälte beim Gerichtshof oder mit dem Parlament die Zahl der Mitglieder des Gerichts408 bestimmen kann, lässt sich dem abgeleiteten Recht zuordnen, weil ein Unionsorgan handelt, aber auch dem Vertragsrecht, weil dieses geändert wird. Ähnliches gilt für das vereinfachte Vertragsänderungsverfahren409 und die sogenannten Evolutivklauseln,410 die einen Rechtsakt der Unionsorgane und dazu die Zustimmung der Mitgliedstaaten verlangen. Insoweit ist zu differenzieren zwischen dem Rechtsakt der Unionsorgane, der sich im Rahmen des Vertragsrechts halten muss und der Kontrolle der Unionsgerichtsbarkeit unterliegt, sowie der Zustimmung der Mitgliedstaaten, die dieser Kontrolle nicht unterliegt.411 Mit Unsicherheiten behaftet ist auch die Zuordnung des völkerrechtlichen Ver- 97 tragsrechts zum Unionsrecht. Übereinkünfte der Union mit Drittstaaten oder internationalen Organisationen (Art 207, 218 AEUV) sind nach inzwischen gefestigter Ansicht ein integrierender Bestandteil des Unionsrechts und gehen dem Sekundärrecht vor, weil sie zwar auf Rechtshandlungen der Unionsorgane beruhen, diese jedoch zugleich binden (Art 216 II AEUV).412 Gegenüber dem Primärrecht sind sie hingegen nachrangig.

_____ 405 Vgl dazu oben, Rn 13. 406 Vgl zu Einzelheiten auch Härtel S 311 ff; Meurs S 139 ff. 407 Art 17 V EUV. 408 Generalanwälte: Art 252 I AEUV; Richter des Gerichts: Art 19 II EUV iVm Art 281 AEUV und Art 48 Prot (Nr 3) zum EUV/AEUV über die Satzung des Gerichtshofs der EU, ABl 2016 C 326/210, die gemäß Art 51 EUV Vertragsrang besitzt. 409 Art 48 VI EUV; vgl zB Beschluss des Europäischen Rates zur Änderung des Art 136 AEUV, ABl 2011 L 91/1. 410 Art 25 II AEUV (EU-Bürgerrechte); Art 223 I, II AEUV (EP-Wahlverfahren); Art 262 AEUV (EUGerichtzuständigkeit betr geistiges Eigentum); Art 311 III AEUV (EU-Eigenmittel). 411 EuGH, Rs C-370/12 – Pringle, Rn 30 ff; vertiefend dazu Streinz/Magiera Art 25 AEUV Rn 6; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Magiera Art 311 AEUV Rn 10 (2017). 412 EuGH, Rs C-344/04 – IATA, Rn 35; ausführlich Wünschmann S 82 ff. Siegfried Magiera

586 | § 7 Rechtsakte und Rechtssetzung der Union

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Grundsätzlich lässt sich die Rangordnung des Unionsrechts weder nach dem Urheber noch nach dem Regelungsgegenstand oder dem Entstehungsverfahren des Rechtsakts, sondern lediglich anhand allgemeiner Grundsätze und dementsprechend rudimentär bestimmen.413 So muss sich etwa ein ausführender Rechtsakt im Rahmen des ermächtigenden Rechtsakts halten. Dies ist für delegierte Rechtsakte mit allgemeiner Geltung nunmehr vertraglich festgelegt (Art 290 AEUV), aber auch für Durchführungsrechtsakte (Art 291 AEUV) anzunehmen.414 Zwischen Rechtsakten verschiedener Urheber, die jeweils unmittelbar auf das Vertragsrecht gestützt sind, besteht demgegenüber Gleichrangigkeit.415 Im Übrigen geht der speziellere dem allgemeineren oder der spätere dem früheren Rechtsakt vor, wenn es sich um gleichartige und im gleichen Verfahren von demselben Urheber erlassene Rechtsakte handelt.

2. Zeitliche Geltung a) Inkrafttreten 99 Die im Amtsblatt der Europäischen Union zu veröffentlichenden Gesetzgebungsakte und Rechtsakte ohne Gesetzescharakter treten zu dem durch sie festgelegten Zeitpunkt oder andernfalls am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung in Kraft (Art 297 I UAbs 3, Art 297 II UAbs 2 AEUV).416 Richtlinien, die nicht im Gesetzgebungsverfahren erlassen oder nicht an alle Mitgliedstaaten gerichtet sind, sowie adressatengebundene Beschlüsse werden mit der Bekanntgabe an ihre Adressaten wirksam (Art 297 II UAbs 3 AEUV). Der Zeitpunkt des Inkrafttretens darf von den Unionsorganen weitgehend frei, nach den jeweiligen Umständen, festgelegt werden.417 Grenzen ergeben sich aus den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes. Danach ist es nicht zulässig, das sofortige Inkrafttreten grundlos anzuordnen,418 sondern nur, wenn es notwendig ist, um etwa eine Gefährdung der beabsichtigten Maßnahme zu verhindern.419 Vor allem aber dürfen Normativakte grundsätzlich keine echte, dh abgeschlossene Sachverhalte betreffende, Rückwirkung haben, wenn nicht ausnahmsweise das angestrebte Ziel es verlangt und das schutzwürdige Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet ist.420 Auch ein Hin-

_____ 413 Dazu näher Magiera integration 1995, 197 (200); Härtel S 316 ff; vBogdandy/Bast/Bast S 489 (529 ff, 549); für einen Vorrang der Gesetzgebungsakte vor anderen Rechtsakten Meurs S 200 ff. 414 Vgl dazu oben, Rn 44 ff; ferner EuGH, Rs C-103/96 – Eridania, Rn 20. 415 EuGH, Rs 188/80 – Frankreich / Kommission, Rn 6; Rs 242/87 – Kommission / Rat, Rn 10 ff. 416 Vgl dazu auch die VO 1182/71 des Rates v 3.6.1971 zur Festlegung der Fristen, Daten und Termine, ABl 1971 L 124/1. 417 EuGH, Rs 57/72 – Westzucker, Rn 19; Rs 17/67 – Neumann, Slg 1967, 591 (611). 418 EuGH, Rs 17/67 – Neumann, Slg 1967, 591 (611). 419 EuGH, Rs 57/72 – Westzucker, Rn 19; Rs 304/86 R – Enital / Rat und Kommission, Rn 16. 420 EuGH, Rs 98/78 – Racke, Rn 20; Rs 108/81 – Amylum / Rat, Rn 4; Rs C-337/88 – Safa, Rn 13. Siegfried Magiera

IV. Wirksamkeit des Unionsrechts | 587

ausschieben des Zeitpunkts der Anwendbarkeit gegenüber dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Rechtsakts ist zulässig.421

b) Gültigkeit Die von den Unionsinstitutionen erlassenen Rechtsakte haben die Vermutung der 100 Gültigkeit für sich, solange sie nicht vom Gerichtshof der Union wegen Fehlerhaftigkeit für nichtig erklärt (Art 263, 264 AEUV) oder von den Institutionen selbst aufgehoben oder ersetzt worden sind.422 Die Gültigkeitsvermutung gilt insbesondere auch für Rechtsakte der Unionsinstitutionen, die an – natürliche oder juristische – Einzelpersonen gerichtet sind („Verwaltungsakte“).423 Nur ausnahmsweise, in ganz außergewöhnlichen Fällen können einzelne Handlungen als rechtlich inexistent und damit ohne Rechtswirkung qualifiziert werden.424 Sie erlauben dennoch eine gerichtliche Klärung unter Vermeidung der Verfahrenskostentragung durch den Adressaten der Handlung.425

c) Aufhebbarkeit Im Übrigen ist hinsichtlich der Aufhebbarkeit von Rechtsakten zu differenzieren. 101 Belastende Rechtsakte sind bei Rechtswidrigkeit grundsätzlich zurücknehmbar, bei Rechtmäßigkeit grundsätzlich widerruflich, wenn keine Pflicht zu ihrem Erlass bestand. 426 Begünstigende Rechtsakte sind bei Rechtmäßigkeit grundsätzlich nicht widerruflich, 427 bei Rechtwidrigkeit hingegen stets „ex nunc“ 428 und ausnahmsweise „ex tunc“ zurücknehmbar, wenn die Rücknahme innerhalb angemessener Frist erfolgt und das öffentliche Interesse der Union (Gesetzmäßigkeit der

_____ 421 EuGH, Rs C-412/10 – Homawoo, Rn 24. 422 EuGH, Rs 214/85 – Gherardi Dandolo / Kommission, Rn 13; Rs 201/87 – Cargill, Rn 21; Rs C475/01 – Kommission / Griechenland, Rn 18. 423 So bisweilen die Terminologie auch des EuGH, zB Rs 7/56 – Algera / Gemeinsame Versammlung, Slg 1957, 83 (118); Rs 15/85 – Consorzio Cooperative d’Abruzzo / Kommission, Rn 10; in der Sache dürfen sie jedoch nicht mit den Verwaltungsakten des deutschen Rechts gleichgesetzt werden (vgl oben, Rn 15). 424 Zu Beispielen vgl oben, Rn 69. 425 EuG, Rs T-79/89 – BASF / Kommission, Rn 103; EuGH, Rs C-137/92 P, Kommission / BASF, Rn 80; anders – hinsichtlich der Kostentragung – noch EuGH, Rs 1/57 – Usines à Tubes de la Sarre / Hohe Behörde, Slg 1957, 213 (236 f). 426 EuGH, Rs 2/70 – Riva / Kommission, Rn 6 f; ausführlich dazu Schweitzer/Weber S 55 (68 ff); Haratsch EuR 1998, 1 ff. 427 EuGH, Rs 159/82 – Verli-Wallace / Kommission, Rn 8. 428 EuGH, Rs 15/60 – Simon / EuGH, Slg 1961, 239 (259 f); Rs 54/77 – Herpels / Kommission, Rn 37/41. Siegfried Magiera

588 | § 7 Rechtsakte und Rechtssetzung der Union

Verwaltung) das private Interesse (Vertrauensschutz) überwiegt.429 Dies ist etwa der Fall, wenn die Rechtwidrigkeit offenkundig oder dem Begünstigten bekannt war430 oder wenn dieser falsche oder unvollständige Angaben gemacht hat.431

3. Durchsetzung 102 Die Wirksamkeit des Unionsrechts beruht auf der Gefolgsbereitschaft der Rechtsad-

ressaten (Unionsorgane, Mitgliedstaaten, Einzelpersonen), die von Durchsetzungsmaßnahmen, insbesondere Kontroll- und Sanktionsmechanismen, flankiert und ergänzt wird.432

4. Zwangsvollstreckung 103 Die Rechtsakte des Rates, der Kommission und der Europäischen Zentralbank, die

Zahlungen auferlegen, sind vollstreckbare Titel (Art 299 I Halbs 1 AEUV).433 Die Zahlungsansprüche müssen ihre Rechtsgrundlage in den hoheitlichen Kompetenzen der Union haben; vertragliche Ansprüche muss die Union vor den zuständigen Gerichten verfolgen. Die Vollstreckbarkeit setzt voraus, dass der Rechtsakt eine inhaltlich klare, unbedingte und endgültige Zahlungsaufforderung enthält, die den zu zahlenden Betrag nach Art (Währung) und Höhe (Gesamtsumme) sowie den Adressaten genau bezeichnet.434 Die Vollstreckbarkeit von Rechtsakten des Rates, der Kommission und der EZB gilt nicht gegenüber (Mitglied- und Dritt-)Staaten (Art 299 I Halbs 2 AEUV). Vollstreckbar sind auch die Urteile des Gerichtshofs der EU (Art 280 iVm Art 299 AEUV). Insoweit ist jedoch umstritten, ob auch die Ausnahme zugunsten der Mitgliedstaaten (Art 299 I Halbs 2 AEUV) eingreift, insbesondere bei einer Verurteilung zur Zahlung eines Pauschalbetrags oder Zwangsgelds (Art 260 AEUV).435 Dies ist jedoch nicht anzunehmen, da der Gerichtshof der Union die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Unionsverträge zu sichern hat (Art 19 I EUV) und er dementsprechend über die Zahlungsverpflichtung des be-

_____ 429 EuGH, Rs 7/56 – Algera / Gemeinsame Versammlung, Slg 1957, 83 (118 f); Rs 15/85 – Consorzio Cooperative d’Abruzzo / Kommission, Rn 12. 430 EuGH, Rs 14/81 – Alpha Steel / Kommission, Rn 10 ff. 431 EuGH, Rs 42/59 – SNUPAT / Hohe Behörde, Slg 1961, 109 (173). 432 Ausführlich dazu Schroeder § 8 (in diesem Band) Rn 88 ff; Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Magiera § 13 Rn 53 ff. 433 Wohl auch gemeinsame Rechtakte des Rates und des EP; ebenso Schwarze/Schoo Art 299 AEUV Rn 4 mwN; nicht hingegen Rechtsakte allein des EP (EuG, Rs T-431/10 R – Nencini / EP, Rn 19). 434 EuGH, Rs 41/73 – Société anonyme Générale sucrière, Rn 12/16. 435 Bejahend Schwarze/Voet von Vormizeele Art 280 AEUV Rn 2; Schwarze/Schoo Art 299 AEUV Rn 8; verneinend vdGroeben/Schwarze/Hatje/Gaitanides Art 280 AEUV Rn 7; Streinz/Gellermann Art 299 AEUV Rn 6; jeweils mwN. Siegfried Magiera

IV. Wirksamkeit des Unionsrechts | 589

treffenden Mitgliedstaats entschieden hat, so dass kein Raum für ein weiteres gerichtliches Verfahren verbleibt, wie er bei zahlungsverpflichtenden Rechtakten der dazu befugten Unionsorgane besteht. Die Zwangsvollstreckung erfolgt nach den Vorschriften des Zivilprozess- 104 rechts des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sie stattfindet. Die Vollstreckungsklausel wird nach einer auf die Echtheit des Titels beschränkten Prüfung436 von dessen dafür benannter Behörde erteilt (Art 299 II AEUV). Anschließend kann die Zwangsvollstreckung auf Antrag der betreibenden Partei nach dem innerstaatlichen Recht von der zuständigen nationalen Behörde durchgeführt werden (Art 299 III AEUV). Ausgesetzt werden kann die Zwangsvollstreckung nur durch eine Entscheidung des Gerichtshofs der Union (Art 299 IV 1 AEUV). Die Ordnungsmäßigkeit der Vollstreckungsmaßnahmen obliegt demgegenüber der Prüfung der einzelstaatlichen Gerichte (Art 299 IV 2 AEUV), deren Zuständigkeit und Verfahrensmodalitäten von den Mitgliedstaaten nach den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität zu bestimmen sind.437

_____ 436 EuGH, Rs 46/87 – Hoechst / Kommission, Rn 35; Rs C-208/99 – Portugal / Kommission, Rn 24 ff; BVerfG, 2 BvR 1236/86, NJW 1987, 3077. 437 EuGH, Rs C-217/16 – Kommission / Zagoriu, Rn 16 ff. Siegfried Magiera

590 | § 7 Rechtsakte und Rechtssetzung der Union

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§ 8 Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz | 591

Werner Schroeder

§ 8 Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz § 8 Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz Werner Schroeder § 8 Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz https://doi.org/10.1515/9783110498349-008

Gliederungsübersicht I. Einführung II. Begriffe und Grundsätze 1. Durchsetzung von Unionsrecht 2. Durchführung von Unionsrecht a) Durchführung, Umsetzung, Vollziehung, Anwendung b) Durchführung durch die Union oder durch die Mitgliedstaaten III. Durchführung 1. Kompetenzverteilung in Bezug auf die Durchführung a) Durchführungskompetenzen der Union b) Durchführungskompetenzen der Mitgliedstaaten c) Aufteilung der Durchführung zwischen Union und Mitgliedstaaten in der Praxis 2. Unionseigene Durchführung a) Kompetenzen b) Zuständige Unionseinrichtungen c) Handlungsformen d) Unionsrechtliche Vorgaben für die Durchführung e) Rechtswidrige Durchführung f) Durchsetzung der Durchführung 3. Nationale Durchführung a) Durchführungspflicht b) Formen nationaler Durchführung c) Institutionelle Autonomie der Mitgliedstaaten aa) Begriffliche Klärung bb) Fehlen von Durchführungsvorschriften der Union cc) Vorbehalt der Äquivalenz und der Effektivität d) Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten bei der Durchführung e) Durchführung im Bundesstaat f) Überwachung der nationalen Durchführung durch die Kommission 4. Verwaltungskooperation und Verwaltungsverbund a) Begriff b) Rechtliche Grundlagen c) Erscheinungsformen d) Zurechnungs- und Haftungsfragen IV. Instrumente der Durchsetzung 1. Durchsetzungsprobleme 2. Instrumente der Überwachung und Kontrolle 3. Sanktionen a) Sanktionen gegenüber Unionseinrichtungen b) Sanktionen gegenüber Mitgliedstaaten c) Sanktionen gegenüber Privatpersonen

Werner Schroeder https://doi.org/10.1515/9783110498349-008

Rn 1 6 6 8 8 12 16 17 17 20 23 25 26 30 37 40 47 52 53 54 57 58 59 62 65 69 71 74 76 76 78 80 87 88 88 89 91 92 93 100

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V.

Gerichtliche Durchsetzung des Unionsrechts 1. Rechtsschutzsystem der Union 2. Prinzip des effektiven Rechtsschutzes 3. Zuständigkeit der Unionsgerichte, der nationalen und der internationalen Gerichte 4. Durchsetzung vor den Unionsgerichten a) Grundlagen des Rechtsschutzes vor den Unionsgerichten b) Vertragsverletzungsverfahren aa) Beteiligte bb) Klagegegenstand cc) Vorverfahren dd) Begründetheit ee) Urteilswirkungen c) Nichtigkeitsklage aa) Beteiligte bb) Klagegegenstand cc) Klagebefugnis dd) Begründetheit ee) Urteilswirkungen d) Untätigkeitsklage aa) Beteiligte bb) Klagegegenstand cc) Klagebefugnis dd) Vorverfahren ee) Begründetheit ff) Urteilswirkungen e) Amtshaftungsklage aa) Abgrenzung der Zuständigkeit bb) Beteiligte cc) Klagegegenstand dd) Begründetheit f) Einstweiliger Rechtsschutz aa) Instrumente der Verfahrensbeschleunigung bb) Voraussetzungen für einstweiligen Rechtsschutz 5. Durchsetzung vor den nationalen Gerichten a) Anwendung des Unionsrechts durch nationale Gerichte b) Organisations- und Verfahrensautonomie c) Einstweiliger Rechtsschutz d) Funktion nationaler Verfassungsgerichte 6. Kooperation von Unionsgerichten und nationalen Gerichten a) Kooperationsverhältnis b) Vorabentscheidungsverfahren aa) Funktion des Verfahrens bb) Vorlageberechtigung cc) Vorlagegegenstand dd) Entscheidungserheblichkeit ee) Inhalt und Wirkung der Vorabentscheidung ff) Vorlagepflicht gg) Durchsetzung einer Vorlage

102 102 106 107 110 110 117 118 120 121 122 123 125 126 127 129 135 137 139 140 141 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 158 158 161 167 170 176 176 179 179 183 184 187 188 190 194

Werner Schroeder

I. Einführung | 593

Spezialschrifttum Classen, Claus Dieter Rechtsschutz, in: Schulze, Reiner/Zuleeg, Manfred/Kadelbach, Stefan (Hrsg), Europarecht. Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 3. Aufl, 2015, 228; von Danwitz, Thomas Europäisches Verwaltungsrecht, 2008; Hatje, Armin Die gemeinschaftsrechtliche Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, 1998; Hölscheidt, Sven Probleme bei der Durchsetzung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten, DÖV 2009, 341; Karpenstein, Ulrich Praxis des EU-Rechts, 2. Aufl, 2013; Krönke, Christoph Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, 2013; Magiera, Siegfried Durchsetzung des Europarechts, in: Schulze, Reiner/Zuleeg, Manfred/Kadelbach, Stefan (Hrsg), Europarecht. Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 3. Aufl, 2015, 560; Rengeling, HansWerner/Middeke, Andreas/Gellermann, Martin Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 2. Auflage, 2003; Schroeder, Werner Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002; ders Nationale Maßnahmen zur Durchführung von EG-Recht und das Gebot der einheitlichen Wirkung – Existiert ein Prinzip der „nationalen Verfahrensautonomie“?, AöR 129 (2004), 3; Schwarze, Jürgen Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl, 2005; Sydow, Gernot Verwaltungskooperation in der Europäischen Union, 2004; Terhechte, Jörg Philipp (Hrsg), Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2011. Leitentscheidungen EuGH, Rs 25/62 – Plaumann, Slg 1963, 213; verb Rs 205 bis 215/82 – Deutsche Milchkontor; Rs 294/83 – Les Verts / EP; Rs 222/84 – Johnston; Rs 314/85 – Foto-Frost; verb Rs 46/87 und 227/88 – Hoechst; verb Rs C-143/88 und C-292/89 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen; Rs C-97/91 – Borelli; Rs C-24/95 – Alcan; Rs C-231/96 – Edis; Rs C-234/04 – Kapferer; BVerfG, 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223 – Kloppenburg.

I. Einführung I. Einführung Die Europäische Union (Union) ist nach dem berühmten – eigentlich auf die frühere 1 EWG gemünzten – Ausspruch Walter Hallsteins eine Rechtsgemeinschaft. Hallstein wollte damit hervorheben, dass sich die Existenz der früheren Gemeinschaft allein auf dem Respekt der Organe, der Mitgliedstaaten und der Bürger vor den europäischen Rechtsnormen gründete, da es an Zwangsmitteln und Sanktionen zu deren Durchsetzung fehlte.1 Nun hat sich das Unionsrecht zwar in dieser Hinsicht aufgrund zahlreicher Reformen weiter entwickelt. Nach wie vor trifft es jedoch zu, dass sich das Unionsrecht stärker als das Recht der Staaten um seine Durchsetzung sorgen muss, weil es nicht über die hierfür erforderliche Struktur verfügt. Die Union hat weder eine eigene Polizei, noch verfügt sie über eine eigene Strafgewalt. Ihre administrativen und justiziellen Ressourcen sind ebenfalls sehr beschränkt. In erster Linie ist die Durchsetzung des Unionsrechts Sache der Mitgliedstaaten. Deren Verhältnis zur Union, die die Einhaltung des Unionsrechts durch die 2 Kommission sicherzustellen hat (Art 17 I 2 und 3 EUV), ist jedoch nicht primär von Zwang, sondern von Zusammenarbeit und gegenseitiger Loyalität geprägt (Art 4 III EUV). In der Praxis funktioniert dies, weil mittlerweile eine tiefgreifende rechtliche, politische und institutionelle Verflechtung zwischen der Union und den Mit-

_____ 1 Vgl auch EuGH, Rs 294/83 – Les Verts, Rn 23. Werner Schroeder

594 | § 8 Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz

gliedstaaten besteht, die die Entstehung von rechtlichen Konflikten verringert. Die europäische Integration hat ein System hervorgebracht, in dem die politischen und rechtlichen Entscheidungen von den Organen der Union und den Mitgliedstaaten letztlich kooperativ getroffen werden. Das gilt für die Willensbildung im Gesetzgebungsverfahren nach Art 289 ff AEUV genauso wie aufgrund von Art 267 AEUV für die justiziellen Entscheidungen und nach Art 197 AEUV für administrative Durchführungsmaßnahmen. Rechtlich ergibt sich der die Mitgliedstaaten verpflichtende Charakter des Uni3 onsrechts zwar aus seinem Vorrang vor nationalem Recht.2 Tatsächlich wird dieser jedoch aufgrund seiner sozialen Wirksamkeit in den Mitgliedstaaten gewahrt. Diese zeigt sich darin, dass sich die Mitgliedstaaten in allen Bereichen bemühen, das Unionsrecht einzuhalten und seine Wirksamkeit sicherzustellen.3 Diese Wirksamkeit beruht letztlich auf verschiedenen Faktoren: (1) den Eigeninteressen der Mitgliedstaaten, dh ihre Einsicht, dass eine Befolgung des Unionsrechts auf Dauer nützlicher ist als seine Missachtung, (2) ihrer Beeinflussung durch institutionelle Verflechtungen mit der Union, (3) mögliche europäisch-idealistische Motive sowie (4) der Respekt der Staaten vor der Herrschaft des Rechts. Die entscheidende Bedingung der sozialen Wirksamkeit ergibt sich allerdings daraus, dass das Unionsrecht als bindendes Recht in den Mitgliedstaaten gilt und sich nicht nur an die Mitgliedstaaten als Ganzes, sondern auch an die einzelnen Bürger sowie die nationalen Gerichte und Behörden wendet. Grundlage hierfür ist die unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts, die zur Folge hat, dass nationale Behörden und Gerichte von Amts wegen zu dessen Anwendung verpflichtet sind und die Bürger in den Mitgliedstaaten sich auf dessen Normen unmittelbar berufen können.4 Eine offene Missachtung des Unionsrechts durch nationale Behörden und Gerichte kommt unter diesen Bedingungen kaum vor, weil der betreffende Mitgliedstaat dadurch seine eigene Autorität beschädigen würde.5 Gleichwohl reicht eine generelle Beachtung des Unionsrechts durch die Mit4 gliedstaaten nicht aus. Vielmehr ist seine unbedingte Einhaltung eine wesentliche Voraussetzung für die Legitimation der unionalen Ordnung. So wird die „einheitliche Anwendung“ des Unionsrechts als ein „Grunderfordernis“ dieser Rechtsordnung bezeichnet,6 da sie die Verwirklichung der Ziele der Union (Art 3 EUV) gewährleistet. Sie verhindert nicht nur Diskriminierungen und Wettbewerbsverzerrungen,

_____ 2 Seit EuGH, Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L., Slg 1964, 1253 (1269); siehe Weiß § 5 (in diesem Band) Rn 89 ff. 3 Schroeder S 21 ff. 4 Seit EuGH, Rs 26/62 – Van Gend & Loos, Slg 1963, 3 (25); Rs C-103/88 – Fratelli Costanzo, Rn 30 f (Behörden); Rs C-312/93 – Peterbroek, Rn 18 (Gerichte). 5 Weiler YLJ 1991, 2403 (2421). 6 EuGH, verb Rs C-143/88 und C-92/89 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen, Rn 26; verb Rs C-46/93 und C-48/93 – Brasserie du pêcheur, Rn 33; Hatje S 35 ff. Werner Schroeder

II. Begriffe und Grundsätze | 595

die durch eine ungleichmäßige Anwendung des Unionsrechts bewirkt werden, sondern sichert auch die Rechtseinheit in der Union, deren Wahrung unter dem Aspekt der Rechtssicherheit erstrebenswert ist.7 Aus diesem Grund gibt es verschiedene rechtliche Instrumente, die teils aus- 5 drücklich in den Verträgen verankert, teils aber ungeschriebener Natur und erst durch die Rechtsprechung entwickelt worden sind, mit denen die strikte Durchsetzung des Unionsrechts in der Praxis sichergestellt wird. II. Begriffe und Grundsätze II. Begriffe und Grundsätze 1. Durchsetzung von Unionsrecht Durchsetzung ist kein technischer Begriff des Unionsrechts. Er findet sich weder in 6 den Verträgen noch in den Rechtsakten der Union. Dieser in der Literatur und auch hier verwendete Terminus soll alle Instrumente erfassen, die der Einhaltung des Unionsrechts dienen. Insoweit werden nachfolgend Maßnahmen (1) zur Durchführung des Unions- 7 rechts, vor allem der administrativen Vollziehung, (2) zur Durchsetzung ieS mit Hilfe von Sanktionen und (3) Instrumente des Rechtsschutzes unterschieden. Vor allem die beiden zuletzt genannten Mittel stellen sicher, dass das Unionsrecht auch tatsächlich und ordnungsgemäß durchgeführt wird.8 Grundvoraussetzung für die Durchsetzung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten ist seine besondere rechtliche Qualität, die sich in seinem Vorrang vor nationalem Recht, seiner unmittelbaren Geltung in den Mitgliedstaaten und seiner potentiellen unmittelbaren Anwendbarkeit äußert. Diese Eigenschaften des Unionsrechts werden jedoch an anderer Stelle in diesem Werk beschrieben.9

2. Durchführung von Unionsrecht a) Durchführung, Umsetzung, Vollziehung, Anwendung Da das Unionsrecht aufgrund seines Vorrangs meist beachtet wird, erfolgt seine 8 Durchsetzung, indem die Unionsorgane oder die Mitgliedstaaten die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen treffen. Die Verträge sprechen mehrfach, jedoch in unterschiedlichem Zusammenhang von einer Durchführung des Unionsrechts. So

_____ 7 EuGH, Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L., Slg 1964, 1253 (1270) bzw Rs 314/85 – Foto-Frost, Rn 15; zum Ganzen Schroeder S 425 ff. 8 Ähnlich Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Magiera S 513 f. Ein engerer, auf Überwachung und Sanktionierung durch Behörden reduzierter Durchsetzungsbegriff findet sich hingegen in Kommission, KOM(96) 500, S 30. 9 Vgl Weiß § 5 (in diesem Band). Werner Schroeder

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wird der Begriff zB in Art 6, 9 ff, 21 f, 40, 70 oder 83 AEUV und insbesondere in Art 225 AEUV eher im Zusammenhang mit legislativen Maßnahmen der Unionsorgane zur Durchführung von Unionspolitiken verwendet, während sich der Durchführungsbegriff in den Art 88 II 2 lit b, Art 127 V, Art 209 III und Art 220 III sowie insbesondere Art 197 AEUV auf administrative Maßnahmen von Einrichtungen der Union und der Mitgliedstaaten bezieht. Die zentrale Vorschrift über Durchführungsmaßnahmen, Art 291 AEUV, lässt beide Optionen zu. Auch Art 51 I GRCh, der die Geltung der Grundrechtecharta für die Organe und Einrichtungen der Union sowie der Mitgliedstaaten bestimmt, geht von einem weiten Durchführungsbegriff aus. Dementsprechend kann der Begriff der Durchführung als Oberbegriff für die planmäßige Ausführung des Unionsrechts durch Erlass von Rechtsnormen und für seine Anwendung durch administrative Einzelakte verwendet werden.10 Auch der EuGH verwendet den Begriff der „Durchführung“ von Unionsrecht in diesem Sinne.11 Demgegenüber wird unter dem Vollzug von Unionsrecht meist die Anwendung 9 der unionalen Rechtsnormen durch die Verwaltungseinrichtungen der Union und der Mitgliedstaaten im Einzelfall, etwa durch den Erlass von Verwaltungsakten, verstanden. Dabei handelt es sich um einen Teilaspekt der Durchführung. Diese Terminologie ist vor allem im deutschsprachigen Raum gebräuchlich.12 Mit der Umsetzung, teilweise auch Ausführung genannt, ist die Durchführung 10 des Unionsrechts im Wege der Rechtsetzung gemeint.13 Solche Umsetzungsakte können etwa, zB zur Durchführung von RL nach Art 288 III AEUV oder anderen Vorschriften des Unionsrechts, die nicht unmittelbar anwendbar sind, durch den nationalen Gesetzgeber erlassen werden. Sie können aber auch in Form von Rechtsverordnungen ergehen, die von Verwaltungsbehörden erlassen werden.14 Unter Anwendung versteht man schließlich die einzelfallbezogene Durchfüh11 rung von Unionsrecht durch Entscheidungen der nationalen Gerichte, die durch das Vorabentscheidungsverfahren nach Art 267 AEUV mit den Unionsgerichten verzahnt sind.15

b) Durchführung durch die Union oder durch die Mitgliedstaaten 12 Teilweise wird zwischen einem direkten Vollzug des Unionsrechts durch die Uni-

onsorgane und einem indirekten Vollzug durch die Mitgliedstaaten unterschie-

_____ 10 Schroeder AöR 129 (2004), 3 (9); Krönke S 20 f. 11 Bereits EuGH, Rs 23/75 – Rey Soda, Rn 25/26; verb Rs 205 bis 215/82 – Deutsche Milchkontor, Rn 17. 12 Streinz Rn 521 ff; für Österreich Öhlinger/Potacs S 97 ff. 13 So auch Hölscheidt DÖV 2009, 341; anders noch Schroeder AöR 129 (2004), 3 (9); Krönke S 21: „Ausführung“. 14 Vgl zur Umsetzung von RL Magiera § 7 (in diesem Band) Rn 24 ff. 15 Hölscheidt DÖV 2009, 341 (346). Werner Schroeder

II. Begriffe und Grundsätze | 597

den.16 Diese Unterscheidung ist missverständlich, weil auch unmittelbar anwendbares Unionsrecht von den Mitgliedstaaten direkt durchgeführt werden kann.17 Klarer erscheint die Unterscheidung zwischen einem Vollzug durch die Einrichtungen der Union (Unionsvollzug) und die der Mitgliedstaaten (mitgliedstaatlicher Vollzug). Allerdings wird auch diese Differenzierung teilweise als unangemessen emp- 13 funden, weil eine strikte Trennung zwischen der nationalen und der Unionsebene bei der Durchführung von Unionsrecht der vielfältigen Verflechtungen zwischen Union und Mitgliedstaaten nicht mehr gerecht wird.18 So gibt es zahlreiche Fälle, in denen unionale und nationale Stellen bei der Durchführung von Unionsrecht in einem europäischen Verwaltungsverbund zusammenwirken (Rn 76).19 Sinnvoller ist deshalb eine Unterscheidung, die nicht formal danach differen- 14 ziert, welcher Rechtsträger für die Durchführung zuständig ist, sondern welchen Grad rechtlicher Selbständigkeit die Einrichtung bei der Durchführung von Unionsrecht besitzt.20 In der Praxis kann die Integrationsintensität, dh der Spielraum, den das Unionsrecht den durchführenden Stellen lässt, sehr unterschiedlich sein. Im Agrarverwaltungsrecht etwa gibt es Formen dezentralisierter Verwaltung von Unionsrecht, bspw im Rahmen einer gemeinsamen landwirtschaftlichen Marktorganisation,21 die den Mitgliedstaaten erhebliche Entscheidungsbefugnisse zubilligt. In zentralisierten Verwaltungssystemen hingegen kann die Kommission die Rechtmäßigkeit und sogar die Zweckmäßigkeit der Durchführungsmaßnahmen der nationalen Stellen im Einzelfall überprüfen.22 In derartigen Fällen übt die Kommission gegenüber nationalen Behörden eine hierarchische Aufsicht in Bezug auf die Durchführung von Unionsrecht aus. Sie steuert die Durchführung, indem sie den nationalen Behörden Weisungen erteilt und das Ergebnis der Entscheidung vorschreibt (vgl Rn 83). Letztlich dürfen die Hinweise auf Verbund- oder Kooperationsverwaltung oder 15 auf die Unterscheidung zwischen zentralen und dezentralen Durchführungssystemen jedoch nicht verwischen, dass eine Ebene – Union oder Mitgliedstaaten – die Verantwortung für die letztendlich nach Unionsrecht getroffene Entscheidung, zB

_____ 16 Oppermann/Classen/Nettesheim S 192; Schwarze Verwaltungsrecht S 25 ff; Krönke S 30 f; kritisch Terhechte/vArnauld S 94. 17 Vgl Terhechte/S Augsberg S 216, der zwischen unmittelbarem und mittelbarem indirekten Vollzug differenziert. 18 Terhechte/vArnauld S 94. 19 Vgl Terhechte/S Augsberg S 243; vDanwitz Verwaltungsrecht S 630. 20 Vgl Schroeder AöR 129 (2004), 3 (10 f); Kakouris CMLRev 1997, 1389 (1407). 21 Hierzu Terhechte/Härtel S 1352 f. 22 EuGH, Rs C-478/93 – Niederlande / Kommission, Rn 37 bis 40, einerseits zur Marktorganisation für Bananen; verb Rs C-106/90, C-317/90 und C-129/91 – Emerald Meats / Kommission, Rn 40, andererseits zur Marktorganisation für gefrorenes Rindfleisch. Werner Schroeder

598 | § 8 Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz

im europäischen Marktordnungs-, Regulierungs-, Produktzulassungs- oder Wettbewerbsrecht, gegenüber dem Unionsbürger trägt (vgl Rn 87).23 III. Durchführung III. Durchführung 16 Versteht man nun unter dem – für die Durchsetzung des Unionsrechts relevanten –

Oberbegriff Durchführung die planmäßige Ausführung des Unionsrechts durch Erlass von Rechtsnormen und seine Anwendung durch administrative Einzelakte, so fragt sich, welche Ebene innerhalb der Union hierfür zuständig ist und welche Ebene die Modalitäten der Durchführung regeln darf. Dies wird von den Verträgen nicht ausdrücklich beantwortet und ist daher Gegenstand einer intensiven Diskussion.

1. Kompetenzverteilung in Bezug auf die Durchführung a) Durchführungskompetenzen der Union 17 Die Union besitzt keine allumfassende Sachkompetenz, sondern kann nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gemäß Art 5 I 1 und II 1 EUV nur „innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig [werden], die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen“ übertragen haben. Für die Durchführung des Unionsrechts sowie die Regelung der Durchführungsmodalitäten, insbesondere die Errichtung von Behörden und die Regelung des Verfahrens, benötigt die Union daher in den Verträgen eine individuelle Kompetenzgrundlage. Eine allgemeine Zielbestimmung reicht hierfür nicht aus.24 Die Verträge enthalten keine ausdrückliche Regelung über die Verteilung der 18 Kompetenzen zur Durchführung des Unionsrechts zwischen der Union und den Mitgliedstaaten. Art 5 I 1 und II 1 EUV fordern jedoch auch keine ausdrückliche Kompetenzgrundlage. Ausreichend ist, dass sich die Kompetenz einer Ebene zur Durchführung des Unionsrechts sowie zur Regelung der Durchführungsmodalitäten ungeschrieben mit funktionalen Effektivitätsargumenten begründen lässt. Die Verträge beziehen sich auf Politik- bzw Sachbereiche, in denen die Union tätig werden darf, und differenzieren dabei nicht zwischen Rechtsetzungs- und Durchführungskompetenzen.25 Denkbar ist deshalb durchaus, dass sich die Befugnisse betreffend die Organisation und das Verfahren zur Durchführung von Unionsrecht aus den „implied powers“, dh einer Art Annex zu den vertraglich bestimmten Sachkompe-

_____ 23 Darauf weist vDanwitz Verwaltungsrecht S 612 f zu Recht hin. 24 Vgl BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (192) – Maastricht; in Bezug auf die Durchführung von Unionsrechts bereits Schweitzer Die Verwaltung 17 (1984), 137 (139). 25 Das ist unstr, vgl Terhechte/S Augsberg S 211 mwN, auch Schroeder AöR 129 (2004), 3 (11 f); bereits Jarass AöR 121 (1996), 173 (181 f). Werner Schroeder

III. Durchführung | 599

tenzen der Union (zB Binnenmarkt, Landwirtschaft, Umwelt etc) ergeben. Das gilt sowohl für die Durchführung des Unionsrechts durch die Einrichtungen der Union als auch durch die der Mitgliedstaaten.26 Damit kann die Union in einzelnen Politikbereichen jedenfalls punktuelle Durchführungsregelungen erlassen, die dann für die Mitgliedstaaten verbindlich sind. Ob eine umfassende Regelung der Durchführungsmodalitäten durch ein ebenfalls für die Mitgliedstaaten geltendes Allgemeines Europäisches Verwaltungsrecht, gestützt auf die Flexibilitätsklausel des Art 352 AEUV, zulässig wäre, ist umstr.27 Seit dem Vertrag von Lissabon gibt es mit Art 298 AEUV immerhin eine Vorschrift, die die Union ermächtigt, die Grundprinzipien des europäischen Verwaltungsverfahrensrechts zu kodifizieren, die für den Vollzug durch Einrichtungen der Union gelten (vgl Rn 29). Der EuGH scheint ebenfalls der Ansicht zuzuneigen, dass sich die Kompetenzen 19 zur Durchführung von Unionsrecht mit den Gesetzgebungskompetenzen decken. Er hat zwar festgestellt, dass es „[i]m Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen, auf denen das institutionelle System der [Union beruht,] Sache der Mitgliedstaaten [ist], in ihrem Hoheitsgebiet für die Durchführung der [Unions]regelungen […] zu sorgen“.28 Er betont jedoch, dass dies nur gilt „soweit das [Unions]recht einschließlich der allgemeinen [unions]rechtlichen Grundsätze hierfür keine gemeinsamen Vorschriften enthält“.29 Diese unter dem Namen „Soweit-Formel“ bekanntgewordene Judikatur lässt nicht auf eine nationale Grundsatzkompetenz bei der Durchführung von Unionsrecht – im Sinne, dass den Mitgliedstaaten ein bestimmter Bereich reserviert worden ist30 – schließen. Der Gerichtshof stellt die entsprechenden Befugnisse der Mitgliedstaaten ja explizit unter den Vorbehalt, dass die Union (noch) keine Vorschriften über die Verteilung der Zuständigkeit für die Durchführung und die Modalitäten der Durchführung von Unionsrecht erlassen hat.31

b) Durchführungskompetenzen der Mitgliedstaaten Nach einem Teil in der Literatur32 besitzen jedoch die Mitgliedstaaten aus unionsver- 20 fassungsrechtlichen Gründen die Befugnis, Unionsrecht in ihrem Hoheitsbereich

_____ 26 Schroeder AöR 129 (2004), 3 (11 f); Kahl NVwZ 1995, 865 (866); Krönke S 28 ff; Classen Die Verwaltung 31 (1998), 307 (331). 27 Nachweise bei Krönke S 54 f. 28 EuGH, verb Rs 205 bis 215/82 – Deutsche Milchkontor, Rn 17. 29 EuGH, verb Rs 205 bis 215/82 – Deutsche Milchkontor, Rn 17; Rs C-336/00 – Huber, Rn 61. 30 Krönke S 19. 31 Insofern unterscheidet sich die unionsrechtliche Situation von der verfassungsrechtlichen Ausgangslage in Deutschland. In Art 83 GG sowie Art 84 ff GG wird ausdrücklich zwischen der Aufgabe der Länder zur Vollziehung von Bundesgesetzen an sich und ihrer Befugnis zur Einrichtung von Behörden und zur Regelung des Verwaltungsverfahrens differenziert. 32 Vgl vDanwitz Verwaltungsrecht S 306 ff; Terhechte/S Augsberg S 212 f; kritischer Krönke S 37 ff. Werner Schroeder

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durchzuführen und die Durchführung grds organisations- und verfahrensrechtlich zu regeln. Teilweise wird dies aus der Trennung zwischen Gesetzgebungs- und Durch21 führungskompetenzen abgeleitet, die für die Union gelten soll.33 Aus deren föderaler Natur wird auf Befugnisse der Mitgliedstaaten gegenüber der Union in Bezug auf die Durchführung des Unionsrechts geschlossen, wie sie in Deutschland in vergleichbarer Weise den Ländern gegenüber dem Bund zusteht. Dieses Modell des „Vollzugsföderalismus“34 basiert auf der in Art 30, 70 und 83 GG angelegten Trennung zwischen Gesetzgebungs- und Vollziehungskompetenzen und geht von einer Autonomie der Länder gegenüber dem Bund bei der Vollziehung der Gesetze aus. In Österreich wird in ähnlicher Weise zwischen Gesetzgebungs- und Vollziehungskompetenzen unterschieden, beide Kompetenzbereiche sind zwischen Bund und Ländern aufgeteilt (Art 10–15 B-VG). Dabei bleiben alle Angelegenheiten, die nicht ausdrücklich dem Bund zugewiesen sind, hinsichtlich der Gesetzgebung und der Vollziehung Länderkompetenz. Derartige Analogien zum deutschen „Vollzugsföderalismus“ sind jedoch keineswegs zwingend. Am Beispiel anderer Bundesstaaten wie zB den USA lässt sich zeigen, dass die Durchführungskompetenzen in föderalen Systemen auch an die Gesetzgebungskompetenz der zuständigen Systemebene gekoppelt sein können. Der EuGH hat deshalb bundesdeutsche Analogien zwischen der Durchführung von Unionsrecht durch die Mitgliedstaaten und dem Vollzug von Bundesrecht durch die Länder verworfen.35 Eine andere Ansicht stützt sich auf das Prinzip der vertikalen Gewaltentei22 lung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten. Sie leitet aus dem Gebot zur Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten nach Art 4 II EUV und dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nach Art 5 I und II EUV eine prinzipielle Eigenständigkeit der Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Unionsrecht ab.36 Jedoch ist mit der nationalen Identität nicht zwingend ein bestimmter Grad verfahrensrechtlicher Autonomie verbunden. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ist in diesem Zusammenhang ebenfalls kein überzeugendes Argument, denn die Kompetenzen der Union in einem bestimmten Politikbereich können von den

_____ 33 Vgl zum „Vollzugsföderalismus“ bereits Lenaerts ELRev 18 (1993), 28 und 32; Terhechte/ vArnauld S 93; Schweitzer Die Verwaltung 17 (1984), 137 (139). 34 Vgl Sydow DÖV 2006, 66 (67); zur Anwendung auf das Unionsrecht Terhechte/vArnauld S 94; Schroeder AöR 129 (2004), 3 (12). 35 EuGH, Rs C-359/92 – Deutschland / Rat, Rn 38: „Zu dem Vorbringen, die der Kommission eingeräumte Befugnis gehe über die Befugnisse hinaus, die in einem Bundesstaat wie der Bundesrepublik Deutschland dem Bund gegenüber den Ländern zustehen, ist darauf hinzuweisen, daß die Vorschriften, die die Beziehungen zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten betreffen, nicht die gleichen sind, wie diejenigen, die den Bund und die Länder miteinander verbinden.“ 36 Vgl vDanwitz Verwaltungsrecht S 307 f. Werner Schroeder

III. Durchführung | 601

Verträgen auch als einheitliche Befugnis zur Regelung der inhaltlichen und verfahrensrechtlichen Aspekte einer Materie interpretiert werden (vgl Rn 26).

c) Aufteilung der Durchführung zwischen Union und Mitgliedstaaten in der Praxis Den Art 197, 291 und 298 AEUV lässt sich dennoch entnehmen, dass die Durchfüh- 23 rung des Unionsrechts zwischen den Einrichtungen der Union und denen der Mitgliedstaaten aufgeteilt werden soll. Auch die Zunahme spezialisierter Ämter und Agenturen ändert nichts daran, dass wegen der unzureichenden Verwaltungsressourcen der Union der Großteil des Unionsrechts von den Mitgliedstaaten durchgeführt werden muss.37 Man kann jedoch nicht davon ausgehen, dass es sich dabei juristisch um ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten der Mitgliedstaaten handelt. Vor allem Art 291 I AEUV spricht zwar die Durchführung des sekundären Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten an, enthält jedoch keine Kompetenz der Mitgliedstaaten, sondern lässt sich nur als eine nationale Verpflichtung zur Durchführung deuten.38 Abgesehen davon, dass sich die Vorschrift nach hL lediglich auf den Erlass legislativer Durchführungsmaßnahmen durch die Mitgliedstaaten bezieht und nicht den Verwaltungsvollzug betrifft,39 ergibt sich aus Art 291 II AEUV, dass durch Sekundärrecht auch der Kommission die Durchführung übertragen werden kann. Letztlich ist die Frage, welche Ebene für die Durchführung des Unionsrechts zu- 24 ständig ist und wer die Modalitäten der Durchführung des Unionsrechts und die Organisation sowie das Verfahren regeln darf, anhand einzelner Vorschriften des primären und sekundären Unionsrechts zu beantworten. Hier wird davon ausgegangen, dass die Union alle oben angesprochenen Aspekte der Durchführung, nämlich die Organisation der Durchführung sowie auch ihre Modalitäten, durch Unionsrecht regeln darf. Der durch den Vertrag von Lissabon eingefügte Art 197 AEUV soll im Übrigen dazu beitragen, dass im Interesse einer effektiven Durchführung des Unionsrechts und einer guten Verwaltung (Art 41 GRCh) die Antagonie zwischen Unionsvollziehung und nationaler Vollziehung aufgelöst wird. Die Vorschrift ermöglicht eine Verwaltungszusammenarbeit zwischen den beiden Ebenen.

2. Unionseigene Durchführung In der Praxis wird nur ein geringer Teil des Unionsrechts durch die Einrichtungen 25 der Union, dh die Kommission sowie die zahlreichen Ämter, Agenturen und Behörden der Union vollzogen. Insbesondere verfügt die Union selbst über keine differen-

_____ 37 Hierzu Schweitzer Die Verwaltung 17 (1984), 137 (143); Schwarze Verwaltungsrecht S 33 ff. 38 Streinz/Gellermann Art 291 AEUV Rn 5; Krönke S 64 ff. 39 Streinz/Gellermann Art 291 AEUV Rn 7 f. Werner Schroeder

602 | § 8 Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz

zierten Verwaltungsstrukturen und nicht genügend Personal, mit deren Hilfe sie die Durchführung des Unionsrechts selbst besorgen könnte. Eine Durchführung von Unionsrecht durch Einrichtungen der Union ist daher die Ausnahme. Sie beschränkt sich vor allem auf die unionsinterne Organisation sowie insbesondere nach außen im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten und Einzelpersonen auf das Haushaltsrecht, das Wettbewerbsrecht und die Verwaltung von Strukturfonds.

a) Kompetenzen 26 Die Befugnisse der Union, die Durchführung des Unionsrechts durch eigene Einrich-

tungen zu regeln, sind unbestritten. Art 291 II und III AEUV eröffnen dem Unionsgesetzgeber das Recht, unter bestimmten Voraussetzungen Durchführungskompetenzen auf die Kommission zu übertragen.40 Die administrative Durchführung des Unionsrechts durch die Unionsorgane selbst wird seit dem Vertrag von Lissabon außerdem in Art 298 AEUV angesprochen, der davon ausgeht, dass sich die Union zur Ausübung der Aufgaben auf eine unabhängige europäische Verwaltung stützen kann und hierzu auch Regelungen über das Verwaltungsverfahren erlassen kann. Im Übrigen besitzt die Union – angesichts der fehlenden klaren Trennung zwischen Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen in den Verträgen – allgemeine Zuständigkeiten in den ihr zugewiesenen Politikbereichen und kann damit nicht nur entsprechende materielle Rechtsnormen erlassen, sondern auch die zu ihrer Durchsetzung notwendigen Maßnahmen ergreifen (siehe Rn 52).41 Insoweit wird teilweise zwischen einer internen und externen Durchführung 27 von Unionsrecht im Wege der unionseigenen Durchführung unterschieden. Die interne Durchführung ist kompetenzrechtlich unproblematisch. Sie betrifft die inneren Angelegenheiten der Union wie Personal- und Haushaltsangelegenheiten. Nach allgemeiner Ansicht kann jede Einrichtung der Union aufgrund seines Selbstorganisationsrechts aus der Geschäftsordnungsautonomie (Art 232, 235 III, Art 240 III und Art 249 I AEUV) und den „implied powers“ insoweit die organisatorischen und verfahrensrechtlichen Regelungen treffen, die zur Durchführung des einschlägigen Unionsrechts nötig sind.42 Die externe Durchführung des Unionsrechts hingegen betrifft die Durchfüh28 rung gegenüber Dritten, dh die Wahrnehmung von Handlungsbefugnissen bei der Durchführung gegenüber staatlichen Einrichtungen oder Privaten. Sie ist teilweise aufgrund von Spezialvorschriften in den Verträgen geregelt. Einzelne Vorschriften, die der Kommission eine Kompetenz zur Vollziehung des Wettbewerbsrechts zuwei-

_____ 40 Vgl Magiera § 7 (in diesem Band) Rn 50 ff, 87 f. 41 Kritisch aber vDanwitz Verwaltungsrecht S 316. 42 Schweitzer Die Verwaltung 17 (1984), 137 (140); Streinz/Streinz Art 13 EUV Rn 29; vgl EuGH, Rs 66/75 – Macevicius / EP, Rn 6/7. Werner Schroeder

III. Durchführung | 603

sen, finden sich in Art 105 und 108 AEUV für die Bereiche des Kartell- und Missbrauchsrechts sowie des Beihilferechts.43 Andere Vollzugsbereiche werden durch Sekundärrecht geregelt, das sich auf die Politikbereiche des AEUV stützt, die der Union eine Sachkompetenz für den betreffenden Bereich verleihen, zB die Kompetenz im Bereich der Landwirtschaftspolitik gemäß Art 43 AEUV.44 Ergänzend wird als Kompetenzgrundlage für Durchführungsmaßnahmen außerdem die Flexibilitätsklausel in Art 352 AEUV genutzt.45 Abgesehen von den speziellen Anforderungen an die Durchführung des Unions- 29 rechts, die sich aus den jeweiligen Politikbereichen wie Landwirtschaft oder Wettbewerb ergeben, existiert seit dem Vertrag von Lissabon eine allgemeine Rechtsgrundlage für den Erlass von Vorschriften, die für die Durchführung von Unionsrecht relevant sind. Art 298 AEUV stellt deklaratorisch fest, dass sich die Union zur Erfüllung ihrer Aufgaben auf eine unabhängige europäische Verwaltung stützt und verleiht dem Unionsgesetzgeber die Befugnis, zu diesem Zweck im Wege des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens nach Art 294 AEUV VO zu erlassen. Zwar ist die Reichweite dieser Kompetenz im einzelnen umstr.46 Jedoch könnte nach allgM die Union auf dieser Grundlage ein Allgemeines Verwaltungsrecht erlassen, das für die unionseigene Durchführung maßgeblich ist und sich bisher weitgehend aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen speist, die vom EuGH entwickelt wurden.47

b) Zuständige Unionseinrichtungen Zuständig für die Durchführung von Unionsrecht auf Unionsebene im Rahmen der 30 Eigenverwaltung ist primär die Kommission – selbst wenn letztlich in gewissem Umfang alle Einrichtungen der Union hinsichtlich ihres Personals und Budgets Durchführungsmaßnahmen treffen –, wie sich bereits aus Art 17 I 2–4 AEUV ergibt. Danach hat sie nicht nur für die Anwendung des Unionsrechts zu sorgen, sondern besitzt im Übrigen eine „Koordinierungs-, Exekutiv- und Verwaltungsfunktion“.

_____ 43 Nachweise bei vDanwitz Verwaltungsrecht, S 327 ff. 44 So gibt zB die auf diese Kompetenz gestützte VO 1151/2012, ABl 2012 L 343/1, der Kommission das Recht, über die Eintragung von geographischen Herkunftsbezeichnungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel zu entscheiden. 45 So wurde im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes jeweils gestützt auf Art 114 AEUV eine spezielle Unionsverwaltung geschaffen, die die Entscheidung über die Zulassung von Marken, Sorten und Geschmacksmustern auf Unionsebene trifft; vgl VO 40/94, ABl 1994 L 11/1 (mittlerweile VO 2017/1001, ABl 2017 L 154/1), VO 2100/94, ABl 1994 L 227/1, und VO 6/2002, ABl 2002 L 3/1. 46 Calliess/Ruffert/Ruffert Art 298 AEUV Rn 12 will den Anwendungsbereich der Vorschrift auf die interne Durchführung der Unionseinrichtungen beschränken, was der Norm jedoch nicht zu entnehmen ist. 47 Ob die Ermächtigung auch eine Regelung der Verwaltungsorganisation trägt, ist str, dafür Streinz/Streinz Art 298 AEUV Rn 10. Werner Schroeder

604 | § 8 Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz

Neben besonderen Zuständigkeiten im Bereich des Wettbewerbsrechts gemäß Art 105 und 108 AEUV besitzt sie die Befugnis zur Ausführung des Haushalts nach Art 317 AEUV. Außerdem hat sie nach Art 291 II AEUV in bestimmten Fällen Durchführungszuständigkeiten, die ihr vom Unionsgesetzgeber übertragen worden sind. Die innere Organisation der Kommission und die Verteilung der Aufgaben an verschiedene Generaldirektionen und Dienststellen ist ein Aspekt ihrer Organisationsautonomie. Sie wird in den Grundzügen durch ihre auf Art 249 I AEUV gestützte Geschäftsordnung geregelt. Auch der Rat hat in einigen Bereichen die Kompetenz zum Erlass von Durchfüh31 rungsmaßnahmen, so ausnahmsweise nach Art 291 II AEUV sowie im Bereich der Wirtschafts- und Währungsunion nach Art 126 AEUV. Tatsächlich verfügen weder die Kommission noch der Rat über die Ressourcen 32 und über die notwendigen speziellen Sachkenntnisse, die zur Durchführung aller immer umfangreicheren Aufgaben der Union erforderlich sind. Das hat dazu geführt, dass der Unionsgesetzgeber immer mehr selbständige Spezialeinrichtungen geschaffen hat, die teilweise als Ämter, Agenturen oder Behörden der Union bezeichnet werden. Diese sind mit Rechts- und Geschäftsfähigkeit ausgestattet und über das Unionsgebiet verstreut angesiedelt. Ihre Rechtsgrundlage findet sich nur selten im Primärrecht, wie bei Eurojust und Europol mit Art 85 und 88 AEUV, sondern meist im Sekundärrecht. Überwiegend wird für die Errichtung eine VO gewählt, die früher meist auf die Flexibilitätsklausel in Art 352 AEUV gestützt wurde, mittlerweile jedoch überwiegend auf der Basis einer bestimmten Sachkompetenz (zB Art 114 AEUV) erlassen wird. Dies gilt jedenfalls für Regulierungsagenturen, die selbständig mit der Wahrnehmung bestimmter Sachaufgaben betraut sind (zB Europäische Chemikalienagentur, ECHA), was der Normalfall ist. Zusätzlich gibt es noch Exekutivagenturen, welche gemäß der VO 58/200348 durch einen Errichtungsbeschluss der Kommission geschaffen werden können. Sie unterstützen die Kommission bei der Verwaltung bestimmter Unionsprogramme (zB Agentur für Bildung, Audiovisuelles und Kultur, EACEA). Der Gerichtshof hat die Übertragung von Durchführungsaufgaben an diese selbständigen Spezialeinrichtungen grds unter der Voraussetzung gebilligt, dass dabei das institutionelle Gleichgewicht nicht verletzt wird, die neuen Einrichtungen keine weitreichenden Ermessenbefugnisse erhalten und ihre Handlungen durch die Unionsgerichte überprüft werden können.49 In dem durch den Vertrag von Lissabon geschaffenen Art 298 AEUV betreffend eine „europäische Verwaltung“ werden nunmehr neben den Organen der Uni-

_____ 48 ABl 2003 L 11/1. 49 EuGH, Rs 9/56 – Meroni I, Slg 1958, 11 (36 ff); Rs 10/56 – Meroni II, Slg 1958, 53 (78 ff); Calliess/ Ruffert/Ruffert Art 298 AEUV Rn 4 ff; zum ganzen Komplex der Einrichtung „vertragsfremder Einrichtungen“ Streinz/Streinz Art 13 EUV Rn 32 ff. Werner Schroeder

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on ausdrücklich die „Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union“ angesprochen (vgl auch zum Rechtsschutz Rn 34). Eine spezielle Unionsbehörde ist das Amt für die Betrugsbekämpfung (OLAF), das auf der Grundlage von Art 325 AEUV durch Beschluss 1999/352 errichtet wurde. Die Zuständigkeiten der Union zur Bekämpfung von rechtswidrigen gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten Handlungen wurden durch die VO 883/201350 auf OLAF übertragen. Die Mitarbeiter des Amtes besitzen unmittelbare Kontroll- und Ermittlungsbefugnisse gegenüber Einrichtungen der Union, nationalen Stellen und privaten Wirtschaftsteilnehmern.51 Die Union kann durch Schaffung dezentraler Ämter, Behörden oder Agenturen nicht den rechtlichen Bindungen entgehen, die für die Durchführung von Unionsrecht durch die Organe selbst gelten. Das gilt insbesondere für den effektiven Rechtsschutz. Nach Art 263 I 2 AEUV können Anfechtungsklagen unmittelbar gegen Handlungen der Einrichtungen zu den Unionsgerichten gerichtet werden.52 Frühere Defizite beim Recht der Unionsbürger auf den Zugang zu Dokumenten der dezentralen Einrichtungen wurden durch Art 15 I AEUV beseitigt. Auch das Recht der Unionsbürger auf den Gebrauch der Amtssprachen der Union gilt nach Art 24 IV AEUV nicht nur vor deren Organen, sondern auch vor den Einrichtungen der Union.53 Zu den unionalen Einrichtungen gehören ferner die nach Art 291 AEUV eingerichteten Ausschüsse, die gemäß VO 182/2011 die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren.54 Sie ermöglichen es den Mitgliedstaaten, an der Durchführung von Unionsrecht durch die Kommission mitzuwirken und werden in diesem Werk an anderer Stelle näher behandelt.55 Im Gegensatz zu den vorbeschriebenen Ämtern und Agenturen der Union werden sie teilweise als unselbständige Unionseinrichtungen bezeichnet, weil sie durch einfachen Beschluss des einrichtenden Organs geschaffen werden können.56 Selbst wenn die Union durch ihre Einrichtungen Unionsrecht gegenüber den Mitgliedstaaten oder Einzelpersonen vollzieht, ist sie teilweise auf eine Mitwirkung nationaler Verwaltungsstellen angewiesen. Diese sind dazu aufgrund des Loyalitätsprinzips nach Art 4 III EUV bzw aufgrund spezieller primärrechtlicher (zB Ver-

_____ 50 ABl 2013 L 248/1. 51 Streinz/Satzger Art 325 AEUV Rn 29. 52 Vgl zur Rechtslage vor Lissabon EuG, Rs T-411/06 – Sogelma / EAR, Rn 35 ff; siehe hierzu Gundel EuR 2009, 383, sowie Saurer EuR 2010, 51. 53 EuGH, Rs C-361/01 P – Kik, Rn 81 ff zur Frage, ob die Sprachen des Harmonisierungsamts für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) auf die Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch beschränkt werden können. 54 ABl 2011 L 55/13. Sie wurden früher als „Komitologieausschüsse“ bezeichnet. 55 Vgl Magiera § 7 (in diesem Band) Rn 47 ff, 87 f. 56 Vgl vDanwitz Verwaltungsrecht S 318. Werner Schroeder

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pflichtung zur Amtshilfe im Kartellrecht nach Art 105 I 2 AEUV) oder sekundärrechtlicher Regelungen verpflichtet (vgl unten Rn 54 ff).

c) Handlungsformen 37 Grds können die Unionseinrichtungen im Rahmen der Eigenverwaltung normative

oder administrative Maßnahmen ergreifen, je nachdem, ob Maßnahmen mit allgemeiner Geltung oder Einzelfallcharakter zu treffen sind. Da der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung nach Art 5 I 1 und II EUV auch für Durchführungsmaßnahmen gilt, bedarf es hierfür in allen Fällen einer entsprechenden Befugnisnorm. Diese kann sich entweder aus den Verträgen oder aus Sekundärrecht ergeben. Für die zuerst genannten Maßnahmen normativer Art stehen aus dem Katalog des Art 288 AEUV die VO oder die RL oder der adressatenlose Beschluss zur Verfügung.57 Die Wahl zwischen den Rechtsakttypen obliegt, wie Art 296 I AEUV bestätigt, 38 den zuständigen Organen, die anhand der Umstände des Falles unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips nach Art 5 IV EUV entscheiden. An einen Adressaten gerichtete Beschlüsse (Art 288 IV AEUV) sind ein typisches Instrument, um Einzelfälle durch die Union zu entscheiden, und insoweit mit dem Verwaltungsakt nach deutschem Recht (§ 35 VwVfG) vergleichbar.58 Das Hauptanwendungsgebiet dieses Instruments findet sich im Wettbewerbsrecht der Union (Art 101 ff AEUV) und im Antidumpingrecht. VO werden in Form von DurchführungsVO nach Art 291 AEUV ebenfalls von der Kommission eingesetzt, um die ihr von EP und Rat bzw nur vom Rat übertragenen Aufgaben zu konkretisieren. Daneben wird Unionsrecht durch Unionseinrichtungen auch mittels unge39 kennzeichneter Rechtshandlungen durchgeführt, die nicht im Katalog des Art 288 AEUV erwähnt sind. Dazu zählt etwa das Instrument des Verwaltungsvertrages, der bei der Vergabe öffentlicher Aufträge durch die Unionsorgane, bei der Vergabe von Finanzhilfen oder im Bereich der Forschungsförderung eingesetzt wird.59 Andere informelle Durchführungshandlungen sind vor allem Mitteilungen, Leitlinien und Rahmen, Bekanntmachungen und Verhaltenskodizes der Kommission zur Auslegung des Unionsrechts, insbesondere im Bereich des Wettbewerbsrechts, wie zB die Bekanntmachung über die zur Beurteilung unrechtmäßiger Beihilfen anzuwendenden Regeln60 oder die Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten.61 Diese Akte

_____ 57 58 59 60 61

Vgl Magiera § 7 (in diesem Band) Rn 14 ff. vDanwitz Verwaltungsrecht S 372 f. Stelkens EuZW 2005, 299. ABl 2002 C 119/22. ABl 2004 C 244/02; verlängert nach ABl 2012 C 296/03. Werner Schroeder

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haben keine spezielle Rechtsgrundlage im Unionsrecht, beeinflussen jedoch als einheitliche Rechtsanwendungsregeln, die für die Tätigkeit der Kommission gelten, mittelbar das Verhalten von Mitgliedstaaten und von Wirtschaftsteilnehmern. Es handelt sich dabei um unverbindliche Rechtshandlungen, die jedoch im Bereich der Ermessensausübung zu einer Selbstbindung der Kommission führen und Vertrauensschutz begründen können.62

d) Unionsrechtliche Vorgaben für die Durchführung Für die Durchführung von Unionsrecht auf Unionsebene gilt das Unionsrecht, sowohl in materiell- als auch verfahrensrechtlicher Hinsicht. Dabei ist zwischen Vorschriften allgemeiner und spezieller Art zu unterscheiden. Einige Spezialregelungen zur Durchführung des Unionsrechts durch die Unionseinrichtungen selbst finden sich verstreut im Primärrecht, zB für die Durchführung des Wettbewerbsrechts in Art 105 und 108 AEUV. Weitere spezielle Verfahrensvorschriften für bestimmte Sachbereiche sind im Sekundärrecht verankert, so zB in der VO 1/200363 für das Kartellrecht, der VO 2015/158964 für das Beihilferecht und der VO 139/200465 für die Fusionskontrolle. Solche Vorschriften können spezielle Bestimmungen über Zuständigkeiten, Sanktionen, Ermittlungsbefugnisse und Auskunftsverlangen, rechtliches Gehör, Entscheidungsbefugnisse, Rücknahme und Widerruf von Durchführungsmaßnahmen, Nebenbestimmungen oder Fristen enthalten.66 Im Übrigen sind im AEUV gewisse Verpflichtungen der Unionseinrichtungen allgemeiner materiell- und verfahrensrechtlicher Natur verankert, etwa zur Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips (Art 5 IV EUV), zur Herstellung von Transparenz (Art 15 AEUV), zur Begründung (Art 296 AEUV), zur Bekanntgabe (Art 297 AEUV) und Regelungen über die Vollstreckung von Rechtsakten (Art 299 AEUV), die auch für Durchführungsmaßnahmen der Union gelten. Selbstverständlich haben die Einrichtungen der Union bei der unionseigenen Durchführung auch die Unionsgrundrechte zu beachten, was sich unmittelbar aus Art 51 I 1 GRCh ergibt. Hervorzuheben sind dabei die in Art 41 GRCh genannten Rechte.67 Dazu gehören insbesondere das Recht auf eine gerechte und unparteiische Behandlung innerhalb einer angemessenen Frist, das Recht auf Gehör, das Recht

_____ 62 Die Kommission darf daher ohne sachliche Begründung von den Mitteilungen nicht abweichen, so EuG, Rs T-304/08 – Smurfit, Rn 84. 63 ABl 2003 L 1/1. 64 ABl 2015 L 248/9. 65 ABl 2004 L 24/1. 66 Karpenstein Rn 246 ff; vDanwitz Verwaltungsrecht, S 378 ff. 67 Hierzu Streinz/Streinz Art 41 GRCh Rn 7 ff. Werner Schroeder

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auf Zugang zu einschlägigen Akten, auf die Begründung von Verwaltungsentscheidungen, auf Schadenersatz bei rechtswidriger Amtstätigkeit sowie auf Gebrauch einer Vertragssprache vor den Organen der Union. Weitere Rechte wurden 2001 vom Europäischen Bürgerbeauftragten in einem Kodex für eine gute Verwaltungspraxis zusammengefasst.68 Dieser Kodex stützt sich auf die Rechtsprechung des EuGH zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und wird in die geplante VO über ein Verwaltungsverfahrensrecht der Union einfließen (vgl Rn 113). Existieren für einen bestimmten Bereich keine speziellen verfahrensrechtlichen 44 Vorschriften, wird die entsprechende Regelungslücke durch Rückgriff auf allgemeine Rechtsgrundsätze gefüllt. Diese ungeschriebenen Prinzipien im Rang von Primärrecht69 werden vom EuGH aufgrund wertender Rechtsvergleichung gebildet, die sich an den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen und den internationalen Menschenrechtsverträge, die die Mitgliedstaaten abgeschlossen haben (wie zB die EMRK) orientiert. Zu den wichtigsten Prinzipien des Verfahrensrechts gehören die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, des Vertrauensschutzes, der Rechtssicherheit, der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung oder des rechtlichen Gehörs. Ein Teil der rechtsfortbildend vom EuGH geschaffenen Verfahrensgrundsätze findet sich in Art 41 GRCh (vgl Rn 43) wieder. Einige der vom Gerichtshof gefundenen allgemeinen Rechtsgrundsätze wurden auch in sekundärrechtlichen VO kodifiziert. Ein typisches Beispiel hierfür ist Art 7 IV BeihilfeVerfVO 2015/1589, der es der Kommission ermöglicht, die Genehmigung von Beihilfen mit „Bedingungen und Auflagen“ zu verbinden. Die Unionsgerichte hatten die Befugnis hierzu bereits früher als ein verhältnismäßiges Mittel zur Beanstandung einer Beihilfe aus Art 108 II 1 AEUV abgeleitet.70 Eine allgemeine VO über ein Verwaltungsverfahrensrecht der Union gibt es 45 (noch) nicht. Jedoch hat das EP die Kommission bereits 2013 aufgefordert, auf der Basis von Art 298 AEUV eine solche VO zu erlassen71 und dabei eine Reihe allgemeiner primärrechtlicher Prinzipien, die im AEUV enthalten oder von der Judikatur des EuGH entwickelt worden sind, wie zB die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns, der Nichtdiskriminierung, der Verhältnismäßigkeit und der Transparenz, zu kodifizieren. Aus Art 261 und 263 AEUV ergibt sich, dass die Unionsorgane bei der Durchfüh46 rung des Unionsrechts in bestimmten Fällen über Ermessens- und Gestaltungsspielräume verfügen, die nur eingeschränkt überprüfbar sind. Anders als das deutsche Verwaltungsrecht stellt das Unionsrecht jedoch weder eindeutig klar, wann die zuständigen Stellen der Union über solche Spielräume verfügen noch wie sie ihre

_____ 68 69 70 71

Dazu Stelkens ZEuS 2004, 129 (136 f). Vgl Magiera § 7 (in diesem Band) Rn 6; Niedobitek § 1 (in diesem Band) Rn 76 ff. EuGH, Rs C-355/95 P – TWD Deggendorf LS 2. Vgl Philipp EuZW 2013, 124. Werner Schroeder

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entsprechenden Befugnisse auszuüben haben (vgl § 40 VwVfG).72 Der deutsche Dualismus von vollständig nachprüfbarem Tatbestandsermessen (Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe) und nur beschränkt überprüfbarem Rechtsfolgeermessen (Ermessen im engeren Sinne) ist vielen EU-Mitgliedstaaten sowie dem Unionsrecht, das in Art 261 und 263 AEUV lediglich den Begriff des Ermessens verwendet, fremd.73Auch die Subsumtion unter einen unbestimmten Rechtsbegriff des Unionsrechts unterliegt daher der Beurteilung der Unionsorgane, die das Unionsrecht durchführen.74 Der Gerichtshof stellt bei der Überprüfung entsprechender Maßnahmen darauf ab, ob einem Unionsorgan durch den Vertrag ein administrativer Gestaltungs- oder Entscheidungsspielraum eingeräumt wird. Ob ein solcher Gestaltungsspielraum besteht, ist entweder explizit der betreffenden Norm zu entnehmen oder kann implizit aus der Normstruktur bzw den Umständen abgeleitet werden. Dabei sind verschiedene Gesichtspunkte zu berücksichtigen, wie zB der Charakter der Norm als weitem und unpräzise gefasstem Tatbestand mit offener Rechtsfolge sowie etwaige Eigenheiten der zu regelnden Materie. Entsprechende weite Ermessensspielräume hat die Rechtsprechung den Organen in den Bereichen des Agrarrechts, des Wettbewerbsrechts und der Handelspolitik zugestanden.

e) Rechtswidrige Durchführung Grds gilt für die Durchführungsmaßnahmen von Unionseinrichtungen eine Gültig- 47 keitsvermutung, weshalb auch Rechtshandlungen, die wegen Verstoß gegen Formvorschriften oder gegen sonstige Vorschriften rechtswidrig sind, zunächst Rechtswirksamkeit entfalten. Als nichtig und deshalb als inexistent werden aus Gründen der Rechtssicherheit lediglich Akte qualifiziert, die mit besonders schweren und offensichtlichen Fehlern behaftet sind.75 Aufgrund der Judikatur ist allerdings nicht geklärt, welche Fehler als so gravierend betrachtet werden, dass eine Nichtigkeit ipso iure eintritt. Selbst eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften, wie zB das Erfordernis der Begründung nach Art 296 II AEUV führt grds nur zur Rechtswidrigkeit, nicht zur Nichtigkeit (argumentum e contrario aus Art 263 II AEUV).76 Folglich sind auch Durchführungsmaßnahmen der Union, die gegen die be- 48 schriebenen Rechtsgrundsätze verstoßen, grds wirksam und können nur von den Unionsgerichten aufgrund einer Nichtigkeitsklage nach Art 263 AEUV (vgl Rn 125) für nichtig erklärt werden (vgl Art 264 I AEUV).

_____ 72 vDanwitz Verwaltungsrecht, S 366; Pache DVBl 1998, 380 (382). 73 Vgl EuGH, Rs 183/84 – Rheingold, Rn 23 f; hierzu Schwarze Verwaltungsrecht S 280 ff; Schroeder/Sild EuZW 2014, 12 (13). 74 EuGH, Rs 55/75 – Balkan-Import-Export, Rn 9. 75 EuGH Rs 15/85 – Consorzio Cooperative D’Abruzzo, Rn 10; Rs C-137/92 P – BASF, Rn 48 ff. 76 Vgl auch EuGH, Rs C-137/92 P – BASF, Rn 52. Werner Schroeder

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Der Gerichtshof respektiert jedoch die den Organen bei der Durchführung durch den Vertrag eingeräumten Ermessens- und Gestaltungsspielräume. Soweit er Entscheidungsspielräume der Kommission anerkennt, reduziert er seine inhaltliche Kontrolle in derartigen Bereichen auf eine reine Missbrauchskontrolle (vgl Rn 136). Ein Ermessensmissbrauch wird angenommen, wenn das Organ subjektiv ein anderes Ziel verfolgt als das von der Norm vorgesehene oder objektiv zweckwidrig gehandelt hat.77 Obgleich der Gerichtshof die Feststellung der der Entscheidung zugrundeliegenden Tatsachen und die Einhaltung von Verfahrensvorschriften, wie das Erfordernis der Anhörung oder die Begründungspflicht, überprüft,78 beschränkt er sich bei der Kontrolle der Anwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen oder der Ermessensanwendung auf eine Beanstandung offensichtlicher Rechtswidrigkeit.79 Im Übrigen sind auch Verfahrensfehler unbeachtlich, wenn sie formaler 50 Art sind und keinen Einfluss auf das Ergebnis der Maßnahme haben, weil keine andere Entscheidung denkbar gewesen wäre.80 Verfahrensfehler können nur bis zum Abschluss des Verfahrens vor der zuständigen Unionseinrichtung geheilt werden, dh im Verfahren vor den Unionsgerichten nicht mehr saniert werden.81 Eine rechtswidrige Durchführung von Unionsrecht durch die Einrichtungen der 51 Union kann gemäß Art 340 II AEUV Amtshaftungsansprüche von privaten Wirtschaftsteilnehmern nach sich ziehen.

f) Durchsetzung der Durchführung 52 Rechtshandlungen des Rates oder der Kommission (sowie der EZB), die der Durch-

führung von Unionsrecht dienen, sind nach Art 299 AEUV vollstreckbar, sofern diese privaten Wirtschaftsteilnehmern eine Zahlungspflicht auferlegen, zB nach Art 23 und 24 KartellVO 1/2003. Sonstige Rechtsakte, die sich auf die Durchsetzung einer Handlungs- oder Unterlassungspflicht richten, sind nicht vollstreckbar.82 Gegenüber Staaten, dh Mitgliedstaaten und Drittstaaten, ist im Hinblick auf deren Souveränität eine Vollstreckung nach dieser Vorschrift grds nicht möglich. Das Unionsrecht enthält keine eigenen Zwangsvollstreckungsvorschriften. Die Vollstreckung beurteilt sich daher gemäß Art 299 II 1 AEUV nach dem Zivilprozessrecht des Mitgliedstaates, in dessen Hoheitsgebiet sie stattfinden soll.83

_____ 77 Vgl Pache DVBl 1998, 380 (386). 78 Seit EuGH, Rs 6/54 – Niederlande / Hohe Behörde, Slg 1955, 215 (235 ff). 79 Siehe auch EuGH, Rs 55/75 – Balkan-Import-Export, Rn 8. 80 Vgl etwa EuGH, Rs 30/78 – Distillers, Rn 26; siehe Kokott AöR 121 (1996), 599 (625); das gilt nicht für eine Verletzung der Begründungspflicht. 81 EuGH, verb Rs C-204/00 P ua – Aalborg Portland, Rn 104; Kokott Die Verwaltung 31 (1998), 335 (367). 82 Siehe Streinz/Gellermann Art 299 AEUV Rn 6. 83 Zu den Details der Vollstreckung in Deutschland vgl Streinz/Gellermann Art 299 AEUV Rn 7 ff. Werner Schroeder

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3. Nationale Durchführung Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass ungeachtet der vieldiskutierten Frage der 53 Kompetenzverteilung aus praktischen Gründen – wegen des fehlenden Behördenunterbaus der Union – ein Großteil des Unionsrechts von den Mitgliedstaaten durchgeführt werden muss.84

a) Durchführungspflicht Der EuGH hat diesen Umstand in der Grundsatzentscheidung Deutsche Milchkontor 54 anerkannt und festgestellt, dass es „[i]m Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen, auf denen das institutionelle System der [Union] beruht, und die die Beziehungen zwischen der [Union] und den Mitgliedstaaten beherrschen, gemäß Art 5 EWGVertrag [Anm des Verfassers: jetzt Art 4 III UAbs 2 EUV] Sache der Mitgliedstaaten [ist], in ihrem Hoheitsgebiet für die Durchführung der [Unions]regelungen […] zu sorgen“.85 Diese Formulierung räumt den Mitgliedstaaten keine Grundsatzkompetenz zur 55 Durchführung von Unionsrecht ein. Vielmehr statuieren Art 4 III UAbs 2 EUV und Art 291 I AEUV lediglich eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Mitwirkung bei der Durchführung (str, vgl Rn 26), „soweit“ nicht das Unionsrecht etwas anderes vorsieht. Aufgrund der Loyalitätspflicht nach Art 4 III EUV und des Vorrangs des Uni- 56 onsrechts sind alle nationalen Instanzen (Legislative, Exekutive und Judikative) im Übrigen verpflichtet, bei der Durchführung von Unionsrecht mitzuwirken und dabei das Unionsrecht zu beachten.86 Das gilt für alle den Mitgliedstaaten zuzurechnenden Einrichtungen, dh Bund, Länder, Gemeinden sowie sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts, aber auch juristischen Personen des Privatrechts, die mit der Erfüllung staatlicher Aufgaben betraut sind und unter staatlicher Aufsicht stehen.87

b) Formen nationaler Durchführung Bei der nationalen Durchführung von Unionsrecht – teilweise als „indirekte Durch- 57 führung“ bezeichnet – wird allgemein zwischen einer unmittelbaren und mittelbaren Durchführung unterschieden. Mit unmittelbarer Durchführung ist die Vollzie-

_____ 84 Siehe EuGH, Rs 23/59 – Feram / Hohe Behörde, Slg 1959, 523 (537), wonach die nationalen Behörden „am ehesten in der Lage waren, die erforderlichen [Maßnahmen] vornehmen zu lassen“. 85 EuGH, verb Rs 205 bis 215/82 – Deutsche Milchkontor, Rn 17. 86 EuGH, Rs C-431/92 – Kommission / Deutschland, Rn 24 f; siehe Streinz/Streinz Art 4 EUV Rn 31 ff. 87 Vgl EuGH, Rs C-188/89 – Foster, Rn 20; Rs C-157/02 – Rieser, Rn 24. Werner Schroeder

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hung unmittelbar anwendbarem primären oder sekundären Unionsrechts durch nationale Behörden gemeint. Unter mittelbarer Durchführung versteht man üblicherweise die normative Umsetzung von Unionsrecht – insbesondere von RL – durch den nationalen Gesetzgeber sowie die Vollziehung dieser nationalen Umsetzungsnormen durch nationale Behörden. In dem zuletzt genannten Fall wird zwar formal nationales Recht durchgeführt, das jedoch inhaltlich durch Unionsrecht determiniert wird und dem Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung unterliegt.88

c) Institutionelle Autonomie der Mitgliedstaaten 58 Der Gerichtshof gesteht den Mitgliedstaaten bei der Erfüllung ihrer Verpflichtung

zur Durchführung von Unionsrecht das Recht zu, „nach den formellen und materiellen Bestimmungen ihres nationalen Rechts“ vorzugehen. Das gilt jedoch nur, „soweit das [Unions]recht […] hierfür keine gemeinsamen Vorschriften enthält“.89 Diese Judikatur gesteht den Mitgliedstaaten eine gewisse Autonomie bei der Durchführung von Unionsrecht zu. Sie kann aber nicht in dem Sinne verstanden werden, dass den Mitgliedstaaten ein bestimmter Bereich reserviert worden ist,90 da sie doch deren Befugnisse unter den Vorbehalt stellt, dass das Unionsrecht keine eigenen Vorschriften für die Durchführung aufstellt.

aa) Begriffliche Klärung 59 Diese Autonomie wurde in der Literatur als „Verfahrensautonomie der Mitglied-

staaten“ oder „nationale Verfahrensautonomie“ bezeichnet.91 Mittlerweile misst auch der Gerichtshof diesem Begriff einen gewissen Stellenwert bei.92 In einem Urteil hat er – ohne den Grundsatz der Verfahrensautonomie ausdrücklich zu erwähnen – festgestellt, dass „ein Mitgliedstaat, der [zur Durchführung des Unionsrechts] verpflichtet ist, frei [ist] in der Wahl der Mittel, mit denen er dieser Verpflichtung

_____ 88 Terhechte/S Augsberg S 216 f. 89 EuGH, verb Rs 205 bis 215/82 – Deutsche Milchkontor, Rn 17; siehe auch Rs C-336/00 – Huber, Rn 61. 90 Krönke S 19. 91 Vgl vor allem vDanwitz Verwaltungsrecht S 302 f; ders DVBl 1998, 421 (430 ff); Krönke S 2 ff; Überblick bei Streinz/Streinz Art 4 EUV Rn 56; ablehnend Kakouris CMLRev 34 (1997), 1389 (1405); Schroeder AöR 129 (2004), 3 (22 f). 92 Vgl etwa EuGH, Rs C-94/10 – Danfoss, Rn 25; Rs C 40/08 – Asturcom, Rn 38; Rs C-2/08 – Fallimento Olimpiclub, Rn 24; zuletzt Rs C-93/12 – ET Agroconsulting, Rn 35. Ursprünglich zitierte er lediglich den entsprechenden Vortrag der Mitgliedstaaten, so in EuGH, verb Rs C-392/04 und C422/04 – i-21 Germany ua, Rn 57. Werner Schroeder

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nachkommt, vorausgesetzt, die gewählten Mittel beeinträchtigen nicht die Geltung und die Wirksamkeit des [Unions]rechts“.93 Indessen greift der Begriff der „Verfahrensautonomie“ der Mitgliedstaaten in 60 mehrfacher Hinsicht zu kurz. Von der genannten Wahlfreiheit der Mitgliedstaaten bei der Vollziehung von Unionsrecht sind nicht nur formelle verfahrensrechtliche Regelungen des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts umfasst, sondern auch materielle verfahrensrechtliche Grundsätze sowie organisationsrechtliche Vorgaben (vgl Rn 20).94 Tatsächlich besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Organisation und dem Verfahren, denn die erstere bildet eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass zusammen mit dem Verfahrensrecht eine geordnete Durchführung des Unionsrechts erfolgen kann.95 Zu der bereits genannten Wahlfreiheit der Mitgliedstaaten gehört prinzipiell 61 auch die Befugnis, sich zwischen hoheitlichen und privatrechtlichen Instrumenten der Durchführung zu entscheiden.96 Aus diesem Grund erscheint es sinnvoller, von einer „Verwaltungsautonomie“ oder „institutionellen Autonomie“ der Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Unionsrecht auszugehen.97

bb) Fehlen von Durchführungsvorschriften der Union Der beschriebene Grundsatz der Autonomie der Mitgliedstaaten unterliegt jedoch 62 erheblichen Einschränkungen98 – weshalb es problematisch ist, insoweit überhaupt von einer Autonomie zu sprechen. Die entsprechenden nationalen Befugnisse reichen nur soweit, wie keine eigenen Organisations- und Verfahrensregelungen der Union für einen bestimmten Sachbereich existieren. Nur „[s]oweit das [Unions]recht einschließlich der allgemeinen [unions]rechtlichen Grundsätze hierfür keine gemeinsamen Vorschriften enthält, gehen die Behörden bei dieser Durchführung der [Unions]regelungen nach den formellen und materiellen Bestimmungen ihres materiellen Rechts vor”.99 Das nationale Organisations- und Verfahrensrecht kommt

_____ 93 EuGH, Rs C-369/07 – Kommission / Griechenland, Rn 68. 94 AllgM, vgl auch vDanwitz Verwaltungsrecht S 302. 95 Terhechte/S Augsberg S 211; siehe EuGH, verb Rs 205 bis 215/82 – Deutsche Milchkontor, Rn 17; auch Rs 33/76 – Rewe, Rn 5; hierzu bereits Schweitzer Die Verwaltung 17 (1984), 137 (148 f); speziell zur Organisation Kahl Die Verwaltung 29 (1996), 341 (345 f). 96 EuGH, Rs C-336/00 – Österreich / Huber, Rn 61 ff. 97 Krönke S 15; Schwarze NVwZ 2000, 241 (244); vDanwitz Verwaltungsrecht, S 302 f; Karpenstein Rn 263. 98 EuGH, Rs C-234/04 – Kapferer, Rn 22 spricht ausdrücklich von den „Schranken der verfahrensrechtlichen Befugnisse der Mitgliedstaaten“. 99 EuGH, verb Rs 205 bis 215/82 – Deutsche Milchkontor, Rn 17; vorher auch Rs 33/76 – Rewe, Rn 5; hierzu bereits Schweitzer Die Verwaltung 17 (1984), 137 (148 f). Werner Schroeder

614 | § 8 Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz

deshalb auch bei der Durchführung von Unionsrecht nur subsidiär zur Anwendung. Nachdem die Union jedoch weitreichende Regelungsbefugnisse besitzt und sich 63 diese nicht auf die sachpolitischen Aspekte des betreffenden Politikbereichs beschränken, sondern auch organisations- und verfahrensrechtliche Angelegenheiten einschließen, können entsprechende spezielle sekundärrechtliche Vorschriften der Union den Spielraum der Mitgliedstaaten zur Durchführung erheblich einengen.100 Sofern keine spezielle sekundärrechtliche Unionsvorschrift existiert, die eine 64 organisations- oder verfahrensrechtliche Regelung trifft, wird die nationale institutionelle Autonomie jedoch auch durch ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze der Union (vgl Rn 44) eingeengt, die für diesen Bereich eine abweichende Regelung treffen. So können die Grundsätze des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, der Verhältnismäßigkeit, der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes sowie klassische grundrechtliche Verfahrensgarantien, wie zB das Recht auf Gehör oder der Grundsatz ne bis in idem aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts die nationale Organisations- oder Verfahrensregelung verdrängen. Allerdings wird der Konflikt zwischen den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts und nationalem Verfahrens- oder Organisationsrecht bei der Durchführung nur relevant, wenn die entsprechenden nationalen Rechtsgarantien hinter denen des Unionsrechts zurückbleiben. Solche Fälle sind allerdings in der Praxis selten. Gehen die nationalen Verfahrensgarantien hingegen über die Tragweite der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts hinaus, können sie mit dem unionsrechtlichen Effektivitätsprinzip kollidieren (vgl unten Rn 68).

cc) Vorbehalt der Äquivalenz und der Effektivität 65 Nur wenn ein bestimmter Sachbereich, der nationalen Stellen zu Durchführung an-

vertraut ist, weder durch eine spezielle Organisations- und Verfahrensvorschrift der Union noch durch einen ungeschriebenen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts geregelt wird, unterliegt dieser den nationalen Organisations- und Verwaltungsvorschriften. Selbst in diesem Fall gilt die nationale Autonomie jedoch nicht uneingeschränkt. Vielmehr müssen die nationalen Durchführungsmodalitäten mit dem Anspruch des Unionsrechts auf einheitliche Wirksamkeit in Einklang gebracht werden. Dahinter verbergen sich sowohl die Forderung nach einer gleichmäßigen Anwendung unionsrechtlicher Normen durch die Mitgliedstaaten, als auch das Gebot der praktisch wirksamen, dh im Hinblick auf die Verwirklichung der gesteckten Normziele effektiven Anwendung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten.101

_____ 100 Beispiele bei vDanwitz Verwaltungsrecht, S 495 ff; Terhechte/S Augsberg S 223 f. 101 Schroeder S 426 ff; Krönke S 185 ff. Werner Schroeder

III. Durchführung | 615

Beide Aspekte der Wirksamkeit des Unionsrechts können bei einer Durchführung durch die Mitgliedstaaten aufgrund verfahrensrechtlicher Modalitäten des nationalen Rechts gefährdet sein. Im Urteil Deutsche Milchkontor stellt der Gerichtshof die den Mitgliedstaaten gewährte Befugnis deshalb unter den Vorbehalt, dass nationale Verfahrensregeln, „mit den Erfordernissen der einheitlichen Anwendung des [Unions]rechts in Einklang gebracht werden [müssen], weil dies notwendig ist, um zu vermeiden, daß die Wirtschaftsteilnehmer ungleich behandelt werden“.102 Der Gerichtshof hat in der Folgezeit den Handlungsspielraum für nationale 66 Durchführungsmaßnahmen durch zwei Bedingungen eingeengt, die zu einer faktischen Europäisierung des nationalen Verwaltungsrechts geführt haben.103 Erstens müssen nationale Einrichtungen bei der Durchführung von Unionsrecht 67 gewährleisten, dass dabei verwendete Organisationstrukturen und Verfahren die Gleichen sind, wie diejenigen, die bei der Entscheidung über gleichartiges innerstaatliches Recht zur Anwendung gelangen. Die Modalitäten der Durchführung von Unionsrecht dürfen nicht ungünstiger sein als diejenigen, die für gleichartige Sachverhalte innerstaatlicher Art gelten.104 Während dies früher mit dem unpassenden Begriff Diskriminierungsverbot belegt wurde,105 hat der Gerichtshof später durch den Terminus Äquivalenzgrundsatz klargestellt, dass es auf eine inhaltliche Gleichbehandlung von zwei verschiedenen Sachverhalten ankommt.106 Ein Verstoß gegen dieses Prinzip kommt zB in Betracht, wenn für Klagen zur Durchsetzung unionsrechtlicher Rechte zusätzliche Kosten oder längere Fristen gelten als für Klagen, die Ansprüche nach innerstaatlichem Recht durchsetzen sollen.107 Zweitens dürfen nationale Verfahren die Ausübung der durch die Unions- 68 rechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren, denn aufgrund des Effektivitätsgrundsatzes müssen die Mitgliedstaaten die praktische Wirksamkeit der Unionsregelung gewährleisten. 108 Rechtsstaatliche Regeln der Mitgliedstaaten, die bei der Durchführung von Unionsrecht aufgrund der nationalen Verfahrensautonomie zur Anwendung kommen, wie zB Ausprägungen des Vertrauensschutzes in den Regeln über die Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte109, über die Rechts- und Bestandskraft von Urteilen,

_____ 102 EuGH, verb Rs 205 bis 215/82 – Deutsche Milchkontor, Rn 17; siehe bereits Rs 33/76 – Rewe, Rn 5. 103 Begriff bei Terhechte/Terhechte S 57. 104 EuGH, Rs C-201/02 – Delena Wells, Rn 7. 105 Vgl vDanwitz System S 345 f; auch in EuGH, Rs 54/81 – Fromme / BALM, Rn 7 war noch davon die Rede, dass bei Durchführungsmaßnahmen dem „Grundsatz der Nichtdiskriminierung“ Rechnung getragen werden müsse. 106 Seit EuGH, Rs C-231/96 – Edis, Rn 34. 107 EuGH, Rs C-78/98 – Preston, Rn 60. 108 EuGH, Rs C-231/96 – Edis, Rn 34. 109 Siehe EuGH, Rs C-24/95 – Alcan, Rn 24 ff. Werner Schroeder

616 | § 8 Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz

Präklusionsvorschriften110 oder Verwaltungsakten111 oder die Grundsätze über vorläufigen Rechtsschutz, soweit es um die Durchsetzung unionsrechtlich begründeter Rechtspositionen112 bzw Pflichten113 geht, dürfen nicht dazu führen, dass die Verwirklichung des Unionsrechts und der damit verbundenen Rechte übermäßig erschwert werden. Der Gerichtshof prüft dies in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung der Bedeutung der betreffenden Vorschrift, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Falles.114 Er wägt dabei ab, (1) inwieweit die Anwendung der nationalen Verfahrensvorschrift die Durchführung des Unionsrechts oder die Geltendmachung individueller Unionsrechte erschwert, (2) konkrete Unionsinteressen betroffen sind und (3) die betreffende nationale Vorschrift möglicherweise Ausprägung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes des Unionsrechts ist. Nur wenn letzteres der Fall ist, wird der Effektivitätsanspruch des (vorrangigen) Unionsrechts relativiert. Dann kann eine nationale Verfahrensvorschrift, obwohl sie die effektive Durchführung des Unionsrechts behindert, im Einzelfall unionsrechtskonform sein.115

d) Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten bei der Durchführung 69 Entwickelt wurden die europäischen Grundrechte116 primär, um den Einzelnen vor

der Hoheitsgewalt der Unionsorgane zu schützen. Aus Art 6 I iVm Art 1 III EUV und Art 51 I GRCh ergibt sich die Bindung der Organe und sonstigen Einrichtungen der Union an die GRCh. Überdies ist es erforderlich, die Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte zu binden, wenn diese für die Union handeln, wie nunmehr Art 51 I GRCh ebenfalls feststellt. Andernfalls entstünde ein Grundrechtsvakuum, weil in diesem Fall ihr Handeln durch Unionsrecht determiniert ist und nationale Grundrechte aufgrund des Vorrangs verdrängt werden. Sofern nationale Einrichtungen

_____ 110 Vgl EuGH, verb Rs C-392/04 und C-422/04 – i-21 Germany ua, Rn 60: einmonatige Anfechtungsfrist für Verwaltungsakte angemessen; Rs C-188/95 – Fantask, Rn 47 f: dreijährige Verjährungsfrist für Erstattung unionsrechtswidrig erhobener Abgaben angemessen; siehe aber Rs C312/93 – Peterbroek, Rn 14 ff, wonach an sich unbedenkliche Ausschlussfristen aufgrund besonderer Umstände des Rechtsschutzsystems gegen das Effektivitätsprinzip verstoßen können. 111 EuGH, Rs C-453/00 – Kühne und Heitz, Rn 24; konkretisiert durch Rs C-2/06 – Kempter, Rn 38 ff; Rs C-249/11 – Byankov, Rn 75 in Bezug auf Verwaltungsentscheidung; Rs C-234/04 – Kapferer, Rn 19 ff in Bezug auf Gerichtsurteile. 112 EuGH, Rs C-213/89 – Factortame, Rn 20 ff. 113 EuGH, verb Rs C-143/88 und C-292/89 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen, Rn 14 ff. 114 Vgl EuGH, Rs C-327/00 – Santex, Rn 56 f; Rs C-249/11 – Byankov, Rn 75 ff. 115 Vgl zB EuGH, Rs C-455/06 – Heemskerk, Rn 45 ff – zum Verbot der reformatio in peius im gerichtlichen Verfahren oder Rs C-228/96 – April, Rn 47 ff zu dreijährigen Ausschlussfristen für die Erstattung von unionswidrig erhobenen Abgaben. 116 Hierzu Kugelmann § 4 (in diesem Band). Werner Schroeder

III. Durchführung | 617

Unionsrecht durchführen, entweder mittelbar durch Umsetzung von RL117 oder unmittelbar durch Vollziehung von VO oder Beschlüssen,118 müssen sie daher die GRCh einhalten.119 Die Frage der Grundrechtsbindung der nationalen Instanzen ist besonders 70 komplex, wenn diese bei der Durchführung von Unionsrecht einen Ermessensspielraum besitzen, den sie unter Berücksichtigung der Unionsgrundrechte unionsrechtskonform auszuüben haben.120 Das BVerfG geht in solchen Fällen von einer doppelten Grundrechtsbindung aus, dh von einer ergänzenden Verpflichtung nationaler Einrichtungen zur grundrechtskonformen Auslegung anhand des GG bei der Durchführung von Unionsrecht, sofern diesen ein Spielraum zusteht.121 Nach der Rechtsprechung des EuGH hingegen kann sich ein Betroffener gegenüber nationalen Einrichtungen in einer solchen Situation wegen Art 53 GRCh auf nationale Grundrechte, die einen höheren Schutzstandard gewähren, nur berufen, wenn (1) das Handeln der nationalen Einrichtungen in dieser Situation nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt wird und (2) hierdurch weder das Schutzniveau der Unionsgrundrechte noch Vorrang, Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden.122 Letzteres ist allerdings der Fall, wenn ein höherer nationaler Grundrechtsschutz von einer Norm des Sekundärrechts der Union abweicht.123

e) Durchführung im Bundesstaat Das Unionsrecht lässt offen, welche Ebene innerstaatlich für die Durchführung zu- 71 ständig ist, sondern interessiert sich lediglich dafür, dass der betreffende Mitgliedstaat gemäß Art 4 III EUV das Unionsrecht im Ergebnis richtig und effektiv durchführt. Bundesstaaten müssen dabei die innerstaatliche Kompetenzverteilung beachten, denn diese wird durch das Unionsrecht nicht berührt. Wird unmittelbar anwendbares Unionsrecht in Deutschland durchgeführt, so sind nach Art 83 iVm

_____ 117 Vgl EuGH, Rs C-101/01 – Lindqvist, Rn 84 ff. 118 EuGH, Rs 5/88 – Wachauf, Rn 19 zur Vollziehung einer VO durch nationale Behörden; verb Rs 46/87 und 227/88 – Hoechst, Rn 33 zur Unterstützung der Durchsuchung von Geschäftsräumen seitens der Kommission durch nationale Vollzugsbeamte. 119 Nach EuGH, Rs C-617/10 – Åkerberg Fransson, Rn 19 ff sind die Unionsgrundrechte über den Wortlaut des Art 51 I GRCh hinaus auch auf nationale Maßnahmen anwendbar, die nicht nur in Durchführung des Unionsrechts, jedoch im Anwendungsbereich des Unionsrechts ergriffen werden. 120 Besitzen die nationalen Stellen keinen Ermessensspielraum, ist die von ihnen durchgeführte Rechtshandlung der Unionsorgane von den Unionsgerichten zu überprüfen, vgl Ehlers/Ehlers S 468. 121 BVerfG, 2 BvR 2689/94 und 52/95, EuZW 1995, 126 (127) – T Port, zu einer Härtefallregelung in der BananenmarktVO 404/93; siehe auch BVerfG, 2 BvR 2236/04, BVerfGE 113, 273 (300) – Darkazanli. 122 EuGH, Rs C-617/10 – Åkerberg Fransson, Rn 29 bzw Rs C-399/11 – Melloni, Rn 60. 123 EuGH, Rs C-399/11 – Melloni, Rn 61 ff; Weiß EuZW 2013, 287 (290). Werner Schroeder

618 | § 8 Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz

Art 30 GG grds die Landesbehörden für den Vollzug zuständig.124 Der Bund hat bzgl der Durchführung von Unionsrecht teilweise von seinem Recht zur Schaffung selbständiger Bundesoberbehörden bzw bundesunmittelbarer Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts nach Art 87 III GG Gebrauch gemacht.125 Wird Unionsrecht mittelbar durch den nationalen Gesetzgeber durchgeführt, dh umgesetzt, gilt ebenfalls die Kompetenzverteilung, die zum Tragen käme, wenn die betreffende Zuständigkeit nicht an die Union übertragen worden wäre. Auch hier ist nach Art 70 GG grds der Landesgesetzgeber zuständig, wobei jedoch je nach umzusetzender Materie nach Art 72 ff GG ebenfalls der Bundesgesetzgeber zuständig sein kann. Erlässt die Union nun bspw auf dem Gebiet des Umweltrechts (Art 191 ff AEUV) eine VO, erfolgt deren Vollziehung in Deutschland nach Art 83 GG als eigene Angelegenheit der Länder.126 Aus der „Landesblindheit“ des Unionsrechts folgt, dass sich ein Mitgliedstaat, 72 der Unionsrecht unzureichend durchführt, im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art 258 AEUV (vgl Rn 117 ff) nicht damit rechtfertigen kann, innerstaatlich sei aus verfassungsrechtlichen Gründen ein Bundesland oder eine Region für die Vollzugsdefizite verantwortlich.127 Abgesehen von dem aus Art 4 III EUV fließenden Gebot zur Loyalität kann sich der Mitgliedstaat wegen des Vorrangs des Unionsrechts nicht auf seine verfassungsrechtlichen Vorschriften über die interne Kompetenzverteilung berufen, denn diese sind im Kollisionsfall unanwendbar. Damit die juristische Zwangslage, in der sich Deutschland als Bundesstaat in 73 einer solchen Situation befindet, beseitigt werden kann, besteht eine Verpflichtung der zuständigen Bundesländer gegenüber dem Bund zur ordnungsgemäßen Vollziehung aus Gründen der Bundestreue iVm der Ausstrahlungswirkung des Art 23 I GG (unionsfreundliches Verhalten), die mit den Mitteln des Bundeszwangs nach Art 37 GG durchgesetzt werden kann. Indessen existiert in Deutschland kein verfassungsrechtliches Instrument der Ersatzvornahme durch den Bund. Nach Art 104a VI GG sind Bund und Länder lediglich verpflichtet, sich die aus einer Verletzung unionsrechtlicher Verpflichtungen ergebenden Lasten nach dem Verursacherprinzip zu teilen.128

_____ 124 Art 83 GG gilt allenfalls analog, da es hier nicht um den Vollzug von Bundesrecht, sondern um Unionsrecht geht, Streinz Rn 581. Jedoch ergibt sich aus Art 30 GG, der auch für den Vollzug von Unionsrecht gilt, dass die Erfüllung staatlicher Aufgaben grds Sache der Länder ist, BVerwG, 3 A 1.95, BVerwGE 102, 119 (125). 125 Vgl etwa die auf dieser Grundlage geschaffene Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE), die für den Vollzug der Gemeinsamen Agrarpolitik der Union in Deutschland zuständig ist. 126 Vgl Giegerich/Schroeder S 197 (214 ff). 127 Vgl EuGH, Rs C-417/99 – Kommission / Spanien, Rn 37. 128 Vgl näher Streinz Rn 541. Werner Schroeder

III. Durchführung | 619

f) Überwachung der nationalen Durchführung durch die Kommission Die Union überwacht die Durchführung mit verschiedenen rechtlichen Instrumen- 74 ten. So ist primär die Kommission nach Art 17 I 2 und 3 EUV dafür zuständig, dass die Mitgliedstaaten das Unionsrecht nach Art 4 III EUV richtig und effektiv durchführen. Das wichtigste Instrument, um dies durchzusetzen, ist die Vertragsverletzungs- oder Aufsichtsklage, die die Kommission nach einem abgeschlossenen Vorverfahren gegen den Mitgliedstaat nach Art 258 AEUV beim EuGH erheben „kann“. Dieses Instrument steht nach Art 259 AEUV ebenso anderen Mitgliedstaaten zur Verfügung. Das Vertragsverletzungsverfahren (vgl Rn 117 ff) ist jedoch kein klassisches Aufsichtsverfahren, weil damit nicht die Aufhebung und Ersetzung der Durchführungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten erreicht werden kann. Daneben verfügt die Kommission über eine ganze Reihe formaler und formloser 75 Instrumente, um die effektive Durchführung durch die Mitgliedstaaten zu sichern. Dazu gehören Kontroll-, Beanstandungs-, Weisungs- oder Selbsteintrittsrechte, die sich für spezielle Politikbereiche konkret aus den Verträgen oder meist aus dem Sekundärrecht ergeben.129 Ob eine allgemeine Rechtsaufsicht der Kommission über die Mitgliedstaaten aus Art 17 I 2 und 3 EUV abgeleitet werden kann, ist str (vgl Rn 83).130 Immerhin wird die Kommission jederzeit Auskünfte von den Mitgliedstaaten über die Durchführung von Unionsrecht verlangen können, was sich zwar nicht aus Art 337 AEUV, aber aus Art 4 III iVm Art 17 I 2 und 3 EUV ergibt.131 Außerdem darf sie gegenüber nationalen Stellen jederzeit ihre (unverbindliche) Rechtsmeinung äußern,132 was in der Praxis durchaus Handlungsdruck erzeugt.

4. Verwaltungskooperation und Verwaltungsverbund a) Begriff Seit einiger Zeit zeigt sich, dass die klassische Trennung zwischen der nationalen 76 und der Unionsebene bei der Durchführung von Unionsrecht der vielfältigen horizontalen und vertikalen Verflechtungen zwischen Union und Mitgliedstaaten nicht mehr gerecht wird.133 So gibt es zahlreiche Fälle, in denen die Durchführung

_____ 129 Terhechte/S Augsberg S 241 f. 130 Vgl vDanwitz Verwaltungsrecht S 634, der nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung für jeden Eingriff der Kommission in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten eine spezielle Rechtsgrundlage fordert; ebenso Winter EuR 2005, 255 (260); aA Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Magiera S 526. 131 Art 337 AEUV ist nicht unmittelbar anwendbar und die darin vorgesehene sekundärrechtliche Ermächtigung der Kommission existiert noch nicht. Es ist str, ob ein Auskunftsrecht der Union aus Art 4 III EUV folgt, vgl Streinz/Hermann Art 337 AEUV Rn 1. 132 Siehe EuG, Rs T-54/96 – Oleifici Italia/Kommission, Rn 50 ff. 133 Siehe Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold passim; Sydow passim; Ruffert Die Verwaltung 36 (2003), 293 (309); Sydow DÖV 2006, 66; vDanwitz Verwaltungsrecht S 609 ff; Terhechte/S Augsberg S 242 ff. Werner Schroeder

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nicht einem Rechtsträger in alleiniger Verantwortung zugewiesen ist. Häufig wirken unionale und nationale Stellen bei der Durchführung von Unionsrecht zusammen, was als europäischer Verwaltungsverbund, europäische Verwaltungskooperation, teilweise auch als Mehrebenenverwaltung oder Mischverwaltung bezeichnet wird (vgl Rn 13).134 Anders als unter dem GG sind solche Formen der Mischverwaltung im Unionsrecht nicht verboten. Diese Kooperationsformen überlagern die früher wirkmächtige Unterscheidung zwischen unionaler und nationaler, zentraler und dezentraler Durchführung (vgl dazu unten Rn 77).135 Sie werfen zudem die Frage nach der Verantwortungszuweisung und Haftung für die rechtswidrige Durchführung auf. Mit Hilfe dieser Formen von Verbund-, Kooperations- und Mischverwaltung ver77 folgt die Union das Ziel, die von den Mitgliedstaaten verantwortete Durchführung von Unionsrecht besser zu steuern. Da sich aufgrund der Verträge die allgemeinen Einwirkungsmöglichkeiten der Kommission auf die Mitgliedstaaten auf ein Auskunftsrecht sowie das Aufsichtsverfahren nach Art 258 AEUV beschränken (vgl Rn 117 ff), soll eine Vielzahl spezieller primär- und sekundärrechtlicher Kooperationspflichten zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten bzw nationalen Einrichtungen sicherstellen, dass jene das Unionsrecht korrekt, einheitlich und effektiv durchführen. Die Kooperation kann unterschiedlich intensiv ausgestaltet sein.

b) Rechtliche Grundlagen 78 Die allgemeine Rechtsgrundlage für eine Kooperation zwischen Union und Mit-

gliedstaaten bei der Durchführung von Unionsrecht findet sich im Loyalitätsgebot des Art 4 III EUV.136 Nach dieser Vorschrift müssen die nationalen Stellen mit den Einrichtungen der Union vertrauensvoll und eng kooperieren, insbesondere, wenn sie auf Probleme bei der Durchführung von Unionsrecht stoßen. Sie sind dann verpflichtet, die Unionseinrichtungen unverzüglich darüber zu informieren. Umgekehrt gilt das Gleiche.137 Nach dem Vertrag von Lissabon wurde die Verpflichtung zur Verwaltungszusammenarbeit zwischen Union und Mitgliedstaaten zusätzlich ausdrücklich in Art 197 AEUV verankert. Diese Vorschrift verleiht der Union auch die Befugnis, Unterstützungsmaßnahmen zur verbesserten Durchführung von Unionsrecht durch die Mitgliedstaaten zu erlassen, allerdings unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung nationaler Rechtsvorschriften.138 Da Art 197 III AEUV jedoch

_____ 134 135 136 137 138

Vgl Terhechte/S Augsberg S 243; vDanwitz Verwaltungsrecht S 630. Vgl vDanwitz Verwaltungsrecht S 609 ff; Terhechte/vArnauld S 94 ff; Krönke S 33 ff. vDanwitz Verwaltungsrecht S 331; Sydow S 22. EuGH, Rs C-217/88 – Tafelwein, Rn 33; Rs C-2/88 Imm – Zwartfeld, Rn 17 f. Vgl Streinz/Ohler Art 197 AEUV Rn 8 ff. Werner Schroeder

III. Durchführung | 621

anderweitige Befugnisse der Union, Kooperationspflichten festzulegen, unberührt lässt, können diese in einzelnen Politikbereichen festgelegt werden. So existieren in verschiedenen Politikbereichen spezielle primärrechtliche 79 Verpflichtungen zur Kooperation zwischen nationalen Behörden und Kommission, wie etwa aufgrund von Art 105 I 2 AEUV im Kartellrecht oder von Art 108 AEUV im Beihilferecht. In anderen Bereichen gestattet der Vertrag dem Unionsgesetzgeber, solche Kooperationspflichten durch Sekundärrecht festzulegen, zB nach Art 33 AEUV im Zollwesen. Meist werden in VO oder RL festgelegte Details zur Zusammenarbeit zwischen nationalen und Unionseinrichtungen bei der Durchführung von Unionsrecht jedoch einfach auf den allgemeinen Kompetenztitel des betreffenden Politikbereichs gestützt, so zB für das Wettbewerbsrecht auf die Art 103, 106 III und Art 109 AEUV139 oder etwa auf Art 43 AEUV.140

c) Erscheinungsformen Die beiden Entscheidungsebenen – Union und Mitgliedstaaten – sind institutionell 80 auf vielfältige Weise verflochten. Auch ohne besondere Einwirkungs- oder Kooperationspflichten ist es durch das Unionsrecht möglich, in zweistufigen Entscheidungsverfahren die Entscheidung der nationalen Behörden unionsrechtlich zu determinieren, zB weil diese an die Entscheidungen der Kommission rechtlich gebunden sind. Die Kommission und nationalen Behörden sind zur gegenseitigen Information 81 über Durchführungsmaßnahmen verpflichtet.141 Das gilt primärrechtlich – abgesehen von der allgemeinen Informationspflicht aufgrund des Loyalitätsgebots nach Art 4 III EUV – insbesondere im Beihilferecht, wo Art 108 III 1 AEUV eine besondere Notifizierungspflicht für die Gewährung von Beihilfen statuiert. Im Übrigen aber gibt es zahllose spezielle Informationspflichten aufgrund von Sekundärrecht, die auf der Grundlage von politikspezifischen Sachkompetenzen der Union erlassen werden, so etwa nach Art 12 KartellVO 1/2003 über die gegenseitigen Pflichten von Kommission und nationalen Kartellbehörden zur Verfügungstellung vertraulicher Informationen. Die Kommission versucht außerdem, durch einen formlosen Austausch von Informationen die Durchführungsdisziplin zu verbessern.142 Darüber hinaus gibt es weitergehende Verpflichtungen von Kommission und 82 nationalen Einrichtungen sowie nationalen Stellen untereinander zur Amts- oder Vollzugshilfe im Anwendungsbereich des Unionsrechts. Auch insoweit stellt sich

_____ 139 Siehe die KartellVO 1/2003, ABl 2003 L 1/1 sowie die BeihilfeVerfVO 2015/1589, ABl 2015 L 248/9. 140 Vgl Sydow S 43 mit weiteren Beispielen. 141 Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Magiera S 520 mwN. 142 Mitteilung der Kommission, KOM(2007) 502, Ziff III. Werner Schroeder

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die Frage, ob eine solche Hilfsverpflichtung schon durch das allgemeine Loyalitätsgebot nach Art 4 III EUV vorgeprägt ist. Im Sekundärrecht finden sich jedoch zahlreiche spezielle Ausprägungen dieser Verpflichtung,143 insbesondere im Wettbewerbsrecht aufgrund Art 11 und 12 der KartellVO 1/2003, im Zollrecht, im Steuerrecht und im Agrarrecht. Gefordert wird darin etwa die Übermittlung von Auskünften und Schriftstücken, Nachforschungen anzustellen, die Hilfe bei der Zustellung von Dokumenten oder bei der Vollstreckung von rechtlichen Maßnahmen bzw Zahlungstiteln.144 Im Zusammenhang mit der Informationspflicht ist die Aufteilung von Kontroll83 und Inspektionsmaßnahmen zwischen Kommission und nationalen Einrichtungen zu nennen. Grds überwacht die Kommission nach Art 17 I 2 und 3 AEUV als „Hüterin des Unionsrechts“ dessen Durchführung durch die Unionseinrichtungen und durch die Mitgliedstaaten. Das darf nicht mit einer allgemeinen Rechtsaufsicht verwechselt werden, da die Kommission grds nicht das Recht hat, von den Mitgliedstaaten autoritativ die Aufhebung der Durchführungsmaßnahmen zu verlangen, wie die Existenz des Vertragsverletzungsverfahrens in Art 258 AEUV zeigt.145 Die Kommission erstellt diesbezüglich jährliche Berichte. Abgesehen davon hat sie zahlreiche im Sekundärrecht verankerte Befugnisse zur Kontrolle vor Ort, zB im Wettbewerbsrecht nach Art 19 und 20 KartellVO 1/2003 das Recht, Unternehmen in den Mitgliedstaaten zu befragen und dort Nachprüfungen durchzuführen.146 Ganz allgemein sind die nationalen Einrichtungen aus dem Loyalitätsgebot nach Art 4 III EUV verpflichtet, bei der Kontrolle der Durchführung mit der Kommission zu kooperieren, was Art 197 AEUV bestätigt. Sie haben deshalb auch eigene Kontrollen vor Ort durchzuführen, um die Durchführungsdisziplin auf ihrem jeweiligen Territorium zu verbessern.147 Häufig gibt es gemeinsame Inspektionen von Beamten der Kommission und der Mitgliedstaaten.148 Schließlich gibt es noch eine Reihe von Zustimmungs-, Veto- und Weisungs84 rechten der Kommission gegenüber den Behörden der Mitgliedstaaten. In den Verträgen wird zB in Art 114 IV, V und VI AEUV die positive Zustimmung der Kommission zu nationalen Alleingängen, auch opting out genannt, bei der Durchführung

_____ 143 Vgl etwa die RL 2010/24 des Rates über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen, ABl 2010 L 84/1. 144 Beispiele bei vDanwitz Verwaltungsrecht S 620 f. 145 Anders aber Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Magiera S 526. 146 Ähnliche Rechte besitzt sie im Beihilferecht nach Art 36 BeihilfeVerfVO 2015/1589, ABl 2015 L 248/9; hierzu Sinnaeve EuZW 1999, 270 (276). 147 ZB im Lebensmittelrecht nach Art 17 II 2 LebensmittelbasisVO 178/2002, ABl 2002 L 31/1; Art 3 ff LebensmittelKontrollVO 882/2004, ABl 2004 L 91/1. 148 So zB nach Art 36 BeihilfeVerfVO 2015/1589; ähnlich nach Art 19 II und Art 20 V KartellVO 1/2003, ABl 2003 L 1/1; weitere Beispiele aus dem Zoll- und Agrarrecht bei v Danwitz Verwaltungsrecht S 623. Werner Schroeder

III. Durchführung | 623

von Binnenmarktrechtsakten gefordert.149 Ähnlich ist die Rechtslage bei der Einführung von staatlichen Beihilfen nach Art 108 III iVm Art 108 II AEUV.150 Diese Zustimmungsverfahren sind als bilaterale Verfahren zwischen Kommission und Mitgliedstaat ausgestaltet, deren Ergebnis sich auf Privatpersonen auswirken. Das zeigt sich insbesondere im Beihilferecht, das als gestuftes Verfahren bezeichnet wird, weil die Zustimmung der Kommission die Entscheidung der nationalen Behörde über die Gewährung der Beihilfe an das antragstellende Unternehmen determiniert.151 In anderen Fällen wird die Zustimmung der Unionseinrichtungen direkt gegenüber Privaten erteilt, zB zur beantragten Fusion von Unternehmen nach Art 6 ff FusionskontrollVO 139/2004.152 Ähnlich ist die Rechtslage bei Rechten des gewerblichen Rechtsschutzes wie zB Marken, deren Schutz von Privaten beantragt werden kann und die nach Art 30 ff VO 2017/1001153 vom Europäischen Markenamt genehmigt und eingetragen werden müssen. Eine weitere Gruppe von Maßnahmen, die zu einer Verflechtung von Unionsein- 85 richtungen und nationalen Stellen bei der Durchführung von Unionsrecht führen, sind Veto-, Weisungs- und Selbsteintrittsrechte der Union. Mitunter kann insbesondere die Kommission durch Einlegung eines Vetos der geplanten Maßnahme des Mitgliedstaates widersprechen, zB der nationalen Regulierungsbehörde für den Telekommunikationssektor.154 In einigen Sekundärrechtsakten wird die Kommission ermächtigt, nationalen Behörden wie eine Aufsichtsbehörde anzuweisen,155 wie diese das Unionsrecht im Außenverhältnis zu den Bürgern durchzuführen hat, etwa im Agrarrecht oder im Produktzulassungsrecht.156 Andere Rechtsakte verschaffen der Kommission Selbsteintrittsrechte, die es ihr ermöglichen, in die Entscheidung der nationalen Behörden einzugreifen und an ihrer Stelle mit Außenwirkung gegenüber Privaten zu handeln.157 Diese vielfältigen Eingriffsmöglichkeiten zeigen,

_____ 149 Nach Art 8 ff RL 2015/1535, ABl 2015 L 241/1 sind die Mitgliedstaaten außerdem verpflichtet, prinzipiell die Genehmigung der Kommission einzuholen, wenn sie Gesetze über Normen oder technische Vorschriften für Produkte erlassen, vgl zur Missachtung dieser Pflicht EuGH, Rs C-194/94 – CIA Security, Rn 40 ff. 150 Spezifiziert wird das Genehmigungserfordernis für Beihilfen in Art 3 BeihilfeVerfVO 2015/1589. 151 Siehe Sydow Die Verwaltung 34 (2001), 517; vDanwitz Verwaltungsrecht S 332. 152 ABl 2004 L 24/1. 153 ABl 2017 L 154/1. 154 Siehe zB Art 7 IV RL 2002/21. 155 Siehe EuGH, Rs 175/84 – Krohn / Kommission, Rn 21 f; hierzu Schroeder S 388; früher wurde teilweise jedoch vertreten, es gebe kein Einzelweisungsrecht der Kommission, vgl Hatje S 438 f und 156 ff. 156 ZB Art 13 I RL 2001/95 im Produktsicherheitsrecht, ABl 2002 L 11/4. 157 ZB nach Art 39 VO 1303/2013, ABl 2013L 347/320 bei der Verwaltung von Strukturfonds. Im Recht des Binnenmarktes für Erdgas trifft dann nach Art 27 II RL 2009/73, ABl 2009 L 211/94, nicht die Kommission, sondern ein Ausschuss die endgültige Entscheidung, s vDanwitz Verwaltungsrecht, S 627. Werner Schroeder

624 | § 8 Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz

dass die Beziehung zwischen Kommission und Mitgliedstaaten hierarchisch geprägt ist und nicht als kooperativer Verbund oder Netzwerk beschrieben werden kann.158 Die Verflechtung zwischen Einrichtungen der Union und der Mitgliedstaaten 86 bei der Durchführung von Unionsrecht im Rahmen eines Europäischen Verwaltungsverbundes hat schließlich eine horizontale Dimension. Das zeigt sich daran, dass auch nationale Einrichtungen aufgrund von Unionsrecht teilweise verpflichtet sind, gegenseitig miteinander zu kooperieren.159 Die primärrechtliche Grundlage hierfür bildet wiederum das Loyalitätsgebot in Art 4 III UAbs 1 EUV, das Mitgliedstaaten zur gegenseitigen Unterstützung bei der Verwirklichung der Unionsziele verpflichtet.160 Zwar ergibt sich daraus noch keine generelle Verpflichtung zur gegenseitigen Amtshilfe, jedoch immerhin zu einer Kooperation und Information der anderen Mitgliedstaaten.161 In Deutschland wurde mit §§ 8a–8e VwVfG ein Abschnitt über die Europäische Verwaltungszusammenarbeit geschaffen, der für die sekundärrechtlich vorgeschriebene Amtshilfe deutscher Behörden für Behörden anderer Mitgliedstaaten gilt.162 Aus der Loyalitätspflicht sowie speziellen Vorschriften über den Binnenmarkt, wie zB den Grundfreiheiten, entnimmt die Rechtsprechung außerdem eine primärrechtliche Verpflichtung der nationalen Einrichtungen zur gegenseitigen Anerkennung bestimmter Spezifikationen oder Qualifikationen, die zur Ausübung des freien Verkehrs von Waren, Personen, Dienstleistungen oder Kapital (vgl Art 26 II AEUV) erforderlich sind.163 Eine allgemeine Verpflichtung zur ungeprüften Anerkennung von Verwaltungsakten anderer Mitgliedstaaten besteht deshalb allerdings nicht.164 Im Sekundärrecht der Union wurden aber weitreichende spezielle Verpflichtungen zur Zusammenarbeit nationaler Behörden verankert, zB im Arzneimittel- oder Lebensmittelrecht sowie im Recht des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (früher Schengener Abkommen).165 Eine spezielle Form dieser Zusammenarbeit ist der transnationale Verwaltungsakt.166 Dabei treffen die Behörden auf der Grundlage eines Unionsrechtsakts eine Verwaltungsentcheidung, die für die Behörden anderer Mitgliedstaaten verbindlich ist, so „gilt“ zB die Zulassung eines Zahlungsdienstes in einem Mitgliedstaat nach Art 11 IX RL

_____ 158 Siehe aber Terhechte/vArnauld S 96 ff; Terhechte/S Augsberg S 243 ff. 159 Terhechte/vArnauld S 94 ff; Terhechte/Ohler S 343 ff. 160 Siehe Streinz/Streinz Art 4 EUV Rn 6. 161 EuGH, Rs 42/82 – Kommission / Frankreich, Rn 36. 162 Hierzu Schmitz/Prell NVwZ 2009, 1121. 163 Grundlegend EuGH, Rs 120/78 – Cassis de Dijon, Rn 14; Schroeder ZLR 2009, 279. 164 Streinz/Streinz Art 4 EUV Rn 6 unter Verweis auf EuGH, verb Rs C-316/07 ua – Stoß, Rn 80 ff. 165 Beispiele bei vDanwitz Verwaltungsrecht, S 618 ff; Terhechte/vArnauld S 94 ff; Terhechte/Ohler S 343 ff. 166 Terhechte/vArnauld S 95 f; Terhechte/Ohler S 344 ff. Werner Schroeder

III. Durchführung | 625

2015/2366167 „in allen Mitgliedstaaten“. In ähnlicher Weise sind die Behörden der Mitgliedstaaten an die Entscheidung eines Mitgliedstaates über die die Ausstellung eines Kfz-Führerscheins nach der RL 2006/126168 rechtlich gebunden.169

d) Zurechnungs- und Haftungsfragen Die Kooperation zwischen den verschiedenen Einrichtungen der Union und den 87 Mitgliedstaaten darf wegen des grundrechtlich geschützten Gebots des effektiven Rechtsschutzes (Art 47 GRCh) nicht dazu führen, dass der Rechtsschutz des Einzelnen verkürzt wird. Der Begriff des Verwaltungsverbundes, der die Zusammenarbeit der Unionsebene und der nationalen Ebene sowie der nationalen Stellen untereinander bei der Durchführung von Unionsrecht als kooperativen Vorgang beschreibt, verdeckt, dass dieser aus Sicht der Rechtunterworfenen Probleme bei der Zurechnung von Verantwortung aufwerfen kann.170 Dabei ist vor allem zu klären, wo und wie Rechtsschutz gegen eine im Rahmen der Verbundverwaltung getroffene Entscheidung zu suchen ist.171 Grds ist eine Verwaltungsentscheidung, die eine nationale Behörde gegenüber dem Einzelnen erlässt, vor den betreffenden nationalen Gerichten zu bekämpfen, auch wenn diese Entscheidung aufgrund von Unionsrecht in einem mehrstufigen Verfahren unter Beteiligung der Kommission ergangen ist.172 Die Determinierung der nationalen Entscheidung durch eine Unionsmaßnahme wirkt sich jedoch insofern auf den Rechtsschutz aus, als das angerufene nationale Gericht die Unionsrechtskonformität dieser Maßnahme durch eine Vorlage an den EuGH nach Art 267 AEUV klären lassen kann bzw muss.173 Teilweise ist bei mehrstufigen Verfahren eine direkte Nichtigkeitsklage zu den Unionsgerichten möglich, wenn die Maßnahme der Unionseinrichtung Rechtswirkung gegenüber Einzelnen entfaltet und diese nach Art 263 IV AEUV unmittelbar und individuell betrifft, was zB bei der Beanstandung staatlicher Beihilfen durch die Kommission nach Art 108 II 1 AEUV der Fall ist.174 Bei transnationalen Verwaltungsakten (Rn 86) ist der Rechtsschutz ebenfalls in dem Mitgliedstaat zu suchen, der den Verwaltungsakt erlassen hat, da die nationalen Gerichte nicht befugt sind, Verwal-

_____ 167 ABl 2015 L 337/35. 168 ABl 2006 L 403/18. 169 EuGH, Rs C-329/06 – Wiedemann, Rn 53 ff. 170 Vgl vDanwitz Verwaltungsrecht S 639 ff; Terhechte/vArnauld S 106 ff; Terhechte/S Augsberg S 265 f. 171 Schroeder ZLR 2009, 531 ff. 172 Nach EuGH, Rs C-97/91 – Borelli, Rn 13 ff muss der Mitgliedstaat in solchen Fällen aus unionsrechtlichen Gründen Rechtsschutz gewähren. 173 Vgl EuGH, Rs C-6/99 – Greenpeace France, Rn 53 f. 174 Siehe Streinz/Kühling Art 108 AEUV Rn 51 zum Beihilfeempfänger und Rn 52 zum Wettbewerber. Werner Schroeder

626 | § 8 Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz

tungsentscheidungen anderer Staaten zu überprüfen.175 Prinzipiell haftet bei der rechtswidrigen Durchführung von Unionsrecht auch die Einrichtung, welche eine Verwaltungsmaßnahme gegenüber dem Einzelnen erlassen hat, selbst wenn an dem Verfahren, das dem Erlass der Maßnahme vorausging, Unionseinrichtungen bzw Behörden anderer Mitgliedstaaten beteiligt waren. Beruht die konkrete Entscheidung der nationalen Behörde jedoch auf der Weisung einer Unionseinrichtung, kann sie „nicht der nationalen Stelle zur Last gelegt“ werden, weshalb nach Art 344 II AEUV eine Amtshaftung der Unionseinrichtung greift.176 IV. Instrumente der Durchsetzung IV. Instrumente der Durchsetzung 1. Durchsetzungsprobleme 88 Auch wenn das Unionsrecht aufgrund der beschriebenen Mechanismen grds effek-

tiv durchgeführt wird, ist das nicht in allen Mitgliedstaaten und in allen Bereichen des Unionsrechts gleichermaßen der Fall. Einige Durchführungsdefizite sind typisch für föderale Rechtsordnungen schlechthin. Davon abgesehen lassen sich jedoch spezifische Durchsetzungsprobleme des Unionsrechts identifizieren, wie die unterschiedlichen Rechts- und Organisationstraditionen sowie Sprachen und Interessen innerhalb der Union oder die Quantität177 und die Komplexität des Unionsrechts.178 Diese Besonderheiten können eine gleichmäßige Durchsetzung des Unionsrechts erschweren, insbesondere dort, wo die Interessen der Mitgliedstaaten konträr zu denen der Union verlaufen, zB bei der Durchsetzung des Beihilfeverbots gemäß Art 107 I, Art 108 AEUV.

2. Instrumente der Überwachung und Kontrolle 89 Deshalb ist im Einzelfall besonderes Augenmerk darauf zu legen, ob das Unions-

recht einheitlich und effektiv durchgesetzt wird. Hierzu existieren verschiedene Instrumente. So sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die von ihnen ergriffenen Maßnahmen 90 zur Umsetzung von RL der Kommission mitzuteilen. Eine besondere Notifizierungspflicht gilt auch für die Gewährung von Beihilfen nach Art 108 III 1 AEUV und

_____ 175 Siehe EuGH, Rs C-2/05 – Herbosch Kiere, Rn 32 f; vDanwitz Verwaltungsrecht S 646 f. 176 EuGH, Rs 175/84 – Krohn / Kommission, Rn 19 ff; vgl auch verb Rs C-104/89 und C-37/90 – Mulder / Kommission, Rn 9; BGH, IV ZR 107/93, BGHZ 127, 27 (37) – Irak Embargo, lehnt deshalb in solchen Fällen eine Amtshaftung nach deutschem Recht ab. 177 Im Jahre 2011 waren zusätzlich zum Primärrecht von den Mitgliedstaaten allein 8862 VO und 1885 RL durchzuführen, vgl COM(2012) 714, Fn 1. 178 Hölscheidt DÖV 2009, 341 (347 f); Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Magiera S 521. Werner Schroeder

IV. Instrumente der Durchsetzung | 627

aufgrund spezieller primär- oder sekundärrechtlicher Verpflichtungen für viele andere Politikbereiche der Union. Im Übrigen überwacht die Kommission nach Art 17 I 2 und 3 AEUV als „Hüterin des Unionsrechts“ dessen Durchführung durch die Unionseinrichtungen und durch die Mitgliedstaaten.179 Die Kommission erstellt darüber jährliche Berichte.180 Ganz allgemein sind die Mitgliedstaaten wegen Art 4 III EUV und Art 197 AEUV verpflichtet, bei der Kontrolle der Durchführung mit der Kommission zu kooperieren. Die Kommission versucht durch einen formlosen Austausch von Informationen die Durchführungsdisziplin zu verbessern.181

3. Sanktionen In bestimmten Fällen sind jedoch Sanktionen nötig, um das Unionsrecht durchzu- 91 setzen. Da es keine physischen Zwangsmittel zur Durchsetzung des Unionsrechts gibt, beschränken sich die Sanktionen auf rechtliche, finanzielle oder psychologische Druckmittel. Dabei ist zwischen den Einrichtungen der Union und den Mitgliedstaaten zu differenzieren.

a) Sanktionen gegenüber Unionseinrichtungen Gegenüber den Einrichtungen der Union gibt es nur eine geringe Anzahl von Sank- 92 tionen für die unterbliebene oder fehlerhafte Durchsetzung des Unionsrechts. So können natürliche und juristische Personen nach Art 340 II AEUV Schadenersatzansprüche gegen die Union stellen, wenn diese durch ihre Organe oder Bediensteten bei der Durchführung von Unionsrecht deren Rechte verletzt hat.182 Allerdings können diese Ansprüche nicht gegen den Willen der Union durchgesetzt werden, denn die Verträge enthalten keine entsprechende Vollstreckungsvorschrift. Nach Art 266 AEUV müssen die Organe, die in den Verfahren gemäß Art 263 und 265 AEUV für eine Verletzung des Unionsrechts verantwortlich gemacht wurden, lediglich die sich aus dem Urteil der Unionsgerichte ergebenden Maßnahmen ergreifen. Missachten sie diese Verpflichtung, muss darüber eine neue Untätigkeitsklage angestrengt werden.183 Ansprüche aus Amtshaftungsurteilen gegen die Unionsorgane gemäß Art 340 II, Art 268 AEUV sind nach dem Wortlaut des Vertrages ebenfalls nicht vollstreckbar. Aus Art 1 S 3 des Protokolls über Vorrechte und Befreiungen der Gemeinschaften vom 8. April 1965, auf das Art 343 AEUV verweist, ergibt sich zwar, dass Zwangsmaßnahmen gegenüber Unionsorganen mit Zustimmung des EuGH

_____ 179 180 181 182 183

Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Magiera S 526. Vgl zuletzt zum Jahr 2017, COM(2018) 540. Mitteilung der Kommission, KOM(2007) 502, Ziff III. Streinz/Gellermann Art 340 AEUV Rn 7 ff. EuGH, Rs 14/61 – Hoogovens / Hohe Behörde, Slg 1962, 513 (543 f).

Werner Schroeder

628 | § 8 Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz

möglich sind. Die Vorschrift bezieht sich auf Zwangsmaßnahmen des Sitzstaates zur Durchsetzung von aufgrund nationalen Rechts erstrittenen Forderungen gegen die Union. Sie ist auch auf die Vollstreckung von Urteilen des Gerichtshofs anwendbar, die sich nach Art 280 iVm 299 AEUV richtet und damit von den Mitgliedstaaten durchgeführt wird. Die Union selbst besitzt gegenüber ihren eigenen Organen allerdings keine entsprechenden Zwangsmittel, da es hierzu keine vertragliche Regelung gibt.184

b) Sanktionen gegenüber Mitgliedstaaten 93 Deutlich mehr Sanktionen gibt es gegenüber den Mitgliedstaaten. Die Verträge

gehen mit Recht davon aus, dass von dieser Seite eher Probleme bei der Durchsetzung des Unionsrechts drohen als von den Unionsorganen. Falls ein Mitgliedstaat Unionsrecht nicht oder fehlerhaft durchführt, kann die 94 die Kommission gemäß Art 258 AEUV oder ein anderer Mitgliedstaat nach Art 259 AEUV ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH betreiben (vgl Rn 117 ff). Da das Verfahren lediglich mit der Feststellung einer Vertragsverletzung endet, ist entscheidend, wie die Einhaltung des Vertrages nach Urteilserlass durchgesetzt werden kann, wenn der Mitgliedstaat seiner Verpflichtung zur Abhilfe nach Art 260 I AEUV nicht von selbst nachkommt. Art 260 II und III AEUV bieten der Kommission die Möglichkeit, beim EuGH einen Pauschalbetrag oder, nach der Rechtsprechung sogar kumulativ, ein Zwangsgeld gegen den säumigen Mitgliedstaat zu beantragen (vgl Rn 123). Spezielle Sanktionen der Union gibt es dagegen in einzelnen Politikbereichen, 95 so etwa im Bereich der Wirtschaftspolitik gegen Mitgliedstaaten, die ihre Verpflichtungen aus Art 126 I AEUV zur Vermeidung übermäßiger Defizite, verschärft durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufgrund der VO 1466/97185 und 1467/97,186 verletzen. Art 126 XI AEUV gestattet dem Rat, eine ganze Reihe von Maßnahmen gegen solche Staaten zu ergreifen und gibt ihm ua das Recht, Geldbußen in angemessener Höhe zu verhängen. Nur für den Fall massiver Vertragsverstöße eines Mitgliedstaates, die sich zu96 dem spezifisch auf eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art 2 EUV genannten Verfassungswerte beziehen müssen, sind nach Art 7 EUV und Art 354 AEUV Sanktionen der Union gegen den betreffenden Mitgliedstaat möglich. In diesem Fall können bestimmte Rechte des Mitgliedstaates aus den Verträgen, insbesondere Stimmrechte, ausgesetzt werden. Ein Ausschluss des Mitgliedstaates aus der Union ist jedoch deshalb nicht möglich, auch nicht unter Rückgriff auf all-

_____ 184 Str; für eine Vollstreckbarkeit gegenüber Unionsorganen Streinz/Ehricke Art 280 AEUV Rn 6. 185 ABl 1997 L 209/1 mit späteren Änderungen. 186 ABl 1997 L 209/6 mit späteren Änderungen. Werner Schroeder

IV. Instrumente der Durchsetzung | 629

gemeines Völkerrecht und den in Art 60 II WVK genannten Grundsatz der Kündigung einer Vertragspartei bei erheblichen Vertragsverletzungen. Es ist str, ob – abgesehen von einem Vertragsverletzungsverfahren nach Art 258 AEUV wegen Missachtung einer konkreten Bestimmung des AEUV – Art 7 EUV abschließend die Sanktionen gegen einen Mitgliedstaat regelt, der gegen die in Art 2 EUV genannten Grundsätze verstößt. Das Unionsrecht sieht jedoch auch Sanktionen gegen die Mitgliedstaaten vor, 97 damit seine Bestimmungen in den Mitgliedstaaten durchgesetzt werden. Grundlage für diese Sanktionierung ist zunächst die unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts, die von Einzelnen vor nationalen Gerichten und Behörden geltend gemacht werden kann.187 Dadurch werden die Unionsbürger zu Agenten der Union und für die Durchsetzung des Unionsrechts mobilisiert.188 Da außerdem die von Amts wegen zur Anwendung des Rechts verpflichteten nationalen Behörden und Gerichte189 funktional zu Einrichtungen der Union erhoben werden, werden Sanktionen der Union selbst gegenüber den Mitgliedstaaten zum Großteil entbehrlich. Eine Sanktionskategorie stellt die unmittelbare Wirkung von RL dar. Nach 98 Art 288 III AEUV sind RL „hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich“. Daraus wird abgeleitet, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die RL frist- und ordnungsgemäß ins nationale Recht umzusetzen, dh planmäßig durch Erlass von Rechtsakten zu verwirklichen.190 Bei Umsetzungsdefiziten ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass Bestimmungen einer RL „unmittelbare Wirkung“ entfalten können. Das hat zur Folge, dass sich Einzelne vor innerstaatlichen Behörden und Gerichten auf diese Vorschriften berufen können und jene umgekehrt zu deren Anwendung verpflichtet sind.191 Die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Wirkung gründet sich nicht nur darauf, der RL zu einer gesteigerten Effektivität („effet utile“) zu verhelfen. Sie speist sich vor allem aus dem Verbot des treuwidrigen Verhaltens, das den Mitgliedstaaten untersagt, sich gegenüber den Einzelnen, die die Anwendung einer Richtlinie vor nationalen Gerichten oder Behörden einfordern, auf ihre Säumnis bei der Umsetzung zu berufen.192 Darüber hinaus besteht nach dem AEUV eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten 99 zur Zahlung von Schadenersatz gegenüber Privatpersonen, sofern diese durch

_____ 187 EuGH, Rs 26/62 – Van Gend & Loos, Slg 1963, 3 (25). 188 Vgl vDanwitz DVBl 1997, 1. 189 Siehe EuGH, Rs 103/88 – Fratelli Costanzo, Rn 30 f; Rs C-431/92 – Kommission / Deutschland (Großkrotzenburg), Rn 40 in Bezug auf Behörden; Rs C-72/95 – Kraaijveld, Rn 58 in Bezug auf Gerichte. 190 Ständige Rechtsprechung, EuGH, Rs 51/76 – Nederlandse Ondernemingen, Rn 20/29. 191 Seit EuGH, Rs 41/74 – van Duyn, Rn 12. 192 Vgl EuGH, Rs 41/74 – van Duyn, Rn 12 einerseits (Effektivität) und Rs 8/81 – Becker, Rn 23 f andererseits (Effektivität und Sanktionswirkung). Werner Schroeder

630 | § 8 Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz

unterlassene oder fehlerhafte Durchführung des Unionsrechts seitens der staatlichen Organe geschädigt worden sind („Staatshaftung“).193 Diese ungeschriebene Verpflichtung wird mit der Notwendigkeit der effektiven Durchsetzung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten, der Loyalitätspflicht in Art 4 III EUV sowie der Verankerung eines solchen Haftungsinstituts als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts begründet.194 Diese Sanktionen werden, genauso wie die unmittelbare Anwendung des Unionsrechts, vor den nationalen Gerichten durchgesetzt, wobei davon auszugehen ist, dass die Mitgliedstaaten als Rechtsstaaten (Art 2 EUV) die Urteile ihrer eigenen Gerichte beachten.

c) Sanktionen gegenüber Privatpersonen 100 Sanktionen gegen Einzelne zur Durchsetzung des Unionsrechts können teilweise durch die Union oder durch die Mitgliedstaaten verhängt werden. Privatpersonen, ob natürliche oder juristische Personen, sind selbst verpflichtet, das Unionsrecht durchzuführen, da sich Art 4 III EUV nur auf die Mitgliedstaaten bezieht. Sie müssen aber in Einzelfällen das unmittelbar anwendbare Unionsrecht beachten.195 Es gibt einzelne Bestimmungen des Unionsrechts, die direkt an Privatpersonen adressiert sind, was teilweise als „Horizontalwirkung“ bezeichnet wird. Dieser Begriff passt jedoch lediglich, soweit das Unionsrecht wechselseitige Verpflichtungen von Privaten begründet und weist dabei auf das zugrundeliegende Verhältnis der Gleichordnung hin.196 Ob einzelne Vorschriften entsprechende Rechte und Pflichten statuieren, ist anhand des Wortlauts und der Funktion der betreffenden Vorschrift zu prüfen. Bejaht wird die Horizontalwirkung bei den Grundfreiheiten sowie den Diskriminierungsverboten nach Art 18 und 157 AEUV, verneint in Bezug auf nicht umgesetzte, unmittelbar wirkende RL-Bestimmungen.197 Die Verpflichtung Privater durch das Unionsrecht gegenüber Hoheitsträgern hingegen wird als „umgekehrte Vertikalwirkung“ bezeichnet.198 Eine solche Wirkung entfalten im Primärrecht zB Art 101 und 102 AEUV, die private Unternehmen verpflichten, den Wettbewerb nicht zu beschränken. Diese Verpflichtungen können von der Kommission und den nationalen Behörden nach Art 105 AEUV auch durchgesetzt werden, notfalls mit Hilfe von Sanktionen in Form von Geldbußen und Zwangsmaßnahmen. Denkbar ist dar-

_____ 193 Hierzu vgl auch Niedobitek § 1 (in diesem Band) Rn 75; Weiß § 5 (in diesem Band) Rn 243 ff. 194 EuGH, verb Rs C-46/93 und C-48/93 – Brasserie du Pêcheur, Rn 20 und 67. 195 Bereits EuGH, Rs 26/62 – Van Gend & Loos, Slg 1963, 3 (25). 196 Schroeder Grundkurs S 208 und 215; Streinz Rn 856 bzw Rn 489 ff spricht hingegen von „Drittwirkung“ bei den Grundfreiheiten und von ‚Horizontalwirkung‘ bei RL; ähnlich Herdegen EuR S 278 ff bzw 183 ff. 197 Siehe Schroeder Grundkurs S 220 und 224 f sowie 253 ff bzw 112 ff. 198 Umgekehrt, weil unter der vertikalen Wirkung eine Verpflichtung von Hoheitsträgern gegenüber Privatpersonen verstanden wird, vgl Schroeder Grundkurs S 208 und 111 f. Werner Schroeder

V. Gerichtliche Durchsetzung des Unionsrechts | 631

über hinaus eine Verpflichtung Privater durch sekundärrechtliche VO,199 die von den nationalen Behörden mit den Mitteln des nationalen Rechts, erforderlichenfalls zwangsweise, durchgesetzt werden können. Im Übrigen schreibt das Unionsrecht den Mitgliedstaaten teilweise vor, effektive 101 Sanktionen zur Durchsetzung unionsrechtlicher Vorschriften gegen Privatpersonen zu verhängen. Es lässt jedoch meist offen, welche Form diese Sanktionen haben sollen. So verbieten die in Anwendung des Art 19 AEUV erlassenen RL 2000/43 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder ethnischen Herkunft200 und RL 2000/78 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf201 derartige Diskriminierungen im Verhältnis zwischen den Bürgern untereinander. Die Mitgliedstaaten werden durch die RL verpflichtet, entsprechende Sanktionen sowie Rechtsschutzmöglichkeiten zu schaffen. Andere Beispiele finden sich im Umweltrecht, im Agrarrecht, im Verkehrsrecht sowie im Recht des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.202 Eine spezielle Ermächtigung zum Erlass strafrechtlicher Maßnahmen, die dem Schutz der finanziellen Interessen der Union dienen, enthält Art 325 AEUV. Sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Union selbst können entsprechende Rechtsakte erlassen. Strafrechtliche Sanktionen gegen Privatpersonen in Umsetzung dieser Rechtsakte hingegen können nur nationale Stellen verhängen. V. Gerichtliche Durchsetzung des Unionsrechts V. Gerichtliche Durchsetzung des Unionsrechts 1. Rechtsschutzsystem der Union In wenigen Fällen muss das Unionsrecht unter Einschaltung der Gerichte durchge- 102 setzt werden. Die Kommission bescheinigt den beteiligten Subjekten „ein hohes Maß an Rechtskonformität und Rechtsverständnis“ in Bezug auf das Unionsrecht.203 Sofern dennoch die außergerichtliche Durchsetzung des Unionsrechts scheitert, kommt eine Durchsetzung mit Hilfe der Unionsgerichte, dh des Gerichtshofs ieS, des Gerichts sowie der Fachgerichte,204 oder der nationalen Gerichte in Betracht. Der EuGH hat dieses, auf den zwei Säulen der Unionsgerichte und der nationalen Gerichte ruhende System der gerichtlichen Kontrolle des Unionsrechts (vgl Art 19 I AEUV) als umfassendes Rechtsschutzsystem der Union bezeichnet.205

_____ 199 EuGH, Rs C-253/00 – Muñoz / Frumar, Rn 30 ff. 200 ABl 2000 L 180/22. 201 ABl 2000 L 303/16. 202 Vgl Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Magiera S 534. 203 Mitteilung der Kommission, KOM(2007) 502, Ziff II. 204 Zur (potenziell) dreistufigen Struktur des Gerichtshofs siehe Niedobitek § 1 (in diesem Band) Rn 276. 205 EuGH, Rs 294/83 – Les Verts / EP, Rn 23. Werner Schroeder

632 | § 8 Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz

103

Dieses Rechtsschutzsystem sieht eine wirksame Kontrolle der Union und der Mitgliedstaaten vor und ist vom Prinzip des effektiven Rechtsschutzes beherrscht,206 das als allgemeiner Rechtsgrundsatz auch in Art 47 GRCh genannt ist. Eine rechtliche Kontrolle der Unionsorgane erfolgt durch – Direktklagen anderer Organe der Union, von Mitgliedstaaten oder von Privatpersonen vor dem EuGH bzw dem EuG, in Form einer Nichtigkeitsklage nach Art 263 AEUV oder einer Untätigkeitsklage nach Art 265 AEUV oder – inzident über ein Vorabentscheidungsverfahren zwischen nationalen Gerichten und dem EuGH nach Art 267 AEUV. Eine rechtliche Kontrolle der Mitgliedstaaten erfolgt durch – Vertragsverletzungsklagen nach Art 258, 259 AEUV vor dem EuGH, die von der Kommission oder anderen Mitgliedstaaten angestrengt werden, oder – indirekt über ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art 267 AEUV, das aufgrund eines Verfahrens vor nationalen Gerichten von diesen an den Gerichtshof gerichtet wird.

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Eine direkte gerichtliche Kontrolle der Durchsetzung des Unionsrechts gegenüber Privatpersonen vor den Unionsgerichten ist in diesem System nicht vorgesehen. Sie ist nur vor nationalen Gerichten möglich, die nach Art 267 AEUV entsprechende Fragen an den EuGH vorlegen können. Das beschriebene duale System der gerichtlichen Durchsetzung basiert auf ei105 ner Mischung von zentralem und dezentralem Rechtsschutz. In der Praxis spielt die dezentrale gerichtliche Kontrolle durch die nationalen Gerichte jedoch eine größere Rolle. Aufgrund der verbreiteten unmittelbaren Anwendbarkeit von Vorschriften des Unionsrechts spielt sich der wesentliche Teil unionsrechtlicher Meinungsverschiedenheiten zwischen nationalen Behörden und Privatpersonen oder zwischen Privatpersonen in Verfahren vor nationalen Gerichten ab.207 Diese sind ebenso zur Durchsetzung des Unionsrechts befugt und funktional ebenfalls als Unionsgerichte zu betrachten,208 da sie von Amts wegen zu dessen Anwendung und Wahrung verpflichtet sind. In Art 19 I UAbs 2 EUV wird diese Funktion ausdrücklich anerkannt.209 Da die gerichtliche Durchsetzung des Unionsrechts somit auf zwei verschiedenen Ebenen stattfindet, ist darauf zu achten, dass dabei die Rechtseinheit gewahrt wird.210 Diese sichert der Gerichtshof, der bei Fragen nach der Auslegung

_____ 206 EuGH, Rs 222/84 – Johnston, Rn 18. 207 Nach der Rechtsprechungsstatistik machen deshalb Vorabentscheidungsersuchen aufgrund von Verfahren vor nationalen Gerichten mehr als 2/3 aller Verfahren vor dem Gerichtshof aus, vgl http://curia.europa.eu. 208 EuGH, Gutachten 1/09 – Einheitliches Patentgerichtssystem, Rn 80. 209 Deshalb stellt das Unionsrecht auch Anforderungen an die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte, EuGH, Rs C-64/16 – AJSP, Rn 31 ff, 42 ff. 210 Eindrücklich EuGH, Rs 166/73 – Rheinmühlen, Rn 2. Werner Schroeder

V. Gerichtliche Durchsetzung des Unionsrechts | 633

des Unionsrechts oder der Gültigkeit eines Unionsrechtsakts, die im Verfahren vor den nationalen Gerichten als Vorfrage bedeutsam sind, durch ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art 267 AEUV eingeschaltet werden kann bzw ggf muss.

2. Prinzip des effektiven Rechtsschutzes Das oben beschriebene umfassende Rechtsschutzsystem ist vom Prinzip des effekti- 106 ven Rechtsschutzes beherrscht. Dieses ist ein allgemeiner Rechtsgrundsatz und als verbindliche Grundrechtsnorm in Art 47 GRCh verankert. Der Gerichtshof hat aus diesem Prinzip gefolgert, dass ein Justizgewährleistungsanspruch besteht, der besagt, dass jede Handlung, die im Anwendungsbereich des Unionsrechts Rechtswirkungen entfaltet, gerichtlich überprüfbar sein muss. Das gilt für Handlungen der Unionseinrichtungen211 ebenso wie für Maßnahmen der Mitgliedstaaten.212 Dieser Justizgewährleistungsanspruch besteht sowohl gegenüber Unionsgerichten als auch gegenüber nationalen Gerichten. Ausnahmen gelten für den Bereich der GASP nach Art 24 I UAbs 2 S 6 EUV iVm Art 275 AEUV.213

3. Zuständigkeit der Unionsgerichte, der nationalen und der internationalen Gerichte Die oben skizzierten Parameter des umfassenden Rechtsschutzsystems verdeutli- 107 chen, dass die Durchsetzung des Unionsrechts vor den Unionsgerichten und den nationalen Gerichten nicht beziehungslos nebeneinander stehen, sondern sich ergänzen. Art 19 I UAbs 2 EUV erkennt an, dass auch die nationalen Gerichte in das gerichtliche System der Durchsetzung des Unionsrechts einbezogen sind. Sie haben insoweit die Regelzuständigkeit, sofern nicht aufgrund der Verträge in den Art 258 ff AEUV (Enumerationsprinzip) ausnahmsweise eine Zuständigkeit der Unionsgerichtsbarkeit besteht.214 Sofern sich aus dem Vertrag eine Zuständigkeit der Unionsgerichte ergibt, ist diese ausschließlicher Natur. Das gilt über die im AEUV genannten Fälle hinaus, soweit die Rechtmäßigkeit einer Rechtshandlung der Union überprüft werden soll. Der Gerichtshof verfügt über ein entsprechendes Verwerfungsmonopol, um die einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts zu sichern.215

_____ 211 EuG, Rs T-411/06 – Sogelma / EAR, Rn 36 f zu Maßnahmen der Europäischen Agentur für den Wiederaufbau (EAR); vgl – nach Lissabon – Art 263 I 2 AEUV; auch EuGH, Rs 294/83 – Les Verts / EP, Rn 23. 212 EuGH, Rs 222/84 – Johnston, Rn 18. 213 Zur restriktiven Auslegung dieser Ausnahme EuGH, Rs C-72/15 – Rosneft, Rn 58 ff. 214 Oppermann/Classen/Nettesheim S 207; Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Classen S 213. 215 EuGH, Rs 314/85 – Foto-Frost, Rn 11 f. Werner Schroeder

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108

Mit dem Vorabentscheidungsverfahren nach Art 267 AEUV, in dem sich nationale Gerichte an den Gerichtshof wenden können, besteht ein Instrument, mit dem die beiden Ebenen verknüpft werden können. Dabei sollen die nationalen Gerichte und die Unionsgerichte nach Art 4 III EUV im Geist der gegenseitigen Loyalität und Rücksichtnahme kooperieren, weshalb teilweise von einem Kooperationsverhältnis gesprochen wird.216 Aus Art 19 I EUV und Art 344 AEUV ergibt sich, dass die Zuständigkeit des Ge109 richtshofs im Anwendungsbereich des Unionsrechts auch gegenüber internationalen Gerichten zu beachten ist. So dürfen Mitgliedstaaten Streitigkeiten über Unionsrecht ausschließlich vor dem Gerichtshof beilegen, insbesondere nach Art 259 oder 273 AEUV.217 Auch darf das autonome System der Rechtmäßigkeitskontrolle im Unionsrecht nicht durch die Bindung des Gerichtshofs an die Rechtsprechung anderer internationaler Gerichte beeinträchtigt werden.218

4. Durchsetzung vor den Unionsgerichten a) Grundlagen des Rechtsschutzes vor den Unionsgerichten 110 Die Aufgabe der Unionsgerichte besteht darin, im Rahmen der Wahrung des Rechts unter „Auslegung und Anwendung der Verträge“ das Unionsrecht gerichtlich durchzusetzen. Der Gerichtshof gründet außerdem auf die Unterscheidung zwischen dem Rechtsbegriff und dem positiven Vertragsrecht in Art 19 I UAbs 1 S 2 EUV seine Verpflichtung, im Wege der Rechtsfortbildung Lücken im geschriebenen Unionsrecht durch Konkretisierung von vertragsimmanenten Rechtsprinzipien, wie zB den erst später in der GRCh kodifizierten Grundrechten, dem Prinzip eines Staatshaftungsanspruchs oder der unmittelbaren Wirkung von RL zu schließen.219 Aus der genannten Aufgabenbeschreibung in Art 19 I EUV hat der Gerichtshof 111 seine Stellung als Verfassungsgericht der Union abgeleitet, welches die Einhaltung der Verfassungsurkunde der Union, die Verträge, durch die Unionsorgane und die Mitgliedstaaten, zu sichern hat.220 Allerdings wird der Gerichtshof nicht stets als Verfassungsgericht der Union tätig. Er besitzt auch die zentrale Funktion eines

_____ 216 BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (175) – Maastricht; vgl auch EuGH, Rs C-50/00 P – Unión de Pequeños Agricultores, Rn 42. 217 S EuGH, Rs C-459/03 – Kommission / Irland, Rn 122 ff zu einem internationalen Schiedsverfahren; internationale Schiedsgerichte, die aufgrund völkerrechtlicher Verträge für Streitigkeiten zwischen privaten Investoren und Mitgliedstaaten gebildet werden, können ebenfalls die Autonomie des Unionsrechts gefährden, EuGH, Rs C-284/16 – Achmea, Rn 32 ff. 218 EuGH, Gutachten 2/94 – EMRK I, Rn 34 f; Gutachten 1/91 – EWR I, Rn 70 ff; Gutachten 2/13 – EMRK II, Rn 178 ff; zum Ganzen Jaeger EuR 2018, 611. 219 EuGH, Rs 4/73 – Nold, Rn 13 ff; Rs 41/74 – van Duyn, Rn 12; verb Rs C-6/90 und C-9/90 – Francovich ua, Rn 31; akzeptiert von BVerfG, 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223 (242 f) – Kloppenburg. 220 Vgl EuGH, Rs 294/83 – Les Verts / EP, Rn 23. Werner Schroeder

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Höchstgerichts, dem die Wahrung der Rechtseinheit der Union obliegt, was vor allem durch das Vorabentscheidungsverfahren nach Art 267 AEUV gesichert wird. Er verfügt über eine umfassende sachliche Zuständigkeit, die – je nach Streitgegenstand – alle Gerichtszweige von der Verwaltungs- und der Finanz- über die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit bis zur ordentlichen Gerichtsbarkeit einschließt.221 Nach Art 19 I 1 EUV ist das Rechtsschutzsystem innerhalb des Gerichtshofs der 112 Europäischen Union dreigliedrig gestuft. Es umfasst den Gerichtshof ieS (EuGH), das Gericht (EuG) sowie Fachgerichte.222 Der EuGH wird demnach nicht stets in erster Instanz, sondern je nachdem, ob erstinstanzlich das Gericht oder ein Fachgericht zuständig ist, in zweiter oder gar dritter Instanz tätig. Dieser Instanzenzug ergibt sich einerseits aus der Abgrenzung der Aufgabenteilung zwischen den Unionsgerichten, die in Art 256 AEUV sowie in Art 51 EuGH-Satzung223 und andererseits aus dem Rechtsmittelverfahren, das in Art 256 I UAbs 2 AEUV bzw Art 256 II UAbs 1 iVm Art 257 III AEUV als Mittel zur Überprüfung der Entscheidungen der Instanzgerichte Gericht und Fachgericht vorgesehen ist (vgl auch Art 56 ff EuGH-Satzung). Anders als das europäische Verwaltungsverfahrensrecht für Einrichtungen der 113 Union, das noch nicht kodifiziert ist, wurde das für die Unionsgerichte geltende europäische Gerichtsverfassungs- und Prozessrecht bereits positivrechtlich geregelt. Die wesentlichen Zuständigkeits- und Verfahrensvorschriften finden sich bereits in den Verträgen selbst, in Art 251–281 AEUV und werden in der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH-Satzung) konkretisiert. Diese besitzt als Protokoll den Rang von Primärrecht (Art 51 EUV), ist aber nach Art 281 II AEUV unter vereinfachten Voraussetzungen abänderbar. Weitere Verfahrensvorschriften finden sich in den Verfahrensordnungen (VerfO) des EuGH und des EuG.224 Lücken in diesem Regelwerk schließen die Unionsgerichte durch Heranziehung ungeschriebener Verfahrensgarantien, die auf allgemeinen Rechtsgrundsätzen basieren, wie zB den Anspruch auf ein faires Verfahren, der in Art 47 II GRCh kodifiziert ist.225 Die Wirkungen der Entscheidungen der Unionsgerichte sind unterschiedlich 114 und hängen grds von den Verfahrensarten ab. Entscheidungen des EuGH sind mit ihrer Verkündung rechtskräftig, die des EuG erst mit Ablauf der zweimonatigen Rechtsmittelfrist (vgl Art 91 VerfO EuGH und Art 56 EuGH-Satzung). An den Inhalt

_____ 221 Rengeling/Middeke/Gellermann/Middeke S 46 ff; Oppermann/Classen/Nettesheim S 209 f. 222 Das einzige Fachgericht der Union für den öffentlichen Dienst (GöD) bestand zwischen 2005 und 2016. Die sukzessive Erweiterung der Zahl der Richter am EuG von 28 auf 56 hat die Schaffung von Fachgerichten weitgehend obsolet gemacht. 223 Protokoll über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, ABl 2001 C 80/53, zuletzt geändert durch Art 1, Art 2 ÄnderungsVO 741/2012, ABl 2012 L 228/1. 224 VerfO EuGH, ABl 2012 L 265/1, zuletzt geändert durch VerfO-Änderung, ABl 2016 L 217/69; VerfO EuG, ABl 1991 L 136/1, zuletzt geändert durch VerfO-Änderung, ABl 2018 L 240/68. 225 Rengeling/Middeke/Gellermann/Hackspiel S 370 ff; siehe etwa EuGH Rs C-7/98 – Krombach, Rn 26. Werner Schroeder

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der Entscheidungen sind die Parteien des Verfahrens sowie die Unionsgerichte selbst gebunden, ggf bei einem Vorabentscheidungsverfahren auch alle Gerichte in einem vorausgegangenen nationalen Verfahren.226 Während diese Wirkungen grds sofort eintreten, können die Unionsgerichte diese zeitlich begrenzen. Sie können insbesondere bei einer Entscheidung über die Gültigkeit von Unionsrecht die Ungültigkeit nicht ex tunc (Art 264 I AEUV) eintreten lassen, sondern nach Art 264 II AEUV den Zeitpunkt hinausschieben. Der Gerichtshof entnimmt der entsprechenden Vorschrift jedoch einen allgemeinen Rechtsgedanken und begrenzt in analoger Anwendung von Art 264 II AEUV mitunter auch in Vorabentscheidungsverfahren die Wirkung seiner Entscheidung auf Rechtsverhältnisse, die – abgesehen vom Ausgangsverfahren – nach Erlass seines Urteils entstehen, soweit das aus Gründen der Rechtssicherheit oder des Vertrauensschutzes geboten ist.227 Endentscheidungen des EuG sowie der Fachgerichte können mit Hilfe eines 115 Rechtsmittels nach Art 256 I UAbs 2 AEUV zum EuGH bzw nach Art 256 II UAbs 1 iVm Art 257 III AEUV zum EuG überprüft werden (vgl Art 56 ff EuGH-Satzung). In Ausnahmefällen können Rechtsmittelentscheidungen des EuG nach Art 256 II UAbs 2 AEUV vom EuGH überprüft werden. Das Rechtsmittel ist ein grds auf Rechtsfragen (vgl jedoch Art 257 III Alt 2 AEUV) beschränkter Rechtsbehelf, der vom Rechtsmittelführer, aber auch von den Mitgliedstaaten oder Unionsorganen, innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung der Entscheidung eingebracht werden muss. Das Rechtsmittel hat nach Art 60 EuGH-Satzung prinzipiell keine aufschiebende Wirkung. Ist das Rechtsmittel zulässig und begründet, wird das angegriffene Urteil aufgehoben. Dann entscheidet das Rechtsmittelgericht selbst in der Sache, wenn diese entscheidungsreif ist, oder verweist diese zurück an das Gericht, dessen Urteil angegriffen wurde. Mit ihrer Verkündung sind die Entscheidungen der Unionsgerichte vollstreck116 bar,228 wie sich aus Art 280 AEUV ergibt. Vollstreckbar sind nur die Leistungsurteile. Ihre Vollstreckung beurteilt sich gemäß Art 299 AEUV nach dem Recht des Mitgliedstaates, in dem sie stattfinden soll. Die Vollstreckung erfolgt allerdings nicht gegenüber den Mitgliedstaaten, da sich die Einschränkung in Art 299 AEUV („dies gilt nicht gegenüber Staaten“) nicht nur auf Maßnahmen von Rat und Kommission, sondern auch auf Gerichtsurteile bezieht. Feststellungs- und Gestaltungsurteile, die nach Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten, Nichtigkeits- oder Untätigkeitsklagen gegenüber Einrichtungen der Union ergehen, sind nicht vollstreckbar. In solchen Fällen sind die Mitgliedstaaten oder die Einrichtungen der Union nach Art 260 I und Art 266 AEUV von sich aus verpflichtet, die sich aus den Ent-

_____ 226 Rengeling/Middeke/Gellermann/Hackspiel S 477; vgl EuGH, Rs 29/68 – Milch-, Fett-, und Eierkontor, Rn 3. 227 Vgl etwa EuGH, Rs C-415/93 – Bosman, Rn 142 ff. 228 Vgl im Einzelnen Rengeling/Middeke/Gellermann/Jakobs S 544 ff. Werner Schroeder

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scheidungen des Gerichtshofs ergebenden Maßnahmen zu ergreifen. Aufgrund der Möglichkeit des EuGH, nach Art 260 AEUV im Zusammenhang mit einer Vertragsverletzungsklage gegen Mitgliedstaaten bei Nichtbefolgung eines Urteils einen Pauschalbetrag und/oder ein Zwangsgeld zu verhängen (vgl Rn 123 ff), werden die Chancen zur Durchsetzung von entsprechenden Feststellungsurteilen verbessert.229

b) Vertragsverletzungsverfahren Ein wichtiges Instrument zur gerichtlichen Durchsetzung des Unionsrechts gegen- 117 über den Mitgliedstaaten ist das Vertragsverletzungsverfahren, auch „Aufsichtsverfahren“ genannt. Es ist eine Direktklage zu den Unionsgerichten gegen einen Mitgliedstaat, der seine Verpflichtungen aus dem AEUV verletzt hat. Sachlich ist für Vertragsverletzungsverfahren nach Art 258 und 259 AEUV die Unionsgerichtsbarkeit, funktionell nach Art 256 I AEUV der Gerichtshof ieS, dh der EuGH, zuständig.

aa) Beteiligte Das Vertragsverletzungsverfahren kann nach Art 258 AEUV von der Kommission 118 gegen einen Mitgliedstaat betrieben werden, der seine Verpflichtungen aus dem AEUV verletzt hat. Es kann nach Art 259 AEUV auch von einem anderen Mitgliedstaat eingeleitet werden, der zuvor jedoch die Kommission befassen muss. Privatpersonen können vertragsbrüchige Mitgliedstaaten nicht direkt vor dem Gerichtshof verklagen. Sie müssen hierzu entweder (1) den Weg über die nationalen Gerichte beschreiten, die sich mit einer Vorlage nach Art 267 AEUV an den Gerichtshof wenden können, wenn sie der Ansicht sind, nationales Recht sei mit Unionsrecht unvereinbar (vgl Rn 179) oder (2) versuchen, die Kommission als Hüterin der Verträge (Art 17 I 2 und 3 EUV) mit einer Beschwerde230 dazu zu bringen, ein Verfahren nach Art 258 AEUV einzuleiten. Allerdings steht der Kommission nach Art 258 II AEUV insoweit ein Ermessen („kann“) zu. Im Einzelfall können Opportunitätsgründe für eine alternative Lösung des Problems durch Verhandlungen etc sprechen. Bei einer Untätigkeit oder Ablehnung durch die Kommission können Private ein solches Verfahren daher grds nicht auf dem Umweg über eine Klage gegen die Kommission nach Art 265 oder 263 AEUV erzwingen. Passiv beteiligungsfähig sind nach Art 258 bzw 259 AEUV nur Mitgliedstaaten. 119 Das Vertragsverletzungsverfahren ist auch dann gegen den Mitgliedstaat zu richten, wenn Organe (zB Parlamente, staatliche Gerichte) oder regionale Untergliederungen

_____ 229 Ob das verhängte Zwangsgeld nach Art 280 iVm 299 AEUV gegen die Staaten vollstreckbar ist, bleibt aber str, dafür Streinz/Gellermann Art 299 AEUV Rn 5 AEUV. 230 Siehe hierzu das Formular auf der Website der Kommission unter http://ec.europa.eu/eu_law/ your_rights/your_rights_forms_de.htm. Werner Schroeder

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(zB Bundesland) die Vertragsverletzung herbeiführen. Die Frage, ob dem Mitgliedstaat das Verhalten einer selbständigen Rechtsperson zugerechnet werden kann, stellt sich erst im Rahmen der Begründetheitsprüfung. Bei staatlichen Einrichtungen wird diese Zurechnung über die Loyalitätspflicht nach Art 4 III EUV hergestellt, während die Zurechnung privaten Verhaltens eine entsprechende Handlungspflicht des Mitgliedstaates231 oder eine positive Einflussnahme des Staates auf das Verhalten der Privatperson voraussetzt.232

bb) Klagegegenstand 120 Tauglicher Klagegegenstand nach Art 258 bzw 259 AEUV ist ein Verstoß gegen „eine

Verpflichtung aus den Verträgen“. Der Begriff der Vertragsverletzung wird weit interpretiert und erfasst nicht nur einen nationalen Verstoß gegen Primärrecht (Verträge und Protokolle), sondern auch gegen internationale Übereinkünfte der Union gemäß Art 216 AEUV und gegen Sekundärrecht.

cc) Vorverfahren 121 Die Erhebung einer Aufsichtsklage zum Gerichtshof nach Art 258, 259 AEUV setzt

voraus, dass die Kommission in einem Vorverfahren dem betroffenen Mitgliedstaat Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. Die Durchführung dieses außergerichtlichen Vorverfahrens ist nach Art 258 II AEUV eine Prozessvoraussetzung. In der Praxis kontaktiert die Kommission formlos den Mitgliedstaat und holt erste Informationen über den möglichen Verstoß ein, bevor sie nach Art 258 AEUV tätig wird. Erst dann gibt sie ihm durch ein förmliches Mahnschreiben „Gelegenheit zur Äußerung“ gemäß Art 258 I Halbs 2 AEUV. Dieses Schreiben nennt die wesentlichen Aspekte des Verstoßes und grenzt zugleich den Verfahrensgegenstand ein, an den die Kommission in ihrer Klage gebunden ist. Hat der Mitgliedstaat darauf nicht zufriedenstellend reagiert, gibt die Kommission gemäß Art 258 I Halbs 1 AEUV eine „mit Gründen versehene Stellungnahme“ ab, die die Rechtslage zusammenfasst und den Mitgliedstaat unter Fristsetzung auffordert, den Vertragsverstoß zu beseitigen. Kommt dieser der Aufforderung nicht nach, erhebt die Kommission nach Fristablauf Klage zum EuGH, in der die gleichen Gründe und Angriffsmittel genannt sind, wie im Mahnschreiben. Es hat auf die Zulässigkeit der Klage keinen Einfluss, ob der Mitgliedstaat den gerügten Vertragsverstoß nach Ablauf der zur Beseitigung

_____ 231 Vgl EuGH, Rs C-265/95 – Kommission / Frankreich, Rn 30 ff zur Pflicht der Mitgliedstaaten, private Verstöße gegen die Warenverkehrsfreiheit zu unterbinden. 232 Vgl EuGH, Rs 249/81 – Kommission / Irland, Rn 23 ff zur staatlichen Verkaufsförderungskampagne „Buy Irish“. Werner Schroeder

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gesetzten Frist, aber vor Klageerhebung abstellt,233 da weiterhin ein Interesse an der Feststellung des Vertragsverstoßes im Hinblick auf dessen mögliche Wiederholung oder als Grundlage für Staatshaftungsansprüche besteht.234 Im Übrigen ist das Vertragsverletzungsverfahren ein objektives Beanstandungsverfahren, das der Wahrung des Unionsrechts dient.

dd) Begründetheit Die im Vertragsverletzungsverfahren erhobene Klage ist begründet, wenn der be- 122 klagte Mitgliedstaat einen zurechenbaren Vertragsverstoß begangen hat. Eine Rechtfertigung des Staates unter Hinweis darauf, dass ihm aus Gründen seines nationalen Verfassungsrechts eine Vertragserfüllung nicht möglich sei, scheidet wegen des Vorrangs von Unionsrecht vor nationalem Recht aus. Auch tatsächliche Hindernisse können keinen Rechtfertigungsgrund bilden. Sie verpflichten den Mitgliedstaat nach Art 4 III EUV gemeinsam mit den Unionsorganen nach einer Lösung zu suchen. Es spielt zudem keine Rolle, dass andere Mitgliedstaaten ebenfalls vertragsbrüchig sind, denn in diesem Fall müssen entsprechende Vertragsverletzungen ebenfalls nach Art 258 und 259 AEUV geahndet werden.235

ee) Urteilswirkungen Das Vertragsverletzungsverfahren endet gemäß Art 260 I AEUV mit einem Feststel- 123 lungsurteil. Der Mitgliedstaat ist verpflichtet, die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu ziehen. Nach Art 260 II AEUV kann die Kommission jedoch, falls er dieser Pflicht nicht nachkommt, beim Gerichtshof in einem Folgeverfahren gegen einen säumigen Mitgliedstaat die Zahlung eines Pauschalbetrages oder eines Zwangsgeldes beantragen. Teilt ein Mitgliedstaat keine Maßnahmen zur Umsetzung einer RL mit oder trifft er keine entsprechenden Maßnahmen,236 so kann die Kommission nach Art 260 III AEUV bereits bei der Klageerhebung gemäß Art 258 AEUV beim Gerichtshof finanzielle Sanktionen beantragen, ohne ein erstes Feststellungsurteil abwarten zu müssen.

_____ 233 Die Kommission hat angekündigt, Klagen wegen Nichtumsetzung von RL nicht zurückzuziehen, wenn der Staat nach Klageerhebung die RL umsetzt, Mitteilung C(2017)8600, ABl 2017, C 18/10. 234 Vgl EuGH, Rs C-313/93 – Kommission / Luxemburg, Rn 10. 235 EuGH, Rs C-5/94 – Hedley Lomas, Rn 20. 236 Art 260 III AEUV bezieht sich nicht nur auf eine unterlassene Notifizierung, sondern auch auf eine unterlassene oder fehlerhafte Umsetzung einer RL; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Karpenstein Art 260 AEUV Rn 59 ff, im letztgenannten Fall allerdings für eine Beschränkung auf „offenkundige“ Verstöße; aA Calliess/Ruffert/Cremer Art 260 AEUV Rn 19. Werner Schroeder

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124

Der Gerichtshof hat sich bisher bei der Festsetzung eines Zwangsgeldes an den entsprechenden Leitlinien der Kommission237 orientiert, die die finanzielle Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten berücksichtigen, obwohl diese ihn nicht binden, und im Einzelfall auf die Schwere, Dauer und notwendige Abschreckungswirkung abgestellt. Das Zwangsgeld wird nach Tagessätzen vom Tag der zweiten Verurteilung bis zur Beendigung des Verstoßes berechnet. Mit dem Pauschalbetrag wird im Fall von Art 260 II AEUV die nach dem ersten Urteil des Gerichtshofs anhaltende Vertragsverletzung sanktioniert. Im Widerspruch zum Wortlaut der Vorschrift verhängt der Gerichtshof deshalb beide Sanktionen bei einem schwerwiegenden und fortdauernden Verstoß kumulativ.238

c) Nichtigkeitsklage 125 Die Nichtigkeitsklage nach Art 263 AEUV zielt darauf ab, eine Rechtshandlung der

Union durch den Gerichtshof für nichtig erklären zu lassen (Art 264 I AEUV). Eine Nichtigkeitsklage gegen Rechtsakte der Mitgliedstaaten ist aufgrund dieser Vorschrift nicht möglich. Sachlich zuständig sind für Nichtigkeitsklagen nach Art 263 I AEUV die Unionsgerichte. Für alle Klagen nichtprivilegierter Kläger, dh natürliche und juristische Personen, ist funktionell nach Art 256 I AEUV das Gericht zuständig, wobei sich deren Rechtsfähigkeit nach nationalem Recht beurteilt. Der Gerichtshof ist weiterhin nach Art 256 I AEUV iVm Art 51 EuGH-Satzung für die Klagen der privilegierten bzw teilprivilegierten Einrichtungen, dh die Unionsorgane, Mitgliedstaaten und EZB, zuständig. Für Nichtigkeitsklagen der Mitgliedstaaten gegen die Kommission und die EZB ist hingegen das Gericht zuständig. Die Klage ist innerhalb einer Zweimonatsfrist einzubringen, die nach Art 263 VI AEUV, Art 49 ff VerfO EuGH bzw Art 58 ff VerfO EuG berechnet wird.

aa) Beteiligte 126 Klageberechtigt sind nach Art 263 II die Mitgliedstaaten, das EP, der Rat und die

Kommission, nach Art 263 III AEUV der Rechnungshof, die EZB und der AdR sowie gemäß Art 263 IV AEUV alle natürlichen und juristischen Personen. Die Frage, ob diese unterschiedlichen Beteiligten jeweils eine Klagebefugnis besitzen, ist gesondert zu untersuchen. Die Nichtigkeitsklage ist gegenüber der Unionseinrichtung zu erheben, die die Rechtshandlung erlassen hat. Das können nach Art 263 I AEUV Rat, Kommission, EZB oder EP jeweils einzeln oder Rat und EP gemeinsam sein, sofern diese im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren einen Rechtsakt gemeinsam erlassen. Nach Art 263 I 2 AEUV können auch sonstige Einrichtungen der Union (Ämter,

_____ 237 Vgl ABl 1996 C 242/6, neu gefasst zuletzt durch Mitteilung C(2017)8720, ABl 2017 C 431/3. 238 Seit EuGH, Rs C-304/02, Kommission / Frankreich, Rn 80 ff. Werner Schroeder

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Agenturen etc) verklagt werden, wenn diese Handlungen mit verbindlicher Rechtswirkung gegenüber Dritten erlassen. Gemäß Art 263 V AEUV können in den Rechtsakten zur Gründung dieser Einrichtungen besondere Bedingungen für die Erhebung solcher Klagen festgelegt werden.

bb) Klagegegenstand Mit der Nichtigkeitsklage anfechtbar sind zunächst Gesetzgebungsakte sowie alle 127 verbindlichen Handlungen von Organen oder Einrichtungen der Union, die Rechtswirkungen nach außen entfalten (Art 263 I AEUV). Empfehlungen und Stellungnahmen sowie rein interne Maßnahmen der Union können nicht angefochten werden. Der Katalog der anfechtbaren Handlungen ist damit nicht auf VO, RL oder Beschlüsse iSv Art 288 AEUV beschränkt, sondern umfasst auch alle sonstigen verbindlichen Handlungen, die Rechtswirkungen besitzen. Dazu gehören ebenso die internationalen Übereinkünfte nach Art 216 AEUV. Eine Nichtigkeitsklage gegen Maßnahmen der GASP ist grds unzulässig (Art 24 I UAbs 2 S 6 EUV iVm Art 275 AEUV). Die Nichtigkeitsklage muss darauf gerichtet sein, dass der Gerichtshof die ange- 128 griffene Handlung nach Art 264 I AEUV für nichtig erklärt. Das gilt auch dann, wenn der Kläger mit der Klage letztlich nicht nur die Aufhebung dieser Handlung, sondern zugleich den Erlass einer anderen Handlung verfolgt, weil eine Einrichtung der Union einen Antrag abgelehnt hat. Anders als im deutschen Verwaltungsprozessrecht (§ 42 II Alt 2, § 113 V 1 VwGO) gibt es im Verfahrensrecht der Unionsgerichte keine Versagungsgegenklage.239 Allerdings haben die Einrichtungen, denen das für nichtig erklärte Handeln zur Last fällt, von sich aus nach Art 266 AEUV die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergebenden Maßnahmen zu ergreifen.

cc) Klagebefugnis Mitgliedstaaten und Unionsorgane gelten als privilegiert, weil sie nach Art 263 II 129 AEUV ohne Nachweis einer Klagebefugnis Nichtigkeitsklage erheben können. Demgegenüber sind der Rechnungshof, die EZB und der AdR teilprivilegiert, da sie nach Art 263 III AEUV nur unter Hinweis auf die Wahrung ihrer Rechte klagen können. Eine spezielle Form der staatlichen Nichtigkeitsklage ist die Subsidiaritätskla- 130 ge. Diese Klage können Mitgliedstaaten im Namen ihrer Parlamente oder in Zweikammersystemen (BT und BR) im Namen auch nur einer der Parlamentskammern nach Art 5 III EUV iVm Art 8 I Subsidiaritätsprotokoll gegen Gesetzgebungsakte der

_____ 239 Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Classen S 218. Werner Schroeder

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Union erheben. Die Klagebefugnis des Mitgliedstaates ergibt sich bei dieser Form der Nichtigkeitsklage aus der Geltendmachung einer Verletzung des Subsidiaritätsprinzips.240 Andere Rechtsfehler können nicht mit dieser, sondern nur mit einer eigenen, privilegierten Nichtigkeitsklage des Mitgliedstaates gerügt werden.241 Innerstaatliche Details zur Erhebung dieser Klage und der Prozessführung vor dem Gerichtshof durch die Parlamente sind in Deutschland in Art 23 I GG und in § 12 IntVG geregelt. Nach Art 8 II Subsidiaritätsprotokoll kann der AdR ebenfalls eine Subsidiaritätsklage erheben. Eine Nichtigkeitsklage durch nichtprivilegierte Privatpersonen setzt schließ131 lich nach Art 263 IV AEUV eine besondere Klagebefugnis voraus. Die Ermittlung der Klagebefugnis von Privatpersonen stellt eines der Hauptprobleme bei der Nichtigkeitsklage dar. Diese wird nach dem Vertrag angenommen, wenn die betreffende Person – Adressat einer an sie gerichteten Handlung, zB in Form eines an sie selbst gerichteten Beschlusses, ist (Art 263 IV Alt 1 AEUV) oder – von einer anderen sonstigen Handlung unmittelbar und individuell betroffen ist (Art 263 IV Alt 2 AEUV) oder – gegen einen Rechtsakt mit VO-Charakter vorgeht, der sie unmittelbar betrifft und keine Durchführungshandlungen nach sich zieht (Art 263 IV Alt 3 AEUV). 132 Unmittelbar betroffen ist ein Kläger von einem Rechtsakt, der sich zwangsläu-

ig auf seine Rechtsstellung auswirkt und keine Ungewissheit über den Eintritt der Rechtsfolgen entstehen lässt, entweder weil kein weiterer Durchführungsakt der nationalen Behörden erforderlich ist oder weil diese keinerlei Ermessen haben.242 Individuell betroffen ist der Kläger einer Nichtigkeitsklage, wenn der betref133 fende Rechtsakt ihn „wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten“ des Rechtsakts.243 Eine derartige Betroffenheit setzt voraus, dass die Person des Klägers mit Hilfe bestimmter persönlicher Eigenschaften zum Zeitpunkt, als der angegriffene Rechtsakt erlassen wurde, zwingend festgestellt werden kann. Das ist der Fall, wenn er im Vergleich zu den anderen allgemein Betroffenen individualisierbar ist, zB, weil er im Gegensatz zu anderen Betroffenen zum Zeitpunkt der Klageerhebung an

_____ 240 Vgl hierzu Härtel § 6 (in diesem Band) Rn 144 ff. 241 Str, siehe Streinz Rn 660. 242 Bei RL ist das meist nicht der Fall, da diese nur allgemeine Zielvorgaben enthalten, vgl EuGH, Rs C-298/89 – Gibraltar, Rn 15 ff. 243 Sog „Plaumann“-Formel seit EuGH, Rs 25/62 – Plaumann, Slg 1963, 213 (238); siehe Streinz/ Ehricke Art 263 AEUV Rn 62 ff. Werner Schroeder

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einem Verfahren vor der Kommission beteiligt war244 oder Empfänger einer staatlichen Beihilfe ist, die von einem Kommissionsbeschluss gegenüber einem Mitgliedstaat beanstandet wird oder schutzwürdig war, weil die Unionsorgane aufgrund besonderer Umstände verpflichtet waren, seinen Interessen Rechnung zu tragen,245 oder über wohlerworbene Rechte verfügt.246 Eine individuelle Betroffenheit ist hingegen nicht gegeben, wenn der Kläger lediglich einer Personengattung angehört, die jederzeit erweitert werden kann.247 Da die Rechtsprechung das Tatbestandsmerkmal äußerst restriktiv auslegt, sind individuelle Nichtigkeitsklagen gegen Rechtsnormen wie VO und RL grds unzulässig. Ob damit der gebotene effektive Rechtsschutz (vgl Art 47 GRCh) gegen Unionsrecht gewährt wird, erscheint zweifelhaft, auch wenn Privatpersonen statt mit einer Nichtigkeitsklage zu den Unionsgerichten alternativ vor nationalen Gerichten gegen die nationalen Maßnahmen zur Durchführung des betreffenden Unionsrechtsakts klagen können. Die nationalen Gerichte sind dann verpflichtet, ihre Zweifel an der Gültigkeit des betreffenden Unionsrechtsakts nach Art 267 AEUV dem Gerichtshof vorzulegen.248 Der Umweg über die nationalen Gerichte ist nicht nur zeit- und kostenintensiv. 134 Er ist einer Privatperson auch nicht zuzumuten, wenn der betreffende Unionsrechtsakt ein unmittelbar anwendbares Verbot enthält, das keiner weiteren Vollziehung bedarf. Art 263 IV Alt 3 AEUV trägt diesem Problem zumindest teilweise Rechnung. Demnach können natürliche oder juristische Personen über Art 263 IV Alt 1 und 2 AEUV hinaus gegen Rechtsakte mit VO-Charakter klagen, wenn diese sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, ohne dass sie eine individuelle Betroffenheit geltend machen müssen. Nach der Rechtsprechung haben jedoch lediglich Rechtsakte mit allgemeiner Geltung den „Charakter“ einer VO, die nicht in einem Gesetzgebungsverfahren nach Art 289 AEUV erlassen worden sind, dh insbesondere delegierte oder durchführende Rechtsakte nach Art 290 oder 291 AEUV.249 Für andere unmittelbar anwendbare Rechtsakte, die in die Rechte von Privatpersonen eingreifen, bleibt es bei der „Plaumann“-Formel.250

_____ 244 Etwa an einem Wettbewerbsverfahren vor der Kommission, vgl EuGH, Rs 26/76 – Metro / Kommission, Rn 13. 245 EuG, verb Rs T-480/93 und T-483/93 – Antillean Rice Mills / Kommission, Rn 66 ff. 246 EuGH, Rs C-309/89 – Codorníu / Rat, Rn 21 f. 247 Vgl zB EuGH, Rs C-257/93 – Leon van Parijs / Rat, Rn 9 ff. 248 EuGH, Rs 314/85 – Foto-Frost, Rn 15 ff. 249 EuGH, Rs C-583/11 P – Inuit Tapariit / Parlament und Rat, Rn 50 ff; EuG, Rs T-18/10 – Inuit Tapariit / Parlament und Rat, Rn 38 ff; vgl zum Theorienstreit Streinz/Ehricke Art 263 AEUV Rn 53 ff. 250 Oppermann/Classen/Nettesheim S 227. Werner Schroeder

644 | § 8 Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz

dd) Begründetheit 135 Die Nichtigkeitsklage ist begründet, wenn einer der in Art 263 II AEUV genannten

Nichtigkeitsgründe vorliegt. Eine Unzuständigkeit kann wegen der fehlenden Kompetenz des handelnden Organs für die betreffende Materie oder gar der Union als Verband vorliegen. Wesentliche Formvorschriften werden verletzt, wenn sich ihre Missachtung auf den Inhalt des angefochtenen Rechtsakts auswirkt. Dazu gehören insbesondere die fehlende oder fehlerhafte Mitwirkung anderer Organe am Rechtsetzungsverfahren (zB Anhörung des EP) oder die unzureichende Begründung eines Rechtsakts nach Art 296 II AEUV. Beim Ermessensmissbrauch wird nicht zwischen Beurteilungsspielraum (Tatbestand) und Ermessen (Rechtsfolgen) unterschieden (vgl Rn 46). Eine Überprüfung dieses Vorwurfs kommt wegen Art 261 AEUV jedoch nur ausnahmsweise in Betracht. Unter einer Verletzung der Verträge oder einer bei ihrer Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm ist jeder Verstoß gegen eine höherrangige Rechtsnorm zu verstehen, insbesondere die Verletzung von geschriebenem Primärrecht (zB Wahl der falschen Rechtsgrundlage für den angegriffenen Rechtsakt), die Verletzung von ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätzen oder von Grundrechten, Verstöße gegen internationale Übereinkünfte der Union im Hinblick auf Art 216 II AEUV oder gegen höherrangiges sekundäres Unionsrecht, sofern es um einen Durchführungsakt geht. Sofern mit der Nichtigkeitsklage materielle Verstöße gegen Unionsrecht, insbe136 sondere gegen Grundrechte oder das Verhältnismäßigkeitsprinzip gerügt werden, gewährt der Gerichtshof den Unionsorganen aus Gründen des institutionellen Gleichgewichts einen erheblichen Beurteilungsspielraum, da er seine rechtliche Entscheidung nicht an die Stelle der politischen Entscheidung der handelnden Einrichtung setzen will.251 Er beanstandet Rechtshandlungen der Union daher nur dann, wenn die betreffende Einrichtung das Verhältnis zwischen dem von ihr verfolgten Ziel und dem gewählten rechtlichen Mittel offensichtlich falsch eingeschätzt hat und die Rechtshandlung daher willkürlich ist (vgl Rn 49 f). Das gilt insbesondere für Handlungen des Unionsgesetzgebers,252 aber auch für Maßnahmen der Kommission, die sich auf komplexe Sachverhalte beziehen.253

ee) Urteilswirkungen 137 Stellt der Gerichtshof die Fehlerhaftigkeit des angegriffenen Rechtsakts fest, so er-

klärt er die angefochtene Handlung rückwirkend und gegenüber jedermann für

_____ 251 Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Classen S 223 verweist auf das spezifische Rollenverständnis des Gerichtshofs. 252 Ein klassisches Beispiel liefert EuGH, Rs C-280/93 – Deutschland / Rat, Rn 90 ff zur Nichtigkeitsklage Deutschlands gegen die europäische Marktordnung für Bananen. 253 EuGH, Rs 55/75 – Balkan-Import-Export, Rn 8; vgl Schroeder/Sild EuZW 2014, 12 (14 ff). Werner Schroeder

V. Gerichtliche Durchsetzung des Unionsrechts | 645

nichtig (Art 264 I AEUV). In diesem Fall kann er die Rechtswirkungen einer Handlung ausnahmsweise aufrechterhalten (Art 264 II AEUV). Nach Art 266 I AEUV sind von der beklagten Einrichtung die sich aus dem nich- 138 tigen Akt ergebenden Folgen zu beseitigen. Im Übrigen kann vom Kläger zusätzlich nach Art 266 II, Art 340 II AEUV ein Amtshaftungsprozess (vgl Rn 148 ff) angestrengt werden.

d) Untätigkeitsklage Die Untätigkeitsklage ist nach Art 265 AEUV gegen Unionseinrichtungen gerichtet, 139 die eine Beschlussfassung unterlassen. Entscheidend für den Erfolg der Klage ist, ob die beklagte Einrichtung verpflichtet war, einen entsprechenden Beschluss zu fassen. Sachlich zuständig sind für Untätigkeitsklagen nach Art 265 I AEUV die Unionsgerichte, wobei der Gerichtshof ieS, dh der EuGH, funktionell nach Art 256 I AEUV iVm Art 51 EuGH-Satzung die Untätigkeitsklagen der Unionsorgane und der Mitgliedstaaten übernimmt, während das Gericht, dh das EuG, nach Art 256 I AEUV für Untätigkeitsklagen natürlicher und juristischer Personen zuständig ist. Die Klage ist innerhalb einer Zweimonatsfrist nach Art 265 II 2 AEUV einzubringen, die gemäß Art 49 ff VerfO EuGH, Art 58 ff VerfO EuG berechnet wird. Sie beginnt mit dem Ablauf der Zweimonatsfrist, die dem Organ im Rahmen eines Vorverfahrens zur Beschlussfassung zur Verfügung steht.

aa) Beteiligte Untätigkeitsklagen können von Mitgliedstaaten, Unionsorganen sowie allen natür- 140 lichen und juristischen Personen erhoben werden (Art 265 I und III AEUV). Dieser Kreis der Klageberechtigten, die sich grds am Verfahren beteiligen können, ist ähnlich wie bei der Nichtigkeitsklage, vom Kreis der klagebefugten Personen abzugrenzen. Die Klage kann nach Art 265 I und II AEUV gegen EP, Europäischen Rat, Rat, Kommission, EZB sowie sonstige Einrichtungen der Union erhoben werden, denen die Untätigkeit zur Last gelegt wird.

bb) Klagegegenstand Mit der Untätigkeitsklage nach Art 265 I AEUV kann gerügt werden, dass das Unter- 141 lassen einer Beschlussfassung gegen höherrangiges Unionsrecht verstößt. Bei dem von der Unionseinrichtung unterlassenen „Beschluss“ muss es sich nicht um einen Beschluss iSv Art 288 IV AEUV handeln. Vielmehr kommt insoweit jeder Rechtshandlungstyp in Betracht, also insbesondere alle in Art 288 AEUV genannten verbindlichen und unverbindlichen Handlungsformen. Allerdings kann eine individuelle Untätigkeitsklage einer natürlichen oder juristischen Person nach Art 265 III AEUV nur den Nichterlass eines verbindlichen Rechtsakts (VO, RL, Beschluss), Werner Schroeder

646 | § 8 Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz

nicht jedoch die unterlassene Beschlussfassung über eine Empfehlung oder Stellungnahme rügen. Da die Klage auf die Feststellung des Gerichtshofs abzielt, dass eine Einrichtung 142 durch ihre Untätigkeit das Unionsrecht verletzt hat, kommt sie nur in Betracht, wenn diese überhaupt nicht reagiert hat. Nimmt sie zur Sache Stellung, indem ein Handeln definitiv abgelehnt oder eine andere Rechtshandlung als die beantragte erlassen wird, so ist die Nichtigkeitsklage nach Art 263 AEUV das richtige Klageinstrument. Gerügt werden muss außerdem nach Art 265 I AEUV eine Verletzung der Ver143 träge. Damit ist jedoch gemeint, dass das Unterlassen gegen Primärrecht, gegen eine internationale Übereinkunft der Union oder bei delegierten bzw durchführenden Rechtsakten nach Art 290 und 291 AEUV gegen höherrangiges Sekundärrecht verstoßen muss.

cc) Klagebefugnis 144 Die Untätigkeitsklage unterscheidet ähnlich wie die Nichtigkeitsklage hinsichtlich der Klagebefugnis zwischen verschiedenen Gruppen von Klageberechtigten für die unterschiedliche Zulässigkeitsvoraussetzungen gelten. Während die privilegierten Mitgliedstaaten und Unionsorgane nach Art 265 I AEUV ohne Nachweis einer Klagebefugnis klagen können, setzt die Zulässigkeit einer nichtprivilegierten Untätigkeitsklage natürlicher und juristischer Personen nach Art 265 III AEUV eine besondere Klagebefugnis voraus. Abgesehen davon, dass Individuen lediglich den Erlass einer verbindlichen Rechtshandlung begehren können (vgl Rn 141) müssen sie sich darüber hinaus in der Stellung eines potentiellen Adressaten der Rechtshandlung befinden, da diese „an sie zu richten“ sein muss. Individuelle Untätigkeitsklagen, mit denen der Erlass von Rechtsakten mit allgemeiner Geltung wie VO, RL und adressatenlosen Beschlüssen oder von Beschlüssen, die an Dritte zu richten wären, erstrebt wird, sind daher eigentlich nicht statthaft. Analog zur individuellen Nichtigkeitsklage nach Art 263 IV AEUV (vgl Rn 131 ff) sind jedoch jedenfalls individuelle Untätigkeitsklagen aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes gegen Rechtshandlungen statthaft, die an Dritte zu adressieren wären, sofern die begehrte Rechtshandlung den Kläger unmittelbar und individuell betrifft.254

_____ 254 Private Klagen gegen die Kommission auf Einleitung eines allg Vertragsverletzungsverfahrens gegen einen Mitgliedstaat scheitern nicht nur an der fehlenden Klagebefugnis nach Art 265 III AEUV, sondern auch daran, dass der Kommission nach Art 258 AEUV ein Ermessen zusteht (vgl Rn 118), EuG, Rs T-5/94 – J / Kommission, Rn 16 f. Werner Schroeder

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dd) Vorverfahren Der Untätigkeitsklage muss gemäß Art 265 II AEUV eine erfolglose Aufforderung 145 des Klägers an die beklagte Einrichtung zum Handeln vorausgehen. Nur wenn diese innerhalb von zwei Monaten hierzu überhaupt keine Stellung genommen hat, ist eine Untätigkeitsklage zulässig. Vertröstet die Einrichtung allerdings den Kläger, sein Anliegen werde geprüft, so liegt darin keine Stellungnahme iSv Art 265 II AEUV, denn mit „Stellung nehmen“ ist keine unverbindliche Stellungnahme iSv Art 288 V AEUV, sondern ein verbindlicher Akt gemeint, gegen den eine Nichtigkeitsklage zulässig wäre. Wird der begehrte Rechtsakt von der Einrichtung erlassen oder abgelehnt, nachdem die Klage erhoben wurde, fehlt dem Kläger das Rechtsschutzbedürfnis.255

ee) Begründetheit Die Untätigkeitsklage ist begründet, wenn die beklagte Einrichtung es unterlassen 146 hat, eine Rechtshandlung an den Kläger zu richten und dabei eine unionsrechtliche Handlungspflicht verletzt hat. Das wiederum setzt voraus, dass eine entsprechende Handlungspflicht existiert, der Inhalt der von der Einrichtung zu ergreifenden Maßnahme feststeht und eine für das Handeln bestehende Frist missachtet wurde. Besitzt die Einrichtung ein Handlungsermessen, hat – abgesehen von Missbrauchs- und Willkürfällen – eine Untätigkeitsklage typischerweise keinen Erfolg.256 Legt das Unionsrecht nicht ausdrücklich eine Frist für die Vornahme einer entsprechenden Handlung fest, so wird der Einrichtung hierfür eine angemessene Frist zugestanden.257

ff) Urteilswirkungen Der Gerichtshof erlässt ein Feststellungsurteil, in dem das rechtswidrige Unterlas- 147 sen der Einrichtung festgestellt wird. Diese kann nicht zur Vornahme der Handlung verurteilt werden, denn Art 265 AEUV stellt keine Verpflichtungsklage dar. Da es jedoch nach Art 266 I AEUV innerhalb einer angemessen Frist258 die sich aus dem Urteil ergebenden Maßnahmen zu ergreifen hat, wird praktisch bei Verurteilung die begehrte Rechtshandlung erlassen, zumal die Sanktion einer Amtshaftungsklage nach Art 268 iVm 340 II AEUV im Raum steht.

_____ 255 In diesem Fall ergeht wegen Erledigung der Klage nur noch eine Kostenentscheidung, EuGH, verb Rs C-15/91 und C-108/91 – Buckl ua / Kommission, Rn 15 und 32 f. 256 EuGH, Rs 13/83 – EP / Rat, Rn 67 f. 257 EuGH, Rs C-282/95 P – Guérin, Rn 37 f. 258 Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Classen S 225. Werner Schroeder

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e) Amtshaftungsklage 148 Art 268 AEUV stellt ein spezielles Klageverfahren zur Durchsetzung von Amtshaf-

tungsansprüchen von Mitgliedstaaten und natürlichen sowie juristischen Personen gegen Unionseinrichtungen nach Art 340 II AEUV zur Verfügung. Die allgemein verwendete Bezeichnung „Amtshaftungsklage“259 ist allerdings missverständlich, da auch die Haftung der Unionseinrichtungen für normatives Unrecht anerkannt wird.260

aa) Abgrenzung der Zuständigkeit 149 Sachlich ist für Amtshaftungsklagen nach Art 268 AEUV die Unionsgerichtsbarkeit

zuständig. Für Amtshaftungsklagen gegen nationale Stellen, die Unionsrecht fehlerhaft durchführen oder anwenden, sind hingegen die nationalen Gerichte zuständig. Um die Zuständigkeiten der Gerichtsbarkeiten abgrenzen zu können, muss festgestellt werden, welche Ebene für die rechtswidrige Handlung verantwortlich ist, was im Einzelfall vom Ermessensspielraum der jeweils handelnden Einrichtung abhängt (vgl Rn 16 ff). Funktionell ist nach Art 256 I AEUV das Gericht für alle Amtshaftungsklagen gegen Unionseinrichtungen zuständig. Im Übrigen geht es bei der Amtshaftungsklage vor den Unionsgerichten nur um die außervertragliche Haftung nach Art 340 II AEUV. Die vertragliche Haftung der Union nach Art 340 I AEUV muss nach Art 274 AEUV grds von den nationalen Gerichten beurteilt werden (siehe aber Art 272 AEUV).

bb) Beteiligte 150 Alle Rechtssubjekte können eine Amtshaftungsklage erheben, vor allem natürli-

che und juristische Personen, ohne Rücksicht auf ihren Wohnsitz, Sitz oder Staatsangehörigkeit, da Art 268 AEUV insoweit keine Einschränkung enthält. In Betracht kommen nach dem Wortlaut der Vorschrift ebenso Mitgliedstaaten, obwohl dies in der Praxis keine Rolle spielt.261 Klagegegner müsste nach dem Wortlaut von Art 268 AEUV die Union sein, die als juristische Person für die Tätigkeit ihrer Einrichtungen haftet. In der Praxis treten teilweise jedoch nicht nur die Organe, sondern auch andere Einrichtungen der Union als Beteiligte und nicht als Vertreter der Union vor den Unionsgerichten auf. Die Rechtsprechung ist insofern uneinheitlich.262

_____ 259 Streinz Rn 673 ff; Oppermann/Classen/Nettesheim S 227. 260 Vgl Streinz Rn 674. 261 Rengeling/Middeke/Gellermann/Middeke S 182; Streinz/Ehricke Art 268 AEUV Rn 6 lehnen jedoch eine Klagemöglichkeit der Mitgliedstaaten ab, weil dadurch das „institutionelle Gefüge“ der Union gestört werden könnte. 262 Siehe die Nachweise bei Rengeling/Middeke/Gellermann/Middeke S 182 f. Werner Schroeder

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cc) Klagegegenstand Zulässiger Klagegegenstand der Amtshaftungsklage ist nach Art 268 iVm 340 II 151 AEUV das Verlangen nach Schadenersatz für einen in Ausübung einer Amtstätigkeit der Organe oder Bediensteten der Union verursachten Schaden.263 Dabei muss es sich nicht stets um eine Behördentätigkeit handeln, weil auch eine Haftung für legislatives oder judikatives Handeln denkbar ist.264 Die Amtshaftungsklage ist nicht auf die Beseitigung einer Rechtshandlung der Union gerichtet, sondern ein eigenständiger Rechtsbehelf. Sie ist daher auch zulässig, wenn sie sich auf eine Haftung für Rechtshandlungen der Unionsorgane bezieht, gegen die eine Nichtigkeitsklage unzulässig war, zB wegen fehlender Klagebefugnis nach Art 263 IV AEUV.265

dd) Begründetheit Die Amtshaftungsklage ist begründet, wenn ein Amtshaftungsanspruch nach 152 Art 340 II AEUV besteht.266 Wie bei Schadenersatzklagen vor nationalen Gerichten wird auch bei der Amtshaftungsklage zunächst geprüft, ob eine Haftung dem Grunde nach besteht, was mitunter durch ein Zwischenurteil des Gerichts festgestellt wird, bevor dann im Rahmen eines Endurteils die Union bzw deren handelnde Einrichtung zu einem konkreten Schadenersatz im Hinblick auf die konkrete Schadenshöhe verurteilt wird.267

f) Einstweiliger Rechtsschutz Aus dem Prinzip des effektiven Rechtsschutzes (Art 47 GRCh) lässt sich der An- 153 spruch der Betroffenen auf eine gerichtliche Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist ableiten.268 Daraus ergibt sich die Notwendigkeit von einstweiligem Rechtsschutz durch die Unionsgerichte.269 Das gilt vor allem, weil zum einen die Klagen vor den Unionsgerichten nach Art 278 S 1 AEUV keine aufschiebende Wir-

_____ 263 Art 268 iVm 340 AEUV gilt nicht für Klagen auf Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen Einzelner gegen Mitgliedstaaten wegen der Verletzung von Unionsrecht. Für derartige Staatshaftungsansprüche sind die nationalen Gerichte zuständig. 264 Vgl Streinz/Gellermann Art 340 AEUV Rn 15 f; ferner oben, Rn 148. 265 EuGH, Rs 5/71 – Zuckerfabrik Schöppenstedt / Rat, Rn 3. Amtshaftungsklagen, die die Einhaltung der Klagefrist für Nichtigkeitsklagen nach Art 263 VI AEUV umgehen, sind jedoch unzulässig, vgl verb Rs C-199/94 P und C-200/94 P – Pesquería Vasco-Montañesa ua / Kommission, Rn 27 f. 266 Vgl Streinz/Ehricke Art 268 AEUV Rn 13. 267 Rengeling/Middeke/Gellermann/Gellermann S 202. 268 Als Ausfluss des Anspruchs auf einen fairen Prozess, EuGH, Rs C-185/95 P – Baustahlgewebe, Rn 21. 269 Hierzu Jaeger EuR 2013, 3 (6 ff). Werner Schroeder

650 | § 8 Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz

kung haben und zum anderen die Verfahrensdauer vor den Unionsgerichten beträchtlich ist.270

aa) Instrumente der Verfahrensbeschleunigung 154 Als Alternative zu Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes kommt nach Antrag

einer Partei ein beschleunigtes Verfahren in der Hauptsache vor den Unionsgerichten in Betracht. Ein solches für allen Klagearten mögliches Verfahren verkürzt die Verfahrensdauer von ca 16 Monaten auf 4–6 Monate. Es wird jedoch nach Art 23a EuGH-Satzung, Art 53 IV, Art 105 und 133 VerfO EuGH, Art 151 ff VerfO EuG nur durchgeführt, wenn die Art der Rechtssache eine rasche Erledigung erfordert.271 Darüber hinaus gibt es nach Art 23a EuGH-Satzung, Art 107 VerfO EuGH in Angelegenheiten des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nach Art 67 ff AEUV in der Hauptsache ein Eilvorabentscheidungsverfahren. Außerdem können die Präsidenten der Unionsgerichte nach Art 53 III VerfO EuGH, Art 67 II VerfO EuG entscheiden, eine Sache durch vorrangige Terminierung bevorzugt zu behandeln. Schließlich macht der Gerichtshof häufig von der durch Art 20 EuGH-Satzung gebotenen Möglichkeit Gebrauch, ohne Schlussanträge des Generalanwalts zu entscheiden, wenn eine Rechtssache keine neue Rechtsfrage aufwirft.

bb) Voraussetzungen für einstweiligen Rechtsschutz 155 Beim einstweiligen Rechtsschutz wird hingegen, um die Rechte der Parteien bis zur

abschließenden Entscheidung in der Hauptsache zu wahren, eine vorläufige Entscheidung getroffen. Die Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes stehen damit in einem zwingenden Zusammenhang mit einem Hauptsacheverfahren. Der AEUV gestattet in der Situation einer Nichtigkeitsklage (Art 263 AEUV) An156 träge auf Aussetzung der Durchführung der angefochtenen Handlung der Union nach Art 278 AEUV. Eine solche einstweilige Maßnahme kann erforderlich sein, weil die Nichtigkeitsklage als solche nach Art 278 S 1 AEUV keine aufschiebende Wirkung hat. In Fällen von Vertragsverletzungs-, Untätigkeits- oder Amtshaftungsklagen (Art 258, 265 oder 268 AEUV) kommen sonstige einstweilige Anordnungen nach Art 279 AEUV in Betracht.272 Das Antragsziel richtet sich jeweils nach dem Antragsgegenstand der Hauptsache. Schließlich können einstweilige Maßnahmen

_____ 270 Die Verfahrensdauer betrug 2017 durchschnittlich 16,3 Monate, Jahresüberblick des Gerichtshofs der Europäischen Union 2017 S 14. 271 Vgl zB EuGH, Rs C-370/12 – Pringle in einem Vorabentscheidungsverfahren und Rs C-286/12 – Kommission / Ungarn in einem Vertragsverletzungsverfahren. 272 Vgl zB EuGH, Rs C-619/18 – Kommission / Polen in einem Vertragsverletzungsverfahren wegen der Frühpensionierung von Richtern am polnischen Höchstgericht. Werner Schroeder

V. Gerichtliche Durchsetzung des Unionsrechts | 651

nach Art 279 AEUV auch die Aussetzung der Zwangsvollstreckung der Handlungen des Rates, der Kommission und des EuGH nach Art 299 IV AEUV bzw nach Art 280 iVm 299 IV AEUV umfassen. Die Voraussetzungen für die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz durch 157 die Unionsgerichte sind in den VerfO EuGH und VerfO EuG geregelt. Grds ist jedoch ein Antrag auf Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz nur zulässig, wenn neben den allgemeinen Voraussetzungen wie Zuständigkeit, Antragsbefugnis, Form und Frist, zunächst ein Hauptsacheverfahren anhängig ist, da der einstweilige Rechtsschutz im Unionsrecht akzessorisch ist (Art 160 I und II VerfO EuGH und Art 156 I und II VerfO EuG). Begründet ist ein entsprechender Antrag, wenn er dringlich ist, weil der Kläger ohne vorläufigen Rechtsschutz einen schweren, nicht wiedergutzumachenden Schaden erleiden würde, und eine Anordnung notwendig ist, weil der Antrag in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht eine hinreichende Erfolgsaussicht besitzt (Art 160 III VerfO EuGH und Art 156 III VerfO EuG).273 Wirtschaftliche Nachteile allein rechtfertigen den Erlass einstweiliger Maßnahmen idR nicht, weil finanzielle Schäden allgemein als reparabel gelten, es sei denn, sie haben existenzbedrohenden Charakter.274 Liegen diese Voraussetzungen vor, „kann“ der Präsident des zuständigen Unionsgerichts nach Abwägung der betroffenen Interessen und der Erfolgsaussichten eine entsprechende Ermessensentscheidung treffen (vgl Art 278 und 279 AEUV; Art 161 VerfO EuGH und Art 158 VerfO EuG). Antragsberechtigt sind alle Personen, die in der Hauptsache eine einschlägige Klage erhoben haben. Die einstweiligen Anordnungen können sich gegen Unionseinrichtungen oder gegen Mitgliedstaaten richten.

5. Durchsetzung vor den nationalen Gerichten a) Anwendung des Unionsrechts durch nationale Gerichte In der Praxis wird ein Großteil des Unionsrechts von nationalen Einrichtungen 158 durchgeführt (vgl Rn 23 und 49). Nationale Gerichte sind aufgrund der unmittelbaren Geltung und des Vorrangs des Unionsrechts von Amts wegen zur Anwendung und Wahrung des Unionsrechts verpflichtet.275 Dabei dürfen sie nationales Recht nicht anwenden, das mit unmittelbar anwendbarem Unionsrecht kollidiert.276 Aber auch unionsrechtliche Vorschriften, die nicht unmittelbar anwendbar sind, wie zB in bestimmten RL, müssen sie bei ihren Entscheidungen berücksichtigen.277

_____ 273 Siehe zur Rechtsprechung des Gerichts Jaeger EuR 2013, 3 (6 ff). 274 EuGH, Rs 229/88 R – Cargill, Rn 17 f einerseits und verb Rs C-51/90 R und C-59/90 R – Cosmos Tank ua, Rn 21 andererseits; siehe Rengeling/Middeke/Gellermann/Wegener S 348. 275 EuGH, Rs 106/77 – Simmenthal, Rn 14/16 und 21/23; Rs 103/88 – Fratelli Costanzo, Rn 30. 276 Seit EuGH, Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L., Slg 1964, 1253 (1265). 277 ZB durch eine RL-konforme Auslegung des nationalen Rechts seit EuGH, Rs 14/83 – von Colson und Kamann, Rn 26. Werner Schroeder

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159

Streitigkeiten über die Durchsetzung des Unionsrechts spielen sich daher meist zwischen nationalen Behörden und Privatpersonen oder zwischen Privatpersonen untereinander ab. Können solche Streitigkeiten nicht anders beigelegt werden, führen sie zu Verfahren vor nationalen Gerichten. Eine direkte Klage von Privatpersonen vor den Unionsgerichten gegen unionsrechtswidriges Verhalten von Mitgliedstaaten ist schließlich in den Verträgen nicht vorgesehen. Indessen obliegt es den nationalen Gerichten unionsrechtlich genauso wie den Unionsgerichten, für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu sorgen und die Rechte der Unionsbürger zu schützen. Wie Art 19 I U Abs 2 EUV zeigt, sind sie aufgrund dieser Pflicht, unionsrechtlichen Rechtsschutz zu gewähren, funktional betrachtet ebenfalls „ordentliche Unionsgerichte“.278 Sie haben insofern eine Reservefunktion bei der gerichtlichen Durchsetzung 160 des Unionsrechts in Bezug auf alle Streitigkeiten unter Beteiligung nationaler Einrichtungen und natürlicher und juristischer Personen279 während direkter Rechtsschutz gegen Unionseinrichtungen ausschließlich vom Gerichtshof und Gericht gewährt wird.280 Dementsprechend wird in Deutschland, soweit eine Leistungsklage ausscheidet, die Feststellungsklage gemäß § 256 ZPO, § 43 VwGO als Instrument verwendet, um Rechtsschutzlücken zu schließen. Mit ihrer Hilfe lässt sich insbesondere klären, ob unmittelbar anwendbares Sekundärrecht mit dem Primärecht vereinbar ist.281 Die zuständigen Verwaltungsgerichte müssen diese Frage dann nach Art 267 AEUV dem EuGH vorlegen, der ein entsprechendes Prüfungs- und Verwerfungsmonopol besitzt.282 Denkbar ist eine solche Klage auch, um die Unanwendbarkeit deutscher Gesetze wegen einer Kollision mit Unionsrecht feststellen zu lassen.283 In Betracht kommen schließlich Normenkontrollanträge zu den OVG nach § 47 VwGO, um die Vereinbarkeit untergesetzlicher deutscher Normen mit dem Unionsrecht überprüfen zu lassen.284 Deutsche Gerichte sind ebenfalls dafür zuständig, über Staatshaftungsansprüche von Privatpersonen gegen die Mitgliedstaaten wegen der Verletzung von Unionsrecht zu entscheiden, da es insoweit eine analoge Anwendung von Art 268 AEUV ausscheidet.285

_____ 278 EuGH, Gutachten 1/09 – Einheitliches Patentgerichtssystem, Rn 80. 279 EuGH, Rs C-97/91 – Borelli, Rn 13 ff. 280 EuGH, Rs 294/83 – Les Verts / EP, Rn 23. 281 Im Hinblick auf die restriktive Auslegung des Art 263 IV AEUV (vgl Rn 133), die in den meisten Fällen zur Unzulässigkeit einer Nichtigkeitsklage Privater vor den Unionsgerichten führt, vgl Karpenstein Rn 317 ff; Oppermann/Classen/Nettesheim S 227. 282 EuGH, Rs 314/85 – Foto-Frost, Rn 17. 283 Die Praxis ist uneinheitlich, weil die Feststellungsklage kein Instrument ist, um eine abstrakte Rechtsfrage prüfen zu lassen; vgl BVerwG, 7 C 2.07, BVerwGE 129, 199 (204) bzw 8 C 19.09, BVerwGE 136, 54 (56 f); siehe Karpenstein Rn 321. 284 Vgl zum Prüfungsmaßstab unten Rn 166; BVerwG, 4 B 15.95, NVwZ-RR 1995, 358 (359). 285 EuGH, verb Rs C-6/90 und C-9/90 – Francovich ua, Rn 42. Werner Schroeder

V. Gerichtliche Durchsetzung des Unionsrechts | 653

b) Organisations- und Verfahrensautonomie Die Verträge enthalten, abgesehen von der Pflicht zur Gewährung von Rechtsschutz 161 nach Art 19 I UAbs 2 EUV und Art 267 AEUV, jedoch keine Vorschriften, wie das Unionsrecht vor nationalen Gerichten durchzusetzen ist. Daher ist es grds Sache des nationalen Rechts, diesen Bereich zu regeln. Es gilt somit – ebenso wie bei der Durchsetzung des Unionsrechts durch nationale Behörden – in Bezug auf die gerichtliche Durchsetzung des Unionsrechts das Prinzip der institutionellen Autonomie der Mitgliedstaaten. Nach Ansicht des Gerichtshofs ist es „[m]angels einer einschlägigen [Unions]regelung [….] Sache des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten [ist], die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Bürger aus dem [Unions]recht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen“.286 Die Mitgliedstaaten dürfen damit im Anwendungsbereich des Unionsrechts sowohl die gerichtliche Organisation als auch die Modalitäten der Verfahren vor nationalen Gerichten durch den Erlass von Gerichtsverfassungsgesetzen und Prozessordnungen eigenverantwortlich regeln.287 Ebenso wie in Bezug auf den mitgliedstaatlichen Vollzug des Unionsrechts gilt 162 diese Autonomie nicht unbegrenzt, sondern steht unter einem unionsrechtlichen Kontrollvorbehalt. Nationales Gerichtsverfassungs- und -verfahrensrecht darf für „Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem [Unions]recht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nicht weniger günstig ausgestaltet sein als die für entsprechende innerstaatliche Klagen (Grundsatz der Gleichwertigkeit) und die Ausübung der durch die [Unions]rechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität)“.288 Darüber hinaus sind im Rahmen der Verfahren vor nationalen Gerichten, die Unionsrecht anwenden, nach Art 51 I 1 GRCh die Unionsgrundrechte und allgemeinen Rechtsgrundsätze zu wahren. Dazu gehören vor allem die Justizgrundrechte in Art 47 ff GRCh, allen voran das Recht auf effektiven Rechtsschutz und ein faires Verfahren nach Art 47 GRCh.289 Diese Grundsätze können dazu führen, dass nationales Verfahrensrecht unions- 163 rechtlich modifiziert wird. Bislang hat das etwa auf die Bestimmung der Klagebefugnis im Verwaltungsprozess nach § 42 II VwGO ausgewirkt, da diese an die Kategorie des subjektiv-öffentlichen Rechts anknüpft. Nach der deutschen Schutznorm-

_____ 286 EuGH, Rs C-432/05 – Unibet, Rn 39; bereits Rs C-312/93 – Peterbroek, Rn 12; speziell in Bezug auf das Staatshaftungsrecht EuGH, verb Rs C-6/90 und C-9/90 – Francovich ua, Rn 42; verb Rs C46/93 und C-48/93 – Brasserie du Pêcheur, Rn 67. 287 Rengeling/Middeke/Gellermann/Gellermann S 625: „institutionelle und verfahrensmäßige Autonomie“. 288 EuGH, Rs C-432/05 – Unibet, Rn 43. 289 Siehe bereits EuGH, Rs C-276/01 – Steffensen, Rn 70 ff. Werner Schroeder

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theorie wird ein subjektiv-öffentliches Recht des Einzelnen bejaht, wenn eine Norm des objektiven Rechts vorliegt, die zumindest auch dem Schutz individueller Interessen dient. Die Beschränkung der Klagebefugnis im Verwaltungsprozess in unionsrechtlichen Streitigkeiten auf Personen, denen ein solches Recht zusteht, kann allerdings mit dem Anspruch auf effektive Durchsetzung der Unionsrechte kollidieren und muss in diesem Fall zurücktreten.290 Das Klagerecht von Privatpersonen darf nicht von der Berufung auf individualschützende Rechtsvorschriften („Schutznormakzessorietät“) abhängig gemacht werden, da unmittelbar anwendbare Rechte des Unionsrechts bereits dann Rechte des Einzelnen begründen, wenn sie hinreichend bestimmt und unbedingt formuliert sind.291 Unbestritten ist, dass § 42 II VwGO im Anwendungsbereich des Unionsrechts daher einschränkend auszulegen ist, wobei jedoch keine Einigkeit darüber besteht, ob für die Klagebefugnis unter Berufung auf unmittelbar anwendbare Normen des Unionsrechts zumindest eine faktische Betroffenheit oder gar eine Beeinträchtigung individualisierter Rechtspositionen verlangt werden kann.292 Ein weiteres Problem hängt mit der Anwendung von Klage- und Präklu164 ionsfristen sowie des Eintritts der Rechtskraft nach nationalem Prozessrecht zusammen. Prinzipiell sind derartige Instrumente des Verfahrensrechts, die der Herstellung von Rechtsfrieden und damit der Gewährleistung von Rechtssichereit dienen, unionsrechtlich akzeptabel, weil sie Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes sind, der auch im Unionsrecht selbst gilt.293 Indessen müssen solche Verfahrensmodalitäten mit dem Effektivitätsgebot vereinbar sein und dürfen nicht die praktische Verwirklichung unionsrechtlicher Ziele unmöglich machen. Dies betrifft vor allem Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung, die unangemessen kurz bemessen sind.294 Die in § 74 VwGO, § 47 FGO und § 87 SGG verankerten Ausschlussfristen gelten jedoch allgemein als unbedenklich. 295 Die Verpflichtung der nationalen Gerichte, kollidierendes nationales Recht nicht anzuwenden, führt grds nicht dazu, dass rechtskräftige gerichtliche Entscheidungen unter Berufung

_____ 290 Siehe auch Streinz/Schroeder Art 288 AEUV Rn 48; Rengeling/Middeke/Gellermann/ Gellermann S 666; Schoch NVwZ 1999, 457 (463); Hong JZ 2012, 380. 291 EuGH, Rs 103/88 – Fratelli Costanzo, Rn 30. 292 Darstellung des Streitstandes bei Rengeling/Middeke/Gellermann/Gellermann S 667 f; Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Classen S 244 f. 293 EuGH, Rs C-234/04 – Kapferer, Rn 20. 294 EuGH, Rs C-343/96 – Dilexport, Rn 25. 295 Rengeling/Middeke/Gellermann/Gellermann S 672 f; Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Classen S 245. In einem Sonderfall hat der Gerichtshof bezüglich einer von einem Mitgliedstaat nicht umgesetzten RL zwar entschieden, dass entsprechende Klagefristen gehemmt werden, falls es aufgrund der besonderen Umstände des Falles dem Kläger absolut unmöglich oder unzumutbar war, seine unionsrechtlich begründeten Rechtspositionen wahrzunehmen, EuGH, Rs C-208/90 – Emmott, Rn 20 ff. Dieser hat bisher vor deutschen Gerichten jedoch keine Rolle gespielt. Werner Schroeder

V. Gerichtliche Durchsetzung des Unionsrechts | 655

darauf, dass diese gegen Unionsrecht verstoßen, wieder in Frage gestellt werden können.296 Da nationale Gerichte wegen des Vorrangs des Unionsrechts verpflichtet sind, 165 nationale Vorschriften auf ihre Vereinbarkeit mit Unionsrecht zu prüfen und Bestimmungen, die mit diesem kollidieren, nicht anzuwenden, modifiziert das Unionsrecht auch die nationalen Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit. In Deutschland liegt das Normverwerfungsmonopol in Bezug auf Gesetze nach Art 93 und 100 GG beim BVerfG. Nach Ansicht des Gerichtshofs müssen nationale Gerichte ungeachtet dieses verfassungsgerichtlichen Monopols unionswidrige Gesetze selbst verwerfen.297 Ein weiteres Problem, das sich in der Praxis bisher gestellt hat, betrifft den Prü- 166 fungsmaßstab im Rahmen verwaltungsgerichtlicher Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO, in denen das OVG über die „Gültigkeit“ untergesetzlicher Normen wie VO oder Satzungen entscheidet. Nach der Rechtsprechung ist dabei nicht nur deutsches Recht, sondern auch Unionsrecht als Maßstab zu berücksichtigen, obwohl ein Verstoß untergesetzlicher Normen des deutschen Rechts gegen Unionsrecht nicht zu deren Ungültigkeit, sondern lediglich zur Unanwendbarkeit führen würde. Andernfalls wäre der Grundsatz der Gleichwertigkeit bzw der Äquivalenz verletzt.298

c) Einstweiliger Rechtsschutz Nachdem ein wesentlicher Teil des Unionsrechts von nationalen Stellen durchge- 167 führt wird, ist die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz in diesem Zusammenhang durch nationale Gerichte praktisch bedeutsam. In Betracht kommt ein einstweiliger Rechtsschutz gegen Unionsrecht, das von nationalen Stellen durchgeführt wird (Rn 168), oder gegen nationales Recht, das von nationalen Stellen durchgeführt wird und mit Unionsrecht kollidiert (Rn 169). Beide Fälle sind in den Verträgen nicht geregelt, da sich die Art 278 f AEUV nur auf die Gewährung des einstweiligen Rechtsschutzes durch die Unionsgerichte beziehen. Grds entscheidet das nationale Recht über die verfahrensrechtlichen Modalitä- 168 ten der Durchführung von Unionsrecht in den Mitgliedstaaten (vgl Rn 58 ff). Jedoch müssen die nationalen Gerichte, die Unionsrecht anwenden, das Gebot des effektiven Rechtsschutzes, das ein Unionsgrundrecht ist (vgl Art 47 GRCh) beachten. Da-

_____ 296 Im Beihilferecht geht der EuGH jedoch in Einzelfällen von einer Pflicht zur Nichtanwendung von nationalen Verfahrensbestimmungen aus, die einem gegen Unionsrecht verstoßenden Urteil Rechtskraft verleihen, EuGH, Rs C-119/05 – Lucchini SpA, Rn 59 ff. 297 EuGH, Rs 106/77 – Simmenthal, Rn 21/23. 298 BVerwG, 4 B 15.95, NVwZ-RR 1995, 358; Karpenstein Rn 323; für eine analoge Anwendung von § 47 VwGO deshalb Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Classen S 246. Werner Schroeder

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her ist der Fall, dass vor einem nationalen Gericht einstweiliger Rechtsschutz gegen sekundäres Unionsrecht angestrebt wird, in ähnlicher Weise zu lösen, wie die Gewährung eines entsprechenden Rechtsschutzes vor den Unionsgerichten, dh analog Art 278 bzw 279 AEUV. Ein solcher Rechtsschutz durch nationale Gerichte ist in der Situation einer Anfechtungsklage oder einer Verpflichtungsklage denkbar.299 Er ist obligatorisch mit einer Vorlage an den Gerichtshof nach Art 267 AEUV zu verbinden. Der Sache nach wird dadurch der nach §§ 80, 80a und 123 VwGO mögliche einstweilige Rechtsschutz der Bürger modifiziert, soweit dieser die Durchführung des Unionsrechts erschwert.300 Die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz durch nationale Gerichte ge169 gen nationales Recht, das mit Unionsrecht kollidiert, ist im AEUV ebenso wenig geregelt. Die verfahrensrechtliche Autonomie der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Durchführung von Unionsrecht ist hier ebenfalls eingeschränkt. Das Effektivitätsprinzip und das Prinzip des effektiven Rechtsschutzes gebieten, dass die Mitgliedstaaten auch in einer solchen Konstellation den erforderlichen vorläufigen Rechtsschutz schaffen. Art 278 und 279 AEUV kommen hier indessen nicht analog zur Anwendung, da es nicht darum geht, dass die Durchführung von Unionsrecht ausgesetzt werden soll. Vielmehr sind insoweit die §§ 80 und 123 VwGO anwendbar und so zu interpretieren, dass Unionsrecht effektiv durchgesetzt wird.301

d) Funktion nationaler Verfassungsgerichte 170 Die oben beschriebene „Reservefunktion“ nationaler Gerichte für die Gewährung

von Rechtsschutz im Anwendungsbereich des Unionsrechts nach Art 19 I UAbs 2 EUV gilt nicht nur für nationale Fachgerichte, sondern auch für nationale Verfassungsgerichte. Diese sind ebenso wie nationale Fachgerichte zur Anwendung des Unionsrechts und zur Wahrung der Rechte der Unionsbürger durch effektiven Rechtsschutz verpflichtet.302 Die Verflechtung zwischen verfassungsgerichtlichem einerseits und unions171 rechtlichem Rechtsschutz andererseits zu einem umfassenden Rechtsschutzsystem zeigt sich daran, dass das BVerfG den Gerichtshof als gesetzlichen Richter iSv

_____ 299 EuGH, verb Rs C-143/88 und C-92/89 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen, Rn 22 ff einerseits und Rs C-465/93 – Atlanta, Rn 26 ff andererseits; Rengeling/Middeke/Gellermann/Gellermann S 686 ff; Brinker NJW 1996, 1251; Karpenstein Rn 343 ff. 300 OVG Koblenz, 8 B 11220/03, NVwZ 2004, 363; Schoch DVBl 1997, 289; siehe auch EuGH, Rs C217/88 – Kommission / Deutschland (Tafelwein), Rn 26 ff, danach kann eine deutsche Behörde außerdem wegen des Effektivitätsgebots verpflichtet sein, einem Widerspruch die aufschiebende Wirkung zu nehmen, in dem sie die sofortige Vollziehung eines VA nach § 80 II Nr 4 VwGO anordnet. 301 OVG Koblenz, 8 B 11220/03, NVwZ 2004, 363; Karpenstein Rn 347. 302 BVerfG, 1 BvR 256/08, BVerfGE 125, 260 (307 ff) – Vorratsdatenspeicherung; siehe jetzt BVerfG, 2 BvR 2728/13 – Anleihekäufe der EZB. Werner Schroeder

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Art 101 I 2 GG anerkannt hat. Missachtet ein deutsches letztinstanzliches Gericht daher seine Vorlagepflicht nach Art 267 III AEUV, so kommt eine Urteilsverfassungsbeschwerde nach Art 93 I Nr 4a GG in Betracht, da in diesem Fall das grundrechtsgleiche Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter iSv Art 101 I 2 GG verletzt sein kann. Dies gilt jedoch nur bei einer offensichtlich unvertretbaren und daher willkürlichen Missachtung der Vorlagepflicht, wobei in der Rechtsprechung dieses Kriterium zugunsten der Beschwerdeführer großzügig gehandhabt wird.303 Darüber hinaus nimmt das BVerfG aber aus verfassungsrechtlichen Gründen 172 eine Reservezuständigkeit gegenüber dem Gerichtshof in Anspruch.304 Es bestreitet dessen Letztentscheidungsrecht über den Vorrang des Unionsrechts vor nationalem Verfassungsrecht.305 Seiner Ansicht nach ist das Unionsrecht lediglich „kraft der durch die Zustimmungsgesetze […] erteilten Rechtsanwendungsbefehle […] Teil der innerstaatlich geltenden Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland“ geworden.306 Weil jedoch das gemäß Art 23 I, Art 59 II 1 GG erlassene Zustimmungsgesetz als verfassungsrechtliche „Brücke“ wirkt, müsse das Unionsrecht die in Deutschland geltenden verfassungsrechtlichen Grenzen respektieren. Das BVerfG hat verschiedene Fälle im Blick, in denen es den Vorrang des Unionsrechts und damit die Letztentscheidungszuständigkeit des Gerichtshofs über dessen Wirkung aus der Perspektive des GG durch Art 23 I 3 GG und Art 79 III in Deutschland begrenzen will. Dazu gehören ausbrechende Rechtsakte („ultra vires“-Akte) der Union, die nicht mehr von der im deutschen Zustimmungsgesetz des BT zum EUV bzw AEUV erteilten Ermächtigung („Integrationsprogramm“) gedeckt sind.307 Zusätzlich sei zu prüfen, ob eine Ausübung von Befugnissen, die deutsche Staatsorgane an die Union übertragen haben, die durch Art 23 I 3 iVm Art 79 GG geschützte deutsche Verfassungsidentität verletzt („Identitätskontrolle“), zB weil es um Materien geht, die in der nationalen Kompetenz verbleiben müssen, wie die Staatsbürgerschaft, das Gewaltmonopol des Staates oder die Budgethoheit des BT.308 Schließlich verstoßen Rechtshandlungen der Union, die mit der „generelle(n) Gewährleistung des unab-

_____ 303 Vgl zuletzt BVerfG 2 BvR 1561/12, BVerfGE 135, 155 (231 ff) – Filmförderung; auch BVerfG, 2 BvR 516/09, 2 BvR 535/09, NJW 2012, 598 (599); 1 BvR 1631/08, NJW 2011, 288; Britz NJW 2012, 1313; Schröder EuR 2011, 814 ff. Demgegenüber wird in Österreich der gleichlautende Art 83 II B-VG bei jeder Missachtung der Vorlagepflicht durch letztinstanzliche Gerichte angewendet, vgl VfGH, VfSlg 14.390/1995; 14.607/1999. 304 Oppermann/Classen/Nettesheim S 211. 305 Siehe hierzu EuGH, Rs 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft, Rn 3 f. 306 BVerfG, 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (367) – Solange II; 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (188) – Maastricht. 307 BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (188) – Maastricht. 308 BVerfG, 2 BvE 2, 5/08, BVerfGE 123, 267 (357 f) – Lissabon.. Werner Schroeder

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dingbaren Grundrechtsstandards“ in Deutschland nicht mehr vereinbar sind, gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art 20 III GG).309 In den Verfahren vor dem BVerfG sind nach Art 93 GG, § 13 BVerfGG ausschließ173 lich Maßnahmen deutscher Hoheitsgewalt möglicher Prüfungsgegenstand, weshalb das Gericht lediglich die Anwendung von Unionsrecht durch deutsche Hoheitsträger beanstanden kann. Es kann jedoch nicht primäres oder sekundäres Unionsrecht für verfassungswidrig erklären. Im Ergebnis nimmt das BVerfG jedoch ein inzidentes Prüfungs- und Verwerfungsrecht in Bezug auf Rechtsakte der Union oder Urteile des Gerichtshofs in Anspruch. Seine Entscheidungen können bewirken, dass Unionsrecht keinen Vorrang in Deutschland entfaltet. Das Monopol des Gerichtshofs zur Auslegung und Verwerfung von Unionsrecht wird in einem solchen Fall angegriffen.310 Möglich wird eine solche Prüfung im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde (Art 93 I Nr 4a GG) oder einer abstrakten Normenkontrolle (Art 93 I Nr 2 GG) oder anderer verfassungsgerichtlicher Verfahren gegen entsprechende deutsche Hoheitsakte. Fachgerichte können im Wege einer konkreten Normenkontrolle nach Art 100 I GG dem BVerfG auch deutsche Zustimmungs- oder Umsetzungsgesetze in Bezug auf Unionsrecht vorlegen, nicht aber Normen des Sekundärrechts selbst.311 Das BVerfG hat rechtliche Hürden für die Geltendmachung einer Verfas174 sungswidrigkeit in solchen Fällen aufgebaut. So weist es Anträge als unzulässig zurück, sofern diese nicht detailliert begründen, warum ein als unabdingbar geltender Grundrechtsschutz generell nicht mehr gewährleistet sein soll.312 Auch in Bezug auf ultra vires-Rechtsakte der Union beanstandet es nur „hinreichend qualifizierte“ Kompetenzverstöße, die offensichtlich und erheblich sind.313 Eine Ausnahme von diesen strengen Anforderungen macht das BVerfG nur, soweit das Unionsrecht den Mitgliedstaaten bei der Durchführung einen Spielraum belässt. In diesem Fall kann das BVerfG in vollem Umfang prüfen, ob die deutschen Staatsorgane diesen Durchführungsspielraum in verfassungsmäßiger Weise genutzt ha-

_____ 309 BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (175) – Maastricht. 310 BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (174 f bzw 188) – Maastricht; 2 BvE 2, 5/08, BVerfGE 123, 267 (353) – Lissabon. 311 Str, ablehnend auch Ehlers/Schoch/Wernsmann S 394; für eine Vorlage analog Art 100 I GG Streinz EUV/AEUV Art 19 EUV Rn 92; auch BVerfG, 2 BvL 1/97, BVerfGE 102, 147 (163) – Honeywell; VG Frankfurt, EuZW 1997, 182 (185). Eine Verfassungsbeschwerde analog Art 93 I Nr 4a GG und eine abstrakte Normenkontrolle analog Art 93 I Nr 2 GG unmittelbar gegen Unionssekundärrecht werden jedoch allgemein abgelehnt. 312 Vgl BVerfG, 2 BvL 1/97, BVerfGE 102, 147 (163 f) – Bananenmarktordnung. 313 BVerfG, 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 (304 f) – Honeywell, vgl Schroeder FS Günther H Roth, 2011, 735 (744 ff). Werner Schroeder

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ben.314 Auch eine Missachtung des Identitätskerns der deutschen Verfassung durch Unionsrecht überprüft das BVerfG konsequent.315 In jedem Fall sind die Verfahren vor dem BVerfG, in der es um die Anwendung 175 und Auslegung von Unionsrecht geht, vom Kooperationsverhältnis (Art 4 III EUV) zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof der Europäischen Union und von der grundsätzlichen Europafreundlichkeit des deutschen Verfassungsrechts (Art 23 I GG) geprägt (vgl Rn 176).316

6. Kooperation von Unionsgerichten und nationalen Gerichten a) Kooperationsverhältnis Nationale Gerichte und Unionsgerichte müssen nach Art 4 III EUV aus unionsrecht- 176 lichen Gründen im Geist der gegenseitigen Loyalität und Rücksichtnahme kooperieren, weshalb teilweise von einem Kooperationsverhältnis gesprochen wird.317 Für die deutschen Gerichte, auch das BVerfG, ergibt sich eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Kooperation und zu einem europafreundlichen Verhalten aus der allgemeinen Mitwirkungspflicht in Art 23 I 1 GG.318 Eine entsprechende Kooperation zeigt sich zunächst in einem richterlichen Di- 177 alog, dh eine Berücksichtigung der Rechtsprechung der Gerichte der jeweils anderen Ebene im Rahmen der eigenen Judikatur sowie ggf um Aufforderung an die andere Ebene, ihre Rechtsprechung weiter zu entwickeln.319 Juristisch wichtiger ist jedoch, dass mit dem Vorlageverfahren nach Art 267 178 AEUV ein unionsrechtliches Instrument von nationalen Gerichten und Unionsgerichten zur Verfügung steht, das die Kooperation und den richterlichen Dialog institutionalisiert.320 Nationale Gerichte können, und müssen sogar, wenn es sich um letztinstanzliche Gerichte handelt, Fragen zur Gültigkeit von Primärrecht bzw zur Auslegung und Gültigkeit von Handlungen der Unionsorgane dem Gerichtshof zur

_____ 314 BVerfG, 2 BvR 2236/04, BVerfGE 113, 273 (292 ff) – Darkazanli zur Umsetzung des Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl und das Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in deutsches Recht. 315 Bejaht in Bezug auf einen europäischen Haftbefehl, der gegen Art 1 I und 20 III GG verstieß, BVerfG, 2 BvR 2753/14, NJW 2016, 1149 (1152 f) – Europäischer Haftbefehl II; Sauer NJW 2016, 1134. 316 Von der „europarechtsfreundlichen“ Ausübung der Kontrollbefugnisse des BVerfG spricht BVerfG, 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 (303 f) – Honeywell; vgl auch BVerfG, 2 BvE 2, 5/08, BVerfGE 123, 267 (354) – Lissabon; siehe allgemein Giegerich/Mayer S 237 (256 ff). 317 EuGH, Rs C-50/00 P – Unión de Pequeños Agricultores, Rn 42. 318 Siehe BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (175) – Maastricht. 319 Gut erkennbar ist diese Kooperation in Bezug auf die Grundrechtsprechung zwischen BVerfG, 2 BvL 52/71, BVerfGE 37, 271 (285) – Solange I; EuGH, Rs 44/79 – Hauer, Rn 20; dann 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (387) – Solange II. 320 EuGH, verb Rs C-297/88 und C-197/89 – Dzodzi, Rn 33; siehe auch Schulze/Zuleeg/Kadelbach/ Classen S 231. Werner Schroeder

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Entscheidung vorlegen, wenn diese Fragen im Rahmen ihres Verfahrens entscheidungserheblich sind. Mit Hilfe dieses Verfahrens sollten Konflikte zwischen dem Gerichtshof und dem deutschen BVerfG über die Reichweite von Unionsrecht beizulegen sein. Vor einer Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit einer Handlung eines deutschen Hoheitsträgers, die auf Unionsrecht basiert, muss das BVerfG, ebenso wie die anderen deutschen Gerichte, dem Gerichtshof im Wege einer Vorlage nach Art 267 AEUV die Gelegenheit zur Stellungnahme aus Sicht des Unionsrechts geben.321 Mittlerweile hat das BVerfG dies auch in seiner Vorlage zu den Kompetenzen der EZB getan.322

b) Vorabentscheidungsverfahren aa) Funktion des Verfahrens 179 Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art 267 AEUV, auch Vorlageverfahren genannt, „ist von entscheidender Bedeutung dafür, da[ss] das vom Vertrag geschaffene Recht wirklich gemeinsames Recht bleibt; e(s) soll gewährleisten, da[ss] dieses Recht in allen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft immer die gleiche Wirkung hat.“323 Es stellt jedoch nicht nur die einheitliche Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten sicher, sondern dient zugleich dem Individualrechtsschutz.324 Eine Vorlage nationaler Gerichte verschafft dem Einzelnen die Möglichkeit, seine Unionsrechte vor nationalen Gerichten geltend zu machen und deren Tragweite durch eine Vorlage an den Gerichtshof klären zu lassen. Das ist relevant, soweit sich der Einzelne gegen nationale Maßnahmen zur Durchführung von Unionsrecht wendet, um inzident deren Rechtmäßigkeit feststellen zu lassen. Denn gegen die Normativakte der Union haben Einzelne meist wegen Art 263 IV AEUV praktisch kein individuelles Klagerecht zu den Unionsgerichten (vgl Rn 133 f).325 Das Vorabentscheidungsverfahren dient zudem dazu, aufgrund eines von Privaten vor nationalen Gerichten geführten Verfahrens, im Ergebnis die Unvereinbarkeit von nationalem Recht mit Unionsrecht feststellen zu lassen.326 Das Vorabentscheidungsverfahren ist anders als die oben geschilderten Verfah180 ren vor dem Gerichtshof kein streitiges Verfahren, das von einer Partei gegen eine andere betrieben wird, sondern ein Zwischenverfahren. Es soll abstrakte Rechts-

_____ 321 Vgl bereits BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (175) – Maastricht; dann 1 BvR 256/08, BVerfGE 125, 260 (347 ff) – Vorratsdatenspeicherung. 322 BVerfG, 2 BvR 2728/13, BVerfGE 134, 366 (389 ff) – OMT-Beschluss. 323 Eindrücklich EuGH, Rs 166/73 – Rheinmühlen, Rn 2. 324 Vgl EuGH, Rs 294/83 – Les Verts / EP, Rn 23. 325 Siehe zu dieser Konstellation ausdrücklich EuGH, Rs C-6/99 – Greenpeace France, Rn 54. 326 Seit EuGH, Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L., Slg 1964, 1253 (1268), auch wenn Fragen, die auf die Beurteilung des nationalen Rechts durch den Gerichtshof abzielen, formal unzulässig sind, vgl Rn 185. Werner Schroeder

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fragen zur Gültigkeit und zur Auslegung von Unionsrecht klären. Das nationale Gericht, vor dem ein Rechtsstreit geführt wird – der sog „Ausgangsrechtsstreit“ nach Art 94 lit c VerfO EuGH , in dem sich eine unionsrechtlich bedeutsame Frage stellt, kann auf Anregung der Parteien bzw muss von Amts wegen unter gewissen Voraussetzungen durch Beschluss das Verfahren aussetzen (vgl § 148 ZPO, § 94 VwGO) und zugleich durch Beschluss diese Frage dem Gerichtshof unterbreiten (vgl Art 23 EuGH-Satzung). Nachdem der Gerichtshof eine diesbezügliche Entscheidung getroffen hat, nimmt das nationale Gericht das Verfahren wieder auf und erlässt unter Zugrundelegung des Ausspruchs des Gerichtshofs sein Endurteil. Das Vorlageverfahren wird von den nationalen Gerichten häufig in Anspruch genommen und macht mittlerweile einen wesentlichen aller Verfahren vor dem Gerichtshof aus. Sachlich zuständig für die Beantwortung einer Vorlagefrage ist nach Art 267 181 AEUV „der Gerichtshof der Europäischen Union“, wobei funktionell bislang stets der EuGH zuständig ist. Von der in Art 256 III AEUV vorgesehenen Möglichkeit, die Zuständigkeit zur Vorabentscheidung in bestimmten Sachgebieten auf das EuG zu übertragen, wurde noch kein Gebrauch gemacht. Die Voraussetzungen einer zulässigen Vorlage eines nationalen Gerichts an 182 den EuGH ergeben sich aus Art 267 AEUV. Art 23 EuGH-Satzung und Art 93 ff VerfO EuGH beschreiben, wie der Gerichtshof mit einer Vorlage verfährt, wobei auf die Möglichkeiten eines beschleunigten Verfahrens nach Art 105 VerfO EuGH sowie eines Eilverfahrens im Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nach Art 107 VerfO EuGH hinzuweisen ist. Betrifft eine Vorlagefrage in einem schwebenden Verfahren eine inhaftierte Person, ist gemäß Art 267 IV AEUV innerhalb kürzester Zeit zu entscheiden.

bb) Vorlageberechtigung Zu einer Vorlage an den Gerichtshof ist nach Art 267 II AEUV jedes „Gericht eines 183 Mitgliedstaats“ berechtigt. Der Begriff des Gerichts ist dabei im unionsrechtlichen Sinne zu verstehen. Gerichte können deshalb auch Einrichtungen sein, die nach nationalem Recht keinen Gerichtscharakter besitzen, sondern als Verwaltungsbehörde verstanden werden. Vorlageberechtigte Gerichte iSv Art 267 AEUV sind Einrichtungen, die als staatliche Spruchkörper auf einer gesetzlichen Grundlage errichtet worden sind,327 eine ständige Einrichtung darstellen, obligatorisch zuständig sind, über Rechtsstreitigen zu entscheiden haben,328 dabei Rechtsnormen anzuwen-

_____ 327 Private Schiedsgerichte sind daher nicht vorlageberechtigt, EuGH, Rs 102/81 – Nordsee / Reederei Mond, Rn 9 ff; auch nicht internationale Schiedsgerichte, die aufgrund von Investitionsschutzabkommen eingerichtet worden sind, EuGH, Rs C-284/16 – Achmea, Rn 43 ff. 328 Nicht bei der Entscheidung durch Zivilgerichte, die ein Handelsregister führen, vgl EuGH, Rs C-182/00 – Lutz, Rn 12 ff, oder in Grundbuchsachen, Rs C-178/99 – Salzmann, Rn 13 ff. Eine bindenWerner Schroeder

662 | § 8 Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz

den haben und unabhängig sind. 329 Diese Kriterien müssen kumulativ erfüllt sein.330

cc) Vorlagegegenstand 184 Gegenstand einer Vorlage können Fragen zur Auslegung und zur Gültigkeit von

Unionsrecht sein. In Betracht kommen zunächst Vorlagen zur Auslegung der Verträge nach Art 267 I lit a AEUV, dh des Primärrechts der Union, einschließlich der Protokolle, Beitrittsverträge und der allgemeinen Rechtsgrundsätze, sowie gemäß Art 267 I lit b AEUV der Handlungen der Organe und der Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union. Diese Alternative ermächtigt den Gerichtshof, Sekundärrecht sowie die internationalen Übereinkünfte der Union auszulegen. Der Gerichtshof darf hingegen nach dieser Vorschrift nationales Recht weder auslegen noch über dessen Geltung oder Anwendbarkeit urteilen. Dennoch wird er häufig von nationalen Gerichten zur Auslegung der Verträge angerufen, um die Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit Unionsrecht festzustellen. In der Praxis formuliert der Gerichtshof derartige von den Gerichten gestellte (konkrete) Vorlagefragen in zulässige (abstrakte) Auslegungsfragen um. Er legt die Verträge so aus, dass die nationalen Gerichte mit Hilfe seiner Vorabentscheidung abstrakt beurteilen können, ob das betreffende nationale Recht gegen Unionsrecht verstößt oder nicht.331 Zulässig sind auch Vorlagefragen nach der „Gültigkeit [...] der Handlungen 186 der Organe“ sowie der Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union gemäß Art 267 I lit b AEUV. Die Gültigkeitsvorlage zielt darauf ab, eine Rechtshandlung der Union, dh Sekundärrecht oder eine internationale Übereinkunft der Union, wegen Verstoßes gegen höherrangige Rechtsnormen der Union für nichtig erklären zu lassen. Die Fristen der Nichtigkeitsklage nach Art 263 VI AEUV können jedoch nicht mit Hilfe von Art 267 I lit b AEUV umgangen werden. Ein bestandskräftiger Rechtsakt der Union soll aus Gründen der Rechtssicherheit nicht mit Hilfe eines Vorlageverfahrens angegriffen werden können.332 Die Gültigkeit des Primärrechts kann indessen über eine Vorlage nach Art 267 AEUV ebenso wenig wie über eine Nichtigkeitsklage nach Art 263 AEUV in Frage gestellt werden. 185

_____ de Entscheidung fehlt, wenn die Entscheidung durch den zuständigen Minister aufgehoben werden kann, vgl EuGH, Rs C-53/03 – Syfait, Rn 30 und 34 ff. 329 Das kann auch für Verwaltungsbehörden zutreffen, EuGH, Rs C-54/96 – Dorsch Consult, Rn 22 ff zu den früheren deutschen Vergabeüberwachungsausschüssen. 330 Vgl Übersicht in EuGH, Rs C-246/05 – Häupl, Rn 16; Rs C-54/96 – Dorsch Consult, Rn 22 ff. 331 Bereits in EuGH, Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L., Slg 1964, 1253 (1268). 332 EuGH, Rs C-188/92 – TWD Textilwerke Deggendorf, Rn 15 ff. Werner Schroeder

V. Gerichtliche Durchsetzung des Unionsrechts | 663

dd) Entscheidungserheblichkeit Die Vorlagefrage des nationalen Gerichts muss sich zunächst auf die in Art 267 I 187 AEUV genannten Gegenstände beziehen, dh auf die Auslegung bzw Gültigkeit von Unionsrecht. Jedoch bemüht sich der Gerichtshof unzulässige Fragen so umzudeuten, dass sie Art 267 AEUV entsprechen. Abgesehen davon beantwortet er lediglich erforderliche Fragen. Zwar wird die nach Art 267 II AEUV für das Ausgangsverfahren aus der Perspektive des vorlegenden Gerichts („hält dieses Gericht“) zu beurteilende Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage grds vermutet. Gleichwohl lehnt der Gerichtshof Vorlagen, die sich auf hypothetische Fälle beziehen oder einem Rechtsstreit entstammen, der offenkundig konstruiert wurde, um ein Rechtsgutachten zu erhalten, als missbräuchlich ab.333 Ebenso werden Vorentscheidungsersuchen von nationalen Gerichten nicht beantwortet, die nicht die rechtlichen und tatsächlichen Angaben machen, die erforderlich sind, damit der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen beantworten kann.334

ee) Inhalt und Wirkung der Vorabentscheidung Ist die Vorlage zulässig, beantwortet der Gerichtshof die Vorlagefrage, indem er die 188 betreffenden Vorschriften des Unionsrechts auslegt oder für wirksam bzw nichtig erklärt und dem vorlegenden Gericht sein Urteil zustellt. Dieses nimmt durch Beschluss das Ausgangsverfahren wieder auf und fällt auf der Grundlage der Vorabentscheidung des Gerichtshofs sein Endurteil. Zu den Wirkungen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs treffen die 189 Art 267 ff AEUV keine Aussage. Das vorlegende Gericht sowie alle anderen mit dem Ausgangsverfahren befassten Instanzen sind an die Vorabentscheidung des Gerichtshofs gebunden.335 Diese „inter partes“-Wirkung lässt sich aus der Funktion des Vorlageverfahrens ableiten, das ja ein Verfahren zwischen beteiligten Gerichten ist. Gleichwohl besteht eine faktische Bindung anderer, nicht am Ausgangsverfahren beteiligter, Gerichte an die Vorabentscheidung. Im Hinblick auf das allgemeine Loyalitätsprinzip nach Art 4 III EUV dürfen sie die Auslegungsergebnisse des Gerichtshofs im Rahmen einer Entscheidung nach Art 267 AEUV nicht einfach ignorieren.336 Entscheidungen des Gerichtshofs über die Ungültigkeit eines Rechtsakts haben hingegen allgemeingültige „erga omnes“-Wirkung.337 Grds gilt hinsichtlich der zeitlichen Wirkungen der Vorabentscheidung, sowohl für Auslegungs- als auch für

_____ 333 Vgl EuGH, Rs C-231/89 – Gmurzynska-Bscher, Rn 23. 334 EuGH, verb Rs C-22/05 – 225/05 – van der Weerd ua, Rn 22 ff. 335 EuGH, Rs 29/68 – Milch-, Fett-, und Eierkontor, Rn 3. 336 Vgl EuGH, verb Rs C-10/97 bis C-22/97 – IN.CO.GE, Rn 23; Rengeling/Middeke/Gellermann/ Middeke S 255 f; Karpenstein Rn 409. 337 Rengeling/Middeke/Gellermann/Middeke S 256; tendenziell EuGH, Rs 66/80 – ICC, Rn 14. Werner Schroeder

664 | § 8 Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz

Gültigkeitsurteile, dass das entsprechende Urteil sofort und „ex tunc“ wirkt.338 Jedoch begrenzt der Gerichtshof mitunter aus Gründen der Rechtssicherheit in analoger Anwendung von Art 264 II AEUV die Wirkung seiner Entscheidung auf Rechtsverhältnisse, die – abgesehen vom Ausgangsverfahren – nach Erlass seines Urteils entstehen.339

ff) Vorlagepflicht 190 Art 267 II und III AEUV unterscheidet zwischen einer fakultativen Vorlage durch Instanzgerichte und einer obligatorischen Vorlage durch letztinstanzliche Gerichte der Mitgliedstaaten. Die Frage der Vorlagepflicht stellt sich typischerweise nur, wenn ein letztinstanzliches Gericht diese missachtet hat. Zur Vorlage verpflichtet sind nach Art 267 III AEUV nationale Gerichte, deren 191 „Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können“. Welches das letztinstanzliche Gericht ist, bestimmt sich nach der sog konkreten Betrachtungsweise, die darauf abstellt, ob dieses im konkreten Ausgangsverfahren letzte Instanz ist, weil kein ordentliches Rechtsmittel340 mehr möglich ist. Das kann zB auch ein LG sein. Die Anwendung der abstrakten Betrachtungsweise, die nur die hierarchisch höchsten Gerichte, dh die Bundesgerichte inkl BVerfG, für vorlageverpflichtet hält, hätte zwar den Vorzug, dass sie eine Überlastung des Gerichtshofs mit einer Fülle von Vorlagen vermeiden hilft. Sie würde aber dazu führen, dass in bestimmten Verfahren gar kein Gericht vorlagepflichtig ist, weil manche Verfahren schon bei den Instanzgerichten enden. Damit würde die Funktion von Art 267 AEUV, die Rechtseinheit in der Union und gleichzeitig den Rechtsschutz zugunsten der Einzelnen zu wahren, vereitelt.341 Über den Wortlaut des Art 267 AEUV hinaus hat der Gerichtshof alle Gerichte 192 zur Vorlage verpflichtet, die Zweifel an der Gültigkeit von Unionsrechtsakten haben. Er hat dies mit der Notwendigkeit begründet, die einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts zu sichern. Diese erfordere in derartigen Fällen zwingend eine Vorlage.342

_____ 338 EuGH, Rs C-228/92 – Roquette Frères, Rn 17. 339 Vgl EuGH, Rs C-415/93 – Bosman, Rn 142 ff bezüglich der Auslegung von Primärrecht; Rs C228/92 – Roquette Frères, Rn 25 bezüglich der Gültigkeit von Sekundärrecht. 340 Als Rechtsmittel idS sind auch Rechtsbeschwerden gegen Verwerfung der Berufung nach § 522 I 4 ZPO oder Nichtzulassungsbeschwerden bezüglich der Revision nach § 544 ZPO, § 133 VwGO zu betrachten. Nicht zu berücksichtigen sind außerordentliche Rechtsmittel wie zB eine Verfassungsbeschwerde oder ein Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahren, Karpenstein Rn 379 mwN. 341 Die abstrakte Theorie wird mittlerweile nicht mehr vertreten, siehe Rengeling/Middeke/ Gellermann/Middeke S 237 f; vgl EuGH, Rs C-99/00 – Lyckeskog, Rn 15. 342 Vgl EuGH, Rs 314/85 – Foto-Frost, Rn 15 ff. Werner Schroeder

V. Gerichtliche Durchsetzung des Unionsrechts | 665

Die Vorlagepflicht setzt voraus, dass das nationale Gericht Fragen zum Inhalt 193 einer Vorschrift des Unionsrechts hat. Es hat immer wieder Versuche nationaler Gerichte gegeben, ihren Vorlagepflichten mit dem Argument zu entgehen, die betreffende Unionsvorschrift sei nicht auslegungsbedürftig, sondern in ihrer Bedeutung klar („acte clair“-Doktrin). Der Gerichtshof ist entsprechenden Missbräuchen mit dem Hinweis entgegengetreten, dass eine Vorlagepflicht lediglich entfällt, wenn (1) die Rechtsfrage des Ausgangsverfahrens bereits in einem anderen Vorabentscheidungsverfahren beantwortet worden ist, (2) zu dem Problemkreis bereits eine gesicherte Rechtsprechung vorliegt oder (3) die richtige Anwendung des Unionsrechts völlig offenkundig ist, so dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum mehr bleibt.343

gg) Durchsetzung einer Vorlage Art 267 AEUV selbst trifft keine Aussage, wie eine Vorlage an den Gerichtshof durchgesetzt werden kann und welche Sanktionen bei einer Verletzung der Vorlagepflicht verhängt werden können.344 Zunächst enthalten die meisten nationalen Prozessordnungen keine Grundlage für einen Anspruch der Streitparteien auf Formulierung einer Vorlagefrage an den EuGH durch das erkennende Gericht. Gegen die Sachentscheidung eines Instanzgerichts, das eine Vorlage an den Gerichtshof unterlassen hat, können die Partein Rechtsmittel einlegen, weil mangels einer geklärten unionsrechtlichen Frage meist ein Anlass für eine Grundsatzrevision nach § 543 II Ziff 1 ZPO bzw § 132 II Nr 1 VwGO vorliegt, die mit der Nichtzulassungsbeschwerde durchgesetzt werden kann.345 Verletzt ein letztinstanzliches Gericht seine Vorlagepflicht nach Art 267 III AEUV, so kommt ein verfassungsrechtlicher Rechtsbehelf nach nationalem Recht in Betracht. Im Hinblick auf die Verschränkung des Unions- und des nationalen Gerichtssystems zu einem umfassenden Rechtsschutzsystem (vgl Rn 102) wird der EuGH auch aus nationaler Sicht als gesetzlicher Richter betrachtet. Bei einer Missachtung der Vorlagepflicht kann daher das grundrechtsgleiche Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter iSv Art 101 I 2 GG („Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.“) verletzt werden (vgl Rn 171 f). Ergänzt werden diese Rechtsbehelfe durch Staatshaftungsansprüche des Einzelnen, die eine unionsrechtliche Sanktion für das pflichtwidrige Unterlassen einer

_____ 343 Vgl EuGH, Rs 283/81 – CILFIT, Rn 13 ff; Rengeling/Middeke/Gellermann/Middeke S 239 f. 344 Vgl hierzu Schröder EuR 2011, 808. 345 BVerwG, 3 B 3/86, NJW 1987, 601; vgl auch BVerwG, 3 NB 2/94, NVwZ 1997, 178; Rengeling/Middeke/Gellermann/Middeke S 241 f; aA Streinz/Ehricke Art 267 AEUV Rn 53, weil auf diese Weise das Vorlagerecht der Instanzgerichte in eine Vorlagepflicht umgewandelt würde. Werner Schroeder

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666 | § 8 Durchsetzung des Unionsrechts – Durchführung, Sanktionen, Rechtsschutz

Vorlage durch ein letztinstanzliches Gericht nach Art 267 III AEUV darstellen.346 Die Kommission kann außerdem im Wege eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art 258 AEUV gegen den Mitgliedstaat vorgehen, dessen Gerichte Art 267 AEUV verletzt haben, auch wenn die Gerichtsbarkeit nach dem einschlägigen nationalen Recht unabhängig sein mag (vgl Rn 117 ff).

NEUE RECHTE SEITE

_____ 346 EuGH, Rs C-224/01 – Köbler, Rn 55. Voraussetzung ist jedoch, dass die Verletzung dieser Pflicht „hinreichend qualifiziert“ ist, vgl Weiß § 5 (in diesem Band) Rn 244 f. Werner Schroeder

§ 9 Die Finanzverfassung der Union | 667

Stefan Storr

§ 9 Die Finanzverfassung der Union § 9 Die Finanzverfassung der Union Stefan Storr § 9 Die Finanzverfassung der Union https://doi.org/10.1515/9783110498349-009

Gliederungsübersicht I. Überblick über Entwicklung und Bedeutung des europäischen Haushaltsrechts 1. Der Haushalt im europäischen Machtgefüge 2. Überblick über den Haushalt 2019 II. Die Eigenmittel der Union 1. Ausstattung mit den erforderlichen Mitteln 2. Die Entwicklung des Eigenmittelsystems a) EGKS b) EWG und Euratom 3. Arten von Eigenmitteln a) Traditionelle Eigenmittel b) Mehrwertsteuer-Eigenmittel c) BNE-Eigenmittel d) Sonstige Einnahmen der Union 4. Zustandekommen des Eigenmittelbeschlusses a) Der Eigenmittelbeschluss als Primärrecht b) Finanzverfassungsrechtliche Wesentlichkeitsdoktrin 5. Vollziehung des Eigenmittelbeschlusses 6. Beitragsgerechtigkeit 7. Kritik am Eigenmittelsystem und Herausforderungen a) Kritik b) Herausforderungen 8. Einführung einer EU-Steuer? 9. Sondervorschriften zur Finanzierung der EU III. Die Kreditaufnahme der Union 1. Überblick 2. Typen von Anleihen a) Zahlungsbilanzanleihen b) Das sog Neue Gemeinschaftsinstrument c) Garantie für Darlehen der EIB an dritte Staaten 3. Besonders geregelte Anleihetätigkeiten a) Besondere Voraussetzungen in EGKSV, EAGV und AEUV b) Europäische Investitionsbank 4. Rechtsgrundlage für eine Verschuldung 5. Parlamentarische Kontrolle 6. Haftung der Mitgliedstaaten für die Union IV. Der mehrjährige Finanzrahmen 1. Idee und Entwicklung des mehrjährigen Finanzrahmens 2. Die Rechtsnatur des mehrjährigen Finanzrahmens V. Haushaltsrecht und Haushaltsplan 1. Der Haushaltsplan 2. Die Haushaltsordnung 3. Durchführungsvorschriften zu den Eigenmitteln 4. Haushaltsgrundsätze a) Der Grundsatz der Einheit des Unionshaushalts Stefan Storr https://doi.org/10.1515/9783110498349-009

Rn 1 1 7 9 9 14 14 16 27 28 33 37 41 42 42 45 49 53 59 59 65 67 71 73 73 77 78 80 82 83 83 86 89 95 97 100 100 109 114 114 117 121 122 123

668 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

b) Der Grundsatz der Haushaltswahrheit c) Der Grundsatz der Jährlichkeit d) Der Grundsatz des Haushaltsausgleichs e) Der Grundsatz der Rechnungseinheit f) Der Grundsatz der Gesamtdeckung g) Der Grundsatz der Spezialität h) Der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung i) Der Grundsatz der Transparenz j) Der Grundsatz der Vorherigkeit 5. Haushaltsverfahren VI. Haushaltsvollzug 1. Die Bedeutung des Basisrechtsakts 2. Arten des Haushaltsvollzugs a) Direkte Mittelverwaltung b) Geteilte Mittelverwaltung c) Indirekte Mittelverwaltung VII. Rechnungslegung und Entlastung 1. Rechnungslegung und Rechnungsprüfung 2. Entlastung a) Bedeutung b) Entlastungsverfahren c) Verweigerung der Entlastung d) Entlastungsadressat VIII. Schutz der finanziellen Interessen der EU

130 132 138 141 142 144 148 152 153 155 178 179 184 186 189 190 192 193 198 198 200 207 209 214

Spezialschrifttum Bux, Udo Das EU-Haushaltsverfahren nach Lissabon, EuR 2010, 711 ff; Bux, Udo Das Haushaltsrecht und die neue Haushaltsordnung der EU, ZfRV 2013, 54 ff; European Union Public Finance, 5th ed. 2014; Lewinski, Kai von Verschuldungskompetenz der Europäischen Union, ZG 2012, 164 ff; Lienemeyer, Max Die Finanzverfassung der Europäischen Union, 2002; Magiera, Siegfried Zur Überbrückung von Haushaltsdefiziten der Europäischen Gemeinschaft durch „Vorschüsse“ der Mitgliedstaaten, EuR 1985, 273 ff; Partsch, Christoph Europäischer Rechtsschutz gegen externe OLAFUntersuchungen, EuZW 2017, 878 ff; Rossi, Matthias Finanz- und Haushaltsordnung der EU, in: Manfred A Dauses/M. Ludwigs (Hrsg), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Band 1, A. III, S 1 ff; Rossi, Matthias Zur Entlastungsbefugnis des Europäischen Parlaments, EuR 2013, 170 ff; Storr, Stefan Die Bewältigung defizitärer Haushaltslagen in der EU, EuR 2001, 846 ff; Storr, Stefan Die Finanzierung der EU im Lichte des Verfassungsvertrags, in: Matthias Niedobitek/Jiří Zemánek (Hrsg) Continuing the European Constitutional Debate, 2008, S 209 ff; Weiß, Wolfgang Verfassungsgrundsätze, Kompetenzverteilung und die Finanzen der EU, ZEuS 2017, 309 ff; Wilms, Günter Die Reform des EUHaushaltes im Lichte der Finanziellen Vorausschau 2007 – 2013 und des Vertrages von Lissabon – neue Perspektiven für die Europäische Union?, EuR 2007, 707 ff. Leitentscheidungen EuGH, Rs 9/56 – Meroni; Rs 10/56 – Meroni; Rs 1107/81 – Roquette Frères / Rat; Rs 216/83 – Les Verts / Kommission und Rat; Rs 34/86 – Rat / Parlament; Rs 204/86 – Griechenland / Rat; Rs C284/90 – Rat / Parlament; Rs C-181/91 – Parlament / Rat und Kommission; Rs C-316/91 – Parlament / Rat; Rs C-106/96 – Vereinigtes Königreich / Kommission; Rs C-11/00 – Kommission / Rat; Rs C-15/00 – Kommission / EIB; Rs C-392/02 – Kommission / Dänemark; Rs C-403/05 – Parlament / Rat; Rs C-38/06 – Kommission / Portugal; Rs C-442/08 – Deutschland / Kommission; Rs C-539/09 – Kommission / Deutschland; Rs C-77/11 – Rat / Europäisches Parlament; Rs C-105/14 – Stefan Storr

I. Überblick über Entwicklung und Bedeutung des europäischen Haushaltsrechts | 669

Taricco; EuG, Rs T-259/03 – Nikolaou / Kommission; Rs T-309/03 – Manuel Camós Grau / Kommission.

I. Überblick über Entwicklung und Bedeutung des europäischen Haushaltsrechts I. Überblick über Entwicklung und Bedeutung des europäischen Haushaltsrechts 1. Der Haushalt im europäischen Machtgefüge Mit der Finanzverfassung der EU, dh mit ihren Regeln über Einnahmen und Ausga- 1 ben, ist eine der grundlegenden Machtfragen in der Union angesprochen. Denn wer über die Finanzierung der EU entscheidet, entscheidet über Wahrnehmung von Aufgaben und damit über die Politik der Union. Diese Machtfrage hat zwei Komponenten: Zum einen geht es um die Machtverteilung zwischen Mitgliedstaaten und Union, zum anderen darum, welche Unionsorgane Einfluss auf die Finanzierung und die Aufstellung des Haushalts haben. Die Entwicklung der europäischen Institutionen, insbesondere die Erweiterung der Kompetenzen des Parlaments, ist eng mit der Entwicklung der Finanzverfassung verbunden.1 1957 hatte jede Gemeinschaft – EWG, Euratom und Montanunion – einen eige- 2 nen Haushalt. Der Versammlung kam bei der Aufstellung des EWG-Haushaltsplans nur ein Anhörungsrecht zu; sie konnte dem Rat nur Änderungsvorschläge zu einem von der Kommission entworfenen und vom Rat aufgestellten Entwurf unterbreiten.2 Beginnend mit dem Luxemburger Vertrag 19703 wurden die Rechte der Versammlung schrittweise gestärkt. Bis 1975 galt eine differenzierte Regel, die davon abhing, ob die Versammlung eine Änderung vorgeschlagen hatte und ob die Änderung eine Erhöhung des Gesamtbetrags der Ausgaben eines Organs zur Folge hatte. Wenn das der Fall war, musste der Rat zur Annahme dieses Änderungsvorschlags mit qualifizierter Mehrheit entscheiden. Wenn das aber nicht der Fall war, also die von der Versammlung vorgeschlagene Änderung nicht zu einer Erhöhung des Gesamtbetrags der Ausgaben eines Organs führte, konnte der Rat den Änderungsvorschlag der Versammlung nur mit qualifizierter Mehrheit ablehnen. Erging kein Ablehnungsbeschluss, war der Änderungsvorschlag angenommen. Im Fall einer Nichterhöhung der Gesamtausgaben galt also das Prinzip der „umgekehrten Mehrheit“4: Nicht die Zustimmung, sondern die Ablehnung eines Änderungsvorschlags der Versammlung bedurfte einer qualifizierten Mehrheit im Rat.

_____ 1 Vgl näher Dauses/Ludwigs/Rossi A III. Rn 1. 2 Ex-Art 203 EWGV. 3 Vertrag zur Änderung bestimmter Haushaltsvorschriften der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften und des Vertrages zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften, ABl 1971 L 2/1; hier: Einfügung eines Art 203a EWGV. 4 Dauses/Ludwigs/Rossi A III. Rn 22. Stefan Storr

670 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

Ab 1975 wurden die Befugnisse der Versammlung erweitert.5 Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Einführung der Unterscheidung in obligatorische und nicht-obligatorische Ausgaben. Die Versammlung konnte den Entwurf des Haushaltsplans durch den Rat abändern lassen und dem Rat Änderungen dieses Entwurfs in Bezug auf obligatorische Ausgaben vorschlagen. Über die sog obligatorischen Ausgaben sollte der Rat abschließend entscheiden. Als obligatorische Ausgaben galten die, die sich zwingend aus dem Vertrag oder den aufgrund des Vertrags erlassenen Rechtsakten ergaben.6 Über die nicht-obligatorischen Ausgaben sollte der Versammlung zwar kein Veto-Recht zukommen, sie hatte aber eine stärkere Position, wenngleich die Anforderungen hoch waren. Die Versammlung musste binnen fünfzehn Tagen mit der Mehrheit der Stimmen ihrer Mitglieder und mit drei Fünfteln der abgegebenen Stimmen entscheiden. Außerdem sollte das Parlament die Kommission hinsichtlich der Vollziehung des Haushaltsplans entlasten können. Diese komplizierte Regelung, die die Machtverhältnisse von Rat und Parlament 4 durch ein komplexes Haushaltsverfahren austarierte, hat nicht unwesentlich zur Finanzkrise der späten 1970er und 1980er Jahre beigetragen. Weil die Mittel, die für die Gemeinschaft zur Deckung ihrer Aufgaben zur Verfügung gestellt wurden, nicht ausreichend waren, kam es wiederholt zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Mitgliedstaaten und Gemeinschaft einerseits und zwischen Kommission, Rat und Parlament andererseits. Haushaltspläne wurden zu spät festgestellt7 und Rat und Parlament riefen mehrfach den EuGH an. Diese Konflikte bilden die Grundlage für diverse spätere politische Einigungen zwischen Rat, Parlament und Kommission, die heute in konzertierten Einigungsverfahren mit regelmäßigen Treffen (vgl Art 324 AEUV) auch in den Verträgen ihren Niederschlag gefunden haben (sog Haushaltsdisziplin). Die Haushaltsdisziplin hat sich als wichtigstes Instrument erwiesen, damit Rat und Parlament zu einvernehmlichen Lösungen kommen.8 Mit dem Lissabonner Vertrag wurde die Unterscheidung in obligatorische und 5 nicht-obligatorische Ausgaben aufgegeben. Nun sind Rat und Parlament hinsichtlich sämtlicher Ausgaben grundsätzlich gleichgestellt. Außerdem wurde die bisherige Haushaltsentwicklung normativ verfestigt und zB Bestimmungen über die Haushaltsdisziplin (Art 324 AEUV) und Vorschriften über den mehrjährigen Finanzrahmen (Art 312 AEUV) in den Vertrag aufgenommen. Die budgetäre Machtverschiebung zugunsten des Parlaments hat ihren Grund 6 ganz erheblich in der politischen Initiative des Parlaments selbst. Der „Kampf des 3

_____ 5 Vertrag zur Änderung bestimmter Finanzvorschriften der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften und des Vertrages zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften, ABl 1977 L 359/1. 6 Ex-Art 203 IV EWGV bzw ex-Art 272 IV EGV. 7 Für Nothaushaltspläne vgl Rn 154. 8 Dauses/Ludwigs/Rossi A III. Rn 60. Stefan Storr

I. Überblick über Entwicklung und Bedeutung des europäischen Haushaltsrechts | 671

Europäischen Parlaments“ um sein Haushaltsrecht steht nicht nur für die langfristige Entwicklung einer Institution zu eigener Souveränität und Machterweiterung, sondern auch für die Hochzonung budgetärer Kompetenz auf die europäische Ebene. Im Zentrum des Konflikts steht die Machtabgrenzung des Parlaments zum Rat und damit zu den Mitgliedstaaten. Heute können Rat und Parlament nur gemeinsam einen Haushalt aufstellen. Zusammen werden sie als die Haushaltsbehörde bezeichnet.9

2. Überblick über den Haushalt 2019 Bis Anfang der 1990er Jahre sind die Einnahmen für den EU-Haushalt kontinuier- 7 lich gestiegen – auch relativ zum Bruttonationaleinkommen – und hatten Anfang der 1990er Jahre den höchsten Wert erreicht (1,1% BNE). Seither ist er auf ca 0,9% des BNE in der EU gesunken (ca. 145 Mrd Euro). Deutschland trug 2019 mit ca. 30,5 Mrd Euro, Österreich mit ca. 3,4 Mrd Euro zum Unionshaushalt bei.10 Was die Ausgaben betrifft, sieht der EU-Haushalt für das Jahr 2019 insgesamt 8 165.605.645.322 Euro an Verpflichtungsermächtigungen11 und 148.198.939.744 Euro an Zahlungsermächtigungen12 vor. Zum Vergleich: Im deutschen Bundeshaushalt (also nur Bund) sind für das Jahr 2019 insgesamt 356,4 Mrd Euro an Einnahmen und Ausgaben eingeplant.13 Der EU-Haushalt ist ein themenbezogener Haushalt. Für „intelligentes und integratives Wachstum“ sind 67,6 Mrd Euro, für „nachhaltiges Wachstum“ 57,4 Mrd Euro, für „Sicherheit und Unionsbürgschaft“ 3,5 Mrd Euro, für „Europa in der Welt“ 9,4 Mrd Euro und für „Verwaltung“ 9,9 Mrd Euro vorgesehen. 2018 waren im EU-Gesamthaushaltsplan an Zahlungsermächtigungen noch 144,7 Mrd Euro angesetzt. Von 2017 bis 2018 wurde am meisten in der Kategorie „Sicherheit und Unionsbürgerschaft“ eingespart (– 7,6%),14 von 2018 bis 2019 ist diese Kategorie am meisten gewachsen (um 18%).15

_____ 9 S Rn 155. 10 BNE-Eigenmittel, MwSt-Eigenmittel und traditionelle Eigenmittel: Gesamthaushaltsplan 2019, ABl 2019 L 67/21. Die Einbeziehung der traditionellen Eigenmittel ist an sich nicht richtig, weil es sich nicht um Anteile der Mitgliedstaaten handelt. Das kann allenfalls so gerechtfertigt werden, dass die Mitgliedstaaten diese Einnahmen (Zölle und Zuckerabgaben) nicht erheben können und diese insoweit für sie ausfallen. 11 S Rn 134. 12 S Rn 134. 13 § 1 Abs 1 Haushaltsgesetz 2018, BGBl I 2528. 14 Gesamthaushaltsplan 2018, ABl 2018 L 57/13. 15 Gesamthaushaltsplan 2019, ABl 2019 L 67/13. Stefan Storr

672 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

II. Die Eigenmittel der Union II. Die Eigenmittel der Union 1. Ausstattung mit den erforderlichen Mitteln 9 Art 311 I AEUV bestimmt, dass sich die Union mit den erforderlichen Mitteln ausstattet, um ihre Ziele zu erreichen und ihre Politik durchführen zu können. Die Vorschrift ist – mit einigen Abweichungen – als Art F III mit dem Maastricht-Vertrag 1992 in das Primärrecht aufgenommen und mit späteren Vertragsänderungen übernommen worden. „Mittel“ meint in diesem Zusammenhang jedenfalls finanzielle Mittel. Das folgt schon aus der systematischen Stellung im II. Titel „Finanzvorschriften“, sowie daraus, dass Art 311 AEUV Eigenmittel betrifft.16 Ob der Vorschrift darüber hinaus weitere Bedeutung zukommt, war lange Zeit umstritten. Wenngleich die Bestimmung wie eine Generalermächtigung für die Union formuliert ist, wird sie nicht als eine Befugnis, sondern als Programmsatz, einer Staatszielbestimmung ähnlich, interpretiert. Der EuGH hat sich zum Regelungsinhalt und zur Reichweite des Art 311 I AEUV noch nicht geäußert. Bedeutsam ist die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts. Dieses hatte im sog Maastricht-Urteil darüber zu befinden, ob mit der Befugnis der Union, sich mit den erforderlichen Mitteln auszustatten, eine Kompetenz-Kompetenz und damit eine allgemeine Finanzierungskompetenz der Union verbunden ist. Das BVerfG hat das abgelehnt.17 Auch durch spätere Vertragsänderungen, insbesondere durch den Lissabonner 10 Vertrag 2007 wurde eine Kompetenz-Kompetenz der Union nicht eingeführt; im Gegenteil weisen Art 2 ff AEUV inzwischen ein sehr differenziertes Kompetenzgefüge auf, in dem sich eine Zuständigkeit der Union, sich mit eigenen Mitteln auszustatten, gerade nicht wiederfindet. In der Literatur besteht Einigkeit, dass Art 311 I AEUV keine Kompetenz11 Kompetenz für die Union regelt.18 Umstritten ist aber, ob Art 311 I AEUV nur programmatische Funktion oder eine darüberhinausgehende Rechtspflicht der Mitgliedstaaten vermittelt, die Union mit erforderlichen Mitteln auszustatten. Letzteres wird im Hinblick auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 III EUV) angenommen, weil die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Union bei der Erfüllung ihrer Aufgabe zu unterstützen.19 Der Wortlaut des Art 311 I AEUV, dem eine eigene Verpflichtung der Mitgliedstaaten nicht ausdrücklich zu entnehmen ist, legt das nicht nahe. Dagegen spricht auch das Verfahren der Beschlussfassung über die Eigenmittel, für das sowohl im Rat (Art 311 III 1 AEUV) als auch hinsichtlich der Mit-

_____ 16 Vedder/Heintschel vHeinegg/Rossi Art 311 AEUV Rn 3; Calliess/Ruffert/Waldhoff Art 311 AEUV Rn 2. 17 BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (195). 18 Vedder/Heintschel vHeinegg/Rossi Art 311 AEUV Rn 3; Streinz/Niedobitek Art 311 AEUV Rn 3; Calliess/Ruffert/Waldhoff Art 311 AEUV Rn 2. 19 Calliess/Ruffert/Waldhoff Art 311 AEUV Rn 2; Magiera EuR 1985, 273 (286). Stefan Storr

II. Die Eigenmittel der Union | 673

gliedstaaten, die dem Eigenmittelbeschluss gemäß ihren verfassungsgesetzlichen Vorschriften zuzustimmen haben (Art 311 III 3 AEUV), Einstimmigkeit vorgesehen ist (doppelter Einstimmigkeitsvorbehalt). Diese besondere Anforderung, die ein doppeltes konstitutives Mitwirken der Mitgliedstaaten vorsieht, spricht gegen eine dahingehende konkretisierte Verpflichtung der Mitgliedstaaten. Richtig ist, dass die Aufgaben, denen die Union nachzukommen hat, hinreichend zu finanzieren sind. Deshalb ist der Haushalt der Union auch ein sog Ausgabenhaushalt. Richtig ist aber auch, dass den Aufgaben nur soweit nachgekommen werden kann, wie ihre Finanzierung gesichert ist. Der Umfang der Aufgabenwahrnehmung folgt aus der Bereitstellung der Mittel durch die Mitgliedstaaten nach Maßgabe des Eigenmittelbeschlusses. Das wiederum ist eine politische Entscheidung, die in einem besonderen Beschlussverfahren zu treffen ist.20 Eine eigene Finanzierungskompetenz der Union könnte nur durch eine Ände- 12 rung der Verträge eingeführt werden. Primärrechtlich setzt das ein Einverständnis der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des Art 48 EUV voraus und ihre Zustimmung gemäß den für sie geltenden verfassungsrechtlichen Vorschriften. Das vereinfachte Abänderungsverfahren nach Art 48 VII EUV kann keine Anwendung finden.21 Art 23 I 2 GG zB fordert für jede weitere Übertragung von Hoheitsrechten ein Bundesgesetz. Änderungen der vertraglichen Grundlagen der Union und vergleichbare Regelungen, durch die das Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, bedürfen nach Art 23 I 3 und Art 79 II GG der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages.22 Um eine Kompetenz-Kompetenz einzuführen, müssten weitere, ganz grundsätz- 13 liche Fragen gelöst werden. Insbesondere müsste geklärt werden, ob der Union durch die Einführung einer Kompetenz-Kompetenz eigene Staatlichkeit und Souveränität zugewiesen, die Union mithin zu einem Bundesstaat würde. In diesem Fall stellt sich die Frage, inwieweit Art 79 III GG bzw die Baugesetze der österreichischen Bundesverfassung und vergleichbare Bestimmungen der anderen Mitgliedstaaten, die den jeweiligen Verfassungskern garantieren, der europäischen Integration Grenzen ziehen.

2 Die Entwicklung des Eigenmittelsystems a) EGKS Bereits der Montanvertrag enthielt in der Stammfassung 1951 Vorschriften über die 14 Finanzierung der EGKS. Die Finanzierung erfolgte ursprünglich durch Umlagen auf

_____ 20 S Rn 42 f. 21 Art 353 AEUV iVm Art 311 III und IV EUV. 22 BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (199). Stefan Storr

674 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

die Erzeugung von Kohle und Stahl und durch die Aufnahme von Anleihen. Außerdem war die EGKS berechtigt, unentgeltliche Zuwendungen entgegenzunehmen.23 Diese Einnahmen waren zweckgebunden zu verwenden. Die Umlagen dienten der Deckung der Verwaltungsausgaben, der nicht rückzahlungspflichtigen Anpassungsbeihilfen und des durch den Dienst der eigenen Kredite nicht gedeckten Teiles des Anleihedienstes der Kommission, der auch nach Rückgriff auf den Reservefonds ungedeckt blieb. Außerdem konnten durch die Umlagen Gewährleistungsverpflichtungen der Kommission für Anleihen finanziert werden, die die Unternehmen unmittelbar aufgenommen hatten und Ausgaben zur Förderung der technischen und wirtschaftlichen Forschung finanziert werden. Die Umlage war der Höhe nach zunächst relativ24 und später auch absolut begrenzt.25 Anleihen durften nur begeben werden, um die Erlöse für Kredite zu verwen15 den.26 Die Entscheidung darüber lag beim Rat, also faktisch bei den Mitgliedstaaten. Die Kommission konnte die Gewährleistung für Anleihen übernehmen, die Dritte den Unternehmen unmittelbar gewährten. Außerdem konnte sie einen Reservefonds einrichten, um einen Umlagebeitrag zu kürzen.

b) EWG und Euratom 16 Die Finanzierung der EWG sowie der Euratom auf der Grundlage der Römischen

Verträge erfolgte zunächst durch Beiträge der Mitgliedstaaten.27 Die Anteile der Mitgliedstaaten waren nach deren Größe gestaffelt: Deutschland, Italien und Frankreich hatten je 28%, Belgien und die Niederlande je 7,9% und Luxemburg 0,2% zu tragen.28 Mit dem EWG-Vertrag wurde auch ein Europäischer Sozialfonds gegründet, der einen anderen Aufbringungsschlüssel vorsah (Deutschland und Frankreich je 32%, Italien 20%, Belgien 8,8%, die Niederlande 7%, Luxemburg 0,2%). Die Finanzierung durch Beiträge der Mitgliedstaaten machte die Gemein17 schaften von diesen abhängig. Das aus drei Gründen: Erstens ermöglicht eine Beitragsfinanzierung den Mitgliedstaaten, die Gemeinschaft (bzw die Union) unter Druck zu setzen, indem sie Beitragszahlungen unterlassen oder die Verweigerung

_____ 23 Ex-Art 49 EGKSV. 24 Max 1% (Überschreitung nur bei 2/3-Zustimmung): ex-Art 50 § 1 EGKSV. 25 Insgesamt höchstens 18 Mio Rechnungseinheiten, ex-Art 50 § 4 EGKSV id Fassung des Vertrags von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte, ABl 1997 C 340/1. 26 Ex-Art 51 EGKSV. 27 Gute Übersicht bei Europäisches Parlament, Arbeitsdokument Nr 1 über die Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften: Geschichte der Eigenmittel der Gemeinschaften (Berichterstatter Lamassoure) 27.1.2005. 28 Ex-Art 200 EWG-Vertrag 1957; Art 172 EAGV 1957. Stefan Storr

II. Die Eigenmittel der Union | 675

der Beitragszahlung androhen. Insbesondere ist die Befürchtung nicht von der Hand zu weisen, dass finanzstarke Mitgliedstaaten diese Finanzierungsform politisch ausnutzen und als Druckmittel gegenüber der Union und anderen Mitgliedstaaten einsetzen.29 Im gegenwärtigen Eigenmittelsystem ist diese Gefährdung allerdings insofern abgeschwächt, als die Union einen Anspruch gegenüber den Mitgliedstaaten auf Abführung der Beiträge hat.30 Zweitens kann das Ausbleiben mitgliedstaatlicher Zahlungen die Union in eine prekäre Situation bringen. Insbesondere die Abhängigkeit vom erwirtschafteten BNE (Bruttonationaleinkommen) der einzelnen Mitgliedstaaten kann angesichts bestehender Haushaltsdefizite der Mitgliedstaaten und bei rückführender Wirtschaftsleistung zu Einnahmeausfällen für die Union führen. In der Abhängigkeit der EU von Finanzbeiträgen der Mitgliedstaaten wird aber auch ein Statusproblem für die EU gesehen: Denn mit diesem Finanzierungssystem wird übergangen, dass die EU inzwischen mehr ist als ein Staatenbund. Die Union will als eine „Union der Bürger“ verstanden werden und nicht nur als eine Einrichtung der Regierungen der Mitgliedstaaten. Sie will eine weitere politische Ebene über den Mitgliedstaaten sein, weshalb das überkommene Beitragssystem „antidemokratisch“ sein soll und nicht dazu beitragen soll, die Verpflichtung zur europäischen Integration zu betonen.31 Drittens bedeutet die Rückkopplung der Eigenmittel an die nationalen Haushalte, dass die Finanzierung der Gemeinschaften bzw der Union Gegenstand der Haushaltsverhandlungen in den nationalen Parlamenten wird. In den nationalen Parlamenten wird regelmäßig gefordert, die Ausgaben für den europäischen Haushalt zu begrenzen oder möglichst viele Gemeinschafts-/Unions-Mittel in dem betreffenden Mitgliedstaat zu verwenden. Bereits im EWGV 1957 war der Kommission aufgegeben zu prüfen, unter welchen Bedingungen die Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch „eigene Mittel“, insbesondere durch Einnahmen aus dem Gemeinsamen Zolltarif, ersetzt werden könnten. Der Vertrag hatte vorgesehen, dass die Versammlung zu diesem Vorschlag gehört werden sollte und der Rat dann einstimmig die entsprechenden Bestimmungen festlegen konnte, um diese den Mitgliedstaaten zur Annahme gemäß ihrer verfassungsrechtlichen Bestimmungen zu empfehlen.32 In der Tat hat die Kommission dann 1965 vorgeschlagen, die bisherige Beitragsfinanzierung der Mitgliedstaaten aufzugeben und deren Zolleinnahmen aus dem Export von Agrarprodukten der Gemeinschaft als eigene Mittel zuzuweisen. Ein eigener Gemeinschaftshaushalt hätte es aber auch erforderlich gemacht, dass ein Gemeinschaftsorgan, das Parlament (Versammlung), den Vollzug des Haushalts

_____ 29 30 31 32

Calliess/Ruffert/Waldhoff Art 311 AEUV Rn 3. European Union, Public Finance, 5th ed. 2014 p. 133. Entschließung des Europäischen Parlaments 2006/2205(INI). Ex-Art 201 EWGV 1957.

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überwacht. Außerdem sollte im Rat mit 1.1.1966 die Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit eingeführt werden. Deutschland, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg waren für die Erweiterung budgetärer Kompetenzen des Parlaments und den eigenen Souveränitätsverzicht bereit, nicht aber Frankreich, das mit dem Demokratiedefizit des Parlaments argumentierte und befürchtete, bei Mehrheitsentscheidungen überstimmt werden zu können. Frankreich zog aus dem Rat aus, beendete seine Mitwirkung auch in anderen Gemeinschaftsorganen und hinterließ einen „leeren Stuhl“. Damit war eine Entscheidungsfindung in der Gemeinschaft, die anfangs eine Einstimmigkeit erforderte, nicht mehr möglich (sog Politik des leeren Stuhls). Bereits Anfang 1966 ist es aber mit dem Luxemburger Kompromiss gelungen, die Befürchtung Frankreichs, in Fragen von grundlegender Bedeutung überstimmt werden zu können, auszuräumen.33 Durch den Fusionsvertrag 1965 wurden die Ministerräte und die Kommissio22 nen bzw die Hohe Behörde der EWG, der EGKS und der Euratom in einem Rat und einer Kommission zusammengefasst. Ein wichtiger finanzverfassungsrechtlicher Schritt war die damit einhergehende Verschmelzung der Haushalte der drei Gemeinschaften (bis auf den Funktionshaushalt der EGKS) in einen Haushalt der Europäischen Gemeinschaften.34 Erst mit 21.4.1970 wurde der erste Eigenmittelbeschluss gefasst.35 Zum 1.1.1971 23 wurden der Gemeinschaft eigene Mittel aus vier Kategorien zugewiesen: – Agrarabschöpfungen (Abschöpfungen, Prämien, bestimmte Beträge auf den Warenverkehr mit Nichtmitgliedstaaten im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik sowie Abgaben im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation für Zucker) – Zölle (des Gemeinsamen Zolltarifs und andere Zölle auf den Warenverkehr mit Nichtmitgliedstaaten) – Einnahmen aus sonstigen Abgaben – Mehrwertsteuereinnahmen (zunächst 1% einer steuerpflichtigen Bemessungsgrundlage) 24 Ab 1975 sollte der Haushalt vollständig aus eigenen Mitteln der Gemeinschaft finan-

ziert werden. Durch das Einstimmigkeitserfordernis sollte der Gesamthaushaltsplan auf eine stabile Grundlage gestellt werden, dennoch waren bis 1979 zusätzliche Finanzzahlungen der Mitgliedstaaten erforderlich. Zwischen 1970 und 2007 sind insgesamt sechs Eigenmittelbeschlüsse ergan25 gen. Der zweite Eigenmittelbeschluss 198536 setzte den ersten im Wesentlichen fort.

_____ 33 34 35 36

Streinz Vereinbarung passim. Ex-Art 20 Fusionsvertrag 1965, ABl 1967 L 152/0. Beschluss 70/243, ABl 1970 L 94/19. Beschluss 85/257, ABl 1985 L 128/15. Stefan Storr

II. Die Eigenmittel der Union | 677

Die Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten als eigene Einnahmekategorie liefen aus. Weil die Union in eine schwere Finanzierungskrise geraten war, wurde der gestiegene Finanzierungsbedarf zunächst durch eine Anhebung der Eigenmittelobergrenze (von 1% auf 1,4%) gedeckt. Durch den dritten Eigenmittelbeschluss 1988 wurden die MwSt-Eigenmittel auf 55% des BSP des betreffenden Mitgliedstaats begrenzt. Außerdem wurde eine neue Kategorie der BSP-Eigenmittel (sog vierte Einnahme) geschaffen.37 Das sind Einnahmen, die auf der Grundlage des BSP aller Mitgliedstaaten errechnet werden. Die Gesamtobergrenze der Eigenmittel wurde auf 1,2% des BSP festgelegt. Der vierte Eigenmittelbeschluss führte den dritten im Wesentlichen fort. Die Obergrenze für Einnahmen wurde auf 1,27% des BSP erhöht.38 Im fünften Eigenmittelbeschluss39 wurde der maximale Abrufsatz für die MwStEigenmittel schrittweise auf 0,50% gesenkt; die MwSt-Eigenmittelbemessungsgrundlage der Mitgliedstaaten blieb auf 50% ihres BSP – später ausgedrückt in BNE – begrenzt.40 Im Eigenmittelbeschluss 2007 wurde die Obergrenze für Einnahmen auf 1,24% BNE festgelegt. Bis Ende der 1970er Jahre dominierte eine Finanzierung durch direkte Beiträge 26 der Mitgliedstaaten. In den 1980er Jahren waren vor allem die traditionellen Eigenmittel (Zölle und Zuckerabgaben) sowie die MwSt-Eigenmittel von erheblicher Bedeutung für die Finanzierung des Gemeinschaftshaushalts. In den 1980er Jahren mussten neue Finanzierungsinstrumente geschaffen werden. Das wichtigste Instrument wurde die Einführung von BSP-Eigenmitteln. Der erhebliche Finanzierungsbedarf konnte aber nur durch weitere außerordentliche Finanzierungsinstrumente gedeckt werden (zB rückzahlbare und nicht rückzahlbare Vorschüsse der Mitgliedstaaten,41 sog Kassenkredite42 und Anleihen). Außerdem wurden Ausgaben verschoben (zeitlich gestreckt).43 In den 1990er Jahren wurden die BNE-Mittel zur wichtigsten Einnahmequelle (2010: 75% der Einnahmen).

3. Arten von Eigenmitteln Derzeit gilt der Eigenmittelbeschluss 2014/335/EU, Euratom vom 26.5.2014.44 Dieser 27 sieht drei Kategorien von Eigenmitteln vor:45

_____ 37 Beschluss 88/376, ABl 1988 L 185/24. 38 Beschluss 94/728, ABl 1994 L 293/9. 39 Beschluss des Rates 2000/597, ABl 2000 L 253/42. 40 S Rn 62. 41 S Rn 74. 42 Art 12 II VO 1150/2000, ABl 2000 L 130/1. 43 European Union, Public Finance, 5th ed. 2014, p. 31. 44 Beschluss 2014/335/EU, Euratom des Rates vom 26.5.2014 über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union, ABl 2014 L 168/105. 45 Art 2 Beschluss 2014/335/EU, ABl 2014 L 168/105. Stefan Storr

678 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

a) Traditionelle Eigenmittel 28 Zur ersten Kategorie gehören Abschöpfungen, Prämien, Zusatz- oder Aus-

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gleichsbeträge, zusätzliche Teilbeträge und andere Abgaben, Zölle des Gemeinsamen Zolltarifs und andere Zölle auf den Warenverkehr mit Drittländern, die von den Organen der Union eingeführt worden sind oder noch eingeführt werden, Zölle auf die unter den ausgelaufenen Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl fallenden Erzeugnisse sowie Abgaben, die im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation für Zucker vorgesehen sind. Ursprünglich setzte sich diese Eigenmittelkategorie aus zwei Einnahmearten zusammen: Zölle und Agrarabgaben. Da die Zollunion eine Angelegenheit der ausschließlichen Zuständigkeit der Union ist, stehen die Zölle von vornherein der Union zu. Es ist daher nicht von Bedeutung, von welchem Mitgliedstaat Zölle eingehoben werden; Fragen der Beitragsgerechtigkeit zwischen den Mitgliedstaaten stellen sich nicht. Eine Durchführungsverordnung bestimmt, dass ein Anspruch der Union auf diese Eigenmittel besteht, sobald die Bedingungen der Zollvorschriften für die buchmäßige Erfassung des Betrags der Abgabe und dessen Mitteilung an den Abgabenschuldner erfüllt sind.46 Agrarabgaben sind Abschöpfungen und ähnliche auf eine Marktorganisation bezogene Einnahmen. Die marktbezogenen Abgaben entstehen beim Import von Waren in die Union oder beim Export aus der Union, um die niedrigeren bzw höheren Weltmarktpreise dem Unionsniveau anzupassen. Die Einbeziehung der Agrarabschöpfungen in den Unionshaushalt macht Sinn, weil der Mitgliedstaat, in dem die Abschöpfung erhoben wird, weder der Bestimmungs- noch der Herkunftsstaat sein muss und Abschöpfungen bestimmten Mitgliedstaaten nicht immer eindeutig zugewiesen werden können.47 In der Uruguay-Runde 1994 wurde vereinbart, zwischen Agrarabgaben und Zöllen nicht mehr zu unterscheiden.48 Deshalb werden heute nur noch die Zuckerabgaben gesondert ausgewiesen. Zur gemeinsamen Marktorganisation für Zucker gehört auch die Herstellung von Isoglucose, weil dieses Produkt im unmittelbaren Wettbewerb mit Flüssigzucker auf dem Süßungsmittelmarkt steht.49 Die Mitgliedstaaten behalten sich 20% der Einnahmen für die Erhebung ein,50 was zu Recht als „ungewöhnlich hoch“51 kritisiert wird und hinsichtlich der realen

_____ 46 Art 2 Abs 1 Verordnung (EU, Euratom) Nr 609/2014 des Rates vom 26.5.2014 zur Festlegung der Methoden und Verfahren für die Bereitstellung der traditionellen, der MwSt- und der BNE-Eigenmittel sowie der Maßnahmen zur Bereitstellung der erforderlichen Kassenmittel, ABl 2014 L 168/39. 47 S vdGroeben/Schwarze/Hatje/Bieber Art 311 Rn 27. 48 Erwgr 6 Beschluss 2007/436, ABl 2007 L 163/17. 49 EuGH, Rs 1107/81 – Roquette Frères / Rat, Rn 39. 50 Art 2 III Beschluss 2014/335/EU, ABl 2014 L 168/105. 51 Bieber/Epiney/Haag S 178: allerdings zu Art 2 III Beschluss 2007/436, ABl 2007 L 163/17, wo ein Erhebungsanteil von 25% vorgesehen war. Stefan Storr

II. Die Eigenmittel der Union | 679

Aufwendungen der Mitgliedstaaten zweifelhaft ist.52 Insgesamt machen die sog traditionellen Eigenmittel 2019 ca 14,5% der Haushaltseinnahmen aus.53 Bezogen auf die Gesamteinnahmen sind die Einnahmen aus den traditionellen Eigenmitteln „dramatisch“54 gesunken. Anders als die MwSt-Eigenmittel und die BNE-Abgabe handelt es sich bei den Zöllen und Agrarabgaben um wirkliche Eigenmittel.

b) Mehrwertsteuer-Eigenmittel Mehrwertsteuer-Eigenmittel sind Einnahmen, die sich aus der Anwendung eines für 33 alle Mitgliedstaaten einheitlichen Satzes (0,30%) auf die nach Unionsvorschriften bestimmte einheitliche MwSt-Eigenmittelbemessungsgrundlage eines jeden Mitgliedstaats ergeben. Die MwSt-Eigenmittel machen 2019 ca 12% der Haushaltseinnahmen aus.55 Die Bemessungsgrundlage ist nach oben gedeckelt: Sie darf 50% des BNE eines jeden Mitgliedstaats nicht überschreiten. Das betraf 2019 Kroatien, Luxemburg, Malta und Zypern.56 Für Deutschland, Österreich, die Niederlande und Schweden gibt es Beitragsreduzierungen.57 Die MwSt-Eigenmittel beruhen nicht auf den MwSt-Einnahmen, die ein Mit- 34 gliedstaat tatsächlich erzielt; es handelt sich nicht um einen Anteil an der Mehrwertsteuer. Auch hier ist der Begriff missverständlich: Die Höhe des Anteils eines Mitgliedstaats, die er als MwSt-Eigenmittel zu tragen hat, wird auf einer (theoretisch) harmonisierten Bemessungsgrundlage berechnet. Damit sollen Unterschiede ausgeglichen werden, die ihren Grund in verschiedenen Mehrwertsteuersätzen der Mitgliedstaaten haben. Die Bemessungsgrundlage richtet sich nach der Mehrwertsteuer-Richtlinie (RL 2006/112).58 Für Deutschland ergaben sich demnach für 2019 unter Berücksichtigung der Korrekturen MwSt-Eigenmittelbeiträge in Höhe von 2.180.437.350 Euro, für Österreich von 530.600.100 Euro.59 Ärmere Mitgliedstaaten werden durch die MwSt-Eigenmittel relativ stärker be- 35 lastet, weil ihr BNE niedriger ist und daher auch ihre BNE-Eigenmittel-Quote, während ihre Verbrauchsquote relativ höher ist. Wohlhabendere Länder profitieren von diesem Finanzierungsmechanismus. Um der Beitragskapazität der einzelnen Mitgliedstaaten im System der Eigenmittel auch weiterhin Rechnung zu tragen und für

_____ 52 Schwarze/Schoo Art 311 AEUV Rn 16: Verstoß gegen das Bruttoprinzip; auch KOM(1998) 560, S 18. 53 Gesamthaushaltsplan 2019, ABl 2019 L 67/12. 54 Europäisches Parlament, Arbeitsdokument Nr 1 über die Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften: Geschichte der Eigenmittel der Gemeinschaften (Berichterstatter Lamassoure) 27.1.2005. 55 Gesamthaushaltsplan 2019, ABl 2019 L 67/12. 56 Gesamthaushaltsplan 2019, ABl 2019 L 67/12. 57 S Rn 55 und 57. 58 RL 2006/112, ABl 2006 L 347/1. 59 Gesamthaushaltsplan 2019, ABl 2019 L 67/16. Stefan Storr

680 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

die weniger wohlhabenden Mitgliedstaaten die regressiven Elemente im derzeitigen System der Eigenmittel zu korrigieren, wurde die MwSt-Eigenmittel-Quote sukzessive zurückgeführt (Begrenzung auf 50% des BNE).60 Weil die Berechnung der Höhe der abzuführenden MwSt-Eigenmittel auf der 36 Grundlage einer harmonisierten Bemessungsgrundlage erfolgt und sich damit nicht danach richtet, wie viel Mehrwertsteuer die Mitgliedstaaten tatsächlich erhoben haben, unterliegt die Prüfung der Mehrwertsteuerverwaltung in den Mitgliedstaaten insofern dem Europäischen Rechnungshof.61

c) BNE-Eigenmittel 37 Die sog BNE-Eigenmittel sind Einnahmen, die sich aus der Anwendung eines im

Rahmen des Haushaltsverfahrens unter Berücksichtigung aller übrigen Einnahmen festzulegenden einheitlichen Satzes auf den Gesamtbetrag der BNE aller Mitgliedstaaten ergeben. 2019 sind 72,26% der EU-Einnahmen BNE-Mittel.62 Damit ist diese Einnahme die Hauptstütze des Einnahmensystems der EU. Drei Hinweise sind hier veranlasst:63 Erstens ermöglichen BNE-Eigenmittel relativ stabile Einnahmen, weil sie bis 38 zu bestimmten Obergrenzen abgerufen werden können. Die Eigenmittelobergrenze beträgt für die Mittel für Zahlungsermächtigungen 1,23% des BNE und die Obergrenze für die Mittel für Verpflichtungen 1,29% des BNE der Mitgliedstaaten.64 Zweitens hatte die BNE-Einnahme ursprünglich eine subsidiäre Finanzie39 rungsfunktion. Sie war eigentlich als eine ergänzende Einnahme gedacht, die eingesetzt werden sollte, wenn die geplanten Ausgaben durch die traditionellen Eigenmittel und durch die MwSt-Eigenmittel nicht gedeckt werden können65. Die BNEEinnahme sollten die wichtige Funktion einer „Lückenschließung“ einnehmen, damit der Haushalt in Einnahmen und Ausgaben ausgeglichen werden kann. Angesichts der Bedeutung dieser Einnahme für den Gesamthaushalt kann von einer Ergänzung freilich nicht mehr gesprochen werden. Drittens setzt die BNE-Einnahme die Zahlungen der einzelnen Mitgliedstaaten 40 ins Verhältnis zur jeweiligen Steuerkraft der Mitgliedstaaten und gilt deshalb als besonders „gerecht.“66 Diesem Argument widersprechen freilich Beitragsermäßigungen für bestimmte Mitgliedstaaten. Besondere Beitragsreduzierungen gibt es im Zeit-

_____ 60 61 62 63 64 65 66

KOM(1998) 560, S 18. EuGH, Rs C-539/09 – Kommission / Deutschland, Rn 73. Gesamthaushaltsplan 2019, ABl 2019 L 67/12. European Union, Public Finance, 5th ed. 2014, p. 193. Art 3 Beschluss 2014/335, ABl 2014 L 168/105. EuGH, Rs C-539/09 – Kommission / Deutschland, Rn 76. European Union, Public Finance, 5th ed. 2014, p. 133. Stefan Storr

II. Die Eigenmittel der Union | 681

raum 2014–2020 für Dänemark, die Niederlande, Schweden und Österreich (für die Niederlande und für Schweden auch schon 2007–2013). Der jährliche BNE-Beitrag Dänemarks wird um 130 Mio Euro, der der Niederlande um brutto 695 Mio Euro und der jährliche BNE-Beitrag Schwedens um brutto 185 Mio Euro gekürzt (zu Preisen von 2014). Der jährliche BNE-Beitrag Österreichs wurde im Jahr 2014 um 30 Mio., im Jahr 2015 um 20 Mio Euro und im Jahr 2016 um 10 Mio Euro gesenkt. Diese Bruttokürzungen waren nach der Berechnung der Korrektur zugunsten des Vereinigten Königreichs und der Finanzierung dieser Korrektur erfolgt.67 Für 2019 beträgt der Anteil für die BNE-Eigenmittel für Deutschland 21,9 Mrd Euro, für Österreich 2,44 Mrd Euro.68

d) Sonstige Einnahmen der Union Der AEUV geht davon aus, dass weitere Einnahmen zulässig sind, wenn er in Art 311 41 II AEUV bestimmt, dass der Haushalt „unbeschadet sonstiger Einnahmen“ vollständig aus Eigenmitteln zu finanzieren ist.69 Sonstige Einnahmen der Union sind zB Steuern auf die Bezüge der Unionsbediensteten und Zinserträge aus Vorfinanzierungsbeträgen, die aus dem Haushaltsplan der Union gezahlt wurden,70 die Vereinnahmung von Geldbußen, andere Strafen und Sanktionen sowie im Zusammenhang mit diesen aufgelaufene Zinsen.71 Das gilt insbesondere auch für die vom EuGH gegenüber einem Mitgliedstaat nach Art 260 AEUV verhängten Zwangsgelder und Pauschalbeträge. Ferner können in den Gesamthaushaltsplan Einnahmen aus sonstigen, gemäß dem EUV oder dem Euratom-Vertrag im Rahmen einer gemeinsamen Politik eingeführten Abgaben in den Gesamthaushaltsplan eingesetzt werden. Auch die Einnahmen aufgrund der von der Union ausgegebenen Anleihen müssen hierunter subsumiert werden, wenngleich für deren Zulässigkeit besondere Voraussetzungen gelten.72 Für das Haushaltsjahr 2019 sind 1,9 Mrd Euro als sonstige Einnahmen in den Haushaltsplan eingestellt73 (gegenüber 5,1 Mrd Euro 2012).

4. Zustandekommen des Eigenmittelbeschlusses a) Der Eigenmittelbeschluss als Primärrecht Art 311 III AEUV regelt die Befugnis des Rates, einen Beschluss über die Festlegung 42 der Eigenmittel zu erlassen. Dieser Beschluss ergeht in einem besonderen Gesetzge-

_____ 67 68 69 70 71 72 73

Art 2 V Beschluss 2014/335, ABl 2014 L 168/105; zu weiteren Korrekturen s Rn 53. Gesamthaushaltsplan 2019, ABl 2019 L 67/18. Weiß ZEuS 2017, 309 (318). Art 8 IV VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. Näher Art 107 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. Streinz/Niedobitek Art 311 AEUV Rn 32. Gesamthaushaltsplan 2019, ABl 2019 L 67/12.

Stefan Storr

682 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

bungsverfahren und steht unter vier Voraussetzungen: Zunächst erstellt die Kommission einen Vorschlag. Das ist zwar nicht in Art 311 III AEUV vorgesehen, wird aber für zulässig gehalten.74 Das Europäische Parlament wird nur angehört. Sodann muss der Rat einstimmig beschließen. Damit hat jeder Mitgliedstaat ein Vetorecht. Das sichert den Mitgliedstaaten einerseits einen erheblichen Einfluss, erschwert das Verfahren aber sehr, weil ein Konsens gefunden werden muss. Schließlich müssen die Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften diesem Beschluss zustimmen. Dieser letzte Verfahrensschritt zeigt, dass es sich bei Art 311 III AEUV um eine 43 besondere Rechtsgrundlage zur Einführung bzw Änderung des Primärrechts handelt (spezielles Vertragsergänzungsverfahren). MaW ist der Eigenmittelbeschluss des Rates primäres Unionsrecht und steht im gleichen Normenrang wie EUV und AEUV. Für Deutschland bedeutet die Zustimmung gemäß den verfassungsrechtlichen Vorschriften, dass ein Beschluss des Bundestages und des Bundesrates in Form eines Bundesgesetzes nach Art 23 II 2 und Art 59 II 1 GG zu erwirken ist, da sich die Finanzierung der EU auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung bezieht und Hoheitsrechte übertragen werden. Mit der Anforderung der Zustimmung durch die Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften wird die Souveränität der Mitgliedstaaten, genauer die Kompetenz der nationalen Parlamente, geschützt. Denn entgegen der Kommission75 schützt diese Voraussetzung nicht die Steuerhoheit der Mitgliedstaaten an sich, sondern die Budgethoheit der nationalen Parlamente. Das führt nicht zwingend dazu, dass über die automatische Bereitstellung der Eigenmittel eine gewisse Unsicherheit besteht; denn es ist nicht nur Aufgabe der nationalen Parlamente zu entscheiden, wie hoch die Belastung der Bürger durch Abgaben sein soll, um die Wahrnehmung öffentlicher Angelegenheiten zu finanzieren, sondern auch die Belastung in ihrer Gesamtheit zu beobachten und zu beurteilen. Mit dem Lissabonner Vertrag wurde der Forderung, die Befugnisse des Europäi44 schen Parlaments bei der Festlegung der Eigenmittel zu stärken, eine Absage erteilt: Im Entwurf für eine Europäische Verfassung76 war vorgesehen, die Obergrenze für Finanzmittel der Union in einem Europäischen Gesetz des Ministerrates festzulegen; die Modalitäten der Finanzmittel der Union sollten durch den Ministerrat nach Zustimmung des Europäischen Parlaments erfolgen. Damit wäre es zu einer erhebli-

_____ 74 Calliess/Ruffert/Waldhoff Art 311 AEUV Rn 5; Bux ZfRV 2013, 244 (245). 75 Bereits Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen: Finanzierung des EU-Haushalts: Bericht über das Funktionieren des Eigenmittelsystems, SEK(2011) 876, S 9; ebenso: Commission Staff Working Document – Financing the EU budget: report on the operation of the own resources system Accompanying the document Proposal of a Council Decision on the system of Own Resources of the European Union, SWD/2018/172 final – 2018/0135 (CNS), p. 9. 76 Art 53 VVE-Entw, ABl 2003 C 169. Stefan Storr

II. Die Eigenmittel der Union | 683

chen Machtverschiebung zugunsten des Parlaments gekommen. Denn das Europäische Gesetz hätte gerade nicht mehr den gleichen Inhalt wie gegenwärtig geltende Eigenmittelbeschlüsse haben können, es hätten nur die Obergrenzen für die Finanzmittel einstimmig und mit Zustimmung der Mitgliedstaaten festgelegt werden dürfen.

b) Finanzverfassungsrechtliche Wesentlichkeitsdoktrin Was den Inhalt des Eigenmittelbeschlusses betrifft, ist auf der Grundlage des Art 311 45 AEUV das System der Eigenmittel zu regeln, außerdem können neue Kategorien von Eigenmitteln festgelegt oder bestehende abgeschafft werden (Art 311 III 2 AEUV). Der Eigenmittelbeschluss wird von Durchführungsbestimmungen flankiert. Nach Art 311 IV AEUV legt der Rat durch Verordnung Durchführungsbestimmungen zu dem System der Eigenmittel fest, sofern dies in dem Eigenmittelbeschluss vorgesehen ist. Wichtig ist es zu erkennen, dass der Rat auf der Grundlage von Art 311 IV AEUV mit qualifizierter Mehrheit entscheidet und dass das Europäische Parlament zustimmen muss; die mitgliedstaatlichen Parlamente sind nicht mehr direkt involviert. Art 311 AEUV lässt offen, wie die Abgrenzung zwischen dem Eigenmittelbe- 46 schluss iSv Art 311 III AEUV und einer Vollziehungsverordnung iSv Art 311 IV AEUV zu erfolgen hat. Insbesondere stellt sich die Frage, ob als „System“ nur das abstrakte Finanzierungsgefüge geregelt werden soll, während den Unionsorganen auf der Grundlage von Art 311 IV AEUV ein weiter Gestaltungsspielraum zukommen soll, oder ob Art 311 III AEUV grundlegende Regelungen zur Finanzierung der Eigenmittel verlangt und mit Durchführungsverordnungen nur der Vollzug an sich geregelt werden kann. Bereits zum Verfassungsvertrag ist ein zweistufiges Verfahren diskutiert worden: Die Festlegung der Obergrenzen der Eigenmittel und die Kategorien der Eigenmittel sollten dem „schwerfälligen“ Verfahren“ der ersten Stufe des Eigenmittelbeschlusses unterliegen, konkrete Modalitäten sollten sodann auf der zweiten Stufe der Durchführungsverordnungen geregelt werden können. Aus Art 311 III AEUV folgt jedenfalls, dass den Organen, die über die Eigenmittel beschließen, ein weiter Gestaltungsspielraum zukommen soll, während der Durchführungsverordnungsgeber nur nach Maßgabe einer ausdrücklichen Ermächtigung im Eigenmittelbeschluss regelungsbefugt sein soll. Sowohl Regelungssystematik als auch der besondere Schutzzweck des Art 311 47 III AEUV sprechen dafür, die inhaltliche Abgrenzung zwischen Eigenmittelbeschluss und Durchführungsverordnung auf der Grundlage einer finanzverfassungsrechtlichen Wesentlichkeitsdoktrin zu bestimmen:77 Aus der Funktion des

_____ 77 Näher Niedobitek/Zemánek/Storr S 221. Stefan Storr

684 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

Art 311 III AEUV, das Budgetrecht der mitgliedstaatlichen Parlamente zu schützen, folgt, dass diese in den Prozess der Eigenmittelgesetzgebung konstitutiv einbezogen werden sollen. Deshalb gehören zum „System der Eigenmittel“ jedenfalls alle Finanzierungsentscheidungen, die von wesentlicher Bedeutung für die mitgliedstaatlichen Haushalte sind und damit auch für die Belastung der Bürger. Insofern regeln die Eigenmittelbeschlüsse die Obergrenzen für die Einnahmen, die verschiedenen Eigenmittelkategorien, die Schuldner, den Gläubiger, die Bemessungsgrundlagen und den Bemessungsmaßstab für MwSt-Eigenmittel und BNE-Eigenmittel. Allein für die traditionellen Eigenmittel ist nur geregelt, dass sie für die Union anfallen und von den Mitgliedstaaten einzuziehen sind. Insbesondere Bemessungsgrundlage und Bemessungshöhe ergeben sich aus besonderen Zollvorschriften. Dies kann damit gerechtfertigt werden, dass traditionelle Eigenmittel vollumfänglich dem EU-Haushalt zur Verfügung zu stellen sind (abgesehen von Erhebungsbeibehalten der Mitgliedstaaten) und dass Inhalt und Umfang Gegenstand nahezu unveränderter sekundärrechtlicher Regelung gewesen sind. Demgegenüber gibt es keinen „Durchführungsvorbehalt“ dahingehend, dass 48 bestimmte Regelungen nur in Durchführungsverordnungen und nicht im Eigenmittelbeschluss geregelt werden dürften.

5. Vollziehung des Eigenmittelbeschlusses 49 Art 311 IV AEUV erlaubt es dem Rat, durch Verordnungen Durchführungsmaß-

nahmen festzulegen. Maßgebend ist vor allem die VO 609/2014, in der das Verfahren geregelt ist, nach dem die Mitgliedstaaten die der Union zugewiesenen Eigenmittel der Kommission zur Verfügung stellen. In dieser Verordnung sind zB die Vorlage und Aufbewahrung von Unterlagen sowie Unterstützungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten für die Kommission hinsichtlich zuständiger Dienststellen, geltender Rechts- und Verwaltungsvorschriften sowie Buchführungspflichten geregelt. Im Übrigen folgt aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 III EUV), der die wechselseitige Verpflichtung der Mitgliedstaaten und der Union regelt, sich bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu achten und zu unterstützen, dass die Mitgliedstaaten der Kommission alle Unterlagen zur Verfügung zu stellen haben, die erforderlich sind, um zu überprüfen, ob die Eigenmittel der Gemeinschaft ordnungsgemäß überwiesen wurden.78 Mit dem Eigenmittelbeschluss und der Durchführungsverordnung soll einer50 seits Rechtssicherheit über die Einnahmen der Union hergestellt und anderseits die Abhängigkeit der Union von den Zahlungen der Mitgliedstaaten verringert werden. Demzufolge sind die Mitgliedstaaten auch verpflichtet, die Eigenmittel der

_____ 78 EuGH, Rs C-38/06 – Kommission / Portugal, Rn 70. Stefan Storr

II. Die Eigenmittel der Union | 685

Union schnell und wirkungsvoll bereitzustellen. Ausdrücklich regelt die VO 609/ 2014 einen Anspruch der Union auf die traditionellen Eigenmittel, sobald die Bedingungen der Zollvorschriften für die buchmäßige Erfassung des Betrags der Abgabe und dessen Mitteilung an den Abgabenschuldner erfüllt sind.79 Damit sind die Mitgliedstaaten bei der Zollerhebung, die sie für die Union durchzuführen haben, zur Feststellung eines Anspruchs der Union auf die Eigenmittel verpflichtet, sobald ihre Behörden in der Lage sind, den sich aus einer Zollschuld ergebenden Abgabenbetrag zu berechnen und den Abgabenpflichtigen zu bestimmen.80 Jeder Mitgliedstaat hat der Union die zu überweisenden Eigenmittel auf einem 51 Konto gutzuschreiben, das für die Kommission bei der Haushaltsverwaltung des Mitgliedstaats eingerichtet wurde. Die Gutschrift der MwSt- und der BNE-Eigenmittel erfolgt am ersten Arbeitstag jedes Monats, und zwar in Höhe eines Zwölftels der entsprechenden Gesamtbeträge im Haushaltsplan. Berücksichtigt werden die Korrekturen der Haushaltsungleichgewichte zugunsten des Vereinigten Königreichs, Dänemarks, der Niederlande, Österreichs und Schwedens.81 Bei verspäteter Gutschrift hat der betreffende Mitgliedstaat Verzugszinsen zu zahlen.82 Außerdem haben die Mitgliedstaaten der Union sog Kassenkredite83 zu gewäh- 52 ren: Im Bedarfsfall können die Mitgliedstaaten von der Kommission ersucht werden, andere Mittel als MwSt-Eigenmittel und die zusätzliche Einnahme einen Monat vorher gutzuschreiben. Außerdem kann die Kommission Belastungen über den Gesamtbetrag dieser Guthaben hinaus vornehmen, wenn der Kassenmittelbedarf die Guthaben der Konten übersteigt, die Mittel im Haushaltsplan verfügbar sind und der Rahmen der im Haushaltsplan vorgesehenen Eigenmittel nicht überschritten wird.84

6. Beitragsgerechtigkeit Im Jahr 2017 zahlte Deutschland ca 19,6 Mrd Euro an die Union ein und erhielt 10,9 53 Mrd Euro zurück. Österreich zahlte 2,4 Mrd Euro ein und erhielt 1,7 Mrd Euro, Großbritannien zahlte 10,6 Mrd Euro ein und erhielt 6,3 Mrd Euro. Den größten positiven Haushaltssaldo konnten Polen (+8,6 Mrd Euro), Griechenland (+3,7 Mrd Euro) und Rumänien (+3,4 Mrd Euro) verzeichnen.85 Seit den 1970er Jahren wird die Diskussion um die sog Haushaltsungleichgewichte intensiv geführt. Insbesondere die bei-

_____ 79 80 81 82 83 84 85

Art 2 I VO 609/2014, ABl 2014 L 168/39. EuGH, Rs C-442/08 – Deutschland / Kommission, Rn 75. Art 10a I VO 609/2014, ABl 2014 L 168/39. Art 12 I VO 609/2014, ABl 2014 L 168/39. Art 10 II VO 609/2014, ABl 2014 L 168/39. Art 14 II VO 609/2014, ABl 2014 L 168/39. Aktuelle Übersicht bei: http://ec.europa.eu/budget/figures/interactive/index_de.cfm.

Stefan Storr

686 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

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den großen Nettozahler Großbritannien und Deutschland, aber auch Österreich, die Niederlande und Schweden drängten immer wieder auf eine Reduzierung ihrer Zahlungsverpflichtungen. Die Gründe sind/waren verschiedene: Großbritannien war in den 1970er Jahren ein Land mit wenig relativem Wohlstand. Seine Agrarindustrie war schwach und das Land war stark vom Import landwirtschaftlicher Produkte abhängig. Agrarausgaben der EWG im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik kamen Großbritannien folglich nicht so stark zugute wie den anderen Mitgliedstaaten; gleichwohl hatte Großbritannien über MwSt- und BSP-Beiträge einen relativ hohen Anteil an der Finanzierung der Gemeinschaften zu tragen. Deshalb wurden seit 1975 verschiedene Reduktionskonzepte entwickelt,86 aber erst 1984 ist es auf dem Gipfel des Europäischen Rates von Fontainebleau87 gelungen, einen länger geltenden Ausgleichsmechanismus zu schaffen: Für das Jahr 1984 wurde Großbritannien ein Pauschalbetrag von 1.000 Mio ECU erlassen. Ab 1985 wurde die Differenz zwischen dem Anteil der Mehrwertsteuerzahlungen und dem Anteil an den aufgeteilten Ausgaben jährlich in Höhe von 66% berichtigt. Die Lasten, die sich daraus für die anderen Mitgliedstaaten ergaben, wurden nach deren regulärem MwSt-Anteil aufgeteilt. Der sog Britenrabatt wurde in der Folge modifiziert, aber bis heute im Wesentlichen fortgeführt. Für seine Berechnung ist eine komplizierte Formel entwickelt worden.88 2019 betrug der Korrekturbetrag zugunsten des Vereinigten Königreichs 5,0 Mrd Euro.89 Insbesondere Deutschland forderte seit den 1980er Jahren eine Ermäßigung seines Anteils, weil es den größten Beitrag leistet. In Fontainebleau wurde beschlossen, dass sich (zunächst nur) der deutsche Anteil an der Finanzierung des Britenrabatts auf zwei Drittel seines Mehrwertsteuer-Anteils belaufen sollte. Im Weiteren haben auch andere Nettozahler-Mitgliedstaaten (Österreich, die Niederlande und Schweden) Rabatte eingefordert und durchgesetzt. Inzwischen haben sich die Rahmenbedingungen erheblich verändert: Der Anteil der Agrarausgaben ist seit Mitte der 1980er Jahre von fast 70% auf ca 40% (2010) gefallen, der Anteil der MwSt-Eigenmittel von über 50% auf 10%. Großbritannien gehört inzwischen zu den wohlhabenderen Staaten Europas; sein Pro-KopfBNE hat 2005 das Deutschlands und Frankreichs überschritten. Kritisiert wird ferner die Komplexität der Rabattregelungen. Nach den Erweiterungsrunden, insbesondere den Osterweiterungen, wird eine größere Verantwortung der „reicheren“ Mitgliedstaaten für die Finanzierung der EU eingefordert. Im Eigenmittelbeschluss 2007 war deshalb zwar noch ein Rabatt vorgesehen, aber nur noch befristet auf die Jahre 2007 bis 2013: Österreich, Deutschland, die

_____ 86 87 88 89

Europäischer Rat 1975 in Dublin, Europäischer Rat 1979 in Dublin. Europäischer Rat 1984 in Fontainebleau. Art 4 Beschluss 2007/436, ABl 2007 L 163/17. Gesamthaushaltsplan 2019, ABl 2019 L 67/19. Stefan Storr

II. Die Eigenmittel der Union | 687

Niederlande und Schweden wurden beim Abrufsatz für MwSt-Eigenmittel privilegiert. Der Abrufsatz betrug für Österreich 0,225%, für Deutschland 0,15% und für die Niederlande und Schweden 0,10%. Ferner wurden für diesen Zeitraum der jährliche BNE-Beitrag der Niederlande um brutto 605 Mio Euro und der jährliche BNE-Beitrag Schwedens um brutto 150 Mio Euro gekürzt.90 Doch auch der Eigenmittelbeschluss 2014 sieht Rabatte vor: „Ausschließlich für den Zeitraum 2014–2020“ wird der Abrufsatz der MwSt-Eigenmittel für Deutschland, die Niederlande und Schweden auf 0,15% festgesetzt und die BNE-Beiträge Dänemarks, der Niederlande, Schwedens und Österreichs gesenkt.91 Für Deutschland bedeutet die Korrektur für die britische Beitragsermäßigung 58 2019 letztlich einen Mehraufwand von 322 Mio Euro und für Österreich 36 Mio Euro. Frankreich, das in den Korrektur-Korrekturmechanismus nicht privilegierend einbezogen ist, muss ca. 1,3 Mrd Euro mehr einbringen.92

7. Kritik am Eigenmittelsystem und Herausforderungen a) Kritik Abgesehen von den traditionellen Eigenmitteln sind die Einnahmen der EU keine 59 „eigenen Mittel“ der EU. Sowohl die MwSt-Eigenmittel als auch die BNE-Eigenmittel sind letztlich Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten. Diese machen mehr als drei Viertel der gesamten EU-Einnahmen aus.93 Aber Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten werden dem besonderen Charakter der EU nicht gerecht,94 die mehr als ein Staatenbund ist. Das geltende Finanzierungssystem gilt als komplex, undurchsichtig und ins- 60 besondere im Hinblick auf die Korrekturen als unfair.95 Es hatte bisher zwei Ziele: Sicherstellung der Finanzierung der EU und Gewährleistung eines konsensfähigen Korrekturmechanismus. Der gegenwärtige Finanzierungsmechanismus führt bis heute zu erheblichen Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten; bisweilen wird deshalb sogar der Sinn einer EU-Mitgliedschaft in Zweifel gezogen. Außerdem sind die Einnahmen der EU überwiegend Ausgaben der Mitgliedstaaten und abgesehen von den traditionellen Eigenmitteln besteht zwischen den Einnahmen der EU und ihren politischen Maßnahmen kein unmittelbarer und erkennbarer Zusammenhang.

_____ 90 Diese Bruttokürzungen sollten nach der Berechnung der Korrektur zugunsten des Vereinigten Königreichs und der Finanzierung des betreffenden Korrekturbetrags erfolgen und diese nicht beeinflussen. 91 Art 2 V Beschluss 2014/335/EU, ABl 2014 L 168/105. 92 Gesamthaushaltsplan 2019, ABl 2019 L 67/21. 93 KOM(1998) 560, S 2. 94 Krit auch Weiß ZEuS 2017, 309, 320. 95 Bereits KOM(1998) 560. Stefan Storr

688 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

61

Die Berechnung und Verwaltung der MwSt-Eigenmittel ist umständlich und schwer verständlich. Die Mehrwertsteuer-Eigenmittel haben keinen Bezug zu den Zielen der Union oder zu grenzüberschreitenden Sachverhalten. Sie sind für die Bürger als eigene, unionale Abgabe nicht erkennbar, sondern Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten. Sie haben keinen Vorteil neben BNE-Eigenmitteln. Deshalb wird von verschiedener Seite (zB Kommission, Rechnungshof, diversen Mitgliedstaaten) gefordert, die MwSt-Eigenmittel abzuschaffen. Auch der Korrekturmechanismus ist zu hinterfragen: Denn es kann nicht je62 der Mitgliedstaat genauso viel von der EU zurückerhalten wie er „einbezahlt“ hat. Nettosaldenberechnungen führen immer dazu, dass ein Mitgliedstaat mehr leistet als ein anderer. Die Union ist auch eine Solidargemeinschaft (Art 2 EUV) und im Protokoll Nr 28 über den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt haben die Mitgliedstaaten ausdrücklich ihre Absicht erklärt, der Beitragskapazität der einzelnen Mitgliedstaaten im Rahmen des Systems der Eigenmittel stärker Rechnung zu tragen und zu prüfen, wie für die weniger wohlhabenden Mitgliedstaaten regressive Elemente im derzeitigen System der Eigenmittel korrigiert werden könnten. Tatsächlich bedeutet eine Korrektur der Korrektur zugunsten wohlhabender Länder, dass die ärmeren Mitgliedstaaten insgesamt mehr Beiträge aufbringen müssen – auch um die Kohäsionspolitik der Union zu finanzieren, deren Begünstigte sie sind.96 Letztlich sind die Vorteile, die ein Mitgliedstaat erhält, Vorteile, die der gesamten Union zugutekommen. Bei Nettosaldenberechnungen darf der – freilich nur sehr schwer quantifizierbare97 – „Mehrwert“ der EU-Politik nicht vernachlässigt werden. Insbesondere trifft es regelmäßig nicht zu, dass die Ausgaben des EUHaushalts allein den Empfängerländern zugutekommen: Von der Förderung des Studierendenaustauschs durch das Erasmus-Programm profitieren nicht nur die Bürgerinnen und Bürger des Herkunftsstaates, sondern auch die des Aufnahmestaats. Auch bei Forschungsförderungen kann es zu erheblichen grenzüberschreitenden Effekten kommen und Auszahlungen im Rahmen der Kohäsionspolitik der EU erfolgen auch an Unternehmen aus Nettozahlerstaaten.98 Zudem gibt es eine Reihe von Sonderzahlungen der EU, die bestimmten Mit63 gliedstaaten oder Regionen gewährt werden oder Projekten zugutekommen sollen. Das sind zwar keine Beiträge der Mitgliedstaaten an die Union, verkürzen aber letztlich deren Nettosaldo und sind deshalb hier anzuführen. Grund und Höhe der Sonderzahlungen werden politisch entschieden. Der Europäische Rat hat zB 2005 beschlossen, 865 Mio Euro für ein litauisches und 375 Mio Euro für ein slowakisches Kernkraftwerk zur Verfügung zu stellen und 200 Mio Euro waren für den Friedensprozess in Nordirland vorgesehen. Sonderzahlungen waren etwa für die österreichi-

_____ 96 KOM(1998) 560, S 18. 97 Calliess/Ruffert/Waldhoff Art 311 AEUV Rn 22. 98 KOM(1998) 560, S 52. Stefan Storr

II. Die Eigenmittel der Union | 689

schen Grenzgebiete (150 Mio Euro), für Bayern (50 Mio Euro) und für die ostdeutschen Länder (225 Mio Euro) versprochen, ferner eine Zusatzzahlung von 1,3 Mrd Euro für Österreich aus der ländlichen Entwicklung, Estland und Lettland sollten je 35 Euro pro Bürger erhalten.99 Kommission und Europäisches Parlament haben wiederholt eine grundlegen- 64 de Reform des Eigenmittelsystems gefordert.100 Auch der Europäische Rat hat auf seiner Tagung am 7./8.2.2013101 angemahnt, dass Richtschnur für die Eigenmittelvereinbarungen die allgemeinen Ziele der Einfachheit, Transparenz und Gerechtigkeit sein sollten.

b) Herausforderungen Die Herausforderungen an die Finanzierung der EU sind also vielschichtig:102 65 – Es muss eine hinreichende Finanzierung der EU gesichert sein, damit diese ihre Aufgaben erfüllen kann. Der Finanzierungsbedarf ist in den vergangenen Jahren aufgrund der Erweiterungen, des Ausbaus der EU-Politiken sowie der Wirtschafts- und Finanzkrise gestiegen. – Die Finanzierung muss „gerecht“ erfolgen. Das betrifft insbesondere auch die Frage, ob bestehende Korrekturmechanismen geboten sind oder in Frage gestellt werden sollen. – Die Haushaltsmittel der EU sollen einen Bezug zu den Zielen der EU-Politik aufweisen. – Aufgrund internationaler Verhandlungen (GATT) werden Zölle zunehmend abgebaut. Damit wird die Einnahme aus traditionellen Eigenmitteln geschwächt. – Gleichwohl müssen grundlegende Finanzierungsinstrumente wie die traditionellen Eigenmittel und jedenfalls ein bestimmter Anteil an BNE-Mittel erhalten bleiben, damit Stabilität und Ausgeglichenheit des Haushalts sichergestellt werden können. Aus den Verträgen folgt nicht zwingend, dass das Eigenmittelsystem selbst fortent- 66 wickelt werden muss und dass ein Rückfall in die Beitragsfinanzierung (außerhalb der BNE-Einnahmen) vertragswidrig wäre.103 Die politischen Zielvorstellungen gehen aber ohnehin in eine andere Richtung. Die Kommission fordert drei Strukturänderungen: Die Beiträge der Mitgliedstaaten müssen vereinfacht werden, es müssen

_____ 99 Weitere Beispiele in Anhang 2 zu KOM(1998) 560, S 27. 100 Entschließung des Europäischen Parlaments 2012/2678(RSP); KOM(1998) 560. 101 EUCO 37/13. 102 KOM(1998) 560, S 23 f. 103 Calliess/Ruffert/Waldhoff Art 311 AEUV Rn 4. Stefan Storr

690 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

neue Eigenmittelarten gefunden werden und die Korrekturmechanismen müssen aufgegeben werden. Der Europäische Rat hat Anfang 2013 vorgeschlagen,104 das System der traditionellen Eigenmittel zu erhalten, eine neue Eigenmittelkategorie auf der Grundlage der Mehrwertsteuer mit dem Ziel fortzusetzen, größtmögliche Einfachheit und Transparenz zu gewährleisten und die Verknüpfung mit der Mehrwertsteuerpolitik der EU und der tatsächlich erhobenen Mehrwertsteuer zu verstärken, sowie für eine Gleichbehandlung der Steuerzahler in allen Mitgliedstaaten zu sorgen. Nach Vorstellung des Europäischen Rates sollte die neue MehrwertsteuerEigenmittelkategorie das System für die Bereitstellung der Eigenmittel auf der Grundlage der Mehrwertsteuer in seiner jetzigen Form ablösen. 2018 hat die Kommission einen Vorschlag für einen neuen Eigenmittelbeschluss vorgelegt, der drei neue Eigenmittelkategorien einführen soll, die auf der gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage, dem Emissionshandelssystem der Europäischen Union und nicht wiederverwerteten Verpackungsabfällen aus Kunststoff beruhen.105 Letztere sind als „Beiträge für Verpackungsabfälle aus Kunststoff“ vorgesehen.

8. Einführung einer EU-Steuer? 67 Insbesondere die Kommission,106 aber auch andere Unionsstellen (zB das Europäi-

sche Parlament107) fordern schon seit längerem die Einführung einer Unionssteuer. Genannt werden eine Finanztransaktionssteuer, eine Finanzaktivitätssteuer, Einnahmen aus der Versteigerung von Zertifikaten im Rahmen des EU-Emissionshandelssystems, eine Luftverkehrsabgabe, sog neue MwSt-Eigenmittel, eine Energiesteuer oder eine eigene EU-Körperschaftssteuer. Früher im Gespräch waren auch Verbrauchssteuern auf Tabak, Alkohol und Mineralöl, eine Besteuerung von Telekommunikationsdienstleistungen oder eine europäische Einkommensteuer. Sicherlich würde eine eigene Steuer der Union mehr Spielraum und Unabhängigkeit gegenüber den Mitgliedstaaten verschaffen und ihre Finanzierung könnte transparenter werden. Die Kommission sieht aber auch die Gefahr, dass eine steuerbasierte Einnahme variabel wäre und deshalb eine Finanzierungsunsicherheit zur Folge ha-

_____ 104 EUCO 37/13. 105 Kommission, Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung der Methoden und Verfahren für die Bereitstellung der Eigenmittel, die auf der gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage, dem Emissionshandelssystem der Europäischen Union und nicht wiederverwerteten Verpackungsabfällen aus Kunststoff basieren, sowie der Maßnahmen zur Bereitstellung der erforderlichen Kassenmittel vom 2.5.2018, COM(2018) 326. 106 ZB Kommission KOM(1998) 560, S 33 f.; COM(2017) 358, S 33. 107 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. März 2018 zu der Reform des Eigenmittelsystems der Europäischen Union (2017/2053(INI)). Stefan Storr

II. Die Eigenmittel der Union | 691

ben könnte. Deshalb hat sie früher zB gefordert, dass neue Steuern höchstens 50% des Haushaltsbedarfs der Union abdecken sollen.108 Die Kommission ist sich der politischen Bedeutung einer eigenen EU-Steuer 68 sehr wohl bewusst. Deshalb sollen Steuern vor allem in solchen Politikbereichen eingeführt werden, die von der Union maßgeblich gestaltet werden; Steuersubjekte sollen – außer bei der Mehrwertsteuer – bestimmte Unternehmen, nicht aber die Bürger sein. Damit mag die Union auf breite Unterstützung durch die Bürger spekulieren; die Nichtbelastung der Bürger widerspricht aber auch dem Ziel der Kommission, Geldleistungen an die EU für die Bürger besser erfahrbar zu machen. Als Rechtsgrundlage für die Einführung von Steuern kommt nur Art 311 AEUV 69 in Betracht. Auf Art 113 AEUV können nur Unionsbestimmungen gestützt werden, um Umsatzsteuern, Verbrauchsabgaben und sonstige indirekte Steuern der Mitgliedstaaten zu harmonisieren, soweit dies für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts und die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen notwendig ist. Art 113 AEUV enthält auch keine Kompetenz zur Bestimmung der Ertragszuweisung. Art 114 II AEUV schließt eine Harmonisierung von direkten Steuern auf der Grundlage von Art 114 I AEUV aus. Zwar kann die Union im Umweltbereich (Art 192 II lit a AEUV) und im Energiebereich (Art 194 III AEUV) Maßnahmen überwiegend steuerlicher Art regeln. Diese Steuern sind aber Lenkungsinstrumente, mit denen nicht finanzpolitische Ziele, sondern umwelt- bzw energiepolitische Ziele verfolgt werden sollen. Ferner nicht geregelt ist eine Ertragshoheit der Union. Selbst die Kompetenzabrundungsklausel Art 352 AEUV muss als Rechtsgrundlage zur Einführung von EU-Steuern ausscheiden. Insoweit entfaltet Art 311 AEUV eine Sperrwirkung zum Schutz der mitgliedstaatlichen Parlamente. Die Union wird – unbeschadet sonstiger Einnahmen – vollständig aus Eigenmitteln finanziert (Art 311 II AEUV) und der aktuelle Eigenmittelbeschluss sieht ein Besteuerungsrecht der Union nicht vor. Dafür spricht auch der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art 5 I EUV). Die Union darf nur innerhalb der Grenzen und Zuständigkeiten tätig werden, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin genannten Ziele übertragen haben. Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten bleiben bei den Mitgliedstaaten. Die Zuständigkeit für die Finanzierung der EU aber – und das ist Kernaussage des Art 311 AEUV – liegt ganz wesentlich bei den Mitgliedstaaten. Das bedeutet aber auch: Durch Änderung des Eigenmittelbeschlusses könnte 70 der Union ein Besteuerungsrecht eingeräumt werden.109 Hierfür ist das Verfahren nach Art 311 III und IV AEUV von Bedeutung. Bei der Einführung einer EU-Steuer handelt es sich um die Einführung einer neuen Eigenmittel-Kategorie iSv Art 311 III AEUV. Deshalb muss der Rat nicht nur über die Einführung der neuen Steuer ein-

_____ 108 KOM(2004) 505. 109 Ebenso Weiß ZEuS 2017, 309 ff. Stefan Storr

692 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

stimmig beschließen, sondern auch ihren wesentlichen Inhalt regeln, dh alle grundlegenden Fragen einer Besteuerung wie Steuerart, Steuersubjekt, Steuergläubiger, Steuerobjekt (Bemessungsgrundlage) und Steuersatz. Die Mitgliedstaaten müssen diesem Beschluss im Einklang mit ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften zustimmen. Lediglich die Durchführung, dh die Vollziehung der Vorschriften zu dieser neuen Eigenmittelkategorie kann auf der Grundlage eines Verfahrens erfolgen, das nach Maßgabe des Art 311 IV AEUV geregelt ist.

9. Sondervorschriften zur Finanzierung der EU 71 Sondervorschriften sieht der EUV für den Bereich der GASP vor. Wenn eine interna-

tionale Situation ein operatives Vorgehen der Union verlangt, erlässt der Rat die erforderlichen Beschlüsse, in denen auch die der Union zur Verfügung zu stellenden Mittel festzulegen sind (Art 28 I EUV). Art 41 EUV gibt vor, dass die Verwaltungsausgaben und die operativen GASP-Ausgaben zulasten des Haushalts der Union gehen. Bei den operativen GASP-Ausgaben gilt allerdings eine Ausnahme für Ausgaben aufgrund von Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen und in Fällen, in denen der Rat einstimmig etwas anderes beschließt. Dann haben die Mitgliedstaaten aufgrund eines Bruttosozialproduktschlüssels die Ausgaben zu tragen. Das gilt aber nicht für den Mitgliedstaat, der der betreffenden Maßnahme nicht zugestimmt hat.110 Für die Finanzierung von Missionen im Bereich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik durch die Mitgliedstaaten ist ein Anschubfonds eingerichtet worden. Wichtig ist es zu erkennen, dass im Fall einer Belastung des EU-Haushalts das Europäische Parlament zustimmen muss. Diesem kommt damit politische Gestaltungskompetenz in einem Bereich zu, der überwiegend mitgliedstaatlicher Kompetenz unterliegt. Eine weitere Ausnahme ist Art 332 AEUV: Im Rahmen der verstärkten Zusam72 menarbeit tragen die beteiligten Mitgliedstaaten die betreffenden Ausgaben. Lediglich die Verwaltungskosten der Unionsorgane werden durch die Union getragen. Der Rat kann einstimmig etwas anderes beschließen. III. Die Kreditaufnahme der Union III. Die Kreditaufnahme der Union 1. Überblick 73 Aus Art 311 II AEUV, der den Grundsatz des Haushaltsausgleichs regelt, folgt,

dass der Haushalt der Union unbeschadet der sonstigen Einnahmen „vollständig aus Eigenmitteln“ finanziert wird. Entgegen dem eindeutigen Wortlaut, der auf die

_____ 110 ISv Art 31 I UAbs 2 EUV. Stefan Storr

III. Die Kreditaufnahme der Union | 693

Einnahmen aus dem Eigenmittelbeschluss verweist und eine „vollständige“ Finanzierung hieraus bestimmt, hat sich die Union in der Vergangenheit verschuldet, indem sie Kredite aufgenommen hat. Als die Eigenmittel 1983 ausgeschöpft waren und nicht mehr ausreichten, um 74 alle Ausgaben, insbesondere des Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft, abzudecken, wurden zunächst Ausgaben in Höhe von 825 Mio ECU auf 1984 verschoben. Weil das nicht ausreichte, beschlossen die Mitgliedstaaten „rückzahlbare Vorschüsse“ in Höhe von ca 1 Mrd ECU zu leisten.111 Später wurden auch nicht rückzahlbare Vorschüsse geleistet. Einen anderen, besonderen Fall der Verschuldung iwS stellen die sog Kassen- 75 kredite dar. Wenn der Kassenmittelbedarf die Guthaben der Konten, die bei den Mitgliedstaaten für die Union zu führen sind, übersteigt, kann die Kommission Belastungen über den Gesamtbetrag dieser Guthaben hinaus vornehmen. Das setzt aber voraus, dass Mittel im Haushaltsplan verfügbar sind und der Rahmen der im Haushaltsplan vorgesehenen Eigenmittel nicht überschritten wird.112 Die Union gibt aber auch Anleihen auf den Kapitalmärkten aus und gibt die 76 daraus erzielten Erlöse als Darlehen an Dritte weiter. Weil die Union als ein sehr guter Schuldner gilt, kann sie die Anleihen zu relativ niedrigen Zinsen begeben und den Zinsvorteil an den Dritten weitergeben.113 Bis Ende 2017 belief sich der Gesamtbetrag der Transaktionen mit Garantie aus dem Unionshaushalt auf 82,1 Mrd Euro; davon entfielen 52,1 Mrd Euro auf die Mitgliedstaaten und 29,9 Mrd Euro auf Drittländer (einschließlich aufgelaufener Zinsen).114 Die Kommission unternimmt regelmäßig Vorausschätzungen für neue Anleihen und Darlehen. Für 2018 nennt sie 8,7 Mrd Euro und für 2019 4,7 Mrd Euro, wobei sie für 2019 keine Inanspruchnahme des EFSM erwartet. Für Finanzhilfen der Union an Drittländer geht sie für 2019 von 20 Mio Euro für Georgien, 100 Mio Euro für Jordanien, 40 Mio Euro für die Republik Moldau, 300 Mio Euro für Tunesien und 500 Mio Euro für die Ukraine aus. Ferner gibt die Union Garantien für Darlehen der EIB.115 Schon seit einer Weile in der Diskussion steht die Einführung von Euro-Bonds, also Schuldverschreibungen, die entweder durch die Mitgliedstaaten der EU oder gleich durch die EU selbst ausgegeben werden könnten.116

_____ 111 Rechnungshof, Jahresbericht 1984, ABl 1985 C 326/1 (9). Tatsächlich bereitgestellt wurden dann aber nur 593 Mio ECU. 112 Art 14 II VO 609/2014, ABl 2014 L 168/39. 113 European Union, Public Finance, 5th ed. 2014, p. 292. 114 Gesamthaushaltsplan 2019, ABl 2019 L 67/1801. 115 Gesamthaushaltsplan 2019, ABl 2019 L 67/1715. 116 Bereits KOM(2011) 818; dazu Mayer/Heidfeld NJW 2012, 422 ff. Stefan Storr

694 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

2. Typen von Anleihen 77 Im Grunde können heute drei Typen von Unionsanleihen unterschieden werden.

a) Zahlungsbilanzanleihen 78 Zahlungsbilanzanleihen sollen Staaten unterstützen, die in finanzielle Schwierig-

keiten gekommen sind. Zahlungsbilanzanleihen sind Ende der 1960er Jahre erstmals eingesetzt worden. Sie haben ihren Grund in der Beistandsverpflichtung für Mitgliedstaaten, die nicht der Euro-Zone angehören (Art 143 AEUV). Die VO 332/2002117 regelt zB die Einführung einer Fazilität des mittelfristigen finanziellen Beistands zur Stützung der Zahlungsbilanzen der Mitgliedstaaten, damit Mitgliedstaaten, die von Leistungs- oder Kapitalbilanzschwierigkeiten betroffen oder ernstlich bedroht sind, Darlehen gewährt werden können. Der ausstehende Kapitalbetrag der Darlehen, die den Mitgliedstaaten im Rahmen dieser Fazilität gewährt werden können, war zunächst auf 12,5 Mrd Euro begrenzt, ist 2008 auf 25 Mrd Euro verdoppelt118 und 2009 erneut auf 50 Mrd Euro verdoppelt119 worden. Ferner gibt es Zahlungsbilanzanleihen zB für Ungarn bis zu 6,5 Mrd Euro,120 für Lettland bis zu 3,1 Mrd Euro121 und für Rumänien bis zu 5 Mrd Euro,122 2013 außerdem einen vorsorglichen mittelfristigen finanziellen Beistand für Rumänien von maximal 2 Mrd Euro. Diese Fazilität war Ende September 2015 ausgelaufen, ohne in Anspruch genommen worden zu sein.123 Ende 2016 hatte sich der ausstehende Gesamtbetrag im Rahmen dieses Instruments insgesamt auf 3,05 Mrd Euro belaufen.124 Ferner hat es Garantien der Europäischen Union für Unions-Anleihen zum 79 Zweck des finanziellen Beistands im Rahmen des Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) nach Maßgabe der VO 407/2010125 gegeben. Die Höhe der ausstehenden Darlehen oder Kreditlinien, die Mitgliedstaaten im Rahmen der genannten Verordnung gewährt werden konnten, war auf den bei den Mitteln für Zahlungen bis zur Eigenmittel-Obergrenze vorhandenen Spielraum begrenzt.126 Der Ecofin-Rat hat die Obergrenze auf 60 Mrd Euro festgesetzt. Die primärrechtliche Grundlage dafür ist Art 122 II AEUV.127 Danach kann einem Mitgliedstaat, dem auf-

_____ 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127

VO 332/2002, ABl 2002 L 53/1. VO 1360/2008 ABl 2008 L 352/11. VO 431/2009 ABl 2009 L 128/1. Entscheidung 2009/102, ABl 2009 L 37/5. Entscheidung 2009/290, ABl 2009 L 79/39. Entscheidung 2009/459, ABl 2009 L 150/8. Beschluss 2011/288, ABl 2011 L 132/15; Beschluss 2013/531/EU, ABl 2013 L 286/1. Gesamthaushaltsplan 2019, ABl 20198 L 67/1804. VO 407/2010, ABl 2010 L 118/1. Art 2 II VO 407/2010, ABl 2010 L 118/1. Vgl Häde EuZW 2009, 399 (401 f). Stefan Storr

III. Die Kreditaufnahme der Union | 695

grund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht ist, ein finanzieller Beistand der Union gewährt werden. Entsprechende Durchführungsbeschlüsse gibt es für Irland (22,5 Mrd Euro)128 und Portugal (26 Mrd Euro).129 Am 31. Dezember 2017 belief sich der ausstehende Gesamtbetrag im Rahmen dieses Instruments auf 46,8 Mrd Euro.130

b) Das sog Neue Gemeinschaftsinstrument Zwischen 1978 und 1987 hat die Gemeinschaft außerdem Mittel zur vorübergehen- 80 den Investitionsförderung auf dem Kapitalmärkten besorgt.131 In den Erwägungsgründen des Beschlusses 78/870 heißt es hierzu: „Die Wirtschaftstätigkeit, der Beschäftigungsgrad und die Investitionen sind in der Gemeinschaft ungenügend hoch und schlecht verteilt. Neben den bereits bestehenden gemeinschaftlichen Finanzinstitutionen und Finanzierungsinstrumenten, die verstärkt einzusetzen sind, soll zur Anregung des wirtschaftlichen Wiederaufschwungs und zur Unterstützung der gemeinsamen Aktionen ein neuer Finanzierungsmechanismus geschaffen werden, der die bereits bestehenden gemeinschaftlichen Mechanismen ergänzt und einen zusätzlichen Beitrag zur Investitionstätigkeit in der Gemeinschaft leisten kann… Auf den Kapitalmärkten sind erhebliche anlagefähige Mittel vorhanden, die zur Investitionsfinanzierung in der Gemeinschaft eingesetzt werden können. Die Gemeinschaft als solche besitzt eine Kreditwürdigkeit, die sie zur verstärkten Förderung der genannten Investitionen auf europäischer Ebene und zur Unterstützung der auf gemeinschaftlicher Ebene beschlossenen Maßnahmen bestmöglich einsetzen sollte. Um zur Erreichung des angestrebten Zieles beizutragen, scheint unter den gegenwärtigen Umständen ein Anleihebetrag im Gegenwert von einer Milliarde ERE angemessen. Die Anwendung dieses neuen Finanzierungsmechanismus erfolgt versuchsweise. Die Europäische Investitionsbank hat sich bereit erklärt, sich an der Durchführung dieses Beschlusses zu beteiligen.“

Bis 1987 hat die Gemeinschaft zwölf Anleihen aufgelegt, der Höchstbetrag war auf 81 6,8 Mrd Euro festgesetzt.132

c) Garantie für Darlehen der EIB an dritte Staaten Ein wichtiges Finanzierungsinstrument ist auch heute noch die Gewährung von Fi- 82 nanzhilfen für Drittländer, zB des Mittelmeerraums, für Staaten Mittel- und Osteuropas, für den Westbalkan etc. Dabei handelt es sich um mittelfristige Darlehen, die

_____ 128 129 130 131 132

ZB Durchführungsbeschluss 2011/77, ABl 2011 L 30/34. Durchführungsbeschluss 2011/344, ABl 2011 L 159/88. Gesamthaushaltsplan 2019, ABl 2019 L 67/1805. ZB Beschluss 78/870, ABl 1978 L 298/9. Niedobitek/Zemánek/Storr S 225 mwN.

Stefan Storr

696 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

Anpassungs- und Reformprogramme unterstützen sollen. Die Mittel für diese Darlehen werden idR aus Anleihen gewonnen, die die EIB ausgibt und für die die Union eine Bürgschaft übernimmt. Die Darlehen wurden bisher überwiegend zurückbezahlt.133

3. Besonders geregelte Anleihetätigkeiten a) Besondere Voraussetzungen in EGKSV, EAGV und AEUV 83 Wie bereits ausgeführt,134 konnten im Rahmen des Montanvertrages zweckgebundene Anleihen begeben werden. Die Kommission durfte die durch Anleihen aufgebrachten Mittel nur zur Gewährung von Krediten verwenden. Sie konnte die Sicherung für Anleihen übernehmen, die Dritte den Unternehmen unmittelbar gewähren. Für ihre Kredite oder Gewährleistungen konnte sie einen Reservefonds einrichten. Eine eigene Banktätigkeit auszuüben war ihr aber versagt.135 Der Euratom-Vertrag sieht in Art 172 IV vor, dass Anleihen zur Finanzierung 84 von Forschungen oder Investitionen aufgenommen werden können. Der Rat hat hierfür Bedingungen festzulegen und nach Maßgabe des Art 314 AEUV zu entscheiden. Die Gemeinschaft kann auf dem Kapitalmarkt eines Mitgliedstaats Anleihen aufnehmen. Dies kann entweder nach den dort für Inlandsemissionen geltenden Vorschriften erfolgen, oder – wenn es solche Vorschriften nicht gibt – aufgrund einer entsprechenden Vereinbarung zwischen der Kommission und dem betreffenden Staat. Der Mitgliedstaat muss diese Anleihebegebung grundsätzlich dulden und darf seine Zustimmung nur verweigern, wenn auf seinem Kapitalmarkt schwere Störungen zu befürchten sind. Der Beschluss 77/270 zB ist eine Rechtsgrundlage, um für die Finanzierung von Kernkraftanlagen Euratom-Anleihen aufzunehmen. Darin wurde die Kommission ermächtigt, im Namen der Europäischen Atomgemeinschaft Anleihen aufzunehmen, deren Aufkommen in Form von Darlehen zur Finanzierung von Investitionsvorhaben für die industrielle Erzeugung von Elektrizität in Kernkraftwerken und für die industriellen Anlagen des Brennstoffkreislaufs verwendet wird.136 1994 wurde diese Finanzierung auf Länder Mittel- und Osteuropas sowie der GUS ausgedehnt, um auch die Sicherheit ihrer Kernkraftanlagen zu verbessern.137 Der Höchstbetrag der Euratom-Anleihen für die Mitgliedstaaten und die Drittländer ist auf 4 Mrd Euro begrenzt.138 Anleihebürgschaften der Union sind ausdrücklich auch in Art 171 I Spstr 3 85 AEUV für den Auf- und Ausbau transeuropäischer Netze in den Bereichen der Ver-

_____ 133 134 135 136 137 138

European Union, Public Finance, 5th ed. 2014, p. 217. S Rn 14. Ex-Art 52 EGKSV. Beschluss 77/270 Euratom, ABl 1977 L 88/9. Beschluss 94/179 Euratom, ABl 1994 L 84. Gesamthaushaltsplan 2019, ABl 2019 L 67/1812. Stefan Storr

III. Die Kreditaufnahme der Union | 697

kehrs-, Telekommunikations- und Energieinfrastruktur vorgesehen. Die VO 1316/ 2013 zur Schaffung der Fazilität „Connecting Europe“, nimmt auf eine Mitteilung der Kommission Bezug, wonach für Vorhaben mit langfristigem kommerziellen Potenzial im Regelfall Unionsmittel in Partnerschaft mit dem Finanz- und Bankensektor, insbesondere mit der Europäischen Investitionsbank und den öffentlichen Finanzinstitutionen der Mitgliedstaaten, verwendet werden sollen.139

b) Europäische Investitionsbank Art 309 AEUV bestimmt, dass sich die Europäische Investitionsbank (EIB) des Ka- 86 pitalmarkts sowie ihrer eigenen Mittel bedienen soll, um zu einer ausgewogenen und reibungslosen Entwicklung des Binnenmarkts im Interesse der Union beizutragen. Dafür soll sie ohne Verfolgung eines Erwerbszwecks durch Gewährung von Darlehen und Bürgschaften zur Finanzierung bestimmter Vorhaben beitragen. Die EIB hat im Organisationsgefüge eine Sonderstellung. Einerseits ist sie in 87 Art 13 EUV nicht als Organ der Union genannt, sondern hat selbst Rechtspersönlichkeit (Art 308 I AEUV) und ihre Mitglieder sind die Mitgliedstaaten (und nicht die Union, Art 308 II AEUV), andererseits sind ihre Organisation und ihre Aufgaben im AEUV geregelt. Der EuGH geht deshalb von einer Doppelnatur der EIB in dem Sinne aus, dass sie einerseits hinsichtlich ihrer Geschäftsführung, insbesondere im Rahmen ihrer Kapitaloperationen, unabhängig, andererseits hinsichtlich ihrer Ziele mit der EU eng verbunden ist.140 Bei Anleihe- und Darlehensoperationen kommt es nicht selten zu einem koope- 88 rativen Zusammenwirken von Kommission und EIB dahingehend, dass die Union Garantien für die Rückzahlung der Darlehen für den Fall einer Nichtzahlung durch einen Schuldner übernimmt. Eine allfällige Rückzahlungsverpflichtung ist dann ggf aus dem Unionshaushalt zu bestreiten. Die Rechtsgrundlage bilden bestimmte Protokolle (Mittelmeerprotokolle).141 Zunächst durch Beschluss des Rates vom 8.3.1977142 übernahm die Gemeinschaft die Garantie für Darlehen, die die EIB im Rahmen der finanziellen Verpflichtungen der Gemeinschaft aufgrund der Protokolle gegenüber den Mittelmeerländern gewährte. 1978 schlossen EWG und EIB einen Garantieübernahmevertrag, der eine Globalgarantie der EWG in Höhe von 75% für alle Kredite im Rahmen von Darlehenstransaktionen in den Ländern Malta, Tunesien, Algerien, Marokko, Portugal, Türkei, Zypern, Ägypten, Jordanien, Syrien,

_____ 139 Erwgr 41 VO 1316/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.12.2013 zur Schaffung der Fazilität „Connecting Europe“, ABl 2013 L 348/129 mwN. 140 EuGH, Rs C-15/00 – Kommission / EIB, Rn 102. 141 ZB Beschluss 92/44, ABl 1992 L 18/34. 142 Übersicht und weitere Informationen im Gesamthaushaltsplan 2019, ABl 2019 L 67/1813. Stefan Storr

698 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

Israel, Griechenland, das ehemalige Jugoslawien und Libanon vorsah.143 Später wurden die Garantieübernahmen auf 65% begrenzt.144 2014 legte der Rat fest, dass während des Zeitraums von 2014 bis 2020 die Obergrenze der EIB-Finanzierungen im Rahmen der EU-Garantie 30 Mrd Euro nicht überschreiten darf (Festbetrag von max. 27 Mrd Euro, fakultativer Betrag in Höhe von 3 Mrd Euro).145 Weitere Garantien für Anleihebegebungen durch die EIB gibt es zB für Länder in Mittel- und Osteuropa und im Westlichen Balkanraum146 sowie für Vorhaben in Ländern Asiens und Lateinamerikas147 und im Südkaukasus, in Russland, Belarus, der Republik Moldau und der Ukraine,148 außerdem für Südafrika.149

4. Rechtsgrundlage für eine Verschuldung 89 Eine allgemeine Rechtsgrundlage der Union zur Aufnahme von Krediten bzw Begebung von Anleihen gibt es nicht.150 Das heißt aber nicht, dass eine Verschuldung deshalb von vornherein unzulässig ist. Art 318 I AEUV erwähnt ausdrücklich die „Schulden der Union“ und geht deshalb davon aus, dass es solche gibt oder geben kann. Die Union stützt sich regelmäßig auf die Kompetenzabrundungsklausel Art 352 I AEUV. Danach gilt: Erscheint ein Tätigwerden der Union im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche erforderlich, um eines der Ziele der Verträge zu verwirklichen, und sind in den Verträgen die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen, so erlässt der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments die geeigneten Vorschriften. Werden diese Vorschriften vom Rat gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren erlassen, so beschließt er ebenfalls einstimmig auf Vorschlag der Kommission

_____ 143 Vgl Gesamthaushaltsplan 2019, ABl 2019 L 67/1815. 144 ZB Beschluss Nr 466/2014/EU, ABl 2014 L 135/1. 145 Beschluss Nr 466/2014/EU, ABl 2014 L 135/1. 146 ZB Beschluss 93/696, ABl 1993 L 321/27. 147 ZB Beschluss 96/723 des Rates vom 12. Dezember 1996 über eine Garantieleistung der Gemeinschaft für etwaige Verluste der Europäischen Investitionsbank aus Darlehen für Vorhaben von gemeinsamen Interesse in den Ländern Lateinamerikas und Asiens, mit denen die Gemeinschaft Kooperationsabkommen geschlossen hat (Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Ecuador, El Salvador, Guatemala, Honduras, Kolumbien, Mexiko, Nicaragua, Panama, Paraguay, Peru, Uruguay und Venezuela; Bangladesch, Brunei, China, Indien, Indonesien, Macao, Malaysia, Pakistan, Philippinen, Singapur, Sri Lanka, Thailand und Vietnam), ABl 1996 L 329/45. 148 ZB Beschluss 2005/48, ABl 2005 L 21/11. 149 ZB Beschluss 95/207, ABl 1995 L 131/31. 150 Vgl aber den Vorschlag der Kommission für einen Art 203b EWGV im Entwurf für einen zweiten Haushaltsvertrag DOK KOM(73) 1000, S 9: Anleiheerhebung durch Rat (mit qualifizierter Mehrheit) und Zustimmung der Versammlung (mit Mehrheit der Mitglieder und absoluter Mehrheit der Stimmen). Stefan Storr

III. Die Kreditaufnahme der Union | 699

und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments.151 Bei der Subsumtion dieser Vorschrift sind drei Überlegungen angebracht: Was die Zielrichtung betrifft, muss eine Kreditaufnahme im Rahmen der festge- 90 legten Politikbereiche erforderlich sein. Dabei kann es nicht auf den Umstand der Verschuldung an sich ankommen; maßgeblich muss vielmehr der Zweck sein, für den der Kredit verwendet wird. Das schließt eine allgemeine Verschuldungskompetenz der Union von vornherein aus. Für projektbezogene Darlehenstätigkeiten ist eine Kreditaufnahme auf dieser Rechtsgrundlage nicht ausgeschlossen, insbesondere Zahlungsbilanzunterstützungen (Außenpolitik, Heranführungshilfe) und projektbezogene Investitionen für den Binnenmarkt entsprechen dieser Anforderung.152 Schwieriger zu beantworten ist, ob und inwiefern der Grundsatz des Haus- 91 haltsausgleichs (Art 311 II AEUV) eine Verschuldung der EU verbietet. Dem wird entgegengehalten, dass die Kredite wieder zurückgezahlt werden müssen, dass daher auf künftige Eigenmittel zugegriffen werde.153 Damit wird aber die Funktion des Art 311 II AEUV verkannt: Das Eigenmittelsystem soll die Mitgliedstaaten – vor allem die nationalen Parlamente – vor einem eigenmächtigen Zugriff der Unionsorgane auf ihre Haushalte schützen. Die Vorschrift soll die Mitgliedstaaten und die nationalen Parlamente auch vor einer unbegrenzten finanziellen Einstandspflicht im Fall der Überschuldung der Union bewahren,154 sei es im Wege eines Haftungsdurchgriffs auf Grund einer völkerrechtlichen Gewährleistungspflicht oder einer Nachschusspflicht aufgrund einer anstaltslastähnlichen Finanzierungsverantwortung.155 Deshalb soll die Finanzierung der Union aufgrund des Eigenmittelbeschlusses erfolgen, dh insbesondere nach einer Zustimmung der nationalen Parlamente. Eine Kreditaufnahme der Union, die zu einer Umwegs-Finanzierung durch die Mitgliedstaaten führt, soll gerade verhindert werden. Damit zeigt sich aber auch der Weg, wie eine – über jahrzehntelang erfolgte – 92 Verschuldungspraxis der Union rechtlich zulässig gestaltet werden kann: Die Union muss sicherstellen, dass etwaige Zahlungsausfälle aus den Mitteln des Gesamthaushaltsplans bestritten werden können. Das bedeutet nicht, dass konkrete Schuldengrenzen nach Maßgabe der Maastricht-Kriterien, wie sie für die Mitgliedstaaten gelten, analog anzuwenden sind.156 Das lässt sich rechtswissenschaftlich nicht begründen. Das bedeutet aber auch nicht, dass ein Posten in der Höhe der begebenen Anleihen eingestellt und bedeckt sein muss, weil Anleihen ja in der Regel zurückge-

_____ 151 Zu Interpretationsschwierigkeiten des Art 352 I 2 AEUV vgl Streinz/Streinz Art 352 AEUV Rn 49 Fn 160 mwN. 152 Niedobitek/Zemánek/Storr S 227. 153 Lienemeyer S 252. 154 Näher Niedobitek/Zemánek/Storr S 227 f. 155 Magiera EuR 1985, 273 (286). 156 vLewinski ZG 2012, 165 (178). Stefan Storr

700 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

zahlt werden. Vielmehr muss es genügen, wenn Mittel bereitgestellt werden, um Ausnahmesituationen abzudecken, also für die nicht vorhergesehenen Fälle der Nichtrückzahlung. Die Union hat dafür einen Garantiefonds geschaffen, um ihren Garantieverpflichtungen nachkommen zu können. Der Zielbetrag wird auf 9% der gesamten Kapitalverbindlichkeiten der Gemeinschaften aus allen Transaktionen, zuzüglich der fälligen und nicht gezahlten Zinsen, festgesetzt.157 Der Fonds wird durch Übertragungen aus dem Gesamthaushaltsplan, Zinsen aus Kapitalanlagen des Fonds sowie Einziehungen bei den säumigen Schuldnern, soweit die Garantie des Fonds in Anspruch genommen wurde, finanziert. Die EIB wurde mit der Finanzverwaltung betraut. Das Nettovermögen des Fonds betrug Ende 2016 1,0 Mrd Euro; die ausstehenden Kapitalverbindlichkeiten ca 83,25 Mrd Euro.158 Zusammen mit Mitteln aus dem Haushalt können 5,78 Mrd Euro abgedeckt werden.159 In ihrem Bericht über die Garantien aus dem Gesamthaushaltsplan verweist die Kommission auch auf Zahlungsausfälle: seit 2011 musste die EIB Ausfälle bei gewissen Zins- und Rückzahlungen Syriens verbuchen, weshalb die Bank die Auszahlung der EUGarantie über den Garantiefonds beantragte. Das dahinterstehende Risiko darf nicht unterschätzt werden. Belief sich 2012 der Zahlungsausfall noch auf rund 21,8 Mio Euro, hat sich dieser bis Ende 2016 auf 309,1 Mrd Euro addiert. Insgesamt beläuft sich der gegenüber Syrien ausstehende Kapitalbetrag auf 555 Mio Euro. Im Hinblick auf politische Spannungen in diversen Ländern und wirtschaftlichen Schwierigkeiten bestimmter Mitgliedstaaten kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Risiko von Zahlungsausfällen künftig erheblich steigen wird.160 Wenn die EU eine Zahlung im Rahmen der EU-Garantie leistet, gehen die Rechte und Rechtsmittel der EIB gemäß den Garantievereinbarungen auf die EU über. Die Beitreibungsverfahren für Forderungen, in die die EU eingetreten ist, hat die Bank zu übernehmen.161 Aber es muss auch gesehen werden, dass sich das unionsrechtliche Kreditsystem auf den internationalen Kapitalmärkten durchsetzen und ausweiten konnte, was letztlich auch ein Vertrauensbeweis für das Funktionieren dieses Konstrukts ist.162 Damit lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen: Eine allgemeine Kredit93 finanzierung des Unionshaushalts wird nur möglich sein, wenn das Verfahren nach Art 311 III AEUV eingehalten wird.163 Daneben können Anleihen auf der Grundlage des Art 352 AEUV aufgenommen werden, wenn nachstehende drei Voraussetzungen erfüllt sind:

_____ 157 158 159 160 161 162 163

Art 3 I UAbs 2 VO 480/2009, ABl 2009 L 145/10. COM(2017) 721, S 6. COM(2017) 721, S 10. Für Tunesien vgl COM(2017) 721, S 15. COM(2017) 721, S 14. Oppermann/Classen/Nettesheim S 99. vLewinski ZG 2012, 164 (171). Stefan Storr

III. Die Kreditaufnahme der Union | 701

1.

2.

3.

Anleihen werden nur zur Finanzierung begrenzter und zweckgebundener Maßnahmen aufgelegt. Sie dürfen nicht zur allgemeinen Finanzierung des Haushalts herangezogen werden. Verbindlichkeiten der Union aus Krediten und Darlehen müssen so abgesichert sein, dass im Fall einer Einstands- und Zahlungsverpflichtung der Union ein Rückgriff auf die Mitgliedstaaten ausgeschlossen ist. Das Risiko eines Schuldnerausfalls oder einer Zahlungsunfähigkeit kann die Union durch einen Garantiefonds abdecken.164

Vor diesen Ausführungen ist die außerordentliche Zugriffsermächtigung der 94 Kommission auf die bei den Mitgliedstaaten geführten Konten in Art 14 III der VO 609/2014 zur Festlegung der Methoden und Verfahren für die Bereitstellung der traditionellen, der MwSt- und der BNE-Eigenmittel sowie der Maßnahmen zur Bereitstellung der erforderlichen Kassenmittel mit Art 311 AEUV nicht vereinbar. Die Kommission soll bei einem Zahlungsausfall im Rahmen eines gemäß den Verordnungen und Beschlüssen des Rates begebenen oder garantierten Darlehens Belastungen über den Gesamtbetrag der vorhandenen Guthaben der bei den Mitgliedstaaten geführten Konten vornehmen dürfen, wenn sie nicht rechtzeitig andere Maßnahmen ergreifen kann, um die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen der Union gegenüber den Gläubigern gewährleisten zu können. Sicher muss der Schuldendienst der Union sichergestellt werden und es trifft auch zu, dass die Mitgliedstaaten für die finanziellen Verpflichtungen der Union einzustehen haben. Die Budgethoheit der Mitgliedstaaten zu gewährleisten ist aber ein fundamentales Anliegen der Unionsverträge und der Verfassungen der Mitgliedstaaten. Zudem lässt Art 14 III VO 609/2014 offen, nach welchem Schlüssel die außerordentliche Inanspruchnahme erfolgen soll und auch das nähere Verfahren (zB das Erfordernis einer vorherigen Anfrage) sowie Grenzen der Inanspruchnahme sind nicht näher geregelt. Allerdings soll der Unterschiedsbetrag zwischen den Gesamtguthaben und dem Kassenmittelbedarf auf die Mitgliedstaaten möglichst anteilmäßig zu den Einnahmen aufgeteilt werden, die im Haushaltsplan je Mitgliedstaat veranschlagt sind.165

5. Parlamentarische Kontrolle Aus der Funktion des Rates und des Parlaments, die erforderlichen Mittel im Haus- 95 haltsplan bereitzustellen, und aus der Aufgabe des Parlaments, den Haushaltsvollzug zu überwachen und die Kommission zu entlasten, folgt, dass die Anleihe- und Darlehensoperationen der Unionsorgane in den Gesamthaushaltsplan aufgenommen werden müssen. Das Haushaltsverfahren ist – hinsichtlich demokratischer Le-

_____ 164 Vgl Niedobitek/Zemánek/Storr S 231; Storr EuR 2001, 846 (866). 165 Art 14 III VO 609/2014, ABl 2014 L 168/39. Stefan Storr

702 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

gitimation – zweigeteilt: Während die nationalen Parlamente im Wege des Eigenmittelbeschlussverfahrens konstitutiv über die der Union zur Verfügung zu stellenden Mittel entscheiden, soll das Europäische Parlament über die Ausgaben und damit über den Haushaltsvollzug wachen. Damit wird ein gemeineuropäischer Grundsatz, nämlich dass das Budgetrecht dem Parlament obliegt, für den europäischen Staatenverbund bestmöglich zur Wirkung gebracht.166 Das Parlament – und das gilt für das Europäische Parlament genauso wie für die nationalen Parlamente – wirkt dabei besonders integrativ, weil es in öffentlichen Debatten unter Einbeziehung der Opposition zu Entscheidungen kommt. Eine effektive politische Kontrolle der Verschuldung der Union ist dem Parlament aber nur möglich, wenn es einen Gesamtüberblick über Verpflichtungen des Gesamthaushalts erhalten kann. In den Haushaltsplan werden aber nur Garantien für die Anleihe- und Darle96 hensoperationen der Union eingesetzt. Die gesamten Anleihen- und Darlehensaktivitäten der Union werden im Gesamthaushaltsplan nicht wiedergegeben. Die Verpflichtung zur Angabe von Anleihe- und Darlehensoperationen im Haushaltsplan war lange Zeit – und ist es noch – umstritten. Denn grundsätzlich werden durch die Gewährung von Darlehen und Bürgschaften ja keine Haushaltsmittel in Anspruch genommen.167 1979 hatte das Parlament den Haushaltsentwurf abgelehnt, weil sich der Rat geweigert hatte, die Anleihen als Einnahmen und die Darlehen als Ausgaben zu verbuchen.168 Die Grundsätze der Vollständigkeit des Haushalts, der Einheit des Haushalts, der Transparenz und des Haushaltsausgleichs sprechen aber dafür, die Anleihe- und Darlehensoperationen in den Haushaltsplan aufzunehmen. Sie haben ja auch erhebliche Auswirkungen auf die Bilanz der Union. Die Haushaltsordnung 2018 bestimmt jedoch, dass Haushaltsgarantien und finanzieller Beistand für Mitgliedstaaten oder Drittländer generell außerhalb des Haushaltsplans zu buchen sind. Um einen besseren Schutz der finanziellen Interessen der Union zu bewirken und um einen klareren Rahmen für ihre Genehmigung, Verwaltung und Abrechnung zu schaffen, werden sie aber in die Haushaltsordnung 2018 einbezogen.169 Tatsächlich werden sie im Haushalt ausgewiesen, wenn auch an verschiedenen Stellen: – Im allgemeinen Einnahmenplan werden in die Haushaltslinien für die jeweiligen Transaktionen die etwaigen Rückzahlungen säumiger Schuldner eingesetzt. Diese Linien tragen den Vermerk „pro memoria“ (p.m.) und sollen mit entsprechenden Erläuterungen versehen werden. – Im Einzelplan der Kommission werden die Haushaltslinien für die Haushaltsgarantien betreffend die jeweiligen Transaktionen aufgenommen. Auch diese Li-

_____ 166 167 168 169

Storr EuR 2001, 846 (869). Storr EuR 2001, 846 (869). European Union, Public Finance, 5th ed. 2014, p. 299. Erwgr 150 VO 2018/20146, ABl 2018 L 193/1. Stefan Storr

III. Die Kreditaufnahme der Union | 703



nien tragen einen pro-memoria-Vermerk, bis der Risikofall eintritt, der endgültig mit Haushaltsmitteln zu decken ist. Außerdem werden Erläuterungen mit Angaben zum Basisrechtsakt, zum geplanten Transaktionsvolumen sowie zu Laufzeit und Höhe der finanziellen Garantie der Union für die betreffenden Transaktionen angeführt. Im Anhang zum Einzelplan der Kommission und auch nur informationshalber werden Angaben über laufende Kapitaltransaktionen und den Schuldendienst sowie über Kapitaltransaktionen und den Schuldendienst für das Haushaltsjahr angegeben.170

6. Haftung der Mitgliedstaaten für die Union Die Frage der Verschuldungsbefugnis der Union ist für die Mitgliedstaaten von erheb- 97 licher Bedeutung, wenn diese im Fall einer Überschuldung der Union für diese einstehen müssten. Grundsätzlich gilt, dass sich die Mitgliedstaaten nicht der Verantwortung für eine von ihnen geschaffene Organisation entziehen können. Im Einzelnen ist eine völkerrechtliche Haftungsverpflichtung der Mitgliedstaaten für die von ihnen gegründeten internationalen Organisationen in Voraussetzungen, Reichweite und Umfang umstritten.171 Eine Haftung der Mitgliedstaaten der EU für diese ist von einer völkerrechtlichen Haftungsverpflichtung nicht grundsätzlich ausgenommen. Etwas anderes muss aber dann gelten, wenn die Mitgliedstaaten eine Haftung für das Handeln der supranationalen Organisation ausgeschlossen haben. Allenfalls wenn die Mitgliedstaaten die internationale Organisation nicht mit hinreichenden Haftungsmitteln ausgestattet haben oder das Ultra-vires-Handeln der Organisation nicht hinreichend kontrolliert haben, sollen sie für die Organisation haften.172 Die sog No-Bail-out-Klausel des Art 125 I AEUV regelt keine Haftungsbe- 98 schränkung der Mitgliedstaaten für die Union.173 Tatsächlich sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Union mit den erforderlichen finanziellen Mitteln auszustatten (Art 311 I und III AEUV und Art 4 III EUV); was allerdings als „erforderlich“ gilt, legen die Mitgliedstaaten im Eigenmittelbeschluss fest. Übersteigen die Ausgaben die Einnahmen, bedeutet das, dass die Unionsorgane den Grundsatz des Haushaltsausgleichs verletzt und deshalb rechtswidrig gehandelt haben. Ein Einstehenmüssen der Mitgliedstaaten folgt daraus nicht zwangsläufig, denn die Mitgliedstaaten haben das Eigenmittelsystem gerade deshalb geschaffen, um vor Nachschusspflichten zugunsten der Union gefeit zu sein.174

_____ 170 171 172 173 174

Art 52 I lit d VO 2018/20146, ABl 2018 L 193/1. Hartwig S 290 f.; Magiera EuR 1985, 273 (286). Stein/vButtlar Rn 1129; Hoffmann NJW 1988, 585 (586). Calliess/Ruffert/Häde Art 125 AEUV Rn 3. Storr EuR 2011, 846 (867).

Stefan Storr

704 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

99

Dieser Grundsatz des Haushaltsausgleichs wird durch Art 323 AEUV gestützt, wonach das Parlament, der Rat und die Kommission sicherzustellen haben, dass der Union die Finanzmittel zur Verfügung stehen, die es ihr ermöglichen, ihren rechtlichen Verpflichtungen gegenüber Dritten nachzukommen. Die Vorschrift verpflichtet die genannten Organe, die zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel so zu bewilligen, dass die Union die eingegangenen finanziellen Verbindlichkeiten erfüllen kann. Auch wenn die Vorschrift im Verhältnis der Union zu den Mitgliedstaaten keine Rechtswirkungen entfaltet,175 hat sie doch mittelbar Bedeutung für die Mitgliedstaaten: Denn den Unionsorganen wird auch verboten, Verbindlichkeiten einzugehen, die sie nicht finanzieren können. IV. Der mehrjährige Finanzrahmen IV. Der mehrjährige Finanzrahmen 1. Idee und Entwicklung des mehrjährigen Finanzrahmens

100 Der Eigenmittelbeschluss regelt die Eigenmittelkategorien und die jährlichen Ober-

grenzen für Eigenmittel. Angesichts der Jährlichkeit des Haushalts sind der Union bei ihrer Haushaltsplanung Grenzen gesetzt. ZB ist im Eigenmittelbeschluss keine langfristige Ausgabenpolitik der Union geregelt. Das soll durch den mehrjährigen Finanzrahmen (Art 312 AEUV) erfolgen. Durch ihn soll sichergestellt werden, dass die Ausgaben der Union innerhalb der Grenzen ihrer Eigenmittel eine geordnete Entwicklung nehmen. Mit dem mehrjährigen Finanzrahmen soll ein Zeitraum von mindestens fünf Jahren geplant werden. Der vergangene Finanzrahmen etwa hatte einen Zeitrahmen von sieben Jahren umfasst. Der mehrjährige Finanzrahmen ist ein zentrales Konfliktfeld von Kommissi101 on, Rat und Parlament, eben weil die Ausgaben für die wichtigsten Politikbereiche und damit die politische Ausrichtung der EU für mehrere Jahre festgelegt werden. Aber genau darin liegt auch seine Bedeutung: Einige Mitgliedstaaten sehen den mehrjährigen Finanzrahmen als ein Sicherungsinstrument gegen die haushalterischen Möglichkeiten des Parlaments. Der mehrjährige Finanzrahmen soll einer Erweiterung des EU-Budgets auf Kosten nationaler Budgets entgegenwirken.176 Tatsächlich hat das Parlament zB im März 2013 die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates für einen neuen mehrjährigen Finanzrahmen heftig zurückgewiesen und ua die erfolgreiche Umsetzung der Strategie „Europa 2020“, hinreichende Mittel zur Überwindung der Krise und mehr Investitionen in Innovation, Forschung, Entwicklung, Infrastruktur und Jugend gefordert, ferner, die Ziele der EU in den Berei-

_____ 175 Calliess/Ruffert/Waldhoff Art 323 AEUV Rn 2; Vedder/Heintschel vHeinegg/Rossi Art 323 AEUV Rn 4. 176 Kietz/Slominski/Maurer/Puntscher Riekmann/Becker S 268. Stefan Storr

IV. Der mehrjährige Finanzrahmen | 705

chen Klimawandel und Energie zu verwirklichen, das Bildungsniveau zu verbessern und die soziale Inklusion zu fördern.177 Der AEUV verpflichtet den Haushaltsgesetzgeber, den mehrjährigen Finanz- 102 rahmen bei der Aufstellung des jährlichen Haushaltsplans einzuhalten. Bisher haben Kommission, Parlament und Rat einen mehrjährigen Finanzrahmen durch eine interinstitutionelle Vereinbarung beschlossen,178 zuletzt etwa für die Periode 2007 bis 2013. Die Rechtsnatur der Interinstitutionellen Vereinbarung war umstritten, im Kern handelte es sich aber um einen besonderen Vertrag zwischen drei europäischen Organen.179 Mit dem Lissabonner Vertrag wurde Art 312 AEUV eingeführt, der den mehrjährigen Finanzrahmen auf eine eigene Rechtsgrundlage gestellt hat. In dem mehrjährigen Finanzrahmen werden die jährlichen Obergrenzen der 103 Mittel für Verpflichtungen je Ausgabenkategorie und die jährliche Obergrenze der Mittel für Zahlungen festgelegt. Von den Ausgabenkategorien darf es nur wenige geben (vgl Art 312 III AEUV), damit der mehrjährige Finanzrahmen nicht die Funktion des Haushaltsplans übernimmt und diesen verdrängt. Die Ausgabenkategorien müssen den Haupttätigkeitsbereichen der Union entsprechen. Der derzeit geltende Finanzrahmen für 2014 bis 2020180 – die Kommission hat 2018 einen Vorschlag für die Folgeperiode 2021 bis 2027 bereits vorgestellt, der verhandelt wird181 – sieht zB die Kategorien „intelligentes und integratives Wachstum“ (Teilrubriken „Wettbewerbsfähigkeit für Wachstum und Beschäftigung“ und „wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt“), „nachhaltiges Wachstum: natürliche Ressourcen“ (Teilrubrik „marktbezogene Ausgaben und Direktzahlungen“), „Sicherheit und Unionsbürgerschaft“, „Europa in der Welt“, „Verwaltung“ und „Ausgleichszahlungen“ vor. „Ausgleichzahlungen“ werden zB den neuen Mitgliedstaaten gemäß dem Beitrittsvertrag zeitlich begrenzt zur Verfügung gestellt, damit sie ihre Haushaltslage verbessern können. Zu Recht kritisiert wird, dass diese Rubrikbezeichnungen so abstrakt sind, dass sie kaum mehr erkennen lassen, wofür Mittel eigentlich verwendet werden sollen.182 Für jede Rubrik und Teilrubrik gibt es eine jährliche Obergrenze für Mittel für 104 Verpflichtungen. Der Haushaltsgesetzgeber muss deshalb Sorge tragen, dass er bei der Aufstellung des Haushaltsplans unterhalb dieser Grenze bleibt und möglichst viel Spielraum einplant. Weil die einzelnen Rubriken untereinander nicht „durch-

_____ 177 Entschließung vom 13.3.2013, ABl 2016 C 36/49; vgl a die Würdigung von Kämmerer EuZW 2013, 321 f. 178 Interinstitutionelle Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Europäischen Kommission über die Haushaltsdisziplin und die wirtschaftliche Haushaltsführung, ABl 2006 C 139/1. 179 Storr EuR 2001, 846 (855); Wilms EuR 2007, 707 (726). 180 VO 1311/2013, ABl 2013 L 347/884. 181 COM(2018) 322; noch ist es zu keinem Abschluss gekommen: Stand Juli 2019. 182 Streinz/Niedobitek Art 312 AEUV Rn 21. Stefan Storr

706 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

lässig“ sind, können Änderungen in den Rubriken nur durch eine Änderung des mehrjährigen Finanzrahmens durchgesetzt werden. Eine Änderung ist zB durch die VO 2015/623183 erfolgt, weil im Jahr 2014 21 Mrd Euro der Mittelbindungen im EUHaushalt nicht in Anspruch genommen wurden. Die Verordnung erlaubt es der EU, die nicht in Anspruch genommenen Mittelbindungen von 2014 auf die nachfolgenden Jahre zu übertragen. Auch für Mittel für Zahlungen wird eine Obergrenze festgelegt, die aber nicht 105 nach Rubriken bestimmt ist. Die Mittel für Zahlungen werden als Prozentsatz des Unions-BNE ausgedrückt. Damit lässt sich feststellen, ob die Eigenmittelobergrenze voraussichtlich ausreichen wird. Die Mittel für Zahlungen sind niedriger angesetzt als die Eigenmittelobergrenze. Die Differenz ergibt einen Spielraum für unvorhergesehene Ausgaben. Damit soll ein nicht erwarteter Bedarf finanziert oder ein nicht vorgesehener Wirtschaftsabschwung ausgeglichen werden können. Die Kommission nimmt jedes Jahr technische Anpassungen vor. Das hat sei106 nen Grund darin, dass die in den Rubriken angegebenen Summen an die Inflation angepasst werden müssen. Anpassungen erfolgen durch Neufestsetzung der Obergrenzen sowie der Gesamtbeträge der Mittel für Verpflichtungen und der Mittel für Zahlungen zu Preisen des nächsten Jahres, durch Berechnung des verfügbaren Spielraums innerhalb der festgelegten Eigenmittelobergrenze, durch Berechnung des absoluten Betrags des Spielraums für unvorhergesehene Ausgaben sowie durch Berechnungen des Gesamtspielraums für Mittel für Zahlungen und für Mittel für Verpflichtungen. Dafür wird jedes Jahr auf der Grundlage eines festen Deflators von 2% pro Jahr adaptiert. Grundsätzlich dürfen für das betreffende Haushaltsjahr keine weiteren technischen Anpassungen vorgenommen werden, weder im Laufe des Haushaltsjahres noch als nachträgliche Berichtigung im Laufe der folgenden Haushaltsjahre.184 Bestimmte Finanzzuweisungen sind in regelmäßigen Abständen zu überprüfen 107 und anzupassen: Um der besonders schwierigen Lage von Mitgliedstaaten, die von der Krise betroffen sind, Rechnung zu tragen, hatte die Kommission 2016 zusammen mit der technischen Anpassung für das Jahr 2017 die Gesamtzuweisungen aller Mitgliedstaaten im Rahmen des Ziels „Investitionen in Wachstum und Beschäftigung“ der Kohäsionspolitik für den Zeitraum 2017 bis 2020 zu überprüfen.185 Außerdem hat eine Anpassung im Zusammenhang mit Maßnahmen zur Schaffung einer Verbindung zwischen der Wirksamkeit von Fonds (Europäischer Fonds für regionale Entwicklung, Europäischer Sozialfonds, Kohäsionsfonds, Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums sowie Europäischer Meeresund Fischereifonds) und der ordnungsgemäßen wirtschaftlichen Steuerung zu er-

_____ 183 VO 2015/623, ABl 2015 L 103/1. 184 Art 6 VO 1311/2013, ABl 2013 L 347/884. 185 Art 7 VO 1311/2013, ABl 2013 L 347/884. Stefan Storr

IV. Der mehrjährige Finanzrahmen | 707

folgen.186 Es besteht eine grundsätzliche Möglichkeit der Mittelumschichtung zwischen den unter eine Rubrik fallenden Programmen, wenn die Inanspruchnahme von Mitteln aus einem Programm hinter den Erwartungen zurückbleibt. Es sollte angestrebt werden, dass ein erheblicher Teil der Mittel zur Finanzierung der geplanten neuen Ausgaben unterhalb der Obergrenze der betreffenden Rubrik bereitgestellt wird.187 Abgesehen von diesen Anpassungen und Umschichtungen kann es erforderlich 108 sein, den Finanzrahmen aufgrund unvorhergesehener Situationen ändern zu müssen. Dafür hat die Union Reserven gebildet. Vier Maßnahmen sind zu nennen. Erstens die besonderen Reserven für Soforthilfen: Im Fall von Ereignissen, die bei der Aufstellung des Haushaltsplans nicht vorhersehbar waren, sollen daraus rasch und für einen punktuellen Bedarf Mittel bereitgestellt werden, um Hilfeleistungen für Drittländer zu finanzieren. Diese Mittel sind vorrangig für humanitäre Zwecke, ggf aber auch für Maßnahmen des zivilen Krisenmanagements, des Katastrophenschutzes und für besondere Belastungssituationen bestimmt, die durch den Zustrom von Migranten an den Außengrenzen der Union entstehen. Dafür wird jährlich ein Betrag von 300 Mio Euro zur Verfügung gestellt.188 Zweitens der Solidaritätsfonds der Europäischen Union: Mit ihm soll im Fall von schweren Katastrophen im Gebiet eines Mitgliedstaats oder eines Bewerberlandes eine rasche Finanzhilfe ermöglicht werden. Dafür besteht eine jährliche Obergrenze von 500 Mio Euro.189 Über – drittens – das sog Flexibilitätsinstrument können in einem gegebenen Haushaltsjahr und im Rahmen der festgelegten Beträge genau bestimmte Ausgaben finanziert werden, die innerhalb der Obergrenze einer oder mehrerer Rubriken nicht getätigt werden können. Die jährliche Obergrenze ist auf 600 Mio Euro festgesetzt, wird aber jährlich erhöht.190 Schließlich – viertens – soll der Europäische Fonds für die Anpassung an die Globalisierung Arbeitnehmer, die infolge der Entwicklungen des Welthandels vom Strukturwandel betroffen sind, bei ihren Bemühungen um Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt unterstützen. Die jährliche Mittelausstattung des Fonds darf 150 Mio Euro nicht überschreiten.191 Darüber hinaus werden besondere Rücklagen durch Spielräume eingerichtet. Damit auf unvorhersehbare Umstände reagiert werden kann, ist als letztes Mittel ein die Obergrenzen des mehrjährigen Finanzrahmens überschreitender Spielraum für unvorhergesehene Ausgaben von bis zu 0,03% des Bruttonationaleinkommens der Union vorgesehen. Ferner gibt es besondere Spielräume für Mittel für Verpflichtungen für Wachstum und Beschäf-

_____ 186 187 188 189 190 191

Art 8 VO 1311/2013, ABl 2013 L 347/884. Art 17 VO 1311/2013, ABl 2013 L 347/884 und 18 ff für weitere Revisionsmöglichkeiten. Art 9 VO 1311/2013, ABl 2013 L 347/884. Art 10 VO 1311/2013, ABl 2013 L 347/884. Art 11 VO 1311/2013, ABl 2013 L 347/884. Art 12 VO 1311/2013, ABl 2013 L 347/884.

Stefan Storr

708 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

tigung (insbesondere Jugendbeschäftigung), eine spezielle Flexibilität zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und zur Stärkung der Forschung sowie ein Beitrag zur Finanzierung von Großprojekten.192 Als letztes Mittel kann der mehrjährige Finanzrahmen einer Revision entzogen werden, wenn „unvorhergesehene Umstände“ vorliegen. Davor allerdings muss die Möglichkeit einer Mittelumschichtung geprüft werden.

2. Die Rechtsnatur des mehrjährigen Finanzrahmens 109 Der mehrjährige Finanzrahmen war ursprünglich als eine interinstitutionelle

Vereinbarung konzipiert. Diese Rechtsform war in den Verträgen zunächst nicht vorgesehen und ist erst mit dem Lissabonner Vertrag in Art 295 AEUV eingeführt worden; gleichwohl wurde schon der mehrjährige Finanzrahmen 2007–2013 als eine interinstitutionelle Vereinbarung abgeschlossen. Die interinstitutionelle Vereinbarung ist eine vertragliche Vereinbarung zwischen Kommission, Parlament und Rat. Frühere interinstitutionelle Vereinbarungen sind als politische Kompromisse ohne rechtliche Verbindlichkeit, allenfalls als gentlemen’s agreements, qualifiziert worden. Es ist aber auch vertreten worden, dass es sich um Maßnahmen eines sog organübergreifenden Selbstorganisationsrechts handeln soll. Die Widersprüchlichkeit, die schon im Begriff angelegt ist, zeigt die Schwierigkeit dogmatischer Ableitung. Denn obgleich Parlament und Rat erst in ihrem Zusammenwirken „die Haushaltsbehörde“ sind, bleiben sie zwei verschiedene Organe. Eine Koordination von Parlament und Rat im Haushaltsverfahren darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um keine organinternen Angelegenheiten handelte. Ohnehin war ja auch die Kommission am Entstehen dieses Rechtsakts beteiligt. Wichtig ist es zu erkennen, dass das Haushaltsverfahren auf einem „Dialog der 110 Organe“ beruht193 und damit ein wesentliches Instrument zur Gestaltung des institutionellen Gleichgewichts der Organe ist. Die Kommission definiert die interinstitutionelle Vereinbarung als einen „Rechtsakt, der auf eine pragmatische Gestaltung der Zusammenarbeit zwischen zwei oder mehreren Organen in deren jeweiligen Kompetenzbereichen abstellt“. Derartige Vereinbarungen sollen als Verfahrensinstrument herangezogen werden, um die wechselseitigen Verpflichtungen der betreffenden Organe im Sinne einer loyalen Zusammenarbeit und eines gegenseitigen Vertrauens festzuschreiben.194 Indes wird eine allein aus dem AEUV abzuleitende abstrakte Kooperationspflicht der Komplexität des Zusammenwirkens und der Offenheit des Vertrages nicht gerecht; vielmehr bedarf es eines interorganschaftlichen Verhaltenskodex, gleichsam einer „Gemeinsamen Geschäftsordnung“. Letzt-

_____ 192 Art 13 bis 16 VO 1311/2013, ABl 2013 L 347/884. 193 EuGH, Rs 204/86 – Griechenland / Rat, Rn 16. 194 KOM(2003) 154, Fn 14. Stefan Storr

IV. Der mehrjährige Finanzrahmen | 709

lich muss die Grundlage einer Interinstitutionellen Vereinbarung im Grundsatz der Haushaltsdisziplin gesucht werden. Indem der Union versagt ist, Rechtsakte zu erlassen, die erhebliche Auswirkungen auf den Haushaltsplan haben können, ohne die Gewähr zu bieten, dass die mit diesen Rechtsakten verbundenen Ausgaben im Rahmen der Eigenmittel der Union und unter Einhaltung des mehrjährigen Finanzrahmens finanziert werden können (Art 310 IV AEUV), wird auf den interorganschaftlichen Dialog im Haushaltsverfahren verwiesen. Denn Haushaltsdisziplin meint die Einhaltung von primär- und sekundärrechtlichen Verfahrensregeln, die von den Unionsorganen erlassen wurden, um Entscheidungen über die Ausgaben im Haushaltsverfahren im Voraus zu begrenzen. Die Haushaltsdisziplin beruht also darauf, dass es für die Erfüllung von Aufgaben der Union Obergrenzen für Eigenmittel gibt und dass das Haushaltsverfahren eine Angelegenheit von Kommission, aber va von Rat und Parlament ist, deren Kompetenzen in den Verträgen nicht eindeutig geregelt sind, deren Entscheidungen aber von langfristiger Bedeutung sein können und deshalb einer koordinierten, auf mehrere Jahre ausgerichteten Planung bedürfen. Das Instrument zur Ausgestaltung der Haushaltsdisziplin war die interinstitutionelle Vereinbarung. Mit dem Lissabonner Vertrag wurde die Rechtsform für künftige mehrjährige 111 Finanzrahmen nun ausgewechselt. Seit 2013 wird der mehrjährige Finanzrahmen durch eine Verordnung erlassen (Art 312 II AEUV), die der Rat gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren beschließt. Der Rat beschließt einstimmig. Der Europäische Rat kann aber ebenso einstimmig einen Beschluss fassen, wonach der Rat auch mit qualifizierter Mehrheit beschließen kann (sog Passerelle-Klausel). Die Verordnung bedarf außerdem einer Zustimmung des Europäischen Parlaments, die mit der Mehrheit seiner Mitglieder erteilt wird. Die Auswechselung der Rechtsform hat erhebliche Bedeutung, va wegen der 112 Notwendigkeit der Durchführung eines besonderen Gesetzgebungsverfahrens. Dadurch sind Rat, Parlament und Kommission nicht mehr gleichberechtigt. Zum einen kommt der Kommission nunmehr kein Zustimmungsrecht zu. Zum anderen kann eine Verordnung nicht durch ein Organ einseitig aufgekündigt werden – anders als die interinstitutionelle Vereinbarung. Damit wird der mehrjährige Finanzrahmen im Ergebnis „verbindlicher“. Die Festlegung des mehrjährigen Finanzrahmens ist bisher politisch sehr um- 113 stritten gewesen. Vorausschauend hat der Vertragsgesetzgeber deshalb eine Vorschrift für den Fall erlassen, dass eine Einigung über einen mehrjährigen Finanzrahmen nicht rechtzeitig erzielt werden kann. Zwar sind das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission vertraglich verpflichtet, während des gesamten Verfahrens zur Annahme des Finanzrahmens alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, „um den Erlass des Rechtsakts zu erleichtern“ (Art 312 V AEUV), kommt aber keine Einigung zustande, hat der Rat also bis zum Ablauf des vorangegangenen Finanzrahmens keine Verordnung zur Aufstellung eines neuen Finanzrahmens erlassen, dann sollen die Obergrenzen und sonstigen Bestimmungen des letzten Stefan Storr

710 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

Jahres des vorangegangenen Finanzrahmens bis zum Erlass dieses Rechtsakts fortgeschrieben werden (Art 312 IV AEUV). V. Haushaltsrecht und Haushaltsplan V. Haushaltsrecht und Haushaltsplan 1. Der Haushaltsplan 114 In der Haushaltsordnung 2018 wird der Haushaltsplan plakativ beschrieben als der

Rechtsakt, durch den „für jedes Haushaltsjahr… sämtliche als erforderlich erachteten Einnahmen und Ausgaben der Union veranschlagt und bewilligt“ werden“.195 Im Unionsrecht werden verschiedene Bezeichnungen verwendet, außer „Haushaltsplan“ auch „jährlicher Haushaltsplan“,196 „Jahreshaushaltsplan der Europäischen Union“197 oder „Gesamthaushaltsplan“198. Der Haushaltsplan ist weder eine Richtlinie noch eine Verordnung oder eine sonstige in Art 288 AEUV genannte Handlungsform. Insbesondere eine Verordnung scheidet aus, weil ein Dritter durch den Haushaltsplan nicht unmittelbar „betroffen“ sein kann.199 Dennoch hat der EuGH auch ausgeführt, dass ein Haushaltsplan Rechtswirkungen gegenüber Dritten entfalten kann.200 Dem kann nicht zugestimmt werden. Richtigerweise kann ein Haushaltsplan allenfalls gegenüber anderen Organen Wirkung entfalten. Der Haushaltsplan gilt als ein Rechtsakt sui generis.201 In den Gründungsverträgen war für jede der drei Gemeinschaften (EWG, Eura115 tom und Montanunion) je ein eigener Haushalt vorgesehen: ein Haushaltsplan der EWG,202 ein Verwaltungshaushalt und ein Forschungs- und Investitionshaushalt für Euratom203 sowie ein Verwaltungshaushaltsplan für die Montanunion.204 Eine Zusammenführung erfolgte durch den Fusionsvertrag 1965. Seit 1970 sind alle Haushaltspläne der Gemeinschaften in einem Gesamthaushaltsplan zusammengefasst, ausgenommen war lediglich der Funktionshaushaltsplan der EGKS. Der Haushaltsplan 2019, der im Amtsblatt 2019 L 67 veröffentlicht ist, umfasst über 2300 Seiten. Der Haushaltsplan hat vier Funktionen: Erstens sollen die für die vorgesehenen 116 Ausgaben erforderlichen Finanzmittel bereitgestellt werden. Zweitens ist die Mit-

_____ 195 Art 7 I S 1 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 196 Art 310 I UAbs 2 AEUV. 197 Dritter Teil, Titel II, Überschrift Kapitel 3 AEUV. 198 Überschrift VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 199 EuGH, Rs 216/83 – Les Verts / Kommission und Rat, Rn 8. 200 EuGH, Rs 34/86 – Rat / Parlament, Rn 6. 201 Bux ZfRV 2013, 54; Streinz/Niedobitek Art 314 AEUV Rn 41; als Verordnung: Calliess/Ruffert/ Waldhoff, Art 310 AEUV Rn 17. 202 Ex-Art 199 EWGV. 203 Art 171 EAGV. 204 Ex-Art 78 EGKSV. Stefan Storr

V. Haushaltsrecht und Haushaltsplan | 711

telverwendungsermächtigung auf bestimmte Aufgaben bezogen, der Haushalt ist sozusagen das politische Programm der Union in Zahlen. Drittens ermöglicht erst eine konkrete Mittelbereitstellung eine Kontrolle der Kommission und der anderen Organe bei der Verwendung der Mittel. Der Haushaltsplan ist ein Versprechen, bestimmte Aufgaben wahrzunehmen und Ausgaben zu tätigen. Ob dieses Versprechen eingehalten wurde, kann nur kontrolliert werden, wenn die Vorgaben spezifiziert sind. Und viertens hat der Haushaltsplan eine wirtschaftspolitische bzw konjunkturpolitische Funktion. Richtig ist zwar, dass vom Unionshaushalt wegen seines vergleichsweise geringen Finanzvolumens nur in sehr begrenztem Maße wirtschaftliche oder konjunkturelle Impulse ausgehen können;205 in einigen Sektoren aber, wie im Infrastrukturausbau, der Regionalförderung oder dem Agrarsektor, kommt ihm erhebliche Bedeutung zu.

2. Die Haushaltsordnung Durch die Haushaltsordnung soll die Aufstellung und Ausführung des Gesamthaushaltsplans der Union angeleitet werden. Außerdem soll eine wirtschaftliche und effektive Haushaltsführung, eine Kontrolle, der Schutz der finanziellen Interessen der Union und eine hinreichende Transparenz gewährleistet werden. Die Aufstellung der Haushaltsordnung ist in Art 322 AEUV geregelt. Danach ist es Aufgabe der Haushaltsbehörde, also von Rat und Parlament, die Haushaltsordnung zu erlassen. Dieser Prozess erfolgt im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art 289 AEUV), dh die Kommission legt dem Rat und dem Parlament zunächst einen Vorschlag vor, der von Rat und Parlament im Verfahren des Art 294 AEUV verabschiedet wird. Der Rechnungshof wird angehört. Die Haushaltsordnung ergeht als Verordnung. Art 322 AEUV gibt auch vor, was Gegenstand der Haushaltsordnung sein soll. Insbesondere sind die Aufstellung und die Ausführung des Haushaltsplans zu regeln. Das betrifft das Aufstellungsverfahren, außerdem die Haushaltsgrundsätze. Ferner sind Rechnungslegung und Rechnungsprüfung im Einzelnen zu regeln und die Kontrolle der Verantwortung der Finanzakteure (Anweisungsbefugte und Rechnungsführer). Art 317 II AEUV bestimmt hierzu näher, dass in der Haushaltsordnung die Kontroll- und Wirtschaftsprüfungspflichten der Mitgliedstaaten bei der Ausführung des Haushaltsplans sowie die damit verbundenen Verantwortlichkeiten zu regeln sind. Ferner sind die Verantwortlichkeiten und die besonderen Einzelheiten zu regeln, nach denen jedes Organ an der Vornahme seiner Ausgaben beteiligt ist. Der AEUV verlangt nicht, dass die haushaltsrelevanten Bestimmungen in einem Rechtsakt, der Haushaltsordnung, zusammengefasst sein müssen. Er verlangt aber, dass es eine Haushaltsordnung geben muss, lässt im Übrigen aber „Verordnun-

_____ 205 Calliess/Ruffert/Waldhoff Art 310 AEUV Rn 10. Stefan Storr

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712 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

gen“ und „Haushaltsvorschriften“ zu. Tatsächlich sind die relevanten Bestimmungen in einem Rechtsakt, der Haushaltsordnung, enthalten. Die derzeit geltende Haushaltsordnung ist die VO 2018/1046.206 Die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan gilt für die gesamte Europäische Union und die Europäische Atomgemeinschaft; keine Anwendung findet sie auf die EZB.

3. Durchführungsvorschriften zu den Eigenmitteln 121 Nicht in der Haushaltsordnung zu regeln sind die sog Durchführungsvorschriften für die Bereitstellung von Eigenmitteln und Kassenmitteln. Dafür bestimmt Art 322 II AEUV lediglich, dass der Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Rechnungshofs die erforderlichen Bestimmungen festlegt. Daraus folgt, dass diese Bestimmungen keine Gesetzgebungsakte iSv Art 289 III AEUV sein sollen. Gegenwärtig sind drei Rechtsakte für die Durchführung der Erhebung von Eigenmitteln von Bedeutung: – die Verordnung 609/2014 zur Festlegung der Methoden und Verfahren für die Bereitstellung der traditionellen, der MwSt- und der BNE-Eigenmittel sowie der Maßnahmen zur Bereitstellung der erforderlichen Kassenmittel,207 – die Verordnung 608/2014 zur Festlegung von Durchführungsbestimmungen für das Eigenmittelsystem der Europäischen Union208 und – die Verordnung 1553/89 über die endgültige einheitliche Regelung für die Erhebung der Mehrwertsteuereigenmittel.209

4. Haushaltsgrundsätze 122 Die Haushaltsgrundätze sind im AEUV und in der Haushaltsordnung der Europäi-

schen Union210 geregelt. Im Einzelnen handelt es sich um die Grundsätze der Einheit des Haushalts, der Haushaltswahrheit, der Jährlichkeit, des Haushaltsausgleichs, der Rechnungseinheit, der Gesamtdeckung, der Spezialität, der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung, der Transparenz und der Vorherigkeit.

a) Der Grundsatz der Einheit des Unionshaushalts 123 Der Grundsatz der Einheit des Unionshaushalts ist in Art 310 AEUV niedergelegt:

Alle Einnahmen und Ausgaben der Union werden für jedes Haushaltsjahr ver-

_____ 206 207 208 209 210

Verordnung 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. VO 609/2014, ABl 2014 L 168/39. VO 608/2014, ABl 2014 L 168/29. VO 1553/89, ABl 1989 L 155/9. VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. Stefan Storr

V. Haushaltsrecht und Haushaltsplan | 713

anschlagt und in den Haushaltsplan eingesetzt. Der Zweck dieses Haushaltsgrundsatzes liegt darin, die Übersichtlichkeit des Haushaltsplans über die Finanztransaktionen zu gewährleisten.211 Der Grundsatz hat zwei Zielrichtungen: Erstens soll es grundsätzlich nur einen Haushalt (Gesamthaushalt der EU) geben. Wie ausgeführt, gab es in den Gründungsjahren der Union (bzw Gemeinschaften) für jede Gemeinschaft noch einen eigenen Haushaltsplan.212 Schon prinzipiell widerspricht es einem Gesamthaushalt, wenn Nebenhaushalte zugelassen sind. Art 310 AEUV verlangt auch ausdrücklich, dass „alle“ Einnahmen und Ausgaben in einen Haushaltsplan eingestellt werden sollen. Das schließt die Haushalte von Agenturen und anderen ausgelagerten Einrichtungen grds ein (str).213 Zweitens wird durch den Grundsatz der Einheit des Unionshaushalts deutlich, welche Einnahmen und Ausgaben von den Haushaltsorganen bewilligt sind. Das sind die im Haushaltsplan bestimmten. Dafür sollen möglichst alle Einnahmen und Ausgaben im Haushaltsplan erscheinen, auch die Verwaltungsausgaben, die aus der Anwendung der Bestimmungen des EUV im Bereich der GASP (vgl Art 28 und 41 EUV) entstehen und die operativen Ausgaben, die aus der Anwendung der genannten Bestimmungen entstehen, wenn sie dem Haushalt angelastet werden, sowie die Einnahmen und Ausgaben der Europäischen Atomgemeinschaft (vgl Art 106a I EAGV).214 Der Grundsatz der Haushaltseinheit gilt aber nicht ausnahmslos: Der Haushaltsplan erfüllt keine Genehmigungsfunktion für Anleihe- und Darlehensoperationen der Union.215 Allerdings müssen Anleihe- und Darlehensoperationen der Union in den Haushalt aus Transparenzgründen eingestellt werden. Sog Berichtigungshaushalte sind zwar formell mit dem Gesamthaushalt verbunden, widersprechen dem Prinzip der Einheit des Haushalts aber deshalb nicht, weil sie nur bei besonderen, unvorhergesehenen Situationen aufgestellt werden.216 Auch die Fonds sind Gegenstand des Haushaltsplans, also insbesondere der Europäische Sozialfonds (ESF), der Europäische Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL), der Europäische Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER), der Europäische Meeres- und Fischereifonds, der Europäische Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE), nicht aber der Europäische Entwicklungsfonds (EEF). Der EEF ist ein wichtiges Förderinstrument der Union für die Entwicklungszusammenarbeit mit den sog AKP-Staaten (bestimmte Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks) und überseeischen Ländern und Gebieten

_____ 211 212 213 214 215 216

Streinz/Niedobitek Art 310 AEUV Rn 17. European Union, Public Finance, 5th ed. 2014, p. 148. Vgl a Rn 128. Art 7 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. S Rn 89. Streinz/Niedobitek Art 310 AEUV Rn 18.

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714 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

der EU. Der EEF wird direkt mit Beiträgen der Mitgliedstaaten nach einem eigenen Beitragsschlüssel finanziert217 und ist deshalb nicht in den Gesamthaushaltsplan integriert. Diese Externalisierung des EEF wird in der Literatur zu Recht kritisiert und wegen der Verletzung des Grundsatzes der Einheit und Vollständigkeit des Haushalts und mangels parlamentarischer Kontrolle für unzulässig gehalten.218 Der EuGH sieht hier jedoch keine Verletzung von Unionsrecht,219 weil der EEF letztlich ein Fonds der Mitgliedstaaten ist, auch wenn er einen „sehr engen Zusammenhang mit den Gemeinschaftshandlungen“ aufweist. Der Haushalt der Europäischen Zentralbank (EZB)220 und der Haushalt der 128 Europäischen Investitionsbank (EIB) werden ebenfalls nicht im Gesamthaushaltsplan angeführt.221 Haushalte der Agenturen, auch wenn sie rechtsfähig sind, sind aber angeführt und zwar im Einzelplan der Kommission, wenn sie Zuschüsse aus dem Unionshaushalt erhalten. Umstritten ist, ob auch Mittel der Mitgliedstaaten in den Haushaltsplan ein129 gesetzt werden können. Der EuGH nimmt das an, wenn diese Mittel als Beiträge der Mitgliedstaaten außerhalb des EU-Rahmens zu qualifizieren sind (zB Beiträge für eine gemeinsame Aktion im Rahmen der GASP), also keine Verpflichtungen der Union begründen.222 Das aber fördert nicht die Übersichtlichkeit über die Einnahmen und Ausgaben der Union.

b) Der Grundsatz der Haushaltswahrheit 130 Der Grundsatz der Haushaltswahrheit hat drei Zielrichtungen:223

– – –

Einnahmen können nicht angenommen und Ausgaben nicht getätigt werden, wenn sie in einer Haushaltslinie nicht veranschlagt sind.224 Ausgaben können nur im Rahmen der bewilligten Mittel gebunden und angeordnet werden. In den Haushaltsplan können nur Mittel eingesetzt werden, die einer als erforderlich erachteten Ausgabe entsprechen.

131 Grundsätzlich müssen auch Zinsen in den Haushaltsplan eingestellt werden. Eine

Ausnahme gibt es für Zinserträge aus Vorfinanzierungen, die aus dem Haushalts-

_____ 217 Vgl grundlegend Beschluss 91/491, ABl 1991 L 266/1. 218 Schwarze/Schoo Art 310 AEUV Rn 13; dahingehend Oppermann/Classen/Nettesheim S 97. 219 EuGH, Rs C-316/91 – Parlament / Rat, Rn 40. 220 Vgl Art 26 EZB-Satzung für einen eigenen Jahresabschluss. 221 Art 7 III lit f EIB-Satzung. 222 EuGH, Rs C-181/91 – Parlament / Rat und Kommission, Rn 26 f. 223 Vgl Art 8 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 224 Zu Beträgen aus Geldbußen, anderen Strafen und Sanktionen, wenn die entsprechenden Beschlüsse noch vor dem EuGH bekämpft werden: Art 108 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. Stefan Storr

V. Haushaltsrecht und Haushaltsplan | 715

plan der Union gezahlt wurden. In den Beitrags- und Finanzierungsvereinbarungen kann aber auch etwas anderes vorgesehen werden.225

c) Der Grundsatz der Jährlichkeit Der Haushaltsplan gilt für ein Jahr, dh dass die im Haushaltsplan ausgewiesenen Mittel nur für dieses Jahr bewilligt sind.226 Erst durch die begrenzte Geltung des Haushalts kann dieser effektiv kontrolliert werden, weil zum Ende des Haushaltsjahres festgestellt werden kann, ob die betreffenden Einnahmen erzielt und die Ausgaben zweckgewidmet getätigt wurden. Das Haushaltsjahr beginnt am 1. Januar und endet am 31. Dezember.227 Der Grundsatz der Jährlichkeit wird durch den mehrjährigen Finanzrahmen relativiert, der für einen längerfristigen Zeitraum Mittelbindungen vorgibt. Der mehrjährige Finanzrahmen ist aber abstrakter und sieht nur Mittelbindungen nach einigen wenigen Rubriken vor, weshalb der Grundsatz der Jährlichkeit seine Bedeutung für den Jahreshaushaltsplan nicht verliert. Von grundlegender Bedeutung für das Jährlichkeitsprinzip ist die Trennung der Haushaltsmittel in Mittel für Verpflichtungen und Mittel für Zahlungen sowie sog nichtgetrennte Mittel. Mittel für Verpflichtungen decken die Gesamtkosten der rechtlichen Verpflichtungen, die im Laufe eines Haushaltsjahres eingegangen wurden, ab.228 Mittel für Zahlungen dagegen decken die Ausgaben zur Erfüllung der im Laufe des Haushaltsjahres oder in früheren Haushaltsjahren eingegangenen rechtlichen Verpflichtungen ab.229 Mittel für Verpflichtungen und Mittel für Zahlungen sind getrennte Mittel, die übrigen Mittel sind nichtgetrennte Mittel, wie zB EGFLMittel und Verwaltungsmittel. Mittel für Verpflichtungen werden im Haushaltsplan zwar nur für ein Haushaltsjahr bewilligt, doch dürfen sich die Zahlungen aus diesen Verpflichtungen über mehrere Haushaltsjahre erstrecken. Darin liegt auch der Zweck dieser Unterscheidung: Programme zu ermöglichen, die sich über einen längeren Zeitraum als ein Jahr erstrecken. Die Mittel für Zahlungen hingegen werden jährlich neu bewilligt. Dadurch kommt es zu einer sog doppelten jährlichen Bewilligung.230 Diese Unterscheidung in Mittel für Verpflichtungen und Mittel für Zahlungen beruht darauf,

_____ 225 Näher Art 8 IV VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 226 Zur Jährlichkeit vgl auch Art 310 I, 312 I, 314 I, 315, 316 I, 318 I AEUV. 227 Art 313 AEUV und Art 9 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 228 Art 7 III VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1; eine Ausnahme gibt es für Maßnahmen im Außenbereich, für die auf der Grundlage der globalen Mittelbindungen eine Finanzierungsvereinbarung mit einem Drittland getroffen wurde: vgl Art 114 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 229 Art 7 IV VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 230 European Union, Public Finance, 5th ed. 2014, p. 153 f. Stefan Storr

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716 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

dass zum Zeitpunkt der Eingehung einer Verpflichtung nicht immer auch Zahlungen erfolgen, sondern möglicherweise erst später. Die Differenz der Mittel für Zahlungen von den Mitteln für Verpflichtungen gibt den Betrag der Mittel an, die zwar durch die Zweckwidmung im Haushaltsplan bereits gebunden, aber noch nicht ausbezahlt sind. Mittel für Zahlungen und Mittel für Verpflichtungen können sich auch deshalb nicht decken, weil es zB zu Verzögerungen bei der Auszahlung gekommen ist, die ihren Grund darin haben können, dass bestimmte Verfahrensvoraussetzungen noch nicht erfüllt sind. Dieser Differenzbetrag zwischen Mitteln für Zahlungen und Mitteln für Verpflichtungen ist in den vergangenen Jahren besorgniserregend gewachsen. Denn die Differenzbeträge sind Forderungen gegen die Union und begrenzen künftige Mittel für Zahlungen. Problematisch ist die Differenz dann, wenn die eingegangenen Verpflichtungen am Ende der Periode eines mehrjährigen Finanzierungsrahmens nicht mehr durch Mittel für Zahlungen gedeckt werden können. Denn das heißt, dass politische Ankündigungen nicht erfüllt wurden. Die Union muss daher bestrebt sein, diese Differenzbeträge nicht übermäßig anwachsen zu lassen. Mittel, die am Ende des Haushaltsjahres, für das sie in den Haushaltsplan ein136 gestellt wurden, nicht in Anspruch genommen worden sind, verfallen.231 Allerdings sieht die Haushaltsordnung (vgl Art 316 I AEUV) eine Reihe von detaillierten Sonderbestimmungen vor, zB Möglichkeiten einer Übertragung auf das nächste Haushaltsjahr (etwa für Verpflichtungsermächtigungen bei Immobilienprojekten).232 Bestimmte Haushaltsmittel werden automatisch übertragen.233 Ferner besteht die Möglichkeit, verfallene Mittel wieder verwenden zu können, zB weil eine Mittelbindung durch die Kommission fehlerhaft aufgehoben wurde oder weil ein Forschungsprojekt nicht oder nur teilweise umgesetzt wurde.234 Eine zeitliche Verschiebung hat zur Folge, dass sich Mittel für Zahlungen über mehrere Jahre erstrecken können.235 Eine Ausnahme vom Grundsatz der Jährlichkeit ist der Nothaushalt (Art 315 137 AEUV),236 wenn das Haushaltsverfahren nicht ordnungsgemäß abgeschlossen werden konnte. Dieser ist erforderlich, um die Funktionsfähigkeit der EU zu gewährleisten.

_____ 231 Art 12 I VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 232 Art 12 II VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 233 Art 12 IV VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 234 Vgl Art 15 VO 2018/1064, ABl 2018 L 193/1. 235 Ein Grund für diese zeitliche Indifferenz von Mittel für Verpflichtungen und Mittel für Zahlungen können administrative Verzögerungen beim Abschluss und bei der Auszahlung der Mittel sein. In der Vergangenheit soll ein erheblicher Restbetrag (von mehreren 100 Mio Euro) aufgelaufen sein: Bux ZfRV 2013, 54 (58). 236 S Rn 154. Stefan Storr

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d) Der Grundsatz des Haushaltsausgleichs Einnahmen und Mittel für Zahlungen sind auszugleichen,237 maW Einnahmen und 138 Ausgaben müssen sich decken. Die Ausgaben müssen durch die Einnahmen vollständig finanziert werden können. Daraus folgt insbesondere, dass die Union nicht befugt ist, im Rahmen des Haushalts Kredite aufzunehmen.238 Kommt es dennoch zu einem Saldo zwischen Einnahmen und Ausgaben am 139 Ende des Haushaltsjahres (Überschuss oder Fehlbetrag), ist dieser in den Haushaltsplan des folgenden Haushaltsjahres einzustellen. Abweichungen können dadurch entstehen, dass die rechnerischen Einsetzungen des Haushaltsplans tatsächlich nicht vollzogen werden. Es können zB mehr oder weniger Einnahmen als geplant erzielt werden oder die Ausgaben können unterschritten werden (Überschreitungen der Ausgaben sind nicht möglich, weil der Haushaltsplan eine Obergrenze vorgibt). Die Haushaltsordnung sieht daher vor, dass im Laufe des Haushaltsverfahrens Korrekturen vorzunehmen und die geschätzten Einnahmen und Mittel für Zahlungen ggf im Wege eines Berichtigungsschreibens in den Haushaltsplan einzustellen sind. In den folgenden Haushaltsplan ist dann die Differenz zwischen der Schätzung und dem vorläufigen Abschluss einzustellen. Dafür sind entsprechende p.m.-Vermerke (pro memoria) zu setzen, die nur informativen Charakter haben. Eine Besonderheit ist die Negativreserve: Damit sollen neue Ausgaben im Vor- 140 griff auf Einsparungen finanziert werden, die im Laufe des Haushaltsjahres noch erzielt werden sollen. Im Haushaltsplan wird ein negativer Betrag eingesetzt, der im Laufe des Haushaltsjahres durch Übertragungen aus Kapiteln mit überschüssiger Mittelausstattung erwirtschaftet werden muss. Die Negativreserve gilt für den Einzelplan der Kommission und kann bis zu einer Höchstgrenze von 200 Mio Euro vorgesehen werden. Diese Reserve, die bei einem besonderen Titel ausgewiesen wird, betrifft nur Mittel für Zahlungen. Dabei muss zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Haushaltsplans noch gar nicht feststehen, bei welcher Haushaltslinie diese Einsparungen realisiert werden sollen. Mit der Negativreserve wird also bereits ein defizitäres Budget verabschiedet und die Haushaltsexekutive soll gezwungen werden, künftig Einsparungen vorzunehmen, indem sie Haushaltslinien später überprüft und Mittelumschichtungen vornimmt. Rat und Parlament haben dieses Instrument geschaffen, um rechtzeitig einen Haushalt aufstellen zu können, ohne sich über Einsparmaßnahmen bereits im Vorfeld einig sein zu müssen.239 Obwohl die Negativreserve in Art 50 VO 2018/1046 geregelt ist und ein Haushaltsausgleich später hergestellt werden soll, widerspricht sie eklatant den Grundsätzen der Haushaltswahr-

_____ 237 Art 310 I UAbs 3 AEUV, Art 17 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 238 Ausdrücklich Art 17 II VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 239 Storr EuR 2001, 846 (849). Stefan Storr

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heit sowie der Vollständigkeit und der Vorherigkeit des Haushalts.240 Im Schrifttum ist deshalb zu Recht von „Haushaltsperversion“241 die Rede.

e) Der Grundsatz der Rechnungseinheit 141 Der Haushaltsplan wird in Euro aufgestellt (Art 320 AEUV).242 Das gilt auch für die

Aufstellung des mehrjährigen Finanzrahmens und den Haushaltsvollzug sowie für die Rechnungslegung. Nur für die Kassenführung dürfen der Rechnungsführer, der Zahlstellenverwalter und unter bestimmten Voraussetzungen der zuständige Anweisungsbefugte der Kommission Transaktionen in anderen Währungen vornehmen. Im Übrigen darf die Kommission nach Art 321 AEUV ihre Guthaben in der Währung eines der Mitgliedstaaten in die Währung eines anderen Mitgliedstaats transferieren. Sie darf also in den Landeswährungen der Mitgliedstaaten, die nicht der Euro-Zone angehören, Konten führen.243 Wenn die Kommission Guthaben in einer Landeswährung bucht und finanzielle Operationen in dieser Währung durchzuführen hat, soll sie grundsätzlich diese Konten verwenden. Damit soll möglichen negativen Effekten auf Devisenmärkten entgegengewirkt werden.244

f) Der Grundsatz der Gesamtdeckung 142 Der Grundsatz der Gesamtdeckung hat zwei Komponenten: Erstens dürfen Einnahmen und Ausgaben nicht gegenverrechnet werden (Verbot der Verrechnung). Einnahmen und Ausgaben sind also nach dem Bruttoprinzip auszuweisen,245 Saldierungen sind unzulässig. Damit soll Klarheit über den tatsächlichen Umfang von Einnahmen und Ausgaben hergestellt werden. Zweitens dürfen Haushaltseinnahmen nicht gebunden sein (Nonaffektation). 143 Art 20 S 1 VO 2018/1046 legt fest, dass grundsätzlich alle Einnahmen der Deckung der gesamten Mittel für Zahlungen dienen. Damit soll verhindert werden, dass bestimmte Einnahmen von vornherein nur für bestimmte Ausgaben reserviert sind. Ein übergreifender Haushaltsausgleich wird erst durch das Nonaffektationsprinzip möglich. Andernfalls wäre die Vollziehung des Haushalts erheblich erschwert, letztlich kaum durchführbar. Es gibt aber auch hier Ausnahmen: Bestimmte Einnahmen

_____ 240 S Rn 153. 241 Timmann EuR 1989, 13 (16) Fn 11. 242 Zur Entwicklung: Nicolaysen EuR I S 266: bis 1977 Goldparität, dann nach einem Berechnungskorb. 243 Das betrifft Bulgarien, Dänemark, Kroatien, Polen, Rumänien, Schweden, die Tschechische Republik, Ungarn und das Vereinigte Königreich. 244 Streinz/Niedobitek Art 321 AEUV Rn 2. 245 Art 20 S 2 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. Stefan Storr

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sind zweckgebunden und bestimmten Ausgaben zugewiesen. Dabei wird zwischen externen und internen zweckgebundenen Einnahmen unterschieden. Externe zweckgebundene Einnahmen sind zB Finanzbeiträge von Mitgliedstaaten zu bestimmten Programmen auf dem Gebiet der Forschung und technologischen Entwicklung und bestimmte unionsfinanzierte Maßnahmen oder Programme auf dem Gebiet der Außenhilfe, Einnahmen aus dem Forschungsfonds für Kohle und Stahl, Zinsen auf Einlagen und Geldbußen gemäß der VO 1467/97 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit oder zweckbestimmte Einnahmen aus Stiftungen, Zuschüssen, Schenkungen und Vermächtnissen, einschließlich der jedem Organ zugewiesenen eigenen Einnahmen. Interne zweckgebundene Einnahmen umfassen zB Einnahmen aus Zahlungen Dritter für Lieferungen, Dienstleistungen oder in deren Auftrag durchgeführte Arbeiten, Einnahmen aus der Rückerstattung von Beträgen, die rechtsgrundlos gezahlt wurden, Einnahmen aus Versicherungsleistungen oder Einnahmen aus Vermietungen und aus der Veräußerung von Gebäuden und Grundstücken.246

g) Der Grundsatz der Spezialität Die vorgesehenen Mittel sind im Haushaltsplan nach Kapiteln zu gliedern, in de- 144 nen Ausgaben nach Art oder Bestimmung zusammengefasst werden müssen.247 Für die Ausgaben des Parlaments, des Europäischen Rates und des Rates, der Kommission sowie des Gerichtshofs der Europäischen Union ist der Haushaltsplan gesondert zu gliedern. Das gilt nicht bei gemeinsamen Ausgaben. Der Haushaltsplan ist demnach in einen Gesamteinnahmeplan und verschiedene Einzelpläne unterteilt. Im Haushaltsplan 2019 gibt es zehn Einzelpläne: für das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und den Rat, die Kommission, den Gerichtshof der EU, den Rechnungshof, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen, den Europäischen Bürgerbeauftragten, den Europäischen Datenschutzbeauftragten und den Europäischen Auswärtigen Dienst. Die Haushaltsordnung sieht ferner eine Gliederung in Titel, Kapitel, Artikel 145 und Posten vor.248 Diese Spezialisierung der Mittel ist wichtig, weil nur so eine haushalterische Bindung der Mittel möglich ist. Ausgaben, für die keine Mittel vorgesehen sind, dürfen nicht getätigt werden. Die im Haushaltsplan für eine bestimmte Aufgabe vorgesehene Mittelhöhe darf nicht überschritten werden. Allerdings können Haushaltslinien auch nur informativ festgelegt werden. Dann wird ein p.m.Vermerk gesetzt, zB weil Ausgaben noch von besonderen Voraussetzungen abhängig gemacht werden. Außerdem gibt es sog Spiegelstrich-Haushaltslinien, die eben-

_____ 246 Art 21 II und III VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 247 Art 316 II AEUV. 248 Art 28 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. Stefan Storr

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falls nur informativ sind und die Entwicklung einer Haushaltslinie erklären sollen.249 Der Grundsatz der Spezialität wird durch die Möglichkeit von Mittelübertra146 gungen relativiert. Die Kommission kann zB innerhalb ihres Einzelplans eigenständig Mittel innerhalb eines Kapitels übertragen oder bei den Personal- und Verwaltungsausgaben, die sich auf mehrere Titel beziehen, von Titel zu Titel übertragen, wenn diese Übertragung höchstens 10% der Mittel betrifft, die für das betreffende Haushaltsjahr bei der Linie eingesetzt sind, zu deren Lasten die Mittelübertragung vorgenommen wird. Außerdem dürfen höchstens 30% der Mittel, die für das betreffende Haushaltsjahr bei der Linie eingesetzt sind, übertragen werden.250 Eine weitere Ausnahme vom Grundsatz der Spezialität ist die Bildung von all147 gemeinen Reserven, weil diese keinen bestimmten Ausgaben zugewiesen sind. Das betrifft sog vorläufig eingesetzte Mittel, zB weil aus gewichtigen Gründen ungewiss ist, ob Mittelansätze ausreichend sind oder ob diese bei den betreffenden Haushaltslinien wirtschaftlich verwendet werden können.251 Ferner betrifft das Reserven für Soforthilfen zugunsten von Drittländern252 und den Fall der sog Negativreserve.253 Allerdings setzt der Einsatz der Reservemittel eine Mittelübertragung voraus.

h) Der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung 148 Die Kommission führt den Haushaltsplan zusammen mit den Mitgliedstaaten in eigener Verantwortung und im Rahmen der zugewiesenen Mittel entsprechend dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung aus. Dafür arbeiten die Mitgliedstaaten mit der Kommission zusammen, um sicherzustellen, dass die Mittel nach dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung verwendet werden (Art 317 I AEUV). Der AEUV gibt vor, dass die Kontroll- und Wirtschaftsprüfungspflichten der 149 Mitgliedstaaten bei der Ausführung des Haushaltsplans sowie die damit verbundenen Verantwortlichkeiten in der Haushaltsordnung zu regeln sind. Ferner sind die Verantwortlichkeiten und die besonderen Einzelheiten geregelt, nach denen jedes Organ an der Vornahme seiner Ausgaben beteiligt ist. Die Haushaltsordnung konkretisiert diese Verpflichtung dahingehend, dass die 150 Mittel im Einklang mit den Grundsätzen der Sparsamkeit, der Wirtschaftlichkeit und der Wirksamkeit zu verwenden sind. Diese Grundsätze sind in der Haushaltsord-

_____ 249 Diese Mittel können nicht übertragen werden, weil sie bereits verwendet sind; European Union, Public Finance, 5th ed. 2014, p. 167. 250 Art 30 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 251 Art 49 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 252 Art 50 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 253 S Rn 140. Stefan Storr

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nung definiert: Der Grundsatz der Sparsamkeit fordert, dass die Ressourcen zum richtigen Zeitpunkt, in ausreichender Menge und angemessener Qualität sowie mit dem geringstmöglichen Kostenaufwand bereitgestellt werden. Der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit hat den Zweck, dass die optimale Relation zwischen den eingesetzten Mitteln, den durchgeführten Tätigkeiten und der Erreichung von Zielen gefunden werden kann. Der Grundsatz der Wirksamkeit betrifft das Erreichen bestimmter gesetzter Ziele und angestrebter Ergebnisse.254 Um die Zielerreichung prüfen und die Wirtschaftlichkeit eines Mitteleinsatzes 151 feststellen zu können, sind möglichst konkrete, messbare, erreichbare, sachgerechte und terminierte Ziele vorab festzulegen. Fortschritte sind bei der Erreichung der Ziele anhand von relevanten, anerkannten, glaubwürdigen, leichten und robusten Leistungsindikatoren zu überwachen. Die Organe sollen insbesondere bei Programmen und Tätigkeiten, die mit erheblichen Ausgaben verbunden sind, ex-anteund ex-post-Evaluierungen vornehmen.

i) Der Grundsatz der Transparenz Die Aufstellung des Haushaltsplans, der Haushaltsvollzug und die Rechnungsle- 152 gung unterliegen dem Grundsatz der Transparenz.255 Der Haushaltsplan ist binnen drei Monaten nach der endgültigen Feststellung im Amtsblatt der Europäischen Union zu veröffentlichen. Die konsolidierte Jahresrechnung wird im Amtsblatt der Europäischen Union und auf der Internetseite der Unionsorgane veröffentlicht. Zum Transparenzgrundsatz gehört es auch, dass die Anleihe- und Darlehenstransaktionen der Union zugunsten Dritter veröffentlicht werden, auch wenn dies nur in der Anlage zum Haushaltsplan geschieht. Außerdem soll die Kommission „in geeigneter Weise und zeitnah“ Informationen über Empfänger und über die Art und den Zweck der aus dem Haushalt finanzierten Maßnahme zur Verfügung stellen. Die einschlägigen Vertraulichkeitsanforderungen und Sicherheitsanforderungen müssen selbstverständlich eingehalten werden. Gerade bei natürlichen Personen muss der Schutz personenbezogener Daten gewährleistet sein. Deshalb sollen sich die zu veröffentlichenden Angaben bei diesen auf den Namen und den Ort des Empfängers,256 den gewährten Betrag und Art und den Zweck der Maßnahme beschränken.257

_____ 254 Art 33 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 255 Art 37 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 256 Bei juristischen Personen die Anschrift, bei natürlichen Personen die Region auf der Ebene von NUTS 2: Art 38 II lit b VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 257 Art 38 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. Stefan Storr

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j) Der Grundsatz der Vorherigkeit 153 Der Haushaltsplan muss vor dem jeweiligen Haushaltsjahr verabschiedet worden

sein. Der Grundsatz der Vorherigkeit ist nicht ausdrücklich in der Haushaltsordnung niedergelegt, folgt aber schon aus dem Sinn des Haushaltsplans selbst, nämlich die Veranschlagung und Bewilligung der für jedes Haushaltsjahr als erforderlich erachteten Einnahmen und Ausgaben der Union.258 Außerdem geht Art 314 AEUV, der das Haushaltsgesetzgebungsverfahren regelt, davon aus, dass der Haushalt vor dem Beginn des Haushaltsjahres aufgestellt ist. Für den Fall, dass ein Haushaltsplan nicht vor dem betreffenden Haushaltsjahr 154 endgültig zustande gekommen ist, sieht Art 315 AEUV ein Notverfahren vor: Dann können für jedes Kapitel monatliche Ausgaben bis zur Höhe eines Zwölftels der im betreffenden Kapitel des Haushaltsplans des vorangegangenen Haushaltsjahres eingesetzten Mittel vorgenommen werden, die jedoch ein Zwölftel der Mittelansätze des gleichen Kapitels des Haushaltsplanentwurfs nicht überschreiten dürfen. Diese doppelte Begrenzung soll bewirken, dass zwar die für das vergangene Jahr bewilligten Gelder für entsprechend gewidmete Aufgaben getätigt, dass aber keine neuen Aufgaben übernommen werden können. Der Nothaushalt soll die Kontinuität der EU-Verwaltung sicherstellen, aber keine Entwicklung auf seiner Grundlage ermöglichen.259 Darüber hinausgehende Ausgaben dürfen nur auf Vorschlag der Kommission vom Rat beschlossen werden. Der Beschluss tritt 30 Tage nach seinem Erlass in Kraft, sofern das Parlament nicht innerhalb dieser Frist mit der Mehrheit seiner Mitglieder beschließt, diese Ausgaben zu kürzen. Damit ist dem Rat auch die Befugnis zugewiesen, Mehrausgaben über die Gesamtsumme aller Zwölftel zu beschließen.

5. Haushaltsverfahren 155 Das Verfahren zum Erlass eines Haushaltsplans ist in Art 314 ff AEUV geregelt. Wich-

tig zum Verständnis dieses Verfahrens ist, dass die Haushaltsbehörde Parlament und Rat umfasst. Auch wenn es sich um zwei Organe handelt, die im Haushaltsaufstellungsverfahren regelmäßig „Gegenspieler“ sind, werden beide als Teile der Haushaltsbehörde bezeichnet. Diese Bezeichnung ist sicherlich fragwürdig, schon weil beide Organe zusammen keine Behörde im organisationsrechtlichen Sinn sind.260 Allerdings – und darauf ist besonders hinzuweisen – sind beide Organe im Haushaltsverfahren nahezu gleichberechtigt und ein Haushaltsplan kommt nur bei einem Konsens zustande. Besser heißt es in Art 14 I 1 EUV, dass das Parlament gemeinsam mit dem Rat als Gesetzgeber tätig wird und gemeinsam mit ihm die Haushaltsbefugnisse ausübt.

_____ 258 Art 7 I VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 259 Schwarze/Schoo Art 315 AEUV Rn 4. 260 Storr EuR 2001, 846 (853). Stefan Storr

V. Haushaltsrecht und Haushaltsplan | 723

Das war nicht immer so: Die Geschichte des Unionshaushaltsverfahrens ist auch 156 eine Geschichte der Stärkung der Rechte des Parlaments im Rahmen der Haushaltsgesetzgebung. Bis in die 1970er Jahre waren dem Parlament nur Vorschlagsrechte zugekommen. Später, bis zum Lissabonner Vertrag, wurden die Ausgaben in obligatorische und nicht-obligatorische unterschieden, wobei über erstere der Rat, über zweitere das Parlament endgültig entscheiden konnte. Der Vertrag hatte aber nur abstrakt die obligatorischen Ausgaben definiert und zwar als Ausgaben, die sich zwingend aus dem Vertrag oder darauf beruhenden Rechtsakten ergeben;261 alle übrigen Ausgaben sollen damit nicht-obligatorische sein. Die Zuordnung einer konkreten Ausgabe in die Kategorie der obligatorischen oder nicht-obligatorischen Ausgaben war selten exakt möglich und folgte eher praktischen Erwägungen. Tatsächlich war es so, dass viele der politisch „wichtigeren“ Ausgaben obligatorische waren, über die letztgültig der Rat entscheiden konnte. Weil die Abgrenzung aber schwierig und das Abgrenzungskriterium zu abstrakt 157 war, haben Parlament, Rat und Kommission letztendlich in einer interinstitutionellen Vereinbarung 262 verschiedene Ausgaben als obligatorische oder nichtobligatorische festgelegt. Obligatorische Ausgaben waren zB die Ausgaben für die Gemeinsame Agrarpolitik, Beiträge zu internationalen Organisationen oder Institutionen, Beiträge zum Fonds für Darlehensgarantien sowie Versorgungs- und Ausgleichsbezüge. Das Haushaltsverfahren war durch diese Unterscheidung und die unterschiedlichen Befugnisse von Rat und Parlament nicht nur „äußerst kompliziert“263, sondern auch insofern bedenklich geworden, als Rat, Parlament und Kommission im Wege einer Vereinbarung letztlich ihre Kompetenzen im Haushaltsverfahren selbst festlegen konnten. Art 314 AEUV regelt nun ein Verfahren, indem Rat und Parlament gleichbe- 158 rechtigt zusammenarbeiten, dh auch einen Konsens finden müssen. Zentral für das Verfahren ist daher auch weiterhin die Kompromissbereitschaft aller Organe. Besonderen Ausdruck hat diese Zusammenarbeit in Art 324 AEUV gefunden: Danach werden auf Initiative der Kommission im Rahmen des vorgesehenen Haushaltsverfahrens regelmäßige Treffen der Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission einberufen. In einer Interinstitutionellen Vereinbarung haben sich die Organe verpflichtet, während des gesamten Verfahrens loyal zusammenzuarbeiten und im Rahmen des Möglichen die Voraussetzungen für eine frühzeitige Annahme von Berichtigungshaushaltsplänen zu schaffen (sog Haus-

_____ 261 Ex-Art 272 IV EGV. 262 Vgl Anhang III Interinstitutionelle Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Europäischen Kommission über die Haushaltsdisziplin und die wirtschaftliche Haushaltsführung, ABl 2006 C 139/1. 263 Streinz/Niedobitek Art 314 AEUV Rn 18. Stefan Storr

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haltskonzertierung durch Trilog264). So positiv dieses kooperative Moment im Haushaltsverfahren erscheinen mag, so sehr besteht auch die Gefahr der Verschleierung von Verantwortung, wenn diese für eine Maßnahme nicht mehr konkret zugeordnet werden kann.265 Ferner erinnert Art 314 X AEUV daran, dass jedes Organ die ihm zufallenden Befugnisse unter Wahrung der Verträge und der Rechtsakte ausübt, die auf der Grundlage der Verträge insbesondere im Bereich der Eigenmittel der Union und des Gleichgewichts von Einnahmen und Ausgaben erlassen wurden. Auch die Abschaffung der Unterscheidung der obligatorischen und nichtobligatorischen Ausgaben hat dazu beigetragen, dass das Parlament dem Rat gleichgestellt ist. Zu Unrecht wird das in Frage gestellt,266 weil das Parlament – wie auch der Rat – dem mehrjährigen Finanzrahmen verpflichtet ist und sicherstellen muss, dass der Union die Finanzmittel zur Verfügung stehen, die es ihr ermöglichen, ihren rechtlichen Verpflichtungen gegenüber Dritten nachzukommen. Damit wird die Haushaltsbefugnis des Parlaments zwar beschnitten, aber nicht mehr als die des Rates, für den dieselben Verpflichtungen gelten. Das Verfahren der Haushaltsaufstellung kann in zehn Schritte gegliedert werden:

163 1. Schritt: Jedes Organ (abgesehen von der der EZB) stellt vor dem 1. Juli einen Haus-

haltsvoranschlag für seine Ausgaben für das folgende Haushaltsjahr auf. Auch die Kommission erstellt einen eigenen Vorschlag, den sie dem Parlament und dem Rat zur Kenntnisnahme übermittelt.267 164 2. Schritt: Die Kommission fasst diese Voranschläge in einem Entwurf für den

Haushaltsplan zusammen. Der Entwurf der Kommission kann abweichende Voranschläge enthalten, was das Initiativrecht der Kommission für den Erlass von Rechtsakten unterstreicht. Zu beachten ist, dass sich der Haushaltsplan an den mehrjährigen Finanzrahmen halten muss; ggf muss der mehrjährige Finanzrahmen vorher abgeändert werden. 165 3. Schritt: Bis spätestens 1. September legt die Kommission dem Europäischen Par-

lament und dem Rat einen Vorschlag mit dem Entwurf des Haushaltsplans vor.

_____ 264 Anhang Interinstitutionelle Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission über die Haushaltsdisziplin, die Zusammenarbeit im Haushaltsbereich und die wirtschaftliche Haushaltsführung, ABl 2013 C 373/1. 265 Vedder/Heintschel vHeinegg/Rossi Art 324 AEUV Rn 9. 266 Schwarze/Schoo Art 314 AEUV Rn 2. 267 Art 39 III VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. Stefan Storr

V. Haushaltsrecht und Haushaltsplan | 725

Außerdem leitet sie den Vorschlag auch den nationalen Parlamenten zu deren Information weiter. In der Haushaltsordnung268 ist geregelt, dass dem Vorschlag weitere Unterlagen beizulegen sind, zB eine Finanzplanung für die Folgejahre, ggf eine Vergleichstabelle mit dem Entwurf für den Haushaltsplan der anderen Unionsorgane und den ursprünglichen Voranschlägen der anderen Unionsorgane, ggf die Begründung für eine Abweichung, zweckdienliche Arbeitsdokumente zu den Stellenplänen der Organe usw. Die Kommission ist nicht zwingend an den eigenen Vorschlag gebunden, sondern kann ihn während des laufenden Verfahrens bis zur Einberufung des Vermittlungsausschusses269 ändern („um jeglichen neuen Gegebenheiten Rechnung zu tragen…“).270 Dadurch wird die Position der Kommission im Haushaltsplanaufstellungsverfahren gegenüber dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gestärkt, in dem sie dem Rat und dem Parlament nur einen Vorschlag unterbreiten kann. 4. Schritt: Schließlich legt der Rat in einer ersten Lesung seinen Standpunkt zu 166 dem Entwurf des Haushaltsplans fest. Ratsbeschlüsse werden vom Haushaltsausschuss und vom Ausschuss der ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten vorbereitet. Bis zum 1. Oktober leitet der Rat diesen Standpunkt dem Parlament zu und unterrichtet dieses „in vollem Umfang über die Gründe, aus denen er seinen Standpunkt festgelegt hat“. 5. Schritt: Das Parlament hat nun drei Möglichkeiten, binnen 42 Tagen wie folgt zu 167 reagieren. Es kann a. den Standpunkt des Rates bereits in der ersten Lesung billigen. Dann ist der Haushaltsplan erlassen; b. keinen Beschluss fassen. Dann ist der Haushaltsplan ebenfalls erlassen; c. Änderungen annehmen. Dafür bedarf es der Mehrheit der Mitglieder des Parlaments. Die abgeänderte Fassung des Entwurfs wird dann Rat und Kommission zugeleitet. Außerdem beruft der Präsident des Parlaments im Einvernehmen mit dem Präsidenten des Rates umgehend den Vermittlungsausschuss ein. 6. Schritt: Der Rat kann dem Parlament binnen zehn Tagen nach der Übermittlung 168 des geänderten Entwurfs mitteilen, dass er alle Abänderungen billigt. Dann tritt der Vermittlungsausschuss nicht zusammen. Andernfalls kommt es zum 7. Schritt: Der Vermittlungsausschuss besteht aus den Mitgliedern des Rates oder 169 deren Vertretern und ebenso vielen das Parlament vertretenden Mitgliedern. Er hat

_____ 268 Art 41 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 269 S Rn 169 und 170. 270 Art 42 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. Stefan Storr

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die Aufgabe, binnen 21 Tagen auf der Grundlage der Standpunkte des Parlaments und des Rates eine Einigung über einen gemeinsamen Entwurf zu erzielen. Eine Einigung ist dann zustande gekommen, wenn die Mitglieder des Rates bzw deren Vertreter mit qualifizierter Mehrheit und wenn die Mehrheit der das Parlament vertretenden Mitglieder zustimmt. Wenn der Vermittlungsausschuss zusammengetreten ist, kann die Kommission keine Änderungen mehr vornehmen; ihr kommt aber eine vermittelnde Funktion zu: Sie nimmt an den Arbeiten des Vermittlungsausschusses teil und ergreift alle erforderlichen Initiativen, um eine Annäherung der Standpunkte des Parlaments und des Rates zu bewirken. 170 8. Schritt: Wenn sich der Vermittlungsausschuss innerhalb der genannten Frist von

21 Tagen auf einen gemeinsamen Entwurf einigt, müssen der Rat und das Parlament diese Einigung noch billigen. Einigt sich der Vermittlungsausschuss nicht binnen 21 Tagen auf einen gemeinsamen Entwurf, hat die Kommission einen neuen Entwurf für den Haushaltsplan vorzulegen. 171 9. Schritt: Der Vertrag sieht vor, dass Rat und Parlament den gemeinsamen Entwurf

binnen 14 Tagen zu billigen haben. Innerhalb dieser 14-Tagesfrist kann es zu vier Szenarien kommen: a. Der Haushaltsplan ist entsprechend dem gemeinsamen Entwurf des Vermittlungsausschusses endgültig erlassen, wenn er sowohl vom Parlament als auch vom Rat gebilligt wird oder wenn beide keinen Beschluss fassen oder wenn eines dieser Organe den gemeinsamen Entwurf billigt, während das andere Organ keinen Beschluss fasst. MaW kann der gemeinsame Beschluss des Vermittlungsausschusses nur verhindert werden, wenn Parlament oder Rat aktiv jeweils einen Nichtannahmebeschluss fassen. b. Der gemeinsame Entwurf ist gescheitert, wenn er sowohl vom Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglieder als auch vom Rat abgelehnt wird oder eines dieser Organe den gemeinsamen Entwurf ablehnt, während das andere Organ keinen Beschluss fasst. Dann hat die Kommission einen neuen Entwurf für den Haushaltsplan vorzulegen. Allerdings ist es sehr unwahrscheinlich, dass der Rat einen Vorschlag des Vermittlungsausschusses (mit qualifizierter Mehrheit) ablehnt, dem er zuvor im Vermittlungsausschuss (mit qualifizierter Mehrheit) zugestimmt hat. c. Der gemeinsame Entwurf ist auch dann gescheitert, wenn er vom Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglieder abgelehnt und vom Rat gebilligt wird. Auch dann legt die Kommission einen neuen Entwurf für den Haushaltsplan vor. d. Differenzierter ist die Rechtsfolge, wenn der gemeinsame Entwurf nur vom Parlament gebilligt, vom Rat aber abgelehnt wird. Wie bereits ausgeführt, dürfte es kaum vorkommen, dass der Rat einen Vorschlag ablehnt, dem er zuvor im Vermittlungsausschuss zugestimmt hat. Sollte dieser Fall doch eintreten, kann das Parlament binnen 14 Tagen ab dem Tag der Ablehnung durch den Rat mit Stefan Storr

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der Mehrheit seiner Mitglieder und drei Fünfteln der abgegebenen Stimmen (doppelt-qualifizierte Mehrheit) beschließen, alle oder einige der Abänderungen, die es bereits vorgenommen hat,271 zu bestätigen. Wenn eine Abänderung des Parlaments nicht bestätigt wird, wird der im Vermittlungsausschuss vereinbarte Standpunkt zu dem Haushaltsposten, der Gegenstand der Abänderung ist, übernommen. Der Haushaltsplan gilt dann als auf dieser Grundlage endgültig erlassen. 10. Schritt: Wenn der Haushaltsplan beschlossen ist, stellt der Präsident des Parlaments fest, dass der Haushaltsplan endgültig erlassen ist (Art 314 IX AEUV). Auch darin weicht das Haushaltsaufstellungsverfahren vom ordentlichen Gesetzgebungsverfahren ab, in dem Gesetzgebungsakte vom Präsidenten des Parlaments und vom Präsidenten des Rates unterzeichnet werden.272 Einer Zustimmung des Präsidenten des Rates bedarf es nicht.273 Binnen drei Monaten nach endgültiger Feststellung wird der Haushaltsplan auf Veranlassung des Präsidenten des Europäischen Parlaments im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht.274 Das Haushaltsverfahren für den Haushaltsplan beginnt also vor dem 1. Juli des Vorjahres mit Haushaltsvoranschlägen der Unionsorgane und soll vor dem 31. Dezember enden. Kann das Haushaltsaufstellungsverfahren nicht bis dahin abgeschlossen werden, gilt ein „Nothaushalt“ auf der Grundlage des Art 315 AEUV.275 Wenn die vertraglichen Fristen nicht eingehalten werden, ist eine Untätigkeitsklage (Art 265 AEUV) möglich. Gerichtlich noch nicht entschieden ist, ob eine Nichteinhaltung der in der Interinstitutionellen Vereinbarung festgelegten Vorgaben, die auch fristgerecht befolgt werden müssen, im Wege einer Untätigkeitsklage vor dem EuGH geltend gemacht werden kann. Das hängt wesentlich von der Rechtsnatur der Interinstitutionellen Vereinbarung ab. Sieht man darin einen besonderen Organvertrag sui generis, der Rechte und Pflichten verbindlich festlegt, kann eine Verletzung der Interinstitutionellen Vereinbarung vor dem EuGH bekämpft werden. Der Haushaltsplan soll Gegenstand einer Nichtigkeitsklage (Art 263 AEUV) sein können, weil er Rechtswirkungen gegenüber Dritten entfalten soll:276 Der EuGH hat hervorgehoben, dass es sich beim Haushaltsplan um einen Akt handelt, durch den jährlich die Einnahmen und Ausgaben veranschlagt und im Voraus bewilligt werden. Diese sind gemäß Art 310 I UAbs 3 AEUV auszugleichen. Die Kommission

_____ 271 272 273 274 275 276

Art 314 IV lit c AEUV. Art 297 I AEUV. EuGH, Rs C-77/11 – Rat / Parlament, Rn 50. Art 37 II VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. S Rn 154. Schwarze/Schoo Art 314 AEUV Rn 23.

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hat den Haushaltsplan nach Art 317 AEUV zusammen mit den Mitgliedstaaten im Rahmen der zugewiesenen Mittel auszuführen. Die eingesetzten Einnahmen bestimmen die Höhe der Beträge, die die Mitgliedstaaten aus dem Mehrwertsteueraufkommen als Eigenmittel der Union abzuführen haben. Allerdings wird der Haushaltsplan der Union erst dann verbindlich, wenn der Präsident gemäß Artikel 314 IX AEUV festgestellt hat, dass dieser endgültig erlassen ist.277 Sodann entfaltet er auch Rechtswirkungen. Allerdings sind diese Rechtwirkungen auf Organe der EU beschränkt; Dritte werden durch den Haushaltsplan nicht unmittelbar berechtigt oder verpflichtet. Auch der Feststellungsakt des Präsidenten des Parlaments kann eine an176 fechtbare Handlung sein.278 Der Präsident des Parlaments wird am Ende des Haushaltsverfahrens durch einen eigenen, objektiven Rechtsakt tätig. Die Feststellung ergeht nicht in Form eines Gesetzgebungsakts im Sinn der Art 288 AEUV und 289 Abs 2 AEUV, sondern ist eine Maßnahme sui generis. Der EuGH hat entschieden, dass die Feststellung des Präsidenten des Parlaments eine anfechtbare Handlung im Sinne von Art 263 AEUV ist, weil sie dem Haushaltsplan der Union Bindungswirkung verleiht.279 Diesen Akt erlässt er aber nicht als eigenständige, im AEUV nicht vorgesehene Institution, sondern als Organ des Europäischen Parlaments.280 Insbesondere ist es nicht so, dass der Präsident des Parlaments erst nach Abschluss des Haushaltsverfahrens tätig wird und deshalb als ein „selbständiger dritter Teil der Haushaltsbehörde neben den beiden anderen, Rat und Parlament“281 Verfahrenshandlungen vornimmt. Deshalb ist Klagegegner bei einer Nichtigkeitsklage (Art 263 AEUV) gegen den Feststellungsbeschluss des Präsidenten des Parlaments das Parlament. Wichtig ist es zu erkennen, dass die Nichtigerklärung eines Feststellungsak177 tes des Präsidenten des Parlaments grundsätzlich nicht die Nichtigkeit der aufgrund dieses Haushaltsplans bereits vorgenommenen Zahlungen und eingegangenen Verpflichtungen zur Folge hat. Art 264 II AEUV ermöglicht es dem EuGH – „falls er dies für notwendig hält“ – die Wirkungen einer Handlung zu bezeichnen, die als fortgeltend zu betrachten sind. Die Gewährleistung der Kontinuität des europäischen öffentlichen Dienstes sowie vergleichbare bedeutsame Gründe der Rechtssicherheit können es erforderlich machen, dass die durch den EuGH für nichtig erklärten Bestimmungen des Haushaltsplans dennoch als fortgeltend zu betrachten sind. Dann wird der EuGH entscheiden, dass die Nichtigerklärung des Rechtsaktes des Präsidenten des Parlaments die Rechtswirksamkeit der bis zur Verkündung

_____ 277 278 279 280 281

EuGH, Rs 34/86 – Rat / Parlament, Rn 6. S a EuGH, Rs C-284/90 – Rat / Parlament, Rn 12. EuGH, Rs C-77/11 – Rat / Parlament, Rn 60. EuGH, Rs 34/86 – Rat / Parlament, Rn 8. Vgl EuGH, Rs 34/86 – Rat / Parlament, Rn 7. Stefan Storr

VI. Haushaltsvollzug | 729

des Urteils in Durchführung des betreffenden Haushaltsplans vorgenommenen Zahlungen und eingegangenen Verpflichtungen unberührt lässt.282 VI. Haushaltsvollzug VI. Haushaltsvollzug Der Haushaltsplan wird durch die Kommission und die Mitgliedstaaten vollzogen. 178 Maßgebend dafür ist die Haushaltsordnung. Die Kommission hat den Haushaltsplan in eigener Verantwortung und im Rahmen der zugewiesenen Mittel entsprechend dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung durchzuführen. Die Mitgliedstaaten haben mit der Kommission zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass die Mittel nach dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung verwendet werden (Art 317 I 2 AEUV).

1. Die Bedeutung des Basisrechtsakts Eine finanzielle Ausgabe setzt erstens voraus, dass entsprechende Mittel im 179 Haushaltsplan bewilligt worden sind. Zweitens bedarf es außerdem eines verbindlichen Rechtsakts. Art 310 III AEUV gibt ausdrücklich vor, dass die Ausführung der in den Haushaltsplan eingesetzten Ausgaben den Erlass eines verbindlichen Rechtsakts der Union voraussetzt, mit dem die Maßnahme der Union und die Ausführung der entsprechenden Ausgabe eine Rechtsgrundlage erhalten. Die Haushaltsordnung greift das Erfordernis auf und regelt Ausnahmen.283 Im Haushaltsplan werden lediglich die finanziellen Mittel bereitgestellt und 180 zwar von der Haushaltsbehörde an das betreffende Organ. Der Haushaltsplan ist so gesehen ein formelles, kein materielles Gesetz; er hat keine Außenwirkung. Niemand kann aus dem Haushaltsplan einen Anspruch auf Verwendung der eingestellten Mittel herleiten.284 Auch aus Art 323 AEUV folgt ein solcher Anspruch nicht. Darin werden Parlament, Rat und Kommission verpflichtet, der Union die Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, die es ihr ermöglichen, ihren rechtlichen Verpflichtungen nachzukommen. Der Regelungshintergrund des Art 310 III AEUV erklärt sich vor der Frage, ob 181 und welche Kompetenzen Rat und Parlament bei der Bewältigung von Aufgaben haben sollen. In der Vergangenheit haben unterschiedliche Kompetenzen von Rat und Parlament beim Erlass von eigenen Rechtsgrundlagen immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden Organen geführt, zB weil Mittel im Haus-

_____ 282 EuGH, Rs 34/86 – Rat / Parlament, Rn 48; EuGH, Rs C-284/90 – Rat / Parlament, Rn 37. 283 Art 58 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 284 EuGH, Rs 297/83 – Les Verts / Rat, Rn 7; Calliess/Ruffert/Waldhoff Art 323 AEUV Rn 2; Streinz/Niedobitek Art 323 AEUV Rn 7. Stefan Storr

730 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

haltsplan zwar bereitgestellt wurden, eine besondere Rechtsgrundlage für deren Verwendung aber gefehlt hatte. Der Basisrechtsakt ist jener Rechtsakt, der die Rechtsgrundlage für eine Maß182 nahme und die Ausführung der im Haushalt ausgewiesenen entsprechenden Ausgabe bildet.285 Bei einem Basisrechtsakt kann es sich entweder um eine Verordnung, eine Richtlinie oder einen Beschluss im Sinne des Art 288 AEUV oder um eine Ausgestaltungsmaßnahme im Bereich der GASP286 handeln. Empfehlungen und Stellungnahmen ersetzen einen Basisrechtsakt nicht. Ein Basisrechtsakt ist nur dann nicht erforderlich, wenn die betreffende Ak183 tion „nicht bedeutend“ ist.287 In der Haushaltsordnung ist festgelegt, dass Mittel für Pilotprojekte experimenteller Art (Obergrenze 40 Mio Euro/Jahr), vorbereitende Maßnahmen, die auf die Erarbeitung von Vorschlägen für künftige Maßnahmen abstellen (Obergrenze 50 Mio Euro/Jahr; Gesamtobergrenze 100 Mio Euro), Mittel für vorbereitende Maßnahmen im Bereich der GASP und Mittel für bestimmte punktuelle und unbefristete Maßnahmen der Kommission sowie Verwaltungsmittel ohne Basisrechtsakt verwendet werden können.288

2. Arten des Haushaltsvollzugs 184 Der Haushaltsplan wird grundsätzlich durch die Kommission und die Mitglied-

staaten vollzogen (Art 317 I AEUV). Allerdings erfährt dieser Grundsatz mehrere Einschränkungen: Erstens kann die Kommission nicht die Einzelpläne der anderen Organe vollziehen. Aus dem Grundsatz der institutionellen Autonomie der Organe folgt, dass die Kommission den anderen Organen „die erforderlichen Befugnisse zur Ausführung der sie betreffenden Einzelpläne“ übertragen muss.289 Zweitens wird die Haushaltsvollzugsbefugnis der Kommission durch die Komitologieverfahren begrenzt. Je nach Wahl des Beratungs- oder des Prüfverfahrens (vgl Art 291 AEUV)290 sind die Entscheidungsbefugnisse der Kommission eingeschränkt. Drittens kann die Kommission bestimmte Aufgaben des Haushaltsvollzugs weiter übertragen. Die Haushaltsordnung sieht drei Möglichkeiten vor: die direkte Mittelverwaltung, die geteilte Mittelverwaltung und die indirekte Mittelverwaltung. Für alle drei Varianten der Haushaltsvollziehung gilt, dass die Kommission für die Ausführung des Haushaltsplans verantwortlich bleibt.291

_____ 285 286 287 288 289 290 291

Vgl Art 2 Ziff 4 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. In Art 28 I, 31 II, 33, 42 IV und 43 II EUV genannten Ausführung des Titels V EUV. EuGH, Rs C-106/96 – Vereinigtes Königreich / Kommission, Rn 26. Art 58 II a VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. Art 59 I VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. VO 182/2011, ABl 2011 L 55/13. Art 62 I VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. Stefan Storr

VI. Haushaltsvollzug | 731

Nach Maßgabe der sog Meroni-Rechtsprechung des EuGH aus 1958 dürfen 185 ausgegliederten Einrichtungen keine Befugnisse übertragen werden, die sie „nach freiem Ermessen“ ausüben können. Dieser Rechtsprechung folgend untersagt die Haushaltsordnung der Kommission ausdrücklich, Durchführungsbefugnisse auf Dritte zu übertragen, wenn damit ein großer Ermessensspielraum für politische Optionen verbunden ist. 292 Die Ausführungsbefugnisse müssen auch „genau umgrenzt“ sein und deren Ausübung einer „strengen Kontrolle“ im Hinblick auf die Beachtung objektiver Tatbestandsmerkmale unterliegen,293 die Ausübung muss also „in vollem Umfang beaufsichtigt“294 werden. Zwar hat der EuGH diese Judikatur in der ESMA-Entscheidung relativiert, unzulässig ist aber jedenfalls eine Übertragung von Befugnissen, ohne dass diese an „verschiedene Kriterien und Bedingungen geknüpft [sind], die den Handlungsspielraum der [Agentur] begrenzen“.295

a) Direkte Mittelverwaltung Die Kommission kann den Haushalt direkt vollziehen („direkte Mittelverwaltung“), 186 dh selbst vollziehen, zB über ihre Dienststellen. Die direkte Mittelverwaltung betrifft ca 22% der Mittel. Die Haushaltsordnung erlaubt der Kommission und allen anderen Organen eine Übertragung ihrer Haushaltsvollzugsbefugnis in ihren Dienststellen innerhalb der Grenzen, die sie in der Übertragungsverfügung festlegen. Die Bevollmächtigten dürfen nur im Rahmen der ihnen ausdrücklich übertragenen Befugnisse tätig werden. Die Kommission kann ihre Haushaltsvollzugsbefugnis zB für die in den sie be- 187 treffenden Einzelplan des Haushaltsplans eingestellten operativen Mittel an die Leiter der Delegationen der Union übertragen. In diesem Fall haben diese die kommissionsinternen Vorschriften für den Haushaltsvollzug anzuwenden und unterliegen denselben Rechenschaftspflichten und sonstigen Pflichten wie jeder andere nachgeordnet bevollmächtigte Anweisungsbefugte der Kommission. Die Kommission kann diese Befugnisübertragung widerrufen.296 Ein besonderer Fall betrifft die Externalisierung von EU-Verwaltungsaufga- 188 ben. Wegen der Vervielfachung und Diversifizierung der Verwaltungsaufgaben der Kommission und wegen der – wie die Kommission selbst ausführt – „Unmöglichkeit, die Anzahl der Beamten unendlich zu vermehren“,297 werden Verwaltungsauf-

_____ 292 Art 62 VII VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 293 EuGH, Rs 9/56 – Meroni, Slg 1958, 43 f. 294 EuGH, Rs 10/56 – Meroni, Slg 1958, 81 f. 295 EuGH, Rs C-270/12 – ESMA, Rn 45. Ferner weist der EuGH daraufhin, dass die fraglichen Einrichtungen in “Meroni„ privatrechtliche Verbände waren (Rn 43). 296 Art 60 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 297 GD Haushalt, Finanzverfassung der Europäischen Union, 4. Aufl., 2009 S 328 (Vorauflage zu European Union, Public Finance, 5th ed. 2014). Stefan Storr

732 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

gaben der EU in bestimmten Fällen ausgegliedert, sei es auf Agenturen, sei es auf andere Einrichtungen der Union. Die Haushaltsordnung, die insoweit die MeroniRechtsprechung aufgreift, setzt einer Übertragung des Haushaltsvollzugs auf andere Einrichtungen Grenzen. Zentral ist Art 317 I AEUV, der der Kommission die Verantwortung für den Haushaltsvollzug zuweist und deshalb eine entsprechende Aufsicht einfordert. Exekutivagenturen werden von der Kommission durch Beschluss geschaffen und sind juristische Personen des Unionsrechts. Die Kommission muss sicherstellen, dass diese ihre Befugnis für ihre Rechnung und unter ihrer Aufsicht durchführen.298 In der Haushaltsordnung wird der Kommission die Befugnis zugewiesen, delegierte Rechtsakte zur Festlegung detaillierter Vorschriften über die Ausübung der den Exekutivagenturen übertragenen Befugnisse zu erlassen.299

b) Geteilte Mittelverwaltung 189 Ungefähr 76% der Mittel werden durch die Kommission und die Mitgliedstaaten

verwaltet. In diesem Fall überträgt die Kommission den Mitgliedstaaten Haushaltsvollzugsaufgaben.300 Die Mitgliedstaaten haben EU-Mittel durch ihre Behörden zu verwalten und Zahlungen zu tätigen. Das betrifft vor allem den EGFL und die Strukturfonds (EFRE, ESF). Von zentraler Bedeutung ist in diesem Fall die Kontrolle, die eine doppelte sein muss: Die Kommission und die Mitgliedstaaten haben gemeinsam sicherzustellen, dass die Mittel aus dem Haushalt der Union wirtschaftlich, transparent und nichtdiskriminierend verwendet werden. Sie haben die finanziellen Interessen der Union umfassend zu schützen und unter anderem sicherzustellen, dass die aus dem Haushalt der Union finanzierten Maßnahmen korrekt und wirksam gemäß den geltenden Vorschriften umgesetzt werden. Insbesondere was die Mitgliedstaaten betrifft haben diese Unregelmäßigkeiten und Betrug zu verhindern und aufzudecken sowie einschlägige Korrekturmaßnahmen zu ergreifen. Dafür haben sie ex-ante- und ex-post Kontrollen durchzuführen (zB Vor-Ort-Kontrollen). Rechtsgrundlos gezahlte Beträge haben sie zurückzufordern und ggf rechtliche Schritte einzuleiten. Gegenüber den Empfängern von Unionsmitteln haben sie wirksame, abschreckende und verhältnismäßige Sanktionen zu verhängen.301 Die Mitgliedstaaten haben sämtliche zum Schutz der finanziellen Interessen der Union erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen und mit der Kommission, dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF), dem Rechnungshof und — im Fall der Mitgliedstaaten, die an der verstärkten Zusammenarbeit teilnehmen — auch mit der

_____ 298 VO 58/2003, ABl 2003 L 11/1. 299 Art 69 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 300 Vgl Art 63 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 301 Zur Bedeutung von kurzen Verjährungsfristen in diesem Zusammenhang: EuGH, Rs C-105/14 – Taricco. Stefan Storr

VII. Rechnungslegung und Entlastung | 733

Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA) 302 zusammenzuarbeiten.303 Die Kommission hat die in den Mitgliedstaaten eingerichteten Verwaltungs- und Kontrollsysteme zu überwachen. Ausdrücklich verpflichtet die Haushaltsordnung die Kommission, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten und das Ausmaß des bewerteten Risikos im Einklang mit den einschlägigen Vorschriften zu berücksichtigen.304

c) Indirekte Mittelverwaltung Eine indirekte Mittelverwaltung liegt vor, wenn Haushaltsvollzugsaufgaben auf be- 190 stimmte Einrichtungen übertragen werden, die weder der EU angehören noch Einrichtungen eines Mitgliedstaats sind. In Betracht kommt eine Übertragung auf Drittländer und deren Einrichtungen (zB die Verwaltung von EU-Geldern im Rahmen der Heranführungshilfe), auf internationale Organisationen und deren Agenturen (zB bei gemeinsamen Programmen), auf die EIB und den Europäischen Investitionsfonds, bestimmte öffentlich-private Partnerschaften, bestimmte externalisierte Einrichtungen etc.305 Eine indirekte Mittelverwaltung muss im Basisrechtsakt so vorgesehen sein, außer ein Basisrechtsakt ist ausnahmsweise nicht erforderlich.306 Die Kommission darf diese Einrichtungen und Personen nur dann mit Haus- 191 haltsvollzugsaufgaben betrauen, wenn es transparente, nicht diskriminierende, effiziente und wirksame Rechtsbehelfsverfahren hinsichtlich der tatsächlichen Wahrnehmung dieser Aufgaben gibt. Wie bei der geteilten Mittelverwaltung gilt, dass die betrauten Einrichtungen und Personen beim Schutz der finanziellen Interessen der Union in vollem Umfang zusammenzuarbeiten haben. VII. Rechnungslegung und Entlastung VII. Rechnungslegung und Entlastung Im EGKSV 1951 war lediglich eine Rechnungsprüfung vorgesehen: Der Rechnungs- 192 prüfer hatte jährlich einen Bericht über die Ordnungsmäßigkeit der Buchführung und des Finanzgebarens der einzelnen Organe der Montanunion zu erstatten. Dieser Bericht wurde durch die Hohe Behörde der Versammlung zur Kenntnisnahme übermittelt.307 Heute ist die Rechnungsprüfung nicht nur deutlich differenzierter geregelt, der AEUV sieht auch vor, dass die Kommission zu entlasten ist.

_____ 302 303 304 305 306 307

Rn 223. Art 63 II lit d und Art 154 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. Art 63 II 4 UAbs VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. IE vgl Art 62 I lit c VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. S o Rn 183 zu Art 58 II VO 966/2012, ABl 2012 L 298/1. Ex-Art 78 EGKSV.

Stefan Storr

734 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

1. Rechnungslegung und Rechnungsprüfung 193 Aufgrund ihrer Verantwortung für den Vollzug des Haushaltsplans ist die Kommis-

sion zur jährlichen Rechnungslegung verpflichtet (Art 318 AEUV). Dafür legt sie dem Parlament und dem Rat jährlich die Rechnung des abgelaufenen Haushaltsjahres für die Rechnungsvorgänge des Haushaltsplans sowie eine Übersicht über das Vermögen und die Schulden der Union und einen Evaluierungsbericht zu den Finanzen der Union vor. Das Rechnungsführungssystem eines Organs dient dazu, Haushalts- und Fi194 nanzdaten aufzunehmen, zu klassifizieren und zu registrieren. Es ist untergliedert in eine Finanzbuchführung, die Salden und Kontobewegungen nach der Methode der doppelten Buchführung chronologisch nachzeichnet, und in eine Haushaltsbuchführung, die eine ausführliche Aufzeichnung der Ausführung des Haushaltsplans bietet.308 Die Jahresrechnungen umfassen die konsolidierten Jahresabschlüsse, in de195 nen die Finanzdaten der Jahresabschlüsse der Unionsorgane, der Einrichtungen der Union und sonstiger Einrichtungen in konsolidierter Form dargestellt sind, sowie die aggregierten Haushaltsrechnungen, in denen die Informationen aus den Haushaltsrechnungen der Unionsorgane wiedergegeben sind. Die Jahresabschlüsse wiederum umfassen die Bilanz, die alle Aktiva und Passiva sowie die Finanzlage am 31. Dezember des vorangegangenen Haushaltsjahres darstellt, die Ergebnisrechnung, aus der das wirtschaftliche Ergebnis des vorangegangenen Haushaltsjahres hervorgeht, die Kapitalflussrechnung, aus der die Ein- und Auszahlungen des Haushaltsjahres und der endgültige Kassenmittelbestand hervorgehen, und eine Tabelle der Veränderungen des Nettovermögens, die eine Übersicht über die im Laufe des Haushaltsjahres erfolgten Bewegungen bei den Reserven sowie die Gesamtergebnisse enthält.309 Beizufügen sind Erläuterungen zu den Jahresabschlüssen, die Übersichten sowie alle ergänzenden Informationen, die nach den Rechnungsführungsvorschriften und nach der international anerkannten Rechnungsführungspraxis erforderlich sind, enthalten. Jedes Organ sowie bestimmte EU-Einrichtungen erstellen einen Bericht über 196 die Haushaltsführung und das Finanzmanagement des betreffenden Haushaltsjahres, den sie dem Parlament, dem Rat und dem Rechnungshof zugänglich zu machen haben.310 Außerdem übermitteln die Rechnungsführer der Organe und der EUEinrichtungen dem Rechnungsführer der Kommission und dem Rechnungshof ihre vorläufigen Rechnungen.311 Der Rechnungshof prüft die vorläufigen Rechnungsabschlüsse der Organe.

_____ 308 309 310 311

Art 82 VII, 83, 84 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. Art 243 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. Art 249, 250 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. Art 245 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. Stefan Storr

VII. Rechnungslegung und Entlastung | 735

Der Evaluierungsbericht (Art 318 AEUV) soll sich auf die Ergebnisse stützen, 197 die Parlament und Rat der Kommission im Rahmen des Entlastungsverfahrens erteilt haben. Damit werden zwei Ziele verfolgt: Erstens soll der Haushaltsvollzug ergebnisorientierter erfolgen und beurteilt werden und zweitens soll die demokratische Kontrolle des Haushaltsvollzugs verbessert werden.312

2. Entlastung a) Bedeutung Die Entlastung des Haushalts ist in Art 319 AEUV geregelt. Das Parlament hat der 198 Kommission die Entlastung zur Ausführung des Haushaltsplans zu erteilen. Entlastet wird die Kommission für die Ausführung des Haushaltsplans, dh der Entlastungsbeschluss betrifft die Rechnung über alle Einnahmen und Ausgaben der Union sowie den sich daraus ergebenden Saldo, außerdem das Vermögen und die Schulden der Union. Die Entlastung hat damit zwei Funktionen. Erstens eine rechnerische: Es soll der ordnungsgemäße Abschluss der Haushaltsrechnung für das Haushaltsjahr bestätigt werden, also die Richtigkeit der Haushaltsführung. Zweitens eine politische: Es soll die Haushaltsführung der Kommission, also insbesondere die Verwaltung der Eigenmittel und ihre Verwendung, bestätigt werden.313 Diese Bestätigung hat keine rechtlichen Konsequenzen, das Parlament billigt aber den Haushaltsvollzug in politischer Hinsicht. Die Entlastung gilt deshalb als „bedeutender Augenblick“ und als „Höhepunkt“ des Entlastungsverfahrens,314 weil die „Haftung“ der Kommission für die Haushaltsführung endet. Billigt das Parlament den Haushaltsvollzug nicht, ist damit ein ernster Vorwurf an die Kommission verbunden. Die Verweigerung der Entlastung drückt zwar ein Misstrauen des Parlaments gegenüber der Kommission aus, kann aber nicht in ein Misstrauensvotum (Art 234 AEUV) umgedeutet werden;315 sie kann jedoch ein Grund für ein Misstrauensvotum sein oder zum Rücktritt der Kommission führen. Durch die Entlastung wird das Haushaltsjahr abgeschlossen.316 Die Haus- 199 haltsordnung sieht vor, dass die Entlastung für den Haushaltsvollzug in einem Haushaltsjahr vor dem 15. Mai des übernächsten Jahres erfolgen soll, allerdings ist auch eine spätere Entlastung möglich. Die Verzögerung des Entlastungsbeschlusses haben Rat oder Parlament der Kommission zu begründen. Nach der Entlastung können die Kommission oder andere Organe keine Finanztransaktionen aufgrund des Haushalts mehr vornehmen.

_____ 312 313 314 315 316

Streinz/Niedobitek Art 318 AEUV Rn 8. Streinz/Niedobitek Art 319 AEUV Rn 2; Vedder/Heintschel vHeinegg/Rossi Art 319 AEUV Rn 3. European Union, Public Finance, 5th ed. 2014, p. 275. Str, vgl Schwarze/Schoo Art 317 AEUV Rn 1; Calliess/Ruffert/Waldhoff Art 319 AEUV Rn 1. Vedder/Heintschel vHeinegg/Rossi Art 319 AEUV Rn 10.

Stefan Storr

736 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

b) Entlastungsverfahren 200 Das Entlastungsverfahren ist in verschiedenen Vorschriften des AEUV317 und der Haushaltsordnung geregelt. Wie bereits ausgeführt übermitteln zunächst die Rechnungsführer der Organe (außer Kommission) und EU-Einrichtungen dem Rechnungsführer der Kommission und dem Rechnungshof ihre vorläufigen Rechnungen mit dem Bericht über den Haushaltsvollzug und das Finanzmanagement (bis 1. März). Der Rechnungsführer der Kommission konsolidiert diese mit der vorläufigen Rechnung der Kommission und übermittelt diese dem Rechnungshof (bis 31. März). Nach einer Prüfung durch den Rechnungshof erstellt dieser seine Bemerkungen und übermittelt den betroffenen Organen spätestens am 1. Juni die Bemerkungen zu den vorläufigen Rechnungen (Bemerkungen zu den vorläufigen Rechnungen der Kommission bis 15. Juni).318 Die Rechnungsführer der anderen Unionsorgane übermitteln bis zum 15. Juni 201 dem Rechnungsführer der Kommission die erforderlichen Rechnungsführungsinformationen, damit die endgültigen konsolidierten Rechnungen erstellt werden können, sowie dem Rechnungshof, dem Europäischen Parlament und dem Rat (bis 1. Juli). Sodann erstellt der Rechnungsführer der Kommission die endgültigen konsolidierten Rechnungsabschlüsse. Die Kommission billigt die endgültigen konsolidierten Rechnungsabschlüsse sowie ihre eigenen Rechnungsabschlüsse und übermittelt sie Parlament, Rat und Rechnungshof (bis 31. Juli). Die endgültigen konsolidierten Rechnungen werden spätestens bis zum 15. November zusammen mit der Zuverlässigkeitserklärung, die der Rechnungshof abgibt, im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Was den Jahresbericht betrifft übermittelt der Rechnungshof der Kommission 202 und den anderen betreffenden Unionsorganen spätestens am 30. Juni die Bemerkungen, die seiner Ansicht nach in den Jahresbericht aufzunehmen sind.319 Diese Bemerkungen müssen vertraulich bleiben und unterliegen einem kontradiktorischen Verfahren, dh den Teilnehmern muss eine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden, bevor eine Maßnahme getroffen wird, die deren Rechte beeinträchtigt und es muss über Rechtsschutzmöglichkeiten belehrt werden. Alle Unionsorgane übermitteln dem Rechnungshof ihre Antworten spätestens am 15. Oktober. Der Kommission werden die Antworten der anderen Unionsorgane gleichzeitig zugeleitet. Der Rechnungshof übermittelt der Entlastungsbehörde und den anderen Unionsorganen bis zum 15. November seinen Jahresbericht zusammen mit der Zuverlässigkeitserklärung320 und den Antworten der Unionsorgane und sorgt für dessen Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union.321

_____ 317 318 319 320 321

Art 287, 318, 319 AEUV. Art 246 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. Art 258 VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. Art 287 AEUV, Art 106a EAGV; Art 261 II VO 2018/1046, ABl 2018 L 139/1. Art 258 IV VO 2018/1046, ABl 2018 L 139/1. Stefan Storr

VII. Rechnungslegung und Entlastung | 737

Schließlich prüft der Rat die Rechnung, die Übersicht und den Evaluierungsbericht.322 Ferner prüft er den Jahresbericht des Rechnungshofs zusammen mit den Antworten der kontrollierten Organe auf dessen Bemerkungen, die Zuverlässigkeitserklärung und die einschlägigen Sonderberichte des Rechnungshofs. Sodann erteilt der Rat eine Empfehlung zur Entlastung der Kommission.323 Diese Empfehlung hat zwar keine rechtliche Bedeutung, dh das Parlament kann sich darüber hinwegsetzen, aber sie ist in politischer Hinsicht sehr wichtig. Denn wird keine Empfehlung ausgesprochen, heißt das, dass der Rat die Haushaltsführung der Kommission nicht billigt. Das Parlament kann gleichwohl eine Entlastung aussprechen. Daraufhin überprüft das Parlament Rechnungen, Vermögensübersichten, Evaluierungsberichte, den Jahresbericht des Rechnungshofs mit den Antworten der geprüften Organe, dessen Sonderberichte für das betreffende Haushaltsjahr sowie dessen Erklärung über die Zuverlässigkeit der Rechnungsführung und die Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit der zugrunde liegenden Vorgänge.324 Das Parlament kann die Kommission auffordern, Auskunft über die Vornahme der Ausgaben oder die Arbeitsweise der Finanzkontrollsysteme zu erteilen. Die Kommission hat dann dem Parlament alle notwendigen Informationen vorzulegen. Diese Befugnis besteht dabei nicht nur im Entlastungsverfahren, sondern „auch zu anderen Zwecken“, wie es in Art 319 II AEUV ausdrücklich heißt. Das Parlament kann die Entlastung aufschieben. ZB kann das Parlament die Entlastung von der Erfüllung bestimmter Bedingungen durch die Kommission abhängig machen, wie Maßnahmen gegen Betrugsbekämpfung oder effektiveren Mitteleinsatz. Es kann aber auch eine längere Prüfungszeit einfordern, um die Unterlagen sichten und auswerten zu können. Im Fall der Vertagung hat die Kommission so schnell wie möglich Vorkehrungen zu treffen, um die Hinderungsgründe auszuräumen.325 In der Geschäftsordnung des Parlaments ist außerdem geregelt, dass ein Aufschub auch dann erfolgt, wenn ein Vorschlag zur Erteilung der Entlastung im Parlament während der April-Tagung nicht die Mehrheit erhält. Dann gilt die Entlastung als aufgeschoben und der zuständige Ausschuss legt innerhalb von sechs Monaten einen neuen Bericht vor, der einen Vorschlag zur Erteilung oder zur Verweigerung der Entlastung enthält.326 Die Einbindung des Rates in das Entlastungsverfahren und die alleinige Befugnis des Parlaments zur Entlastung zeigen den historischen Wandel von Funktion

_____ 322 Art 319 AEUV. 323 ZB Empfehlung des Rates zur Entlastung der Kommission zur Ausführung des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2017, Rats-Dok 5824/19 ADD 1. 324 Art 261 II VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 325 Art 260 III VO 2018/1046, ABl 2018 L 193/1. 326 Anlage IV Art 5 Ziff 1 lit a Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments. Stefan Storr

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738 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

und Bedeutung des Parlaments im Haushaltsverfahren. Im EWGV 1957 lag es in der Zuständigkeit des Rates, die Kommission zu entlasten, der „Versammlung“, dem heutigen Parlament, war die Entscheidung des Rates nur mitzuteilen. Die Kontrolle des Haushaltsvollzugs erfolgte damit durch die Mitgliedstaaten und damit indirekt auch durch die nationalen Parlamente, was insofern konsequent war, als die Gemeinschaft nur durch Beiträge der Mitgliedstaaten finanziert wurde.327 Durch den Übergang zu einer Finanzierung durch Eigenmittel, auf die die Gemeinschaft einen Anspruch hatte, bedurfte es einer demokratischen Kontrolle auf europäischer Ebene. Deshalb nahmen ab 1970 mit dem Vertrag von Luxemburg Rat und Parlament gemeinsam die Entlastung vor, ab 1977 ging die Entlastungsbefugnis dann auf das Parlament allein über. Heute hat der Rat nur noch die Befugnis der Vorprüfung und die Möglichkeit, Empfehlungen und Erläuterungen abzugeben.

c) Verweigerung der Entlastung 207 Die Verweigerung der Entlastung ist nicht im AEUV geregelt. Insbesondere mate-

rielle Anforderungen sind nicht vorgegeben, zB dass eine Entlastung nur bei schwerwiegenden Fällen verweigert werden kann. Die Verweigerung der Entlastung (zB Beschluss 2016/2152328 für einen Einzelplan) erfolgt nach der Geschäftsordnung des Parlaments während der Oktober-Tagung, etwa indem ein Vorschlag zur Erteilung der Entlastung nicht die Mehrheit erhält. Eine andere Möglichkeit ist, dass ein Vorschlag zur Verweigerung der Entlastung die erforderliche Mehrheit erhält. Dann wird ein formeller Vorschlag zum Rechnungsabschluss für das betreffende Haushaltsjahr auf einer späteren Tagung vorgelegt, auf der die Kommission um Abgabe einer Erklärung ersucht wird.329 In der Vergangenheit kam es zur Verweigerung der Entlastung für die Haus208 haltsjahre 1982, 1985 und 1996, was einen Rücktritt oder jedenfalls Rücktrittsforderungen an die Kommission nahegelegt hat. Im Jahr 1984 verweigerte die Kommission einen Rücktritt unter Hinweis darauf, dass ihr Mandat ohnehin bald auslief, 1998 trat die Kommission unter Vorsitz von Jaques Santer geschlossen zurück.330

d) Entlastungsadressat 209 Entlastet wird ausschließlich die Kommission für die Ausführung des Haus-

haltsplans. So heißt es ausdrücklich in Art 319 I AEUV, weshalb die gängige Praxis

_____ 327 Rossi EuR 2013, 170 (172). 328 Beschluss 2016/2152 des Europäischen Parlaments vom 27. Oktober 2016 über die Entlastung für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2014, Einzelplan II — Europäischer Rat und Rat, ABl 2016 L 333/50. 329 Anlage IV Art 5 Ziff 2 lit a Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments. 330 Rossi EuR 2013, 170 (174). Stefan Storr

VII. Rechnungslegung und Entlastung | 739

des Parlaments, Entlastungen auch zur Haushaltsführung anderer Organe – insbesondere des Rates,331 von Agenturen,332 von gemeinsamen Unternehmen333 und sogar von sich selbst334 – auszusprechen, von Art 319 AEUV nicht gedeckt ist.335 Art 319 AEUV kann nicht dahingehend ausgelegt werden, dass die Bestimmung zwar die Kommission als Entlastungsadressaten bestimmt, aber nicht abschließend ist und eine Entlastung anderer Organe und Stellen der Union nicht ausschließt. Das Parlament stützt sich für seine Rechtsauffassung auf Art 314 I, Art 317 und 318 AEUV, die eine Befugnis der Organe bestimmen, Einzelpläne zu vollziehen, die Entlastung – das regelt Art 319 AEUV – kann aber nur gegenüber der Kommission erfolgen, die ja auch die Verantwortung für die Ausführung des gesamten Haushaltsplans trägt. Richtig ist zwar, dass die Union nach Art 335 S 3 AEUV in Fragen, die das Funktionieren der einzelnen Organe betreffen, aufgrund von deren Verwaltungsautonomie von dem betreffenden Organ vertreten wird, und dass die Kommission nach Art 55 der Haushaltsordnung den anderen Organen die erforderlichen Befugnisse zur Ausführung der sie betreffenden Einzelpläne zuerkennt. Das bedeutet aber nicht, dass die Ausführung dieser Einzelpläne Gegenstand der Entlastung durch das Parlament ist. Dem widerspricht Art 319 AEUV, der primärrechtlich ausschließlich die Kom- 210 mission als Entlastungsadressaten nennt. Dass das Parlament in seiner Geschäftsordnung die Entlastung anderer Organe, Personen und Stellen der Union für die Ausführung von Einzelplänen regelt, insbesondere die Entlastung der Personen, die für die Ausführung der Einzelhaushaltspläne anderer Organe und Einrichtungen der Europäischen Union wie Rat, Gerichtshof der Europäischen Union, Rechnungshof, Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss und Ausschuss der Regionen verantwortlich sind, ändert daran nichts,336 weil die Geschäftsordnung des Parlaments allein das Parlament bindet. Nach Art 232 AEUV gibt das Parlament „sich sei-

_____ 331 ZB Beschluss (EU) 2018/2071 des Europäischen Parlaments vom 24. Oktober 2018 über die Entlastung für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2016, Einzelplan II — Europäischer Rat und Rat, ABl 2018 L 331/210. 332 ZB Beschluss 2018/1319des Europäischen Parlaments vom 18. April 2018 über die Entlastung für die Ausführung des Haushaltsplans der Exekutivagentur des Europäischen Forschungsrates für das Haushaltsjahr 2016, ABl 2018 L 248/109; Beschluss 2018/1317des Europäischen Parlaments vom 18. April 2018 über die Entlastung für die Ausführung des Haushaltsplans der Exekutivagentur für kleine und mittlere Unternehmen für das Haushaltsjahr 2016, ABl 2018 L 248/105. 333 ZB Beschluss 2017/1451 des Europäischen Parlaments vom 18. April 2018 über die Entlastung zur Ausführung des Haushaltsplans des europäischen Gemeinsamen Unternehmens für den ITER und die Entwicklung der Fusionsenergie für das Haushaltsjahr 2016, ABl 2018 L 248/375. 334 ZB Beschluss 2018/1309 des Europäischen Parlaments vom 18. April 2018 über die Entlastung für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2016, Einzelplan I — Europäisches Parlament, ABl 2018 L 248/1. 335 Rossi EuR 2013, 170 ff; Streinz/Niedobitek Art 319 AEUV Rn 7 und 8. 336 Art 94 Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments. Stefan Storr

740 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

ne Geschäftsordnung“. Das heißt aber nicht, dass das Parlament eine ordnungsgemäße Rechnung der anderen Organe, Agenturen usw nicht feststellen dürfte. Doch hat diese „Entlastung“ allein informativen Charakter. Nach Art 319 III AEUV hat die Kommission „alle zweckdienlichen Maßnah211 men“ zu treffen, um den Bemerkungen in den Entlastungsbeschlüssen und anderen Bemerkungen des Parlaments zur Vornahme der Ausgaben sowie den Erläuterungen, die den Entlastungsempfehlungen des Rates beigefügt sind, nachzukommen. Auf Ersuchen des Parlaments oder des Rates hat die Kommission Bericht über die Maßnahmen zu erstatten, die aufgrund dieser Bemerkungen und Erläuterungen getroffen wurden. Das betrifft insbesondere die Weisungen, die den für die Ausführung des Haushaltsplans zuständigen Dienststellen erteilt worden sind. Außerdem sind diese Berichte dem Rechnungshof zuzuleiten. Art 319 AEUV sagt nicht, in welcher Form die Entlastung zu erfolgen hat. Das 212 Parlament greift regelmäßig auf zwei Instrumente zurück. Es erlässt erstens einen Beschluss, den eigentlichen Entlastungsbeschluss, und zweitens eine Entschließung,337 die Bemerkungen zur Entlastung enthält, wobei die Entschließung „integraler Bestandteil“ des Entlastungsbeschlusses sein soll. Zu beachten ist, dass die Befugnis des Parlaments zur Entlastung der Kommis213 sion im übernächsten Haushaltsjahr nicht bedeutet, dass es im laufenden Haushaltsjahr keine Prüfungen durchführen dürfte. Das Parlament ist befugt, auch die Ausführung des laufenden Haushaltsplans zu prüfen, was durch seine für den Haushalt und die Haushaltskontrolle zuständigen Ausschüsse sowie die übrigen betroffenen Ausschüsse erfolgt.338 VIII. Schutz der finanziellen Interessen der EU VIII. Schutz der finanziellen Interessen der EU 214 Die Union hat immer wieder mit Korruption zu tun. Bereits 1988 hat die Kommissi-

on deshalb die Task Force „Anti-Fraud Coordination Unit“ (UCLAF) eingerichtet. 1999 wurde die europäische Betrugsbekämpfungsbehörde „Office Européen de Lutte Anti-Fraude“ (OLAF – Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung) gegründet. Die Behörde hat heute über 400 Mitarbeiter. Art 325 AEUV enthält die primärrechtliche Grundlage für die europäische Betrugsbekämpfung: Darin werden die Union und die Mitgliedstaaten verpflichtet, Betrügereien und 215 sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige

_____ 337 ZB Entschließung (EU) 2018/1310 des Europäischen Parlaments vom 18. April 2018 mit den Bemerkungen, die fester Bestandteil des Beschlusses über die Entlastung für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2016, Einzelplan I — Europäisches Parlament, sind, ABl 2018 L 248/3. 338 Art 92a Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments. Stefan Storr

VIII. Schutz der finanziellen Interessen der EU | 741

Handlungen zu bekämpfen. Sie sollen abschreckende Maßnahmen einsetzen, die in den Mitgliedstaaten sowie in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union einen effektiven Schutz bewirken.339 Die Einbindung der Mitgliedstaaten ist von erheblicher Bedeutung, weil der Vollzug europäischer Vorschriften und die Auszahlung europäischer Haushaltsmittel häufig durch die mitgliedstaatlichen Verwaltungsbehörden erfolgt (mittelbarer Vollzug bzw geteilte und indirekte Mittelverwaltung). Der Vertrag greift den europäischen Äquivalenzgrundsatz auf, wenn er die 216 Mitgliedstaaten verpflichtet, zur Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, die gleichen Maßnahmen zu ergreifen wie zur Bekämpfung von Betrügereien gegen ihre eigenen finanziellen Interessen. Das schließt strafrechtliche Sanktionen ein.340 Dafür haben die Mitgliedstaaten ihre Tätigkeit zum Schutz der finanziellen Interessen der Union vor Betrügereien zu koordinieren und zusammen mit der Kommission für eine enge, regelmäßige Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden zu sorgen. Art 325 IV AEUV enthält eine Rechtsgrundlage für Parlament und Rat, gemäß 217 dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Rechnungshofs die erforderlichen Maßnahmen zu erlassen, um einen effektiven und gleichwertigen Schutz in den Mitgliedstaaten sowie in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union zu ermöglichen. Das europäische Amt für Betrugsbekämpfung wurde durch einen Beschluss der 218 Kommission gegründet.341 OLAF soll durch interne und externe Verwaltungsuntersuchungen342 Betrug, Korruption und alle anderen rechtswidrigen Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union bekämpfen. Dafür sind OLAF umfassende Befugnisse zugewiesen: Das Amt erhält ohne Voranmeldung und unverzüglich Zugang zu sämtlichen relevanten Informationen, einschließlich Informationen in Datenbanken, die sich im Besitz der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen befinden, und zu deren Räumlichkeiten. Das Amt kann die Rechnungsführung der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen einsehen. Es kann Kopien aller Schriftstücke und des Inhalts aller Datenträger anfertigen oder Auszüge davon erhalten. Es kann diese Schriftstücke und Informationen sicherstellen, um zu gewährleisten, dass keine Gefahr besteht, dass sie verschwinden. Es kann Kontrollen und Überprü-

_____ 339 In Österreich zB Straftat des Fördermissbrauchs § 153b StGB, Beamtenbestechung §§ 304, 307 StGB, Geldwäsche § 165 StGB; ferner die Einführung der Korruptionsstaatsanwaltschaft; vgl weiter: Killmann JSt 2008, 69 ff; in Deutschland: Subventionsbetrug § 264 StGB; Straftaten im Amt (zB Vorteilsannahme, Bestechlichkeit usw §§ 331, 332 ff StGB), Geldwäsche § 261 StGB. 340 Vgl grundlegend: Rechtsakt des Rates vom 26. Juli 1995 über die Ausarbeitung des Übereinkommens über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, ABl 1995 C 316/48. 341 Beschluss 1999/352, ABl 1999 L 136/20. 342 Vgl dazu VO 2185/96, ABl 1996 L 292/2; VO 2988/95, ABl 1995 L 312/1. Stefan Storr

742 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

fungen bei Wirtschaftsteilnehmern vor Ort vornehmen.343 Polizeiliche, strafrechtliche oder Disziplinarbefugnisse kommen OLAF indes nicht zu. Die VO 883/2013 lässt Untersuchungen nur unter Wahrung des Grundsatzes 219 der Vertraulichkeit und des Datenschutzes zu. Das gilt sowohl für Informationen aus externen wie aus internen Untersuchungen. Weil OLAF keine strafrechtlichen Ermittlungen, sondern administrative Untersuchungen vornimmt, waren die Beschuldigtenrechte zunächst nur rudimentär geregelt.344 Das galt von vornherein als „Geburtsfehler“.345 Das EuG hat in der Entscheidung „Franchet und Byk“346 die Verteidigungsrechte der Betroffenen gestärkt, insbesondere die Bedeutung der Anhörung Betroffener hervorgehoben. Inzwischen sind bestimmte Verfahrensgarantien in der VO 883/2013 geregelt.347 Zunächst waren die Befugnisse von OLAF für interne Verwaltungsunter220 suchungen bei anderen Organen als der Kommission umstritten. Denn der Errichtungsakt ist ein Beschluss der Kommission und die Kommission kann nur die Hoheitsbefugnisse übertragen, die ihr selbst zustehen. Aufgrund der Verwaltungsautonomie der Unionsorgane kann die Kommission ohne Zustimmung der betreffenden Organe keine internen Untersuchungen bei anderen Organen durchführen und deshalb auch nicht entsprechende Befugnisse anderer Organe übertragen. Ein weiteres Hindernis sind die Vorrechte und Befreiungen der Union (zB Immunität).348 Von Anfang an war es aber das Ziel der Kommission, dass OLAF alle Organe, Einrichtungen, Ämter und Agenturen der Union bei der Betrugsbekämpfung unterstützen bzw diese Untersuchungen selbst vornehmen sollte. Um die Befugnis von OLAF gegenüber anderen Organen als der Kommission zu erweitern, schlossen Parlament, Rat und Kommission eine interinstitutionelle Vereinbarung ab, in der sie sich verpflichteten, OLAF entsprechende Befugnisse einzuräumen.349 Dafür verständigten sie sich auf einen „Standardbeschluss“,350 den jedes Organ abzugeben hatte

_____ 343 Art 4 VO 883/2013, ABl 2013 L 248/1. 344 Gleß EuZW 1999, 618 ff. 345 Brüner EuR 2008, 859 (860). 346 EuG, Rs T-48/05 – Franchet und Byk / Kommission; dazu Niestedt/Boeckmann EuZW 2009, 70 ff. 347 VO 883/2013, ABl 2013 L 248/1. 348 Protokoll zu den Verträgen zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft – Protokoll (Nr 36) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften (1965), ABl 2006 C 321/318. 349 Interinstitutionelle Vereinbarung vom 25. Mai 1999 zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat der Europäischen Union und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften über die internen Untersuchungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF), ABl 1999 L 136/15. 350 Anhang zur Interinstitutionelle Vereinbarung vom 25. Mai 1999 zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat der Europäischen Union und der Kommission der Europäischen GemeinschafStefan Storr

VIII. Schutz der finanziellen Interessen der EU | 743

und der OLAF die erforderlichen Befugnisse verleihen sollte, um interne Verwaltungsuntersuchungen im jeweiligen Organ durchzuführen.351 Dem Rat und dem Parlament schlossen sich andere Organe an wie der Wirtschafts- und Sozialausschuss, der Europäische Gerichtshof und der Europäische Rechnungshof. OLAF soll seine Untersuchungsbefugnisse „in voller Unabhängigkeit“ aus- 221 üben können.352 Insbesondere ist der Direktor des Amtes unabhängig und weisungsfrei. Er darf bei der Ausübung dieser Befugnisse keine Anweisungen der Kommission, einer Regierung, eines anderen Organs, einer Einrichtung, eines Amtes oder einer Agentur erbitten oder entgegennehmen. Ist der Direktor der Auffassung, dass eine von der Kommission getroffene Maßnahme seine Unabhängigkeit antastet, kann er beim Gerichtshof Klage gegen die Kommission einreichen.353 Der Direktor hat dem Parlament, dem Rat, der Kommission und dem Rechnungshof regelmäßig Bericht über die Ergebnisse der von OLAF durchgeführten Untersuchungen zu erstatten. Die Untersuchungstätigkeiten des Amtes werden durch einen Überwachungsausschuss kontrolliert. Völlige Unabhängigkeit lässt sich aber schon deshalb nicht herstellen, weil das Amt – trotz gewisser Haushalts- und Personalautonomie – organisatorisch der Kommission zugewiesen ist. Insbesondere die politische Verantwortlichkeit für OLAF stellte sich schon bald als eine grundsätzliche Frage.354 Eine Nichtigkeitsklage gegen einen Abschlussbericht von OLAF ist regelmäßig 222 unzulässig.355 Denn ein solcher Bericht ändert nicht in qualifizierter Weise die Rechtsstellung der Personen, die in dem Bericht genannt werden. Ein solcher Bericht ist auch nicht zwangsläufig eine vorbereitende Maßnahme für Verwaltungsoder Gerichtsverfahren. Der Abschlussbericht selbst enthält allenfalls Schlussfolgerungen und Empfehlungen an die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten und die betroffenen Organe, damit sie entscheiden, inwieweit ihnen zu folgen ist.356 Möglich ist eine Klage auf Schadensersatz (Art 340 II AEUV).357 Die strafrechtliche Verfolgung zum Schutz der finanziellen Interessen der 223 Union war lange Zeit ausschließlich Angelegenheit der nationalen Strafverfolgungsbehörden. Diese sind aber nicht immer in ausreichendem Maße tätig geworden, weshalb 2017 für sechzehn Mitgliedstaaten im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit eine Europäische Staatsanwaltschaft (EUStA) errichtet wurde,358

_____ ten über die internen Untersuchungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF), ABl 1999 L 136/15. 351 S vdGroeben/Schwarze/Hatje/Spitzer/Stiegel Art 325 AEUV Rn 114. 352 Art 3 Beschluss 1999/352, ABl 1999 L 136/20. 353 Art 17 III S 2 VO 883/2013, ABl 2013 L 248/1. 354 Brüner EuR 2008, 859 (862). 355 Zu den Verfahrensgrundsätzen Partsch EuZW 2017, 878 ff. 356 EuG, Rs T-309/03 – Manuel Camós Grau / Kommission, Rn 48 f. 357 EuG, Rs T-259/03 – Nikolaou / Kommission. 358 VO 2017/1939, ABl 2017 L 283/1. Stefan Storr

744 | § 9 Die Finanzverfassung der Union

deren Aufgabe die Bekämpfung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union (Betrug, Korruption, Geldwäsche, grenzüberschreitender Mehrwertsteuerbetrug359) ist.360 Sie besteht aus einem Europäischen Generalstaatsanwalt als Leiter und einem Kollegium von Staatsanwälten. Die operativen Aufgaben übernehmen Delegierte Europäische Staatsanwälte und sog Ständige Kammern (3 Mitglieder). Die EUStA ist unparteiisch und ermittelt belastende und entlastende Beweise. Sie ist unabhängig, für ihre allgemeinen Tätigkeiten aber dem Parlament, dem Rat und der Kommission rechenschaftspflichtig. Die EuStA ist von Stellen der EU und von den Behörden der Mitgliedstaaten 224 über Straftaten, für die sie ihre Zuständigkeit ausüben könnte, zu informieren (zB wenn eine Justiz- oder Strafverfolgungsbehörde eines Mitgliedstaats ein Ermittlungsverfahren wegen einer entsprechenden Straftat einleitet). Der EUStA kommt ein sog Evokationsrecht zu, sie kann also ein Verfahren übernehmen. Die zulässigen Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen im Namen der EUStA sind in der VO 2017/1939 geregelt, subsidiär kommt nationales Recht zur Anwendung. Die Delegierten Europäischen Staatsanwälte können zB Durchsuchungen vornehmen sowie Sicherungsmaßnahmen durchführen, um einen Beweisverlust oder eine Beweisbeeinträchtigung zu verhindern. Sie können die Herausgabe von relevanten Gegenständen, Schriftstücken und Computerakten erwirken, Tatwerkzeuge oder Erträge aus Straftaten sicherstellen und sogar Festnahmen anordnen. Auf Empfehlung eines Delegierten Europäischen Staatsanwalts können Ständige Kammern der EUStA beschließen, dass Anklage vor einem nationalen Gericht erhoben wird. Die EUStA nimmt vor den zuständigen Gerichten der Mitgliedstaaten die Aufgaben der nationalen Staatsanwaltschaft wahr. Die EUStA ist an die GRCh gebunden und hat die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Verhältnismäßigkeit zu beachten.

NEUE RECHTE SEITE

_____ 359 Zur Definition vgl Art 2 Ziff 3 VO 2017/1939, ABl 2017 L 283/1. 360 Art 86 AEUV. Stefan Storr

§ 10 Verstärkte Zusammenarbeit | 745

Walter Obwexer

§ 10 Verstärkte Zusammenarbeit § 10 Verstärkte Zusammenarbeit Walter Obwexer § 10 Verstärkte Zusammenarbeit https://doi.org/10.1515/9783110498349-010

Gliederungsübersicht I. Entstehung und Konzept der „Flexibilität“ 1. Entwicklung 2. Kategorien flexibler Integration a) Abgestufte Integration b) Differenzierte Integration c) Europa à la carte 3. Unionsrechtsinterne und unionsrechtsexterne Flexibilität II. Verankerung einer Verstärkten Zusammenarbeit im EU-Primärrecht 1. Institutionalisierung mit dem Vertrag von Amsterdam 2. Weiterentwicklung mit dem Vertrag von Nizza 3. Modifikation durch den Vertrag von Lissabon 4. Geltende Rechtsgrundlagen III. Grundsätze der Verstärkten Zusammenarbeit 1. Allgemeine Vorgaben 2. Materiell-rechtliche Voraussetzungen a) Wahrung der Zuständigkeiten der Union b) Förderung der Union c) Beachtung der Verträge und des Rechts der Union d) Wahrung des Binnenmarkts sowie der wirtschaftlich-sozialen Kohäsion e) Beschränkungs- und Diskriminierungsverbot f) Mindestbeteiligung g) Gegenseitige Rücksichtnahme h) Grundsatz der Offenheit 3. Ultima ratio-Charakter 4. Offenheit für alle Mitgliedstaaten 5. Begründung einer Verstärkten Zusammenarbeit a) Allgemeines Verfahren b) Besonderes Verfahren c) Sonderverfahren 6. Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit a) Rechtsetzungsverfahren mit Beschlussfassung im Rat b) Rechtswirkungen und Rechtsnatur der Rechtsakte c) Finanzierung d) Loyalitätsgebot e) Brückenklauseln 7. Beteiligung an einer Verstärkten Zusammenarbeit 8. Kohärenzgebot 9. Justiziabilität IV. Konkrete Anwendung der Verstärkten Zusammenarbeit 1. Eherecht 2. Einheitlicher Patentschutz 3. Finanztransaktionssteuer 4. Güterstände internationaler Paare

Walter Obwexer https://doi.org/10.1515/9783110498349-010

Rn 1 2 4 6 7 8 9 12 13 15 16 17 22 22 29 30 33 35 38 40 42 44 47 49 52 57 58 59 60 63 64 69 72 75 77 79 83 85 88 90 93 98 102

746 | § 10 Verstärkte Zusammenarbeit

V.

5. Europäische Staatsanwaltschaft Schlussbetrachtungen

106 109

Spezialschrifttum Becker, Ulrich Differenzierungen der Rechtseinheit durch „abgestufte Integration“, in Schwarze, Jürgen (Hrsg) Europäische Rechtseinheit durch einheitliche Rechtsdurchsetzung, 1998, S 29; Böttner, Robert Eine Idee lernt laufen – zur Praxis der Verstärkten Zusammenarbeit nach Lissabon, ZEuS 2017, 501; Brackhane, Birgit Differenzierte Integration im Recht der Europäischen Union, 2008; Breuss, Fritz/Griller, Stefan (Hrsg) Flexible Integration in Europa, 1998; Cach, Christopher Die Verstärkte Zusammenarbeit und ihre Bedeutung für die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft, EuR 2014, 716; Ehlermann, Claus Dieter (Hrsg) Der rechtliche Rahmen eines Europas in mehreren Geschwindigkeiten und unterschiedlichen Gruppierungen, 1999; Eppler, Annegret Flexible Integration zwischen integrativem Fort- und Rückschritt, integration 2017, 207; Grieser, Veronika Flexible Integration in der Europäischen Union: Neue Dynamik oder Gefährdung der Rechtseinheit?, 2003; Hatje, Armin (Hrsg) Die Einheit des Unionsrechts im Zeichen der Krise, EuR 2013, Beiheft 2; Jäger, Thomas Nach l’Europa à la carte nun la loi europèenne à la carte? Zur Erlaubnis der Umgehung der Unionsmethode nach dem Urteil in Rs. C-146/13 ua, EuR 2015, 461; Kugelmann, Dieter „Kerneuropa“ und der EU-Außenminister. Die verstärkte Zusammenarbeit in der GASP, EuR 2004, 322; Martenczuk, Bernd Die differenzierte Integration und die föderale Struktur der Europäischen Union, EuR 2000, 351; Obwexer, Walter Differenzierte Integration als Strategie zur Sicherung der Einheit der Union?, in Folz, Hans-Peter/Isak, Hubert/Kumin, Andreas (Hrsg) Homogenität und/oder Desintegration? Beiträge zum 15. Österreichischen Europarechtstag 2015, 2017, S 9; Thym, Daniel Ungleichzeitigkeit und Europäisches Verfassungsrecht, 2004; Thomale, Chris Verstärkte Zusammenarbeit als Einigungsersatz? – Eine Gegenrede am Beispiel des Europäischen Privat- und Gesellschaftsrechts, ZEuP 2015, 517; Tsatsos, Dimitirs Th (Hrsg) Verstärkte Zusammenarbeit – flexible Institutionen oder Gefährdung der Integration?, 1999; Wessels, Wolfgang/Gerards, Carsten The Implementation of Enhanced Cooperation in the European Union, Study requested by AFCO committe, 2018. Leitentscheidungen EuGH, Gutachten 1/09 – Patentgerichtssystem; verb Rs C-274/11 und C-295/11 – Spanien und Italien / Rat; Rs C-370/12 – Pringle; Rs C-209/13 – Vereinigtes Königreich / Rat; Rs C-146/13 – Spanien / Europäisches Parlament und Rat; Rs C-147/13 – Spanien / Rat.

I. Entstehung und Konzept der „Flexibilität“ I. Entstehung und Konzept der „Flexibilität“ 1 Der europäische Integrationsprozess – beginnend mit der Gründung der Europäi-

schen Gemeinschaften und der Schaffung von Gemeinschaftsrecht, inzwischen angelangt bei der Europäischen Union und dem Erlass von Unionsrecht – beruht auf dem Grundsatz der Einheit. Dieser legt nahe, dass nur ein gemeinsames Vorgehen auf der Grundlage gemeinsamen Rechts die Funktionsfähigkeit des Integrationsgebildes auf Dauer zu sichern vermag. Mit der fortschreitenden Vertiefung und der sich rasch entwickelnden Erweiterung der Integration traten jedoch unterschiedliche Integrationsvorstellungen zu Tage, die insbesondere in Krisenzeiten virulent wurden. Zur Überwindung der heterogenen Positionen bei gleichzeitiger Weiterführung des Integrationsprozesses wurden Ausnahmen vom Grundsatz der Einheit zugelassen und Differenzierungen zwischen den Mitgliedstaaten (sowohl innerhalb Walter Obwexer

I. Entstehung und Konzept der „Flexibilität“ | 747

als auch außerhalb des Integrationsgebildes) erlaubt. Diese Entwicklungen wurden und werden überwiegend als differenzierte, flexible oder abgestufte Integration bezeichnet.1

1. Entwicklung Ausgehend vom sog Tindemans-Bericht (1975),2 in dem erstmals die Möglichkeit ei- 2 ner Abstufung der europäischen Integration in Erwägung gezogen wurde, fand die Diskussion über eine flexible Integration Anfang der 1980er Jahre Eingang in die Lehre3 und gewann Anfang der 1990er Jahre im Kontext der Beitrittsoption für die mittel- und osteuropäischen Staaten erneut an Intensität. Im Hinblick auf die angestrebte Erweiterung der EU auf 25 oder mehr Mitgliedstaaten wurden Zweifel an der bisherigen Integrationsmethode Jean Monnets – der zufolge Entscheidungen über die Weiterentwicklung der Integration von allen Mitgliedstaaten gemeinsam gefällt und auch von allen gleichzeitig angewendet werden müssen4 – laut. Die aus einer derartigen Erweiterung resultierende deutliche Erhöhung der politischen und wirtschaftlichen Heterogenität innerhalb der EU drohte nämlich zu einer Stagnation im fortschreitenden Prozess der weiteren Vertiefung zu führen. Deshalb sollten – abweichend vom Einheitsmodell – alternative flexible Integrationskonzeptionen einer Gruppe von Mitgliedstaaten die Möglichkeit geben, in Teilbereichen schneller als die anderen voranzuschreiten und damit die Integration „inter se“ zu vertiefen. Auf der Grundlage eines gemeinsamen Vorschlags des deutschen Bundeskanz- 3 lers Helmut Kohl und des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac vom 6. Dezember 19955 fand die Idee der Flexibilität schließlich Berücksichtigung in der Agenda der Regierungskonferenz 1996/97. In der Folge wurde sie durch den Vertrag von Amsterdam (1997/1999) unter der Bezeichnung Verstärkte Zusammenarbeit in das primäre EU-Recht eingeführt sowie später durch den Vertrag von Nizza (2001/2003) und den Vertrag von Lissabon (2007/2009) inhaltlich modifiziert.

2. Kategorien flexibler Integration In der politischen Diskussion über eine flexible Integration wurden und werden nach 4 wie vor eine Fülle unterschiedlicher Begriffe verwendet, insbesondere „abgestufte

_____ 1 ZB Hatje/Müller-Graff EnzEuR 1/Thym § 5. 2 BullEG, Beilage 1/76. 3 Vgl zB Grabitz (Hrsg) Abgestufte Integration; Langeheine EuR 1983, 227 ff. 4 Vgl Schweitzer/Hummer/Obwexer Rn 1. 5 Kohl/Chirac Déclaration du Chancelier Helmut Kohl et du Président Jacques Chirac au Président du Conseil européen du 6 décembre 1995; http://www.europa.eu.int/en/agenda/igc-home/ms-doc/ state-fr/kohl.html; vgl auch http://www.cvce.eu. Walter Obwexer

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Integration“, „differenzierte Integration“, „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“, „Europa der konzentrischen Kreise“, „Kerneuropa“, „Avantgarde“, „Europe à la carte“, „Europe à géometrie variable“, „graduated integration“ und „variable integration“.6 Mit diesen unterschiedlichen Begriffen werden unterschiedliche Bedeutungsin5 halte bezeichnet, die sich – mit einem Teil der Lehre7 – idealtypisch in drei Modelle gliedern lassen. Gemeinsam ist allen Modellen eine Binnendifferenzierung, die es einem oder mehreren Mitgliedstaaten erlaubt, an einem Integrationsschritt nicht teilzunehmen.

a) Abgestufte Integration 6 Im Modell der abgestuften Integration mit dem Leitbild eines Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten schreiten einige der EU-Mitgliedstaaten nach gemeinsam bestimmten Vorgaben in einzelnen Politikfeldern weiter voran, wobei das angestrebte Ziel ein gemeinsames ist. Die zu diesem Zeitpunkt integrationsunwilligen bzw -unfähigen Mitgliedstaaten sollen zu einem späteren Zeitpunkt nachfolgen, und die Mitglieder der Teilgruppe sollen wieder zur vollständigen Integration zurückkehren. Die Abstufung bezieht sich daher lediglich auf die Geschwindigkeit, mit der das von allen Mitgliedstaaten zu erreichende einheitliche Endziel angestrebt wird. Der bloß zeitlich gestaffelten Erreichung gemeinsamer Integrationsziele wohnt dementsprechend kein desintegrativer Zug inne.

b) Differenzierte Integration 7 Im Modell der differenzierten Integration schreiten einige Mitgliedstaaten auch ge-

gen den Widerstand der integrationsunwilligen bzw -unfähigen Mitgliedstaaten voran und bilden unter sich vertiefte Integrationskerne mit jeweils unterschiedlichen Teilnehmern. Die Teilnehmer dieser Integrationskerne bestimmen Regeln, Ziel und Tempo in den betroffenen Politikbereichen, ohne Mitentscheidungsrechte der daran nicht beteiligten Mitgliedstaaten, denen allerdings die Teilnahme daran grundsätzlich offensteht. Bei der differenzierten Integration kommt es dementsprechend nicht zur Verfolgung eines gemeinsamen Integrationsziels, sondern zu funktional unterschiedlichen Teilintegrationen („variable Geometrie Europas“), die allerdings eine mehr oder minder große (einheitliche) Schnittmenge aufweisen, die den allen Integrationskernen gemeinsamen Integrationsbereich repräsentiert („Europa der konzentrischen Kreise“). Die differenzierte Integration akzeptiert dauerhaf-

_____ 6 Vgl zB Schwarze/Hatje Art 20 EUV Rn 5 ff; Thym EuR 2013, Beiheft 2, 23 ff. 7 Zu den verschiedenen Modellen vgl zB Thym passim; siehe auch Decker/Höreth/Emmanoulidis S 344; Nettesheim EuR 2013, Beiheft 2, 7 (13 f). Walter Obwexer

I. Entstehung und Konzept der „Flexibilität“ | 749

te und unabänderliche Unterschiede innerhalb der integrativen Struktur, führt zu einer anhaltenden Trennung zwischen einer Kerngruppe von Staaten und weniger entwickelten Integrationskreisen und ist dementsprechend integrationspolitisch nicht unbedenklich.

c) Europa à la carte Anders als die Ansätze der abgestuften und der differenzierten Integration, die 8 im Prinzip den EU-Besitzstand erhalten und den Stand der Integration zumindest in Teilbereichen und durch eine begrenzte Zahl von Mitgliedstaaten vertiefen wollen, wird im Modell eines Europa à la carte den einzelnen Mitgliedstaaten die Wahlfreiheit darüber zugestanden, in welchen Politikbereichen sie auf EUEbene partizipieren wollen und in welchen nicht. In Form von opting outs bzw opting ins einzelner Mitgliedstaaten hat das Konzept eines Europa à la carte bereits ansatzweise Eingang in verschiedene Politikbereiche der EU gefunden. Beispiele dafür sind das Protokoll über die Sozialpolitik und das SchengenProtokoll. Ersteres wurde mit dem Vertrag von Maastricht (1992/1993) dem EGVertrag beigefügt8 und mit dem Vertrag von Amsterdam (1997/1999) wieder aufgehoben.9 Letzteres wurde mit dem Vertrag von Amsterdam dem EU- und dem EGVertrag beigefügt10 und ist nach wie vor in Kraft.11 Das Konzept eines Europa à la carte ist integrationspolitisch eindeutig negativ besetzt, weil es zu einer schwer steuerbaren Zersplitterung der EU führt, die Spaltungstendenzen nach sich ziehen könnte.

3. Unionsrechtsinterne und unionsrechtsexterne Flexibilität In der EU ist – unabhängig vom jeweiligen Konzept der Flexibilität – danach zu 9 differenzieren, ob der betreffende Integrationsschritt im Unionsrecht vorgesehen ist (unionsrechtsinterne Flexibilität) oder außerhalb des Unionsrechts erfolgt (unionsrechtsexterne Flexibilität).12 Die unionsrechtsinterne Flexibilität unterfällt dem Unionsrecht, die unionsrechtsexterne Flexibilität ist dem Völkerrecht zuzuordnen. Im Rahmen der unionsrechtsinternen Flexibilität ist zwischen den im primä- 10 ren Unionsrecht selbst ausgeformten Konstellationen und den primärrechtlich le-

_____ 8 ABl 1992 C 191/90; vgl ABl 1992 C 224/126. 9 Art 2 Ziff 58 AV, ABl 1997 C 340/50. 10 ABl 1997 C 340/93. 11 ABl 2016 C 202/290. 12 Vgl Pechstein EuR 2013, Beiheft 2, 71 (74). Walter Obwexer

750 | § 10 Verstärkte Zusammenarbeit

diglich als Option vorgesehenen und vorstrukturierten Formen zu unterscheiden. Zu ersteren Konstellationen gehören die Wirtschafts- und Währungsunion,13 der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts14 und das Schengener System,15 zu letzteren Formen die Verstärkte Zusammenarbeit und die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit im Bereich der GASP (Art 42 VI und Art 46 EUV). Die unionsrechtsexterne Flexibilität wurde zuletzt bei der Bekämpfung der 11 Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise in Anspruch genommen. So wurden 2012 der Vertrag zur Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag) von den damals 17 Euro-Staaten und der Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (VSKS bzw Fiskalpakt) von insgesamt 25 Mitgliedstaaten als völkerrechtliche Verträge außerhalb des Unionsrechts abgeschlossen.16 Beide Verträge dienen der Verwirklichung von unionsrechtlichen Zielen. Auch wenn sie mit dem Unionsrecht vereinbar sein müssen, wirken sie sich dennoch auf dieses aus. II. Verankerung einer Verstärkten Zusammenarbeit im EU-Primärrecht II. Verankerung einer Verstärkten Zusammenarbeit im EU-Primärrecht 12 Die politischen Diskussionen über die Einführung einer flexiblen Integration erfolg-

ten im Spannungsfeld zwischen Integrationsfortschritt durch integrationswillige Mitgliedstaaten einerseits und Rechtseinheit in der EU andererseits.

1. Institutionalisierung mit dem Vertrag von Amsterdam 13 In der Regierungskonferenz 1996/97 war die Möglichkeit einer engeren Zusammenarbeit einzelner Mitgliedstaaten im Rahmen der EU eines der zentralen Themen. Damit sollte dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Weiterentwicklung der EU nicht immer in allen Bereichen von der Gesamtheit der Mitgliedstaaten mitgetragen werden kann oder will. Eine derartige Flexibilität iSe engeren Zusammenarbeit bloß einiger (weniger) Mitgliedstaaten durfte aber andererseits den Prozess der europäischen Integration nicht unterlaufen und den EU-Besitzstand nicht schwächen. Im Laufe der Verhandlungen gelang es, die widerstreitenden Interessen in ei14 nem neuen Instrument zusammenzuführen. Dieses wurde mit dem Vertrag von Amsterdam (1997/1999) als „Verstärkte Zusammenarbeit“ institutionalisiert. Dabei wurden allgemeine Vorgaben für die gesamte EU festgelegt sowie spezifische Re-

_____ 13 14 15 16

S unten Rn 26. S unten Rn 27. S unten Rn 28. Vgl zB Obwexer ZöR 2012, 209 ff. Walter Obwexer

II. Verankerung einer Verstärkten Zusammenarbeit im EU-Primärrecht | 751

gelungen für die Erste Säule (EG) und für die Dritte Säule der EU (PJZS) verankert. In der Zweiten Säule der EU (GASP) war keine Verstärkte Zusammenarbeit vorgesehen.

2. Weiterentwicklung mit dem Vertrag von Nizza Mit dem Vertrag von Nizza (2001/2003) wurde die Verstärkte Zusammenarbeit im 15 Hinblick auf die bevorstehende Erweiterung der EU vereinfacht, erleichtert und auf alle drei Säulen der EU, also auch auf die GASP in der Zweiten Säule, ausgedehnt. Dennoch wurde davon – zumindest zunächst – kein Gebrauch gemacht.

3. Modifikation durch den Vertrag von Lissabon Mit dem Vertrag von Lissabon (2007/2009) erfuhr die Verstärkte Zusammenarbeit 16 keine signifikanten Änderungen. Inhaltlich wurde sie nochmals erleichtert und auf alle Bereiche nicht ausschließlicher Zuständigkeit der EU erstreckt. Formal wurden die einschlägigen Bestimmungen der Abschaffung der Säulenstruktur der EU17 bei gleichzeitiger Beibehaltung von Sonderregelungen für die GASP einschließlich der GSVP angepasst.

4. Geltende Rechtsgrundlagen Die Verstärkte Zusammenarbeit ist nunmehr im EU-Vertrag (Art 20 EUV) grundgelegt und wird im AEU-Vertrag (Art 326–Art 334 AEUV) näher ausgeführt. Art 20 EUV normiert im Wesentlichen die allgemeinen Bedingungen und die Grundsätze für die Begründung einer Verstärkten Zusammenarbeit. In Art 326–Art 334 AEUV sind primär die Verfahren zur Einrichtung und zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit sowie betreffend den Beitritt zu einer solchen geregelt. Ebenso finden sich dort aber auch zusätzliche Grundsätze für die Begründung einer Verstärkten Zusammenarbeit. Das im primären Unionsrecht verankerte Konzept der Verstärkten Zusammenarbeit entspricht keinem der drei idealtypischen Modelle, sondern stellt eine Mischform derselben dar, wobei allerdings die Konzeption einer differenzierten Integration18 überwiegt. Der Begriff „Verstärkte Zusammenarbeit“ wird in der Praxis mit unterschiedlichem Inhalt verwendet. Groß geschrieben („Verstärkte Zusammenarbeit“) bezeichnet er das Instrument der Flexibilität, klein geschrieben („verstärkte Zusammenar-

_____ 17 Vgl zB Hummer/Obwexer/Obwexer S 106 ff. 18 S oben Rn 7. Walter Obwexer

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beit“) wird damit auf eine engere und verbesserte Kooperation aller Mitgliedstaaten innerhalb der EU19 oder der EU selbst mit dritten Staaten und/oder internationalen Organisationen20 abgestellt. III. Grundsätze der Verstärkten Zusammenarbeit III. Grundsätze der Verstärkten Zusammenarbeit 1. Allgemeine Vorgaben 22 Gem Art 20 I UAbs 1 EUV können die Mitgliedstaaten, die beabsichtigen, untereinander eine Verstärkte Zusammenarbeit zu begründen, die Organe der EU in Anspruch nehmen und die nicht ausschließlichen Zuständigkeiten der Union unter Anwendung der einschlägigen Bestimmungen der Verträge ausüben. Dies eröffnet jenen Mitgliedstaaten, die in einem bestimmten Bereich der Integration schneller vorangehen wollen, die Möglichkeit, dies zu tun, ohne auf die anderen Mitgliedstaaten warten zu müssen, die dazu noch nicht bereit oder in der Lage sind. Dabei müssen sie die einschlägigen Bestimmungen der Verträge anwenden und dem folgend die darin vorgesehenen Organe, Rechtsakte und Verfahrensvorschriften der EU in Anspruch nehmen (unionsrechtsinterne Flexibilität). Eine Verpflichtung, die gegenständliche Möglichkeit supranationaler Integra23 tion zu nutzen, besteht allerdings nicht (arg: „können“ in Art 20 I EUV). Die Einführung der Verstärkten Zusammenarbeit verfolgte zwar das politische Ziel, einem Ausbrechen der Mitgliedstaaten aus dem EU-Rahmen vorzubeugen, indem ihnen eine supranationale Alternative zu einer intergouvernementalen Zusammenarbeit in Form von „Satellitenverträgen“ angeboten wird. Rechtlich zwingend ist die Aktivierung dieser Möglichkeit jedoch wohl nicht. Der EuGH musste sich zu dieser Rechtsfrage bislang (noch) nicht äußern. Im Pringle-Urteil zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) konnte er es bei der schlichten Feststellung belassen, dass ein Rückgriff auf die Verstärkte Zusammenarbeit eine entsprechende Zuständigkeit der Union voraussetzt, die Verträge ihr aber keine spezifische Zuständigkeit für die Schaffung eines permanenten Stabilitätsmechanismus wie des ESM verleihen.21

_____ 19 Vgl zB Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.2.2006 über die verstärkte europäische Zusammenarbeit zur Qualitätssicherung in der Hochschulbildung, ABl 2006 L 64/60; Schlussfolgerungen des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten zu den Prioritäten einer verstärkten europäischen Zusammenarbeit bei der beruflichen Bildung im Zeitraum 2001–2020, ABl 2010 C 324/5. 20 Vgl zB Beschluss 2013/36 des Rates vom 29.10.2012 über die Unterzeichnung im Namen der Europäischen Union und die vorläufige Anwendung der Vereinbarung zur Schaffung eines allgemeinen Rahmens für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Organisation zur Sicherung der Luftfahrt, ABl 2013 L 16/1. 21 EuGH, Rs C-370/12 – Pringle, Rn 166 ff. Walter Obwexer

III. Grundsätze der Verstärkten Zusammenarbeit | 753

Dem folgend dürfen mehrere Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer eigenen Kompetenzen auch außerhalb des institutionellen Rahmens der EU untereinander enger zusammenarbeiten, müssen dabei aber das geltende Unionsrecht beachten (unionsrechtsexterne Flexibilität).22 Von der – im Primärrecht lediglich als Möglichkeit vorgesehenen – Verstärkten Zusammenarbeit zu trennen sind die im primären Unionsrecht verankerten Fälle flexibler Integration. Diese betreffen insbesondere die Wirtschafts- und Währungsunion, den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sowie das Schengener System. In der Wirtschafts- und Währungsunion (Dritter Teil Titel VIII AEUV) ist das Vereinigte Königreich nicht verpflichtet, den Euro einzuführen, sofern es dem Rat nicht seine entsprechende Absicht notifiziert. Von den einschlägigen Vertragsbestimmungen gelten nur einige wenige für das Vereinigte Königreich, das diesbezüglich als Mitgliedstaat, für den eine Ausnahmeregelung gilt, angesehen wird. Das gegenständliche Opt out des Vereinigten Königreichs ist im Protokoll (Nr 15) über einige Bestimmungen betreffend das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland23 geregelt. Für Dänemark gilt eine Freistellung von der Verpflichtung, an der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion teilzunehmen. Diese hat nach dem Protokoll (Nr 16) über einige Bestimmungen betreffend Dänemark24 zur Folge, dass alle eine Ausnahmeregelung betreffenden Bestimmungen der Verträge und der Satzung des ESZB und der EZB auf Dänemark Anwendung finden. Im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gelten Opt outs für das Vereinigte Königreich und für Irland sowie für Dänemark. Nach dem Protokoll (Nr 21) über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts25 beteiligen sich beide Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht an der Annahme von Maßnahmen durch den Rat, die nach dem Dritten Teil Titel V AEUV vorgeschlagen werden. Innerhalb von drei Monaten nach Vorlage des Vorschlags kann jedoch jeder der beiden Mitgliedstaaten dem Präsidenten des Rates schriftlich mitteilen, dass er sich an der Annahme und Anwendung der betreffenden Maßnahme beteiligen möchte. Die Teilnahme ist zu gestatten, darf aber die Annahme der betreffenden Maßnahme innerhalb eines angemessenen Zeitraums nicht verhindern. Dänemark beteiligt sich gemäß Protokoll (Nr 22) über die Position Dänemarks26 nicht an der Annahme von Maßnahmen durch den Rat, die auf den Dritten Teil Titel V AEUV gestützt sind. Es kann innerhalb von sechs Monaten nach der Beschlussfassung des Rates beschließen, die betreffende

_____ 22 23 24 25 26

So auch Calliess/Ruffert/Ruffert Art 20 EUV Rn 22 mwN. ABl 2016 C 202/284. ABl 2016 C 202/287. ABl 2016 C 202/295. ABl 2016 C 202/298.

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Maßnahme – sofern sie den Schengen-Besitzstand ergänzt – in innerstaatliches Recht umzusetzen. In diesem Fall begründet die betreffende Maßnahme eine völkerrechtliche Verpflichtung zwischen Dänemark und den übrigen Mitgliedstaaten, bindet Dänemark aber nicht als Teil des Unionsrechts. Für das Schengener System beinhaltet das Protokoll (Nr 19) über den in den 28 Rahmen der EU einbezogenen Schengen-Besitzstand27 eine primärrechtliche Ermächtigung für insgesamt 26 Mitgliedstaaten (Schengen-Staaten), untereinander eine Verstärkte Zusammenarbeit in den vom Schengen-Besitzstand erfassten Bereichen zu begründen (Art 1 Prot Nr 19). Die beiden anderen Mitgliedstaaten, Irland und das Vereinigte Königreich, können jederzeit beantragen, sich an einzelnen oder allen Bestimmungen des Schengen-Besitzstands zu beteiligen (Art 4 I Prot Nr 19). Eine derartige Beteiligung muss im betroffenen Sachbereich mit allen Rechten und Pflichten erfolgen und umfasst nicht begrenzte Formen der Zusammenarbeit.28 Eine Beteiligung ist Voraussetzung, damit einer oder beide dieser Staaten sich an der Annahme einer Maßnahme zur Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands beteiligen können (Art 5 I Prot Nr 19).29

2. Materiell-rechtliche Voraussetzungen 29 Die Begründung einer Verstärkten Zusammenarbeit unterliegt strengen Vorausset-

zungen, in denen die dargestellten integrationspolitischen Spannungen zum Ausdruck kommen. Diese Voraussetzungen sind zum Teil im EU-Vertrag und zum Teil im AEU-Vertrag niedergelegt. Sie müssen alle kumulativ erfüllt sein, damit die Ermächtigung für eine Verstärkte Zusammenarbeit erteilt werden kann.

a) Wahrung der Zuständigkeiten der Union 30 Eine Verstärkte Zusammenarbeit muss zunächst im Rahmen der in den Verträgen

vorgesehenen Zuständigkeiten der EU bleiben und darf sich nicht auf Bereiche erstrecken, die in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fallen (Art 20 I UAbs 1 EUV). Demnach ist eine Verstärkte Zusammenarbeit nicht zulässig, wenn sie sich außerhalb der Zuständigkeitsbereiche der EU bewegt oder in Bereiche ausschließlicher Zuständigkeit der Union eingreift. Diese Vorgabe bedeutet zum einen, dass durch die Verstärkte Zusammenar31 beit der Kompetenzrahmen der EU nicht überschritten werden darf. Eine Verstärkte Zusammenarbeit kann nur dann begründet werden, „wenn die Union selbst

_____ 27 ABl 2016 C 202/290. 28 EuGH, Rs C-44/14 – Spanien / Parlament und Rat. 29 EuGH, Rs C-77/05 – Großbritannien / Rat, Rn 60 ff. Walter Obwexer

III. Grundsätze der Verstärkten Zusammenarbeit | 755

befugt ist, in dem von dieser Zusammenarbeit betroffenen Bereich tätig zu werden“.30 Zum anderen ist eine Verstärkte Zusammenarbeit ausgeschlossen, wenn sie Be- 32 reiche ausschließlicher Zuständigkeit der EU betrifft.31 Zu diesen zählen ua die für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsregeln im Dritten Teil Titel VII Kap 1 (Art 101 bis Art 109) AEUV, nicht aber der Bereich „Binnenmarkt“, der zur geteilten Zuständigkeit der EU gehört. Letzterer ist dabei nicht auf die Zuständigkeiten beschränkt, die durch Art 114 und Art 115 AEUV über den Erlass von Harmonisierungsmaßnahmen verliehen werden, sondern umfasst jede Zuständigkeit, die mit den in Art 26 AEUV genannten Zielen verknüpft ist, wie dies etwa bei den der EU in Art 118 AEUV verliehenen Zuständigkeiten zur Schaffung europäischer Rechtstitel über einen einheitlichen Schutz der Rechte des geistigen Eigentums der Fall ist.32

b) Förderung der Union Weiters muss eine Verstärkte Zusammenarbeit darauf ausgerichtet sein, die Ziele 33 der EU zu fördern, ihre Interessen zu schützen und ihren Integrationsprozess zu stärken (Art 20 I UAbs 2 EUV). Diese Ausrichtung auf die Ziele der EU soll sicherstellen, dass die voranschrei- 34 tenden Mitgliedstaaten eine von allen Mitgliedstaaten akzeptierte Richtung einschlagen und vom gemeinsam akkordierten Integrationsprogramm nicht abweichen. Zugleich lässt sich darin ein Rückschrittsverbot sehen.33 Demnach dürfen die enger zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten im betroffenen Politikbereich nicht unter das Niveau des für alle Mitgliedstaaten geltenden EU-Besitzstands fallen.

c) Beachtung der Verträge und des Rechts der Union Darüber hinaus muss eine Verstärkte Zusammenarbeit die Verträge und das Recht 35 der Union achten (Art 326 I AEUV). Dazu zählen auf primärrechtlicher Ebene nicht nur die – explizit erwähnten – Verträge, sondern auch die Grundrechte-Charta und die (ungeschriebenen) allgemeinen Rechtsgrundsätze. Ebenso umfasst ist das auf der Grundlage des primären Unionrechts erlassene sekundäre Unionsrecht. Das Unionsrecht ist in seiner Gesamtheit und nicht bloß beschränkt auf seine Grundsätze zu achten. Zu beachten ist neben anderen Bestimmungen der Verträge

_____ 30 31 32 33

EuGH, Rs C-370/12 – Pringle, Rn 167. EuGH, verb Rs C-274/11 und C-295/11 – Spanien und Italien / Rat, Rn 17 ff. EuGH, verb Rs C-274/11 und C-295/11 – Spanien und Italien / Rat, Rn 21. Calliess/Ruffert/Ruffert Art 20 EUV Rn 17.

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756 | § 10 Verstärkte Zusammenarbeit

auch jene Bestimmung, die im konkreten Fall die Zuständigkeit der EU begründet.34 Ebenso zu beachten ist der gesamte Schengen-Besitzstand, der Teil des Unionsrechts ist. Dies gilt sowohl bei der Begründung einer Verstärkten Zusammenarbeit als 36 auch bei deren Durchführung. Daraus folgt, dass die im Rahmen einer Verstärkten Zusammenarbeit erlassenen Sekundärrechtsakte nicht nur mit dem primären Unionsrecht vereinbar sein müssen, sondern auch die für alle Mitgliedstaaten geltenden Sekundärrechtsakte zu beachten haben.35 Zum einzuhaltenden Unionsrecht zählt ua der einheitliche institutionelle 37 Rahmen iSv Art 13 EUV. Daher muss sich jede Verstärkte Zusammenarbeit innerhalb des institutionellen Gefüges der Union abspielen. Eine institutionelle Verselbständigung ist ausgeschlossen.

d) Wahrung des Binnenmarkts sowie der wirtschaftlich-sozialen Kohäsion 38 Zusätzlich darf eine Verstärkte Zusammenarbeit weder den Binnenmarkt (Art 26 II

AEUV) noch den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt (Titel XVIII AEUV) beeinträchtigen (Art 326 II 1 AEUV). Diese Vorgabe ergänzt jene betreffend die Beachtung des Rechts der Union36 39 und jene betreffend die Wahrung der Zuständigkeiten der EU.37 Sie ergibt nur dann Sinn, wenn sie über Letztere hinausgeht. Dies bedeutet, dass der Binnenmarkt sowie die wirtschaftliche, soziale und territoriale Kohäsion einen besonderen Schutz genießen.

e) Beschränkungs- und Diskriminierungsverbot 40 Ebenso darf eine Verstärkte Zusammenarbeit für den zwischenstaatlichen Handel

weder ein Hindernis noch eine Diskriminierung darstellen und den Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten nicht verzerren (Art 326 II 2 AEUV). Diese Vorgabe stellt die strengsten Anforderungen an eine Verstärkte Zu41 sammenarbeit, da Sonderregelungen zwischen einzelnen Mitgliedstaaten leicht zu Behinderungen im Wirtschaftsverkehr führen können. Andererseits darf die gegenständliche Vorgabe eine Verstärkte Zusammenarbeit nicht von vornherein unmöglich machen.

_____ 34 35 36 37

EuGH, verb Rs C-274/11 und C-295/11 – Spanien und Italien / Rat, Rn 66. Vgl EuGH, Rs C-503/03 – Kommission / Spanien, Rn 34 f. S oben Rn 35 ff. S oben Rn 30 ff. Walter Obwexer

III. Grundsätze der Verstärkten Zusammenarbeit | 757

f) Mindestbeteiligung Des Weiteren müssen an einer Verstärkten Zusammenarbeit mindestens neun Mit- 42 gliedstaaten beteiligt sein (Art 20 II EUV). Diese Mindestzahl soll die Bildung kleiner, besonders enger Kreise verhindern. 43 Dabei handelt es sich um eine statische Größe, die im Zuge künftiger Erweiterungen der EU grundsätzlich unverändert bleibt. Dies zeigt der Beitritt Kroatiens am 1. Juli 2013, der für Art 20 II EUV keine Änderung brachte. Auch die vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon geltende Mindestzahl von acht Mitgliedstaaten (Art 43 lit g EUV/Nizza) war unverändert beibehalten worden, obwohl am 1. Mai 2004 insgesamt zehn Mitgliedstaaten und am 1. Jänner 2007 mit Bulgarien und Rumänien zwei weitere Mitgliedstaaten der EU beigetreten sind.

g) Gegenseitige Rücksichtnahme Hinzu kommt, dass eine Verstärkte Zusammenarbeit die Zuständigkeiten, Rechte 44 und Pflichten der nicht an der Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten beachten muss (Art 327 S 1 AEUV). Dieser Sicherung der Rechte und Pflichten der nicht beteiligten Mitgliedstaaten 45 steht deren Verpflichtung gegenüber, die Durchführung der Verstärkten Zusammenarbeit nicht zu behindern (Art 327 S 2 AEUV). Beide Verpflichtungen zusammengenommen ergeben ein Gebot gegenseitiger 46 Rücksichtnahme, das eine besondere Ausprägung des Loyalitätsgebots in Art 4 III EUV darstellt.

h) Grundsatz der Offenheit Schließlich muss eine Verstärkte Zusammenarbeit allen Mitgliedstaaten jederzeit 47 offen stehen (Art 20 I EUV). Diese Vorgabe wird in Art 328 AEUV konkretisiert.38 Daraus folgt, dass eine Verstärkte Zusammenarbeit bereits bei ihrer Begrün- 48 dung und nachfolgend zu jedem späteren Zeitpunkt allen daran nicht beteiligten Mitgliedstaaten eine Teilnahme zu gleichen Bedingungen ermöglichen muss. Auf diese Weise soll die Einheit der Integration und des Unionsrechts iSe „Gleichzeitigkeit“ möglichst erhalten bleiben.39

3. Ultima ratio-Charakter Eine Verstärkte Zusammenarbeit kann nur als letztes Mittel begründet werden 49 (Art 20 II EUV). Dies ist dann der Fall, wenn die mit dieser Zusammenarbeit ange-

_____ 38 S unten Rn 52 ff. 39 Thym passim. Walter Obwexer

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strebten Ziele unter Anwendung der einschlägigen Bestimmungen der Verträge von der EU in ihrer Gesamtheit nicht „innerhalb eines vertretbaren Zeitraums“ verwirklicht werden können. Ob und wann das zutrifft, hat der Rat zu entscheiden. Die Kriterien für die Entscheidung des Rates werden in Art 20 EUV allerdings 50 nicht genannt. Demnach verfügt der Rat über einen weiten Ermessenspielraum.40 In der Praxis stellte er bislang auf „unüberwindbare Schwierigkeiten“ ab, die in „absehbarer Zukunft“ eine einmütige Zustimmung unmöglich machen.41 Nach der Rechtsprechung des EuGH kommt dem Ultima ratio-Charakter eine 51 besondere Bedeutung zu. Die einschlägige Bestimmung in Art 20 II EUV ist im Licht von Art 20 I UAbs 2 EUV zu sehen, wonach die Verstärkte Zusammenarbeit darauf ausgerichtet ist, die Verwirklichung der Ziele der Union zu fördern, ihre Interessen zu schützen und ihren Integrationsprozess zu stärken.42 Demnach können nur Situationen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass der Erlass einer Regelung in absehbarer Zukunft nicht möglich ist, zum Erlass eines Beschlusses über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit führen. Die Interessen der EU und der Integrationsprozess wären hingegen offensichtlich nicht gewahrt, wenn auf Kosten der Suche nach einem Kompromiss, der den Erlass einer Regelung für die Union in ihrer Gesamtheit ermöglichen würde, jede ergebnislose Verhandlung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit in einem oder mehreren Fällen führen könnte.43

4. Offenheit für alle Mitgliedstaaten 52 Der im EU-Vertrag grundgelegte Grundsatz der Offenheit der Verstärkten Zusam53

menarbeit wird im AEU-Vertrag näher ausgestaltet (Art 328 AEUV). Demnach muss eine Verstärkte Zusammenarbeit bereits bei ihrer Begründung allen Mitgliedstaaten offen stehen. Daneben kann sich jeder nicht beteiligte Mitgliedstaat zu jedem anderen (späteren) Zeitpunkt einer Verstärkten Zusammenarbeit anschließen. In ersterem Fall muss er die im Ermächtigungsbeschluss gegebenenfalls festgelegten Teilnahmevoraussetzungen erfüllen, in letzterem Fall müssen darüber hinaus auch die im Rahmen der Verstärkten Zusammenarbeit bereits erlassenen Rechtsakte beachtet werden (Art 328 I UAbs 1 AEUV).

_____ 40 Ähnlich vButtlar ZEuS 2001, 649 (665 f). 41 Vgl zB Beschluss 2010/405 des Rates vom 12.7.2010 über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts (Erwgr 4), ABl 2010 L 189/12; Beschluss 2011/167 des Rates vom 10.3.2011 über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Schaffung eines einheitlichen Patentschutzes (Erwgr 4), ABl 2011 L 76/53; S unten Rn 88 ff. 42 EuGH, verb Rs C-274/11 und C-295/11 – Spanien und Italien / Rat, Rn 48. 43 EuGH, verb Rs C-274/11 und C-295/11 – Spanien und Italien / Rat, Rn 49 f. Walter Obwexer

III. Grundsätze der Verstärkten Zusammenarbeit | 759

Ergänzend dazu haben die Kommission und die an einer Verstärkten Zusam- 54 menarbeit teilnehmenden Mitgliedstaaten dafür Sorge zu tragen, dass die Teilnahme möglichst vieler Mitgliedstaaten gefördert wird (Art 328 I UAbs 2 AEUV). Schließlich sind die Kommission und gegebenenfalls der Hohe Vertreter der 55 Union für die Außen- und Sicherheitspolitik verpflichtet, das Europäische Parlament und den Rat regelmäßig über die Entwicklung einer Verstärkten Zusammenarbeit zu unterrichten (Art 328 II AEUV). Dabei ist auch auf die Offenheit der Kooperation einzugehen. Die (spätere) Beteiligung an einer Verstärkten Zusammenarbeit ist nach den 56 dafür vorgesehenen Verfahren zu initiieren. Dabei ist zwischen dem allgemeinen Beteiligungsverfahren gem Art 331 I AEUV44 und dem besonderen Beteiligungsverfahren im Rahmen der GASP gem Art 331 II AEUV45 zu unterscheiden. Allgemein gilt, dass diejenigen Mitgliedstaaten, welche eine Verstärkte Zusammenarbeit begründet haben, die Teilnahme weiterer Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht blockieren können. Dadurch soll eine Aufsplitterung der Union in feste, unterschiedliche Gruppen verhindert und gleichzeitig gewährleistet werden, dass jede Verstärkte Zusammenarbeit einen „Sogeffekt“ ausüben und andere Mitgliedstaaten dazu veranlassen kann, sich dem höheren Integrationsniveau anzuschließen.

5. Begründung einer Verstärkten Zusammenarbeit Für die Begründung einer Verstärkten Zusammenarbeit sieht Art 329 AEUV zwei 57 unterschiedliche Verfahren vor, je nachdem, ob die beabsichtigte Zusammenarbeit allgemein einen der Bereiche der Verträge (allgemeines Verfahren) oder spezifisch die GASP betrifft (besonderes Verfahren). Daneben kann eine Verstärkte Zusammenarbeit auch in einem – auf die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen und die polizeiliche Zusammenarbeit beschränkten – Sonderverfahren begründet werden.

a) Allgemeines Verfahren Das allgemeine Verfahren findet immer dann Anwendung, wenn mehrere Mitglied- 58 staaten in einem der Bereiche der Verträge – mit Ausnahme der Bereiche, die in die ausschließliche Zuständigkeit der EU fallen, und der GASP – untereinander eine Verstärkte Zusammenarbeit begründen möchten (Art 329 I AEUV). In diesem Fall ist ein Antrag an die Kommission zu richten. Darin sind der Anwendungsbereich und die Ziele der Zusammenarbeit anzugeben. In der Folge kann die Kommission dem Rat einen entsprechenden Vorschlag für einen Ermächtigungsbeschluss vorlegen.

_____ 44 S unten Rn 80. 45 S unten Rn 81. Walter Obwexer

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Legt sie keinen entsprechenden Vorschlag vor, so hat sie den betroffenen Mitgliedstaaten die Gründe dafür mitzuteilen. Die gegenständliche Regelung beinhaltet eine Begrenzung des Initiativmonopols der Kommission, da diese nicht ohne Antrag der Mitgliedstaaten tätig werden kann. Liegt ein solcher Antrag vor, verfügt die Kommission über einen weiten Ermessenspielraum. Unterbreitet sie einen Vorschlag mit einer Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit, so bedarf dieser der Zustimmung des Europäischen Parlaments und eines Beschlusses des Rates mit qualifizierter Mehrheit.

b) Besonderes Verfahren 59 Das besondere Verfahren ist immer dann heranzuziehen, wenn mehrere Mitglied-

staaten eine Verstärkte Zusammenarbeit im Bereich der GASP begründen möchten (Art 329 II AEUV). In diesem Fall ist ein Antrag an den Rat zu richten. Er wird dem Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und der Kommission übermittelt. Ersterer hat zur Kohärenz der beabsichtigten Zusammenarbeit mit der GASP Stellung zu nehmen, Letztere insbesondere zur Kohärenz der beabsichtigten Zusammenarbeit mit der Politik der EU in anderen Bereichen. Der Antrag wird ferner dem Europäischen Parlament übermittelt, allerdings bloß zur Unterrichtung und nicht zur Anhörung (!). Über die Ermächtigung zur Einleitung einer Verstärkten Zusammenarbeit entscheidet der Rat einstimmig mit Beschluss; ein Vorschlag der Kommission oder des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik ist dafür nicht erforderlich. Dieses spezifische Verfahren, in dem der Rat Hauptakteur ist, entspricht den in der GASP nach wie vor bestehenden Besonderheiten resultierend aus dem intergouvernementalen Charakter dieser Politik.

c) Sonderverfahren 60 Das Sonderverfahren zur Begründung einer Verstärkten Zusammenarbeit ist in insgesamt vier Fällen vorgesehen. Zwei davon betreffen den Notbremse-Mechanismus im Rahmen der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, zwei die Überwindung einer Blockade eines einstimmigen Beschlusses bei der Einsetzung einer Europäischen Staatsanwaltschaft und bei der Regelung der operativen Zusammenarbeit der Polizei und sonstiger Strafverfolgungsbehörden. Der Notbremse-Mechanismus besteht beim Erlass von Richtlinien mit Min61 destvorschriften betreffend die Zulässigkeit von Beweismitteln, die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren, die Rechte der Opfer von Straftaten und sonstige spezifische Aspekte des Strafverfahrens (Art 82 II AEUV) sowie beim Erlass von Richtlinien mit Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität (Art 82 I und II AEUV). In beiden Fällen kann ein Mitglied des Rates, nach dessen Auffassung der Entwurf einer Richtlinie mit Mindestvorschriften grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung berühren würde, den Walter Obwexer

III. Grundsätze der Verstärkten Zusammenarbeit | 761

Europäischen Rat damit befassen, um eine einvernehmliche Lösung zu erreichen. Sofern kein Einvernehmen erzielt wird, mindestens neun Mitgliedstaten aber eine Verstärkte Zusammenarbeit auf der Grundlage des betreffenden Entwurfs einer Richtlinie begründen möchten, teilen diese Mitgliedstaaten dies binnen vier Monaten dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission mit. In diesem Fall gilt die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit gemäß Art 20 II EUV und Art 329 I AEUV als erteilt und die Bestimmungen über die Verstärkte Zusammenarbeit finden Anwendung. Dieses Sonderverfahren mit ex lege-Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusam- 62 menarbeit ist auch vorgesehen, wenn bei der Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft gem Art 86 I UAbs 1 AEUV weder Einstimmigkeit im Rat noch Einvernehmen im Europäischen Rat erreicht werden kann (Art 86 I UAbs 3 AEUV).46 Es kommt weiters zur Anwendung, wenn der Rat beim Erlass von Maßnahmen betreffend die operative Zusammenarbeit der Polizei und anderer Strafverfolgungsbehörden gem Art 87 III UAbs 1 AEUV keinen einstimmigen Beschluss fassen kann (Art 87 III UAbs 2 AEUV).

6. Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit Nach Begründung einer Verstärkten Zusammenarbeit dürfen die daran beteiligten 63 Mitgliedstaaten die Organe der Union in Anspruch nehmen und die von der Zusammenarbeit betroffenen Zuständigkeiten der EU unter Anwendung der einschlägigen Bestimmungen der Verträge ausüben. Dies deutet auf eine Organleihe durch die an der Verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten hin.47 Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass die Organe auch in diesem Fall für die Union handeln, allerdings räumlich beschränkt auf die an der Verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten.48 Unabhängig von der rechtlichen Zuordnung gelten für das Rechtsetzungsverfahren, die Rechtsakte, die Finanzierung, das Loyalitätsgebot der Mitgliedstaaten untereinander sowie die Dynamisierung der Zusammenarbeit Sonderregelungen.

a) Rechtsetzungsverfahren mit Beschlussfassung im Rat Ist die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit erteilt worden, so haben 64 die daran beteiligten Mitgliedstaaten die davon betroffene Zuständigkeit der EU unter Anwendung der einschlägigen Bestimmungen der Verträge auszuüben. Dies

_____ 46 S unten Rn 102 ff. 47 ZB Schwarze/Hatje Art 20 EUV Rn 31. 48 S unten Rn 69. Walter Obwexer

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gilt auch für die Wahl der Rechtsgrundlage und das daraus resultierende Rechtsetzungsverfahren. Für die Beschlussfassung im Rat ist allerdings eine Sonderregelung vorgesehen, die sich aus der gegenüber der Gesamtzahl an Mitgliedstaaten geringeren Mitgliederzahl ergibt. Gem Art 20 III EUV und Art 330 I AEUV dürfen zwar alle Mitglieder des Rates an dessen Beratungen teilnehmen, stimmberechtigt sind aber nur die Vertreter der an der Verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten. Dabei bezieht sich die Einstimmigkeit allein auf die Stimmen der Vertreter der an der Verstärkten Zusammenarbeit teilnehmenden Mitgliedstaaten (Art 330 II AEUV). Die qualifizierte Mehrheit bestimmt sich nach Art 238 III AEUV (Art 330 III AEUV). Das darin verankerte und seit 1. November 2014 geltende Lissabon-System49 definiert als (einfach) qualifizierte Mehrheit eine Mehrheit von mindestens 55% derjenigen Mitglieder des Rates, die die beteiligten (stimmberechtigten) Mitgliedstaaten vertreten, sofern diese zusammen mindestens 65% der Bevölkerung der beteiligten Mitgliedstaaten ausmachen. Für eine Sperrminorität bedarf es mindestens der Mindestzahl von Mitgliedern des Rates, die zusammen mehr als 35% der Bevölkerung der beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, zuzüglich eines Mitglieds; andernfalls gilt die qualifizierte Mehrheit als erreicht (Art 238 III lit a AEUV). Als besonders qualifizierte Mehrheit – für Beschlüsse ohne Vorschlag der Kommission oder des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik – gilt eine Mehrheit von mindestens 72% derjenigen Mitglieder des Rates, die die beteiligten (stimmberechtigten) Mitgliedstaaten vertreten, sofern die von ihnen vertretenen Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65% der Bevölkerung der beteiligten Mitgliedstaaten ausmachen (Art 238 III lit b AEUV). Für die übrigen Organe sind keine Sonderregelungen vorgesehen. Demnach agieren sowohl das Europäische Parlament, der Europäische Rat und die Kommission als auch der Gerichtshof der EU und der Rechnungshof in ihrer vollen Besetzung, also auch unter Mitwirkung der Organwalter der nicht an der Verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten.

b) Rechtswirkungen und Rechtsnatur der Rechtsakte 69 Die im Rahmen einer Verstärkten Zusammenarbeit erlassenen Rechtsakte sind – wie

die Verstärkte Zusammenarbeit selbst – Teil des Unionsrechts. Sie binden allerdings nur die daran beteiligten Mitgliedstaaten (räumlich eingeschränkte Bindungswirkung) (Art 20 IV 1 EUV). In diesen entfalten sie jene Rechtswirkungen, die ihnen im Unionsrecht zukommen.

_____ 49 Vgl Streinz/Obwexer Art 238 AEUV Rn 21 ff. Walter Obwexer

III. Grundsätze der Verstärkten Zusammenarbeit | 763

Die im Rahmen einer Verstärkten Zusammenarbeit erlassenen Rechtsakte müs- 70 sen sowohl mit dem primären als auch mit dem für alle EU-Mitgliedstaaten geltenden sekundären Unionsrecht vereinbar sein.50 Dies resultiert im Hinblick auf das Primärrecht aus dem nachgeordneten Rang des Sekundärrechts, im Hinblick auf das für alle Mitgliedstaaten geltende Sekundärrecht aus der in Art 326 AEUV verankerten Verpflichtung zur Beachtung des Rechts der Union.51 Daraus ergibt sich ein Vorrang des gemeinsamen Unionsrechts gegenüber dem Unionsrecht aus einer Verstärkten Zusammenarbeit. Das Unionsrecht einer Verstärkten Zusammenarbeit gilt jedoch – so sieht es das 71 Primärrecht explizit vor (Art 20 IV 2 EUV) – nicht als Besitzstand der EU, der von beitrittswilligen Staaten übernommen werden muss. Diese Besitzstandssperre52 ist dahin zu verstehen, dass die im Rahmen einer Verstärkten Zusammenarbeit erlassenen Rechtsakte zwar zum Besitzstand der Union zählen, von beitretenden Staaten aber nicht – wie der übrige Besitzstand – übernommen werden müssen.

c) Finanzierung Bei den sich aus der Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit ergebenden 72 Ausgaben sind zwei Kategorien zu unterscheiden. Die Verwaltungskosten der Organe werden von der EU insgesamt getragen 73 und in den Haushalt der Union einbezogen. Die Ausgaben mit Ausnahme der Verwaltungskosten der Organe (operative 74 Ausgaben) werden grundsätzlich von den daran beteiligten Mitgliedstaaten finanziert. Von diesem Prinzip der Kostentragung durch die beteiligten Mitgliedstaaten kann abgewichen werden, wenn der Rat nach Anhörung des Europäischen Parlaments durch einstimmigen Beschluss sämtlicher Ratsmitglieder dies beschließt. Auf diese Weise können die Kosten operativer Ausgaben zB in den Haushalt der EU einbezogen werden (Art 332 AEUV).

d) Loyalitätsgebot Für die an einer Verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten unter- 75 einander gilt das Loyalitätsgebot des Art 4 III EUV. Die tätig werdenden Organe sind ihrerseits an den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit in Art 13 I EUV gebunden. Die an einer Verstärkten Zusammenarbeit nicht beteiligten Mitgliedstaaten 76 dürfen der Durchführung derselben durch die daran beteiligten Mitgliedstaaten

_____ 50 Vgl – zum Schengen-Besitzstand – EuGH, Rs C-503/03 – Kommission / Spanien, Rn 34 f. 51 S oben Rn 35. 52 Schwarze/Hatje Art 20 EUV Rn 35. Walter Obwexer

764 | § 10 Verstärkte Zusammenarbeit

nicht im Wege stehen (Art 327 S 2 AEUV). Durch dieses Obstruktionsverbot erhält das Loyalitätsgebot der Mitgliedstaaten untereinander (Art 4 III EUV) im Rahmen einer Verstärkten Zusammenarbeit eine besondere Ausprägung.

e) Brückenklauseln 77 Nach der Begründung einer Verstärkten Zusammenarbeit können die daran beteilig-

ten Mitgliedstaaten ihre Kooperation über zwei eigene Brückenklauseln („Passerelle“) verfahrensrechtlich vertiefen (Art 333 AEUV). Die erste Brückenklausel betrifft die Beschlussfassung im Rat, die zweite das anzuwendende Gesetzgebungsverfahren. Ist in einer anzuwendenden Bestimmung der Verträge Einstimmigkeit im Rat 78 vorgesehen, so kann der Rat einstimmig den Übergang zur qualifizierten Mehrheit beschließen (Art 333 I AEUV). Sind nach einer anzuwendenden Bestimmung der Verträge Rechtsakte in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren zu erlassen, so kann der Rat einstimmig den Übergang zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren beschließen (Art 333 II AEUV). In beiden Fällen bezieht sich die Einstimmigkeit allein auf die Stimmen der Vertreter der an der Verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten. Beide Brückenklauseln gelten jedoch nicht für Beschlüsse mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen (Art 333 III AEUV).

7. Beteiligung an einer Verstärkten Zusammenarbeit 79 Für die (spätere) Beteiligung von Mitgliedstaaten an einer bestehenden Verstärkten Zusammenarbeit sind – in Anlehnung an die Verfahren zur Begründung einer solchen – zwei verschiedene Verfahren vorgesehen (Art 331 AEUV). Das allgemeine Beteiligungsverfahren ist in jenen Fällen anzuwenden, in de80 nen ein Mitgliedstaat sich einer Verstärkten Zusammenarbeit in einem der Bereiche der Verträge außerhalb der ausschließlichen Zuständigkeit der EU und mit Ausnahme der GASP anschließen will (Art 331 I AEUV). Dieses Verfahren beginnt mit einer Mitteilung der Absicht an den Rat und die Kommission. Die Kommission hat innerhalb von vier Monaten nach Eingang der Mitteilung zu prüfen, ob die Beteiligungsvoraussetzungen erfüllt sind. Trifft dies zu, hat sie dies festzustellen und gleichzeitig die notwendigen Übergangsmaßnahmen zur Anwendung der bereits erlassenen Rechtsakte zu beschließen. Sind die Beteiligungsvoraussetzungen nach Auffassung der Kommission jedoch nicht erfüllt, hat sie anzugeben, welche Bestimmungen zu deren Erfüllung erlassen werden müssen, und eine Frist für die erneute Prüfung des Antrags festzulegen. Nach Ablauf dieser Frist ist der Antrag erneut zu prüfen. Geht auch diese Prüfung negativ aus, kann der betroffene Mitgliedstaat den Rat befassen, der (ohne Vorschlag der Kommission) mit besonders qualifizierter Mehrheit der stimmberechtigten Mitglieder darüber befindet. AußerWalter Obwexer

III. Grundsätze der Verstärkten Zusammenarbeit | 765

dem kann der Rat auf Vorschlag der Kommission mit einfach qualifizierter Mehrheit die notwendigen Übergangsmaßnahmen beschließen. Das besondere Beteiligungsverfahren findet in den Fällen Anwendung, in 81 denen ein Mitgliedstaat an einer Verstärkten Zusammenarbeit im Rahmen der GASP teilnehmen möchte (Art 331 II AEUV). Nach diesem – dem intergouvernementalen Charakter der GASP entsprechenden – Verfahren ist die Absicht dem Rat, dem Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und der Kommission mitzuteilen. Letztere ist in der Folge allerdings nur noch über den Hohen Vertreter, der – auch – Vizepräsident der Kommission ist, eingebunden. Die Entscheidung über die Teilnahme des betreffenden Mitgliedstaats obliegt dabei dem Rat, der nach Anhörung des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik entscheidet. Eine Feststellung, dass die Teilnahmevoraussetzungen erfüllt sind, muss nur „gegebenenfalls“ erfolgen. Eine Frist für die Entscheidung des Rates ist nicht vorgesehen. Ferner kann der Rat auf Vorschlag des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik die notwendigen Übergangsmaßnahmen zur Anwendung der bereits erlassenen Rechtsakte treffen. Ist der Rat jedoch der Auffassung, dass die Teilnahmevoraussetzungen nicht erfüllt sind, so hat er die zu deren Erfüllung erforderlichen Schritte anzugeben und eine Frist für die erneute Prüfung des Antrags festzulegen. Im Rahmen des gesamten Verfahrens beschließt der Rat einstimmig mit den Stimmen der Vertreter der an der Verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten. Der Übergang vom Status eines nicht beteiligten Mitgliedstaats zu dem eines be- 82 teiligten Mitgliedstaats führt gem Art 331 AEUV dazu, dass der betreffende Mitgliedstaat verpflichtet wird, die im Rahmen der Verstärkten Zusammenarbeit bereits erlassenen Rechtsakte anzuwenden.53

8. Kohärenzgebot Der Rat und die Kommission haben sicherzustellen, dass die im Rahmen einer Ver- 83 stärkten Zusammenarbeit durchgeführten Maßnahmen untereinander und mit der Politik der EU im Einklang stehen; sie arbeiten zu diesem Zweck entsprechend zusammen (Art 334 AEUV). Diese Verpflichtung stellt eine besondere Ausprägung des Kohärenzgebots in 84 Art 13 I EUV dar und soll ein Auseinanderdriften der Maßnahmen im Rahmen einer Verstärkten Zusammenarbeit und der allgemeinen Entwicklung der EU verhindern. Dem folgend hätte auch das Europäische Parlament in die gegenständliche Verpflichtung einbezogen werden sollen, was allerdings nicht geschehen ist.

_____ 53 Vgl – zum Schengen-Besitzstand – EuGH, Rs C-44/14 – Spanien / Parlament und Rat, Rn 48. Walter Obwexer

766 | § 10 Verstärkte Zusammenarbeit

9. Justiziabilität 85 Die Bestimmungen über die Verstärkte Zusammenarbeit im EU-Vertrag und im AEU-

Vertrag unterliegen der umfassenden Zuständigkeit des Gerichtshofs der EU. Dessen Kontrolle umfasst sowohl die Begründung der Zusammenarbeit und die Beteiligung daran als auch deren konkrete Durchführung.54 Bei einer Nichtigkeitsklage gegen einen Beschluss des Rates, der die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit beinhaltet, ist die Kontrolle allerdings darauf beschränkt, ob dieser Beschluss den materiellen und formellen Voraussetzungen in Art 20 EUV sowie Art 326 bis Art 334 AEUV entspricht.55 Die Zuständigkeit des Gerichtshofs der EU erstreckt sich allerdings nicht auf den 86 Bereich der GASP (Art 24 I UAbs 2 S 6 EUV und Art 275 I AEUV). Dies gilt sowohl für die Begründung und für die Durchführung einer solchen Zusammenarbeit als auch für die Beteiligung anderer Mitgliedstaaten daran. Die gegenständliche Bereichsausnahme erfasst sämtliche Bereiche der Außenpolitik sowie sämtliche Fragen im Zusammenhang mit der Sicherheit der EU, einschließlich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen kann (Art 24 I UAbs 1 EUV). Die weit gefasste Bereichsausnahme wird ihrerseits von zwei Ausnahmen durchbrochen. Demnach ist der Gerichtshof der EU – im Rahmen der GASP – zur Kontrolle der Unberührtheitsklausel (Art 40 EUV) und zur Überwachung der Rechtmäßigkeit restriktiver Maßnahmen gegenüber natürlichen oder juristischen Personen (Art 275 II AEUV) zuständig.56 Im Rahmen der Zuständigkeit des Gerichtshofs der EU können die an einer Ver87 stärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten (Ins) von allen ihnen nach Unionsrecht offen stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten Gebrauch machen. Die an einer derartigen Zusammenarbeit nicht beteiligten Mitgliedstaaten (Outs) können jedenfalls den Ermächtigungsbeschluss mit einer Nichtigkeitsklage gem Art 263 I AEUV in Frage stellen.57 Sie sind als privilegiert Klagebefugte aber auch berechtigt, im Rahmen einer Verstärkten Zusammenarbeit erlassenes Sekundärrecht mit einer Nichtigkeitsklage zu bekämpfen, wenn sie damit geltend machen, dass dieses gegen den Ermächtigungsbeschluss oder sonstiges für alle Mitgliedstaaten geltendes Unionsrecht verstößt.58 Ob ein Out auch eine Vertragsverletzungsklage gem Art 259 AEUV gegen einen In mit dem Vorwurf erheben kann, dieser verstoße gegen seine

_____ 54 Vgl EuGH, verb Rs C-274/11 und C-295/11 – Spanien und Italien / Rat. 55 EuGH, Rs C-209/13 – Vereinigtes Königreich / Rat. 56 Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs der EU im Rahmen der GASP vgl allgemein EuGH, Rs C-72/15 – Rosneft, Rn 60 ff. 57 ZB EuGH, Rs C-209/13 – Vereinigtes Königreich / Rat; vgl auch Pechstein EuR 2013, Beiheft 2, 71 (76). 58 ZB EuGH, Rs C-146/13 – Spanien / Parlament und Rat, vgl auch Pechstein EuR 2013, Beiheft 2, 71 (76). Walter Obwexer

IV. Konkrete Anwendung der Verstärkten Zusammenarbeit | 767

Verpflichtungen aus der Verstärkten Zusammenarbeit, ist hingegen fraglich und muss erst noch vom Gerichtshof der EU entschieden werden.59 IV. Konkrete Anwendung der Verstärkten Zusammenarbeit IV. Konkrete Anwendung der Verstärkten Zusammenarbeit Die Verstärkte Zusammenarbeit wurde erstmals Mitte Juli 2010 – mehr als zehn 88 Jahre nach ihrer Verankerung im primären Unionsrecht und ein gutes halbes Jahr nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon – konkret angewendet. Weitere Anwendungsfälle folgten; in knapp zehn Jahren konnten insgesamt fünf Anwendungen initiiert, vier davon auch realisiert werden. Weitere Anwendungsfälle könnten künftig die Gemeinsame Bemessungsgrundlage für die Körperschaftssteuer,60 das gemeinsame Kaufrecht61 oder ausgewählte Regelungen im europäischen Gesellschaftsrecht sein.62 Die in den vergangenen fast zehn Jahren initiierten Anwendungsfälle betreffen 89 folgende Bereiche: 1. das Eherecht, 2. den einheitlichen Patentschutz, 3. die Finanztransaktionssteuer, 4. die Güterstände internationaler Paare und 5. die Europäische Staatsanwaltschaft.

1. Eherecht Mit Beschluss des Rates vom 12. Juli 2010 wurden 14 Mitgliedstaaten – darunter 90 Deutschland und Österreich – ermächtigt, unter Anwendung der Bestimmungen der Verträge untereinander eine Verstärkte Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts zu begründen.63 Ein zuvor von der Kommission im Juli 2006 unterbreiteter Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr 2201/200364 im Hinblick auf die Zuständigkeiten in Ehesachen und zur Einführung von Vorschriften betreffend das anwendbare Recht in diesem Bereich65 war im Rat auf unüberwindliche Schwierigkeiten gestoßen, die diesen im Juni 2008 zur Fest-

_____ 59 Vgl Pechstein EuR 2013, Beiheft 2, 71 (76). 60 Vgl Vorschlag für eine RL des Rates über eine Gemeinsame konsolidierte KörperschaftsteuerBemessungsgrundlage (GKKB), KOM(2011) 121. 61 Vgl Vorschlag für eine VO des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, KOM(2011) 635. 62 Vgl Thomale ZEuP 2015, 517. 63 Beschluss 2010/405 des Rates vom 12.7.2010 über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts, ABl 2010 L 189/12. 64 ABl 2003 L 338/1 idF ABl 2004 L 367/1. 65 KOM(2006) 399. Walter Obwexer

768 | § 10 Verstärkte Zusammenarbeit

stellung veranlasst hatten, dass die Ziele der vorgeschlagenen Verordnung, nämlich einen klaren und umfassenden Rechtsrahmen für das auf Ehescheidungen und Trennungen ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendende Recht zu schaffen und einem Wettlauf zu den Gerichten vorzubeugen, aufgrund des Einstimmigkeitserfordernisses im Rat (Art 81 III UAbs 1 AEUV) nicht in einem vertretbaren Zeitraum verwirklicht werden können. In der Folge hatten 14 Mitgliedstaaten die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit beantragt. Diesem Antrag wurde vom Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments stattgegeben, nachdem er das Vorliegen der für die Begründung einer Verstärkten Zusammenarbeit erforderlichen Voraussetzungen festgestellt hatte. Gestützt auf den Ermächtigungsbeschluss des Rates und auf die einschlägige 91 Rechtsgrundlage in Art 81 III AEUV erließ der Rat am 20. Dezember 2010 die Verordnung zur Durchführung der Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts.66 Diese Verordnung gilt für die an der Verstärkten Zusammenarbeit teilnehmenden Mitgliedstaaten und lässt die – für alle Mitgliedstaaten geltende – Verordnung 2201/2003 unberührt. In den teilnehmenden Mitgliedstaaten wird sie auch praktisch angewendet, wie mehrere Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH belegen.67 Mit Beschlüssen der Kommission wurde in der Folge die Teilnahme weiterer 92 Mitgliedstaaten an der gegenständlichen Verstärkten Zusammenarbeit bestätigt und gleichzeitig die Verordnung 1259/2010 – mit Übergangsbestimmungen – auch auf diese Mitgliedstaaten erstreckt. Dies gilt für Litauen,68 für Griechenland69 und für Estland.70

2. Einheitlicher Patentschutz 93 Mit Beschluss des Rates vom 10. März 2011 wurden 25 Mitgliedstaaten (ausgenom-

men sind nur Italien und Spanien sowie inzwischen Kroatien) ermächtigt, unter Anwendung der einschlägigen Bestimmungen der Verträge untereinander eine Verstärkte Zusammenarbeit im Bereich der Schaffung eines einheitlichen Patentschut-

_____ 66 VO 1259/2010, ABl 2010 L 343/10. 67 ZB EuGH, Rs C-372/16 – Sahyouni / Mamisch. 68 Beschluss 2012/714 der Kommission vom 21.11.2012 zur Bestätigung der Teilnahme Litauens an der Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts, ABl 2012 L 323/18. 69 Beschluss 2014/39 der Kommission vom 27.1.2014 zur Bestätigung der Teilnahme Griechenlands an der Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts, ABl 2014 L 23/41. 70 Beschluss 2016/1366 der Kommission vom 10.8.2016 zur Bestätigung der Teilnahme Estlands an der Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts, ABl 2016 L 216/23. Walter Obwexer

IV. Konkrete Anwendung der Verstärkten Zusammenarbeit | 769

zes zu begründen.71 Bereits Anfang Juli 2000 hatte die Kommission einen Vorschlag für eine Verordnung des Rates über das Gemeinschaftspatent, mit dem ein einheitlicher Rechtstitel für einen einheitlichen Patentschutz in der gesamten Union geschaffen werden sollte, vorgelegt.72 Ende Juni 2010 hatte sie diesen mit einem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Regelung der Übersetzung des Patents der EU ergänzt.73 Bereits im November 2010 stellte der Rat fest, dass die vorgeschlagene Übersetzungsregelung auf unüberwindliche Schwierigkeiten stößt, die einen einstimmigen Beschluss in absehbarer Zeit unmöglich machen, und daher das Ziel, einen einheitlichen Patentschutz für die EU zu schaffen, innerhalb eines angemessenen Zeitraums nicht erreicht werden kann. Wenige Wochen später richteten 12 Mitgliedstaaten – darunter Deutschland – Anträge an die Kommission, in denen sie den Wunsch äußerten, auf dem Gebiet der Schaffung eines einheitlichen Patentschutzes entsprechend den vorliegenden Vorschlägen eine Verstärkte Zusammenarbeit zu begründen. In der Folge teilten weitere 13 Mitgliedstaaten – darunter auch Österreich – mit, sich an der Verstärkten Zusammenarbeit beteiligen zu wollen. Diese Anträge wurden vom Rat – auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments – genehmigt, nachdem er festgestellt hatte, dass die angestrebte Verstärkte Zusammenarbeit alle in Art 20 EUV sowie in Art 326 und Art 329 AEUV genannten Bedingungen erfüllt. Gestützt auf den – vom EuGH als rechtmäßig bestätigten – Ermächtigungsbe- 94 schluss des Rates und auf die einschlägige Rechtsgrundlage in Art 118 AEUV unterbreitete die Kommission Mitte April 2011 zwei Vorschläge zur Durchführung der Verstärkten Zusammenarbeit: erstens eine Verordnung des Rates über die Umsetzung der Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Schaffung eines einheitlichen Patentschutzes,74 zweitens eine Verordnung des Rates über die Umsetzung der Verstärkten Zusammenarbeit bei der Schaffung eines einheitlichen Patentschutzes im Hinblick auf die anzuwendenden Übersetzungsregelungen.75 Beide Vorschläge wurden am 17. Dezember 2012 verabschiedet.76 Anders als der Kommissionsvorschlag über das Gemeinschaftspatent aus dem 95 Jahr 2000 stützt sich das neue Regelungsregime auf das bereits bestehende euro-

_____ 71 Beschluss 2011/167 des Rates vom 10.3.2011 über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Schaffung eines einheitlichen Patentschutzes, ABl 2011 L 76/53. 72 KOM(2000) 412; vgl EuGH, Gutachten 1/09 – Patentgerichtssystem. 73 KOM(2010) 350. 74 KOM(2011) 215. 75 KOM(2011) 216. 76 VO 1257/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.12.2012 über die Umsetzung der Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Schaffung eines einheitlichen Patentschutzes, ABl 2012 L 361/1; VO 1260/2012 des Rates vom 17.12.2012 über die Umsetzung der Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Schaffung eines einheitlichen Patentschutzes im Hinblick auf die anzuwendenden Übersetzungsregelungen, ABl 2012 L 361/89. Walter Obwexer

770 | § 10 Verstärkte Zusammenarbeit

päische Patentsystem – die Verordnung 1257/2012 gilt als besonderes Übereinkommen iSv Art 142 des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ) – und verleiht den vom Europäischen Patentamt (EPA) erteilten europäischen Patenten auf Antrag des Patentinhabers einheitliche Wirkung in allen an der Verstärkten Zusammenarbeit teilnehmenden Mitgliedstaaten („Europäisches Patent mit einheitlicher Wirkung“ – EPEW). Dieser einheitliche Patentschutz ist fakultativ und wird neben den nationalen und europäischen Patenten Bestand haben. Die Übersetzungsregelungen basieren auf den Amtssprachen des Europäischen Patentamts – Englisch, Französisch und Deutsch – und sehen Übersetzungen in andere Amtssprachen der EU grundsätzlich nur im Falle eines Rechtsstreits und während eines Übergangszeitraums vor. Die Verordnung 1257/2012 über den Einheitlichen Patentschutz wurde von 96 Spanien mit einer Nichtigkeitsklage vor dem EuGH bekämpft. Geltend gemacht wurden ua eine fehlende Rechtsgrundlage, Ermessensmissbrauch, Verstoß gegen die Durchführung von Rechtsakten, unzulässige Übertragung von Unionskompetenzen auf externe Einrichtungen sowie eine Verletzung der Grundsätze der Autonomie und der Einheitlichkeit des Unionsrechts. Der EuGH sah jedoch keinen der vorgebrachten Klagegründe als begründet an und wies die Klage ab.77 Auch die Verordnung 1260/2012 betreffend die Übersetzungsregelungen wur97 de von Spanien mit einer Nichtigkeitsklage vor dem EuGH angefochten. Neu und ergänzend vorgebracht wurden ein Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung aufgrund der Sprache und ein Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit. Auch mit diesen Klagegründen drang Spanien nicht durch. Der EuGH wies die Klage als unbegründet ab.78 Im Kern führte er aus, dass es im Unionsrecht keinen allgemeinen Grundsatz gibt, „nach dem alles, was die Interessen eines Unionsbürgers berühren könnte, unter allen Umständen in seiner Sprache verfasst sein müsste“.79

3. Finanztransaktionssteuer 98 Mit Beschluss des Rates vom 22. Jänner 2013 wurden 11 Mitgliedstaaten – darunter

Deutschland und Österreich – ermächtigt, auf der Grundlage der einschlägigen Bestimmungen der Verträge untereinander eine Verstärkte Zusammenarbeit im Bereich der Schaffung eines gemeinsamen Finanztransaktionssteuersystems zu begründen.80 Ausgangspunkt dafür war ein von der Kommission Ende September 2011

_____ 77 EuGH, Rs C-146/13 – Spanien / Parlament und Rat. 78 EuGH, Rs C-147/13 – Spanien / Rat. 79 EuGH, Rs C-147/13 – Spanien / Rat, Rn 31. 80 Beschluss 2013/52 des Rates vom 22.1.2013 über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Finanztransaktionssteuer, ABl 2013 L 22/11. Walter Obwexer

IV. Konkrete Anwendung der Verstärkten Zusammenarbeit | 771

vorgelegter Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Finanztransaktionssteuersystem.81 Dieses sollte das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarkts sicherstellen und Wettbewerbsverzerrungen vermeiden. In den daran anschließenden Verhandlungen im Rat hatte sich allerdings abgezeichnet, dass der Vorschlag in absehbarer Zukunft nicht die erforderliche einstimmige Unterstützung finden wird. Gestützt auf den gegenständlichen Ermächtigungsbeschluss sowie auf Art 113 99 AEUV unterbreitete die Kommission Mitte Februar 2013 einen Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Umsetzung der Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Finanztransaktionssteuer.82 Dieser beruht im Wesentlichen auf dem Vorschlag des Jahres 2011. Demnach sollen die daran beteiligten Mitgliedstaaten eine Finanztransaktionssteuer einführen und diese auf alle Finanztransaktionen anwenden, sofern zumindest eine an der Transaktion beteiligte Partei im Hoheitsgebiet eines teilnehmenden Mitgliedstaats ansässig ist und ein im Hoheitsgebiet eines teilnehmenden Mitgliedstaats ansässiges Finanzinstitut eine Transaktionspartei ist, die entweder für eigene oder fremde Rechnung oder im Namen einer Transaktionspartei handelt. Die mit diesem „Gegenparteiprinzip“ verbundene extraterritoriale Wirkung der Regelung wurde durch Hinzufügen des „Ausgabeprinzips“ sogar noch verstärkt. Vom weiten Anwendungsbereich sind eine Reihe von Ausnahmen vorgesehen, ua Transaktionen mit den Zentralbanken der Mitgliedstaaten und mit der EZB. Vor diesem Hintergrund bekämpfte das Vereinigte Königreich im April 2013 den 100 Ermächtigungsbeschluss mit einer Nichtigkeitsklage vor dem EuGH. Dieser wies die Klage allerdings ab, da die Klagegründe sich nicht auf den Ermächtigungsbeschluss, sondern auf den vorgeschlagenen Rechtsakt zur Durchführung desselben bezogen hatten.83 In mehr als fünf Jahren Verhandlungen gelang es den an der Verstärkten Zu- 101 sammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten – trotz intensiver Bemühungen84 – allerdings nicht, eine Einigung zu erzielen. Dem folgend wurde das Projekt Ende 2018 aufgegeben.

4. Güterstände internationaler Paare Mit Beschluss des Rates vom 9. Juni 2016 wurden insgesamt 18 Mitgliedstaaten – 102 darunter Deutschland und Österreich – ermächtigt, eine Verstärkte Zusammenarbeit im Bereich der Zuständigkeit, des anzuwendenden Rechts und der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Fragen der Güterstände internatio-

_____ 81 82 83 84

KOM(2011) 594. COM(2013) 71. EuGH, Rs C-209/13 – Vereinigtes Königreich / Rat, Rn 33 f. Vgl Rat der EU, Dok 13608/16.

Walter Obwexer

772 | § 10 Verstärkte Zusammenarbeit

naler Paare (eheliche Güterstände und vermögensrechtliche Folgen eingetragener Partnerschaften) zu begründen.85 In den Erwägungsgründen wird ausgeführt, dass die Voraussetzungen des Art 20 EUV und der Art 326 bis 329 AEUV erfüllt sind. Gestützt auf den gegenständlichen Ermächtigungsbeschluss und auf die ein103 schlägige Rechtsgrundlage in Art 81 III AEUV erließ der Rat am 24. Juni 2016 zwei inhaltlich zusammenhängende Verordnungen. Beide sind am 28. Juli 2016 in Kraft getreten, die meisten ihrer Bestimmungen gelten aber erst seit 29. Jänner 2019. Sie sollen für verheiratete und nicht verheiratete Paare Rechtssicherheit in Bezug auf ihr Vermögen und ein gewisses Maß an Vorhersehbarkeit in Bezug auf das anzuwendende Recht geben. Die erste Verordnung regelt die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht und 104 die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Fragen des ehelichen Güterstands bei Fällen mit grenzüberschreitendem Bezug.86 Sie ist grundsätzlich nur auf Verfahren, öffentliche Urkunden und gerichtliche Vergleiche anzuwenden, die am 29. Jänner 2019 oder danach eingeleitet, förmlich errichtet oder eingetragen bzw gebilligt oder geschlossen worden sind (Art 69 VO 2016/1103). Die zweite Verordnung regelt – ergänzend – die Zuständigkeit, das anzuwen105 dende Recht und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Fragen güterrechtlicher Wirkungen eingetragener Partnerschaften mit grenzüberschreitendem Bezug.87 Sie ist ebenfalls nur auf Verfahren, öffentliche Urkunden und gerichtliche Vergleiche anzuwenden, die am 29. Jänner 2019 oder danach eingeleitet, förmlich errichtet oder eingetragen bzw gebilligt oder geschlossen worden sind (Art 69 VO 2016/1104).

5. Europäische Staatsanwaltschaft 106 Bereits im Juli 2013 hatte die Kommission einen Vorschlag für eine Verordnung zur

Errichtung der in Art 86 I AEUV vorgesehenen Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA) vorgelegt. Nach fast vier Jahren Verhandlungen stellte der Rat im Februar 2017 fest, dass über den Verordnungsentwurf keine Einstimmigkeit erzielt werden

_____ 85 Beschluss 2016/954 des Rates vom 9.6.2016 zur Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Zuständigkeit, des anzuwendenden Rechts und der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Fragen der Güterstände internationaler Paare (eheliche Güterstände und vermögensrechtliche Folgen eingetragener Partnerschaften), ABl 2016 L 159/16. 86 VO 2016/1103 des Rates vom 24.6.2016 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Zuständigkeit des anzuwendenden Rechts und der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Fragen des ehelichen Güterstands, ABl 2016 L 183/1. 87 VO 2016/1104 des Rates vom 24.6.2016 zur Durchführung der Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Zuständigkeit, des anzuwendenden Rechts und der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Fragen güterrechtlicher Wirkungen eingetragener Partnerschaften, ABl 2016 L 183/30. Walter Obwexer

V. Schlussbetrachtungen | 773

kann. Wenige Tage später beantragten 17 Mitgliedstaaten, den Europäischen Rat gem Art 86 I UAbs 2 AEUV mit dem Verordnungsentwurf zu befassen. Anfang März 2017 beriet der Europäische Rat über den Verordnungsentwurf und stellte fest, dass kein Einvernehmen erzielt werden konnte. Damit galt gem Art 86 I UAbs 3 AEUV die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit als erteilt, wenn mindestens 9 Mitgliedstaaten dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission, ihre Absicht mitteilen, eine Verstärkte Zusammenarbeit auf der Grundlage des Verordnungsentwurfs begründen zu wollen. Von dieser Möglichkeit machten Anfang April 2017 insgesamt 16 Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, Gebrauch. Zwei Wochen später schlossen sich weitere vier Mitgliedstaaten, darunter Österreich, diesem Wunsch an. Die Verordnung über die EUStA wurde im Oktober 2017 erlassen und trat – für 107 die daran beteiligten 20 Mitgliedstaaten – am 20. November 2017 in Kraft.88 Die Niederlande89 und Malta90 kamen im August 2018 hinzu. Die EUStA ist eine Einrichtung der Union, besitzt Rechtspersönlichkeit und ar- 108 beitet mit Eurojust zusammen (Art 3 VO 2017/1939). Sie ist zuständig für die strafrechtliche Untersuchung und Verfolgung sowie die Anklageerhebung in Bezug auf Personen, die als Täter oder Teilnehmer Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union begangen haben. Zu diesem Zweck führt die EUStA Ermittlungen, ergreift Strafverfolgungsmaßnahmen und nimmt vor den zuständigen Gerichten der Mitgliedstaten die Aufgaben der Staatsanwaltschaft wahr, bis das Verfahren endgültig abgeschlossen ist (Art 4 VO 2017/1939). Die EUStA muss bei ihrer Tätigkeit die in der Grundrechte-Charta verankerten Grundrechte beachten und ist an die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Verhältnismäßigkeit gebunden. Die Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen unterliegen der Verordnung 2017/1939. Soweit eine Frage dort nicht geregelt ist, gilt nationales Recht (Art 5 VO 2017/1939).91 V. Schlussbetrachtungen V. Schlussbetrachtungen Der Vertrag von Amsterdam (1997/1999) verankerte mit der Verstärkten Zusammen- 109 arbeit ein neues Instrument flexibler Integration im EU-Primärrecht. Dieses In-

_____ 88 VO 2017/1939 des Rates vom 12.10.2017 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA), ABl 2017 L 283/1. 89 Beschluss 2018/1094 der Kommission vom 1.8.2018 zur Bestätigung der Beteiligung der Niederlande an der Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft, ABl 2018 L 196/1. 90 Beschluss 2018/1103 der Kommission vom 7.8.2018 zur Bestätigung der Beteiligung Maltas an der Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft, ABl 2018 L 201/2. 91 Vgl zB Cach EuR 2014, 716. Walter Obwexer

774 | § 10 Verstärkte Zusammenarbeit

strument wurde in der Folge von Vertragsreform zu Vertragsreform beibehalten und inhaltlich weiterentwickelt. Es soll den integrationswilligen Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnen, weitere Integrationsschritte unionsintern zu setzen. Dafür stehen ihnen die supranationalen Strukturen und Verfahren zur Verfügung. Allerdings dürfen die von der neuen Möglichkeit Gebrauch machenden Mitgliedstaaten den Integrationsprozess nicht unterlaufen und den EU-Besitzstand nicht beeinträchtigen. Letztere Vorgabe gilt aber auch dann, wenn die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer eigenen Zuständigkeiten außerhalb des institutionellen Rahmens der Union handeln. In den ersten zehn Jahren ihrer Existenz wurde die Verstärkte Zusammenarbeit 110 zwar drei Mal in ihrer Ausgestaltung geändert, aber kein einziges Mal in Anspruch genommen. Erst im zweiten Jahrzehnt ihres Bestehens wurde von der – inzwischen gar nicht mehr so neuen – Möglichkeit Gebrauch gemacht, und zwar gleich fünf Mal. Die Praxis zeigt, dass die Verstärkte Zusammenarbeit weder durch die strengen Verfahrensvorschriften noch durch die strikten materiell-rechtlichen Vorgaben unnötig erschwert wird. Erstere sollen einen politischen Grundkonsens innerhalb der Union über die Zweckmäßigkeit des Voranschreitens im kleinen Kreis sichern, letztere den gemeinsamen EU-Rechtsbestand wahren. Insgesamt stellen sowohl die formal-rechtlichen als auch die materiell-rechtlichen Vorgaben keine unüberwindlichen Hürden für die Begründung und Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit dar. Wird eine Verstärkte Zusammenarbeit begründet, so unterliegen sowohl der 111 Ermächtigungsbeschluss als auch die darauf gestützten Durchführungsrechtsakte einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle. Diese obliegt im dualen Rechtsschutzsystem der Union den Gerichten der Mitgliedstaaten und dem Gerichtshof der EU (mit Letztentscheidung beim EuGH). In der GASP ist die gegenständliche Kontrolle allerdings auf die mitgliedstaatlichen Gerichte beschränkt, da der Gerichtshof der Union in diesem Bereich über keine Zuständigkeit verfügt. Ein Blick in die Zukunft lässt erwarten, dass weitere Integrationsschritte in 112 Form einer Verstärkten Zusammenarbeit gesetzt und realisiert werden. Der damit verbundene Integrationsfortschritt muss allerdings mit einer Zunahme an Binnendifferenzierung „erkauft“ werden, die nicht ohne negative Folgewirkungen für die Einheit (in) der Union bleiben wird.

NEUE RECHTE SEITE Walter Obwexer

§ 11 Methodische Besonderheiten des Unionsrechts | 775

Joachim Gruber

§ 11 Methodische Besonderheiten des Unionsrechts § 11 Methodische Besonderheiten des Unionsrechts Joachim Gruber § 11 Methodische Besonderheiten des Unionsrechts https://doi.org/10.1515/9783110498349-011

Gliederungsübersicht I. Grundsätzliches 1. Untersuchungsgegenstand 2. Einordnung des Unionsrechts II. Die Gesetzgebung 1. Der Normsetzungsprozess 2. Die Gesetzessprache III. Die Rechtshonoratioren des Unionsrechts 1. Die Rechtsanwälte 2. Die Richter, ihre Rechtsreferenten und die Generalanwälte 3. Die Autoren europarechtlicher Publikationen IV. Die Rechtsprechung des EuGH 1. Die strukturellen Rahmenbedingungen 2. Der rechtliche Rahmen 3. Die Bedeutung der Gesetzesmaterialien und der Gesetzessprache 4. Der Urteilsstil des EuGH 5. Einige formale Besonderheiten der EuGH-Entscheidungen a) Parteinamen b) Aufbau 6. Die Begründung der EuGH-Entscheidungen a) Auseinandersetzung mit älteren Urteilen b) Aufgabe der bisherigen Auffassung c) Effet utile d) Rechtsvergleichung e) Häufigkeit einzelner Methoden 7. Die Schlussanträge der Generalanwälte 8. Zusammenfassung

Rn 1 1 4 7 7 10 17 18 21 28 31 31 35 38 41 47 47 48 50 50 55 61 62 68 70 75

Spezialschrifttum Bleckmann, Albert Zu den Auslegungsmethoden des Europäischen Gerichtshofs, NJW 1982, 1177– 1182; Busch, Christoph/Kopp, Christina/McGuire, Mary-Rose/Zimmermann, Martin (Hrsg) Europäische Methodik: Konvergenz und Diskrepanz europäischen und nationalen Privatrechts, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2009, 2010; Coutron, Laurent Style des arrêts de la Cour de justice et normativité de la jurisprudence communautaire, RTDE 2009, 643–676; Henninger, Thomas Europäisches Privatrecht und Methode. Entwurf einer rechtsvergleichend gewonnenen juristischen Methodenlehre, 2009; Martens, Sebastian A E Methodenlehre des Unionsrechts, 2013; Neergaard, Ulla/Nielsen, Ruth (Hrsg) European Legal Method – in a Multi-Level EU Legal Order, 2012; Riesenhuber, Karl (Hrsg) Europäische Methodenlehre. Handbuch für Ausbildung und Praxis, 3. Aufl, 2015; Schiemann, Konrad From Common Law Judge to European Judge, ZEuP 2005, 741–749; Pirrung, Jörg Die Rolle des Richters in der europäischen Gerichtsbarkeit, in: Michael Coester/Dieter Martiny/Karl August Prinz v Sachsen Gessaphe (Hrsg), Privatrecht in Europa. Vielfalt, Kollision, Kooperation. FS Hans Jürgen Sonnenberger, 2004, S 865–883.

Joachim Gruber https://doi.org/10.1515/9783110498349-011

776 | § 11 Methodische Besonderheiten des Unionsrechts

Leitentscheidungen EuGH, Rs C-20/88 – SA Roquette frères; Rs C-70/88 – Parlament / Rat; Rs 41/74 – van Duyn; Rs C267/91 und C-268/91 – Keck; Rs C-233/00 – Kommission / Französische Republik; Rs C-52/10 – ALTER CHANNEL.

I. Grundsätzliches I. Grundsätzliches 1. Untersuchungsgegenstand 1 Wenn man sich mit Methodenfragen des Unionsrechts beschäftigt, kann man einen rechtsvergleichenden Ansatz wählen. So hat Henninger1 die Auslegungsgrundsätze in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten verglichen und versucht, daraus eine europäische Methodenlehre abzuleiten. Ohne die Unterscheidung zwischen Fallrecht (case law), wie es prägend für das common law ist,2 und Gesetzesrecht, das in den kontinentaleuropäischen Staaten vorherrscht, überzubewerten, erscheint dieser Versuch schon vom Ansatz her zum Scheitern verurteilt: Eine Methodenlehre hängt ganz wesentlich vom Umstand ab, in welchem Umfang und in welcher Form ein Staat Gesetze erlässt. Da man diesbezüglich in der EU auf ganz unterschiedliche Formen trifft, lässt sich anhand der Häufigkeit der Anwendung einzelner Auslegungsregeln in einzelnen Systemen keine allgemeingültige Methodenlehre entwickeln. Hinzu kommt, dass in einigen Staaten die obersten Gerichte ihre Urteile ausführlich begründen, in anderen nicht. Einen anderen Weg ging Riesenhuber,3 der in einigen Kapiteln seines Werkes 2 untersucht, welchen Auslegungsregeln der EuGH bei den einzelnen Rechtsgebieten den Vorzug gibt. Damit wird aber nur abgebildet, welcher Mittel sich der EuGH bei einem bereits durch das EU-Recht stark ausgeformten und welcher er sich bei einem weniger stark ausgeformten Rechtsgebiet bedient. Mit der Entwicklung der EU-Gesetzgebung verlieren diese Unterscheidungen daher ihre Bedeutung. Im Folgenden wird deswegen ein eigener Ansatz gewählt: Zuerst wird auf die 3 Rechtsetzung („Gesetzgebung“) eingegangen (Rn 7 ff). Anschließend werden die „Rechtshonoratioren“ des Europarechts charakterisiert (Rn 17 ff). Hauptpunkt der Darstellung ist die Analyse der Methode des EuGH (Rn 31 ff). Kein Inhalt der Untersuchung ist die Behandlung des EU-Rechts durch die nationalen Gerichte. Auch wird nicht die Rechtsprechung aller Gerichte der Europäischen Union analysiert: Wir beschränken uns auf den EuGH; auf die Rechtsprechung des Gerichts der EU und des 2016 aufgelösten Gerichts für den öffentlichen Dienst der EU gehen wir nicht ein. Der Umstand, dass gegen jede Entscheidung der letztgenannten Gerichte

_____ 1 Henninger passim. 2 Albrecht GS Rainer Wörlen, 2013, S 718–727. 3 Riesenhuber (Hrsg) Europäische Methodenlehre, 3. Aufl, 2015, 3. Teil; vgl dazu die Besprechung von Gruber EuR 2015, 662–665. Joachim Gruber

I. Grundsätzliches | 777

grundsätzlich ein Rechtsmittel zulässig ist, wirkt sich auf die Urteilsabfassung dieser Gerichte aus: Der Sachverhalt, vor allem das Vorbringen der unterliegenden Partei, wird in den Entscheidungen ausführlich dargestellt, und in den Gründen der Entscheidung wird, nach den Worten des ehemaligen Richters beim Gericht Pirrung,4 auf „jede Verästelung“ dieser Argumentation eingegangen.

2. Einordnung des Unionsrechts Als Erstes muss die grundsätzliche Frage nach der Einordnung des Unionsrechts 4 geklärt werden. In juristischen Einführungswerken mit Darstellungen der Rechtsgebiete „Öffentliches Recht“, „Zivilrecht“ und „Verfassungsrecht“ wird das Recht der Union oft dem öffentlichen Recht zugeschlagen.5 Die Einordnung des Unionsrechts als „Öffentliches Recht“ stammt noch aus der Frühzeit der EWG, als der Schwerpunkt der Normsetzungstätigkeit der EWG vor allem auf dem Zollrecht lag. Heute ist das Unionsrecht eine Querschnittmaterie, die alle Rechtsgebiete berührt. So hat die EU zB seit dem Jahr 2007 weite Teile des Internationalen Privatrechts (IPR) durch die „Rom-Verordnungen“ geregelt.6 Das IPR ist dadurch kaum zum öffentlichen Recht geworden. Weitere zivilrechtliche Gebiete, welche vom Unionsrecht massiv geprägt wurden, sind zB der Verbraucherschutz und das Markenrecht. Im Strafrecht ist die Bedeutung des Unionsrechts dagegen (noch) bescheiden.7 Eine andere, viel wichtigere Unterscheidung besteht allerdings nach wie vor: 5 Das Unionsrecht umfasst sowohl Verfassungsrecht als auch Gesetzesrecht. Zwar ist der EU-Vertrag formal ein völkerrechtlicher Vertrag, materiell handelt es sich dabei aber um eine Verfassung.8 Diese weist gegenüber den Verfassungen der einzelnen EU-Mitgliedstaaten die Besonderheit auf, dass es ein übergeordnetes Ziel gibt, nämlich die europäische Integration.9 Diese Zielvorgabe findet sich in der Präambel des EUV, wo es im vorletzten Absatz heißt: „Im Hinblick auf weitere Schritte, die getan werden müssen, um die europäische Integration voranzutreiben“. Bei der Frage nach der Methode muss daher stets unterschieden werden, ob es 6 sich um Verfassungs- oder um Gesetzesrecht handelt (in der Terminologie des Unionsrechts: Primärrecht oder Sekundärrecht).10 In allen Rechtsordnungen spielen im

_____ 4 Pirrung FS Sonnenberger, 2004, S 865 (874). 5 So zB bei Köbler Juristisches Wörterbuch, 16. Aufl, 2016, unter dem Stichwort „Recht“. 6 Vgl VO 593/2008, ABl 2008 L 177/6 (Rom I); VO 864/2007, ABl 2007 L 199/40 (Rom II); VO 1259/2010, ABl 2010 L 343/10 (Rom III). 7 Vgl Pache § 21 (in diesem Band) Rn 274 ff. 8 Hierzu näher Niedobitek § 1 (in diesen Band) Rn 132 ff. 9 Kakouris FS Everling I, 1995, S 629; näher Niedobitek § 1 (in diesem Band) Rn 172–174. 10 Jenseits dieser Kategorien gibt es noch das Phänomen des Unionsrechts außerhalb der EU durch die Auslagerung der Ausführung von Unionsrecht auf Völkerrechtssubjekte: Für das Europäische Joachim Gruber

778 | § 11 Methodische Besonderheiten des Unionsrechts

Verfassungsrecht allgemeine Rechtsgrundsätze und -werte eine viel größere Rolle als im Gesetzesrecht. II. Die Gesetzgebung II. Die Gesetzgebung 1. Der Normsetzungsprozess 7 Die Entstehung von Normen wird in der methodenwissenschaftlichen Literatur –

wenn überhaupt – nur knapp behandelt. Dies liegt vor allem daran, dass schwer belegbar ist, inwieweit Interessengruppen den Gesetzgebungsprozess beeinflussen. Beim Unionsrecht ist zwar evident, dass in Brüssel zahlreiche Lobbyisten11 akkreditiert sind. Dies ist angesichts der Wirksamkeit des Unionsrechts in allen EUMitgliedstaaten und der Masse der jährlich in Kraft tretenden EU-Normen auch nicht verwunderlich. Dass es massive Versuche gibt, die Kommission zu beeinflussen, ist auch unbestritten – so hat sich zB bei den Debatten im Jahr 2013 um die Einführung einer Finanztransaktionssteuer der zuständige Kommissar öffentlich über das „übertriebene Lobbying“ der Branche beklagt.12 Inwieweit derartige Beeinflussungsversuche tatsächlich erfolgreich sind, lässt sich aber schwer quantifizieren. Bei der Normsetzung durch die EU fällt auf, dass die Öffentlichkeit stets über 8 Gesetzgebungsprojekte informiert und zur Stellungnahme aufgefordert wird (vgl insoweit Art 11 III EUV). Aber auch hier steht man vor dem Problem, dass schwer zu ermitteln ist, inwieweit diese Anregungen später tatsächlich Eingang in die Gesetzestexte fanden oder ob der Unionsgesetzgeber nicht unabhängig von den Vorschlägen zu einem – vielleicht sogar mit den Vorschlägen übereinstimmenden – Ergebnis gekommen ist.13 Auch inhaltlich werden die EU-Richtlinien und -Verordnungen oft kritisiert.14 9 Die Kritik an der Rechtsetzung der Union ist aber keine Besonderheit des Unionsrechts, weshalb dieser Punkt hier nicht vertieft wird. Gleiches gilt für die Kompro-

_____ Patent mit einheitlicher Wirkung (EU-Einheitspatent, dazu Obwexer § 10 [in diesem Band] Rn 95) ist zur Erteilung das Europäische Patentamt und zur Kontrolle das Europäische Patentgericht zuständig. Beide Institutionen basieren auf völkerrechtlichen Verträgen; dem Europäischen Patentabkommen (dessen Organ das Europäische Patentamt ist) gehören sogar Nicht-EU-Mitgliedstaaten an (dazu Gruber IWRZ 2017, 266–270). 11 Allgemein zum Lobbying beim Gesetzgebungsprozess in Brüssel vgl Dauner-Lieb/Rusche/ Umansky GS Ulrich Hübner, 2012, S 629 (642). 12 Vgl FAZ v 27.8.2013, S 19. 13 Oder – wie Louis Vogel bezüglich der Kfz-GVO (Nr 1400/2002) vermutet – die Stellungnahmen nur zur Kenntnis genommen werden und der Kommissionsvorschlag nie ernsthaft zur Disposition stand; vgl Vogel FS Sonnenberger, 2004, S 273 (285). 14 Vgl zB Sonnenberger BB 37/2001, Die erste Seite, bezüglich der Richtlinie 2000/31/EG: „Verworrenheit der Texte“, „mehrdeutigen Vorgaben“, „Armutszeugnis“. Joachim Gruber

II. Die Gesetzgebung | 779

misse, die oft zwischen den Mitgliedstaaten gefunden werden müssen: Eine ähnliche Situation gibt es auch in Deutschland im Verhältnis Bund und Länder.

2. Die Gesetzessprache Zum Verständnis eines Gesetzbuches oder eines anderen Regelwerks ist es immer 10 hilfreich, wenn man sich vor Augen führt, welche Zielgruppe der Normgeber vor Augen hatte. So wurden der französische „Code civil“ für das Volk, das deutsche „Bürgerliche Gesetzbuch“ für das gebildete Bürgertum geschrieben. Und an wen richtet sich das Unionsrecht? Bei den EU-Richtlinien ist die Antwort einfach: Diese müssen von den 11 Mitgliedstaaten umgesetzt und daher von den Juristen in den Justizministerien verstanden werden. Zielgruppe ist somit das Fachpublikum. Für dieses sind (wohl) auch verschachtelt aufgebaute Bestimmungen wie zB die – durch die RL 2011/83 mit Wirkung vom 13. Juni 2014 aufgehobene15 – Richtlinie des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen (85/577/EWG) verständlich, wo es heißt: Artikel 1 (1) Diese Richtlinie gilt für Verträge, die zwischen einem Gewerbetreibenden, der Waren liefert oder Dienstleistungen erbringt, und einem Verbraucher geschlossen werden: – während eines vom Gewerbetreibenden außerhalb von dessen Geschäftsräumen organisierten Ausflugs, oder – anlässlich eines Besuchs des Gewerbetreibenden i) beim Verbraucher in seiner oder in der Wohnung eines anderen Verbrauchers, ii) beim Verbraucher an seinem Arbeitsplatz, sofern der Besuch nicht auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers erfolgt. (2) Diese Richtlinie gilt auch für Verträge über andere Warenlieferungen oder Dienstleistungen als diejenigen, für die der Verbraucher den Gewerbetreibenden um einen Besuch gebeten hat, sofern der Verbraucher zum Zeitpunkt seiner Bitte nicht gewusst hat oder aus vertretbaren Gründen nicht wissen konnte, daß die Lieferung bzw Erbringung dieser anderen Ware oder Dienstleistung zu den gewerblichen oder beruflichen Tätigkeiten des Gewerbetreibenden gehört. (3) Diese Richtlinie gilt auch für Verträge, bei denen der Verbraucher unter ähnlichen wie in Absatz 1 oder Absatz 2 genannten Bedingungen ein Angebot gemacht hat, obwohl der Verbraucher durch sein Angebot vor dessen Annahme durch den Gewerbetreibenden nicht gebunden war. (4) Diese Richtlinie gilt auch für vertragliche Angebote, die ein Verbraucher unter ähnlichen wie in Absatz 1 oder Absatz 2 genannten Bedingungen macht, sofern der Verbraucher durch sein Angebot gebunden ist.

_____ 15 Art 31 RL 2011/83, ABl 2011 L 304/64. Joachim Gruber

780 | § 11 Methodische Besonderheiten des Unionsrechts

12 Die Grundsätze eines guten Schreibstils (zB kurze Sätze, klarer Satzbau, Glie-

derung des Textes durch Absätze) werden vom Unionsgesetzgeber16 oft ignoriert.17 In Art 1 RL 85/577 (Rn 11) werden neun verschiedene Konstellationen behandelt, wobei bei der Zählung die Kombinationsmöglichkeiten nicht einmal berücksichtigt wurden. Das Problem dabei ist, dass im Regelfall die Richtlinie ohne größere sprachliche 13 Veränderung in das nationale Recht umgesetzt wird und der Bürger dann mit Texten konfrontiert wird, die er nicht versteht. Zudem muss man feststellen, dass auch die Verordnungen verschachtelte, abstrakte Normen enthalten, deren Sinn für den juristischen Laien schwer zu ermitteln ist. So heißt es zB in Art 6 Abs 1 bis 3 der Rom-I-VO:18 Verbraucherverträge (1) Unbeschadet der Artikel 5 und 7 unterliegt ein Vertrag, den eine natürliche Person zu einem Zweck, der nicht ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden kann („Verbraucher“), mit einer anderen Person geschlossen hat, die in Ausübung ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit handelt („Unternehmer“), dem Recht des Staates, in dem der Verbraucher seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, sofern der Unternehmer a) seine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit in dem Staat ausübt, in dem der Verbraucher seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder b) eine solche Tätigkeit auf irgendeiner Weise auf diesen Staat oder auf mehrere Staaten, einschließlich dieses Staates, ausrichtet und der Vertrag in den Bereich dieser Tätigkeit fällt. (2) Ungeachtet des Absatzes 1 können die Parteien das auf einen Vertrag, der die Anforderungen des Absatzes 1 erfüllt, anzuwendende Recht nach Artikel 3 wählen. Die Rechtswahl darf jedoch nicht dazu führen, dass dem Verbraucher der Schutz entzogen wird, der ihm durch diejenigen Bestimmungen gewährt wird, von denen nach dem Recht, das nach Absatz 1 mangels einer Rechtswahl anzuwenden wäre, nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf. (3) Sind die Anforderungen des Absatzes 1 Buchstabe a oder b nicht erfüllt, so gelten für die Bestimmung des auf einen Vertrag zwischen einem Verbraucher und einem Unternehmer anzuwendenden Rechts die Artikel 3 und 4.

14 Auch hier gibt es wieder ein kompliziertes Regel-Ausnahme-Verhältnis. Zudem setzt

der Text ein juristisches Vorverständnis voraus. Eine volkstümliche Sprache sucht man bei der EU-Gesetzgebung vergebens. Die EU-Normen unterscheiden sich daher grundlegend von Gesetzbüchern wie dem französischen Code civil.19

_____ 16 Der das Problem durchaus sieht und dagegen anzugehen versucht, vgl „Gemeinsamer Leitfaden des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission für Personen, die in den Gemeinschaftsorganen an der Abfassung von Rechtstexten mitwirken“, abrufbar unter https://eur-lex. europa.eu/content/techleg/KB0213228DEN.pdf. 17 Hinzu kommt noch das Problem der Übersetzung von einer Sprache in die andere, vgl dazu Pescatore ZEuP 1998, 1–12. 18 VO 593/2008, ABl 2008 L 177/6. 19 Zur Sprache des Code civil zB Bürge ZEuP 2004, 5 (8): „… die Sprache, die in vielen Passagen in einer bemerkenswerten Weise eine poetische Neigung verrät … “; Ferid/Sonnenberger, Das FranzösiJoachim Gruber

III. Die Rechtshonoratioren des Unionsrechts | 781

Die EU-Regelungen sind präziser und kasuistischer als zB der französische Code 15 civil. Damit wird der Spielraum für die Richter – auf welchem Niveau auch immer sie dieses Recht anzuwenden haben – deutlich eingeschränkt. Um innerhalb der EU zu einer Rechtseinheit zu kommen, ist dies wohl auch nötig. Die von Rechtsvergleichern gelegentlich angestellte Überlegung, innerhalb der EU sei Rechtsvergleichung dann wichtig, wenn es um Normen mit EU-rechtlichen Wurzeln gehe,20 berücksichtigt nicht ausreichend, dass angesichts der engmaschigen Vorgaben durch den Unionsgesetzgeber fundamentale Unterschiede bei der Gesetzesauslegung durch die Gerichte der verschiedenen EU-Mitgliedstaaten immer seltener auftreten werden. Diese Erklärung der Komplexität vieler EU-Normen vermag allerdings nicht die 16 Kritik an der mangelnden Nutzerorientiertheit des Unionsgesetzgebers zu entkräften: So wurde zB mit dem Vertrag von Lissabon das bisherige „Gericht erster Instanz“ in „Gericht“ umgetauft. Einen Gattungsbegriff als Namen für ein bestimmtes Gericht zu wählen, fördert die Verständlichkeit der Texte zum EU-Recht nicht; klarer ist insoweit die englische Fassung von Art 19 I EUV, die das „Gericht“ als „General Court“ bezeichnet.21 Auch die Umnummerierungen des EU-Vertrags sowohl durch den Vertrag von Amsterdam als auch durch den Vertrag von Lissabon, welche die Zuordnung von älteren EuGH-Urteilen und Aufsätzen zu bestimmten Artikeln des geltenden Vertrages erschweren, haben der Nutzerorientierung gewiss keinen Dienst erwiesen. III. Die Rechtshonoratioren des Unionsrechts III. Die Rechtshonoratioren des Unionsrechts In der Rechtssoziologie und der Rechtsvergleichung erforscht man den Einfluss und 17 die Rolle der Rechtshonoratioren,22 um so einen Zugang zu einem Rechtssystem zu bekommen.23 Daher sollen im Folgenden die Bedeutung und die Herkunft der Akteure des Unionsrechts24 beschrieben werden.

_____ sche Zivilrecht, Band 1/1, 2. Aufl, 1994, S 99: „… eine klare, genaue und leicht verständliche Sprache …“. Allerdings stammt der Code civil in der Ursprungsfassung aus einer anderen Zeit, als man keine Rücksicht auf geschlechtsneutrale Formulierungen nehmen musste. Mittlerweile hat der französische Gesetzgeber ua den anschaulichen Begriff des „bon père de famille“, des guten Familienvaters, der in mehreren Artikeln des Code civil als Sorgfaltsmaßstab erwähnt wurde, durch das geschlechtsneutrale „raisonnable“ ersetzt (Art 26 des Gesetzes 2014-873 vom 4.8.2014). 20 Mansel JZ 1991, 529 (531). 21 Zur missglückten Terminologie näher Blanke/Mangiameli/Arnull Art 19 TEU Rn 9 ff. 22 Der Begriff Rechtshonoratioren stammt von Max Weber; vgl Weber Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl, 1980, dort Zweiter Teil, Kapitel VII, § 4. 23 Vgl dazu Rheinstein § 22, S 170 ff. 24 Nicht besonders eingegangen wird auf die Bediensteten der Kommission. Zum einen ist allein auf Grund der Zahl der Bediensteten eine besondere Prägung der Gesetzgebung durch einzelne Joachim Gruber

782 | § 11 Methodische Besonderheiten des Unionsrechts

1. Die Rechtsanwälte 18 Während bei einigen Obersten Gerichtshöfen in Europa – wie der französischen

Cour de cassation25 – nur an diesem Gericht zugelassene Anwälte postulieren können und zugleich die Zahl der am Obersten Gerichtshof zugelassenen Kanzleien begrenzt ist, steht bei der Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten zumindest der Zugang zu dieser Anwaltschaft allen Anwälten ohne zahlenmäßige Beschränkung offen.26 Für die Verfahren vor dem EuGH ist man dem Modell der Mehrheit gefolgt; dort sind alle in der EU zugelassenen Anwälte vertretungsbefugt. Einen „Anwalt beim EuGH“ gibt es daher nicht. Die Anwälte der Mitgliedstaaten haben nicht einmal die Möglichkeit, durch ei19 nen entsprechenden Antrag vor den nationalen Gerichten eine Vorabentscheidung des EuGH herbeizuführen. Es gibt, falls das nationale Gericht es ablehnt, eine Frage dem EuGH vorzulegen, auch kein formalisiertes Verfahren wie die Nichtzulassungsbeschwerde in den deutschen Prozessordnungen, mit welchem der Zugang zu einem obersten Bundesgericht erzwungen werden kann.27 Stellt ein nationales Gericht rechtswidrig kein Vorabentscheidungsersuchen beim EuGH, kann der Anwalt nur den betreffenden Staat auf Schadenersatz verklagen;28 die Voraussetzungen für die Begründetheit einer solchen Klage sind aber so hoch, dass sie in der Praxis so gut wie nie Erfolg hat.29 Durch die insoweit (Rn 19) beschränkten Kompetenzen der Anwälte im europäi20 schen Prozessrecht fehlt ein wichtiges Bindeglied zwischen der Bevölkerung – deren unmittelbarer Ansprechpartner im Regelfall die Anwaltschaft ist – und dem EuGH. Eine besondere Prägung der Rechtsprechung des EuGH durch die Anwaltschaft ist daher nicht festzustellen.

2. Die Richter, ihre Rechtsreferenten und die Generalanwälte 21 In Deutschland findet man bei den höchsten Fachgerichten Karriererichter, die

bereits in jungen Jahren die Richterlaufbahn eingeschlagen haben, beim Bundesverfassungsgericht dagegen oft Richter, die zuvor in politischen Ämtern Karriere ge-

_____ Gruppen kaum möglich, zum anderen verhindert die Rekrutierung durch Auswahlverfahren die Bevorzugung einzelner Personen bei der Einstellung. Zum Auswahlverfahren beim Europäischen Rechnungshof s Gruber DöD 2003, 65–67; ähnlich verläuft übrigens das Verfahren beim Europarat, vgl Gruber JURA 1994, 334–336. 25 Gross FS Rudolf Nirk, 1992, S 405–415. 26 Gross FS Günter Hirsch, 2008, S 483–500. 27 Für den Zivilprozess vgl § 544 ZPO. 28 Vgl dazu EuGH, Rs C-224/01 – Köbler. 29 Vgl dazu auch kritisch Kokott/Henze/Sobotta JZ 2006, 633–641. Joachim Gruber

III. Die Rechtshonoratioren des Unionsrechts | 783

macht haben; in England30 werden Personen ins Richteramt berufen, die vorher lange Jahre als Anwalt tätig waren.31 Und wie sieht es beim EuGH aus? Nach Art 253 AEUV sind für das Amt eines Richters des Gerichtshofs „Persönlichkeiten auszuwählen, die jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten und in ihrem Staat die für die höchsten richterlichen Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Juristen von anerkannt hervorragender Befähigung sind“. Damit wird den Regierungen bei der Ernennung ein weiter Beurteilungsspielraum32 eingeräumt; bezüglich der Berufserfahrung stellt der Vertrag keine Vorbedingungen. Ende 2018 gab es beim EuGH33 28 Richter und 11 Generalanwälte.34 Vier Richter und ein Generalanwalt waren zuvor einmal Minister (Endre Juhász, Egils Levits, Maria Berger und François Biltgen unter den Richtern und der Generalanwalt Melchior Wathelet). Ende 201335 gab es beim EuGH 28 Richter und neun Generalanwälte; damals waren sogar fünf Richter und ein Generalanwalt zuvor einmal Minister (die vorgenannten sowie Vassilios Skouris). Dieser Karriereweg über die Politik ist typisch für ein Verfassungsgericht. Er prägt auch das Vorverständnis der Richter: Wer früher einmal als Minister rechtsgestaltend tätig sein und Gesetze erlassen konnte, wird sich nun ungern mit der reinen Auslegung von Gesetzen begnügen. Im Jahr 2001 waren zwei der damaligen Richter des EuGH vorher Minister, drei Parlamentsabgeordnete, zehn Professoren, fünf Rechtsanwälte, zehn Richter und neun Verwaltungs- oder Ministerialbeamte.36 Diese Zusammensetzung bestand ähnlich auch Ende 2018. Insgesamt kann man dem EuGH daher bescheinigen, dass er bei seinen Richtern ein ausgewogenes Mischungsverhältnis an beruflichen Erfahrungen aufweist. Ungewöhnlich ist lediglich die starke politische Prägung vieler Richter, die nicht zu einem obersten Fachgericht passt (wohl aber zu einem Verfassungsgericht). Allerdings lässt sich eine Entwicklung bei der Auswahl der Richter feststellen: Es scheint sich abzuzeichnen, dass es auch beim Gerichtshof der Europäischen Union eine Art „Beförderung“ gibt. Wer sich beim Gericht bewährt hat, kann anschließend an den Gerichtshof berufen werden. Für einen solchen „Karriereweg“ spricht,

_____ 30 Dass hier nur von England und nicht vom Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland gesprochen wird, liegt daran, dass Schottland, das bekanntlich mit England und Wales ein Teil von Großbritannien ist, sein eigenes Rechtssystem hat. S dazu auch im Hinblick auf die Rechtsharmonisierung in der EU Weir ZEuP 1998, 564–585. 31 Zu England vgl Zweigert/Kötz S 206. 32 Eine Einschränkung besteht insoweit, dass nach Art 255 AEUV ein Ausschuss die Geeignetheit des Bewerbers überprüft; dessen Stellungnahme ist aber nicht bindend. 33 Vgl im Internet http://curia.europa.eu. 34 Allgemein zu den Generalanwälten Lenz FS Everling I, 1995, S 719–727. 35 Der Zeitpunkt 2013 wurde gewählt, weil damals die Vorauflage dieses Buches erschien; das Jahr 2001 (s Rn 24), weil damals eine entsprechende Untersuchung publiziert wurde. 36 Angaben bei Pirrung FS Sonnenberger, 2004, S 865 (872). Joachim Gruber

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784 | § 11 Methodische Besonderheiten des Unionsrechts

dass im September 2018 fünf der Richter am EuGH (Koen Lenaerts, Daniel Šváby, José Luís da Cruz Vilaça, Küllike Jürimäe, Michail Vilaras) und zwei Generalanwälte (Paolo Mengozzi, Nils Wahl) früher Richter am Gericht erster Instanz waren. Auffällig ist ferner, dass zwei der Richter am EuGH dort früher als Generalanwälte wirkten (Antonio Tizzano, José Luís da Cruz Vilaça) und umgekehrt ein Generalanwalt früher Richter am EuGH war (Melchior Wathelet). Eine nicht unbedeutende Rolle für die Rechtsprechung spielen auch die Rechts26 referenten (référendaires), welche die Richter in ihrer Tätigkeit unterstützen.37 Diese Referenten bleiben im Durchschnitt fünf Jahre lang am EuGH.38 Ihr Einfluss auf die Urteilsfindung und Urteilsformulierung lässt sich für Außenstehende aber schwer messen.39 Zusammenfassend lässt sich daher festhalten, dass sich eine besondere Prä27 gung der EuGH-Rechtsprechung durch die Karrierewege der Richter nicht feststellen lässt, da die Richter aus verschiedenen praktischen Rechtsberufen, aber auch von Universitäten kommen. Einzige Besonderheit ist die – für ein Verfassungsgericht typische – politische Aktivität vieler Richter vor ihrer Berufung an den EuGH. Diese Herkunft mag erklären, wieso der EuGH – zumindest in der Anfangszeit – auch bei der Auslegung von einfachem Recht oft rechtsschöpferisch gewirkt hat.

3. Die Autoren europarechtlicher Publikationen 28 Da der EuGH in seinen Urteilen nie die Literatur zitiert (obwohl er über die umfas-

sendste Bibliothek europarechtlicher Literatur in allen Vertragssprachen verfügen dürfte40), ist der Einfluss von Publikationen auf die Rechtsprechung schwer messbar. Allgemein lässt sich dagegen feststellen, dass die Zahl der europarechtlichen Publikationen in den letzten Jahren enorm zugenommen hat. Zum einen gibt es immer mehr europarechtliche Spezialzeitschriften, zum anderen findet man auch in den klassischen Zeitschriften des Zivilrechts, des öffentlichen Rechts sowie des Völkerrechts immer häufiger Aufsätze mit europarechtlichem Bezug. Dieser Umstand und der oben erwähnte Querschnittscharakter des Unions29 rechts zeigen, dass Studien wie die von Schepel/Wesseling41 mittlerweile bereits vom Ansatz her überholt sind.42 Diese hatten die CMLRev, die EuR und die CDE danach

_____ 37 Gervasoni Mélanges Puissochet, 2008, S 105–116. 38 Gervasoni Mélanges Puissochet, 2008, S 105 (107). 39 Nach Schiemann ZEuP 2005, 741 (743), ist ihr Einfluss beträchtlich. 40 Online recherchierbar auf der Website des EuGH unter http://bib-curia.eu/client/default. 41 Schepel/Wesseling ELJ 1997, 165–188; im Ergebnis zustimmend Dauner-Lieb/Rusche/Umansky GS Ulrich Hübner, 2012, S 629 (637). 42 Zusätzlich stellt sich die Frage, ob Archivzeitschriften als empirische Basis hier wirklich sinnvoll sind. Auch wenn oft so verfahren wird (so zB auch in dem Band von Olivier Beaud/Erk Volkmar Heyen [Hrsg], Eine deutsch-französische Rechtswissenschaft? Kritische Bilanz und Perspektiven eines Joachim Gruber

IV. Die Rechtsprechung des EuGH | 785

untersucht, welchen Tätigkeiten die Autoren nachgehen, um so eine „Legal Community“ des Europarechts herauszuarbeiten. Untersuchungszeitraum waren die Jahre ab erstmaligem Erscheinen der Zeitschrift (CMLRev 1963 / EuR 1965 / CDE 1966) bis zum Jahr 1995. Nach ihrer Feststellung stammten 56,5% der Aufsätze aus der Feder von Hochschulangehörigen, 17% von Mitgliedern oder Mitarbeitern der Kommission und nur 8% von Anwälten. Die weit überwiegende Zahl der Probleme des Unionsrechts kann nur erkennen 30 und verstehen, wer sich mit einem speziellen Rechtsgebiet eines nationalen Rechts (oder des Völkerrechts) beschäftigt und zusätzlich über Kenntnisse des Unionsrechts verfügt. So stößt man zB nur bei Kenntnissen in einem speziellen Fachgebiet auf die Frage, ob die Rechtsprechung des BAG, wonach kein zeitlich befristeter Anspruch auf Teilzeitarbeit bestehe, mittelbar die Frauen benachteiligt,43 oder auf die Frage, ob die Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts dem EuGH ein Vorabentscheidungsverfahren vorlegen kann.44 Daher kommen zumindest heute viele Aufsätze zum Unionsrecht von Autoren, die sich nur am Rande mit dem Unionsrecht beschäftigen. Die These, dass das Unionsrecht von einer Legal Community geprägt werde, kann man daher verwerfen. Höchstens im Bereich der Grundsatzfragen des Unionsrechts gibt es vielleicht eine Gruppe von Spezialisten des Unionsrechts, welche die literarischen Debatten prägen. IV. Die Rechtsprechung des EuGH IV. Die Rechtsprechung des EuGH 1. Die strukturellen Rahmenbedingungen Am EuGH45 sind (nur) 28 Richter tätig. Die häufig vertretene These, dass in der heu- 31 tigen Zeit allgemein nur noch Spezialisten eingesetzt würden, gilt (zumindest) für den EuGH nicht. Dieser ist ua für Agrarrecht, Arbeitsrecht, Asylrecht, Atomrecht, Datenschutzrecht, das Dienstrecht der EU, Energierecht, Insolvenzrecht, Internationales Privatrecht, Katastrophenschutzrecht, Markenrecht, Sozialrecht, Steuerrecht,

_____ kulturellen Dialogs, 1999, für die Bedeutung des deutsch-französischen Dialogs), lässt sich nicht übersehen, dass diese Zeitschriften von Praktikern kaum gelesen werden. Ihre Bedeutung beschränkt sich daher auf den Wissenschaftsbetrieb und auf die Obergerichte. 43 Gruber DB 2007, 804–806. Mittlerweile hat der deutsche Gesetzgeber das Problem durch eine Gesetzesänderung etwas entschärft, vgl Gesetz zur Weiterentwicklung des Teilzeitrechts v 11.12.2018 (BGBl I 2384). 44 Gruber GRUR Int 2009, 907–911. 45 Hinzu kommen die Richterstellen am EuG. Vgl zur Personalsituation am EuG Wägenbaur EuZW 2015, 889 (890), der angesichts der schrittweisen Verdoppelung der ursprünglich 28 Planstellen beim EuG ab dem Jahr 2015 meint, die Richter am EuG würden nach Abschluss des Stellenausbaus dann bei 18 Prozessen pro Richter pro Jahr „Gefahr laufen, sich künftig um die … neuen Rechtssachen balgen zu müssen.“ Joachim Gruber

786 | § 11 Methodische Besonderheiten des Unionsrechts

Recht der auswärtigen Beziehungen, Umweltrecht, Verbraucherschutzrecht, Verfassungsrecht (in der Terminologie der EU: Grundrechte, Grundfreiheiten und Streitigkeiten zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten) sowie Wettbewerbsrecht zuständig. Deutschland benötigt für diese Materien gleich sechs Oberste Bundesgerichte: Bundesarbeitsgericht, Bundesfinanzhof, Bundesgerichtshof, Bundessozialgericht, Bundesverwaltungsgericht und das Bundesverfassungsgericht, wobei es allein am Bundesgerichtshof 129 Planstellen für Richterinnen und Richter gibt. Der EuGH ist zwar nur für die unionsrechtlichen Aspekte eines Rechtsstreits zu32 ständig; seine Entscheidung hat aber Auswirkungen auf den Rechtsstreit insgesamt. Es wäre daher wünschenswert, dass zumindest der jeweilige Berichterstatter die rechtlichen Regelungen der betreffenden Rechtsmaterie in allen EU-Mitgliedstaaten in den Grundzügen kennt und ihm auch die einschlägige Rechtspraxis nicht fremd ist. Diesem Ziel zumindest nahe zu kommen, versucht der EuGH dadurch, dass die Rechtssachen nicht – wie in Deutschland – nach einem Geschäftsverteilungsplan vergeben werden; vielmehr ist der Gerichtspräsident46 frei in seiner Entscheidung, wen er als Berichterstatter bestimmt.47 Diese Vorgehensweise ermöglicht zwar eine gewisse Spezialisierung der einzel33 nen Richter, schafft aber zugleich neue Probleme. Das deutsche Recht gewährt durch Art 101 I 2 GG einen subjektiven Anspruch auf den gesetzlichen Richter; es handelt sich dabei um ein grundrechtsähnliches Recht.48 Regelungen, die der Bestimmung des gesetzlichen Richters dienen, müssen im Voraus so eindeutig wie möglich festlegen, welche Richter zur Entscheidung des Einzelfalls berufen sind.49 Bei Zugrundelegung der deutschen Maßstäbe würde ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH durch ein deutsches Gericht das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzten.50 Gravierender ist jedoch, dass die Aufgabe des Berichterstatters nicht gleich34 mäßig auf die Richter verteilt wird, sondern sowohl hinsichtlich der Zahl als auch hinsichtlich der Bedeutung der Verfahren große Unterschiede bestehen. Kalbheim51 hat dies in einer Studie nachgewiesen; untersucht hat er dafür die Belastung der einzelnen Richter im Zeitraum von 2004 bis 2015. Überraschend ist, dass nicht die Richter aus den politisch gewichtigen EU-Mitgliedstaaten die Hauptlast der Arbeit am EuGH bewältigen; so hatte zB Richter Ilešič aus dem kleinen Slowenien die

_____ 46 Der Präsident des Gerichtshofs wird von den Richtern aus ihren Reihen gewählt (Art 253 III AEUV); er hat also keine unmittelbare demokratische Legitimation. 47 Vgl Art 15 I EuGH-VerfO; Ausnahmen bestehen für Eilvorabentscheidungsverfahren, die Überprüfung von Rechtsmittelentscheidungen und die Überprüfung von Vorabentscheidungsverfahren. 48 BVerfG, 2 BvR 581/03, NJW 2005, 2689. 49 BVerfG, 2 BvR 229/09, NJW 2009, 1734. 50 Zu diesem Schluss kommt Selder ZRP 2011, 164. 51 Kalbheim ZVglRWiss 2016, 431–482. Joachim Gruber

IV. Die Rechtsprechung des EuGH | 787

höchste Zahl an Verfahren der Großen Kammer und der Kammer mit fünf Richtern als Berichterstatter betreut (dabei hatte er vor der Großen Kammer fünf Mal mehr Verfahren als einige andere Richter).52 Damit ist die tatsächliche Bedeutung eines Richters für die Rechtsfindung am EuGH vom Wohlwollen des Gerichtspräsidenten abhängig.53

2. Der rechtliche Rahmen Die Kompetenzen des Gerichtshofs sind sehr weit gefasst.54 So hieß es in Art 164 35 EWGV: „Der Gerichtshof sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und der Anwendung dieses Vertrags“. Diese Formulierung wurde in Art 19 I 2 EU übernommen; nur heißt es nun „der Verträge“. Die „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ werden nur in Art 340 II AEUV aus- 36 drücklich erwähnt („… allgemeine Rechtsgrundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind“). Es war aber schon immer anerkannt, dass die allgemeinen Rechtsgrundsätze auch außerhalb des Geltungsbereiches des Art 340 AEUV anzuwenden sind. Daher gehören auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze zum Prüfungsmaßstab des EuGH.55 So heißt es in einem EuGH-Urteil56 des Jahres 2007: „Die Europäische Gemeinschaft ist jedoch eine Rechtsgemeinschaft, in der die Handlungen ihrer Organe darauf hin kontrolliert werden, ob sie mit dem EG-Vertrag und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, zu denen auch die Grundrechte gehören, vereinbar sind.“ Eine ausdrückliche Bestimmung, die den EuGH ermächtigen würde, Rege- 37 lungslücken zu schließen, gibt es nicht. Der EuGH geht aber von einer solchen Befugnis aus. So hat er zB dem Europäischen Parlament die Möglichkeit zuerkannt, zur Wahrung seiner Rechte zu klagen, obwohl das Parlament im damaligen Art 173 EWG-Vertrag nicht als klagebefugtes Organ genannt war.57 Er hat dazu ausgeführt, dass das Fehlen einer Bestimmung in den Verträgen, die das Recht des Parlaments zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage vorsehe, eine verfahrensrechtliche Lücke darstellen möge, diese könne jedoch nicht schwerer wiegen als das grundlegende Interesse an der Aufrechterhaltung und Wahrung des von den Verträgen zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften festgelegten institutionellen Gleichgewichts.

_____ 52 Kalbheim ZVglRWiss 2016, 431 (473); diese Zahlen beziehen sich auf den Zeitraum 2006 bis 2015. 53 Der Gerichtshof besteht nach Art 19 II UAbs 1 S 1 EUV aus einem Richter je Mitgliedstaat. Diese vom EUV vorgesehene gleichmäßige Vertretung der Mitgliedstaaten wird unterlaufen, wenn die einzelnen Richter hinsichtlich ihres praktischen Einsatzes unterschiedlich behandelt werden. 54 So auch die Einschätzung von Kakouris FS Everling I, 1995, S 629 (632, 635). 55 Vgl zB EuGH, Rs C-20/88 – SA Roquette frères, Rn 12. 56 EuGH, Rs C-50/00 P – Unión de Pequeños Agricultores / Rat, Rn 38. 57 EuGH, Rs C-70/88 – Parlament / Rat, Rn 26. Joachim Gruber

788 | § 11 Methodische Besonderheiten des Unionsrechts

3. Die Bedeutung der Gesetzesmaterialien und der Gesetzessprache 38 Im primären Unionsrecht finden sich keine Hinweise auf die Auslegung der europa-

rechtlichen Normen; einzige Ausnahme bildet insoweit die Charta der Grundrechte der EU.58 Die dem EuGH zur Verfügung stehenden Auslegungskriterien entsprechen daher denen, die allgemein in der Methodenlehre bekannt sind.59 Bezüglich der historischen Auslegung ist anzumerken, dass die Materialien zum primären Unionsrecht lange Zeit der Öffentlichkeit nicht zugänglich waren; erst 1983 entschlossen sich die Institutionen der EU, ihre Archive zu öffnen.60 Bei den neueren Verträgen (seit dem Amsterdamer Vertrag von 1996) wurden die Gesetzgebungsmaterialien sofort veröffentlicht.61 Bleckmann62 hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der EuGH bezüglich des 39 primären Unionsrechts auf die Materialien hätte zurückgreifen können, die anlässlich der nationalen Zustimmungsverfahren zu den Gründungsverträgen veröffentlicht worden sind. Dass der EuGH darauf verzichtete, ist – so Bleckmann – eine bewusste Entscheidung für eine rein objektive Auslegung. Angesichts der Textversionen in mehreren Amtssprachen kommt noch die 40 aus dem Völkerrecht bekannte Frage hinzu, welche Auslegung vorzunehmen ist, wenn die verschiedenen Textversionen inhaltlich nicht übereinstimmen. Insoweit vertritt der EuGH in ständiger Rechtsprechung die Ansicht, dass es notwendig sei, das Unionsrecht einheitlich anzuwenden und damit auch auszulegen. In Zweifelsfällen sei eine Bestimmung in einer ihrer Fassungen nicht isoliert zu betrachten, sondern sie sei unter Berücksichtigung ihrer Fassungen in den anderen Amtssprachen auszulegen und anzuwenden. Wenn die verschiedenen Sprachfassungen eines Unionstextes voneinander abweichen, müsse die fragliche Vorschrift nach dem Zusammenhang und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehöre.63

4. Der Urteilsstil des EuGH 41 Innerhalb der EU kann man drei verschiedene Urteilsstile ausmachen.64 Den englischen Stil, der sich an Präjudizien orientiert, dabei gleichzeitig dem Richter persönliche Formulierungen erlaubt und inhaltlich auch pragmatische Erwägungen zulässt, ergänzt durch die Möglichkeit einer „dissenting opinion“ für einen Richter,

_____ 58 Art 51 bis 54 der Grundrechtscharta. 59 Zu diesen Grundsätzen vgl die Übersicht bei Gruber DVP 2009, 409–412. 60 Vgl Entscheidung 359/83/EGKS der Kommission vom 8.2.1983, ABl 1983 L 43/14 (bezüglich der Archive der EGKS); VO 354/83 des Rates vom 1.2.1983, ABl 1983 L 1983 43/1 (Archive der EWG und der EAG). Zum Ganzen vgl Hoeren FS Bernhard Großfeld, 1999, S 405 (406 f). 61 Dazu Itzcovich GLJ 2009, 537 (554). 62 Bleckmann NJW 1982, 1177 (1178). 63 EuGH, Rs C-52/10 – ALTER CHANNEL, Rn 23, 24. 64 Due FS Everling I, 1995, S 273 (274); Basedow/Hopt/Zimmermann/Kötz S 1–19. Joachim Gruber

IV. Die Rechtsprechung des EuGH | 789

der mit dem Urteilstext nicht einverstanden ist, den deutschen Stil mit sehr ausführlichen Urteilen, in denen sich das Gericht nicht nur mit der Rechtsprechung, sondern auch mit der Literatur auseinandersetzt und diese wie in einer wissenschaftlichen Abhandlung zitiert, und den französischen Stil, wo apodiktisch ein Ergebnis festgelegt wird.65 Zu Beginn war die Rechtsprechung des EuGH sehr stark von der französischen 42 Gerichtstradition geprägt; entsprechend kurz und ohne größere Begründung fielen die Urteile aus. Auch bei der Schaffung des Amts des Generalanwalts am EuGH wurde man von dem Commissaire du Gouvernement beim Conseil d’État inspiriert.66 Der französische Einfluss zeigt sich vor allem dadurch, dass interne Arbeitssprache des EuGH seit Beginn – ohne dass es dafür eine Rechtsgrundlage gibt – die französische Sprache ist.67 Diese Sprachpraxis68 führt dazu, dass die Mitgliedstaaten im Regelfall Richter an den EuGH entsenden, die nicht nur durch das Rechtssystem ihres Herkunftsstaats geprägt wurden, sondern auch mit der französischen Rechtskultur vertraut sind.69 Ferner sind die Rechtsreferenten der Richter ganz überwiegend französische Muttersprachler.70 Während die EU für Übersetzungen riesige Beträge ausgibt, wird ausgerechnet bei dem – zumindest in der Vergangenheit – machtvollsten Organ nur eine Sprache gesprochen.71

_____ 65 „La Cour décide et ne discute pas“, vgl dazu Gruber ZVglRWiss 2008, 1 (31). 66 Lenz FS Everling I, 1995, S 719 (722). 67 Hirsch MDR 1999, 1 f.; vdGroeben/Schwarze/Hatje/Landwehr Art 254 AEUV Rn 26 f. 68 Dazu vdGroeben/Schwarze/Hatje/Landwehr Art 254 AEUV Rn 27: „Angesichts der großen Effizienzprobleme des Gerichts ist es sehr verwunderlich und nur politisch und soziologisch erklärbar, dass eine zweite Arbeitssprache (wie an allen anderen internationalen Gerichten üblich) vom Gericht hartnäckig abgelehnt wird.“ Ferner Gross FS Nobbe, 2009, 969 (975): „[Wenn Französisch] als Arbeitssprache nur noch von zwei oder drei der dreizehn Richter einer Großen Kammer wirklich beherrscht, von einigen leidlich geübt und von den übrigen gerade erst erlernt wird, sind Zweifel erlaubt, ob alle Richter noch in gleicher Weise ihre Erwägungen in das Beratungsergebnis einbringen können.“ S a Hirsch MDR 1999, 1 (2): „gewisses Handicap für alle nicht frankophonen Richter“; der anschließend diese Aussage, mit Hinweis auf die schriftliche Vorbereitung der Urteilsberatung, etwas relativiert. 69 Ein Umstand, der für kleinere EU-Mitgliedstaaten die Auswahl unter den geeigneten Juristen für ein Richteramt am EuGH im Übrigen erheblich einschränkt. 70 Vgl vdGroeben/Schwarze/Hatje/Reithmann Art 270 AEUV Rn 4 Fn 12. 71 Politisch besonders pikant ist dieser „sprachliche Heimvorteil“ der Franzosen beim EuGH deswegen, weil der EuGH nur deshalb in einer in den EU-Mitgliedstaaten von Gerichten nicht gekannter Weise „rechtsschöpferisch“ tätig werden konnte, weil der Rat durch die „Politik des leeren Stuhls“ des französischen Präsidenten de Gaulle von 1965 bis 1985 zuerst politisch handlungsunfähig und dann durch den Luxemburger Kompromiss auf Einstimmigkeit angewiesen war. Für den Einsatz von Simultandolmetschern Gruber DZWIR 2018, 556 (560). Joachim Gruber

790 | § 11 Methodische Besonderheiten des Unionsrechts

Der französische Einfluss72 zeigt sich auch beim Urteilsaufbau: Im Gegensatz zum Aufbau der Entscheidungen deutscher Gerichte steht der Tenor nicht am Anfang, sondern – wie in Frankreich – am Ende der Entscheidung. In der französischen Sprachversion der EuGH-Urteile folgte man bis zur Entscheidung 141/78 vom 4.10.1979 sogar stilistisch den französischen Gepflogenheiten: Wie in den Urteilen der Cour de cassation73 bestand die Begründung aus einem einzigen, langen Satz, dessen Satzteile durch Semikolon getrennt und jeweils mit „attendu que“ (in Erwägung, dass) eingeleitet wurden. In der deutschen Version der Urteile hatte man – zu Recht – die Sprachfloskel „attendu que“ nicht übersetzt, sondern diese Satzeinleitung weggelassen. Wenn man vom Urteilsstil des EuGH spricht, muss man allerdings auch erwäh44 nen, welchen Zeitraum man betrachtet. Oft entsteht der Eindruck, dass die Urteile des EuGH im Durchschnitt immer länger werden. Um dies zu überprüfen, kann die Länge einiger der „großen“ Entscheidungen ermittelt werden: Van Gend & Loos (Rs 26/62) kommt auf 1.516, Costa/E.N.E.L. (Rs 6/64) auf 2.254, Cassis de Dijon (Rs 120/78) auf 835 und Keck (Rs C-267/91) auf 735 Wörter (wobei die Abschnitte „Zur Vorlagefrage“, „Rechtlicher Rahmen“ und „Kosten“ nicht gezählt wurden). Ferner können zum Vergleich einige aktuelle EuGH-Urteile (herausgegriffen wurde als Urteilsdatum der 10.10.2013) herangezogen werden. Diese hatten folgenden Umfang: Rs C-622/11: 1.437; Rs C-86/12: 1.402; Rs C-94/12: 1.248; Rs C-306/12: 1.132; Rs C321/12: 1.967; Rs C-336/12: 1.036 Wörter. Bei allen berechtigten methodischen Einwänden gegen einen Vergleich der 45 Anzahl der Wörter einer Entscheidung ohne Berücksichtigung ihres Gegenstands lässt sich doch feststellen, dass die Begründungen der Urteile tendenziell etwas länger werden. Je länger ein Urteil ist, oder anders gesagt, je ausführlicher die Begründung ist, desto schwieriger wird es für das Gericht, sein Ergebnis nur auf allgemeine Rechtsgrundsätze zu stützen. Ist ein Gericht – rechtlich oder faktisch – zur Abfassung umfangreicher Urteile verpflichtet, muss es sich mit den bestehenden 43

_____ 72 Dieser Einfluss ist nicht sachlich, sondern geschichtlich bedingt. Hervorgegangen ist der EuGH aus dem Rechtsprechungsorgan der EGKS. Die EGKS wurde 1951 durch Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande gegründet. Betrachtet man das politische Gewicht der einzelnen Staaten im Gründungsjahr, wird der französische Einfluss verständlich. Die Bundesrepublik Deutschland war so kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs – sie stand noch bis 1955 unter Besatzungsrecht – froh, dass sie überhaupt als formal gleichberechtigter Partner an einer internationalen Organisation beteiligt wurde. Die Benelux-Staaten waren schon von ihrer Größe her weniger gewichtig als Frankreich, und Italien spielte und spielt bei der Entwicklung der EU eine eher passive Rolle. Auch die Sprachenwahl war angesichts der sechs Gründungsstaaten naheliegend: Französisch war die alleinige Amtssprache in Frankreich und eine der Amtssprachen in Belgien und Luxemburg. 73 Dazu Zweigert/Kötz S 121; im Jahr 2019 hat die Cour de cassation diesen Urteilsstil aufgegeben und verfasst ihre Urteile nun nicht mehr nur in einem Satz. Joachim Gruber

IV. Die Rechtsprechung des EuGH | 791

Normen und deren Auslegung auseinander setzen. Der Wechsel bezüglich des Urteilsstils hat auch mit dem Selbstverständnis des EuGH zu tun. Immer wieder betonen insbesondere Richter des EuGH, dass dessen Bedeutung auch von der Akzeptanz seiner Urteile abhänge. Konnte Kakouris 74 1995 noch mit Fug und Recht schreiben, dass bis auf ganz wenige Ausnahmen75 die Rechtsprechung des EuGH im Großen und Ganzen auf Zustimmung stieß, gilt dies heute nicht mehr. Man kann hier Urteile wie „Christel Schmidt“76 nennen, die fast einhellig in der ganzen EU auf Ablehnung stießen.77 Hinzu kommt die wachsende Bedeutung des Europäischen Parlaments, das die bereits früher erhobene Frage78 nach der demokratischen Legitimation des EuGH für Rechtsschöpfungen verstärkt hat. Ferner kann man eine allgemein gewachsene EU-Skepsis feststellen (oder richtiger wohl: das Verschwinden der angesichts der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs großen Zustimmung für ein politisch kooperierendes Europa, von dem man sich Friedenssicherung und Wohlstand versprach79), welche dazu geführt hat, dass Vieles – auch die Rechtsprechung des EuGH – kritisch hinterfragt wird. Der Urteilsstil und die Methodik des EuGH sollen im Folgenden an einem kon- 46 kreten Beispiel analysiert werden. Hierfür wurde bewusst kein „berühmtes“ Urteil ausgewählt, mit dem das EU-Recht grundlegend gestaltet wurde. Das ausgewählte Verfahren (C-196/09 – Miles ua / Europäische Schulen)80 fand aber vor der Großen Kammer statt, so dass davon ausgegangen werden kann, dass es mit Sorgfalt abgefasst wurde. Um zu vermeiden, dass auf Grund der Einbettung der europarechtlichen Vorlagefrage in eine nationale Rechtsordnung die Problematik für Leser aus den nicht betroffenen EU-Mitgliedstaaten nicht interessant ist, wurde eines der wenigen Verfahren ausgesucht, bei denen ein internationales Gericht, nämlich die Beschwerdekammer der Europäischen Schulen,81 dem EuGH eine Vorlagefrage gestellt hat.

_____ 74 Kakouris FS Everling I, 1995, S 629 (638). 75 Kritisch zB Wengler Anmerkung zu EuGH, Rs 26/62, NJW 1963, 1751 (1752): „Der unbefriedigende Eindruck, den man von der Entscheidung gewinnt, wird verstärkt, wenn man die reichlich großzügige Begründung vergleicht mit der peinlichen Sorgfalt, mit der andere internationale Gerichte, wie zB der Internationale Gerichtshof im Haag, ihre Entscheidungen zu begründen pflegen.“ 76 EuGH, Rs C-392/92 – Christel Schmidt. Dazu ausführlich Windt insbesondere S 91. 77 Vgl dazu die Titel der Besprechungsaufsätze der Christel-Schmidt-Entscheidung, die unter curia.europa.eu, dort „Rechtsprechung“, dann „Urteilsanmerkungen und -besprechungen“, „Teil 2 (1989 –2004)“ aufgelistet sind: Quo vadis, EuGH?; Vom Reinigungsvertrag zur Krise der Europäischen Union?; Der EuGH im Arbeitsrecht – die schwarze Serie geht weiter. 78 Vgl Frenz Hdb 5, S 670. 79 Vgl die Präambel des EUV. 80 EuGH, Rs C-196/09 – Miles. 81 Zu den Europäischen Schulen s Gruber ZaöRV 2005 (65), 1015–1032; Odendahl/Gruber S 349– 370. Joachim Gruber

792 | § 11 Methodische Besonderheiten des Unionsrechts

5. Einige formale Besonderheiten der EuGH-Entscheidungen a) Parteinamen 47 Im Rubrum des oben (Rn 46) erwähnten Verfahrens nennt der EuGH die Parteien, hier Paul Miles ua gegen Europäische Schulen. Dies ist insofern erstaunlich, weil die Beschwerdekammer der Europäischen Schulen als vorlegendes Gericht dem allgemeinen Trend folgend kurz zuvor die Entscheidungen nur noch anonymisiert veröffentlicht hat. So verzichten zB auch das Verwaltungsgericht der internationalen Arbeitsorganisation (ILOAT) seit 2002 und das Verwaltungsgericht der Vereinten Nationen (UNAT) seit 2005 auf die Nennung der Namen der klagenden Partei.82 Mit Nennung der Namen folgt der EuGH zwar der französischen Gerichtstradition; in Frankreich hat aber bereits 2001 die Commission nationale de l’informatique et des libertés angemahnt, zumindest bei der Veröffentlichung im Internet auf die Nennung der Namen der Parteien zu verzichten.83 Erst ab Juli 2018 hat der EuGH in allen neu veröffentlichten Dokumenten, die sich auf Vorabentscheidungsersuchen beziehen, die Namen der an der Rechtssache beteiligten Personen durch die Anfangsbuchstaben ersetzt.84 Wenn auch oft der Eindruck entsteht, dass der EuGH die Speerspitze der Entwicklung bildet (zB beim Diskriminierungsschutz), so kann er diese Vorreiterrolle bezüglich der Anonymisierung der Entscheidungen nicht für sich in Anspruch nehmen. Andere internationale Gerichtshöfe haben diesen datenschutzrechtlich gebotenen Schritt schon mehr als zehn Jahre vor dem EuGH getan.

b) Aufbau 48 In dem Verfahren (Rn 46) hatte der Juristische Dienst der Kommission85 Stellung

genommen.86 Die Stellungnahme umfasst 31 DIN-A4-Seiten. Der EuGH fasst die Stellungnahme mit der Stellungnahme der Klägerin in den Rn 30 bis 36 seines Urteils zusammen. Die rechtliche Würdigung durch den EuGH selbst ist ziemlich kurz (Rn 37–46). Zuerst setzt er sich dabei mit seiner Entscheidung Dior (Rs C-337/95) auseinander. Dort hatte er die Vorlageberechtigung eines internationalen Gerichts – des Benelux-Gerichtshofs in Markensachen – bejaht. Er erläutert, wodurch sich der zu entscheidende Fall von dem damaligen unterscheidet und gibt dafür eine zumindest nachvollziehbare Begründung. Damit nähert er sich der „deutschen Argumentationstechnik“ an.

_____ 82 Ullrich S 102 f. 83 Vgl dazu Gruber DuD 2003, 55 (56). 84 Pressemitteilung Nr. 96/18 des Gerichtshofs der Europäischen Union v. 29.6.2018; zum Datenschutz s im Übrigen Art 16 AEUV. 85 Zu den Aufgaben des juristischen Dienstes der Kommission und seiner Schwesterorganisation beim Ministerrat vgl Dewost Mélanges Puissochet, 2008, S 59–64. 86 Stellungnahme vom 13.10.2009, JURM (09) 9183 – unveröffentlicht. Joachim Gruber

IV. Die Rechtsprechung des EuGH | 793

Allerdings verfällt er dann wieder in das Formelhafte. Die Generalanwältin hat- 49 te deswegen für eine Vorlageberechtigung der Beschwerdekammer der Europäischen Schulen plädiert, weil nach ihrer Ansicht sonst die Einheit und Kohärenz des Unionsrechts gefährdet wäre. Der EuGH sagt dazu:87 „Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine Entwicklung des … Rechtsschutzsystems in dem … Sinne sicherlich vorstellbar ist, dass es aber Sache der Mitgliedstaaten wäre, das derzeit geltende System zu reformieren.“ Auf die zentrale Frage, ob – solange die Mitgliedstaaten nicht tätig wurden – der EuGH für ein kohärentes System sorgen muss, ging er gar nicht ein. Er überspielt diese Argumentationsschwäche dadurch, dass er – zum großen Teil wörtlich – aus einer früheren Entscheidung (Rs C-50/00 P) zitiert. Dort war die Rechtsmittelführerin ein Berufs- und Interessenverband von spanischen Landwirtschaftsbetrieben, welcher gegen eine EU-Verordnung vorgehen wollte; die Vergleichbarkeit dieser Situation mit der zu entscheidenden Streitfrage hätte daher zumindest begründet werden müssen. Insgesamt ist deswegen die Begründung des Urteils mehr „französisch“ als „deutsch“. Im Ergebnis verneinte der EuGH die Vorlageberechtigung der Beschwerdekammer der Europäischen Schulen.

6. Die Begründung der EuGH-Entscheidungen a) Auseinandersetzung mit älteren Urteilen Der EuGH zitiert oft ältere EuGH-Entscheidungen; manchmal werden ganze Absätze 50 übernommen. Auf Urteile von nationalen Gerichten der EU-Mitgliedstaaten geht der EuGH dagegen nie ein. Außer auf seine eigenen Entscheidungen weist er nur auf Urteile des EGMR88, des EFTA-Gerichtshofs89 und des IGH90 hin. Seine eigenen Urteile hält der EuGH hält anscheinend für eine Rechtsquelle. So 51 sagt er in der Entscheidung „Lair“:91 „Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes […] ergibt sich, dass dieser Begriff des Arbeitnehmers gemeinschaftsrechtliche Bedeutung hat und dass seine Bestimmung nicht von den in den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten definierten Kriterien abhängen kann.“ Zur Frage der Berufung auf Präjudizien ist das Urteil in der Rs C-233/0092 be- 52 sonders anschaulich. Dort führt der EuGH aus:93 „Im Übrigen hat der Gerichtshof in Randnummer 33 des Urteils vom 9. September 1999, Kommission/Deutschland, in Bezug auf die Richtlinie 90/313 bereits eine ähnliche Unterscheidung zwischen Arti-

_____ 87 88 89 90 91 92 93

EuGH, Rs C-196/09 – Miles, Rn 45. Vgl zB EuGH, Rs C-220/18 PPU, Rn 90–99. Vgl zB EuGH, Rs C-277/12 – Drozdovs, Rn 38. Vgl zB EuGH, Rs C-366/10, Rn 104; EuGH, verb Rs C-464/13 und C-465/13 – Oberto, Rn 61. EuGH, Rs 39/86 – Sylvie Lair, Rn 41. EuGH, Rs C-233/00 – Kommission / Französische Republik. EuGH, Rs C-233/00 – Kommission / Französische Republik, Rn 55.

Joachim Gruber

794 | § 11 Methodische Besonderheiten des Unionsrechts

kel 3 Absatz 2 Unterabsatz 2 und Absatz 2 Unterabsatz 1 dieses Artikels vorgenommen; betrachtet man seinen Wortlaut, so ist aber Artikel 3 Absatz 2 Unterabsatz 1 mit Artikel 3 Absatz 3 dieser Richtlinie, um den es bei der vorliegenden Rüge geht, vollständig vergleichbar“. Einige Absätze weiter94 heißt es dagegen im gleichen Urteil lapidar: „Schließlich 53 ist festzustellen, dass Randnummer 22 des von der Kommission angeführten Urteils Michel/Parlament nicht auf die vorliegende Rechtssache entsprechend angewandt werden kann, da sich der Kontext, in dem das erwähnte Urteil ergangen ist, von dem der vorliegenden Klage unterscheidet.“ Worin der Unterschied zwischen den beiden Rechtssachen besteht, sagt der EuGH nicht. Während die Argumentation im ersten Punkt in etwa deutschen Standards ent54 spricht, fehlt beim zweiten Punkt jegliche Begründung. Diese Art von Rechtsprechung stimmt weder mit der deutschen noch mit der englischen Tradition überein.95

b) Aufgabe der bisherigen Auffassung 55 Dass der EuGH in einem Urteil zugibt, bislang eine „falsche“ Auffassung vertreten zu haben, und von dieser dann ausdrücklich abrückt, kommt nur sehr selten vor. In der Literatur wird hier gelegentlich die EuGH-Entscheidung in der Sache HAG II (Rs C-10/89)96 zitiert. Tatsächlich hatte der EuGH dort ausgeführt: „… ist zunächst festzustellen, dass der Gerichtshof es für erforderlich hält, die in jenem Urteil [gemeint ist die Rs 192/73 – HAG I] vorgenommene Auslegung im Lichte der Rechtsprechung zu überprüfen, die inzwischen zur Frage des Verhältnisses … ergangen ist.“ Generalanwalt Jacobs97 hatte in seinen Schlussanträgen gefordert: „Es wäre meines Erachtens heilsamer, anzuerkennen, dass die Rechtssache HAG I falsch entschieden worden ist, als diesen Irrtum dadurch auszugleichen, dass man sich einen in Wirklichkeit nicht bestehenden Unterschied zwischen beiden Rechtssachen ausdenkt.“ So weit geht der EuGH aber nicht; er belässt es bei diesem zitierten Satz und erläutert weder, was Inhalt der Entscheidung HAG I (Rs 192/73) war, noch stellt er ausdrücklich klar, ob er daran festhält oder nicht. Lediglich bei einem Vergleich der beiden Urteile kommt man zum Schluss, dass der EuGH seine Auffassung aufgegeben hat. Klarer rückt der EuGH von der bisherigen Rechtsprechung ab in seiner Ent56 scheidung „Keck“ (verb Rs C-267/91 und C-268/91), wo es heißt:98 „Demgegenüber

_____ 94 EuGH, Rs C-233/00 – Kommission / Französische Republik, Rn 109. 95 Zur englischen Tradition im Vergleich mit der EuGH-Rechtsprechung s die plastische Gegenüberstellung bei Schiemann ZEuP 2005, 741 (748 f). 96 EuGH, Rs C-10/89 – CNL-SUCAL / HAG. 97 Schlussanträge GA Jacobs, Rs C-10/89 – CNL-SUCAL / HAG, Nr 66. 98 EuGH, verb Rs C-267/91 und C-268/91 – Keck, Rn 16 (Hervorhebungen nur hier). Joachim Gruber

IV. Die Rechtsprechung des EuGH | 795

ist entgegen der bisherigen Rechtsprechung die Anwendung nationaler Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne des Urteils Dassonville […] unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren.“ Allerdings sollte man hier auch die vorhergehenden Absätze der Entscheidung 57 lesen. Dort heißt es nämlich in Rn 14: „Da sich die Wirtschaftsteilnehmer immer häufiger auf Artikel 30 EWG-Vertrag berufen, um jedwede Regelung zu beanstanden, die sich als Beschränkung ihrer geschäftlichen Freiheit auswirkt, auch wenn sie nicht auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten gerichtet ist, hält es der Gerichtshof für notwendig, seine Rechtsprechung auf diesem Gebiet zu überprüfen und klarzustellen.“ Der EuGH versucht hier also, ein Abrücken von seiner bisherigen Position als „Klarstellung“ zu „verkaufen“. Eine Rechtsprechungsänderung auf Grund veränderter Bedingungen findet 58 sich im EuGH-Urteil in der Rs C-184/99 – Grzelczyk.99 Dort heißt es: „Der Gerichtshof hat zwar in Randnummer 18 des Urteils vom 21.6.1988 in der Rs 197/86 (Brown, […]) ausgeführt, dass beim gegenwärtigen Stand der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts eine Förderung, die Studenten für den Lebensunterhalt und die Ausbildung gewährt wird, grundsätzlich nicht in den Anwendungsbereich des EWG-Vertrags […] fällt. Seit Verkündung des Urteils Brown ist jedoch durch den Vertrag über die Europäische Union die Unionsbürgerschaft in den EG-Vertrag aufgenommen … worden […]. Nichts im Text des geänderten Vertrages erlaubt die Annahme, dass Studenten, die Unionsbürger sind, die diesen Bürgern durch den Vertrag verliehenen Rechte verlieren, wenn sie sich zu Studienzwecken in einen anderen Mitgliedstaat begeben. Außerdem hat der Rat seit Verkündung des Urteils Brown auch die RL 93/96 erlassen, wonach die Mitgliedstaaten Studenten, die Angehörige eines Mitgliedstaats sind und bestimmte Voraussetzungen erfüllen, das Aufenthaltsrecht zuerkennen.“ Diese Äußerung wird später in der Rs C-209/03 – Bidar100 noch einmal fast wörtlich wiederholt. Hier hatte der EuGH allerdings schon in der Ausgangsentscheidung angedeutet, 59 dass seine Rechtsprechung keinen Bestand haben würde, denn es hieß im Tenor der Entscheidung „Lair“,101 einer Parallelentscheidung zum Urteil Brown: „… gilt beim gegenwärtigen Entwicklungsstand des Gemeinschaftsrechts …“. Da hier der zeitlich

_____ 99 EuGH, Rs C-184/99 – Grzelczyk, Rn 34, 35. 100 EuGH, Rs C-209/03 – Dany Bidar, Rn 38, 39. 101 EuGH, Rs 39/86 – Sylvie Lair. Joachim Gruber

796 | § 11 Methodische Besonderheiten des Unionsrechts

beschränkte Geltungsanspruch des Urteils im Tenor auftaucht – er hätte (sofern er überhaupt erwähnt wird) in die Entscheidungsgründe gehört, denn es ist selbstverständlich, dass der EuGH den gegenwärtigen Stand des Rechts seiner Entscheidung zu Grunde legen muss –, fiel dem EuGH auch das Abrücken von seiner Position offensichtlich nicht schwer. Dies ist daher wohl auch der einzige Fall, wo der EuGH in aller Klarheit unter ausdrücklicher Zitierung der überholten Urteile seine Rechtsprechung änderte. Die Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH ist angesichts der fehlenden 60 Selbstkritik oft nur schwer nachzuvollziehen; damit ist in diesen Fällen unklar, inwieweit frühere Urteile und die darin zu findenden Aussagen noch Gültigkeit beanspruchen.

c) Effet utile 61 Der EuGH bevorzugt seit jeher diejenige Auslegung, welche die europäische Integ-

ration fördert.102 Diese Auslegungsregel wird meist als „effet utile“ (deutsch „nützliche Wirkung“103) bezeichnet. So führte der EuGH104 zB zur unmittelbaren Geltung der Richtlinien aus: „Mit der den Richtlinien … zuerkannten verbindlichen Wirkung wäre es unvereinbar, grundsätzlich auszuschließen, dass betroffene Personen sich auf die durch die Richtlinie auferlegte Verpflichtung berufen können. Insbesondere in den Fällen, in denen etwa die Gemeinschaftsbehörden die Mitgliedstaaten durch Richtlinie zu einem bestimmten Verhalten verpflichten, würde die nützliche Wirkung („effet utile“) einer solchen Maßnahme abgeschwächt, wenn die Einzelnen sich vor Gericht hierauf nicht berufen und die staatlichen Gerichte sie nicht als Bestandteil des Gemeinschaftsrechts berücksichtigen könnten.“105

d) Rechtsvergleichung 62 Wenn man die Rechtsvergleichung für die Urteilsfindung nutzen will, gibt es zwei Möglichkeiten: Man sucht nach einer Regelung, die in allen Mitgliedstaaten gilt, oder man bedient sich der „wertenden Rechtsvergleichung“. Nach der letztgenannten Methode wird diejenige Regelung als allgemeiner Rechtsgrundsatz betrachtet, die sich bei einer kritischen Analyse der Lösungen, die sich nach einer rechtsvergleichenden Umschau ergeben, als die beste Lösung darstellt.106

_____ 102 103 104 105 106

So Kakouris FS Everling I, 1995, S 629 (633). So die Übersetzung bei EuGH, Rs 9/70 – Grad / Finanzamt Traunstein. EuGH, Rs 41/74 – van Duyn. Näher zum „effet utile“ Tichý/Potacs/Dumbrovský/Niedobitek. So Zweigert FS Dölle, 1963, S 401 (417). Joachim Gruber

IV. Die Rechtsprechung des EuGH | 797

Ein bekanntes Beispiel für eine rechtsvergleichende Begründung sind die Ausführungen des EuGH in seiner Entscheidung „Mangold“.107 Dort108 sagt der EuGH: „[Rn 74] Zweitens ist zu beachten, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf nicht in der Richtlinie 2000/78 selbst verankert ist …, wobei das grundsätzliche Verbot dieser Formen der Diskriminierung, wie sich aus der ersten und vierten Begründungserwägung der Richtlinie ergibt, seinen Ursprung in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen und den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten hat. [Rn 75] Das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters ist somit als ein allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts anzusehen.“ Dieses Urteil stieß auf harsche Kritik. In einer vom früheren deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog mitverfassten Besprechung heißt es:109 „Nur war dieser ‚allgemeine Grundsatz des Gemeinschaftsrechts‘ frei erfunden. Lediglich in zwei der (damals 25) Mitgliedstaaten – Finnland und Portugal – ist ein Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in der Verfassung erwähnt, und von einem völkerrechtlichen Vertrag ist, entgegen der lapidaren Behauptung des EuGH, schon gar nichts bekannt. Es ist also leicht zu erklären, warum der EuGH auf jegliche Präzisierung seiner Behauptung und auf jeglichen Beleg verzichtet. Mit dieser aus dem Hut gezauberten Konstruktion handelte der EuGH, grob gesprochen, nicht als Teil der rechtsprechenden Gewalt; er gebärdete sich vielmehr als gesetzgebende Gewalt, als Legislative“. Bernhard Großfeld110 hat einmal darauf hingewiesen, dass der Rechtsvergleicher nicht nur den Gesetzestext allein betrachten darf, er muss auch prüfen, ob die Norm in der Praxis angewandt und wie sie von den Gerichten ausgelegt wird. Die kurzen Begründungen des EuGH werden diesem Anspruch nicht gerecht. Dies gilt erst recht für die wertende Rechtsvergleichung (die nach Ansicht einiger Autoren111 der Mangold-Entscheidung zu Grunde liegt): Wenn die Wahl eines bestimmten Rechts nicht begründet wird, können Dritte das Urteil nicht nachvollziehen und auch nicht auf seine Richtigkeit überprüfen. Der EuGH hatte sich im Mangold-Urteil (nur) auf die erste und vierte Begründungserwägung der RL 2000/78 berufen. Dort heißt es: „Die Union achtet die Grundrechte, … wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben“ und „Die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und der Schutz vor Diskriminierung ist ein allgemeines Menschenrecht“. Diese Aussagen in der Begründungserwägung decken das EuGH-Urteil nur teilweise: Hier ist der EuGH wohl noch im französi-

_____ 107 108 109 110 111

EuGH, Rs C-144/04 – Mangold. Zu den Reaktionen auf dieses Urteil vgl Bouquet S 18 ff. EuGH, Rs C-144/04 – Mangold, Rn 74, 75. Herzog/Gerken Stoppt den Europäischen Gerichtshof, FAZ 8.9.2008. Großfeld FS Sandrock, 2000, S 329 (335). So zB Bouquet S 19.

Joachim Gruber

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798 | § 11 Methodische Besonderheiten des Unionsrechts

schen Urteilsstil verhaftet gewesen; eine Begründung, wie wir sie aus deutschen Urteilen kennen, liefert er nur scheinbar. Dass „Mangold“ kein Einzelfall ist, belegt zB die ältere Rs 20/88 – SA Roquette 67 frères. Dort führt der EuGH aus:112 „Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Klage aus außervertraglicher Haftung … den allgemeinen Rechtsgrundsätzen unterliegt, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Eine vergleichende Untersuchung der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ergibt jedoch, dass, von einigen Ausnahmen abgesehen, das Gericht im Allgemeinen die Frage der Verjährung des geltend gemachten Anspruchs nicht von Amts wegen aufgreifen darf.“ In welchen Rechtsordnungen sich eine solche Bestimmung findet und in welchen nicht, darüber schweigt das Urteil.

e) Häufigkeit einzelner Methoden 68 Für das Jahr 1999 ergab eine Untersuchung113 Folgendes bezüglich der Häufigkeit

der Argumentationsformen des EuGH: Führend ist mit 53% der Verweis auf die eigene Rechtsprechung, gefolgt von der grammatischen (25%) und von der teleologischen (10%) Auslegung. Die von einigen Autoren daraus gezogene Schlussfolgerung, dass der EuGH sich 69 der angelsächsischen Jurisprudenz mit ihrer Bindung an Präjudizien annähere, übersieht aber wesentliche Unterschiede. Von Pötters/Christensen114 stammt die treffende Formulierung, der EuGH versuche, „strukturell unterschiedliche Problemkreise in das Korsett nur bedingt passender Präjudize zu zwängen, um so Kontinuität zu suggerieren“.

7. Die Schlussanträge der Generalanwälte 70 Eine Besonderheit am EuGH sind die Schlussanträge der Generalanwälte. General-

anwältin Eleanor Sharpston gab in dem oben (Rn 46) genannten Verfahren eine 20 Seiten lange Stellungnahme ab,115 in 58 Fußnoten werden Rechtsgrundlagen und Urteile zitiert. Ihrer Ansicht nach ist die „grundlegende Frage“ des Verfahrens, ob die Beschwerdekammer der Europäischen Schulen als ein „Gericht eines Mitgliedstaats“ angesehen werden kann oder nicht. Bei wörtlicher Auslegung sei dies zu verneinen, bei teleologischer Auslegung zu bejahen. GA Sharpston nimmt ausführlich Stellung (Rn 42–88) und plädiert am Ende für die teleologische Auslegung und

_____ 112 113 114 115

EuGH, Rs 20/88 – SA Roquette frères, Rn 12. Dederichs EuR 2004, 345–359. Pötters/Christensen JZ 2012, 289 (295 f). GA Sharpston, Rs C-196/09 – Miles. Joachim Gruber

IV. Die Rechtsprechung des EuGH | 799

damit für die Vorlagebefugnis. Diese Stellungnahme hilft beim Verständnis des Rechtsstreits und ist sorgfältig begründet. Überraschend sind allerdings die Ausführungen in Nr 78, in der Sharpston fest- 71 stellt: „Man mag einwenden, dass der Gerichtshof, wenn der Beschwerdekammer der Europäischen Schulen die Befugnis zur Vorlage von Fragen zum Unionsrecht an den Gerichtshof nach Art 234 EG zuerkannt würde, mit ähnlichen Ersuchen anderer Einrichtungen überschwemmt würde, die bisher als nicht von Art 234 EG erfasst angesehen worden seien.“ Drei Nummern weiter führt sie aus: „Die Argumentation, dass die Zulassung von Vorlagen der Beschwerdekammer an den Gerichtshof gemäß Art 234 EG zu einer Überlastung des Gerichtshofes führen würde, beruht nicht auf Rechtsgrundsätzen. Wenn aufgrund einer richtigen Rechtsauffassung die Beschwerdekammer Fragen zur Vorabentscheidung vorlegen können muss, kann ein gegenteiliges Ergebnis nicht damit begründet werden, dass sich die Arbeitsbelastung des Gerichtshofs (potenziell oder theoretisch) erhöhen könnte.“ Die Generalanwältin setzt sich hier mit einem Einwand auseinander, den offen- 72 sichtlich gar niemand in dem Verfahren erhoben hatte und den sie selbst für nicht begründet hält. Die Generalanwälte „unterstützen“ nach Art 19 EUV, Art 252 AEUV den Gerichtshof. Ihre „Plädoyers“ sind aber kein Teil des Urteils, auch wenn sie in der amtlichen Sammlung veröffentlicht werden. Auch wenn die Generalanwälte an den Beratungen des EuGH nicht teilnehmen dürfen, sind sie allein schon wegen der räumlichen Nähe über manche Überlegungen der EuGH-Richter, welche diese im Vorfeld der Entscheidungsfindung anstellen, gut informiert. Insoweit weisen die Ausführungen der Generalanwälte manchmal auf Überlegungen hin, die sich dann im Urteil nicht finden. Dass die Generalanwälte oft auf Vorgänge eingehen, die mit der Urteilsfin- 73 dung unmittelbar nichts zu tun haben116 bzw über den konkreten Rechtsstreit hinausweisen, belegen die Schlussanträge des Generalanwalts Paolo Mengozzi in der Rs C-428/08,117 in der es um Ansprüche des Konzerns Monsanto wegen Verletzung seines Patents bezüglich gentechnisch veränderter Sojapflanzen ging. GA Mengozzi führt dort118 aus: „[Nr 14] Wie aus der kurzen Zusammenfassung des Sachverhalts ersichtlich, geht Monsanto im Rahmen des vorliegenden Verfahrens ausschließlich gegen die Importeure von Sojamehl aus Argentinien vor. Der Grund dafür ist, dass Monsanto, wie sie selbst einräumt, in Argentinien für die RR-Sojabohne keinen Patentschutz genießt. Im Gegensatz zu Argentinien erhält Monsanto in anderen Soja erzeugenden Ländern, wie zB Brasilien, aufgrund des Patentschutzes oder aufgrund

_____ 116 Ein Sonderfall war der GA Ruiz-Jarambo Colomer, der von 1995 bis zu seinem Tod am 12.11.2009 am EuGH tätig war. Dieser zitierte in seinen Schlussanträgen häufig – oft sogar ausgiebig – schöngeistige Werke, vgl dazu Gruber JoJZG 2017, 93–97. 117 GA Mengozzi, Rs C-428/08 – Monsanto Technology LLC / Cefetra BV ua. 118 GA Mengozzi, Rs C-428/08 – Monsanto Technology LLC / Cefetra BV ua., Nr 14, 15, 16. Joachim Gruber

800 | § 11 Methodische Besonderheiten des Unionsrechts

von Vereinbarungen mit den Landwirten eine Vergütung für die Nutzung ihrer Erfindung. [Nr 15] Zu bemerken ist jedoch, dass die Entscheidung, die Klagen im Gebiet der Union nur auf die aus Argentinien stammenden Erzeugnisse zu beschränken, eine rein kaufmännische Entscheidung von Monsanto ist. Sollte nämlich der Gerichtshof feststellen, dass Monsanto im Gebiet der Europäischen Union Rechte bezüglich des aus Argentinien stammenden Sojamehls geltend machen kann, so könnte Monsanto nichts davon abhalten, später entsprechende Rechte bezüglich des aus anderen Ländern stammenden Sojamehls geltend zu machen. … [Rn 16] Die Auslegung des Gerichtshofs wird daher allgemein auf alle Fälle Anwendung finden, in denen ein Erzeugnis in das Gebiet der Union eingeführt wird, das aus der in einem Drittstaat erfolgten Verarbeitung einer gentechnisch veränderten Pflanze hervorgeht, für die ein im Gebiet der Europäischen Union geltendes Patentrecht besteht.“ Diese Ausführungen dienen nur dazu, dass der EuGH erkennt, dass es sich um eine Grundsatzfrage handelt. Selbst in den umfangreichen deutschen Urteilen würde sich ein entsprechender Hinweis nicht finden; es wäre in Deutschland – wie auch in den anderen EU-Mitgliedstaaten – Sache der Kommentatoren, auf die Konsequenzen des Urteils für andere Fälle aufmerksam zu machen. In einem anderen Verfahren erklärte der Generalanwalt Jacobs:119 „Aus ver74 ständlichen Gründen sind einige dieser grundlegenden Streitfragen von den Parteien des Ausgangsverfahrens nicht in vollem Umfang angesprochen worden. … Im Ergebnis spricht keine der Parteien die grundlegenden Streitpunkte an, die dafür ausschlaggebend sein werden, ob der in der Rechtssache HAG I niedergelegte Grundsatz gültig ist. Auch von den anderen Verfahrensbeteiligten sind diese Streitfragen nicht in vollem Umfang untersucht worden.“ Auch in rechtlicher Hinsicht problematisieren die Generalanwälte Dinge, die von den Parteien im Rechtsstreit nicht erwähnt wurden.

8. Zusammenfassung 75 Der EuGH hat einen eigenen, hybriden Urteilsstil entwickelt. Der Stil verändert

sich stetig, daher wird oft auch von einem „dynamischen Stil“ gesprochen.120 Am Anfang war er sehr stark von der französischen Praxis geprägt; er nähert sich aber immer mehr – allerdings nur sehr langsam – dem deutschen „wissenschaftlichen“ Urteilsstil an. Die derzeitige Übergangsform hat wie alle Mischformen Nachteile: Oft erweckt das Urteil den Anschein, es sei „wie ein deutsches Urteil“ abgefasst, die knappe, manchmal formelhafte Begründung trägt die Entscheidung aber nicht. Mittelfristig wird durch die Änderung des Urteilsstils die Existenzberechtigung 76 der Generalanwälte in Frage gestellt: Waren sie zu Beginn notwendig, damit man

_____ 119 Schlussanträge GA Jacobs, Rs C-10/89 – CNL-SUCAL / HAG. 120 Vgl zB Bleckmann NJW 1982, 1177 (1180); Henninger S 290. Joachim Gruber

IV. Die Rechtsprechung des EuGH | 801

als Nicht-Prozessbeteiligter den Inhalt und das Problem des Rechtsstreits überhaupt verstehen konnte, verliert diese Funktion mit zunehmender Urteilslänge an Bedeutung;121 vielmehr führt das Nebeneinander von Schlussanträgen und ausführlichem Urteil sogar zu Irritationen. Immer dann nämlich, wenn das Gericht nicht auf Argumente des Generalanwalts eingeht,122 bleibt unklar, ob dies Zustimmung bedeutet oder ob das Gericht den angesprochenen Aspekt schlicht für unerheblich hält.123 Zwei stilistische Besonderheiten sind abschließend hervorzuheben: Auffällig ist 77 zum einen, insbesondere bei den Schlussanträgen der Generalanwälte, der gelegentlich anzutreffende „narrative Stil“; es werden Dinge dargelegt, die für eine klassische Subsumtion irrelevant sind. Zum anderen zitiert der EuGH zunehmend eigene Urteile, übernimmt in vielen 78 Fällen sogar wörtlich ganze Absätze, wodurch jedoch nur dem äußeren Anschein nach eine Annäherung an den englischen oder deutschen Urteilsstil erfolgt. In vielen Fällen geht der EuGH nämlich gar nicht darauf ein, wieso die Fälle vergleichbar sind. Es wird versucht, den Eindruck zu erwecken, dass es eine in sich geschlossene Rechtsprechung gebe, wobei dieser Eindruck psychologisch geschickt durch die wörtliche Wiederholung von ganzen Passagen aus älteren Urteilen verstärkt wird; in Wirklichkeit ist der EuGH oft noch im französischen System verhaftet, in dem das Gericht eine Entscheidung trifft, ohne die Gründe dafür klar offenzulegen.

_____ 121 Ähnlich Gross FS Nobbe, 2009, S 969 (981 Fn 38): „Die Aufgabe der Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung nimmt inzwischen der EuGH selbst wahr. Die Erläuterungsfunktion [der Schlussanträge] ist nach allgemeiner Auffassung heute zurückgetreten.“ 122 Manchmal werden die Ausführungen des Generalanwalts zitiert (vgl zB EuGH Rs C-306/12, Rn 22, 24), manchmal nicht. So werden zB die Schlussanträge von GA Mengozzi, verb Rs C-464/13 und C-465/13 – Oberto, wo Mengozzi die Ansicht vertrat, dass die Durchsetzung des Unionsrechts ohne die von ihm vorgeschlagene Lösung nicht zweifelsfrei garantiert sei (dazu Gruber RdA 2015, 56–58), vom EuGH in seinem Urteil mit keinem Wort erwähnt. Wieso der EuGH dem Vorschlag von Mengozzi nicht folgt, geht aus der Urteilsbegründung nicht hervor (dazu Gruber ZESAR 2016, 187– 192). 123 Ruiz-Jarambo Colomer/López Escudero Mélanges Schockweiler, 1999, S 523 (537), haben festgestellt, dass der EuGH in denjenigen Fällen, in denen er dem Vorschlag des Generalanwalts nicht folgt, in seinem Urteil die Auffassung des Generalanwalts nie ausdrücklich verwirft. Joachim Gruber

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Joachim Gruber

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Teil 2: Politiken der Union

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Joachim Gruber

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Joachim Gruber

§ 12 Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft | 805

Peter Hilpold

§ 12 Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft § 12 Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft Peter Hilpold § 12 Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft https://doi.org/10.1515/9783110498349-012

Gliederungsübersicht I. Nichtdiskriminierung 1. Definition 2. Zusammenwirken mit dem Konzept der Unionsbürgerschaft 3. Abgrenzungen, allgemeines und besonderes Diskriminierungsverbot 4. Berechtigte und Verpflichtete 5. Anwendungsbereich der Verträge 6. Ausnahmen 7. Die Inländerdiskriminierung („umgekehrte Diskriminierung“) 8. Zusammenfassung und Ausblick II. Antidiskriminierungsmaßnahmen 1. Grundlagen 2. Normwirkung 3. Norminhalt 4. Verfahren 5. Sekundärrecht a) Bisher ergangene Sekundärrechtsakte b) Gemeinsamkeiten c) Die Antirassismusrichtlinie aus 2000 d) Die Antidiskriminierungsrichtlinie aus 2000 e) Die „Unisex“-Richtlinie aus 2004 f) Zukunftsperspektiven III. Unionsbürgerschaft 1. Grundsätzliches 2. Die Entwicklungsgeschichte des Konzepts der Unionsbürgerschaft bis hin zur primärrechtlichen Verankerung durch den Vertrag von Maastricht 3. Die Entdeckung des Potentials der Unionsbürgerschaft und die interpretative Auslotung des damit eröffneten Spielraums durch den EuGH 4. Aktuelle Entwicklungen 5. Wesentliche Eigenschaften der Unionsbürgerschaft a) Erwerb und Verlust der Unionsbürgerschaft; Mehrfachstaatsbürgerschaften b) Ausprägungen der Unionsbürgerschaft; Anspruchsberechtigte und Adressaten; das Verhältnis zur Grundrechte-Charta 6. Das allgemeine Freizügigkeitsrecht a) Das Aufenthaltsrecht von bis zu drei Monaten b) Das Aufenthaltsrecht für mehr als drei Monate (Art 7 RL 2004/38) c) Das Recht auf Daueraufenthalt d) Die Fortwirkung der Erwerbstätigeneigenschaft und die Verbindung von allgemeiner Freizügigkeit und wirtschaftlicher Freizügigkeit e) Beschränkungen des Aufenthaltsrechts, Ausweisung f) Aufenthaltsrechte von Familienangehörigen 7. Freizügigkeit, soziale Vergünstigungen, Integration im Aufnahmemitgliedstaat

Peter Hilpold https://doi.org/10.1515/9783110498349-012

Rn 1 1 7 10 12 20 23 25 29 30 30 34 36 39 40 40 43 50 56 81 89 90 90 103 116 159 164 164 172 180 189 191 194 196 197 203 207

806 | § 12 Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft

8.

Wahlrechte der Unionsbürger a) Das Kommunalwahlrecht b) Das aktive und das passive Wahlrecht zum Europaparlament 9. Das diplomatische und das konsularische Schutzrecht 10. Die Bürgerinitiative und das Petitions-, Beschwerde- und Korrespondenzrecht a) Die Bürgerinitiative b) Petitionen an das Europäische Parlament c) Beschwerden beim Europäischen Bürgerbeauftragten d) Das Korrespondenzrecht 11. Die Fortentwicklung der Unionsbürgerschaft

218 218 225 227 241 244 246 247 248 251

Spezialschrifttum Amadeo, Stefano Non Discriminazione e Cittadinanza dell’Unione, in: Tizzano, Antonio (Hrsg), Trattati dell’Unione Europea, 2. Auflage, 2014, S 463–531; Bell, Mark R Anti-Discrimination Law and the European Union, 2002; Giegerich, Thomas Unionsbürgerschaft, politische Rechte, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg), Europarecht – Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 3. Aufl 2014, S 338–377; Hailbronner, Kay Die Unionsbürgerschaft und das Ende rationaler Jurisprudenz durch den EuGH?, NJW 2004, 2185–2189; Hatje, Armin Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft. Art 20–25 AEUV, in: Schwarze, Jürgen (Hrsg) EU-Kommentar, 4. Auflage, 2019, S 580–620; Hilpold, Peter Unionsbürgerschaft und Hochschulbildung in der EU – Perspektiven einer dynamischen Beziehung“ in: Odendahl, Kerstin (Hrsg) Europäische (Bildungs-)Union?, 2011, S 147–182; Hilpold, Peter Die Unionsbürgerschaft – Entwicklung und Probleme, EuR 2015, 133-147; Holoubek, Michael Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft. Art 18 und 19 AEUV, in: Schwarze, Jürgen (Hrsg) EUKommentar, 4. Auflage, 2019, S 530–580; Niedobitek, Matthias Pläne und Entwicklung eines Europas der Bürger, 1989; Roth, Günther H/Hilpold, Peter (Hrsg) Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, 2010; Shaw, Jo Citizenship of the Union: Towards Post-National Membership? in: Collected Courses of the Academy of European Law, Bd 6, I, 1998; Streinz, Rudolf Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft, Art 18–25 AEUV, in: ders (Hrsg) EUV/AEUV – Kommentar, 3. Aufl, 2018, S 396–461; Toner, Helen Judicial Interpretation of European Union Citizenship – Transformation or Consolidation?, MJ 2000, 158–182; Wollenschläger, Michael Grundfreiheit ohne Markt. Die Herausbildung der Unionsbürgerschaft im unionsrechtlichen Freizügigkeitsregime, 2007. Leitentscheidungen EuGH, Rs C-369/90 – Micheletti; Rs C-122/96 – Saldanha; Rs C-158/96 – Kohll; Rs C-274/96 – Bickel und Franz; Rs C-85/96 – Martinez Sala; Rs C-224/98 – D’Hoop; Rs C-281/98 – Angonese; Rs C-184/99 – Grzelczyk; Rs C-200/02 – Zhu und Chen; Rs C-456/02 – Trojani; Rs C-209/03 – Bidar; Rs C-144/04 – Mangold; Rs C-411/05 – Palacios de la Villa; Rs C-158/07 – Förster; Rs C-555/07 – Kücükdeveci; Rs C34/08 – Ruiz Zambrano; Rs C-73/08 – Bressol; Rs C-135/08 – Rottmann; Rs C-356/11, C-357/11 – Maahanmuuttovirasto; Rs C-333/13 – Dano; Rs C-434/09 – McCarthy; Rs C-256/11 – Dereci; Rs C-67/14 – Alimanovic; Rs C-308/14 – Europäische Kommission / Großbritannien; Rs C-133/14 – Chavez-Vilchez; Rs C-221/17 – Tjebbes

Peter Hilpold

I. Nichtdiskriminierung | 807

I. Nichtdiskriminierung I. Nichtdiskriminierung 1. Definition Das Gebot der Nichtdiskriminierung stellt das Herzstück des gesamten EU-Rechts 1 dar.1 Nichtdiskriminierung ist die Essenz dieser Integrationsordnung seit ihrem Ursprung und war Inspirationsquell während ihrer gesamten Entwicklung. Die dem Prinzip der Nichtdiskriminierung innewohnende heuristische Kraft war Motor für die Rechtsfortbildung durch den EuGH2 und damit auch maßgeblich für die normative Verdichtung des EU-Rechts weit jenseits des ursprünglichen politischen Konsenses der Gründungsväter auf völkerrechtlicher Ebene. Dem Charakter der Nichtdiskriminierung als konstitutionelle Grundnorm des EU-Rechts wird sowohl von der Rechtsprechung als auch von der Lehre verbal hinreichend Tribut gezollt, zT mit geradezu emphatischen Ausdrücken und Formulierungen. So wird in diesem Zusammenhang von einem „Leitmotiv des ganzen Vertrages“,3 von einer „Magna Charta“, 4 von einem „Strukturprinzip“, 5 einer „Grundregel“ 6 oder einer „notwendigen Voraussetzung für einen funktionierenden Binnenmarkt und der EU insgesamt“7 gesprochen. Das Prinzip der Nichtdiskriminierung ist eine spezielle Ausprägung des all- 2 gemeinen Gleichheitsgrundsatzes, der mittlerweile als Art 20 GRCh eine positive primärrechtliche Norm des EU-Rechts darstellt, aber schon lange davor als Allgemeiner Rechtsgrundsatz ungeschriebener Teil des Primärrechts war (Art 6 III EUV). Das Prinzip der Nichtdiskriminierung ist auch in anderen völkerrechtlichen Ver- 3 trägen mit Bindungswirkung für die EU-MS von zentraler Bedeutung, so insbesondere für menschenrechtliche Abkommen, in denen neben einem generellen Diskriminierungsverbot (Art 14 EMRK, Art 26 ICCPR) alle übrigen Regeln als spezielle Konkretisierung des Diskriminierungsverbotes gesehen werden können. Die europäische Integration war und ist aber primär ökonomisch motiviert und deshalb bietet sich eher ein Vergleich mit dem GATT/WTO-Recht an, das für den europäischen

_____ 1 In gleichem Maße könnte hier von der Verwirklichung eines Gleichheitsprinzips gesprochen werden. Der EuGH verwendet nämlich die Begriff „Nichtdiskriminierung“ und „Gleichheit“ als äquivalente Termini. Vgl Barrett YEL 2003, 117 ff (130). 2 Roth/Hilpold (Hrsg) passim. 3 Wohlfarth/Everling/Glaesner/Sprung/Wohlfarth Art 7 EWGV Anm 1; Streinz/Streinz Art 18 AEUV Rn 1. 4 HP Ipsen S 592. 5 vdGroeben/Schwarze/Zuleeg Art 12 EGV Rn 1. 6 EuGH, Rs C-458/03 – Parking Brixen, Rn 46; Rs C-324/98 – Telaustria und Telefonadress, Rn 60. 7 Schwarze/Holoubek Art 18 AEUV Rn 3. In diesem Sinne auch Tsatsos JöR 2001, 63 ff. Auf die Eigenschaft des Nichtdiskriminierungsprinzips als Basis für alle weiteren Integrationsschritte verweist auch GA Jacobs, SchlA verb Rs C-92/92 und C-326/92 – Phil Collins, Nr 9 ff. Peter Hilpold

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Integrationsprozess auch im weiteren Sinne Pate gestanden hat.8 Die Gegenüberstellung beider Nichtdiskriminierungsregelungen verdeutlicht die schon im Grundsatz völlig unterschiedliche Funktion beider Integrationsordnungen. Die Nichtdiskriminierung im GATT/WTO-System, die sich in der Meistbegünstigung von Art I GATT und der Nichtdiskriminierung gemäß Art III GATT konkretisiert, ist darauf ausgerichtet, eine sog „negative Integration“ zu verwirklichen, dh Handelsbarrieren zwischen den Mitgliedern nach Maßgabe des jeweils realisierten Liberalisierungsstandes zu beseitigen. Ein dynamisches Element kommt in diesen Prozess allein durch das System der Handelsverhandlungen, das aber politisch determiniert und nicht der GATT/WTO-Rechtsordnung unmittelbar immanent ist. Dagegen ist die Nichtdiskriminierung im EU-Recht direkt eingebettet in ein System, das eine „immer engere Union der Völker“9 und über eine Vielzahl an Mechanismen, ua durch Rechtsharmonisierung10 und in Verbindung mit dem Konzept der Unionsbürgerschaft, eine sog „positive“ Integration anstrebt,11 wobei nicht nur Handelshemmnisse beseitigt, sondern ein neuer Markt und ein neuer Rechtsrahmen „höherer Ordnung“ geschaffen werden. Das Nichtdiskriminierungsprinzip des EU-Rechts geht somit über eine reine „Marktschaffung“ im Wege der Beseitigung von Handelsbarrieren hinaus, sondern leistet in Verbindung mit der Rechtsprechung des EuGH und dem Konzept der Unionsbürgerschaft einen wesentlichen Beitrag zur Schaffung einer Integrationsordnung höherer Ordnung. Es wird zwischen direkter (unmittelbarer, formeller oder offener) und indirek4 ter (mittelbarer, materieller oder versteckter) Diskriminierung unterschieden. Die direkte Diskriminierung knüpft unmittelbarer an der Staatsbürgerschaft 5 an. Hier ist die Zugehörigkeit zu anderen EU-Mitgliedstaaten Grundlage für eine Schlechterstellung, die eine relevante Erschwerung (De-minimis-Regel)12 nach sich zieht. Die indirekte Diskriminierung knüpft dagegen an anderen Unterscheidungs6 merkmalen an, die aber im Ergebnis, für die „große Mehrzahl“ der erfassten Fälle, zum selben Ergebnis führt wie eine unmittelbare Diskriminierung auf der Grundlage der Staatsbürgerschaft. Als Unterscheidungsmerkmale dieser Art hat die Rechtsprechung des EuGH folgende Vorgaben gesehen: den Wohnsitz bzw die Niederlassung im Inland,13 die Bedingung, dass Instrumente für die Ausübung einer wirtschaftli-

_____ 8 Ausführlich dazu Hilpold Die EU im GATT/WTO-System. 9 So die Präambel des EUV. 10 Art 114 ff AEUV. 11 Zu den Konzepten der „positiven“ und der „negativen“ Integration vgl Scharpf The Asymmetry of European Integration or why the EU cannot be a „Social Market Economy“, KFG Working Paper 2009/6. 12 Streinz/Streinz Art 18 AEUV Rn 53. 13 EuGH, Rs C-350/97 – Pastoors, Rn 17; EuGH, Rs C-148/02 – Garcia Avello; EuGH, Rs C-388/01 – Kommission / Italien, Rn 14. Peter Hilpold

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chen Tätigkeit bestimmte Eigenschaften aufweisen müssen, die leichter von Inländern zu erfüllen sind (Einführung von Beschränkungen betreffend die Größe und Maschinenstärke in Bezug auf Schiffe, die im irischen Küstengewässer Fischfang betreiben, wodurch indirekt irische Fischer bevorzugt wurden),14 die ausschließliche Vergabe von zeitlich befristeten Arbeitsverträgen an Fremdsprachenlektoren (wodurch Angehörige anderer Mitgliedstaaten benachteiligt wurden, da grundsätzlich Muttersprachler als Fremdsprachenlektoren eingestellt werden)15 oder auch bestimmte sozialpolitische Vorgaben (die Bedingung der Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen kann Bieter aus anderen Mitgliedstaaten bei der Vergabe von öffentlichen Bauaufträgen benachteiligen, wenn diese Bedingung von den betreffenden Bietern nicht oder nur unter größeren Schwierigkeiten erfüllt werden kann).16

2. Zusammenwirken mit dem Konzept der Unionsbürgerschaft Wie nachfolgend zu zeigen sein wird, besteht ein enger inhaltlicher Zusammen- 7 hang zwischen der Nichtdiskriminierungsverpflichtung und dem Konzept der Unionsbürgerschaft. Diesem Zusammenhang wurde im AEUV dadurch Rechnung getragen, dass beide Prinzipien im zweiten Teil vereint wurden. Wurde die Funktion der Nichtdiskriminierung in der Überwindung des Fremdenstatus zur Schaffung bzw Vollendung einer immer engeren Union der Völker gesehen,17 so gilt dies für die Unionsbürgerschaft in gleichem, wenn nicht gar verstärktem Maße. In wechselseitiger Verbindung ergibt sich schließlich ein evolutiver Ansatz von ganz neuartiger Dynamik, der demzufolge von den Befürwortern einer beschleunigten Integration begrüßt, von den Verfechtern mitgliedstaatlicher Souveränitätsvorbehalte hingegen beargwöhnt wird. Bei aller integrativen Kraft, die dem Konzept der Nichtdiskriminierung innewohnt, überwiegt hier, wenn dieses Prinzip für sich alleine betrachtet wird, das Bestreben, Eingriffe in bereits etablierte Rechtspositionen auszuschließen. Primär geht somit vom Nichtdiskriminierungsansatz (wenn dieser isoliert von den übrigen Mechanismen betrachtet wird, die mit diesem in Verbindung stehen) eine negative Wirkung (Schrankenwirkung) aus. Umgekehrt soll das Konzept der Unionsbürgerschaft zwar ebenfalls Diskriminierung ausschließen, seine prioritäre Stoßrichtung ist aber auf die Etablierung und Festigung eines europäischen Bürgerstatus gerichtet, der erst in Entwicklung begriffen ist. Hier überwiegt somit die positive, entwicklungsorientierte Natur. Wenn die Essenz der Gleichbehandlung – und damit auch der Nichtdiskriminierung – gemäß der immer noch maßgeblichen aristotelischen Definition darin besteht, dass Gleiches gleich und

_____ 14 15 16 17

EuGH, Rs 61/77 – Kommission / Irland, Rn 80. EuGH, Rs C-272/92 – Spotti. EuGH, Rs 31/87 – Beentjes, Rn 30. So Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy Art 18 AEUV Rn 1.

Peter Hilpold

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Ungleiches ungleich behandelt wird, so wird damit Ungleichheit zur Kenntnis genommen und in der Folge auch ungleich behandelt, auch wenn die kontinuierliche Verfeinerung des Maßstabes und der integrationspolitische Telos in der EU dazu führen, dass immer häufiger formal Ungleiches als materiell gleich und formal Gleiches als materiell ungleich qualifiziert wird. Das Konzept der Unionsbürgerschaft ist hingegen – bei aller Anerkennung mitgliedstaatlich gewollter Unterschiede – tendenziell, im Anwendungsbereich der Verträge und soweit integrationspolitisch wünschenswert, auf die Überwindung von Differenzen im Bürgerstatus ausgerichtet. Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft weisen in ihrem Schnittmengen8 bereich Grauzonen auf, was ihre integrationspolitische Stoßrichtung anbelangt. In ihrer vereinten Anwendung ist die Wirkungsweise beider Konzepte aber eindeutig im Sinne einer Integrationsverdichtung. Dem trägt der EuGH auch durch die Berufung auf beide Rechtsgrundlagen dort Rechnung, wo noch Unsicherheiten in der Integrationsdynamik bestehen bzw dort wo er neue Akzente in ihrer Verstärkung setzen möchte. Art 18 AEUV ist unmittelbar anwendbar.18 Ob diese Bestimmung als Unions9 grundrecht qualifiziert werden sollte, so wie dies durch Teile der Literatur geschieht, 19 erscheint fraglich. Die Aufnahme eines gleichlautenden subjektiven Rechts in Art 21 II GRCh ist diesbezüglich nicht maßgeblich, da der Regelungsrahmen ein anderer ist. Obwohl Art 18 AEUV von seinem Wortlaut her an die Grundrechtsterminologie erinnert, ist diese Bestimmung von ihrer Finalität her vorrangig auf die Verwirklichung des Binnenmarktes ausgerichtet. Die Qualifizierung als „grundrechtsähnliches Recht“ ermöglicht damit zwar keine eindeutige Klassifizierung; sie trägt aber der Vielschichtigkeit und Polyvalenz dieser Regelung eher Rechnung.

3. Abgrenzungen, allgemeines und besonderes Diskriminierungsverbot 10 Das Nichtdiskriminierungsgebot ist gegenüber vergleichbaren Verpflichtungen

abzugrenzen, die ihre Wirkung auf anderen Ebenen entfalten. Der als allgemeiner Rechtsgrundsatz entwickelte und nunmehr in Art 20 GRCh aufgenommene allgemeine Gleichheitsgrundsatz kommt in materiell breiterer und subjektiv engerer Form zur Anwendung: Materiell verbietet er Diskriminierung nicht nur aufgrund der Staatsbürgerschaft, sondern auch in Bezug auf andere Differenzierungsmerkmale; in subjektiver Hinsicht bindet er primär die EU-Organe (und deshalb kann das Sekundärrecht am allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz geprüft

_____ 18 Vgl nur EuGH, Rs C-122/96 – Saldanha, Rn 14 ff; EuGH, Rs C-274/96 – Bickel und Franz, Rn 16. 19 Mayer/Stöger/Kucsko-Stadlmayer Art 18 AEUV Rn 5. Peter Hilpold

I. Nichtdiskriminierung | 811

werden) sowie die Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des EU-Rechts.20 Das Diskriminierungsverbot richtet sich dagegen primär an die Mitgliedstaaten und subsidiär an die EU bzw an Private.21 Inwieweit die zuletzt genannte Kategorie an den Nichtdiskriminierungsgrundsatz gebunden ist, davon also nicht nur Rechte ableiten kann, sondern auch entsprechende Pflichten zu akzeptieren hat, ist Gegenstand intensiver Diskussionen, auf die nachfolgend unter „Berechtigte und Verpflichtete“ eingegangen wird. Laut Art 18 AEUV kommt das Diskriminierungsverbot „unbeschadet besonderer 11 Bestimmungen der Verträge“ zur Anwendung. Dieses allgemeine Diskriminierungsverbot kommt somit nur subsidiär gegenüber sonstigen besonderen Nichtdiskriminierungsverpflichtungen, die sich verstreut über den AEU-Vertrag, im Besonderen aber im Regelungsbereich der Grundfreiheiten, finden, zur Anwendung.22 Die besonderen Diskriminierungsverbote konkretisieren das allgemeine Diskriminierungsverbot und bringen dieses punktuell, auf eine bestimmte Regelungsmaterie bezogen, zur Anwendung. Art 18 AEUV entfaltet somit autonome Bedeutung dann, wenn kein spezifisches Diskriminierungsverbot vorliegt und wird unterstützend herangezogen, wenn das besondere Diskriminierungsverbot den vorliegenden Diskriminierungstatbestand nicht vollumfänglich abdeckt bzw allgemein als Auslegungsmaxime gemäß dem Charakter von Art 18 AEUV als fundamentales Grundprinzip der Verträge.23

4. Berechtigte und Verpflichtete Anspruchsberechtigte sind in erster Linie die Unionsbürger, wobei die zusätzliche 12 Staatsbürgerschaft eines Drittstaates unschädlich ist.24 Entsprechend einer teleologischen Interpretation des Art 18 AEUV können 13 sich auch juristische Personen und selbst Personenzusammenschlüsse ohne Rechtspersönlichkeit auf diese Bestimmung berufen: Da diese maßgebliche Akteure im Binnenmarkt sind, würde andernfalls das Diskriminierungsverbot in erheblichem Maße seiner Wirksamkeit beraubt werden.25 Gleich wie die Staatszugehörigkeit natürlicher Personen (die die Unionsbürgerschaft begründet) bestimmt sich die Staatszugehörigkeit von juristischen Personen und Gesellschaften nach nationalem Recht, auf welches Art 54 AEUV verweist.

_____ 20 Streinz/Streinz Art 18 AEUV Rn 19; Schwarze/Holoubek Art 18 AEUV Rn 40. 21 Streinz/Streinz Art 18 AEUV Rn 44; Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy Art 18 AEUV Rn 25. 22 Grundlegend EuGH, Rs C-213/90 – Asti, Rn 10; EuGH, Rs C-379/92 – Peralta, Rn 18. 23 Schwarze/Holoubek Art 18 AEUV Rn 48 ff; Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy Art 18 AEUV Rn 56. 24 Grundlegend EuGH, Rs C-269/90 – Micheletti. 25 Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy Art 18 AEUV Rn 29. Peter Hilpold

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14

Auch wenn Art 18 AEUV keine explizite Einschränkung vornimmt, ergibt sich vertragssystematisch, dass auf dieser Grundlage allein eine Diskriminierung zwischen Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten verboten ist. Ziel ist die Verwirklichung des Binnenmarktes und nicht die Verwirklichung einer weltweit ausstrahlenden grundrechtlich fundierten Nichtdiskriminierung. Demzufolge können sich Drittstaatsangehörige oder Staatenlose nicht darauf berufen, es sei denn sie werden sekundärrechtlich ausdrücklich dazu berechtigt. Was den Kreis der Verpflichteten anbelangt, so sind folgende Kategorien zu 15 unterscheiden: Da das dem Art 18 AEUV zugrunde liegende Prinzip das gesamte Unionsrecht durchwirkt, ist eine Bindung der Union, ihrer Organe sowie der Mitgliedstaaten daran bei der Durchführung des Unionsrechts eine Selbstverständlichkeit. Auf der praktischen Ebene entfaltet das Diskriminierungsverbot aber noch größere Bedeutung gegenüber den Mitgliedstaaten, da es diesen Schranken und Vorgaben setzt, die unmittelbar der Verwirklichung des Binnenmarktes dienen. Strittig ist hingegen, inwieweit dieses Verbot auch gegenüber Privaten und 16 somit auf horizontaler Ebene wirkt. Es geht hier um die Drittwirkung des Diskriminierungsverbots, um seine Wirkung in privatwirtschaftlichen Rechtsverhältnissen. Dabei werden unterschiedlichste Auffassungen vertreten. Nach einer extremen Auffassung findet das Diskriminierungsverbot auch hier allgemeine Anwendung.26 Gleich wie Art 157 AEUV beschränke das Diskriminierungsverbot gemäß Art 18 AEUV die Privatautonomie aufgrund „überragender Allgemeininteressen“ – zwar nicht generell wie ein allgemeines Gleichbehandlungsgebot, aber punktuell, hier also im Falle einer Diskriminierung nach Maßgabe der Staatsangehörigkeit. Für eine derart weitreichende Wirkung des Diskriminierungsverbots findet sich in den Verträgen aber keine Grundlage.27 Eine solche Einschränkung der Privatautonomie kann vielmehr allein dann angenommen werden, wenn Private Befugnisse ausüben, die mit jenen der EU-Organe funktional vergleichbar sind. Nach einzelnen Stimmen sei dies dann gegeben, wenn Private „Macht ausübten“.28 Diese Formulierung dürfte zu weitreichend sein. Vielmehr ist eine Verpflichtung Privater dann anzunehmen, wenn sie traditionell den Staaten vorbehaltene Reglementierungsbefugnisse übernehmen, so wie dies bei privaten Vereinigungen in Hinblick auf kollektive Rechtsetzungsbefugnisse gegenüber Einzelnen der Fall ist.29

_____ 26 So Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy Art 18 AEUV Rn 28 unter Bezugnahme auf SchlA GA Jacobs, verb Rs C-92/92 und C-326/92 – Phil Collins, Rn 33. 27 So zu Recht Schwarze/Holoubek Art 18 AEUV Rn 44. 28 Lenz/Borchardt/Lenz Art 18 AEUV Rn 10 unter Bezugnahme auf Bleckmann EuR § 1247. 29 So zutreffend Schwarze/Holoubek Art 18 AEUV Rn 44 unter Bezugnahme ua auf EuGH, Rs C415/93 – Bosman, Rn 82 ff sowie EuGH, Rs C-281/98 – Angonese. Peter Hilpold

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Die bislang weitreichendste Ausdehnung des Diskriminierungsverbots auf Pri- 17 vatrechtsverhältnisse erfolgte im Fall Angonese:30 Eine Südtiroler Bank verlangte als Anstellungsvoraussetzung den sog. „Zweisprachigkeitsnachweis“. Ein Südtiroler, Herr Angonese, rekurrierte gegen dieses Erfordernis, das nur lokal erbracht werden konnte, und bekam Recht, obwohl es sich um ein privatrechtliches Arbeitsverhältnis handelte und er keinen unmittelbaren gemeinschaftsrechtlichen Bezug nachweisen konnte. Seitdem müssen gleichwertige Sprachzertifikate anerkannt werden, die außerhalb Südtirols erworben worden sind. Im kurz darauf ergangenen Ferlini-Urteil31 erklärte der EuGH das allgemeine 18 Diskriminierungsverbot auf Situationen anwendbar, „in denen eine Gruppe oder Organisation […] gegenüber Einzelpersonen bestimmte Befugnisse ausüben und sie Bedingungen unterwerfen, die die Wahrnehmung der durch den Vertrag gewährleisteten Grundfreiheiten beeinträchtigen.“32 War im Angonese-Urteil die Argumentation noch wenig konsistent und der 19 dogmatische Hintergrund weitgehend im Dunkeln verblieben, so wurden nun die Überlegungen offenbar, die den EuGH zur Verstärkung des Diskriminierungsschutzes bewogen hatten: Ein wirksamer Schutz der Grundfreiheiten und eine Vollendung des Binnenmarktes verlangen nach einem Diskriminierungsschutz, der von der formalrechtlichen Natur des Rechtsverletzers absieht und stattdessen auf seine hierarchische Position und die Natur des Eingriffs abstellt.

5. Anwendungsbereich der Verträge Das Diskriminierungsverbot gemäß Art 18 AEUV, das sich auf EUV und AEUV be- 20 zieht, gilt „in ihrem Anwendungsbereich“. Dieser Vorbehalt ist Ausdruck der Tatsache, dass der europäische Einigungsprozess bislang nur zu einer partiellen Integration geführt hat, und gleichzeitig wird dadurch eine Schranke gegenüber der Forcierung einer weiteren Einigung gesetzt. Einem rundum wirksamen Diskriminierungsverbot würde zweifelsohne eine starke harmonisierende Kraft am Maßstab EUrechtlicher Vorgaben, die politisch eingefordert oder richterrechtlich entwickelt würden, innewohnen. Damit wird deutlich, dass der Definition des „Anwendungsbereichs der Verträge“ eine zentrale Bedeutung nicht nur für die Bestimmung der Reichweite des Diskriminierungsverbotes nach Art 18 AEUV zukommt, sondern generell für die Steuerung von Richtung und Geschwindigkeit des Integrationsprozesses. Scheint der Verweis auf den Anwendungsbereich der Verträge auf den ersten 21 Blick das positive Vorliegen einer Unionskompetenz für die Anwendbarkeit des Dis-

_____ 30 EuGH, Rs C-281/98 – Angonese. 31 EuGH, Rs C-411/98 – Ferlini. 32 Ebd, Rn 50. Peter Hilpold

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kriminierungsverbots nach Art 18 AEUV zu bedingen, so hat der EuGH den umgekehrten Ansatz gewählt und die Anwendbarkeit dieser Bestimmung immer dann für gegeben erachtet, wenn der betreffende Sachverhalt „nicht außerhalb des Gemeinschaftsrechts [Unionsrechts]“ stand.33 Angesichts der enormen Breite des europäischen Integrationsansatzes, der praktisch keinen wirtschaftlichen Lebensbereich unberührt lässt, könnte diese Formulierung nun so gedeutet werden, dass jede Situation in den Anwendungsbereich der Verträge falle, für welche dies nicht explizit ausgeschlossen wurde.34 Es sind aber Zweifel angebracht, ob sich der Verfassungskonsens der Mitgliedstaaten bereits derart weit fortentwickelt hat. Angesichts einer oszillierenden Rechtsprechung, die durchwegs stark am politischen Konsens in der Union orientiert ist,35 ist es zwar schwer, in diesem Zusammenhang eine allgemeine Regel zu bestimmen, und es sind vielmehr oft die Umstände des Einzelfalls bzw das momentane integrationspolitische Klima maßgeblich. Dennoch kann als Grundregel festgehalten werden, dass spezifische Bezugs- und Berührungspunkte mit dem Unionsrecht36 bzw Auswirkungen auf die Grundfreiheiten37 oder den Binnenmarkt insbesondere dann genügen, wenn es um die Verwirklichung eines unionsrechtlich gewährten Rechts oder Grundsatzes geht (funktionaler Ansatz).38 Damit kann auch erklärt werden, weshalb der EuGH im Anschluss an den Gra22 vier-Fall39 auch in Ermangelung einer bildungspolitischen Kompetenz der Gemeinschaft (Union) bzw trotz des Vorliegens expliziter Souveränitätsvorbehalte der Mitgliedstaaten in diesem Bereich eine umfassende Rechtsprechungstätigkeit zu Bildungsfragen (und zwar sogar im Bereich der allgemeinen Bildung) entfalten konnte. Bildungsfragen berühren in vielerlei Hinsicht die Verwirklichung der Grundfreiheiten und des Binnenmarktes und sind von zentraler Bedeutung für das Erreichen grundlegender integrationspolitischer Ziele. Auf dieser Grundlage kann der Anwendungsbereich der Verträge als eröffnet erachtet werden, auch wenn sich die Mitgliedstaaten grundsätzlich die Rechtsetzungskompetenz in diesem Bereich vorbehalten haben. Es geht um die Weiterentwicklung der EU in einem neuralgi-

_____ 33 Schwarze/Holoubek Art 18 AEUV Rn 25 unter Verweis auf EuGH, Rs 293/83 – Gravier, Rn 19. Vgl dazu auch Hilpold Bildung. 34 So Heselhaus/Nowak/Odendahl S 1207: „Bedenkt man … wie sehr der Anwendungsbereich des EG-Vertrages durch die letzten Vertragsänderungen ausgeweitet worden ist … wird es wohl kaum noch Fälle geben, die nach der Rechtsprechung des EuGH nicht in den Anwendungsbereich des Vertrages fallen.“ Vgl auch Ehlers/Kingreen § 13 Rn 10. 35 Roth/Hilpold/Hilpold passim. 36 EuGH, verb Rs 35 und 36/82 – Morson, Rn 16. 37 EuGH, Rs C-43/95 – Data Delecta und Forstberg, Rn 15; EuGH, Rs C-323/95 – Hayes, Rn 17; EuGH, Rs C-122/96 – Saldanha, Rn 17. 38 So Calliess/Ruffert/Epiney Art 18 AEUV Rn 23. 39 EuGH, Rs 293/83 – Gravier. Vgl dazu ausführlich den nachfolgenden Pkt 6. Peter Hilpold

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schen Bereich, der zumindest vom Grundsatz durch das EU-Recht bereits angedacht wurde. Zwischen einer eindeutig „gemeinschaftsrechtlich [unionsrechtlich] geregelten Situation“ und einer Regelungsmaterie, die zumindest von der Finalität des EU-Rechts miterfasst wird, gibt es somit Grauzonen, die es dem EuGH zumindest bei Vorliegen einer integrationsfreundlichen politischen Großwetterlage erlauben, das Diskriminierungsverbot gemäß Art 18 AEUV zur Anwendung zu bringen. Dort hingegen, wo die „Nähe- und Treuebeziehung“ zum Staat überwiegt,40 wo also ein klarer politischer Konsens besteht, dass nationale Souveränitätsrechte nicht vom europäischen Integrationsprozess überlagert werden sollen, ist der Anwendungsbereich der Verträge auch dann auszuschließen, wenn sich punktuell Berührungspunkte bspw zu den Grundfreiheiten ergeben.41

6. Ausnahmen Kennt das Diskriminierungsverbot auch Ausnahmen im Sinne einer zulässigen Ab- 23 weichung bei Vorliegen entsprechender Gründe? Diese Frage war lange Zeit umstritten. Da eine Diskriminierung aufgrund der Staatsbürgerschaft einen äußerst schweren Eingriff in einen zentralen Grundsatz des EU-Rechts darstellt, herrschte lange Zeit die Auffassung vor, dass Abweichungen vom Verbot direkter Diskriminierung nicht zulässig seien, während Ausnahmen vom Verbot mittelbarer Diskriminierung – gerade auch aufgrund der ständig neuen, durch den EuGH eröffneten Anwendungsfelder dieses Verbots – zulässig sein sollten. Voraussetzung ist das Vorliegen eines zwingenden Erfordernisses des Allgemeininteresses. Mittlerweile besteht aber ein sehr breiter Konsens darin, dass das Diskriminie- 24 rungsverbot gemäß Art 18 AEUV generell als relatives Diskriminierungsverbot zu interpretieren sei, und zwar gilt dies sowohl für die mittelbare Diskriminierung als auch für die direkte, offene Diskriminierung.42 Überwiegend wird dabei nach der Feststellung einer Diskriminierung auf der Tatbestandsebene geprüft, ob auf

_____ 40 Wollenschläger S 244 f. 41 Wollenschläger zählt zu den grundsätzlich mit der Staatsangehörigkeit untrennbar verbundenen Rechtspositionen die politischen Partizipationsmöglichkeiten jenseits der kommunalen Ebene, die Beteiligung an der Ausübung hoheitlicher Gewalt, welche eine besondere Treuebeziehung voraussetzt, ein unbedingtes Aufenthaltsrecht, das Schutz vor Ausweisung beinhaltet, die Gewährung von diplomatischem und konsularischem Schutz sowie das Internierungsverbot in Kriegszeiten, wobei er aber auch auf die Entwicklungsoffenheit dieser Materie im unionsrechtlichen Raum – gerade im Kontext der Einführung der Unionsbürgerschaft – verweist (ebd S 244). 42 Grundlegend EuGH, Rs C-122/96 – Saldanha, Rn 28 ff, sowie EuGH, Rs C-388/01 – Kommission / Italien, Rn 18 ff. In „Saldanha“ hat der EuGH eine Regelung des österreichischen Prozessrechts bestätigt, wonach nur Österreicher von der Leistung einer Prozesskostensicherheit befreit sind, da diese einen anderen vermögensrechtlichen Bezug zum Inland aufwiesen und auch eine Sicherheit gegenüber diesen faktisch von geringerer Dringlichkeit sei. Peter Hilpold

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der Rechtfertigungsebene ein spezifischer Ausnahmetatbestand gefunden werden kann.43 Für die Ausweitung der Rechtfertigungsmöglichkeit auch bei direkter Diskriminierung lassen sich ähnliche Gründe finden wie für die verstärkte Zulassung einer solchen Rechtfertigung bei mittelbarer Diskriminierung: Durch die Verknüpfung des Art 18 AEUV mit dem Konzept der Unionsbürgerschaft findet auch das Verbot direkter Diskriminierung eine immer breitere Anwendung.44 Zum Schutz der mitgliedstaatlichen Souveränität muss somit eine Parallelität zwischen der Reichweite des Diskriminierungsverbots und der Anwendbarkeit von Rechtfertigungsgründen angenommen werden.45 Für eine Rechtfertigung einer Diskriminierung nach Maßgabe der Staatsangehörigkeit wird häufig die Auffassung vertreten, dass eine solche zwar möglich sei, dass aber hohe Ansprüche an den Rechtfertigungsgrund gestellt werden müssten. Bei näherer Betrachtung ergibt sich aber ein differenzierteres Bild: Im Grunde ist der Nachweis zu erbringen, dass die Diskriminierung nach Maßgabe der Staatsbürgerschaft nur eine scheinbare ist und dass letztlich andere Gründe, die ein zwingendes Erfordernis des Allgemeininteresses verkörpern, ausschlaggebend sind für die unterschiedliche Behandlung.46

7. Die Inländerdiskriminierung („umgekehrte Diskriminierung“) 25 Die „umgekehrte“ Diskriminierung betrifft Sachverhalte, die aufgrund ihres reinen Inlandsbezugs einer intensiveren nationalen Regulierung unterworfen werden können als Sachverhalte im Anwendungsbereich der Verträge. Sie ist eine Folge des beschränkten Anwendungsbereichs des Art 18 AEUV. Gerade weil es nach wie vor Bereiche in der mitgliedstaatlichen Rechtsrealität gibt, die weder einer Rechtsharmonisierung durch die EU unterworfen worden sind noch einen grenzüberschreitenden Bezug aufweisen, verbleiben Nischen, in denen die Mitgliedstaaten Beschränkungen einführen oder beibehalten können, die im Anwendungsbereich der Verträge nicht vertretbar wären. Suchen somit die Diskriminierungsverbote der EU-Verträge eine Besserstellung des Inländers (und generell von Sachverhalten mit Inlandsbezug) gegenüber allen anderen Unionsbürgern (bzw von grenzüberschreitenden Sachverhalten) zu verbieten, so kann sich außerhalb des Anwendungsbereichs der Verträge die eigenartige Situation ergeben,

_____ 43 Vgl für einen anderen Ansatz aber Schwarze/Holoubek Art 18 AEUV Rn 21 f, der bei direkten Diskriminierungen die Rechtfertigung auf die Tatbestandsebene überträgt und – unter Festhaltung am absoluten Diskriminierungsverbot aufgrund der Staatsbürgerschaft – gegebenenfalls das Vorliegen einer Diskriminierung auf der Tatbestandsebene verneint. 44 Grabitz/Hilf/Nettesheim/vBogdandy Art 18 AEUV Rn 23. 45 Streinz/Streinz Art 18 AEUV Rn 61. 46 So in der Substanz ebd Rn 61. Peter Hilpold

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dass die Mitgliedstaaten Inlandssachverhalte schlechter stellen (bzw einschränkender regeln) können als jene Sachverhalte, bei welchen ihnen diese Einschränkungsmöglichkeit aufgrund des EU-Rechts genommen worden ist. Eine solche Segmentierung des Marktes bzw der Rechtsrealität insgesamt er- 26 scheint auf den ersten Blick unbefriedigend, auch weil der Binnenmarkt grundsätzlich auf Vollendung ausgerichtet ist und das Fortbestehen von Nischen, in denen Diskriminierung möglich ist, als mit dem Grundgedanken des EU-Rechts unvereinbar erscheinen könnte. Dieses Unbehagen darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Fortexistenz von Diskriminierung in diesen Bereichen nicht auf das EURecht zurückzuführen ist, sondern umgekehrt auf den immer noch begrenzten Anwendungsbereich dieser Rechtsordnung. Auch wenn der Binnenmarkt eine immer größere Verdichtung erfährt, so dürfen mögliche zukünftige Entwicklungen in diesem Prozess nicht vorweg genommen werden: Der begrenzte Anwendungsbereich des Art 18 AEUV ist als Tatsache zur Kenntnis zu nehmen. Die Rechtsprechung des EuGH hat allerdings auf eine ständige Ausweitung 27 des Diskriminierungsverbots nach Art 18 AEUV hingewirkt. Insbesondere im Bereich der Personenfreizügigkeit wurde allein schon aufgrund der Inanspruchnahme der Freizügigkeit, selbst gegen den eigenen Heimatstaat,47 bzw aufgrund des rechtmäßigen Aufenthalts in einem anderen Unionsstaat48 der Anwendungsbereich der Verträge eröffnet.49 In jenen Bereichen, die vom Anwendungsbereich der Verträge nicht erfasst 28 werden, kann eine Inländerdiskriminierung allerdings vom nationalen Verfassungsrecht untersagt sein (so in Österreich).50

8. Zusammenfassung und Ausblick Der das gesamte EU-Recht durchwirkende Gleichheitsgrundsatz findet in Art 18 29 AEUV eine wichtige, wenngleich nur partielle Konkretisierung. Obwohl diese Bestimmung nur im Anwendungsbereich der Verträge greift, hat dieser Grundsatz im Laufe der Jahre eine immer breitere Anwendung gefunden, und zwar durch eine extensive Interpretation des genannten Anwendungsbereichs, durch die Identifikation ständig neuer Tatbestände mittelbarer Diskriminierung sowie durch die

_____ 47 EuGH, Rs C-208/05 – ITC (ein inländischer Arbeitsvermittler vermittelt einem Arbeitssuchenden, der ebenfalls im Inland ansässig ist, eine Stelle im Ausland). Vgl auch EuGH, Rs C-224/98 – D’Hoop: Einer belgischen Staatsangehörigen wurde eine belgische Überbrückungshilfe verwehrt, nur weil sie Teile ihrer Schulausbildung in Frankreich absolviert hat. 48 EuGH, Rs C-85/96 – Martinez Sala, Rn 63. 49 Eine Grenzsituation stellte sicherlich der bereits erwähnte Fall Angonese (EuGH, Rs C-281/98 – Angonese) dar, in welchem überhaupt kein grenzüberschreitender Bezug mehr erkennbar war – und trotzdem vom EuGH eine Diskriminierung festgestellt worden ist. 50 ÖVfGH, G 42/99 v 9.12.1999. Peter Hilpold

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Verbindung mit dem Konzept der Unionsbürgerschaft, wodurch die Wahrnehmung der Freizügigkeit, auch außerhalb eines wirtschaftlichen Kontextes, das Diskriminierungsverbot aktivieren kann. Die Rechtsprechung des EuGH hat damit in Verbindung mit der legislativen Fortentwicklung des Unionsrechts (konkret über die Einführung der Unionsbürgerschaft) im Diskriminierungsverbot einen zentralen Ansatz für die Weiterentwicklung der Unionsrechtsordnung und für die Vervollständigung des Binnenmarktes gefunden. Dies darf jedoch nicht zu voreiligen Schlussfolgerungen führen: Art 18 AEUV stellt nach wie vor keinen allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz dar, der Anwendungsbereich der Verträge verkörpert nach wie vor – trotz seiner äußerst extensiven Deutung – eine Anwendungsschranke und das dieser Bestimmung zugrunde liegende Diskriminierungsverbot ist – anders als jenes, auf welchem die Grundfreiheiten fußen – nicht zu einem Beschränkungsverbot fortentwickelt worden. Eine äußerst dynamische Fortentwicklung des Diskriminierungsverbots und das Festhalten an bestimmten elementaren Grenzen dieses Prinzips stellen zwei Gegenpole dar, die gemeinsam das Wesen dieses Prinzips charakterisieren. Dahinter steckt ein viel breiterer Grundkonflikt im Unionsrecht, nämlich jener zwischen der dynamischen Fortentwicklung des EU-Rechts und der Verteidigung der Souveränität der Mitgliedstaaten. Auch da das Diskriminierungsverbot grundrechtsähnlichen Charakter aufweist und Grundrechte eine kontinuierliche Verdichtung im europäischen Integrationsraum erfahren, ist der Trend dieser Entwicklung, bei allen Gegentendenzen und Einbrüchen im Zeitablauf, dennoch eindeutig und auf eine ständige Stärkung des Diskriminierungsverbots gerichtet. II. Antidiskriminierungsmaßnahmen II. Antidiskriminierungsmaßnahmen 1. Grundlagen 30 Diskriminierung kann vielfältige Formen annehmen. Das EU-Recht hat im Laufe seiner Entwicklung einer immer breiteren Palette an Arten von Diskriminierung den Kampf angesagt. Dabei konzentrierte sie sich bis 1999 einmal auf die Bekämpfung der Diskriminierung nach Maßgabe der Staatsangehörigkeit im Anwendungsbereich der Verträge sowie auf die Verwirklichung der Grundfreiheiten. Es handelte sich dabei um Formen wirtschaftlicher Diskriminierung. Zudem bildete die Diskriminierung nach Maßgabe des Geschlechts ein zweites wichtiges Betätigungsfeld.51 Mit der Einführung einer spezifischen Rechtsetzungskompetenz für „Anti31 diskriminierungsmaßnahmen“ auf der Grundlage des Vertrages von Amsterdam (in Kraft seit 1.5.1999, damals geregelt in Art 13 EGV) wurde sowohl der internationa-

_____ 51 Craig/de Búrca/Bell S 611. Peter Hilpold

II. Antidiskriminierungsmaßnahmen | 819

len Tendenz Rechnung getragen, den Kampf gegen Diskriminierung auf verschiedenen Gebieten (insbesondere in Bezug auf Rasse, Geschlecht und in der Arbeitswelt) zu intensivieren als auch die wachsende Sensibilität in dieser Frage innerhalb der EU zur Kenntnis genommen. Gleichzeitig kann diese Vertragsänderung auch als Konsequenz des Bemühens der EU gesehen werden, international als Vorkämpferin gegen jegliche Form der Diskriminierung aufzutreten. Was im Besonderen den Kampf gegen den Rassismus und ethnische Diskrimi- 32 nierung anbelangt, so hat dieser durch verschiedene Faktoren Auftrieb erlangt: So hat die zunehmende Zuwanderung in die EU die konkrete Aktualität dieser Frage verstärkt, die Sanktionendiskussion um Österreich im Jahr 2000 hat die Rassismusthematik in den Vordergrund gerückt52 und zudem hat sich ein Netzwerk von NGOs herausgebildet, die sich dieser Aufgabe verschrieben haben. Besonders hervorgetan hat sich dabei die „Starting Line Group“, ein Netzwerk von Experten und NGOs im menschenrechtlichen Bereich, das sich insbesondere der Analyse der vorhandenen einschlägigen Normen als auch der Ausarbeitung neuer Normen in diesem Bereich verschrieben hat.53 Diese definierte Diskriminierung als „jegliche Unterscheidung, Ausgrenzung, Beschränkung oder Bevorzugung mit dem Zweck oder der Wirkung, die Anerkennung, den Genuss oder die Ausübung der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder die Teilnahme am politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen, religiösen Leben oder irgendeinem anderen öffentlichen Bereich aus bestimmten Gründen auszuschließen oder zu beeinträchtigen“.54 Art 19 AEUV enthält somit eine (weitere) Spezifizierung des allgemeinen 33 Diskriminierungsverbots und führt dazu eigene Legislativkompetenzen ein. Schon in materieller Hinsicht zeigt sich ein markanter Unterschied zu Art 18 AEUV: Die zuletzt genannte Bestimmung setzte gemäß der vorrangigen Aufgabenstellung der Gemeinschaftsrechtsordnung ursprünglich primär an wirtschaftlichen Diskriminierungssituationen an. Über die Verbindung mit dem Konzept der Unionsbürgerschaft sowie über die extensive Interpretation des Konzepts des „Anwendungsbereichs der Verträge“ erstreckt sich der Diskriminierungsschutz nach Maßgabe dieser Bestimmung zwar weit über die Grundfreiheiten und den wirtschaftlichen Kontext im Allgemeinen hinaus; das Schwergewicht liegt aber nach wie vor dort. Art 19 AEUV ist dagegen nicht nur Ausdruck der Neufokussierung der Unionsrechtsordnung, sondern setzt einen klaren Schwerpunkt im grundrechtlichen/ menschenrechtlichen Bereich, ohne aber wirtschaftliche Aspekte völlig aus den Augen zu verlieren. Die Aneinanderreihung beider Diskriminierungsregelungen sollte zu einer wechselseitigen Abrundung der jeweiligen Kompetenzen führen und wohl auch den für das Unionsrecht zentralen Antidiskriminierungsansatz weiter

_____ 52 Pernthaler/Hilpold integration 2000, 105 ff. 53 Evans Case/Given JCMS 2010, 221 ff. 54 Zitiert nach Mayer/Stöger/Sporrer Art 19 AEUV Rn 4. Peter Hilpold

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stärken. Über diese Wechselbeziehungen hinaus darf aber nicht der Blick für die erheblichen inhaltlichen Unterschiede beider Normen verloren gehen.

2. Normwirkung 34 Es besteht weitgehende Einigkeit darin, dass Art 19 AEUV keine unmittelbare Gel-

tung zukommt. Art 19 ist vielmehr eine Ermächtigungsnorm, auf deren Grundlage der EU eine explizite Normsetzungskompetenz für Sachbereiche zugesprochen wurde, die zuvor vom EU-Recht allenfalls tangiert worden sind. Überwiegend wird Art 19 AEUV auch nur subsidiäre Geltung gegenüber sons35 tigen Antidiskriminierungsnormen (insbesondere Art 18, 157 AEUV und den Diskriminierungsverboten in den Regelungen zu den Grundfreiheiten) zugesprochen. Wenn aber die in Art 19 enthaltene Wendung „unbeschadet der sonstigen Bestimmungen der Verträge“ dafür als Rechtfertigung herangezogen wird, so überzeugt dies nicht. Gemäß einer wörtlichen Interpretation kann diese Bestimmung nur so interpretiert werden, dass sich diese verschiedenen Kompetenznormen nicht wechselseitig beeinträchtigen. Es wird also im Einzelfall nach der Kompetenzgrundlage zu suchen sein, die für den betreffenden Sachverhalt am besten geeignet erscheint und auch eine kumulative Anwendung der verschiedenen Kompetenzgrundlagen erscheint zur Regelung einer komplexen Diskriminierungsthematik möglich.55 Eine Subsidiarität von Art 19 – insbesondere gegenüber Art 18 AEUV – kann demnach nur aufgrund der weit enger umgrenzten Regelungszielsetzung angenommen werden, nicht aber im Sinne einer Nachrangigkeit der betreffenden Norm. Im Verhältnis zu den übrigen Diskriminierungsverboten ist eine Einzelfallprüfung vorzunehmen (wobei materielle Überschneidungen die absolute Ausnahme darstellen dürften): Art 157 AEUV ist die speziellere Norm und genießt deshalb Vorrang, während Art 19 AEUV in Bezug auf andere Gesetzgebungskompetenzen den Vorrang erhalten kann, wenn diese keine Kompetenz zur Bekämpfung von Diskriminierungen enthalten. 56 Eindeutig nachrangig gegenüber Art 19 ist hingegen Art 352 AEUV als Vertragslückenschließungsnorm.

3. Norminhalt 36 Art 19 AEUV ermächtigt die EU, „geeignete Vorkehrungen“ zu treffen, um Diskri-

minierungen aus den genannten Gründen57 zu bekämpfen. Diese „Vorkehrungen“

_____ 55 Schwarze/Holoubek Art 19 AEUV Rn 7. 56 Mayer/Stöger/Sporrer Art 19 AEUV Rn 9 unter Verweis auf Streinz/Streinz, 2. Aufl 2012, Art 19 AEUV Rn 14. 57 Art 19 AEUV schafft keine Grundlage für die generelle Bekämpfung von Diskriminierung bzw für die Etablierung eines allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes. Vgl von der Groeben/Schwarze/Zuleeg Art 13 EGV Rn 6. Peter Hilpold

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sind nicht näher benannt und folglich kann kein Zweifel daran bestehen, dass alle Rechtsakte gemäß Art 288 AEUV zur Verfügung stehen. Einzige Bedingung ist ihre – von den Rechtssetzungsorganen zu beurteilende – diesbezügliche Eignung. Die Bekämpfung von Diskriminierung erfordert Überzeugungsarbeit und nach- 37 haltig wirksame Maßnahmen. Dementsprechend darf nicht allein auf bindende Maßnahmen (eingeführt durch Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse) und die Einräumung von subjektiven Rechten gesetzt werden, sondern auch nicht verbindliche Maßnahmen in der Form von Empfehlungen, Stellungnahmen, Programmen (Aktionsprogrammen) und die Bereitstellung von Finanzierungsinstrumenten können wertvolle Hilfestellung leisten.58 Häufig bestehen die ergriffenen Maßnahmen auch in Verboten.59 Verpflichtungen gegenüber Privatpersonen können nur über Verordnungen eingeführt werden, da Richtlinien allein die Mitgliedstaaten verpflichten können.60 Ob auf der Grundlage von Art 19 AEUV auch positive Maßnahmen (sog „posi- 38 tive Diskriminierung“) gesetzt werden können, war anfänglich umstritten, doch wird dies mittlerweile überwiegend bejaht. Dabei wird eine vergangene gruppenbezogene Schlechterstellung durch eine gegenwärtige, temporäre Besserstellung der früher benachteiligten Gruppe auszugleichen versucht. Es sollen also durch eine intertemporale Kompensation gleiche Ausgangsvoraussetzungen geschaffen werden, damit Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden kann. Die Zulässigkeit von positiven Maßnahmen ist gängiger Usus im internationalen menschenrechtlichen Bereich, auch wenn in den letzten Jahren verstärkt das Bewusstsein geschärft wurde, dass die damit verbundene vorübergehende Ungleichbehandlung erneut als Diskriminierung angesehen werden kann und deshalb nicht nur auf die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs geachtet werden muss, sondern auch eine zeitliche Befristung sichergestellt werden muss.61 Besonders breite Anwendung haben positive Maßnahmen im internationalen Minderheitenrecht erlangt. Die zentrale Norm, Art 27 des UN-Paktes über bürgerliche und politische Rechte 1966, sieht solche Maßnahmen zwar ebenfalls nicht explizit vor, doch wurden diese im Interpretationswege für zulässig erachtet.62

_____ 58 Ebd Rn 13. 59 Lenz/Borchardt/Lenz Art 19 AEUV Rn 17. 60 Ebd. 61 Art 2 II des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung aus dem Jahr 1965 erlaubt positive Maßnahmen, allerdings mit der klaren Vorgabe, dass diese zu beenden sind, sobald die betreffende Ungleichheit behoben ist. Im Kommissionsvorschlag zur RL 2004/113 („Unisex-Richtlinie“) wurde eine vergleichbare Vorgabe gesetzt (allerdings nicht in der RL selbst). 62 Tomuschat FS Hermann Mosler, 1983, S 949; Spiliopoulou-Akermark S 127–131 sowie Hilpold IJMGR 2007, 181 ff. Peter Hilpold

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4. Verfahren 39 Die Maßnahmen zur Umsetzung des Art 19 AEUV werden auf der Grundlage eines

besonderen Gesetzgebungsverfahrens getroffen: Der Rat entscheidet einstimmig nach Zustimmung des Parlaments. Das Einstimmigkeitserfordernis im Rat wird allgemein als Ausdruck der besonderen Sensibilität und der politischen Brisanz dieser Materie gesehen.63 Die Festlegung von Grundprinzipien für Fördermaßnahmen zur Verwirklichung der Ziele gemäß Absatz 1 – einer Beitragskompetenz in Bezug auf Maßnahmen, die von den Mitgliedstaaten getroffen werden können – erfolgt hingegen nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren.

5. Sekundärrecht a) Bisher ergangene Sekundärrechtsakte 40 Auf der Grundlage des Art 19 AEUV hat die EU bislang drei Richtlinien erlassen, die einen detaillierten Verpflichtungsrahmen für die Mitgliedstaaten zur Umsetzung dieser Bestimmung in bestimmten Sektoren schaffen: – die RL 2000/43 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft64 (die „Antirassismusrichtlinie“); – die RL 2000/78 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf65 (die „Antidiskriminierungsrichtlinie“ oder auch „Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie“); – die RL 2004/113 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen66 (die „Unisex-Tarif-Richtlinie“ oder auch „Gender“Richtlinie). 41 Weiters liegt ein „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Anwendung des

Grundsatzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung“67 auf. Zu erwähnen ist auch der „Beschluss 1672/2006/EG über ein Gemeinschaftspro42 gramm für Beschäftigung und soziale Solidarität – Progress“.68

_____ 63 Siehe nur Calliess/Ruffert/Epiney Art 19 AEUV Rn 9; Schwarze/Houloubek Art 19 AEUV Rn 22; Streinz/Streinz Art 19 AEUV Rn 23. 64 ABl 2000 L 180/22. 65 ABl 2000 L 303/16. 66 ABl 2004 L 373/37. 67 KOM(2008) 426 endg. 68 Beschluss 1672/2006, ABl 2006 L 315/1. Peter Hilpold

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b) Gemeinsamkeiten Die drei bislang ergangenen Richtlinien weisen zahlreiche strukturelle Gemeinsamkeiten auf. Die Richtlinien enthalten selbst zwar keine Vorgaben für positive Maßnahmen, akzeptieren solche aber, soweit sie von den Mitgliedstaaten getroffen werden. Es gilt das Günstigkeitsprinzip und das Verschlechterungsverbot: Die Mitgliedstaaten können Maßnahmen einführen oder beibehalten, die günstiger sind und die Umsetzung der Richtlinie darf nicht zu einer Absenkung des bestehenden Schutzniveaus führen. Für die Durchsetzung der Verpflichtungen aus der Richtlinie haben die Mitgliedstaaten geeignete Gerichts- und Verwaltungsverfahren zu garantieren. Die Mitgliedstaaten haben (außer für Strafverfahren) eine Beweislastumkehr vorzusehen: Sobald der Kläger vor den zuständigen Stellen Tatsachen glaubhaft gemacht hat, die das Vorliegen eines Diskriminierungstatbestands vermuten lassen, hat der Beklagte nachzuweisen, dass keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorliegt. Jeder Mitgliedstaat hat Stellen zu bezeichnen, die für die Förderung der Gleichbehandlung gemäß dieser Richtlinie zuständig sind (durch unabhängige Untersuchungen und Berichte, aber auch durch die Unterstützung der Opfer bei der Einbringung von Beschwerden).69 Verbände, Organisationen oder andere juristische Personen, die gemäß der jeweiligen Rechtsordnung ein Interesse an der Einhaltung der einzelnen Richtlinien haben, können Verbandsklagen im Namen der beschwerten Person oder zu deren Unterstützung einbringen. Die Mitgliedstaaten haben dafür Sorge zu tragen, dass das Vorbringen einer Beschwerde nicht zu weiteren Benachteiligungen führt (Schutz vor Viktimisierung). Die Mitgliedstaaten fördern weiters den Dialog mit Nichtregierungsorganisationen, die im Bereich der Bekämpfung rassischer Diskriminierung tätig sind. Die von diesen RL untersagte Diskriminierung betrifft nicht nur das Beziehungsgeflecht öffentliche Gewalt – Privat, sondern auch rein privatrechtliche Rechtsverhältnisse, was im Grundrechtsschutz die Ausnahme darstellt. Die damit verbundene Einschränkung der Privatrechtsautonomie sowie die hier vorgesehene Beweislastumkehr sind auf Kritik gestoßen,70 doch ist dies der Preis für eine möglichst umfassende Unterbindung besonders verpönter Diskriminierungstatbestände.

_____ 69 Auf dieser Grundlage hat sich in den MS das – aus den USA kommende und zuerst von Großbritannien übernommene – Konzept der nationalen Gleichbehandlungsbehörden („national equality institutions“) verbreitet. Vgl dazu de Witte MJ 2011, 157 ff. 70 Streinz/Streinz Art 19 AEUV Abs 26. Peter Hilpold

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c) Die Antirassismusrichtlinie aus 2000 50 Die Antirassismusrichtlinie (RL 2000/43) bezieht sich auf einen Diskriminierungs-

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grund, dem international ein besonderer Unwert zukommt. Von all den Dokumenten und Instrumenten, die sich die Bekämpfung des Rassismus zum Ziel gesetzt haben, kommt dem UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung aus 1965 besondere Bedeutung zu. Dieses definiert „Rassendiskriminierung“ in Art 1 als „jede auf der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, dem nationalen Ursprung oder dem Volkstum beruhende Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass dadurch ein gleichberechtigtes Anerkennen, Genießen oder Ausüben von Menschenrechten und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder jedem sonstigen Bereich des öffentlichen Lebens vereitelt oder beeinträchtigt wird.“ Die Bekämpfung rassischer Diskriminierung könnte mit der damit implizit verbundenen Anerkennung rassischer bzw erbbiologischer Unterschiede der rassischen Differenzierung ungewollt Vorschub leisten. Gerade um dies zu verhindern, enthält Absatz 6 der Erwägungsgründe dieser Richtlinie eine wichtige Präzisierung: „Die Europäische Union weist Theorien, mit denen versucht wird, die Existenz verschiedener menschlicher Rassen zu belegen, zurück. Die Verwendung des Begriffs ‚Rasse‘ in dieser Richtlinie impliziert nicht die Akzeptanz solcher Theorien.“ Die Zurückweisung von Rassenlehre und Rassentheorien kann nicht verhindern, dass rassische Diskriminierung als Faktum fortbesteht und deshalb gezielter Gegenmaßnahmen bedarf. Die Richtlinie zielt auf die Bekämpfung sowohl direkter als auch indirekter Diskriminierung, in deren Rahmen „neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einer Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, in besonderer Weise benachteiligen können.“ Die Richtlinie gilt für den öffentlichen und den privaten Bereich, und zwar für den Beschäftigungszugang, den Sozial- und Gesundheitsschutz, soziale Vergünstigungen, Bildung und den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich von Wohnraum (Art 2 II RL 2000/43). Sie betrifft nicht die unterschiedliche Behandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (die von Art 18 AEUV geregelt wird) und die Vorschriften und Bedingungen für die Einreise. Der EuGH hat festgestellt, dass bereits die öffentliche Ankündigung eines Arbeitgebers, keine Personen einer bestimmten Rasse oder ethnischen Herkunft einstellen zu wollen, eine unzulässige Diskriminierung gemäß dieser Richtlinie darstellt.71 Art 19 AEUV bezieht sich auch auf die „ethnische Herkunft“ als verbotener Anknüpfungspunkt für Diskriminierungen. Anfänglich gehegte Hoffnungen, dass

_____ 71 EuGH, Rs C-54/07 – Feryn. Peter Hilpold

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diese Bestimmung damit als Grundlage für eine aktive Minderheitenpolitik dienen könnte, haben sich aber nicht erfüllt, wohl auch weil in den verschiedenen EUMitgliedstaaten völlig unterschiedliche Haltungen zum Minderheitenschutz eingenommen werden.72 Die Antirassimusrichtlinie enthält keinerlei Ansatzpunkte für Maßnahmen des positiven Minderheitenschutzes.

d) Die Antidiskriminierungsrichtlinie aus 2000 Die Antidiskriminierungsrichtlinie (RL 2000/78) enthält Normen zur Bekämpfung von Diskriminierung aus Gründen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf. Die erfassten Diskriminierungstatbestände sind also weit zahlreicher als in der Antirassismusrichtlinie, doch der spezifische Anwendungskontext (Beschäftigung und Beruf) ist deutlich enger. Zudem sind hier die Ausnahmen zahlreicher und weiter reichend. Darüber hinaus gibt es aber zahlreiche strukturelle Parallelen zwischen beiden Richtlinien: Was die Vorschriften über den Dialog mit der Zivilgesellschaft anbelangt, so kommt im Rahmen der Antidiskriminierungsrichtlinie – neben den Regelungen, die allen drei bislang ergangenen Richtlinien gemein sind – auch noch eine Verpflichtung über den sozialpartnerschaftlichen Dialog zur wirksamen Bekämpfung von Diskriminierung im Arbeitsbereich hinzu (Art 13 RL 2000/78). Verschiedene Einschränkungen, die zT jenen der Antirassismusrichtlinie entsprechen, zT aber erheblich darüber hinausgehen, begrenzen den Anwendungsbereich der Richtlinie: – Gleich wie die Antirassismusrichtlinie betrifft sie nicht Fälle der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit und sie betrifft auch nicht die Einreisevorschriften aus Drittstaaten (Art 3 RL 2000/78). – Sie gilt nicht für Leistungen der sozialen Sicherheit (Art 3 III). – Gleich wie für den Bereich der rassischen Diskriminierung stellt eine (verhältnismäßige) Unterschiedsbehandlung keine verbotene Diskriminierung dar, wenn die relevanten Merkmale (auf welche an und für sich nicht Bezug genommen werden dürfte) „eine wesentliche und entscheidende berufliche Voraussetzung darstellen“ (Art 4 I).

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Darüber hinausgehend gewährt die Antidiskriminierungsrichtlinie aber auch sog 60 „Tendenzschutz“ bei einer Tätigkeit innerhalb von Kirchen und anderen religiösen Einrichtungen. Innerhalb dieser Einrichtungen und Institutionen kann die Religion

_____ 72 Hilpold AVR 1995, 432 ff. Peter Hilpold

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oder die Weltanschauung eine wesentliche berufliche Anforderung darstellen. Von Mitarbeitern kann verlangt werden, dass diese sich „loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation verhalten“ (Art 4 II, III RL 2000/78). Dieser Tendenzschutz gilt selbstverständlich nur innerhalb der vorgegebenen verfassungsrechtlichen Schranken. Was die einzelnen materiellen Anwendungsbereiche der RL 2000/78 anbelangt, so kommt dem Aspekt der Altersdiskriminierung eine besondere Relevanz und Aktualität zu, was sich auch in einer umfangreichen – und zT umstrittenen – EuGH-Judikatur widerspiegelt. Das Verbot der Altersdiskriminierung wirkt in zwei Richtungen: Zwar zeigt die Praxis, dass überwiegend Ältere gegenüber Jüngeren diskriminiert werden, doch ist auch das gegenteilige Phänomen denkbar und auch in der Praxis feststellbar. Im Fall Mangold73 hat der EuGH aus den gemeinsamen Überlieferungen der Verfassungen der Mitgliedstaaten einen Allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts zum Verbot der Altersdiskriminierung abgeleitet.74 Dieser Grundsatz ist somit nicht unmittelbar in der RL 2000/78 verankert, sondern wird dort nur präzisiert.75 Im betreffenden Urteil hat der EuGH festgehalten, dass eine nationale Regelung, nach der der Abschluss befristeter Arbeitsverträge ab Vollendung des 52. Lebensjahrs uneingeschränkt zulässig ist, sofern nicht zu einem vorhergehenden unbefristeten Arbeitsvertrag mit demselben Arbeitgeber ein enger sachlicher Zusammenhang besteht, mit dem EU-Recht nicht vereinbar ist. Zwar schien es zeitweise unsicher, ob der EuGH am weitreichenden Ansatz, den er in „Mangold“ entwickelt hatte, festhalten würde. So hat er in „Bartsch“76 eine deutsche Regelung abgesegnet, nach der kein Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente besteht, wenn der Altersunterschied zwischen den Ehegatten mehr als 15 Jahre betragen hat. Dies geschah ua mit dem Hinweis darauf, dass die Versorgungsrichtlinien nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fielen.77 Seit dem Urteil in der Rs „Kücükdeveci“78 dürften aber die in „Mangold“ aufgestellten Grundsätze als gefestigt gelten. Im Mittelpunkt der Verfahren wegen Altersdiskriminierung stehen Regelungen, die ein Höchstalter für den Berufszugang bzw die Ausübung bestimmter Berufe vorsehen.79 Die RL 2000/78 schränkt aber in Art 6 das Verbot der Altersdiskrimi-

_____ 73 EuGH, Rs C-144/04 – Mangold. 74 Streinz/Streinz Art 19 AEUV Rn 9 mit scharfer Kritik an diesem Urteil. 75 EuGH, Rs C-555/07 – Kücükdeveci, Rn 50. 76 EuGH, Rs C-427/06 – Bartsch. 77 Ebd Rn 15 ff. 78 EuGH, Rs C-555/07 – Kücükdeveci. 79 EuGH, Rs C-341/08 – Petersen; EuGH, Rs C-447/09 – Lufthansa-Piloten; EuGH, Rs C-229/08 – Wolf. Peter Hilpold

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nierung in vielerlei Hinsicht ein. So stellen Ungleichbehandlungen wegen des Alters keine Diskriminierung dar, „sofern sie objektiv und angemessen sind und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu verstehen sind, gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.“ Im Detail führt die betreffende Bestimmung dann beispielhaft folgende Formen 66 erlaubter Ungleichbehandlung aus Altersgründen an: „a) die Festlegung besonderer Bedingungen für den Zugang zur Beschäftigung und zur beruflichen Bildung sowie besonderer Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Bedingungen für Entlassung und Entlohnung, um die berufliche Eingliederung von Jugendlichen, älteren Arbeitnehmern und Personen mit Fürsorgepflichten zu fördern oder ihren Schutz sicherzustellen; b) die Festlegung von Mindestanforderungen an das Alter, die Berufserfahrung oder das Dienstalter für den Zugang zur Beschäftigung oder für bestimmte mit der Beschäftigung verbundene Vorteile; c) die Festsetzung eines Höchstalters für die Einstellung aufgrund der spezifischen Ausbildungsanforderungen eines bestimmten Arbeitsplatzes vor dem Eintritt in den Ruhestand.“ Im Fall „Palacios de la Villa“80 hat der EuGH festgehalten, dass das in der RL 67 2000/78 konkretisierte Verbot jeglicher Diskriminierung wegen des Alters dahingehend auszulegen ist, dass es einer nationalen Regelung wie der des Ausgangsverfahrens nicht entgegensteht. Nach dieser Regelung wurden in Tarifverträgen enthaltene Klauseln über die Zwangsversetzung in den Ruhestand für gültig erklärt, in denen als Voraussetzung lediglich verlangt wird, dass der Arbeitnehmer die im nationalen Recht auf 65 Jahre festgesetzte Altersgrenze für den Eintritt in den Ruhestand erreicht hat und die übrigen sozialversicherungsrechtlichen Voraussetzungen für den Bezug einer beitragsbezogenen Altersrente erfüllt. Das Verbot der RL 2000/78 steht laut EuGH solch einer nationalen Regelung nicht im Wege, sofern – diese Maßnahme, auch wenn sie auf das Alter abstellt, objektiv und angemessen ist und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, das in Beziehung zur Beschäftigungspolitik und zum Arbeitsmarkt steht, gerechtfertigt ist und – die Mittel, die zur Erreichung dieses im Allgemeininteresse liegenden Ziels eingesetzt werden, nicht als dafür unangemessen und nicht erforderlich erscheinen.“

_____ 80 EuGH, Rs C-411/05 – Palacios de la Villa, Rn 77. Peter Hilpold

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68 Was die Festlegung einer Altersobergrenze für Universitätsprofessoren (im kon-

kreten Fall zwangsweise Versetzung in den Ruhestand mit Erreichen des 68. Lebensjahres) anbelangt, hat der EuGH im Fall „Georgiev“81 darauf verwiesen, dass die Zahl der Stellen von Universitätsprofessoren im Allgemeinen begrenzt sei und sie Personen vorbehalten seien, die im betreffenden Bereich die höchsten Qualifikationen erreicht hätten. Da eine vakante Stelle verfügbar sein müsse, damit jemand als Professor eingestellt werden könne, sei davon auszugehen, dass ein Mitgliedstaat es für angemessen halten könne, eine Altersgrenze festzusetzen, um beschäftigungspolitische Ziele wie die Begünstigung des Zugangs jüngerer Personen zum Beruf sowie die Verbesserung der Qualität des Unterrichts und der Forschung an den Universitäten zu erreichen.82 Eine Höchstaltersgrenze kann auch für das Funktionieren eines Dienstes 69 (im Konkreten: Berufsfeuerwehr)83 angemessen und sinnvoll sein. Durch das Verbot der Altersdiskriminierung werden aber auch – wie erwähnt – 70 Jüngere gegenüber Älteren vor Diskriminierung geschützt, so im Fall Kücükdeveci, wo der EuGH in einer Regelung, die Vordienstzeiten erst ab einem bestimmten Alter (ab dem vollendeten 25. Lebensjahr) berücksichtigt (und die betreffenden Arbeitnehmer damit leichter gekündigt werden können) eine Form der Altersdiskriminierung sah.84 Was die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung anbelangt, so 71 handelt es sich dabei um einen relativ neuen Diskriminierungstatbestand,85 dessen Einführung Ausdruck der ständig wachsenden und sich weiter differenzierenden Grundrechtssensibilität ist. Er ist von der Diskriminierung nach Maßgabe des Ge-

_____ 81 EuGH, Rs C-250/09 – Georgiev. 82 Vgl auch EuGH, Rs C-341/08 – Petersen. Hier ging es um die Festlegung einer Höchstaltersgrenze in einem Vertragsarztsystem, die als zulässig zum Zwecke der Verteilung der Berufschancen zwischen den Generationen innerhalb der Berufsgruppe der Vertragszahnärzte qualifiziert worden ist. Im Fall „G.W.“ hat der österreichische VwGH mit Urt v 28.1.2013 den Antrag eines österreichischen Universitätsprofessors auf Überweisung eines Streitfalls betreffend eine behauptete Altersdiskriminierung an den EuGH bezugnehmend auf die RL 2000/78 und die „acte clair“-Doktrin abgelehnt. Professor W hatte sich der Überführung in den Ruhestand mit Erreichung des 65. Lebensjahres unter Berufung auf das Verbot der Altersdiskriminierung zu widersetzen versucht. Angesichts ua der Tatsache, dass der Beschwerdeführer mit Eintritt in den Ruhestand einen angemessenen Ruhegenuss erhielt und die Festsetzung einer Altersgrenze zur Verfolgung der beschäftigungspolitischen Ziele des Generationswechsels und der vermehrten Beschäftigung von Frauen als nicht unangemessen erscheint, wurde der Antrag abgewiesen. Zugänglich im Rechtsinformationssystem des österreichischen Bundeskanzleramtes, http://www.ris.bka.gv.at/. 83 EuGH, Rs C-229/08 – Wolf: Eine Höchstaltersgrenze von 30 Jahren für die Einstellung in die Laufbahn des mittleren feuertechnischen Dienstes wurde als vereinbar mit der RL 2000/78, ABl 2000 L 303/16, erklärt. 84 EuGH, Rs C-555/07 – Kücükdeveci. 85 Streinz/Streinz Art 19 AEUV Rn 12. Peter Hilpold

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schlechts abzugrenzen, die schon weit länger detailliert im EU-Recht geregelt ist und primärrechtlich in Art 157 AEUV (Entgeltgleichheit bei gleicher/gleichwertiger Arbeit sowie Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen) einen wichtigen Bezugspunkt findet. Art 19 AEUV erwähnt auch Vorkehrungen gegen Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, doch sind diese nicht in der Richtlinie 2000/78, sondern in der RL 2004/ 113 (Unisexrichtlinie) geregelt. Unter sexueller Orientierung versteht man die Präferenz einer Person hinsichtlich des Geschlechts ihrer Sexualpartner. 86 Diskriminierungstatbestände sind sowohl in Bezug auf die homosexuelle als auch in Bezug auf die bi- oder heterosexuelle Präferenz denkbar,87 doch dürfte sich der Großteil der Diskriminierungsfälle in der Praxis auf die erstgenannte Konstellation konzentrieren. Grundlegende Äußerungen des EuGH zu dieser Thematik finden sich bspw in den Urteilen „Maruko“88 (es bleibt den MS überlassen, ob sie einen mit einer Ehe vergleichbaren Familienstand für homosexuelle Paare einführen wollen; entscheiden sie sich dafür, so darf keine sachgrundlose Ungleichbehandlung zwischen Kategorien – so wie im gegebenen Fall bei der Hinterbliebenenversorgung – mehr erfolgen) und Léger89 (homosexuelle Männer können wegen erhöhter Gefahr von HIVInfektionen von Blutspenden ausgeschlossen werden, solange Nachweisbarkeitsprobleme bei Blutkonserven fortbestehen).90 Eine Person, die aufgrund einer Geschlechtsumwandlung diskriminiert wird, kann keinen Schutz nach Maßgabe der sexuellen Orientierung geltend machen, sondern hat sich auf Art 157 AEUV zu berufen.91 Zunehmende Bedeutung gewinnt auch der Kampf gegen die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen. Das auf UN-Ebene ausgearbeitete „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“92 (in Kraft seit 2008) wurde von mittlerweile 128 Staaten und auch von der EU ratifiziert und entfaltet in den Vertragsparteien eine nachhaltige Wirkung. Die Antidiskriminierungsrichtlinie enthält ergänzende und unterstützende Vorkehrungen dazu. Art 5 RL 2000/78 verlangt von den Arbeitgebern geeignete und konkrete Maßnahmen, „um den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen.“ Angesichts der Kosten, die mit dieser positiven Verpflichtung

_____ 86 87 88 89 90 91 92

Schwarze/Holoubek Art 19 AEUV Rn 19. Ebd. EuGH, Rs C-267/06 – Maruko. EuGH, Rs 528/13 – Léger. Vgl auch Pechstein/Nowak/Häde/Michl Art 19 AEUV Rn 30. EuGH, Rs C-117/01 – K.B. BGBl 2008 II 1420.

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verbunden sind, wird diese im selben Artikel unter Verweis auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wieder eingeschränkt. Von einer „Krankheit“ ist eine Behinderung dadurch zu unterscheiden, dass die 76 Behinderung, die physischer oder psychischer Natur sein kann, zu einer dauerhaften Beeinträchtigung (bzw einer Beeinträchtigung von langer Dauer) der Beteiligung am Berufsleben führt. Sie wurde auch als „nicht nur vorübergehende, vom typischen Zustand eines Menschen mit vergleichbarem Lebensalter abweichende, Funktionsbeeinträchtigung eines Menschen“93 definiert.94 „Eine Krankheit oder ein anatomischer oder physiologischer Defekt wie das Fehlen eines Organs stellt also für sich allein noch keine Behinderung im Sinne der Richtlinie 2000/78 dar, wenn darin keine Einschränkung zu sehen ist, die diese Person an der vollen, wirksamen und mit anderen Arbeitnehmern gleichberechtigten Teilhabe am Berufsleben hindert.“95 Auf eine Entlassung wegen Krankheit findet die RL 2000/78 nicht Anwendung. 77 Eine Krankheit kann aber durchaus Ursache einer Behinderung sein, ohne dass die Qualifizierung als Behinderung entfallen würde.96 Auch rechtfertigt die RL 2000/78 keine restriktive Auslegung des Begriffs „Behinderung“. Es kann somit kein bestimmter Schweregrad der Behinderung verlangt werden.97 Wie aus der Präambel des UN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen hervorgeht, entwickelt sich der Begriff der „Behinderung“ in Bezug auf die Bedürfnisse der Gesellschaft ständig weiter. Diskriminierungstatbestände können auch auf Dritte ausstrahlen, wenn das 78 unmittelbare Diskriminierungsopfer in enger Verbindung (Abhängigkeit) zu dieser Person steht. Dies ist gerade bei Menschen mit Behinderungen der Fall, die der Pflege und Unterstützung durch Dritte bedürfen.98

_____ 93 Streinz/Streinz Art 19 AEUV Rn 9. 94 Vgl dazu auch EuGH, Rs C-13/05 – Chacón Navas, Rn 43, wonach in diesem Kontext unter Behinderung jede „Einschränkung […], die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigung zurückzuführen ist und die ein Hindernis für die Teilhabe des Betreffenden am Berufsleben bildet“ zu verstehen sei. Vgl auch EuGH, verb Rs C-335/11 und C-337/11 – HK Danmark, Rn 25. 95 SchlA GA Jääskinen, Rs C-354/13 – Kaltoft, Nr 34. Vgl auch Pechstein/Nowak/Häde/Michl, Art 19 AEUV Rn 27 mwH auf schwierige Abgrenzungsprobleme zwischen Krankheit und Behinderung bspw bei Adipositas. 96 SchlA GA Kokott, verb Rs C-335/11 und C-337/11 – HK Danmark, Nr 31. 97 Ebd Nr 35. GA Kokott verweist darauf (Fn 18), dass auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Erkrankung an Diabetes mellitus Typ I, die von den nationalen Behörden als geringfügig eingestuft wurde, als Behinderung für die Zwecke des Diskriminierungsschutzes anerkannt habe (EGMR, Glor vs Schweiz, 13444/04 [Kammer]). 98 EuGH, Rs C-303/06 – Coleman: Hier hat der EuGH die Anwendbarkeit des hier einschlägigen Diskriminierungsverbots bei einer Frau erkannt, die aufgrund der Pflegeleistungen für ihr behindertes Kind eine berufliche Benachteiligung erfahren hat. Peter Hilpold

II. Antidiskriminierungsmaßnahmen | 831

Das Verbot der Diskriminierung aus religiösen Gründen gehört zu den ältes- 79 ten Diskriminierungsverboten überhaupt. Besonders deutlich wird dies im Bereich des Minderheitenrechts, dessen Grundlage im Bereich des Schutzes religiöser Minderheiten liegt.99 Gerade weil sich religiöse Diskriminierung regelmäßig in der Missachtung und Nichtanerkennung fremder Glaubensbekenntnisse konkretisiert, muss der Diskriminierungsschutz in diesem Bereich von einer Anerkennung einer Religion absehen und der Begriff der schützenswerten Religion breit definiert werden. Für das Vorliegen einer Religion wird „zumindest ein Bekenntnis, Vorgaben für die Lebensweise und ein Kult“ verlangt.100 Die Weltanschauung wird hingegen als der umfassendere Begriff verstanden, der auch nicht-religiöse individuell sinnstiftende Wertesysteme und Realitätsdeutungen umfasst. Umstritten ist, ob politische, wissenschaftliche oder ästhetische Ansichten als Weltanschauung qualifiziert werden können.101 Dies wird dann zu bejahen sein, wenn sich diese Anschauungen zu einer Gesamtsicht der Lebenswirklichkeit mit perspektivischer Dimension für die Weiterentwicklung dieser Realität fügen. Die Abgrenzung zwischen Religion und Weltanschauung gestaltet sich in der 80 Praxis schwierig und auch aus diesem Grund wird von einem einheitlichen Diskriminierungsbegriff ausgegangen.102 In den Rechtsfolgen wird deshalb nicht weiter differenziert, ob sich die Diskriminierung auf Religion oder Weltanschauung bezieht.

e) Die „Unisex“-Richtlinie aus 2004 Die „Unisex“-Richtlinie (RL 2004/113) zielt auf die „Verwirklichung des Grundsat- 81 zes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen“ ab. Geschlechtsspezifische Diskriminierung wurde in der Vergangenheit im EU- 82 Kontext primär im Berufsleben thematisiert und bekämpft. Die RL 2004/113 stellt gezielt auf geschlechtsspezifische Diskriminierungssituationen außerhalb dieses Bereichs ab, und zwar auf die – direkte oder indirekte – Diskriminierung (einschließlich der Anweisung zur Diskriminierung) bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen. Das Diskriminierungsverbot gilt, wenn Güter und Dienstleistungen öffentlich (und somit nicht allein im Bereich des Familien- und Privatlebens) angeboten werden. Auf die Vertragsfreiheit soll solange nicht eingewirkt

_____ 99 Hilpold SZIER 1993, 31 ff. Zahlreich sind aber die Werte- und Zielkonflikte, die die Religionsfreiheit aufwerfen kann. Vgl dazu nur Danchin HarvILJ 2008, 249 ff. 100 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Grabenwarter Art 19 AEUV Rn 34. 101 Bejahend, zumindest für die politischen Ansichten, Schwarze/Holoubek Art 19 AEUV Rn 16, contra Grabitz/Hilf/Nettesheim/Grabenwarter Art 19 AEUV Rn 35. 102 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Grabenwarter Art 19 AEUV Rn 35. Peter Hilpold

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werden, wie die Wahl des Vertragspartners nicht von dessen Geschlecht abhängig gemacht wird.103 Sexuelle Belästigung gilt als Diskriminierung. Ausgenommen vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie sind auch der Inhalt von Medien und Werbung sowie der Bereich der Bildung (Art 3 III RL 2004/113). Die Struktur der RL 2004/113 entspricht – was Ausnahmen und Formen der Rechtsdurchsetzung anbelangt – weitgehend jener der Antirassismus- und der Antidiskriminierungsrichtlinie. Eine Besonderheit dieser Richtlinie besteht darin, dass eine unterschiedliche Behandlung nicht ausgeschlossen ist, „wenn es durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist, die Güter und Dienstleistungen ausschließlich oder vorwiegend für die Angehörigen eines Geschlechts bereitzustellen, und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind“ (Art 4 V RL 2004/113). Als Beispiele für eine solche zulässige unterschiedliche Behandlung werden bspw getrennte Bereiche in Schwimmbädern und Saunas genannt.104 Zu intensiven Diskussionen hat Art 5 der Richtlinie 2004/113 geführt: Art 5 I sieht vor, dass Versicherungsverträge, die nach dem 21. Dezember 2007 neu abgeschlossen werden, in Bezug auf Prämien und Leistungen geschlechtsneutral zu gestalten sind, womit allerdings ein Widerspruch mit versicherungsstatistischen Erfahrungswerten und eine Quersubventionierung zwischen den Geschlechtern einhergeht. Art 5 II sah demzufolge die Möglichkeit vor, dass die Mitgliedstaaten vor dem 21. Dezember 2007 beschließen können, eine unterschiedliche Gestaltung von Prämien und Leistungen dann zuzulassen, „wenn die Berücksichtigung des Geschlechts bei einer auf relevanten und genauen versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhenden Risikobewertung ein bestimmender Faktor ist.“ Der EuGH hat in dieser Bestimmung allerdings eine geschlechtsbezogene Diskriminierung und damit einen Verstoß gegen Art 19 AEUV gesehen und demensprechend diese Regelung mit Wirkung ab 21.12.2012 für ungültig erklärt.105

f) Zukunftsperspektiven 89 Diskutiert wurde über einen Vorschlag für eine Richtlinie zur Anwendung des

Grundsatzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung106. Diese Richtlinie sollte auf Sachverhalte außerhalb von Beschäftigung und Beruf Anwendung finden und damit in dieser Hinsicht die Antidiskriminierungsrichtlinie

_____ 103 104 105 106

Erwgr 14 RL 2004/113, ABl 2004 L 373/37. Schwarze/Holoubek Art 19 AEUV Rn 27. EuGH, Rs C-236/09 – Association belge des Consommateurs Test-Achats ua. KOM(2008) 426 endg. Peter Hilpold

III. Unionsbürgerschaft | 833

aus 2000 ergänzen. Sie sollte aber auch die „Unisex“-Richtlinie aus 2004 abrunden, da sie Diskriminierungen der genannten Art in den Bereichen Sozialschutz einschließlich der sozialen Sicherheit und der Gesundheitsdienste, soziale Vergünstigungen, Bildung sowie Zugang zu und Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich Wohnraum, bekämpfen sollte. Bislang wurde aber keine Einigung über diesen Entwurf erzielt. III. Unionsbürgerschaft III. Unionsbürgerschaft 1. Grundsätzliches Der EuGH hat im Urteil „Grzelczyk“ den Unionsbürgerstatus folgendermaßen defi- 90 niert: „Der Unionsbürgerstatus ist […] dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen.“107

Der Unionsbürgerstatus ist die natürliche Fortführung des Diskriminierungs- 91 verbots im Wandlungsprozess einer primär wirtschaftsorientierten Integrationszone zu einer vorrangig individualrechtsorientierten, -schützenden und -fördernden Wertegemeinschaft. Dieser enge Zusammenhang mit dem Diskriminierungsverbot kommt nunmehr auch in der Positionierung dieser Bestimmung im zweiten Teil des Vertrages unmittelbar anschließend an das allgemeine Diskriminierungsverbot (Art 18 AEUV) und Art 19 AEUV über die Bekämpfung der Diskriminierung zum Ausdruck. Ebenso wie das Diskriminierungsverbot ist auch die Regelung über die Unionsbürgerschaft darauf angelegt, spektral das gesamte Unionsrecht zu durchwirken, wenngleich die Unionsbürgerschaft als jüngeres Konzept und als Ergebnis eines komplexen politischen und zukunftsoffenen Gestaltungsprozesses in seiner Entwicklung noch nicht so weit gediehen ist, wie das Diskriminierungsverbot. Die Fortentwicklung des Unionsrechts (Gemeinschaftsrechts) von seiner ur- 92 sprünglichen nahezu ausschließlich wirtschaftlichen Fokussierung, die sich gerade in der Herausbildung des Konzepts der Unionsbürgerschaft niedergeschlagen hat, darf aber nicht im Sinne eines radikalen Paradigmenwechsels fehlgedeutet werden. Eine ausgeprägte und wohl vorrangige Wirtschaftsfundierung des Unionsrechts ist nach wie vor gegeben und dies schlägt sich auch im aktuell geltenden Wesensgehalt der Unionsbürgerschaft nieder, die – wie zu zeigen sein wird – zahlreiche wirtschaftliche Bezüge aufweist. Diese Bezüge werden auch in Zukunft fortbestehen,

_____ 107 EuGH, Rs C-184/99 – Grzelczyk, Rn 31. Peter Hilpold

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zumal die wirtschaftliche Dimension jederzeit einen wesentlichen Aspekt des Seins des Individuums ausmacht. Die dynamischen Komponenten dieses Konzepts verweisen aber sehr stark in eine andere Richtung, was dazu führen sollte, dass in Zukunft die politischen Elemente besonders in den Blickpunkt gerichtet werden. Die Unionsbürgerschaft ist nicht mit einer Staatsangehörigkeit gleichzusetzen und sie ist auch nicht darauf angelegt, sich zu einer solchen zu entwickeln, solange sich die Europäische Union nicht zu einem Staat fortbildet. Dafür gibt es aber keine Anzeichen, sondern der souveräne Wille der Mitgliedstaaten steht einem solchen Prozess klar entgegen.108 Missverständnisse hat der Begriff der „Unionsbürgerschaft“ auch deshalb verursacht, da die Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang wie auch in vielen anderen Bereichen des EU-Rechts eine Verfassungssprache gewählt haben, die die pauschale Übernahme staatsrechtlicher Kategorien in irreführender Weise nahelegt.109 Die Unionsbürgerschaft begründet im Gegensatz zur Staatsangehörigkeit keine Personalhoheit der Union gegenüber dem Einzelnen.110 Im politischen Bereich verleiht sie Teilhaberechte, die dem staatsbürgerlichen Aktivstatus ähneln.111 Trotz aller Fortentwicklungen, die das Konzept der Unionsbürgerschaft insbesondere durch die Rechtsprechung des EuGH erfahren hat, ist davon auszugehen, dass selbst die Erschöpfung des maximalen Entwicklungspotentials des Konzepts der Unionsbürgerschaft nicht ausreichen wird, den diesbezüglich fehlenden Konsens der Mitgliedstaaten zu ersetzen. Es ist somit davon auszugehen, dass die Unionsbürgerschaft das Sein des Bürgers in einem rechtlich-politischen Wesen sui generis bestimmt. Das Konzept der Unionsbürgerschaft knüpft an einen pränationalen historischen Status an, in dem der Bürger bereits über eine Vielzahl an wirtschaftlichen und politischen Rechten verfügte (und korrespondierende Pflichten übernehmen musste), ohne dass ein Ausschließlichkeitsband mit einem exklusive Loyalität verlangenden Nationalstaat bestanden hätte. Der Begriff der Unionsbürgerschaft ruft damit Assoziationen mit

_____ 108 Das BVerfG hat die Europäische Union im „Maastricht“-Urteil als „europäischen Staatenverbund“ bezeichnet (BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 [181] – Maastricht: „Der Vertrag begründet einen europäischen Staatenverbund, der von den Mitgliedstaaten getragen wird und deren nationale Identität achtet; er betrifft die Mitgliedschaft Deutschlands in supranationalen Organisationen, nicht eine Zuständigkeit zu einem europäischen Staat.“ Dabei definierte es den Verbund als „enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten“. Eine Wandlung der EU in einen Bundesstaat („Systemwechsel“) sah es für Deutschland nur auf der Grundlage eines vorherigen Volksentscheids als möglich an (ebd 332, 364). Im Lissabon-Urteil betont das BVerfG erneut das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes (BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 [347 f] – Lissabon). 109 So überzeugend Rabenschlag S 17. 110 Hobe Der Staat 1993, 245 (254 ff). 111 Ehlers/Kadelbach S 655. Peter Hilpold

III. Unionsbürgerschaft | 835

dem Status des Bürgers italienischer Stadtstaaten im Hochmittelalter wach, aber auch mit der Position des Individuums im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, das nach 1648 in über 300 Einheiten mit souveränitätsähnlichen Rechten aufgeteilt war, in dem aber gleichzeitig eine geteilte Loyalität gegeben war und die höchste Souveränität beim Kaiser lag. War bereits das europäische Integrationsprojekt primär vom Bestreben getragen, durch die Schaffung einer supranationalen Rechtsordnung die nationalen Trennlinien zu überwinden, die für eine historisch einzigartige Konfliktualität verantwortlich waren, so wurde mit der Unionsbürgerschaft dieser Weg konsequent weiter fortgeführt, wodurch zusätzliche Loyalitäten und Ansprüche geschaffen wurden, die aber mit der Loyalität zum Heimatstaat nicht in Konflikt treten sollten. Insbesondere in der deutschsprachigen Literatur wird betont, dass für dieses Konzept bewusst nicht der Ausdruck „Unionsangehörigkeit“, sondern der Begriff „Unionsbürgerschaft“ verwendet worden sei.112 Im (deutschen) Staatsrecht werde nämlich schon seit langem zwischen Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft unterschieden, wobei sich beide Konzepte auf die Verbindung zwischen einer Einzelperson und dem Staat bezögen, die Staatsangehörigkeit aber die „äußere“ Seite dieser Beziehung regle, die Abgrenzung verschiedener Staatsvölker, während die Staatsbürgerschaft die „innere“ Seite dieses Verhältnisses betreffe, die Beziehung des Einzelnen zu seinem Staat, und damit insbesondere auch politische Elemente anspreche.113 Die Unionsbürgerschaft ist damit der Kristallisationspunkt einer Regelungsebene im Unionsrecht, die im Gemeinschaftsrecht des Jahres 1957 nur embryonal vorhanden war, weitgehend ignoriert wurde und nun voll zur Entfaltung gebracht worden ist. Die Unionsbürgerschaft ist damit zum zentralen Motor der dynamischen Veränderung des Unionsrechts geworden: Es wurde erkannt, dass die Union nur bestehen und sich fortentwickeln kann, wenn eine stärkere Identifikation des Einzelnen mit dieser Institution Platz greift und dazu sollte die Unionsbürgerschaft, die den politischen Aspekt in den Vordergrund rückt, einen maßgeblichen Beitrag leisten. Die „immer engere Union der Völker Europas“, deren Schaffung laut Präambel des EUV ein zentrales Ziel des europäischen Integrationsprozesses ist,114 lässt sich nur unter Einbindung des Bürgers verwirklichen. In Ansätzen ist diese Erkenntnis bis auf den Anbeginn der europäischen Integration zurückverfolgbar. Aus den Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft werden Unionsbürger berechtigt und grundsätzlich nicht Drittstaatsangehörige. Die Unionsbürgerschaft

_____ 112 Diese Auffassung wird auf breiter Basis in der deutschsprachigen Literatur vertreten. Zu Recht weist Tomuschat allerdings darauf hin, dass diese semantische Unterscheidung nicht überzubewerten sei, da sie typisch für das Deutsche sei. Vgl Drexl/Kreuzer/Scheuing/Tomuschat S 84. 113 Fischer FS Günther Winkler, 1997, S 237 (241). 114 Diese Vorgabe findet sich schon in der Präambel des EWGV aus 1957. Peter Hilpold

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strahlt allerdings auf drittstaatsangehörige Familienangehörige von Unionsbürgern aus.115 Primärer Schutzadressat ist dabei weiter der Unionsbürger. Seine Familienangehörigen werden von diesem Schutz erfasst, da das soziale und familiäre Sein des Unionsbürgers Teil seiner Identität ist. Bleiben diese Aspekte seiner Identität unberücksichtigt, so wird der Unionsbürger uU in der Wahrnehmung seiner sonstigen Rechte aus der Unionsbürgerschaft eingeschränkt. Wie nachfolgend zu zeigen sein wird, ist die Frage der Reichweite des Schutzes von Partnerschaft und Familie (sowohl in rechtlicher Hinsicht als auch was die de-facto-Familie anbelangt) Gegenstand komplexer Abwägungen im Rahmen der Rechtsprechung des EuGH. Zum Zwecke der Verhinderung einer allzu extensiven bzw missbräuchlichen Ausdehnung der Rechte aus der Unionsbürgerschaft auf das Beziehungsumfeld hat der EuGH festgehalten, dass eine Ausweitung des Schutzes dann und nur dann erfolgen solle, wenn der „Kernbestand der Unionsbürgerrechte“ gefährdet sei.116 Auf der Grundlage von Art 45 II GRCh kann den Staatsangehörigen von Dritt101 ländern, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten, nach Maßgabe der Verträge Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit gewährt werden.117 Spezifische Aufenthalts- und Freizügigkeitsrechte werden den Familienmitglie102 dern von Unionsbürgern durch die RL 2004/38 gewährt.118

2. Die Entwicklungsgeschichte des Konzepts der Unionsbürgerschaft bis hin zur primärrechtlichen Verankerung durch den Vertrag von Maastricht 103 Schon die Väter der europäischen Integration, Jean Monnet und Robert Schuman, hatten festgestellt, dass Europa durch bloße Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten nicht gebaut werden könne und dass die europäische Integration vielmehr dem „gewöhnlichen Menschen“ nahe gebracht werden müsse.119 Jean Monnet soll schon im Jahr 1955 geäußert haben: „We do not create a union of States. We unite people.“120 Was in den 1950er Jahren bloße Inspiration von politischen Vordenkern war, 104 schlug sich nachfolgend in immer deutlicher formulierten Programmen und Forderungskatalogen und schlussendlich in präzisen Normen nieder. Gemäß der damals noch ganz vorwiegend ökonomisch geprägten Integration 105 wurde der Bürger zunächst als „Marktbürger“ wahrgenommen (Formel von einem maßgeblichen Europarechtswissenschaftler der damaligen Zeit, Hans Peter Ipsen,

_____ 115 116 117 118 119 120

Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Giegerich S 357. Zuletzt einengend interpretiert in EuGH, verb Rs 356/11 und C-357/11 – Maahanmuuttovirasto. Vgl dazu Meyer/Magiera Art 45 GRCh Rn 16 ff. Hierzu siehe Rn 175 ff. So Fischer FS Günther Winkler, 1997, S 237 (247). Kotalakidis S 136. Peter Hilpold

III. Unionsbürgerschaft | 837

1964121). Dieses Bild stellte das Individuum als Nutznießer und Anspruchsberechtigten der wirtschaftlichen Integration in den Mittelpunkt. Der damit einhergehende Perspektivenwechsel, der unmittelbar mit der Anerkennung der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts (Van Gend & Loos) und der Qualifizierung des EWGRechts als eigenständige Rechtsordnung (Costa / E.N.E.L.) zusammenhing, sollte die Effizienz und Funktionalität des Gemeinschaftsrechts erhöhen. Die Einbeziehung des politischen Aspektes bzw die Verlegung des Schwerpunktes darauf führte dann zu einem Quantensprung im europäischen Integrationsprozess. Diese Entwicklung verlief unter dem Schlagwort „Europa der Bürger“, wobei 106 die Bürger in den Mitgliedstaaten mit einer Vielzahl an Zusatzrechten ausgestattet werden sollten, die über die Grundfreiheiten und den wirtschaftlichen Bereich hinausgingen.122 Eberhard Grabitz forderte 1970 ein „europäisches Bürgerrecht“, das in der Gewährung einer Reihe von politischen Rechten an EWG-Bürger in den Aufenthaltsstaaten bestehen sollte.123 Auf den Gipfeln von Den Haag 1969 und Paris 1974 wurden erste Vorfestlegungen vorgenommen, wobei im Anschluss Expertengruppen eine Vielzahl an „besonderen Rechten“ identifizierten, die das „Europa der Bürger“ mit Leben erfüllen sollten. Viele der Elemente, die heute den Kernbereich der Unionsbürgerschaft ausmachen, wurden schon zum damaligen Zeitpunkt ins Spiel gebracht (so insbesondere das aktive und das passive Kommunalwahlrecht). Auch auf der Grundlage von weiteren Dokumenten, die vom Europäischen Parlament sowie von der Kommission ausgearbeitet wurden, legte Leo Tindemans im Jahr 1975 einen Bericht über die Europäische Union vor, der auch ein Kapitel über das „Europa der Bürger“ enthielt.124 Die darin enthaltenen Rechte sollten Europa näher an den Bürger bringen. Dabei sah Tindemans einmal Maßnahmen vor, die heute außerhalb des Konzepts der Unionsbürgerschaft angesiedelt sind: – Der Grundrechtsschutz sollte ausgebaut werden, und zwar durch die Möglichkeit für Privatpersonen, gegen grundrechtsverletzende Maßnahmen der EWGOrgane direkte Klage beim EuGH einzubringen. – Verbraucherschutz und Umweltschutz sollten gestärkt werden. Unter dem Titel „äußere Zeichen unserer Solidarität“ wurde hingegen eine Vielzahl 107 an Maßnahmen angesprochen, die später im engeren Sinne mit dem Konzept der Unionsbürger identifiziert worden sind. Diese waren im Bereich der Freizügigkeit (schrittweise Abschaffung der Passkontrollen, Erstattung der Heilkosten in anderen

_____ 121 HP Ipsen/Nicolaysen NJW 1964, 339 (340). 122 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schönberger Art 20 AEUV Rn 9. Vgl zu diesem Prozess auch ausführlich Wollenschläger passim sowie die Abhandlung von Oppermann FS HP Ipsen, 1988, S 87 ff, mit dem vielsagenden Titel „Vom Marktbürger zum EG-Bürger?“. 123 Grabitz Europäisches Bürgerrecht zwischen Marktbürgerschaft und Staatsbürgerschaft, 1970. 124 BullEG Beil 1/1976. Peter Hilpold

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Mitgliedstaaten, also die passive Dienstleistungsfreiheit) und im Bereich des Bildungswesens (insbesondere Erleichterung der Studientitelanerkennung) angesiedelt. Als Rechtsbegriff wurde die „Unionsbürgerschaft“ dagegen in dem vom Europä108 ischen Parlament verabschiedeten „Vertragsentwurf zur Gründung der Europäischen Union“ des Jahres 1984 eingeführt.125 In Art 3 dieses Entwurfs wurde schon sehr detailliert vorweggenommen, was mit dem Vertrag von Maastricht Rechtswirklichkeit werden sollte: „Die Bürger der Mitgliedstaaten sind als solche Bürger der Union. Die Unionsbürgerschaft ist an die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates gebunden; sie kann nicht selbständig erworben oder verloren werden. Die Unionsbürger nehmen am politischen Leben der Union in den durch diesen Vertrag vorgesehenen Formen teil, genießen die ihnen durch die Rechtsordnung der Union zuerkannten Rechte und unterliegen den Normen dieser Rechtsordnung.“ 109 Der durch den Rat von Fontainebleau 1984 eingesetzte Adonnino-Ausschuss126

legte 1985 einen umfassenden Bericht vor,127 der richtungsweisend werden sollte für die Ausgestaltung der Unionsbürgerschaft im Detail. So sollte die Unionsbürgerschaft folgende Ansprüche und Vorkehrungen enthalten: a) Beteiligung des Bürgers am politischen Prozess der Gemeinschaft – In diesem Zusammenhang wurde angeregt, ein einheitliches Verfahren für die Wahlen zum Europäischen Parlament einzuführen, das Petitionsrecht der Bürger zu stärken und einen Ombudsmann beim Europäischen Parlament vorzusehen. b) Beteiligung des Bürgers am politischen Prozess der Mitgliedstaaten – Hier wurde wiederum die Einführung eines aktiven und passiven Wahlrechts bei lokalen Wahlen angesprochen. Daneben wurden auch weitergehende Beteiligungsrechte am politischen Willensbildungsprozess der Aufenthaltsstaaten thematisiert (zB die Einräumung von Anhörungsrechten bei Entscheidungen, die Unionsbürger betreffen sowie bei grenzüberschreitenden Planungen im Umwelt- und Verkehrsbereich), die aber nachfolgend keine Umsetzung erfahren haben. c) Vereinfachung des Gemeinschaftsrechts insbesondere in jenen Bereichen, die den Bürger in seinem täglichen Leben betreffen. d) Die konsularische Vertretung der Unionsbürger in Drittstaaten, in welchen der Heimatstaat weder diplomatisch noch konsularisch vertreten ist.

_____ 125 ABl 1984 C 77/33. 126 Benannt nach seinem Vorsitzenden Pietro Adonnino; offizielle Bezeichnung des Ausschusses „Europa der Bürger“. 127 BullEG Beil 7/85. Peter Hilpold

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Dieses Vorhaben wurde – wie nachfolgend zu zeigen sein wird – im Detail umgesetzt, wodurch die Unionsbürgerschaft in einem wichtigen Segment mit Leben erfüllt worden ist. e) Maßnahmen im kulturellen Bereich – Zahlreiche Vorschläge betrafen den kulturellen Bereich, so die Förderung des Schüler- und Studentenaustauschs sowie des Fremdsprachenunterrichts, wodurch jeder Schüler zumindest zwei zusätzliche Fremdsprachen erlernen sollte, Koproduktionen für das Fernsehen, die Zusammenarbeit zwischen den Universitäten und die Stärkung des Bildes und der Identität der Europas. – Insbesondere die Austauschprogramme (und im Speziellen das ErasmusProgramm ab 1987) stellten wichtige und publikumswirksame Umsetzungsmaßnahmen dar. Die Schaffung von gemeinsamen Symbolen und Identifikationsmerkmalen (Flagge, Emblem und Hymne) sollte ein neues Europabild kreieren. Noch vor der primärrechtlichen Verankerung der Unionsbürgerschaft mit dem 110 Vertrag von Maastricht wurde das zugrunde liegende Konzept in wichtigen Teilbereichen sekundärrechtlich umgesetzt bzw versucht umzusetzen:128 – In erster Linie ist dabei das 1987 verabschiedete Erasmus-Programm zu erwähnen.129 In Art 2 Ziff iv) wird als Ziel dieses Programms die Verstärkung der Zusammenarbeit der Bürger mit dem Ziel angeführt, den Begriff eines Europa der Bürger zu festigen. – Im Jahr 1988 folgte ein Vorschlag der Kommission über das aktive und passive Kommunalwahlrecht, und damit über politische Rechte, der jedoch aufgrund der strittigen Rechtsgrundlage nicht umgesetzt werden konnte.130 – Von fundamentaler Bedeutung waren schließlich die drei Aufenthaltsrichtlinien für Nichterwerbstätige des Jahres 1990.131 Damit wurden zum ersten Mal

_____ 128 Vgl auch Grabitz/Nettesheim/Hilf/Schönberger Art 20 AEUV Rn 18 sowie Fischer FS Günther Winkler, 1997, S 248. Wie sehr die Unionsbürgerschaft in zentralen Aspekten schon zuvor durch das Konzept des „Europas der Bürger“ vorweggenommen worden ist, zeigt Niedobitek Pläne und Entwicklung passim auf. 129 Beschluss 87/327 über ein gemeinschaftliches Aktionsprogramm zur Förderung der Mobilität von Hochschulstudenten (ERASMUS), ABl 1987 L 166/20. 130 Vorschlag der Kommission vom 24.6.1988 für eine Richtlinie des Rates über das Wahlrecht der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten bei den Kommunalwahlen im Aufenthaltsstaat, ABl 1988 C 246/3. Die Vertragslückenschließungskompetenz gemäß Art 235 EWGV wurde seitens des Rates jedoch als nicht ausreichend angesehen. Eine hinreichende Rechtsgrundlage dafür wurde erst mit dem Vertrag von Maastricht geschaffen. Nachfolgend wurde am 19.12.1994 die sog „Kommunalwahl-Richtlinie“ (RL 94/80, ABl 1994 L 368/38) erlassen. 131 RL 90/365 über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätigen, ABl 1990 L 180/28; RL 90/366 über das Aufenthaltsrecht der Studenten, ABl 1990 L 180/30; RL 90/364 über das Aufenthaltsrecht, ABl 1990 L 180/26. Die KomPeter Hilpold

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Aufenthaltsrechte außerhalb des wirtschaftlichen Kontextes geschaffen. Diese Richtlinien wurden 2004 durch die Unionsbürgerrichtlinie ersetzt, die gegenwärtig im Mittelpunkt der Unionsbürgerrechte steht. 111 Mit dem Vertrag von Maastricht vom 7. Februar 1992 wurde das Konzept der Uni-

onsbürgerschaft zum ersten Mal auf primärrechtlicher Ebene verankert (Art 8–8e EGV). Im Rahmen der Regierungskonferenz über die politische Union wurde die „Uni112 onsbürgerschaft“ erst sehr spät thematisiert, und zwar primär durch die spanische Delegation.132 Die nachfolgenden Verträge von Amsterdam, Nizza und Lissabon nahmen nur geringfügige Änderungen am Konzept der Unionsbürgerschaft vor. Durch den Vertrag von Lissabon wurden die einschlägigen Bestimmungen im Wesentlichen neu geordnet. Die Unionsbürgerschaft wurde auch in den EUV aufgenommen (Art 9 EUV), der bereits eine allgemeine Definition dieses Konzepts enthält. Angesicht des generellen, Leitlinien vorgebenden Charakters des Unionsvertrages sollte damit ein klares politisches Signal gesetzt werden. Zudem wurden die zentralen Ausprägungen des Unionsbürgerschaftskonzepts in Art 20 II AEUV zusammenfassend dargestellt und in Art 24 I AEUV wurde die Bürgerinitiative neu eingeführt. Die Einführung der Unionsbürgerschaft stellte zweifelsohne einen Meilenstein 113 in der europäischen Integrationsgeschichte dar. Bei der Ausformulierung dieses Konzepts wurde aber wiederum ein konservativer Ansatz verfolgt, indem nur der Kernbereich der traditionell diesem Konzept zugerechneten Rechte diesem Institut zugeordnet wurden. So wurden insbesondere die Menschenrechte davon abgekoppelt und damit haben seit Maastricht beide Regelungsbereiche einen gesonderten Weg genommen.133 In der Europarechtswissenschaft wurde das Konzept der Unionsbürgerschaft 114 dementsprechend verhalten aufgenommen; zu groß war die Enttäuschung über

_____ mission hatte eine entsprechende Regelung schon 1979 vorgeschlagen. Die „Studentenrichtlinie“ war in der Rs C-295/90 – Parlament / Rat wegen fehlerhafter Rechtsgrundlage (Art 235 EWGV statt Art 7 II EWGV) für nichtig erklärt und später auf geänderter Rechtsgrundlage als RL 93/96/EWG, ABl 1993 L 317/59, neu erlassen worden. 132 Ratsdokument SN 3940 v 24.9.1990. Es wird erzählt, dass dem spanischen Ministerpräsidenten Felipe Gonzales das bis dahin erzielte Ergebnis nicht geeignet erschien, die Legitimitätskrise innerhalb der EU zu lösen. Weiler FS Giuseppe Federico Mancini, 1998, S 1067 (1078). Im spanischen Memorandum ist die Unionsbürgerschaft bereits als dynamisches Konzept angelegt, das sukzessive im Gleichschritt mit der europäischen Integration mit Inhalten angereichert werden sollte: “Since the concept of European Union is a dynamic one encompassing the idea of a process leading to a final objective, European citizenship is also a dynamic and evolving concept. The progress made towards the final objective of the Union will simultaneously add substance to the status of European citizenship.” Abgedruckt in Laursen/Vanhoonacker/Ibanez S 329. 133 Fischer FS Günther Winkler, 2007, S 237 (248). Peter Hilpold

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das auf den ersten Blick allein deklaratorische Ergebnis, das nach Meinung vieler dem Gegebenen wenig bis nichts Neues hinzufügte. Die Unionsbürgerschaft wurde als “symbolische Spielsache ohne materiellen 115 Gehalt”,134 als „wenig mehr denn eine zynische Werbeaktion“,135 als „Missgriff“,136 als „bescheidener Schritt in der Geschichte der europäischen Integration“,137 als „Sammelbegriff“138 bzw als „Metapher“139 bezeichnet, wobei dieser Ausdruck hier wohl negativ konnotiert ist: ein emotional beladenes Wort, das für eine andere Realität steht und nicht zu halten vermag, was es verspricht.140

3. Die Entdeckung des Potentials der Unionsbürgerschaft und die interpretative Auslotung des damit eröffneten Spielraums durch den EuGH141 Es sollte primär der Rechtsprechung vorbehalten bleiben, das Gewicht und das 116 Entwicklungspotential dieses Konzepts zu erkennen und dieses auch entsprechend zur Geltung zu bringen. Dabei waren es lange Zeit die Generalanwälte, die als erste neue, innovative Denkansätze in diesem Bereich vertraten, während sich der EuGH davon erst mit der Zeit überzeugen und schließlich mitreißen ließ. Das Entwicklungspotential, das in diesem Konzept steckte, wurde schon sehr 117 früh erkannt. So hat GA Léger bereits 1955 im Fall in „Boukhalfa“ obiter auf den „starken symbolischen Wert“ der Unionsbürgerschaft hingewiesen. Diese stelle „wahrscheinlich einen der herausragendsten Teile der europäischen Konstruktion dar“, wobei es aber dem Gerichtshof zustehe, dem Begriff seine volle Bedeutung zu geben, GA Léger sah eine „völlige Gleichstellung der Unionsbürger“ als Endpunkt dieser Entwicklung.142 Die erste Phase war von einem eigenartigen Zusammenwirken von EuGH und 118 Generalanwälten gekennzeichnet. Während es der EuGH, wohl in Erahnung der

_____ 134 Rosas/Antola/D’Oliveira S 82. 135 Weiler The Selling of Europe, Jean Monnet Working Paper 1996/3, 11: “[...] little more than a cynical exercise in public relations”. 136 Konferenz der deutschen Akademien der Wissenschaften/Isensee S 71 (95). Isensee spricht dabei auch von „mehr Schein als Sein“ (S 93). 137 Duff/Pinder/Pryce/Duff S 29. 138 Everling ZfRV 1992, 241 (248). 139 Reich ELJ 2001, 4 ff. Für eine spätere Analyse der EuGH-Rechtsprechung zur Unionsbürgerschaft durch denselben Autor vgl Reich ELJ 2005, 675 ff. 140 Vgl auch Arzoz/Hilpold S 107. Für eine Darstellung verschiedener Reaktionen auf die Einführung der Unionsbürgerschaft siehe Shaw The Modern Law Review 1998, 293 ff. 141 Dieses Kapitel beruht auf Roth/Hilpold/Hilpold, S 11. 142 GA Léger, Rs C-214/94 – Boukhalfa, Rn 63 (Hervorhebung durch den Verfasser). Vgl auch die SchlA von GA La Pergola, verb Rs C-4/95 und C-5/95 – Stoeber und Pereira, Rn 50: „Ihr Endzweck [jener der Unionsbürgerschaft] besteht nämlich darin, eine wachsende Gleichstellung der Bürger der Union abhängig von ihrer Staatsangehörigkeit zu schaffen.“ Peter Hilpold

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Sprengkraft dieses Konzepts, anfänglich tunlichst vermied, auf das Konzept der Unionsbürgerschaft einzugehen, wurde dieses von den Generalanwälten dagegen schon sehr früh wahrgenommen. Auf der faktischen Ebene zeigten sich im Ergebnis kaum Unterschiede für den Unionsbürger. Der EuGH kann keinesfalls der Rechtsverweigerung geziehen werden oder auch nur mangelnder Sensibilität gegenüber der zugrundeliegenden Problematik. Der Weg zur Erreichung dieses Ziels war aber ein anderer als jener der Generalanwälte, die schon sehr früh bereit waren, unmittelbar das Potenzial dieses Konzepts zu ergründen. Der EuGH hat vielmehr die Grundfreiheiten äußerst extensiv interpretiert und damit die Rechtsposition des Unionsbürgers, weit über den wirtschaftlichen Bereich hinaus, im grenzüberschreitenden Kontext umfassend abzuschirmen versucht. Im Fall Konstandinidis hat GA Jacob im Jahr 1992, also noch vor der Einführung 119 der Unionsbürgerschaft in das Unionsrecht, eine richtungsweisende Formel zur Deutung dieses Konzepts geprägt: Der Unionsbürger könne sagen "civis europeus sum".143 Implizit wird damit ein enormes Forderungspotenzial des Unionsbürgers gerade auch zur Gestaltung und weiteren Verdichtung der Europäischen Union angedeutet. Nachdem der Maastricht-Vertrag am 1.11.1993 in Kraft getreten war, stellte sich 120 die Frage, wie lange der EuGH an der beschriebenen Rechtsprechung festhalten würde, dh wie lange er den Unionsbürgerschaftsbegriff einfach ignorieren würde. Zu Beginn schien er auch tatsächlich wenig damit anfangen zu können. Dementsprechend versuchte er, dessen Bedeutung zu relativieren, wenn er schon das Konzept als solches in seiner primärrechtlichen Existenz wahrnehmen musste. So bemühte sich der EuGH in „Uecker und Jacquet“144 klarzustellen, dass das Unionsbürgerschaftskonzept nicht dazu angetan sei, die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts materiell auf interne Sachverhalte ohne Bezug zu dieser Rechtsordnung zu erweitern.145 In „Skanavi“146 wurde Art 8a EGV (dem nunmehrigen Artikel 21 AEUV) nur eine sekundäre, marginale Rolle im Vergleich zu anderen Vertragsbestimmungen zuerkannt,147 wodurch auch die Eignung dieser Bestimmung als Stütze für eine weitere prätorische Rechtschöpfung in Frage stand. Ein wichtiger Schritt nach vorn in der Weiterentwicklung des Unionsbürger121 schaftskonzepts wurde im Bickel-und-Franz-Fall148 getan, wenngleich auch hier Generalanwalt Jacobs’ wagemutige Sondierungsversuche zur Eruierung der Natur

_____ 143 Vgl SchlA des GA Jacobs, Rs C-168/91 – Konstandinidis, Nr 24. 144 EuGH, verb Rs C-64/96 und 65/96 – Uecker und Jacquet. 145 Vgl Craig/de Búrca S 829. Vgl bspw EuGH, Rs C-403/03 – Schempp, Rn 20. 146 Vgl EuGH, Rs C-193/94 – Skanavi und Chryssanthakopoulos. 147 Vgl Craig/de Búrca 3rd ed S 756. 148 EuGH, Rs C-274/96 – Bickel und Franz. Zu diesem Fall vgl bspw Toggenburg ELR 1999, 13; Gattini RDI 1999, 106; Hilpold JBl 2000, 93 ff. Peter Hilpold

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des Unionsbürgerschaftskonzepts vom EuGH schlichtweg nicht wahrgenommen wurden. Er wählte in seinem Urteil v 24. November 1998 einen Ansatz, der auf konventionellerem Wege dasselbe Ziel verwirklichen sollte, wie es die Nutzbarmachung des Konzept der Unionsbürgerschaft ermöglicht hätte: Über die passive Dienstleistungsfreiheit sollte Deutschen und Österreichern die Nutzung der deutschen Verfahrenssprache in Strafverfahren in Südtirol ermöglicht, während dies zuvor allein für italienische Staatsbürger möglich war. Das Unionsbürgerschaftskonzept ist hier noch nicht mit eigenem Leben erfüllt, wird aber gleichsam in Reserve gehalten für den Zeitpunkt, zu welchem es nach einer weiteren Präzisierung konkret einsetzbar wird.149 Anhand dieser Rechtsprechung wird deutlich, dass dem EuGH mehrere Wege offen stehen, eine umfassende Berechtigung des Unionsbürger und vor allem einen breiten Schutz vor Diskriminierung zu verwirklichen: über eine extensive Auslegung der Grundfreiheiten oder über eine entsprechende Deutung und Nutzbarmachung der Unionsbürgerschaft. Die Gangbarkeit des erstgenannten Weges hat der EuGH in weitest möglicher Form erkundet150 – und dabei auch die ganze damit verbundene Problematik offen gelegt. Über die passive Dienstleitungsfreiheit lässt sich nahezu jede Form der Bewegungsfreiheit rechtfertigen, da das Überwechseln in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaates notgedrungen auch dort den Konsum von Leistungen impliziert. Damit entfernt sich das Gemeinschaftssystem aber sehr weit von der ursprünglichen, primär wirtschaftlich orientierten Funktion der Grundfreiheiten, die hier in den Dienst eines weit darüber hinausreichenden politischen Integrationsvorhabens gestellt werden. Letztlich kann dieser Ansatz sogar kontraproduktiv wirken, da er die Frage nach den Verfassungsgrundlagen einer solchen prätorischen Rechtsfortentwicklung aufwirft und politische Widerstände gegen das europäische Integrationsprojekt geradezu provoziert. Ehrlicher ist es, dieses Vorhaben über einen Ansatzpunkt zu verwirklichen, der in sich politischer Natur ist, und das ist gerade das Konzept der Unionsbürgerschaft. Einen ersten entscheidenden Wendepunkt hin zur inhaltlichen Ausfüllung und Verselbstständigung des Konzepts der Unionsbürgerschaft stellte das Urteil in der Rechtssache „Martinez Sala“ dar.151 Eine spanische Staatsbürgerin, die seit 1976 in

_____ 149 Laut vBogdandy/Bitter FS Manfred Zuleeg, 2005, S 309 (317) erweitert die Entscheidung in Bickel und Franz den Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots auf das nationale Strafrecht in der Form, dass es damit zu einer „Entkoppelung von der Ausübung einer wirtschaftlichen Grundfreiheit zur Sicherung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts des Unionsbürgers“ kommt. Zumindest als wegbereitend in diesem Sinne können „Bickel und Franz“ – und insbesondere die Schlussanträge von GA Jacobs – auf jeden Fall eingestuft werden. 150 Vgl vBogdandy/Bitter FS Manfred Zuleeg, 2005, S 318. 151 EuGH, Rs C-85/96 – Martinez Sala. Peter Hilpold

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Deutschland mit Unterbrechungen verschiedene Tätigkeiten als Arbeitnehmerin ausübte, beantragte im Januar 1993, zu einem Zeitpunkt, als sie über keine gültige Aufenthaltserlaubnis verfügte, Erziehungsgeld für ihr in jenem Monat geborenes Kind. Dieses wurde ihr aber mit dem Hinweis, dass sie weder deutsche Staatsangehörige sei noch über eine Aufenthaltsberechtigung oder eine Aufenthaltserlaubnis verfüge, verweigert. Der EuGH betätigte hingegen im Urteil v 12.5.1998 einen solchen Anspruch, wobei er diesen nicht – wie von GA La Pergola gefordert – direkt von der Unionsbürgerschaft ableitete, sondern sah das Aufenthaltsrecht einfach als gegeben und stellte für Frau Martinez Sala ein Recht auf umfassenden Schutz vor Diskriminierung im Anwendungsbereich der Verträge fest, wobei dieser über die Tatsache, dass die Bewegungsfreiheit undenkbar viele Variationen kennt, praktisch uneingrenzbar wurde.152 Schon auf der Grundlage dieses Urteils war aber klar, dass ein Bruch in der 126 Rechtsprechung des EuGH eingetreten war und dass folglich Ecksteine der Judikatur neu zu setzen waren.153 Formal und in aller Deutlichkeit vollzogen wurde dieser Bruch allerdings erst in „Grzelczyk“,154 einer Entscheidung vom 20. September 2001, die nach wie vor als entscheidend für die Herausbildung des geltenden Unionsbürgerschaftskonzepts und auch für den weiteren Gang der Bildungsrechtsprechung angesehen wird. Rudy Grzelczyk war ein französischer Staatsbürger, der in Belgien Sport studier127 te. Während der ersten drei Studienjahre kam er selbst für seinen Unterhalt auf, wobei er verschiedenen kleineren Beschäftigungen nachging. Im vierten und letzten Studienjahr wollte er sich dagegen zur Gänze auf das Studium konzentrieren und beantragte deshalb in Belgien eine Unterhaltsbeihilfe in der Höhe des Existenzminimums. Diese wurde ihm jedoch unter Hinweis auf seine fehlende Arbeitnehmereigenschaft und seine fehlende belgische Staatsbürgerschaft verweigert. Der EuGH nutzte die Gelegenheit, um das Konzept der Unionsbürgerschaft mit 128 neuen Inhalten zu füllen. Der EuGH hat in der Vergangenheit zwar Unterhaltsbeihil-

_____ 152 Tomuschat CMLRev 2000, 449 (457): “It has become clear from the jurisprudence of the Court that almost anything can become enmeshed in the logic of freedom of movement to the extent that it tends either to facilitate or to hamper the full exercise of that right”. Der sachliche Anwendungsbereich ist nicht mit dem Prinzip der begrenzten Ermächtigung gleichzusetzen. Vgl Niedobitek RdJB 2006, 105 (114): „Der erforderliche Bezug zum Gemeinschaftsrecht entfällt nicht dadurch, dass der Regelungsbereich zur Zuständigkeit der Mitgliedstaaten gehört. Die Mitgliedstaaten müssen vielmehr bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit das Gemeinschaftsrecht, insbesondere auch die Freizügigkeitsrechte, beachten.“ Vgl Magiera FS Jost Delbrück, 2005, S 429 (442). Laut vBogdandy/Bittner FS Manfred Zuleeg, 2005, S 317, gilt die Vermutung, dass ein Unionsbürger, sobald er der Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaates unterfällt, durch das Diskriminierungsverbot des Art 12 I EGV (nunmehr Art 18 I AEUV) geschützt sei. 153 Vgl Tomuschat CMLRev 2000, 454, unter Bezugnahme auf die Urteile Lair und Brown. 154 EuGH, Rs C-184/99 – Grzelczyk. Peter Hilpold

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fen explizit vom Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts ausgenommen.155 Mittlerweile seien aber sowohl die Unionsbürgerschaft in den Gemeinschaftsvertrag aufgenommen worden als auch Bestimmungen über die berufliche und die allgemeine Bildung, wodurch auch dieser letztgenannte Bereich vom Diskriminierungsverbot erfasst werde.156 Die Beendigung des Aufenthalts des sozialhilfebedürftigen Studenten stelle zwar eine Möglichkeit dar, dürfe aber keinem Automatismus folgen.157 Zweifelsohne wohnt dem Unionsbürgerschaftskonzept von seiner allgemeinen 129 Philosophie und von seiner potentiellen Entwicklungsdynamik her ein ausgeprägter Solidaritätsgedanke inne.158 Positiv verankert im Gemeinschaftsrecht wurde dieser Aspekt der Unionsbürgerschaft jedoch nicht. Vielmehr zeigt sich die Unionsbürgerschaft – in einer rein positivrechtlichen Betrachtung – als Klammer über bereits Gegebenes, ohne unmittelbar einen Mehrwert hinzuzufügen. Es oblag somit dem EuGH, das erwähnte Potential der Unionsbürgerschaft ans Tageslicht zu befördern, insbesondere aber diesem Prinzip eine Entwicklungsperspektive zu eröffnen. Ob der Grundkonsens, auf welchem die Einführung des wertausfüllungsbedürftigen Unionsbürgerschaftskonzepts basierte, die Auferlegung finanzieller Solidarität mitumfasste und eine derart weit reichende Verselbständigung der nichtwirtschaftlichen Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit im Auge hatte, darf bezweifelt werden. Diese Rechtsprechung ist aber der beste Beleg für die Gestaltungskraft der EuGHJudikatur und ihre rechtsetzende Natur. Einmal ein politisches Rahmenkonzept von enormer Tragweite in das Gemeinschaftsrecht eingefügt, übernimmt der EuGH hier eine Konkretisierungsaufgabe, hinsichtlich dessen ein Konsens bei den an und für sich zuständigen politischen Organen nicht zu finden war. Das Unionsbürgerschaftskonzept verdeutlicht damit wie kaum ein anderes in jüngerer Zeit in das Gemeinschaftsrecht eingeführte Institut, wie die Integration primär politischer Konzepte in die geltende Rechtsordnung den Handlungsspielraum – um nicht zu sagen die Zuständigkeit – des EuGH enorm erweitert. Zum alles überragenden Entscheidungskriterium wird der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. In einer sehr kritischen Sichtweise wurden darin „Züge der Willkürlichkeit sowie der Rechtsunsicherheit“ gesehen.159 Nun ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dem Gemeinschaftsrecht alles andere als fremd;160 er muss für eine neue Rechtsordnung, die eine Vielzahl bereits bestehender Rechtsordnungen umgreift, ohne sie umfassend in ih-

_____ 155 Vgl EuGH, Rs 197/86 – Brown. 156 Vgl EuGH, Rs C-184/99 – Grzelczyk, Rn 34 ff. 157 EuGH, Rs C-184/99 – Grzelczyk, Rn 42 ff. 158 Vgl zum Solidaritätsprinzip Hilpold JöR 2007, 195 ff; ders AVR 2013, 239 ff; Calliess/Bieber S 67. 159 Vgl Hailbronner NJW 2004, 2185 (2188). 160 Vgl ex-Art 5 III EGV, Art 5 IV EUV. Peter Hilpold

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rer Gestaltungsfreiheit zurückzudrängen, und die sohin auf eine natürliche Symbiose, auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Vorrang und Subsidiarität ausgerichtet ist, geradezu ein konstitutives Merkmal darstellen. Insgesamt zeigt gerade auch der Fall „Grzelczyk“, dass das Konzept der Unionsbürgerschaft von Symbolik sowie von politischen Andeutungen und Mehrdeutigkeiten lebt. Der EuGH hat im vorliegenden Fall diesen Umstand weiter dadurch bestätigt, dass er – in Anlehnung an die Ausführungen von GA La Pergola in „Martinez Sala“ – die Unionsbürgerschaft zum „grundlegenden Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten“ erhoben hat.161 Damit ist das Programm des EuGH in diesem Bereich in maximaler Breite abgesteckt. Fortan ging es darum, Details dieser Ankündigung zu konkretisieren. Die Grzelczyk-Entscheidung kam – obwohl eigentlich schon von der früheren Rechtsprechung vorgezeichnet – einem Dammbruch gleich. Die Qualifizierung als „grundlegender Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten“ bedeutet für die Unionsbürger, dass sie in einer immer weiter auf sozialpolitische Agenden ausgreifenden Union immer stärker in einen Anspruch auf umfassende soziale Gleichbehandlung jenseits traditioneller Loyalitätsbande hineinwachsen. Das bis an die Anfänge des modernen Nationalstaates zurückreichende Staatsbürgerschaftskriterium sowie der auf Fairness und wirtschaftlicher Reziprozität beruhende Leistungsanspruch der Wanderarbeitnehmer sind nicht mehr allein maßgeblich für die diesbezügliche Berechtigung des Unionsbürgers, sondern es ist dieser Status selbst, der immer deutlicher anspruchsbegründend wirkt. Nach wie vor muss ein grenzüberschreitender Kontext gegeben sein, damit das Unionsbürgerschaftskonzept greift, wobei aber bereits „Berührungspunkte“ mit unionsrechtlichen Sachverhalten162 als ausreichend erachtet wurden. Ganz grundsätzlich ist der EuGH in diesem Kontext – gleich wie bei Art 18 AEUV (Diskriminierungsverbot) – großzügiger als in Zusammenhang mit der Ausübung der Grundfreiheiten.163 Laut ständiger Rechtsprechung des EuGH weisen bei einem Inlandssachverhalt „alle Elemente der fraglichen Betätigung nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaates hinaus[...]“. Ein aktueller EU-Auslandsaufenthalt ist nicht erforderlich; es reicht ein früherer zeitweiser Aufenthalt in einem anderen EU-MS164

_____ 161 Vgl EuGH, Rs C-184/99 – Grzelczyk, Rn 31: „Der Unionsbürgerstatus ist nämlich dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen.“ 162 EuGH, Rs 44/84 – Hurd, Rn 55. 163 Schwarze/Hatje Art 20 AEUV Rn 12. 164 EuGH, Rs C-406/04 – De Cuyper. Peter Hilpold

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oder der Umstand, dass dem Unionsbürger aus einem früheren Aufenthalt im Heimat-MS ein Nachteil erwachsen soll.165 Die Rechte aus der Unionsbürgerschaft können auch dem eigenen Heimatstaat gegenüber geltend gemacht werden. Dies ergibt sich bspw aus der Entscheidung „Marie-Nathalie d’Hoop“.166 Marie-Nathalie d’Hoop war eine belgische Staatsbürgerin, die ihre Sekundarschulausbildung in Frankreich absolviert hatte und danach ein Universitätsstudium in Belgien begann. Nach Abschluss dieses Studiums beantragte sie in Belgien Überbrückungsgeld, das laut einschlägiger Gesetzgebung jedoch Absolventen mit belgischem Schulabschluss vorbehalten war. Der EuGH ermöglichte Frau d´Hoop, das Unionsbürgerschaftskonzept gegenüber ihrem eigenen Heimatstaat geltend zu machen. Gleichzeitig bestätigte er das Recht eines jeden MS, für Sozialmaßnahmen wie die Überbrückungshilfe eine tatsächliche Verbindung mit dem heimischen Arbeitsmarkt einzufordern, wobei aber diesbezüglich der Ort des Sekundschulabschusses nicht notwendigerweise maßgeblich ist.167 Weiter präzisiert wurde das grenzüberschreitende Element in der Unionsbürgerschaft auf der Grundlage der mit der „Ruiz-Zambrano“-Rechtsprechung entwickelten „Kernbestandslehre“ (siehe Rn 148): So reicht es aus, dass eine nationale Maßnahme bewirkt, dass der Unionsbürger tatsächlich gezwungen ist, das Hoheitsgebiet der Union zu verlassen und damit in den Kernbestand des Unionsbürgerschaftstatus eingreift.168 Im Fall Collins169 wurde die Möglichkeit für Unionsbürger, Sozialleistungen in anderen MS geltend zu machen, nochmals erweitert. Herr Collins verfügte über die US-amerikanische und die irische Staatsbürgerschaft und beantragte im Juni 1998 in Großbritannien Beihilfe für Arbeitssuchende, nachdem er im Mai 1998 eingereist war. Großbritannien verlangte für solche Leistungen den Nachweis eines gewöhnlichen Aufenthalts. Entgegen dem Vorschlag des GA eröffnete der EuGH Herrn Collins im vorliegenden Fall die Möglichkeit, solche Sozialleistungen zu beanspruchen, und zwar unter Berufung sowohl auf die Ansprüche von Arbeitssuchenden als auch auf die Unionsbürgerschaft, wobei die genaue Anspruchsgrundlage nicht präzisiert wurde. Im Fall Ioannidis170 hat der EuGH das Recht auf Überbrückungshilfe von Arbeitssuchenden, die sich auf Arbeitssuche in einem anderen MS befinden, bestätigt.

_____ 165 EuGH, Rs C-499/06 – Nerkowska; EuGH, Rs C-127/08 – Metock und EuGH Rs C-520/04 – Turpeinen. Vgl dazu Pechstein/Nowak/Häde/Heselhaus Art 20 AEUV Rn 26. 166 Vgl EuGH, Rs C-224 – d’Hoop. 167 Ebd Rn 39. 168 Vgl Rs 434/07 – McCarthy, Rn 49 f. Vgl auch Pechstein/Nowak/Häde/Heselhaus Art 20 AEUV Rn 27. 169 Vgl Rs C-138/02 – Collins. 170 EuGH, Rs C-258/04 – Ioannidis. Peter Hilpold

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Dieser Weg wurde im Fall Trojani171 konsequent fortgesetzt: Dabei wurde einem französischen Staatsbürger, Herrn Trojani, der sich seit 2000 in Belgien aufhielt und dort Gelegenheitsarbeiten verrichtete, mit Urteil v 7. September 2004 ein Recht auf Sozialleistungen zuerkannt, da er dort über ein (nationales, nicht EU-rechtliches) Aufenthaltsrecht verfügt. Auf welcher rechtsdogmatischen Grundlage der EuGH die Unionsbürger139 schaft in ein Vehikel zur umfassenden Umwandlung der Europäischen Union in eine Solidargemeinschaft verwandelte, blieb im Dunkeln. Die Ergebnisse der jahrzehntelangen legislativen und judikativen Aufbauarbeit, durch welche die Wahrnehmung eines – weit interpretierten – wirtschaftlichen Freizügigkeitsrechts, aber auch der studentischen Mobilität, zu einer weitgehenden Gleichstellung des Wanderarbeitnehmers (und partiell auch des Studierenden) mit den Bürgern des Aufenthaltsstaates geführt hat, wurden über das Konzept der Unionsbürgerschaft von ihrer wirtschaftlichen Basis losgelöst und verallgemeinert. Die ökonomische Fundierung der Gemeinschaftskompetenzen wurde damit überwunden. Die Unionsbürgerschaft wurde auf diesem Wege zum kompetenzrechtlichen Zauberstab für die Verwirklichung der Vollintegration.172 Für ein Instrument, dem ursprünglich nur eine repetitive, zusammenfassende Eigenschaft hinsichtlich bereits gegebener Kompetenzen zugeschrieben worden ist, ist dies ein erstaunlicher Werdegang. Die Reichweite der hier vom EuGH unternommen Rechtsgestaltung ist enorm. Ex-Art 18 EGV (jetzt: Art 21 AEUV) wurde direkt zur statusbegründenden Norm, der – wie in „Baumbast“ festgehalten – auch noch unmittelbare Wirkung gegenüber entgegenstehendem nationalem Recht zukommt.173 Die Fragen der Anspruchsberechtigung auf Sozialleistungen im Allgemeinen 140 und auf Bildungsleistungen bzw dazugehörige Unterstützungen im Besonderen stehen – vermittelt über die Schiene der Unionsbürgerschaft – in engem wechselseitigem Zusammenhang. Es war damit nur eine Frage der Zeit, bis die Ergebnisse der oben dargestellten Rechtsprechung auch auf den bildungsrechtlichen Bereich übertragen – und im Ergebnis erneut ausgeweitet – würden. Gelegenheit dazu bot der Fall „Dany Bidar“.174 Dany Bidar war ein französischer Staatsbürger, der im Alter von 15 Jahren zu seiner Großmutter nach Großbritannien gezogen ist und dort auch die Hochschulzugangsberechtigung erwarb. Er stellte dort einen Antrag auf Förde138

_____ 171 EuGH, Rs C-456/02 – Trojani. 172 Vgl Sander DVBl 2005, 1014 (1018). 173 EuGH, Rs C-413/99 – Baumbast, Rn 84: „Was namentlich das Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nach Artikel 18 Absatz 1 EG angeht, so wird es jedem Unionsbürger durch eine klare und präzise Vorschrift des EG-Vertrags unmittelbar zuerkannt. Allein deshalb, weil er Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats und damit Unionsbürger ist, ist Herr Baumbast daher berechtigt, sich auf Artikel 18 Absatz 1 EG zu berufen.“ 174 EuGH, Rs C-209/03 – Dany Bidar. Vgl dazu auch Niedobitek RdJB 2006, 105 ff. Peter Hilpold

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rung für die Studiengebühren sowie für einen Unterhaltszuschuss. Der erstgenannte Antrag wurde genehmigt, der zweitgenannte – im Sinne der „Lair“- und „Brown“Rechtsprechung175 – dagegen abgelehnt. Der EuGH rechnete dagegen – angesichts der bildungsrechtlichen Entwicklungen in der EU – nunmehr auch die Unterhaltsstipendien dem Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts zu. Großbritannien könne – was den Nachweis einer engen Verbindung zum Bildungssystem des Aufnahmemitgliedstaates anbelangte – eine dreijährige Ansässigkeit verlangen (die auch für britische Staatsbürger gilt), nicht aber eine dauerhafte Ansässigkeit (da dafür der Zeitraum, der der Vollzeitausbildung diente, nicht berücksichtigt wurde).176 Der Studentenstatus stellt somit keinen Ausschließungsgrund für den Erwerb 141 von Unterhaltsansprüchen im Aufnahmemitgliedstaat mehr dar. Dazu musste der EuGH sowohl die „Lair“- und „Brown“-Rechtsprechung aufgeben als auch die Aufenthaltsrichtlinien einschränkend auslegen bzw uminterpretieren. Als Gegengewicht dazu bleibt das Wohnsitzerfordernis, in dessen Ermangelung jeder studierende Unionsbürger unmittelbar dort seinen Studienplatz wählen könnte, wo ihm das höchste Stipendium geboten wird. Der Solidaritätsverpflichtung werden also nach wie vor Grenzen gesetzt. Andererseits war aber auch klar, dass damit die Entwicklung noch nicht an einem Endpunkt angelangt war. Offen blieb, wie in Zukunft das Kriterium der Integration in den Aufnahmemitgliedstaat interpretiert werden sollte, sowohl hinsichtlich der Mindestdauer des Wohnsitzes als auch in Hinblick auf die Frage, ob und in welcher Form auch andere Kriterien zum Zwecke dieses Nachweises herangezogen werden können. Wie nachfolgend zu zeigen sein wird (Rn 154), hat der EuGH im Fall „Förster“177 das Erfordernis der fünfjährigen Ansässigkeit – angelehnt an die Unionsbürgerrichtlinie 2004/38 – als maßgebliches Kriterium für den Nachweis der Integration in den Aufenthaltsstaat akzeptiert. In seinen Schlussanträgen in der Rs „Baumbast“178 hat GA Geelhoed darauf 142 hingewiesen, dass die sekundärrechtlichen Bestimmungen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit im Gemeinschaftsrecht einer Zeit entstammen, die einerseits von Vollbeschäftigung gekennzeichnet war, andererseits von traditionellen, stabilen Familienstrukturen. Beide Elemente waren in den letzten Jahrzehnten Gegenstand tiefgreifender Veränderungen, die keinen entsprechenden Widerhall in der Rechtsetzung gefunden haben.179 Wenn der EuGH in diesem Bereich normsetzend tätig geworden ist, so hat er damit auch versucht, echten Regelungslücken sowie den beschriebe-

_____ 175 EuGH, Rs 39/86 – Lair; Rs 197/86 – Brown. 176 EuGH, Rs C-209/03 – Dany Bidar, Rn 61. Der Zeitraum, der der Vollzeitausbildung diente, wurde nämlich nicht berücksichtigt. 177 EuGH, Rs C-158/07 – Förster. 178 Vgl EuGH, Rs C-413/99 – Baumbast. 179 Vgl SchlA GA Gelhoed, Rs C-413/99 – Baumbast, Nr 19 ff. Peter Hilpold

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nen veränderten Rahmenbedingungen gerecht zu werden. Die Breite dieses sich selbst auferlegten Normsetzungsauftrages lässt aber keine klaren äußeren Schranken erkennen. Demzufolge ist auch die diesbezügliche Rechtsprechungslinie kontinuierlich fortgesetzt worden. In der Rs Zhu und Chen180 ging es um eine geschickte Konstruktion zum Erwerb des Aufenthaltsrechts in der Union durch Drittstaatsangehörige: Das aus der Volksrepublik China stammende Unternehmerehepaar Chen wollte die chinesische EinKind-Politik umgehen. Zu diesem Zweck reiste Frau Chen im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft nach Belfast, wo sie schließlich ihr zweites Kind, die Tochter Catherine Zhu gebar. Catherine wurde nach Maßgabe des ius soli-Prinzips181 irische Staatsbürgerin. Im Gegensatz zu ihrer Mutter hatte sie damit nach Maßgabe der britischen und irischen Staatsbürgerschaftsgesetzgebung ein unbefristetes Aufenthalts- und Freizügigkeitsrecht in Irland und in Großbritannien. Ihrer Mutter wurde dieses Recht nun über ihre Tochter, die von Unterhalt und Obsorge ihrer Mutter abhängig war, vermittelt. In „Tas-Hagen“182 ging es um die Frage, ob die Ausübung des Freizügigkeitsrechts zum Verlust von sozialen Leistungen führen kann, die Staatsbürgern mit Wohnsitz im Inland vorbehalten sind. Den Niederländern Tas-Hagen und Tas wurde die Zuerkennung von Sozialleistungen für zivile Kriegsopfer mit der Begründung verweigert, dass sie zum Zeitpunkt der Antragstellung in Spanien ansässig waren, während die betreffende Gesetzgebung für eine Anspruchsberechtigung einen Wohnsitz in den Niederlanden voraussetzte. Der EuGH hat das Wohnsitzerfordernis dabei zwar nicht grundsätzlich als Maßstab für die Integration einer Person in die Gesellschaft des die Leistung gewährenden MS zurückgewiesen, wohl aber die gegenständliche Stichtagregelung, die einen Wohnsitz zum Zeitpunkt der Antragstellung verlangte, als unverhältnismäßig abgelehnt. Im Fall „De Cuyper“ hat der EuGH das belgische Wohnsitzerfordernis für die Auszahlung einer Arbeitslosenunterstützung in Bezug auf einen Belgier, der in Frankreich wohnte, als verhältnismäßig bestätigt, und zwar unter Hinweis auf die Notwendigkeit von Kontrollen vor Ort. In den Fällen „Standesamt Stadt Niebüll“183 und „Paul Grunkin“184 hat der EuGH das an und für sich nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fal-

_____ 180 Vgl EuGH, Rs C-200/02 – Zhu und Chen. 181 Vgl insoweit den Hinweis von GA Tizzano, Rs C-200/02 – Zhu und Chen, Nr 124 iVm Fn 36, wonach „es für die vorliegende Rechtssache ohne Bedeutung [ist], dass der ‚Boden‘, auf den sich das Ius soli bezieht, dh die Stadt Belfast, aufgrund der bekannten historischen Geschehnisse auf der Insel Irland, nicht der Hoheitsgewalt Irlands (Éire), sondern des Vereinigten Königreichs unterliegt“. 182 EuGH, Rs C-192/05 – Tas-Hagen. 183 EuGH, Rs C-96/04 – Standesamt Stadt Niebüll. 184 EuGH, Rs C-353/06 – Paul Grunkin. Peter Hilpold

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lende Namensrecht über die Unionsbürgerschaft in diesen einbezogen: Die deutschen Staatsbürger Dorothee Paul und Stefan Grunkin hatten ihren in Dänemark geborenen Sohn Leonhard Mathias in Dänemark mit dem Doppelnamen GrunkinPaul getauft. Nach der Rückkehr nach Deutschland verweigerte das Standesamt der Stadt Niebüll gemäß den deutschen Rechtsvorschriften die Eintragung dieses Doppelnamens. Zu Unrecht, wie der EuGH unter Bezugnahme auf die Unionsbürgerschaft festhielt. Großes Interesse geweckt hat der Fall „Ruiz Zambrano“:185 Auch Drittstaatsan- 148 gehörige können aus der Unionsbürgerschaft ein Aufenthaltsrecht in der Union ableiten, wenn sie für Unionsbürger sorgeberechtigt sind und ansonsten in Folge ihrer Ausweisung für ihre Kinder der „tatsächliche Genuss des Kernbestandes der Rechte“ aus der Unionsbürgerschaft gefährdet wäre.186 Dieses Abstellen auf den „Kernbestand der Rechte“ schien enormes Potential für eine extensive Auslegung der aus der Unionsbürgerschaft fließenden Rechte (Schutz des Wesensgehalts der Unionsbürgerschaft auch weitgehend losgelöst von der Ausübung von Freizügigkeitsrechten) zu schaffen, aber diese Erwartungen haben sich in dieser Form nicht erfüllt. Der kolumbianische Staatsangehörige Gerardo Ruiz Zambrano war vor den Bür- 149 gerkriegswirren seines Heimatlandes zusammen mit seiner Familie (Frau und ein Kind) nach Belgien geflohen, wo er dauerhaften Aufenthalt begehrte, der ihm jedoch verweigert wurde. In Belgien gebar ihm seine Frau zwei weitere Kinder, die die belgische Staatsbürgerschaft erlangten. Ruiz Zambrano war es nun möglich, aus den Sorgeansprüchen seiner in Belgien geborenen Kinder ein Aufenthalts- und Arbeitsrecht in Belgien abzuleiten, da andernfalls seine Kinder gezwungen gewesen wären, das Gebiet der Union zu verlassen. Es geht, wie der EuGH festgehalten hat, für die betreffenden Kinder um „den tatsächlichen Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht“.187 Da die beiden Kinder niemals von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hatten, konnte der betreffende Anspruch nicht von der Richtlinie 2004/38 abgeleitet werden,188 doch wurde dieser unmittelbar in Art 20 AEUV identifiziert.189 In diesen Entscheidungen steckte eine ungeheure Sprengkraft, schienen sie 150 doch ein breites Zuzugsrecht von Drittstaatsangehörigen zu eröffnen, die familiäre Bindungen mit Unionsbürgern nachweisen konnten (oder vielleicht auch nur eine

_____ 185 EuGH, Rs C-34/09 – Ruiz Zambrano. 186 Vgl auch EuGH, Rs C-256/11 – Dereci, Rn 74. 187 EuGH, Rs C-34/09 – Ruiz Zambrano, Rn 45. 188 Gemäß Art 3 I RL 2004/38 gilt diese für jeden Unionsbürger, „der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen.“ 189 Dabei wurde der in EuGH, Rs C-184/99 – Grzelczyk entwickelten Formel, wonach die Unionsbürgerschaft dazu bestimmt sei, „der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein“, Rechnung getragen (EuGH, Rs C-34/09 – Ruiz Zambrano, Rn 41). Peter Hilpold

852 | § 12 Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft

Lebensgemeinschaft mit einem Unionsbürger/einer Unionsbürgerin begründet hatten). Einer solch extensiven Interpretation hat der EuGH aber in Folge versucht, einen Riegel vorzuschieben. So hat er in den Rs „McCarthy“190 und „Dereci“,191 wo es um Sachverhalte ging, in denen Drittstaatsangehörige mit Unionsbürgern im Heimatstaat des Unionsbürgers eine Familie gründeten und denen nun ein Aufenthaltsrecht verweigert wurde, betont, dass die Unionsbürgerschaftsrichtlinie keine Anwendung finde, wobei es nicht allein auf den Umstand ankam, dass die betreffenden Bürger noch nie von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hatten.192 Vielmehr war entscheidend, dass die Verweigerung eines Aufenthaltsrechts – anders als im Kontext der Rs „Ruiz Zambrano“ – nicht dazu führe, dass Unionsbürger tatsächlich gezwungen wären, das Unionsgebiet zu verlassen,193 weshalb auch Art 21 AEUV keine Anwendung fand. Ein eigenständiger grundrechtlicher Anspruch auf Familienzusammenführung kann also aus der Unionsbürgerschaft nicht abgeleitet werden. Diese Urteile stießen auf scharfe Kritik, da sie die grundrechtliche Seite der Unionsbürgerschaft außer Acht ließen und da sie das Prinzip des „Kernbestands der Unionsbürgerrechte“ zu eng definierten.194 Auf „McCarthy“ und „Dereci“ aufbauend hat der EuGH in der Rs „Maahanmuuttovirasto“195 das Konzept des „Kernbestands der Unionsbürgerrechte“ einer näheren Überprüfung unterzogen. Dabei war er mit komplexen Patchwork-Familiensituationen konfrontiert, die er gegenüber jener im Fall „Ruiz Zambrano“ differenzierte. Begehrt bspw ein Drittstaatsangehöriger den Zuzug zu einer aufenthaltsberechtigten, aber ebenfalls drittstaatsangehörigen Partnerin in einem Mitgliedstaat, ohne dass er einen besonderen Bezug zu deren Kindern, die Unionsbürger sind, aufgebaut hat und ist er auch für deren Obsorge nicht zuständig, dann ist der „Kernbestand der Unionsbürgerrechte“ nicht gefährdet, wenn ihm dieser Zuzug nicht gewährt wird. Die Gefährdung des „Kernbestands der Unionsbürgerrechte“ muss grundsätzlich durch eine Zwangslage herbeigeführt worden sein und darf nicht bloß Ergebnis einer freiwilligen Entscheidung eines Elternteils hinsichtlich des Wegzugs sein. Im Mittelpunkt steht das Wohl der Kinder, wobei insbesondere in Situationen, in denen nur einzelne Kinder einer PatchworkFamilie über die Unionsbürgerschaft verfügen bzw ihre Beziehungen zu einem ge-

_____ 190 EuGH, Rs C-434/09 – McCarthy. 191 EuGH, Rs C-256/11 – Dereci. 192 EuGH, Rs C-434/09 – McCarthy, Rn 46 sowie EuGH, Rs C-256/11 – Dereci, Rn 61 und 71. 193 Und auch dieses Kriterium wurde in „Dereci“ sehr streng interpretiert, dh es wurden sehr hohe Hürden diesbezüglich gesetzt. Vgl Rosas/Armati S 154 unter Verweis auf Rs C-256/11 – Dereci, Rn 63–68. 194 So van den Brink LIEI 2012, 273 und Kochenov/Plender ELRev 2012, 369. Die beiden zuletzt genannten Autoren sehen in diesen Urteilen auch einen Rückfall in eine Situation, in der die Unionsbürgerschaft primär als marktbezogenes Annexrecht zum Freizügigkeitsrecht und weniger als eigenständiges Statusrecht definiert worden ist. 195 EuGH, verb Rs 356/11 und C-357/11 – Maahanmuuttovirasto. Peter Hilpold

III. Unionsbürgerschaft | 853

schiedenen Elternteil aufrecht erhalten möchten, schwierige Abwägungen zu treffen sind. Eine Erweiterung hat die „Kernbestandslehre“ in der Rs Chavez-Vilchez196 er- 151 fahren, wobei der EuGH zentral über das Kindeswohl argumentierte und auch auf die GRCh (Art 7, „Achtung des Privat- und Familienlebens“ und Art 24 Abs 2, „Rechte des Kindes“) Bezug nahm. Dabei ging es um den Anspruch von acht Müttern, die als Drittstaatsangehörige ohne Aufenthaltstitel in den Niederlanden Sozialleistungen geltend machen wollten, wobei ihre Kinder niederländische Staatsbürger waren; anders als im Fall Ruiz Zambrano waren auch die Väter niederländische Staatsbürger, die zT fähig und bereit gewesen wären, für die Kinder zu sorgen. Dieser Umstand sei zwar von Bedeutung, aber nicht allein entscheidend für die Frage, ob die Ausweisung des drittstaatsangehörigen Elternteils letztlich auch das Kind, das Unionsbürger ist, zwinge, das Unionsgebiet zu verlassen.197 Es sei vielmehr im Einzelfall zu prüfen, ob ein Abhängigkeitsverhältnis in der Weise bestehe, dass sich das Kind bei der Verweigerung des Aufenthaltsrechts für den drittstaatsangehörigen Elternteil gezwungen sähe, die Union zu verlassen: „Einer solchen Feststellung muss die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls im Interesse des Kindeswohls zugrunde liegen, so insbesondere des Alters des Kindes, seiner körperlichen und emotionalen Entwicklung, des Grades seiner affektiven Bindung sowohl zu dem Elternteil, der Unionsbürger ist, als auch zu dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit und des Risikos, das mit der Trennung von Letzterem für das innere Gleichgewicht des Kindes verbunden wäre.“198

Über das allgemeine Freizügigkeitsrecht greift die Gerichtsbarkeit des EuGH auf 152 Sachgebiete aus, die prinzipiell in die ausschließliche mitgliedstaatliche Zuständigkeit fallen. Der Unionsbürger ist auf dieser Grundlage vor jeder Diskriminierung aufgrund der Staatsbürgerschaft – in einem in diesem Kontext enorm erweiterten sachlichen Anwendungsbereich des Vertrages – geschützt. Auch die Position des Inländers wird aber am Unionsrecht gemessen, wenn er das allgemeine Freizügigkeitsrecht wahrnimmt oder auch nur wahrnehmen möchte. Grundsätzlich darf die Ausübung dieses Freizügigkeitsrechts durch nationale Regelungen weder für Bürger anderer Mitgliedstaaten noch für Inländer weniger attraktiv gemacht werden. Jede Einschränkung, die in diese Richtung wirkt, muss gerechtfertigt sein, dh sie muss auf objektiven Erwägungen beruhen und in einem angemessenen Verhältnis zu einem legitimen Zweck stehen. Die weite Interpretation dieser Grundfreiheit führt jedoch dazu, dass das Ausmaß der Zulässigkeit dieser Einschränkungen restriktiv zu interpretieren ist.

_____ 196 EuGH, Rs C-133/15 – Chavez-Vilchez. Bestätigt durch EuGH, Rs C-82/16 – KA. 197 Ebd, Rn 72. 198 Ebd. Peter Hilpold

854 | § 12 Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft

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Immer großzügiger interpretierte der EuGH lange Zeit das Erfordernis, wonach die Unionsbürger über ausreichende Existenzmittel verfügen müssen. In der Rs C408/03 ging es um ein von der Kommission / Belgien eingeleitetes Vertragsverletzungsverfahren, dem wiederholte Beschwerden über die belgische Ausweisungspraxis zugrunde lagen. So stellte sich konkret die Frage, ob bei nichtehelichen Partnerschaften die Existenz ausreichender Mittel auch über Zuwendungen Dritter nachgewiesen werden kann, selbst wenn diesbezüglich keine rechtliche Verpflichtung zur Vornahme der Zuwendung besteht. Diese Frage wurde vom EuGH bejaht: „Zu verlangen [...], dass zwischen demjenigen, der die Mittel zur Verfügung stellt, und demjenigen, dem sie zugute kommen, eine rechtliche Beziehung besteht, wäre unverhältnismäßig, da es über das, was zur Verwirklichung des mit der Richtlinie 90/364 verfolgten Ziels – Schutz der öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats – erforderlich ist, hinausgeht. Der Wegfall ausreichender Existenzmittel stellt unabhängig davon, ob es sich um eigene Mittel handelt oder ob sie von einem Dritten stammen, stets ein latentes Risiko dar, und zwar auch dann, wenn sich der Dritte verpflichtet hat, den Inhaber des Aufenthaltsrechts finanziell zu unterstützen. Die Herkunft der Mittel wirkt sich daher nicht ohne weiteres auf das Risiko ihres Wegfalls aus, da es von der Entwicklung der Umstände abhängt, ob sich das Risiko realisiert.“199

154 Der Fall „Förster“200 zählt hingegen zu der neueren Rechtsprechung, die eine Ge-

gentendenz zu der eine ständige Erweiterung des Unionsbürgerschaftskonzepts kennzeichnenden Rechtsprechung eingeleitet hat und mit der auch die „Grenzen der Solidarität“ aufgezeigt wurden.201 Die deutsche Staatsbürgerin Jacqueline Förster begann im Jahr 2000 ein Pädagogikstudium an der Universität Amsterdam und beantragte dort im Jahr 2003 ein Unterhaltsstipendium unter Hinweis auf ihren Status als Unionsbürgerin. Die Niederlande hatten aber – als Reaktion auf das Urteil in der Rs „Bidar“ sowie unter Nutzung der Spielräume, die die Unionsbürgerschaftsrichtlinie 2004/38 bot – im Jahr 2005 die Notwendigkeit eines zumindest fünfjährigen ununterbrochenen und rechtmäßigen Aufenthalts im betreffenden Staat eingeführt. Der EuGH bestätigte dieses Limit als entscheidenden Maßstab für den Nachweis eines „gewissen Grades an Integration“, obwohl Frau Förster sonstige Elemente einer solchen Integration (bspw perfekte Niederländisch-Kenntnisse) nachweisen konnte. Auslandsstipendien dürfen nicht in einer die Freizügigkeit der Unionsbürger 155 einschränkenden Weise vergeben werden.202

_____ 199 EuGH, Rs C-408/03 – Kommission / Belgien, Rn 46 f. 200 EuGH, Rs C-158/07 – Förster. 201 Vgl zu diesem Verfahren Hilpold EuZW 2009, 40. 202 EuGH, verb Rs C-11/06 und C-12/06 – Morgan und Bucher. In Deutschland war zuvor ein Stipendienanspruch nur für ausländische Aufbaustudien gewährt worden, doch hat der EuGH darin Peter Hilpold

III. Unionsbürgerschaft | 855

Nicht nur die Stipendienthematik, sondern auch der Hochschulzugang an sich 156 berührt Fragen der Unionsbürgerschaft. Das Recht auf Freizügigkeit der Studierenden hat in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot gemäß Art 18 AEUV zu einer allgemeinen Öffnung der europäischen Hochschulen geführt. Dies hat in der EU vor allem für jene Mitgliedstaaten wie Belgien und Österreich zu Belastungen geführt, die keine oder nur geringe Studiengebühren erheben, während größere Nachbarstaaten, die Teil derselben Sprachnation sind (Frankreich bzw Deutschland) Zugangsbeschränkungen anwenden, die zu einem Überwechseln einer großen Zahl an Studierenden in den kleineren Nachbarstaat führen. In der Rs „Bressol“203 ging es um die Frage, ob belgische Universitäten, die – 157 ebenso wie österreichische – mit einem starken Zustrom von Studierenden aus dem benachbarten Ausland (Frankreich bzw Deutschland) zu kämpfen haben, über eine Quotenregelung eine bestimmte Anzahl an Studienplätzen zumindest im medizinischen Bereich für heimische Studierende reservieren können. In der Rs C-47/03, Kommission/Österreich hatte der EuGH von Österreich – allerdings auch als Ergebnis einer schlechten Verteidigungsstrategie Österreich – noch eine vollumfängliche Öffnung der österreichischen Universitäten für Unionsbürger verlangt.204 In „Bressol“ zeigte der EuGH hingegen Bereitschaft, von dieser rigiden Haltung abzukehren, wenn Belgien den Nachweis erbringen kann, dass der Zustrom ausländischer Studierender auf seine Medizin-Fakultäten (Studierende, die häufig nach Beendigung des Studiums wieder in ihr Heimatland zurückkehren) die hinreichende Versorgung Belgiens mit Ärzten gefährdet. Die Bedingungen, die der EuGH an diesen Nachweis knüpfte, waren extrem fordernd, doch war dennoch nicht zu verkennen, dass sich nun eine klare Richtungsänderung in der einschlägigen Rechtsprechung abzeichnete. Damit wurde auch die Aushandlung von politischen Kompromissen in dieser 158 Frage erleichtert. Österreich hatte angesichts eines sich abzeichnenden Ausbildungs- und Versorgungsnotstandes im Bereich der Humanmedizin und der Zahnmedizin eine Quotenregelung eingeführt, wonach 75% der Studienplätze für Absolventen heimischer Schulen, 20% für Unionsbürger mit Reifezeugnissen anderer EUMS und 5% für Bewerber aus Drittländern vorbehalten waren. Das daraufhin von der EU-Kommission eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren wurde 2017 eingestellt, nachdem sich die Kommission von der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahme hatte überzeugen lassen. Österreich muss nun in Fünf-JahresAbständen nachweisen, dass der Bedarf an dieser Quote fortbesteht. Für den Bereich der Zahnmedizin konnte Österreich hingegen keinen solchen Bedarf nachwei-

_____ einen Verstoß gegen die Freizügigkeit der Unionsbürger in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot gesehen. 203 EuGH, Rs C-73/08 – Bressol. 204 Vgl zu diesem Verfahren im Detail Hilpold EuZW 2005, 647, sowie Odendahl/Hilpold S 147. Peter Hilpold

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sen, weshalb die diesbezügliche Quotenregelung mit dem Studienjahr 2019/2020 aufgehoben werden muss.

4. Aktuelle Entwicklungen 159 Wie bereits ausgeführt, befindet sich die Rechtsprechung zur Unionsbürgerschaft

schon seit längerem in einer Konsolidierungsphase, wobei der EuGH verstärkt den Ansprüchen der MS auf Begrenzung der Solidarität und auf Eingrenzung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts Rechnung trägt. Diese Tendenz ist schon seit dem Urteil in der Rs „Förster“ v 18. November 2008, also nicht von ungefähr fast zeitgleich mit dem Beginn der großen Finanzkrise, feststellbar. Drei Urteile der letzten Jahre in den Rs „Dano“,205 „Alimanovic“206 und „Euro160 päische Kommission / Großbritannien“207 signalisieren nun einen viel radikaleren Bruch. Der EuGH beruft sich nicht mehr auf das Primärrecht, um die Tragweite des Unionsbürgerschaftskonzepts zu erweitern. Für die in der Vergangenheit betonte Notwendigkeit, zwischen den einzelnen Fallkonstellationen der Anspruchsberechtigung aus der Unionsbürgerschaft zu differenzieren, sieht er im Sekundärrecht – und dabei insbesondere in der RL 2004/38 – eine ausreichende Grundlage.208 Die rumänische Staatsbürgerin Elisabeta Dano hielt sich gemeinsam mit ihrem 161 2009 in Saarbrücken geborenen Sohn Florin seit 2010 regelmäßig in Deutschland auf, ohne dort jedoch einer Arbeit nachzugehen oder sonstige Integrationsbemühungen zu unternehmen. Mit der Abweisung ihres Antrags auf Grundsicherung und Sozialgeld wurde schließlich der EuGH über ein Vorabentscheidungsersuchen befasst. Der EuGH wiederholte zwar die Grzelczyk-Formel, wonach der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt sei, der grundlegende Status der Staatsangehörigen der MS zu sein, woraus sich im Anwendungsbereich des AEUV ein umfassender Diskriminierungsschutz für Unionsbürger ergebe,209 doch in der konkreten Prüfung der Anspruchsgrundlage der Familie Dano stützte er sich – anders als in der Vergangenheit – allein auf das Sekundärrecht, das einen entsprechenden Anspruch nicht vorsieht.210 Und in Rn 74 liefert der EuGH eine nüchterne Erklärung, warum er hier eine Anspruchsberechtigung versagte: „Ließe man zu, dass Personen, denen kein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38 zusteht, unter den gleichen Voraussetzungen wie Inländer Sozialleistungen beanspruchen könnten, liefe dies dem in

_____ 205 EuGH, Rs C-333/13 – Dano. 206 EuGH, Rs C-67/14 – Alimanovic. 207 EuGH, Rs C-308/14 – Europäische Kommission / Großbritannien. 208 Siehe ausführlich zu diesen Urteilen Iliopoulou-Penot CMLRev 53 (2016) 1007 ff sowie Barnard/Fraser Butlin CMLRev 55 (2018) 203 (214 ff). 209 EuGH, Rs C-333/13 – Dano, Rn 58. 210 Siehe Art 24 Abs 2 der RL 2004/38. Peter Hilpold

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ihrem zehnten Erwägungsgrund genannten Ziel zuwider, eine unangemessene Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats durch Unionsbürger, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, zu verhindern.“ In der Rs „Alimanovic“ ging es um den Anspruch der aus Bosnien stammenden 162 schwedischen Staatsangehörigen Alimanovic und ihrer drei in Deutschland geborenen Kinder auf Sozialhilfeleistungen in Deutschland, wo sich die Antragsteller seit 2010 aufhielten. Auch hier prüfte der EuGH die Anspruchsberechtigung allein nach Maßgabe des Sekundärrechts und stellte fest, dass auf der Grundlage von Art 24 Abs 2 und Art 14 Abs 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 zwar ein Recht auf Aufenthalt bestehe, solange der Antragsteller nachweisen kann, dass er weiterhin Arbeit sucht und eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden. Ein Anspruch auf Sozialhilfe könne hingegen in der betreffenden Fallkonstellation sechs Monate nach Beendigung der Erwerbstätigkeit ausgeschlossen werden. Die Grzelczyk-Formel erwähnt der EuGH nicht mehr. In der Rs „Europäische Kommission / Großbritannien“ ging es um die Frage, 163 ob Großbritannien die Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch Unionsbürger vom Nachweis eines rechtmäßigen Aufenthalts gemäß EU-Recht abhängig machen kann. Der EuGH bestätigte dies, wobei er zwar anerkannte, dass die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts von britischen Staatsbürgern leichter zu belegen sei als von Unionsbürgern, doch sei die Notwendigkeit, die Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats zu schützen, ein legitimes Ziel, das eine mittelbare Diskriminierung rechtfertige.211

5. Wesentliche Eigenschaften der Unionsbürgerschaft a) Erwerb und Verlust der Unionsbürgerschaft; Mehrfachstaatsbürgerschaften Wer Staatsbürger eines EU-Mitgliedstaates ist, ist grundsätzlich auch Unionsbürger. 164 Die Unionsbürgerschaft kann nicht unabhängig von einer solchen Staatsbürgerschaft erworben und sie kann auch nicht unabhängig von dieser verloren gehen. Sie ist also – was Begründung und Verlust anbelangt – akzessorisch zur mitgliedstaatlichen Staatsbürgerschaft. Auch die Regelung von Erwerb und Verlust bleibt den Mitgliedstaaten (weitgehend) freigestellt. Zur Vermeidung jeglicher Zweifel wurde dies in der Erklärung Nr 2 zur Schlussakte von Maastricht auch festgeschrieben.212 In Bezug auf seine Begründung ist der Begriff der Unionsbürgerschaft also kein Begriff des Unionsrechts, wie es etwa der Begriff des Arbeitnehmers ist. Die Mitgliedstaaten können einzelne Staatsbürger auch vom Erwerb der

_____ 211 EuGH, Rs C-308/14 – Europäische Kommission / Großbritannien, Rn 79 f. 212 „Die Konferenz erklärt, dass bei Bezugnahmen des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft auf die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten die Frage, welchem Mitgliedstaat eine Person angehört, allein durch Bezug auf das innerstaatliche Recht des betreffenden Mitgliedstaates geregelt wird […]“. Erklärung v 7.2.1992; ABl 1992 C 191/98. Peter Hilpold

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Unionsbürgerschaft ausschließen. Von dieser Möglichkeit hat Großbritannien schon anlässlich seines EWG-Beitritts 1972 Gebrauch gemacht und den Unionsbürgerstatuts nur den britischen Bürgern mit unbegrenztem Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich zuerkannt sowie den Bürgern, die ihre Staatsbürgerschaft aufgrund einer Verbindung zu Gibraltar erworben haben.213 Zu beachten ist, dass diese Akzessorität der Unionsbürgerschaft nur für ihre Konstituierung gilt. Einmal begründet, wird sie zum Begriff des Unionsrechts, das die damit verbundenen Rechte und Pflichten autonom und abschließend festlegt. Dies kommt auch in der neuen Formulierung des Art 20 AEUV nach Lissabon zum Ausdruck, in welcher festgehalten wird, dass die Unionsbürgerschaft zur nationalen Staatsbürgerschaft „hinzutritt“ (während der frühere Wortlaut von einer „Ergänzung“ sprach). Da Erwerb und Verlust der Unionsbürgerschaft unionsweite Auswirkungen zeitigen, ist das diesbezügliche Ermessen der Mitgliedstaaten aber nicht völlig unbeschränkt. Zum einen werden den Mitgliedstaaten schon durch das Völkerrecht für Ein- und Ausbürgerung Grenzen gesetzt.214 Für das Unionsrecht wird vom Vorliegen eines Missbrauchsverbots ausgegangen, das aus dem Loyalitätsgebot erfließt (Art 4 III EUV).215 Einen Testfall für die Grenzen des Loyalitätsgebots in diesem Bereich stellte die – später relativierte – Ankündigung Maltas im Herbst 2013 dar, die maltesische Staatsbürgerschaft für 650.000 Euro zum Kauf anzubieten.216 Die Konkretisierung beider Schranken ist mit zahlreichen Fragestellungen verbunden. Was die völkerrechtlichen Schranken der Einbürgerung gemäß dem Nottebohm-Fall anbelangt,217 so ist festzuhalten, dass diese im Unionsrecht keine Bindungswirkung entfalten. Sie sind in diesem somit allein von faktischer

_____ 213 Diese Maßnahme musste von Großbritannien allerdings wieder zurückgenommen werden, da damit ein Verstoß gegen Art 3 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK einhergegangen ist. Siehe Fn 266. 214 So hat der IGH im Nottebohm-Fall (1955) die Wirksamkeit einer Einbürgerung gegenüber Drittstaaten vom Vorliegen einer effektiven Nahebeziehung („genuine link“) zwischen Staat und Einbürgerungskandidaten abhängig gemacht. Die Ausbürgerung als Strafe ist mittlerweile untersagt (Art 12 IV Pakt über bürgerliche und politische Rechte, 1966). 215 Im Urteil „Rottmann“ (EuGH, Rs C-135/08 – Rottmann, Rn 45 bzw Rn 42) hat der EuGH pauschal festgehalten, dass die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit im Bereich der Staatsangehörigkeit das Unionsrecht zu beachten hätten. In „Rottmann“ kann deshalb ein weiterer wichtiger Schritt hin zur Emanzipierung des Unionsbürgerschaftskonzepts von der mitgliedstaatlichen Staatsbürgerschaft gesehen werden. Dieser Ansatz wurde in „Tjebbes“ (EuGH, Rs C-221/17) noch weiter fortgeführt: Im Kontext der Prüfung der Verhältnismäßig des Entzugs der Staatsbürgerschaft ist auf jeden Fall auch die GRCh zu berücksichtigen. 216 Hilpold NJW 2014, 1071. 217 Hierzu vgl Vitzthum/Proelß/Kau S 173 f. Peter Hilpold

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Relevanz. Das Verbot der Ausbürgerung als Strafe ist dagegen grundrechtlicher Natur und schlägt deshalb im Falle seiner Verletzung auch auf die Unionsebene durch. Die unionsrechtlichen Schranken gemäß dem Missbrauchsverbot und dem 169 Loyalitätsgebot sind dagegen wenig präzise, so dass sie die Mitgliedstaaten nur begrenzt zu binden imstande sind.218 In der Vergangenheit bestand keine Veranlassung, den genauen Gehalt dieser Schranke zu präzisieren. Sollten sich aber Befürchtungen bewahrheiten, dass einzelne Staaten wie Rumänien zu Masseneinbürgerungen schreiten, dann würde sich die Situation ändern. Unproblematisch ist der Fall des Verzichts auf die Staatsbürgerschaft: Dafür 170 gibt es keine unionsrechtlichen Beschränkungen und der Verzicht hat den unmittelbaren Verlust der Unionsbürgerschaft zur Folge. Doppel- bzw Mehrfachstaatsbürgerschaften können die Rechte aus der Uni- 171 onsbürgerschaft niemals beschränken, sondern allenfalls erweitern: – Verfügt der Unionsbürger über zwei oder mehrere Staatsbürgerschaften von Mitgliedstaaten, so kann der Betreffende die Rechte aus der Unionsbürgerschaft unionsweit geltend machen, und somit auch gegenüber seinem Heimatstaat. Hier liegt also keine (unionsrechtlich irrelevante) Inländerdiskriminierung vor.219 – Verfügt der Unionsbürger auch über die Staatsangehörigkeit eines Drittstaates, so geht er dadurch seiner Rechte aus der Unionsbürgerschaft auch dann nicht verlustig, wenn die Drittstaatsangehörigkeit die effektivere ist. Dies wurde im Fall „Micheletti“ vom EuGH verdeutlicht.220 Besondere Aufmerksamkeit hat jüngst das Urteil in der Rs „Tjebbes“ (EuGH, Rs. C-221/17) erlangt: Die MS können bei Doppelstaatsbürgern mit einer Staatsbürgerschaft eines Nicht-EU-Mitglieds den Fortbestand der Staatsbürgerschaft des MS (und damit der Unionsbürgerschaft) von einer effektiven Nahebezie-

_____ 218 So auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schönberger Art 20 AEUV Rn 47. Als konkrete Beispiele für eine unionsrechtlich unzulässige Einbürgerungspolitik wurden Maßnahmen genannt, durch die „eine gemeinschaftliche Einwanderungspolitik praktisch unmöglich oder wesentlich erschwert würde“ (Schwarze/Hatje Art 20 AEUV Rn 5), oder der Entzug der Staatsbürgerschaft als Sanktion für die Wohnsitznahme in einem anderen Mitgliedstaat (Streinz/Magiera Art 20 AEUV Rn 30 – Magiera verlangt diesbezüglich aber eine „eingehende Prüfung“ unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes). 219 Ein Doppelstaatsbürger kann die Unionsbürgerschaft gegenüber jedem seiner Heimatstaaten auch dann geltend machen, wenn er noch nie von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat (vgl EuGH, Rs C-148/02 – Garcia Avello, Rn 27 ff). „Es ist nämlich nicht Sache eines Mitgliedstaats, die Wirkungen der Verleihung der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats dadurch zu beschränken, dass er eine zusätzliche Voraussetzung für die Anerkennung dieser Staatsangehörigkeit im Hinblick auf die Ausübung der im Vertrag vorgesehenen Grundfreiheiten verlangt.“ (ebd Rn 28). 220 EuGH, Rs C-369/90 – Micheletti. Peter Hilpold

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hung abhängig machen und – so wie die Niederlande – die Staatsbürgerschaft bei mehr als zehnjährigem Aufenthalt außerhalb der EU entziehen. Dabei muss aber immer eine Verhältnismäßigkeitsprüfung anhand des EU-Rechts gewährleistet sein und gegebenenfalls ist die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen rückwirkend wiederherzustellen. Insbesondere sind dabei auch die Rechte aus der GRCh zu berücksichtigen, so das Recht auf Achtung des Familienlebens (Art. 7 GRCh) und das Kindeswohl (Art. 24 GRCh). Der Anwendungsbereich der GRCh ist hier also gleichsam automatisch eröffnet.

b) Ausprägungen der Unionsbürgerschaft; Anspruchsberechtigte und Adressaten; das Verhältnis zur Grundrechte-Charta 172 Mit dem Vertrag von Lissabon wurde in Art 20 II 2 AEUV erstmals eine Aufzählung von Einzelrechten in die Verträge aufgenommen, die die Unionsbürgerschaft ausmachen: – das allgemeine Freizügigkeitsrecht; – das aktive und passive Wahlrecht zum Europäischen Parlament sowie bei den Kommunalwahlen im Wohnsitzstaat; – das Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz in Drittstaaten, in welchen der Heimatstaat nicht vertreten ist sowie – das Petitionsrecht an das Europäische Parlament, das Recht, sich an den Bürgerbeauftragten zu wenden sowie das Recht, sich in einer der Sprachen der Verträge an die EU zu wenden. 173 Diese Aufzählung ist allerdings nicht abschließend (arg „unter anderem“). Die

Unionsbürgerschaft wird vielmehr durch eine Vielzahl an Einzelbestimmungen in den Verträgen, aber auch im Sekundärrecht (bspw durch die Unionsbürgerrichtlinie 2004/38) sowie durch Vereinbarungen gemäß Art 23 AEUV (über die Gewährung von diplomatischem und konsularischem Schutz) konkretisiert.221 Aus der Unionsbürgerschaft können grundsätzlich natürliche Personen An174 sprüche ableiten. Einzelne dieser Ansprüche stehen aber auch juristischen Personen zu, die laut Satzung ihren Sitz in einem Mitgliedstaat der EU haben. Darauf verweisen Art 20 II, Art 24 II und Art 227 AEUV in Bezug auf das Petitionsrecht zum Europäischen Parlament und Art 20 II, Art 24 III sowie Art 228 AEUV bezüglich des Rechts auf Anrufung des Bürgerbeauftragten. Diese Bestimmungen definieren aber noch nicht abschließend die Reichweite der Anspruchsberechtigung juristischer Personen, sondern es ist wohl im Einzelfall zu prüfen, ob Rechte, die für Unionsbürger als natürliche Personen geschaffen worden sind, nach Maßgabe der Finalität der

_____ 221 Art 23 I 2 AEUV sowie Mayer/Stöger/Kolonovits Art 20 AEUV Rn 17. Peter Hilpold

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Verträge und der konkreten Natur der Norm auch auf juristische Personen Anwendung finden können.222 Adressaten der Ansprüche aus der Unionsbürgerschaft sind – je nach spezifischer Norm – entweder die Mitgliedstaaten oder die Union. Die Mitgliedstaaten werden insbesondere durch die Freizügigkeitsbestimmungen (Art 20 II lit a sowie Art 21 AEUV) in Bezug auf bestimmte politische Rechte (aktives und passives Wahlrecht zum Europäischen Parlament sowie Kommunalwahlrecht gemäß Art 20 II lit b AEUV) und durch das Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz in Staaten, in denen der Heimatstaat nicht vertreten ist (Art 20 II lit c AEUV), verpflichtet. Bestimmte politische Rechte der Unionsbürger richten sich dagegen gegen die Union, nämlich das Petitionsrecht, das Recht, sich an den Bürgerbeauftragten zu wenden sowie das Recht in einer der Amtssprachen mit den Organen der EU zu verkehren (Art 20 II lit d iVm Art 24 AEUV). Hauptadressaten der Bestimmungen zur Unionsbürgerschaft sind damit die Mitgliedstaaten. Es sind dies die Aspekte der Unionsbürgerschaft, die von größter unmittelbarer, praktischer Relevanz für den einzelnen Bürger sind. Die Verpflichtungen, die sich auf die Union beziehen, sind dagegen primär dazu bestimmt, die Union dem Bürger näher zu bringen und ihre Identität zu stärken und zu vermitteln. Kennzeichen dieser Bestimmungen ist somit ihre idealistische Prägung und ihre Zukunftsorientierung. Die Unionsbürgerschaft stellt sich damit als ein Status dar, der ein mixtum compositum von Einzelrechten vermittelt. Diese Rechte bieten dem Bürger konkrete praktische Hilfestellung und machen ihm die wirtschaftlichen und politischen Vorteile daraus besser erfahrbar. Andererseits eröffnen sie eine Vision für weitere Integrationsschritte. Die Rechte aus der Unionsbürgerschaft werden nun zusätzlich über die Grundrechte-Charta abgesichert (Art 39–46 GRCh) und durch „JedermannsRechte“ ergänzt (Art 41 „Recht auf gute Verwaltung“ sowie Art 42 GRCh „Recht auf Zugang zu Dokumenten“).223 Die „Transferklausel“ in Art 52 II GRCh stellt sicher, dass diese Parallelität der Verbürgungen zu keinen Norm- bzw Auslegungskonflikten führt: Die Ausübung der durch die Charta anerkannten Rechte, die in den Verträgen geregelt sind, hat gemäß den Bedingungen und Grenzen zu erfolgen, die in EUV und AEUV festgelegt sind.224 Die Unionsbürgerschaft entfaltet – gleich wie das allgemeine Diskriminierungsverbot – seine Wirkungen nur im Anwendungsbereich der Verträge. Die anfänglich geäußerte Ansicht, mit der Einführung der Unionsbürgerschaft werde die Ausnahme des reinen Inlandsachverhalts (Zulässigkeit der Inländerdiskriminierung)

_____ 222 Schwarze/Hatje Art 20 AEUV Rn 11. Für eine analoge Anwendung der Bestimmungen auch auf juristische Personen Calliess/Ruffert/Kluth Art 20 AEUV Rn 10. 223 Mayer/Stöger/Kolonovits Art 20 AEUV Rn 6. 224 Ebd. Peter Hilpold

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obsolet, wurde vom EuGH in Uecker verworfen.225 Allerdings wurde die Definition des „Anwendungsbereichs der Verträge“ durch die oben behandelte Rechtsprechung des EuGH kontinuierlich ausgeweitet. Trotz seiner Natur als Statusrecht macht die Unionsbürgerschaft damit den grenzüberschreitenden Bezug nicht überflüssig, doch ist die Zahl der Konstellationen, in welchen ein solcher Bezug nachzuweisen war, erheblich angewachsen. Dem Unionsrecht sind – und dadurch unterscheidet sich die Unionsbürger179 schaft wiederum von der Staatsbürgerschaft – keine spezifischen Pflichten der Unionsbürger zu entnehmen.226

6. Das allgemeine Freizügigkeitsrecht 180 Die Schaffung eines allgemeinen Freizügigkeitsrechts, losgelöst von einem wirtschaftlichen Kontext, stellt eine der bedeutendsten Errungenschaften dar, die mit der Einführung des Unionsbürgerschaftskonzepts einhergingen. Diese ursprünglich in Art 8a EGV und nunmehr in Art 21 AEUV zu findende Regelung stand stets im Mittelpunkt der Vorschläge zur Etablierung eines Europas der Bürger. Die 1957 konzipierte Personenfreizügigkeit der Grundfreiheiten hatte das Freizügigkeitsrecht nur instrumental verstanden und diese einer ökonomischen Finalität untergeordnet. Die damit einhergehenden Beschränkungen ließen dem Bürger das europäische Integrationsprojekt als limitiertes, wirtschaftsorientiertes Vorhaben begreifen, dem jede idealistische Vision abging. Gegen ein allgemeines Recht auf Freizügigkeit regte sich jedoch starker Widerstand der Mitgliedstaaten, die sich der politischen Sprengkraft eines solchen Konzepts, der damit einhergehenden Stärkung der Gemeinschaft zu Lasten der mitgliedstaatlichen Souveränität und auch der wirtschaftlichen Folgewirkungen durchaus bewusst waren. Schon 1979 hatte die Kommission einen Vorschlag für eine Richtlinie über ein allgemeines Aufenthaltsrecht der Gemeinschaftsangehörigen in den anderen Mitgliedstaaten vorgelegt. Es sollte über 10 Jahren dauern bis der Rat schließlich einem modifizierten Vorschlag, bestehend aus drei Aufenthaltsrichtlinien, zustimmen würde.227

_____ 225 EuGH, Rs C-64/96 – Uecker und Jacquet, Rn 23: „Hierzu ist festzustellen, dass die in Artikel 18 EG-Vertrag vorgesehene Unionsbürgerschaft nicht bezweckt, den sachlichen Anwendungsbereich des Vertrages auf rein interne Sachverhalte auszudehnen, die keinerlei Bezug zum Gemeinschaftsrecht aufweisen“. 226 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schönberger Art 20 AEUV Rn 61 spricht aber von Pflichtigkeiten und Lasten, die für den Einzelnen aus der Unionsbürgerschaft entstehen (kein Asylrecht mehr in den anderen Mitgliedstaaten, kein Auslieferungsverbot eigener Bürger in andere Mitgliedstaaten). 227 Statt der – zurückgezogenen – allgemeinen Aufenthaltsrichtlinie wurden 1990 die RL über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätigen (RL 90/365, ABl 1990 L 180/28), die RL über das Aufenthaltsrecht der Studenten (RL Peter Hilpold

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Diese Richtlinien hatten die Einräumung eines Aufenthaltsrechts für die einzelnen darin erfassten Kategorien (aus dem Erwerbsleben ausgeschiedene Arbeitnehmer, selbständig Erwerbstätige, Studenten sowie die übrigen Gemeinschaftsangehörigen) bereits weitgehend von einer ökonomischen Finalität abgelöst. Bereits zwei Jahre später wurde mit dem Vertrag von Maastricht das – nicht wirtschaftlich bedingte – Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht auf die primärrechtliche Ebene gehoben. Damit besteht nun innerhalb der Union ein umfassendes Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht, das allerdings je nach Grundlage (wirtschaftlich oder nicht-wirtschaftlich) unterschiedlich weitreichend ist. Die Personenfreizügigkeit auf der Grundlage der Grundfreiheiten ist nach wie vor am weitreichendsten. Dazu existieren verschiedene Beschränkungen, die primärrechtlich vorgegeben sind (so die ordre-public-Vorbehalte zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit) oder von der EuGH-Rechtsprechung entwickelt worden sind228 (Beschränkungen auf der Grundlage der zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses, soweit zur Zielerreichung erforderlich und nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit). Weitere Bedingungen sind in diesem Zusammenhang nicht vorgesehen. Für die Ausübung des allgemeinen Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts gelten hingegen zusätzliche Bedingungen, die zuerst in den drei Aufenthaltsrichtlinien aus 1990 enthalten waren und dann von der Unionsbürgerrichtlinie (RL 2004/38) übernommen wurden. So gilt für einen Aufenthalt von mehr als drei Monaten die Bedingung, dass der Betreffende über ausreichende Existenzmittel und über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügt. Das wirtschaftliche und das allgemeine Freizügigkeitsrecht unterscheiden sich auch in Hinblick auf die zeitliche Dimension ihrer Entstehung: Während das wirtschaftliche Freizügigkeitsrecht, das aus den Grundfreiheiten resultiert, unmittelbar wirksam ist, erfährt das allgemeine, auf der Unionsbürgerschaft begründete Freizügigkeitsrecht im Zeitablauf eine zunehmende Festigung und Erweiterung bis es nach fünf Jahren Aufenthalt seine volle Ausreifung erlangt. Wirtschaftliches und allgemeines Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht können aber auch überlappen und in diesem Fall wird dieses Recht schon zu einem früheren Zeitpunkt vollumfänglich verwirklicht. Das Gesamtsystem stellt sich damit folgendermaßen dar: Die wirtschaftlichen Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechte auf der Basis der Grundfreiheiten sowie VO 492/2011229 sind umfassend und greifen sofort in vollem

_____ 90/366, ABl 1990 L 180/30) und die RL über das Aufenthaltsrecht verabschiedet (RL 90/364, ABl 1990 L 180/26); hierzu vgl auch Rn 112. 228 Hierzu näher Blanke/Böttner § 13 (in diesem Band). 229 VO über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union, ABl 2011 L 141/1; diese VO kodifiziert die mehrfach geänderte VO 1612/68, ABl 1968 L 257/2. Relevant ist in diesem ZusammenPeter Hilpold

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Maße mit ihrer Ausübung. Durch die Rechtsprechung des EuGH sowie durch die Sekundärrechtsetzung wurden diese zusehends ausgeweitet, ohne dass aber der wirtschaftliche Konnex völlig aufgegeben worden wäre:230 a) So hat der EuGH das Konzept der passiven Dienstleistungsfreiheit entwickelt, wodurch er umfassende Freizügigkeitsrechte der Touristen aus einer Grundfreiheit ableiten konnte.231 b) Die Kategorie der Anspruchsberechtigten aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit wurde sehr weit interpretiert, wodurch bspw Arbeitssuchende darunter fielen, solange sie eine begründete Aussicht auf Einstellung hatten, Teilzeitbeschäftigte und Gelegenheitsarbeiter (selbst wenn das im jeweiligen Mitgliedstaat vorgesehene Mindesteinkommen nicht erreicht wird), Studien- und Rechtsreferendare und Praktikanten.232 188 Das allgemeine Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht nach Maßgabe des Art 21

AEUV sowie RL 2004/38 greift in abgestufter Form: (a) Das Aufenthaltsrecht bis zu drei Monaten (Rn 184, 185); (b) Das Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate (Rn 186–188); (c) Das Recht auf Daueraufenthalt (Rn 189, 190); (d) Die Fortwirkung der Erwerbstätigeneigenschaft und die Verbindung von allgemeiner Freizügigkeit und wirtschaftlicher Freizügigkeit (Rn 191); (e) Beschränkungen des Aufenthaltsrechts, Ausweisung (Rn 192–197); (f) Aufenthaltsrechte von Familienangehörigen (Rn 198–201).

a) Das Aufenthaltsrecht von bis zu drei Monaten 189 Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht.

_____ hang weiters Art 17 RL 2004/38, der – wie zuvor die VO 1251/70 (ABl 1970 L 142/24; aufgehoben durch VO 635/2006, ABl 2006 L 112/9) – Regelungen über das Recht der Arbeitnehmer und Selbständigen vorsieht, nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verbleiben. 230 Vgl dazu Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Giegerich S 338 (350). 231 EuGH, verb Rs 286/82 und 26/83 – Luisi und Carbone, sowie EuGH, Rs C-274/96 – Bickel und Franz. Selbst in der extensivsten Auslegung blieb das Potential dieses Ansatzes aber beschränkt, da sich ein Tourist nach dem allgemeinen Wortverständnis dieses Begriffs nur zeitlich befristet in einem anderen Land aufhält. Deshalb kann aus der passiven Dienstleistungsfreiheit kein Recht auf Daueraufenthalt erwachsen (eben um im anderen Mitgliedstaat dauerhaft Dienstleistungen zu konsumieren). So Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Giegerich S 338 (350), Fn 114 unter Verweis auf EuGH, Rs C-200/02 – Zhu und Chen. 232 Siehe Borchardt S 429. Peter Hilpold

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Dieses Recht gilt auch für Drittstaatsangehörige, die Angehörige von Unionsbürgern sind und diese begleiten oder ihnen nachziehen.233 Typischerweise wird von diesem Recht zu touristischen Zwecken Gebrauch 190 gemacht. Die betreffenden Unionsbürger haben üblicherweise kein Interesse an der Inanspruchnahme von Sozialleistungen, und die Unionsbürgerschaftsrichtlinie erlaubt den Mitgliedstaaten, einen solchen Anspruch auch explizit auszuschließen (Art 24 II RL 2004/38).

b) Das Aufenthaltsrecht für mehr als drei Monate (Art 7 RL 2004/38) Das Recht, sich mehr als drei Monate im Hoheitsgebiet eines anderen Mitglied- 191 staats aufzuhalten, ist an die Bedingung geknüpft, dass der Unionsbürger für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufenthaltsmitgliedstaat verfügt. Was die ausreichenden Existenzmittel angelangt, genügt es, wenn der Unionsbürger, aus welchem Grund auch immer, faktisch darüber verfügt, wobei die Mittel auch von einem Dritten stammen können und zwischen dem Dritten und dem Unionsbürger keine spezifische rechtliche Verpflichtung bestehen muss.234 Die Mitgliedstaaten können eine Anmeldepflicht mit einer Frist von mindestens drei Monaten ab der Einreise festlegen. Die Verletzung dieser Vorschrift darf mit keinen unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Sanktionen geahndet werden (Art 8 RL 2004/38). Für die Familienangehörigen des Unionsbürgers wird eine Aufenthaltskarte verlangt.235 Die Mitgliedstaaten können für den Zeitraum bis zum Erwerb des Rechts auf 192 Daueraufenthalt das Recht auf Sozialhilfe oder auf Studienbeihilfen ausschließen (Art 24 II RL 2004/38). Der EuGH hat im Fall „Förster“ den Fünfjahreszeitraum für den Erwerb des Anspruchs auf Studienstipendien für unionsrechtskonform erklärt: Die von den Mitgliedstaaten geforderte Solidarität ist keine unbegrenzte. Von den Unionsbürgern kann, wenn sie einen Anspruch auf Sozialleistungen erwerben wollen, ein gewisses Maß an Integration verlangt werden und dieses kann durch das Erfordernis einer Mindestaufenthaltsdauer von bis zu fünf Jahren konkretisiert werden.

_____ 233 Art 6 RL 2004/38, ABL 2004 L 229/35 (berichtigte Fassung). 234 EuGH, Rs C-200/02 – Zhu und Chen sowie EuGH, Rs C-408/03 – Kommission / Belgien (im zuletzt genannten Fall wurde – unzulässigerweise – eine notarielle Vereinbarung mit einer Beistandsklausel verlangt). 235 Die formalen Voraussetzungen für die Ausstellung einer Aufenthaltskarte sind aufwändiger als jene für eine Aufenthaltsbescheinigung. Die Frist für die Antragstellung muss mindestens drei Monate ab der Einreise betragen. Die Karte muss innerhalb von sechs Monaten ab Beantragung ausgestellt werden. Peter Hilpold

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Der Antrag auf Sozialhilfe durch Unionsbürger vor Ablauf der Fünfjahresfrist kann zum Verlust der Aufenthaltserlaubnis führen, wobei dies aber keinen Automatismus darstellen darf.236

c) Das Recht auf Daueraufenthalt 194 Bei einem fünfjährigen rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalt er-

wirbt der Unionsbürger (sowie seine Familienangehörigen, auch wenn es sich um Drittstaatsangehörige handelt) das Recht auf Daueraufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat (Art 16 RL 2004/38).237 Dieses Recht wird von den Mitgliedstaaten durch die Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte bestätigt (Art 19 RL 2004/38). Mit dem Recht auf Daueraufenthalt erwirbt der Unionsbürger (sowie seine Fami195 lienangehörigen, auch wenn es sich um Drittstaatsangehörige handelt) das Recht auf Gleichbehandlung wie die Staatsbürger des Aufnahmemitgliedstaates. Eine Ausweisung ist nur mehr aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit möglich (Art 28 RL 2004/38).

d) Die Fortwirkung der Erwerbstätigeneigenschaft und die Verbindung von allgemeiner Freizügigkeit und wirtschaftlicher Freizügigkeit 196 In bestimmten Fällen wirkt die Erwerbstätigkeiteigenschaft auch nach der Beendigung der aktiven Tätigkeit fort. Dies ist bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit bei Krankheit oder Unfall, bei Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Berufstätigkeit, wenn sich der Betreffende den Arbeitsämtern zur Verfügung stellt und bei Beginn einer Berufsausbildung, die mit der früheren beruflichen Tätigkeit in Zusammenhang steht, der Fall. In diesen Fällen kommt der Unionsbürger weiterhin in den Genuss aller Vorrechte und sozialen Vergünstigungen, die für Wanderarbeitnehmer vorgesehen sind. In anderen Situationen kann der Unionsbürger seine Rechtsposition sowohl auf die allgemeine Freizügigkeit als auch auf die wirtschaftliche Freizügigkeit stützen und damit schon vor Ablauf von fünf Jahren umfassend berechtigt werden. Dies gilt gemäß Art 17 RL 2004/38 für Arbeitnehmer und Selbstständige, die im Aufenthaltsstaat das dort geltende gesetzliche Rentenal-

_____ 236 Der EuGH hat damit den in der Literatur beklagten Zwiespalt überwunden, wonach nach drei Monaten ein Anspruch auf Sozialleistungen entstehen, die Inanspruchnahme dieser Leistungen aber grundsätzlich die Voraussetzungen für den Aufenthalt hinfällig macht (vgl nur Schönberger ZAR 2006, 226 [230]). 237 In die Berechnung der fünf Jahre wird auch der rechtmäßige Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen vor Beitritt dieses Drittstaates einbezogen (so im Fall EuGH, verb Rs C-147/11 und C-148/11 – Czop und Punakova: Aufenthaltszeiten von polnischen Staatsbürgern vor dem 1.1.2004 werden für die Berechnung der Fünfjahresfrist mitberücksichtigt). Peter Hilpold

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ter erreichen, sowie Arbeitnehmer, die eine Vorruhestandsregelung in Anspruch nehmen und im Aufenthaltsstaat mindestens während der letzten zwölf Monate eine Erwerbstätigkeit ausgeübt haben und sich dort mindestens drei Jahre ununterbrochen aufgehalten haben. Bei Rentnern aufgrund einer Berufskrankheit oder eines Unfalls entfällt das Erfordernis einer Mindestaufenthaltsdauer.

e) Beschränkungen des Aufenthaltsrechts, Ausweisung Die Qualität des Aufenthaltsrechts, die, wie gezeigt, von der Natur des ausgeübten Freizügigkeitsrechts (wirtschaftliche Freizügigkeit vs allgemeine Freizügigkeit und im zuletzt genannten Fall von der Aufenthaltsdauer) abhängt, äußert sich auch in den Beschränkungsmöglichkeiten und im Extremfall in der Möglichkeit der Ausweisung. Grundsätzlich ist in all den beschriebenen Fällen eine Beschränkung des Rechts auf Freizügigkeit und auf Aufenthalt aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit möglich, wobei jedoch keine wirtschaftlichen Gründe vorliegen dürfen (Art 27 RL 2004/38). Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren, wobei ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein darf. Strafrechtliche Verurteilungen allein stellen noch keinen ausreichenden Gefahrenausweis dar. Generalpräventive Maßnahmen sind unzulässig. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Die Unionsbürgerrichtlinie trägt den Mitgliedstaaten auf, vor einer Ausweisung weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen, „insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Aufnahmemitgliedstaat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat“ (Art 28 I RL 2004/38). Sobald ein Unionsbürger das Recht auf Daueraufenthalt erworben hat, dürfen er und seine Angehörigen nur mehr aus „schwerwiegenden“ Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ausgewiesen werden (Art 28 II RL 2004/38). Nach einem zehnjährigen Aufenthalt und gegenüber Kindern ist eine Ausweisung schließlich nur mehr aus „zwingenden“ Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit zulässig (es sei denn, die Ausweisung ist, in Bezug auf Kinder, zu ihrem Wohle gemäß UN-Kinderrechtekonvention 1989 notwendig; Art 28 III RL 2004/38). Freizügigkeitsbeschränkungen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit sind nur bei Krankheiten mit epidemischem Potential zulässig. Bei Krankheiten, die erst nach drei Monaten nach der Einreise auftreten, ist eine Ausweisung nicht mehr zulässig, wohl aber kann, wenn es sich um eine Krankheit mit epidemischem Potential handelt, eine kostenlose Untersuchung angeordnet werden (Art 29 RL 2004/38). Peter Hilpold

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f) Aufenthaltsrechte von Familienangehörigen 203 Die Richtlinie 2004/38 gewährt den Familienangehörigen von Unionsbürgern spezi-

fische abgeleitete Aufenthaltsrechte. Handelt es sich bei den Familienangehörigen ebenfalls um Unionsbürger, so sind diese Rechte weiterreichend als im Falle von Drittstaatsangehörigen. Gemäß Art 12 dieser Richtlinie berührt der Tod des Unionsbürgers oder sein Wegzug aus dem Aufnahmemitgliedstaat nicht das Aufenthaltsrecht seiner Familienangehörigen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen. Verfügen die Familienangehörigen nicht über eine solche Staatsangehörigkeit so behalten sie das Aufenthaltsrecht, wenn sie sich vor dem Tod des Familienangehörigen zumindest ein Jahr in dem betreffenden Land aufgehalten haben. Bei Wegzug oder Tod des Unionsbürgers können seine Kinder bis zum Ab204 schluss ihrer Ausbildung – gemeinsam mit dem Elternteil, der die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt – verbleiben. Die Beendigung der Ehe oder der Partnerschaft eines Unionsbürgers beendet 205 nicht das Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen, die ebenfalls Unionsbürger sind (Art 13 RL 2004/38). Handelt es sich bei den Familienangehörigen dagegen um Drittstaatsangehörige, so ist das Verbleiberecht an bestimmte Bedingungen geknüpft (mindestens dreijährige Ehe oder Partnerschaft, davon mindestens ein Jahr im Aufenthaltsstaat, Übertragung des Sorgerechts für die Kinder des Unionsbürgers, Vorliegen besonders schwieriger Umstände wie etwa bei Opfern häuslicher Gewalt). In all diesen Fällen bleibt das Aufenthaltsrecht aber bis zum Erwerb des Dau206 eraufenthaltsrechts an die generellen Aufenthaltsbedingungen (Nachweis ausreichender Existenzmittel, umfassender Krankenversicherungsschutz oder Nachweis, dass sie bereits im Aufnahmemitgliedstaat als Familienangehörige einer Person gelten, die diese Voraussetzungen erfüllen) gebunden.

7. Freizügigkeit, soziale Vergünstigungen, Integration im Aufnahmemitgliedstaat 207 Ebenso wie die Freizügigkeit der Wanderarbeitnehmer eröffnet grundsätzlich

auch die allgemeine Freizügigkeit nach Art 21 AEUV den Zugang zu den sozialen Vergünstigungen im Aufnahmemitgliedstaat. Die Verknüpfung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts mit dem Diskriminierungsverbot gemäß Art 18 AEUV (durch den Vertrag von Lissabon auch in der Vertragssystematik deutlich zum Ausdruck gebracht) durch die EuGH-Rechtsprechung hat die Freizügigkeit zum zentralen Ansatzpunkt für die unionsweite Berechtigung des Unionsbürgers nach Maßgabe des Gleichheitsgrundsatzes gemacht. Der Zugang zu den sozialen Vergünstigungen bleibt aber dennoch ein abgestufter. Die Freizügigkeit der Unionsbürger war nämlich keineswegs Grundlage für eine Vollintegration. Sie nähert sich dieser allein im Zeitablauf an, wobei die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit diesen Prozess beschleunigt. Das Ausmaß der vom Aufnahmemitgliedstaat geforderten Solidarität in Abhängigkeit vom Grad der Integration im Aufnahmemitgliedstaat wurde durch Peter Hilpold

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eine umfangreiche und nicht immer konsistente EuGH-Rechtsprechung näher bestimmt. Diese Rechtsprechung wurde durch die Unionsbürgerrichtlinie 2004/38 in zentralen Bereichen übernommen und systematisiert, wobei aber nach wie vor zahlreiche Fragen offen bleiben. Insbesondere bleiben die Grenzen mitgliedstaatlicher Solidarität unklar. Diese Solidaritätsverpflichtung pendelt zwischen zwei Extremen: Auf der einen Seite sollen wirtschaftliche Gesichtspunkte keine Rechtfertigung für die Verweigerung der Anwendung des Diskriminierungsverbots darstellen, andererseits muss sichergestellt werden, dass eine ausufernde Inanspruchnahme der Leistungen anderer Mitgliedstaaten die Finanzierbarkeit der betreffenden Leistung durch die Mitgliedstaaten nicht insgesamt gefährdet.238 In Zusammenhang mit der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Ge- 208 sundheitsleistungen wurde ein möglicher Ansatz vorgezeichnet, über welchen diese Problematik sachgerecht gelöst werden könnte: Führt der damit verbundene freie Dienstleistungsverkehr zu einer erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit, so kann gemäß der „Kohll“ / „Vanbraekel“-Rechtsprechung“ ein zwingender Grund des Allgemeininteresses vorliegen, der entsprechende Beschränkungen erlaubt.239 Es ist allerdings zu beachten, dass der EuGH noch niemals das Vorliegen der Voraussetzungen dieser Rechtsprechung festgestellt hat.240 Im Besonderen gilt dies auch für den Bildungsbereich. Gegenüber einer An- 209 wendung der „Kohll“ / „Vanbraekel“-Rechtsprechung auf diesen Bereich – und damit gegenüber der Berücksichtigung von wirtschaftlichen Gesichtspunkten beim Zugang der Unionsbürger zu Bildungsdienstleistungen – haben sich die GA Jacobs und Sharpston grundsätzlich sehr kritisch geäußert.241 Sucht man Möglichkeiten für die Mitgliedstaaten, die Nutzung von Ausbil- 210 dungsleistungen durch Unionsbürger zu beschränken, so sind solche somit primär im medizinisch-gesundheitlichen Bereich (potentiell) gegeben. Dazu

_____ 238 Zum Solidaritätsgrundsatz im EU-Recht s Hilpold YEL 2015, 257. 239 EuGH, Rs C-158/96 – Kohll, Rn 41; Rs C-368/98 – Vanbraekel, Rn 46 ff. 240 Was den Bereich der Gesundheitsleistungen anbelangt, ist mittlerweile die EU-Patientenrichtlinie (RL 2011/24, ABl 2011 L 88/45) in Kraft getreten (Umsetzungsfrist: 25. Oktober 2013). Durch diese soll einerseits die EU-weite Patientenmobilität sichergestellt werden, damit den Patienten die bestmögliche Gesundheitsversorgung gewährt werden kann und auch ein verstärkter Wettbewerb im Bereich der Gesundheitsleistungen Platz greift. Andererseits soll aber auch Sozialtourismus verhindert werden, weshalb gleichzeitig die Verpflichtung zur Kostenerstattung durch den Versicherungsmitgliedstaat eingeführt wurde. Um wiederum eine exzessive Ausweitung der Gesundheitskosten im Versicherungsmitgliedstaat zu verhindern, wurde die Kostenerstattungspflicht auf jene Gesundheitsleistungen beschränkt, auf welche der Versicherte nach den Rechtsvorschriften des Versicherungsmitgliedstaats Anspruch hat. 241 Die betreffende Argumentation überzeugt aber nicht. Vgl Hilpold EuZW 2010, 471 (472). Peter Hilpold

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muss der Nachweis erbracht werden, dass die Qualität des öffentlichen Gesundheitssystems auf dem Spiel steht. Die Aufrechterhaltung einer qualitativ hochwertigen, ausgewogenen und allgemein zugänglichen medizinischen Versorgung kann ein legitimes Ziel darstellen, das als zwingendes Erfordernis des Allgemeininteresses Beschränkungen der Grundfreiheiten im Sinn einer mittelbaren Diskriminierung erlauben kann. Zusammenfassend kann zu diesem Punkt somit festgehalten werden, dass der EuGH den unionsweiten Hochschulzugang der Unionsbürger strikt verteidigt hat und wirtschaftliche Gesichtspunkte für eventuelle Beschränkungen bislang nicht hat gelten lassen. Der Bildungsbereich wurde, auch aufgrund seiner ideellen Funktion für die Formung der europäischen Identität, für den EuGH zu einer der wichtigsten Äußerungsformen der mit der Freizügigkeit der Unionsbürger verbundenen Rechtsansprüche. Dementsprechend hat er bislang Beschränkungen aus wirtschaftlichen Erwägungen nicht zugelassen und der Solidaritätsverpflichtung der Mitgliedstaaten damit keine Grenzen gesetzt. Nur dort, wo diese uneingeschränkte Freizügigkeit einen anderen zentralen Anspruch der Unionsbürger, jenen auf Gesundheit, der ebenfalls eine starke grundrechtliche Konnotation aufweist, gefährden könnte, scheint er gewillt zu sein, Beschränkungen unter strengen Auflagen zuzulassen. Besonders kontrovers diskutiert wurde die Frage des Hochschulzugangs der Unionsbürger und ihr Anspruch auf Stipendien. Diese Thematik steht – neben jener des Hochschulzugangs – im Mittelpunkt der Bildungsrechtsprechung des EuGH.242 Die Liberalisierung des Hochschulzugangs wurde schon in den 1980er Jahren betrieben und bis in die Gegenwart fortgeführt. Studiengebühren für berufsqualifizierende Studien, die allein EU-Ausländer treffen, sind seit Gravier243 untersagt. Seit dem Vertrag von Maastricht ist diesbezüglich keine Unterscheidung mehr zwischen allgemeinbildenden und berufsbildenden Studien vorzunehmen244 und die „Gravier“-Doktrin gilt generell. Nach der „Lair“- und „Brown“-Rechtsprechung245 haben Unionsbürger Anspruch auf Gleichbehandlung in Bezug auf Förderungen, die sich auf die Studiengebühren beziehen, nicht aber im Bereich der Zuschüsse für den Lebensunterhalt. Seit „Dany Bidar“246 schien auch diese Unterscheidung nicht mehr zu gelten, doch wurde – wie gezeigt – mit „Förster“247 in Bezug auf Unterhaltsstipendien die Möglichkeit eingeräumt, die Forderung nach einer gewissen Integration

_____ 242 Vgl Odendahl/Hilpold S 147. 243 EuGH, Rs 293/83 – Gravier. 244 Dabei war schon zuvor, seit EuGH, Rs 24/86 – Blaizot, der Hochschulbereich zur beruflichen Ausbildung gezählt worden. Vgl Hilpold Bildung S 88. 245 EuGH, Rs 39/86 – Lair und Rs 197/86 – Brown. 246 EuGH, Rs C-209/03 – Bidar. 247 EuGH, Rs C-158/07 – Förster. Peter Hilpold

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in den Aufenthaltsstaat zu erheben, wozu auch eine zumindest fünfjährige Ansässigkeit zählen kann. Erst in den letzten Jahren zeigt sich somit eine gewisse Bereitschaft der EU- 215 Institutionen (EuGH und Kommission), Grenzen der Solidarität in diesem Bereich anzuerkennen. Die Öffnung gegenüber den Bedürfnissen einzelner Mitgliedstaaten, die vom Zustrom von Studierenden aus benachbarten EU-Mitgliedstaaten besonders betroffen sind, reicht bislang noch nicht so weit, dass die Grenzen der mitgliedstaatlichen Kapazitäten generell anerkannt würden. Mit anderen Worten: Die EU sah in der Ausbildungskapazität, die durch die mitgliedstaatlichen Universitäten im jeweiligen Land bereitgestellt wird, volkswirtschaftlich betrachtet, lange Zeit ein öffentliches Gut, wonach „Nichtrivalität im Konsum“ vorherrschen würde.248 Danach könnten die EU-Mitgliedstaaten ihre Hochschulen ohne nennenswerte Zusatzkosten für Unionsbürger unbeschränkt öffnen. Dem EuGH schwebt dabei eine vollständige und reibungslose Mobilität der Arbeitskräfte vor Augen: Wo Bedarf an einer bestimmten Leistung besteht, wird sie von Unionsbürgern, unabhängig von ihrer Sprache und nationalen Herkunft, erfüllt werden. Die Realität ist jedoch eine andere und dies beginnt die EU in einem besonders ausbildungsintensiven Bereich, dem medizinischen, der gleichzeitig von hoher gesellschaftlicher Relevanz ist, einzusehen. Im Falle „Bressol“ hat der EuGH Bereitschaft gezeigt, Zugangsbeschränkungen für EU-Ausländer zu akzeptieren (und damit Einschränkungen der Freizügigkeit der Unionsbürger zuzulassen), wenn diese für die Sicherstellung einer hohen Qualität des öffentlichen Gesundheitssystems erforderlich erscheinen. Dafür müssen aber – wie gezeigt – sehr hohe Ansprüche erfüllt werden. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde der EU die Zuständigkeit eingeräumt, 216 Maßnahmen im Bereich der sozialen Sicherheit oder des sozialen Schutzes zu erlassen (Art 21 III AEUV), um Beschränkungen des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts durch Maßnahmen der Mitgliedstaaten in diesem bislang den Mitgliedstaaten vorbehaltenen Bereich entgegen zu wirken. Da hier Kernbereiche mitgliedstaatlicher Souveränität betroffen sind, ist für eine Beschlussfassung (neben der Zustimmung des EP) Einstimmigkeit im Rat vorgesehen. Gleiches gilt für die Ausweispflichten (Pässe, Personalausweise, Aufenthaltsti- 217 tel oder diesen gleichgestellte Dokumente): Auch dieser Bereich fiel in der Vergangenheit in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten während die EU nunmehr, seit dem Vertrag von Lissabon, in diesem Bereich (wiederum mit Einstimmigkeit im Rat) tätig werden kann, wenn dies zur Erleichterung des Freizügigkeits- und auf Aufenthaltsrechts erforderlich erscheint (Art 77 III AEUV).249

_____ 248 Soweit ein untragbares Überfüllungsproblem auftrete, empfiehlt GA Sharpston, Rs C-73/08 – Bressol in ihren Schlussanträgen (Nr 104 f) allgemeine, nichtdiskriminierende Zugangsbeschränkungen und gesteht damit der EU einen weitreichenden Eingriff in die mitgliedstaatliche Bildungsplanung zu. 249 Vgl zu diesen Ausnahmen auch Lenz/Borchardt/Kaufmann-Bühler Art 21 AEUV Rn 13 f. Peter Hilpold

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8. Wahlrechte der Unionsbürger250 a) Das Kommunalwahlrecht 218 Die Einräumung von Wahlrechten für Unionsbürger stellte seit den ersten Bemühungen zur inhaltlichen Konkretisierung dieses Konzepts eine der Hauptforderungen dar. So findet sich der Vorschlag für die Schaffung eines Kommunalwahlrechts sowohl im Tindemanns-Bericht 1976 als auch im Bericht der AdonninoKommission 1985. Mit der Einführung der Unionsbürgerschaft im Vertrag von Maastricht wurde diese Forderung Wirklichkeit. Näher spezifiziert wurde dieses Recht in der Richtlinie 94/80 vom 19.12.1994 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und des passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen.251 Für die Umsetzung dieser Richtlinie war in einigen Mitgliedstaaten eine Verfassungsänderung erforderlich. Die Einführung dieses Wahlrechts erfüllt eine Vielzahl an Funktionen: Sie stärkt die politischen Rechte der Unionsbürger,252 sie kräftigt die Unionsbürgeridentität und sie fördert die Wahrnehmung des Rechts auf Freizügigkeit, da der Unionsbürger dadurch im Vollbesitz seiner politischen Rechte verbleibt.253 Es war von Anbeginn klar, dass die Einführung politischer Rechte zugunsten der Unionsbürger integrationspolitisch heikel war, da dadurch mögliche Konfliktpunkte mit zentralen Elementen der mitgliedstaatlichen Souveränität geschaffen wurden. Art 22 AEUV sowie die Richtlinie 94/80 suchen deshalb nach einem Kompromiss zwischen diesen verschiedenen Zielen und Ansprüchen. Auffallend ist, dass den Unionsbürgern ein Wahlrecht nur auf der untersten politischen Ebene, eben der „Kommune“ eingeräumt worden ist. Dies lässt sich damit erklären, dass die Belange, die auf dieser Ebene entschieden werden, von größter unmittelbarer Relevanz für die Unionsbürger im EUAusland sind, dass diese Entscheidungen gleichzeitig auf gesamtstaatliche politische Prozesse des Aufenthaltsstaates und damit letztlich auf seine Identität den geringsten Einfluss nehmen. Angesichts der Sensibilität dieser Materie ist eine Ausweitung der Wahlrechte auf eine höhere Ebene (im Extremfall auf die nationale Ebene) nicht zu erwarten. So sticht ins Auge, dass die auf völkerrechtlicher Ebene unternommenen Versuche einer Ausweitung politischer Rechte auf Ausländer bislang auf wenig Unterstützung gestoßen sind. So wurde die Europarats-Konvention über die Beteiligung von Ausländern am kommunalen

_____ 250 Haag FS Roland Bieber, 2007, S 137. 251 ABl 1994 L 368/38. 252 Zuvor hatten die Unionsbürger vielfach ihr Kommunalwahlrecht in ihrer Heimatgemeinde verloren, während sie von einer politischen Partizipation am neuen Aufenthaltsort ausgeschlossen waren. 253 vBogdandy/Bast/Kadelbach S 628. Peter Hilpold

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Leben254 bislang nur von acht Staaten, darunter fünf EU-Mitgliedstaaten, ratifiziert.255 Das Kommunalwahlrecht findet Anwendung auf „lokale Gebietskörperschaften der Grundstufe“, die im Anhang zur Richtlinie für jeden Mitgliedstaat mit der jeweiligen rechtlichen Bezeichnung angeführt werden. Unter „Kommunalwahlen“ werden die allgemeinen unmittelbaren Wahlen verstanden, die darauf abzielen, die Mitglieder der Vertretungskörper zu bestimmen. Damit fallen also Volksbefragungen, Referenden uä nicht unter diese Regelung; Unionsbürger haben diesbezüglich keinen Anspruch auf Teilnahme. Was das passive Wahlrecht anbelangt, so können die Mitgliedstaaten bestimmen, dass dieses Unionsbürgern für die Ämter des Leiters des Exekutivorgans, seines Vertreters oder eines Mitglieds des leitenden kollegialen Exekutivorgans einer lokalen Gebietskörperschaft der Grundstufe verwehrt bleibt. Wie auch in anderen Bereichen des Zusammenwirkens von Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht gilt: Je ausgeprägter die Mitwirkungsrechte an der hoheitlichen Gewalt sind, desto größer ist der mitgliedstaatliche Gestaltungsspielraum. Die Ausgestaltung des aktiven und passiven Kommunalwahlrechts für Unionsbürger orientiert sich grundsätzlich an den für die Staatsbürger geltenden Vorschriften.256 So kann der Wohnsitzstaat eine bestimmte Mindestwohnsitzdauer für die Ausübung dieses Rechts vorschreiben,257 wodurch ein effektiver Nahebezug zur jeweiligen kommunalen Realität sichergestellt werden soll. Die effektive Wahrnehmung des Wahlrechts setzt eine entsprechende Willensbekundung durch den Unionsbürger im Wohnsitzmitgliedstaat voraus.258 Der Unionsbürger, der sich in die Wählerverzeichnisse des Wohnsitzstaates eintragen lässt, hat uU auch einer Wahlpflicht Rechnung zu tragen.259 Eine Doppelwahlberechtigung ist, anders als bei den Europawahlen, möglich, doch können die Mitgliedstaaten diese ausschließen. Nur für den Fall, dass die Zahl der Unionsbürger im Wahlalter 20% der Wohnsitzbevölkerung in einem Mitgliedstaat übersteigt, können die Mitglied-

_____ 254 Europarat, SEV Nr 144 (5.2.1992). 255 Dabei hat Italien im Übrigen erklärt, diese Konvention gerade nicht auf das Kommunalwahlrecht anzuwenden. Vgl Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Giegerich S 338 (358 f.). Giegerich bezeichnet Kommunalwahlen, international betrachtet, als „relativ unwichtig“ und erinnert daran, dass diese gemäß der EGMR-Rechtsprechung nicht unter die Wahlrechtsgarantie des Art 3 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK fallen. Ebd S 358. 256 Art 3 lit b RL 94/80, ABl 1994 L 368/38. 257 Art 4 RL 94/80, ABl 1994 L 368/38. 258 Art 7 RL 94/80, ABl 1994 L 368/38. 259 Art 7 II RL 94/80, ABl 1994 L 368/38. Nur dann, wenn keine Wahlpflicht besteht, ist eine amtswegige Eintragung der Unionsbürger in die Wählerverzeichnisse zulässig (Art 7 III der RL). Peter Hilpold

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staaten weitergehende Beschränkungen (längere Mindestaufenthaltsdauer, die nicht für Staatsbürger vorgesehen ist) einführen.260 Von dieser Möglichkeit hat Luxemburg Gebrauch gemacht. Das passive Kommunalwahlrecht beschränkt sich nicht allein auf das Recht auf 224 eine Kandidatur, sondern setzt einmal das Recht auf eine gleichberechtigte Teilnahme am Wahlkampf voraus und bedingt überdies das Recht auf eine wirksame Mandatsausübung.261

b) Das aktive und passive Wahlrecht zum Europaparlament 225 Art 22 II AEUV sowie die dazu ergangene Durchführungsbestimmung (die sog Euro-

pawahl-RL 93/109262) ergänzen das Direktwahlrecht aus 1976,263 durch das erstmals die Direktwahl des Europäischen Parlaments ermöglicht wurde, das aber noch keine Regelungen zum aktiven und passiven Wahlrecht enthält. Die meisten Mitgliedstaaten gewährten diese Rechte allein den eigenen Staatsbürgern. Nach wie vor garantieren die Bestimmungen zum aktiven und passiven Wahl226 recht keine einheitliche europäische Volksvertretung, sondern das Europäische Parlament bleibt in vielerlei Hinsicht mitgliedstaatlich kompartimentalisiert.264 Die genannten Bestimmungen zum Wahlrecht der Unionsbürger für das Europäische Parlament versuchen, die betreffenden Trennlinien zumindest ansatzweise zu überwinden. Unionsbürger mit Wohnsitz in anderen Mitgliedstaaten sollen gleichberechtigt wie die eigenen Staatsbürger das aktive und das passive Wahlrecht zum Europäischen Parlament ausüben. Ein Doppelwahlrecht ist – anders als im Zusammenhang mit dem Kommunalwahlrecht – ausgeschlossen, um eine Doppelzählung zu vermeiden. Die Wahrnehmung des aktiven Wahlrechts im Wohnsitzstaat setzt eine spezifische Erklärung gemäß Art 8 der Europawahl-RL 93/109 voraus. Für die Wahrnehmung des passiven Wahlrechts ist die Vorlage einer entsprechenden Bescheinigung durch den Herkunftsmitgliedstaat erforderlich. Im Übrigen orientieren sich die Bestimmungen der Europawahl-RL weitgehend an jenen der Kommunalwahl-RL 94/80 (bspw was die Ausgestaltung des Wahlrechts bzw die Ermöglichung einer Ausnahme von der Inländergleichbehandlung für den Fall anbelangt, dass der Anteil der Unionsbürger im Wahlalter mehr als 20% der Gesamtbevölkerung ausmacht).265 Ein nicht unbedeutender mitgliedstaatlicher Gestaltungsspielraum besteht in diesem Bereich aber insoweit, als die einzelnen Mitgliedstaaten das

_____ 260 261 262 263 264 265

Art 12 RL 94/80, ABl 1994 L 368/38. Schwarze/Hatje Art 22 AEUV Rn 13. ABl 1993 L 329/34. ABl 1976 L 278/1 idF des Beschlusses 2002/772. So Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Kadelbach S 338 (364). Streinz/Magiera Art 22 AEUV Rn 29. Peter Hilpold

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Wahlrecht zum Europaparlament auch auf Personen ausdehnen können, die Drittstaatsangehörige sind, aber in einer Nahebeziehung zum jeweiligen Mitgliedstaat stehen bzw das Wahlrecht für bestimmte Staatsbürger ausschließen können, die ihren Wohnsitz in den in Anhang II angeführten Überseegebieten haben.266

9. Das diplomatische und das konsularische Schutzrecht267 Die in Art 23 AEUV enthaltene und mit dem Vertrag von Maastricht eingeführte Re- 227 gelung zum diplomatischen und konsularischen Schutzrecht ist auf EU-Ebene völlig innovativ und auch auf völkerrechtlicher Ebene einzigartig. Im Zuge der Arbeiten am Konzept der Unionsbürgerschaft wurde zutreffend er- 228 kannt, dass in der Zuerkennung diplomatischen und konsularischen Schutzes durch andere Mitgliedstaaten im Ausland ein besonderer Beitrag zur Herausbildung einer europäischen Identität erbracht werden kann.268 Mit dem Vertrag von Maastricht wurde in Art 8c EGV (nunmehr Art 23 AEUV) die diesbezügliche Rechtsgrundlage geschaffen. Wichtige Ausführungsbestimmungen ergingen in den Jahren 1995 und 1996.269 Dabei haben die Mitgliedstaaten das Konzept des diplomatischen

_____ 266 Schwarze/Hatje Art 22 AEUV Rn 19. In Bezug auf Gibraltar wurden Fragen des Wahlrechts zum EU-Parlament zweimal streitanhängig. Gibraltar ist eine Kolonie Großbritanniens und gehört nicht zum Vereinigten Königreich. Ursprünglich wurden auf Gibraltar keine Wahlen zum Europäischen Parlament abgehalten. Darin wurde allerdings im Urteil Matthews v 18.2.1999 des EGMR (EGMR, Matthews vs the United Kingdom – 24833/94 [Große Kammer]) ein Verstoß gegen Art 3 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK gesehen. Daraufhin dehnte Großbritannien das aktive und passive Wahlrecht zum EU-Parlament auch auf die Wohnbevölkerung Gibraltars aus, und zwar nicht nur auf Unionsbürger, sondern auch – gemäß den generellen wahlrechtlichen Bestimmungen in Großbritannien – auf Bürger des Commonwealth, die keine Unionsbürger sind (soweit diese bestimmte Zusatzbedingungen erfüllen – sog „qualifying Commonwealth citizen“ – QCC). Dagegen klagte Spanien vor dem EuGH. Der EuGH stellte aber fest, dass es den Mitgliedstaaten frei stünde, das aktive und passive Wahlrecht auch Drittstaatsangehörigen zuzuerkennen. In EuGH, Rs C-300/04 – Eman und Sevinger hat der EuGH in einer niederländischen Bestimmung, die den niederländischen Staatsbürgern mit Wohnsitz auf Aruba, einem überseeischen Territorium, das Wahlrecht zum Europäischen Parlament verweigerte, einen Verstoß gegen das EU-Recht aufgrund der Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes (Niederländer mit Wohnsitz in anderen ausländischen Gebieten behielten ihr Wahlrecht) gesehen (vgl auch Blanke/Mangiameli/Borgmann-Prebil/Ross Article 9 TEU Rn 44). 267 Heselhaus/Nowak/Bungenberg S 1296; Saliceti EPL 2011, 91 ff; Storost ZEuS 2010, 241 ff. 268 Vgl dazu insbesondere den Schlussbericht des Adonnino-Ausschusses aus 1985, BullEG, Beilage 7/1985, S 22. 269 Vgl den Beschluss der im Rat vereinigten Vertreter der Mitgliedstaaten 95/553, ABl 1995 L 314/75 (der generell die Umsetzung dieser Materie regelte) und 96/409, ABl 1996 L 168/4 (über den sog „Rückkehrausweis“, wenn die Reisedokumente abhandengekommen sind). Im Anschluss an die Tsunami-Katastrophe in Südostasien vom Dezember 2004 wurden weiters die rechtlich nicht verbindlichen Leitlinien für den konsularischen Schutz der Unionsbürger in Drittländern (Rat, Dok 10109/06, 2. Juni 2006) und für die Umsetzung des Konzepts des federführenden Mitgliedstaats bei Peter Hilpold

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und konsularischen Schutzes durchgehend eng interpretiert. Mit dem Vertrag von Lissabon hat der Rat die Kompetenz erlangt, auf der Grundlage eines besonderen Gesetzgebungsverfahrens und nach Anhörung des EP Richtlinien zur Erleichterung des diplomatischen und konsularischen Schutzes der Unionsbürger in Drittländern zu erlassen (Art 23 II AEUV). Art 23 AEUV regelt den diplomatischen und konsularischen Schutz von Unions229 bürgern in Drittstaaten, in denen der Heimatstaat (der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt) nicht vertreten ist. Das Konzept des diplomatischen und konsularischen Schutzes ist – auf völker230 rechtlicher Ebene – ein sehr weitreichendes. So versteht man unter diplomatischem Schutz „den repressiven oder präventiven Schutz natürlicher und juristischer Personen gegenüber völkerrechtswidrigen Handlungen einer fremden Hoheitsgewalt durch den Heimatstaat“. 270 Diplomatischer Schutz setzt die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges voraus und wird idR erst nach sorgsamen Abwägungen durch die Regierung gewährt, da solche Schutzmaßnahmen zu internationalen Verstimmungen führen können.271 Diplomatischer Schutz ist nicht alleinige und nicht einmal primäre Aufgabe der diplomatischen Vertretungen. Diese pflegen stattdessen in erster Linie die bilateralen Kontakte zwischen Entsende- und Empfangsstaat. Die konsularischen Einrichtungen haben hingegen eine Vielzahl an Aufgaben, zu welchen einerseits die Entwicklung der wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen zwischen dem Entsendestaat und dem Empfangsstaat sowie die Information des Entsendestaates über die Verhältnisse im Empfangsstaat zählen, andererseits aber auch der Schutz der Angehörigen des Entsendestaates, einschließlich der Vertretung bei Gerichten und Behörden.272 Es ist mehr als fraglich, ob sich Art 23 AEUV umfassend auf beide Regelungs231 bereiche bezieht. Dazu muss gar nicht erst der sog „institutionelle Interpretationsansatz“ bemüht werden, wonach in verschiedenen Sprachfassungen der Verträge, nunmehr aber auch in Art 46 der deutschsprachigen Fassung der GRCh, nicht auf den diplomatischen und konsularischen Schutz im Allgemeinen abgestellt wird, sondern auf den Schutz durch die jeweiligen Stellen oder Behörden, was eine Einschränkung auf einen reduzierten materiellen Schutzgehalt zuließe.273 Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass dieser Schutz nicht in Konkurrenz tritt zum diplomati-

_____ der konsularischen Zusammenarbeit (Rat, ABl 2008 C 317/6) erlassen. Vgl Streinz/Magiera Art 23 AEUV Rn 17. 270 Ipsen/Epping/Gloria S 337 Rn 31. 271 Im Allgemeinen gewähren die Staaten deshalb keinen Rechtsanspruch auf diplomatischen Schutz. 272 Ipsen/Fischer S 608 Rn 5. 273 Vgl ausführlich Calliess/Ruffert/Kluth Art 23 AEUV Rn 7 ff. Peter Hilpold

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schen und konsularischen Schutzrecht der jeweiligen Heimatstaaten, sondern subsidiären Charakter aufweist und primär Abhilfe für akute Notlagen schaffen soll. Dies ergibt sich mittlerweile auch eindeutig aus der RL 2015/637 über Koordinierungs- und Kooperationsmaßnahmen zur Erleichterung des konsularischen Schutzes von nicht vertretenen Unionsbürgern in Drittländern und zur Aufhebung des Beschlusses 95/553/EG.274 Diese nimmt allein auf den konsularischen Schutz Bezug und führt bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs in Art 9 exemplarisch eine Reihe von Sachverhalten an, die traditionell typischerweise unter den konsularischen Schutz fallen. Danach kann der konsularische Schutz Hilfestellung ua in folgenden Situationen umfassen: a) bei Festnahme oder Haft, b) als Opfer einer Straftat, c) bei einem schweren Unfall oder einer schweren Erkrankung, d) bei einem Todesfall, e) bei der Unterstützung und Rückführung in Notfällen, f) bei Bedarf an einem Rückkehrausweis gemäß Beschluss 96/409/GASP. Komplexere Schutzanliegen der Unionsbürger (bspw bei Enteignungen, dem histo- 232 risch wohl wichtigsten Anwendungsfall des diplomatischen Schutzes) können kaum anderen Mitgliedstaaten überantwortet werden, da diese schwierige politische Abwägungen bedingen. Diplomatischer Schutz wird zudem häufig – was oft übersehen wird – nicht durch die diplomatischen Vertretungen ausgeübt, sondern durch die Zentralregierung. Ein Rückgriff auf diplomatische Vertretungen anderer Mitgliedstaaten ist somit nicht erforderlich. Eng damit zusammen hängt die Frage, wer in den Genuss dieses Schutzes kommen kann. Vom Vertragswortlaut her spricht nichts Grundsätzliches dagegen, diesen Schutz nicht nur natürlichen Personen, sondern auch juristischen Personen zukommen zu lassen. Es würde andererseits aber wenig Sinn machen, komplexe Wirtschaftsinteressen von diplomatischen Einrichtungen anderer Mitgliedstaaten vertreten zu lassen. Die Natur des Schutzbedarfs von natürlichen und juristischen Personen ist grundverschieden: Während der Unionsbürger als Tourist oder auf einer Kurzreise in eine Notlage geraten und spontan Hilfe benötigen kann, ist die Tätigkeit von Unternehmen im Ausland regelmäßig durch eine Konstanz der Wirtschaftsbeziehungen oder gar durch eine Niederlassung gekennzeichnet und in diesem Fall ist auch eine Anrufung von zentralen Stellen bei Bedarf zumutbar. Dennoch sind aber Fälle denkbar, in denen sich ein Unternehmen in einer Situation befindet, die mit jener eines Unionsbürgers als natürliche Person vergleichbar ist. In diesen Fällen sollte auch solchen Unternehmen der Zugang zum diplomatischen und konsularischen Schutz nicht verwehrt werden.

_____ 274 ABl 2015 L 106/1. Peter Hilpold

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Umstritten war ursprünglich auch, ob Art 23 AEUV allein dann greift, wenn ein Mitgliedstaat in einem Drittstaat nicht vertreten ist oder ob es ausreicht, dass die betreffende diplomatische oder konsularische Vertretung nicht erreichbar ist. Dieser zuletzt genannten Auslegung war, gerade weil es um den effektiven Schutz der Unionsbürger geht, von Anfang an der Vorrang zu geben, und diese Lösung ist auch durch Art 6 der RL 2015/637 bestätigt worden: Ein MS gilt nicht nur dann in einem Drittland als nicht vertreten, wenn er dort keine Botschaft, kein Konsulat oder keinen Honorarkonsul hat, sondern auch dann, wenn in einem konkreten Fall kein konsularischer Schutz gewährt werden kann. Der Regelung zum „diplomatischen und konsularischen Schutz“ gemäß Art 23 234 AEUV kommt somit ein eigenes Begriffsverständnis zu, in dessen Mittelpunkt die Bedürfnisse des Unionsbürgers zu rücken sind und wobei gleichzeitig zu beachten ist, dass Staaten bei der Ausübung weitergehender Schutzanliegen häufig sehr zurückhaltend sind. Bekanntlich werden die Grenzen zwischen der diplomatischen und der kon235 sularischen Tätigkeit immer undeutlicher. Immer häufiger übernehmen die Botschaften auch konsularische Funktionen, und innerhalb der konsularischen Tätigkeiten erwachsen dem Einzelnen subjektive Rechte.275 Es ist dieser Kernbereich konsularischer Aktivitäten, der für Einzelpersonen (Unionsbürger) besondere Relevanz entfalten kann. In diesem Sinne wird die Einschränkung des Anwendungsbereichs des Art 23 AEUV auf den Kernbereich konsularischer Tätigkeiten, unter besonderer Schwerpunktsetzung auf Dringlichkeitsfälle, der Funktion dieser Bestimmung als Konkretisierung der Unionsbürgerrechte insbesondere im Rahmen der Ausübung des Freizügigkeitsrechts durchaus gerecht. Unter Zugrundelegung dieser Auslegung des Art 23 AEUV verliert auch die in 236 der Literatur intensiv geführte Diskussion, inwieweit tatsächlich von einem Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz gesprochen werden kann, an Relevanz. Bekanntlich gibt es keinen völkerrechtlichen Anspruch des Einzelnen auf diplomatischen Schutz; allenfalls kann die nationale Rechtsordnung einen solchen Schutz vorsehen, doch stellt eine solche Regelung einen absoluten Ausnahmefall dar. Art 23 AEUV gebietet allerdings Gleichbehandlung zwischen eigenen Staatsbürgern und Unionsbürgern und diese kann gerade wenn der Schutzumfang wie hier ausgelegt wird, auch ohne Probleme gewährt werden.276

_____ 275 In diesem Zusammenhang ist insbesondere der LaGrand-Fall zu erwähnen. In diesem vom IGH 2001 entschiedenen Streitfall zwischen Deutschland und den USA (IGH, LaGrand [Germany vs United States of America], Judgment, I.C.J. Reports 2001, p 466) hat dieses Gericht erstmals festgestellt, dass die Konsularrechtskonvention aus 1963, ein völkerrechtlicher Vertrag, eine Bestimmung (Art 36 I) enthält, die subjektive Rechtsansprüche für Einzelpersonen begründet. 276 In diesem Sinne auch bereits der Beschluss 95/553/EG der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, Art 3: „Die diplomatischen und konsularischen Vertretungen, die Peter Hilpold

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Außer bei absoluten Notfällen dürfen keine finanziellen Vorleistungen oder Hilfen gewährt werden, es sei denn, es liegt eine Genehmigung des Außenministeriums des Heimatstaates oder der nächstgelegenen diplomatischen Vertretung vor.277 Verfügt der Unionsbürger über die Staatsbürgerschaft mehrerer Mitgliedstaaten, so kann er sich um den konsularischen oder diplomatischen Schutz irgendeines dieser Staaten bemühen. Verfügt er über die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates und über jene des Drittstaates, gegen welchen er Schutz begehrt, so können sein Heimatstaat oder ein anderer EU-Mitgliedstaat nur dann Hilfestellung leisten, wenn der Hilfesuchende zum EU-Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er (auch) besitzt, die effektivere Nahebeziehung vorweisen kann.278 Gemäß Art 23 I 2 AEUV treffen die Mitgliedstaaten die notwendigen Vorkehrungen und leiten die für diesen Schutz erforderlichen internationalen Verhandlungen ein. Die wichtigste bislang ergangene Umsetzungsmaßnahme ist die oben (Rn 231) behandelte RL 2015/637. Internationale Verhandlungen sind erforderlich, um von Drittstaaten die Zustimmung für die Wahrnehmung des diplomatischen und konsularischen Schutzes durch andere (Mitglied)Staaten als den Heimatstaat des Schutzsuchenden zu erlangen. Zwar ist eine solche Zustimmung an und für sich allein für den diplomatischen Schutz erforderlich (Art 46 Wiener Diplomatenrechtskonvention), während im Konsularrecht für die Zulässigkeit der Schutzausübung durch einen Drittstaat eine Notifikation genügt (Art 8 Konsularrechtskonvention), doch wurden Verhandlungen zumindest als Option ins Auge gefasst (wenngleich bislang noch in keinem Fall konkret begonnen), um bei Bedarf, angesichts der sui-generisNatur dieser Schutzbestimmungen zugunsten der Unionsbürger, eine Völkerrechtsverletzung auszuschließen. Wie gezeigt, bewegen sich die einschlägigen Schutzbemühungen in völkerrechtlicher Sicht auf konsularischer Ebene. Umfragen haben ergeben, dass bislang verhältnismäßig wenige Unionsbürger über die Regelung in Art 23 AEUV informiert sind. Die Kommission hat es sich

_____ Schutz gewähren, behandeln den Schutzersuchenden wie einen Staatsangehörigen des Mitgliedstaats, den sie vertreten.“ 277 Ebd Art 6. 278 Während in der Vergangenheit eine restriktivere Haltung in Bezug auf die Wahrnehmung diplomatischen Schutzes bei Doppelstaatsbürgerschaften vorgeherrscht hat, entspricht der hier vertretene Ansatz jenem, der aus dem Artikel-Entwurf der ILC über den diplomatischen Schutz (A/62/451, Ziff 7) aus 2007 resultiert. Vgl Art 6 Abs 1 des Entwurfs: „Jeder Staat, dessen Staatsangehöriger ein Doppel- oder Mehrstaater ist, kann für diese Person gegenüber einem Staat, dessen Staatsangehöriger sie nicht ist, diplomatischen Schutz ausüben.“ Vgl weiters Art 7 des Entwurfs: „Ein Staat der Staatsangehörigkeit darf diplomatischen Schutz für eine Person nicht gegenüber einem Staat ausüben, dessen Staatsangehöriger diese Person ebenfalls ist, es sei denn die Staatsangehörigkeit des ersteren Staates überwiegt sowohl zum Zeitpunkt der Schädigung als auch zum Zeitpunkt der offiziellen Geltendmachung des Anspruchs.“ Peter Hilpold

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deshalb zum Anliegen gemacht, diesen Kenntnisstand zu verbreitern.279 Für die Mitgliedstaaten der EU steckt in diesen Bestimmungen ein erhebliches Kosteneinsparungspotential im Bereich des auswärtigen Dienstes, da hierdurch eine Arbeitsteilung ermöglicht wird. Eine Verpflichtung für die EU ergibt sich aus Art 23 AEUV nicht; eine solche war explizit nicht gewollt. Mit dem Aufbau eines eigenen diplomatischen Dienstes der EU könnten sich aber neue Perspektiven für den diplomatischen und konsularischen Schutz der Unionsbürger ergeben.

10. Die Bürgerinitiative und das Petitions-, Beschwerde- und Korrespondenzrecht 241 Wesentliche Ziele, die mit der Einführung der Unionsbürgerschaft verfolgt worden

sind, bestanden darin, die Union näher an den Bürger heranzubringen, für mehr Transparenz zu sorgen und die demokratische Legitimität der Union zu stärken. Der Unionsbürger ist unmittelbarer Nutznießer dieser Reformbestrebungen, er ist aber auch Akteur in diesem Prozess und soll in die Lage versetzt werden, einen Beitrag zu erbringen, diese Ziele für die Union als Ganze zu verwirklichen. In Art 24 AEUV findet dieses Bestreben umfänglich Ausdruck. Mit dem Vertrag von Maastricht wurden das Petitionsrecht, das Beschwerde242 recht und das Korrespondenzrecht eingeführt. Mit dem Vertrag von Lissabon kam noch die Bürgerinitiative dazu. Damit wurde eine Vielzahl an Anregungen aufgegriffen, die die Diskussion um das Konzept der Unionsbürgerschaft von Anfang an begleiteten bzw Regelungen auf die primärrechtliche Ebene gehoben, die sekundärrechtlich bereits in Kraft waren (so das Korrespondenzrecht). Wenngleich diese Bestimmungen in Art 24 AEUV kein Musterbeispiel an rechts243 technischer Stringenz darstellen und mit zahlreichen weiteren Bestimmungen im AEUV, im EUV und in der GRCh verknüpft sind, so haben diese Petitionsrechte dennoch ein umfassendes System der außergerichtlichen Kontrolle sowie der basisdemokratischen Mitbestimmung geschaffen, das einen wesentlichen Beitrag zu einer bürgernäheren, demokratischeren und transparenteren EU leistet.

a) Die Bürgerinitiative 244 Die Bestimmungen über die Bürgerinitiative gehen auf den Vertrag von Lissabon zurück und sind damit die jüngsten in diesem Konglomerat an Petitions- und Kontrollrechten. Die Diskussionen rund um die Einführung dieses Instruments reichen weit in 245 die Vergangenheit zurück; unmittelbarer Anstoß für die Aufnahme dieses Instru-

_____ 279 Vgl das Grünbuch der Kommission über den diplomatischen und konsularischen Schutz des Unionsbürgers in Drittstaaten v 28.11.2006, KOM(2006) 712 sowie den Unionsbürgerschaftsbericht 2017, S 15. Peter Hilpold

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ments in die Verträge war das Weißbuch „Europäisches Regieren“ vom 25. Juli 2001.280 Es handelt sich um ein direktdemokratisches Instrument, mit welchem die Unionsbürger die Kommission auffordern können, Gesetzesinitiativen zur Umsetzung der Verträge zu ergreifen. Rechtsgrundlagen sind Art 11 EUV, Art 24 AEUV und die VO 211/2011 über die Bürgerinitiative.281 Eine Bürgerinitiative setzt eine Mindestanzahl von einer Million Unterzeichnern, verteilt über mindestens ein Viertel der EU-Mitgliedstaaten (gegenwärtig somit sieben), voraus, wobei das Mindestquorum für die einzelnen Mitgliedstaaten nach einem degressiv proportionalen Schlüssel berechnet wird. Das Mindestquorum ergibt sich aus der Anzahl der im jeweiligen Mitgliedstaat gewählten EU-Parlamentarier multipliziert mit der Zahl 750. Die Unterstützungsbekundungen sind nach der Registrierung der Initiative bei der Kommission innerhalb eines Zeitraums von einem Jahr zu sammeln. Die Bürgerinitiative muss sich auf eine bestehende Gesetzeskompetenz der Union beziehen, hinsichtlich welcher eine Umsetzungsmaßnahme begehrt wird. Ist diese Voraussetzung offenkundig nicht gegeben oder ist sie offenkundig missbräuchlich, unseriös oder schikanös, so lehnt die Kommission eine Registrierung der Initiative ab.282 Wird das erwähnte Quorum erreicht, so verpflichtet dies die Kommission zum Tätigwerden, doch verbleibt dieser ein sehr großer Spielraum bei der Umsetzung der Initiative.

b) Petitionen an das Europäische Parlament Die Möglichkeit, Petitionen an das Europäische Parlament zu richten, wurde schon 246 mit dem Vertrag von Maastricht eingeführt. Geregelt ist dieses Recht in Art 24 II AEUV, in Art 227 AEUV und in den Art 226 ff der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments. Es verleiht als Instrument demokratischer Mitbestimmung und Kontrolle dem Konzept der Unionsbürgerschaft weiteren Gehalt, wird aber darüber hinaus durch Art 227 AEUV auf Drittstaatsangehörige ausgedehnt, wenn diese in der Union ihren Wohnsitz (bzw bei juristischen Personen ihren Sitz) haben.283 Die Petition muss an den Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments gerichtet werden. Es sind sowohl Einzel- als auch Sammelpetitionen zulässig, wobei jeweils eine unmittelbare Betroffenheit nachgewiesen werden muss. Diese Bedingung wird allerdings großzügig ausgelegt: Es genügt, dass der Gegenstand für den Petenten in objektiv nachvollziehbarer Weise von nicht ganz unerheblicher Bedeutung ist.284 Zudem muss der Petitionsgegenstand in den Zuständigkeitsbereich der

_____ 280 281 282 283 284

KOM(2001) 428; vgl Streinz/Huber Art 11 EUV Rn 6. ABl 2011 L 65/1. Art 4 VO 211/2011, ABl 2011 L 65/1. In Bezug auf Unionsbürger ist dieses Erfordernis nicht gegeben. Streinz/Huber Art 227 AEUV Rn 10.

Peter Hilpold

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EU fallen, da andernfalls ein Handeln der Union nicht möglich ist. Nach der Feststellung der Zulässigkeit prüft der Petitionsausschuss die vorgelegte Petition ausführlich. Er kann auf dieser Basis einen Initiativbericht erarbeiten und dem Parlament einen Entschließungsantrag vorlegen.285 Die Petenten werden über den vom Ausschuss gefassten Beschluss und über dessen Begründung unterrichtet.286

c) Beschwerden beim Europäischen Bürgerbeauftragten 247 Mit der Einrichtung eines Bürgerbeauftragten, der beim Europäischen Parlament angesiedelt ist, knüpft das EU-Recht an die skandinavische Tradition des Ombudsmanns an, ein Institut, das mittlerweile in vielen EU-Mitgliedstaaten übernommen worden ist.287 Die Rechtsgrundlagen finden sich in Art 24 III AEUV, Art 228 AEUV und Art 43 GRCh. Dieses Petitionsrecht ist in vielfacher Hinsicht ähnlich ausgestaltet wie das Beschwerderecht an das Europäische Parlament, wobei beide Beschwerdeformen gleichrangig sind. Der Bürgerbeauftragte wird vom Europäischen Parlament für die Dauer seiner Funktionsperiode gewählt. Er hat Beschwerden von Unionsbürgern und anderen natürlichen und juristischen Personen mit Wohnsitz bzw Sitz in der EU über Missstände bei der Tätigkeit von Unionsinstitutionen zu prüfen. Er kann aber auch von sich aus oder über Beschwerden, die ihm über ein Mitglied des Europäischen Parlaments zugehen, tätig werden. Die behaupteten Missstände dürfen nicht Gegenstand eines (nationalen oder EU-)Gerichtsverfahrens sein oder gewesen sein. Hat der Bürgerbeauftragte einen Missstand festgestellt, so befasst er die zuständige Institution, die innerhalb von drei Monaten eine Stellungnahme zu übermitteln hat. Der Bürgerbeauftragte legt daraufhin der zuständigen Institution einen Bericht vor. Der Beschwerdeführer wird über das Ergebnis dieser Untersuchungen unterrichtet. Dem Europäischen Parlament legt der Bürgerbeauftragte jährlich einen Bericht über die Ergebnisse seiner Untersuchungen vor.288 Insbesondere durch die Schaffung von Transparenz und die Einrichtung zusätzlicher, objektivierter Dialogformen kann der Bürgerbeauftragte Missständen abhelfen.

d) Das Korrespondenzrecht289 248 Das Recht, mit den Organen (und verschiedenen weiteren Institutionen) der EU in Kontakt zu treten und in derselben Sprache auch eine Antwort zu erhalten, ist ein

_____ 285 Art 216 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments. 286 Ebd. 287 Heselhaus/Nowak/Gaitanides S 1332 ff. 288 So geregelt in Art 228 II UAbs 2 AEUV. 289 Diesem Abschnitt liegen die Beiträge von Hilpold EuR 2010, 695 ff sowie Hilpold ZEuP 2011, 500 ff zugrunde. Peter Hilpold

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herausragendes Merkmal der Union (Gemeinschaft) seit ihren Anfängen und wurde mit dem Vertrag von Maastricht auch in den unionsbürgerrechtlichen Kontext gerückt (Art 24 IV AEUV). Der Zusammenhang mit dem Konzept der Unionsbürgerschaft ist gleich ein zweifacher: Dieses weitreichende Kommunikationsrecht fördert die Wahrnehmung der Freizügigkeit und sie verleiht dem Unionsbürgerstatus zusätzlichen materiellen und ideellen Gehalt. Art 24 IV AEUV verweist auf Art 55 EUV, der die Amtssprachen der EU regelt. Dazu zählen seit dem Beitritt Kroatiens 24 Sprachen.290 Der schon von der EWG in der Sprachenfrage gepflegte Ansatz zielt auf eine „offene“, „dynamische“ und „vollständige“ Mehrsprachigkeit, dh sie wächst grundsätzlich mit der EU mit. Gemäß Art 342 AEUV wird die Sprachenfrage für die Organe einstimmig vom Rat durch Verordnung geregelt (besonderes Gesetzgebungsverfahren, ohne Mitwirkungsrechte des EP). Diese (fortlaufend angepasste) Regelung erfolgte mit VO 1/1958 (ABl 1958 17/385), der ersten Verordnung der EWG überhaupt. Die Sprachregelung für den EuGH findet sich in den Art 29 bis 31 seiner Verfahrensordnung. Die umfassenden Kommunikationsrechte in den Amtssprachen der EU gelten gem Art 24 IV AEUV gegenüber den Hauptorganen gem Art 13 I EUV (EP, Europäischer Rat, Rat, Kommission, Gerichtshof, EZB, Rechnungshof) sowie gegenüber dem Wirtschafts- und Sozialausschuss, dem Ausschuss der Regionen und dem Bürgerbeauftragten.291 Grundrechtlich untermauert wird dieser Anspruch nunmehr durch Art 41 IV GRCh. Diese weitreichenden Kommunikationsrechte hatten zur Konsequenz, dass die 249 Europäische Union den weltweit größten Übersetzer- und Dolmetscherdienst aufbauen musste, für welchen 11% des gesamten EU-Budgets beansprucht werden.292 Diese Rechte gelten allerdings nicht für alle EU-Institutionen, so nicht für die 250 Agenturen. Streitanhängig wurde diese Frage in Zusammenhang mit dem Sprachregime für das Europäische Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt in Alicante (HABM – Europäisches Markenamt). Europäische Marken können in allen Amtssprachen der EU angemeldet werden, doch sind nur fünf Verfahrenssprachen (Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch) als Verfahrenssprachen in Streitverfahren zugelassen. Dagegen klagte die niederländische Anwältin Frau Kik, wobei sie aber sowohl vor dem EuG als auch vor dem EuGH unterlag.293 Dies geschah mit dem Hinweis darauf, dass es keinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts der Gleichheit der Sprachen gebe, der jedem Bürger einen Anspruch dar-

_____ 290 Schwer getan hat sich die EU lange Zeit mit dem Irischen. Das Irische wurde mit VO 920/2005, ABl 2005 L 156/3 – mit Wirkung ab 1.1.2007 – zur Amtssprache erhoben. Das Luxemburgische gilt nicht als Amtssprache der EU. 291 Vgl auch Streinz/Magiera Art 24 AEUV Rn 10. 292 Haller S 234. 293 EuG, Rs T-120/99 – Kik / HABM; Rs C-361/01 – Kik / HABM. Peter Hilpold

884 | § 12 Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft

auf gewähren würde, dass alles, was seine Interessen berühren könnte, unter allen Umständen in seiner Sprache verfasst sein müsse.

11. Die Fortentwicklung der Unionsbürgerschaft 251 Das Konzept der Unionsbürgerschaft ist auf kontinuierliche Fortentwicklung an-

gelegt. Dies gilt einmal für die Auslegung der einzelnen Elemente, die traditionell das Konzept der Unionsbürgerschaft ausmachen. Wie gezeigt, hat diese Auslegung über die Jahre hin einen tiefgreifenden Wandel erfahren. Wurde ursprünglich in diesen Elementen vielfach nur eine Bestätigung des bereits Gegebenen gesehen, so hat sich dieses Verständnis über die Jahre hin, insbesondere durch die Rechtsprechung des EuGH, grundlegend gewandelt. Auf diesem Wege ist die Unionsbürgerschaft – insbesondere über die Verbindung des Freizügigkeitsrechts mit dem Diskriminierungsverbot – zu einem zentralen Vehikel für die richterliche Fortschreibung der europäischen Integration geworden. Darüber hinaus enthalten die primärrechtlichen Bestimmungen aber selbst eine Evolutivklausel, nach welcher nach einem besonderen Gesetzgebungsverfahren die Rechte (nicht die Pflichten!) erweitert (nicht eingeschränkt!) werden können.294 Dieses – bislang noch nie angewandte – Gesetzgebungsverfahren verlangt Einstimmigkeit im Rat und die Zustimmung des Parlaments und zudem ist für das Inkrafttreten der betreffenden Bestimmungen die Ratifikation durch die Mitgliedstaaten gemäß ihren Verfassungsordnungen erforderlich. Die Fortentwicklung des Rechts über die Unionsbürgerschaft verlangt aber auch 252 eine kontinuierliche Beobachtung der Rechtsentwicklung und der einschlägigen Praxis. Zu diesem Zweck veröffentlicht die Europäische Kommission alle drei Jahre einen Bericht über die Anwendung der Bestimmungen zur Unionsbürgerschaft, wobei dieser Bericht gem Art 25 I 2 AEUV explizit auch der „Fortentwicklung der Union“ Rechnung tragen muss. Die bislang veröffentlichten Berichte stellen wichtige Orientierungspunkte für die einschlägige Diskussion dar. Sie enthalten weiters eine Aufzählung von legislativen Maßnahmen, die von der Kommission konzipiert werden, um die Unionsbürgerschaft mit Substanz zu füllen. Die Vorhaben der vergangenen Berichtsperiode werden hinsichtlich ihres Maßes der Verwirklichung überprüft. Insgesamt wird damit auch die Sichtbarkeit dieses Konzepts erhöht; die breitere Öffentlichkeit erkennt, dass die Unionsbürgerschaft in vielerlei Hinsicht unmittelbare Auswirkungen auf die individuelle Rechtsposition hat. Es wurden „best practices“ zur Überwindung der Mobilitätshindernisse entwickelt, EU-weite Umfragen zu unionsbürgerschaftsrelevanten Themen durchgeführt und durch die Kommission Vorschläge zur Umsetzung entsprechender Maßnahmen erarbeitet.295

_____ 294 Streinz/Magiera Art 25 AEUV Rn 5 f. 295 Dieser Prozess ist aber ein sehr mühsamer, wie bspw die steuerliche Thematik zeigt. So wurde im Bericht des Jahres 2013 zu Recht darauf hingewiesen, dass die parallele Anwendung von WeltPeter Hilpold

III. Unionsbürgerschaft | 885

Das Konzept der Unionsbürgerschaft war ursprünglich nicht nur eng an das 253 Recht auf Freizügigkeit gebunden; es wurde mit diesem in vielem als wesensgleich gesehen. Freizügigkeit gewährleisteten bereits die Grundfreiheiten, soweit diese funktional zur Verwirklichung des Binnenmarktes waren. Die Unionsbürgerschaft löste das Recht auf Freizügigkeit zumindest partiell vom Marktbezug. Mittlerweile ist die Anbindung der Unionsbürgerschaft an die Wahrnehmung der Freizügigkeit schwächer geworden und der Aspekt der Unionsbürgerschaft als Statusrecht ist in den Vordergrund gerückt worden, ohne dass auf den grenzüberschreitenden Kontext völlig verzichtet werden könnte.296 Marktbezogenheit und grenzüberschreitender Kontext liegen somit in den Genen der Unionsbürgerschaft, doch hat insbesondere die Rechtsprechung des EuGH einen grundlegenden strukturellen Wandel dieses Konzepts bewirkt. Der Schutz der Rechte aus der Unionsbürgerschaft nähert sich immer mehr dem Grundrechtsschutz. Der Beitritt der EU zur EMRK könnte diesen Prozess weiter beschleunigen. Die politische Dimension der Unionsbürgerschaft gewinnt zusehends an Relevanz.297 Gleichzeitig werden intensiv die Grenzen der Solidarität ausgelotet.298 Träte die europäische politis an die Stelle der mitgliedstaatlichen, so wäre eine Lösung dieser Frage unter ganz anderen Voraussetzungen möglich.299 Ein solcher Perspektivenwechsel würde nicht nur zu einer enormen Aufwertung der Unionsbürgerschaft führen, sondern auch Herausforderungen wie jener der letzten Finanzkrise entgegen wirken.300 Für die Union als Ganze ist eine solche Entwicklung gegenwärtig nicht ersichtlich, doch gerade im Bereich der Unionsbürgerschaft haben sich verschiedene Felder unionsweiter Solidarität aufgetan (so, wie gezeigt, im Bereich der Bildungspolitik). Im Übrigen ist gegenwärtig auch ein Widererstarken des nationalen Elements feststellbar, ein

_____ einkommensprinzip und Territorialitätsprinzip mit Doppelbesteuerung und aufwändiger, häufig nur partiell gewährter Steuergutschrift immer mehr zu einem maßgeblichen Mobilitätshindernis wird. Die Mitgliedstaaten verteidigen aber ihre Steuersouveränität vehement. Im Bericht des Jahres 2017 werden weitere Maßnahmen zumindest zur Transparenzförderung und zur Darstellung von „best practices“ in diesem Bereich angekündigt (vgl Maßnahme Nr 4, S 43 f.). 296 Nic Shuibhne CMLRev 2010, 1597 ff und Kochenov/Plender ELRev 2012, 369 ff. 297 Shaw Citizenship: Contrasting Dynamics at the Interface of Integration and Constitutionalism, EUI Working Papers 2010/60. 298 Wie gezeigt, hat diese Frage den gesamten Entwicklungsprozess der Unionsbürgerschaft geprägt, ja sie hat schon die Redaktionsarbeit am ursprünglichen Art 8a EGV bestimmt. Vgl Closa CMLRev 1992, 1137 (1162). Vgl auch Hilpold YEL 2015, 257. 299 Eine solche Entwicklung wird von GA Poiares Maduro zumindest als Zukunftsvision präsentiert: “Citizenship of the Union must encourage Member States to no longer conceive of the legitimate link of also within the wider context of the society of peoples of the Union” (GA Poiares Maduro, Rs C-499/06 – Nerkowska, Nr 23). 300 Einer solchen Solidaritätsübung stehen gegenwärtig bekanntlich Art 125 AEUV und die darin enthaltene „no-bail-out“-Klausel entgegen. Vgl dazu Hilpold/Steinmair (Hrsg) passim sowie EuGH, Rs C-370/12 – Pringle. Peter Hilpold

886 | § 12 Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft

Streben einzelner MS nach Stärkung ihrer Souveränität. In der Folge – und auch durch den Brexit – könnte die Rolle der Unionsbürgerschaft wieder eingeschränkt werden. Angesichts des diesen ganzen Prozess kennzeichnenden Konflikts zwischen 254 Integration und Schutz mitgliedstaatlicher Souveränität sind wir hier mit einem schwierigen Balanceakt konfrontiert. Trotz vielfacher Unklarheiten und Rückschläge in Rechtsetzung und Rechtsprechung ist die Entwicklungsrichtung der Unionsbürgerschaft aber eindeutig und von der Loslösung von der Marktbezogenheit, der Stärkung der politischen Elemente, der Annäherung an den Menschenrechtsschutz und der Festigung des Solidaritätselements geprägt.

NEUE RECHTE SEITE Peter Hilpold

§ 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten | 887

Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

§ 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten https://doi.org/10.1515/9783110498349-013

Gliederungsübersicht I. Der Zusammenhang zwischen Binnenmarkt, Rechtsangleichung und Wettbewerbsrecht II. Der Binnenmarkt 1. Die ideellen und geschichtlichen Grundlagen a) Das Konzept des Binnenmarkts b) Die Idee des Marktes c) Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union d) Vom Gemeinsamen Markt zum Binnenmarkt 2. Der Binnenmarkt als Raum ohne Binnengrenzen und die Außenwirtschaftspolitik der Union a) Die Zollunion als Grundlage des Binnenmarkts b) Die Verbindungslinien der Zollunion mit der Außenhandelspolitik 3. Die rechtlichen Grundlagen des Binnenmarkts a) Die Zuständigkeit der Union für den Binnenmarkt b) Harmonisierungskompetenzen der Union zur Herstellung des Binnenmarkts c) Instrumente und Verfahren zur Verwirklichung des Binnenmarkts d) Die vier Grundfreiheiten als Pfeiler des Binnenmarkts und ihre sekundärrechtliche Ausgestaltung 4. Der Binnenmarkt als System des vor Verfälschungen geschützten Wettbewerbs a) Rechtliche und ökonomische Grundlagen des Wettbewerbs b) Die Wettbewerbspolitik der Union c) Intervention zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit 5. Ein prosperierender Binnenmarkt als Gegenstand der Governance a) Empirische Befunde b) Die Einbettung des Binnenmarkts in die Wirtschafts- und Währungsunion c) Übergang zu einer „Governance des Binnenmarkts“: Binnenmarktakte I und II d) Mögliche Folgen des Exit-Votums des Vereinigten Königreichs für den Binnenmarkt III. Rechtsangleichung 1. Strategien der Rechtsangleichung und ihre Alternativen a) Begriff und Ziel der Rechtsangleichung b) Vertragliche Grundlagen der Rechtsangleichung c) Instrumente der Rechtsangleichung d) Methoden der Rechtsangleichung e) Rechtsangleichung im Spiegel der Ökonomischen Theorie 2. Rechtsangleichung als Instrument der Binnenmarktangleichung a) Harmonisierung technischer Normen b) Steuerrecht (Art 113, 115 ff AEUV) c) Verbraucherschutzrecht (Art 169 AEUV) 3. Tatbestandliche Voraussetzungen der Art 114, 115 AEUV a) Die Abgrenzung des Art 114 von Art 115 AEUV b) Verwirklichung der Ziele des Art 26 AEUV durch Maßnahmen c) Gesetzgebungsverfahren (Art 114 I 2 AEUV)

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Rn 1 4 4 4 10 15 26 36 36 40 45 45 49 52 69 77 77 82 86 96 96 98 104 110 114 114 114 137 144 154 164 184 184 188 192 195 195 197 206

888 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

d) e) f) g) h) i)

Bereichsausnahmen (Art 114 II AEUV) Der Begriff des hohen Schutzniveaus (Art 114 III AEUV) Beibehaltung einzelstaatlicher Bestimmungen (Art 114 IV-VI AEUV) Neue wissenschaftliche Erkenntnisse (Art 114 V AEUV) Schutzklauseln (Art 114 X AEUV) Unmittelbare Auswirkung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften auf die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarkts (Art 115 AEUV) j) Konkurrenzen zur Rechtsangleichung 4. Grenzen und Bedingungen der Rechtsangleichung a) Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung b) Grundsatz der Subsidiarität c) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit d) Demokratische Legitimation 5. Die Krise der Rechtsangleichung IV. Grundfreiheiten: allgemeine Lehren 1. Grundfreiheiten im System des Binnenmarkts 2. Ökonomische Analyse 3. Rechtliche Bedeutung a) Unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit b) Objektive und subjektive Rechte c) Grundfreiheiten als Gleichheits-, Freiheits- und Leistungsrechte 4. Gemeinsame Strukturen der Grundfreiheiten a) Anwendungsbereich aa) Sachlicher Anwendungsbereich bb) Räumlicher Anwendungsbereich und Grenzübertritt cc) Persönlicher Anwendungsbereich b) Beeinträchtigung aa) Verpflichtete bb) Belastender Eingriff c) Rechtfertigung aa) Geschriebene Rechtfertigungsgründe bb) Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe cc) Verhältnismäßigkeit V. Warenverkehrsfreiheit 1. Anwendungsbereich a) Die Zollunion b) Grundfreiheitlicher Warenbegriff 2. Beeinträchtigung a) Zölle und Abgaben gleicher Wirkung b) Diskriminierende und protektionistische Besteuerung ausländischer Waren c) Mengenmäßige Beschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung 3. Rechtfertigung a) Geschriebene Rechtfertigungsgründe b) Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe 4. Umformung staatlicher Handelsmonopole VI. Personenverkehrsfreiheiten 1. Freizügigkeit der Arbeitnehmer a) Arbeitnehmerbegriff b) Geschützte Rechte

208 209 212 221 227 229 231 232 233 235 241 244 247 252 252 255 264 266 270 272 275 276 278 285 288 292 292 298 308 310 311 316 323 325 326 329 332 332 338 340 348 349 354 357 360 362 363 371

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§ 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten | 889

c) Beeinträchtigung d) Rechtfertigung 2. Niederlassungsfreiheit a) Anwendungsbereich b) Beeinträchtigung c) Rechtfertigung d) Europäisches Gesellschaftsrecht VII. Dienstleistungsfreiheit 1. Anwendungsbereich 2. Beeinträchtigung 3. Rechtfertigung 4. Gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen 5. Dienstleistungen und Staat VIII. Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit 1. Anwendungsbereich 2. Beeinträchtigung 3. Rechtfertigung a) Maßnahmen innerhalb der Union b) Maßnahmen gegenüber Drittstaaten c) Wirtschaftssanktionen 4. Europäischer Finanzraum

376 380 383 384 395 399 401 407 409 420 424 427 429 433 435 442 446 447 453 456 458

Spezialschrifttum Binnenmarkt Baldwin, Richard/Wyplosz, Charles The Economics of European Integration, 2013; Blanke, HermannJosef/Mangiameli, Stelio (Hrsg) The European Union after Lisbon, 2012; Blanke, Hermann-Josef/ Scherzberg, Arno/Wegner, Gerhard (Hrsg.) Dimensionen des Wettbewerbs, 2010; von Bogdandy, Armin/Bast, Jürgen (Hrsg) Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl, 2009; Dauses, Manfred/Ludwigs, Markus (Hrsg) EU-Wirtschaftsrecht, Loseblatt (Stand 47. EL März 2019); Müller-Graff, Peter-Christian Binnenmarktziel und Rechtsordnung, 1989; Nowak, Carsten Binnenmarktziel und Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union, EuR 2009, Beiheft 1, 129; Reich, Norbert Binnenmarkt als Rechtsbegriff, 1991; Schwarze, Jürgen (Hrsg) Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004. Rechtsangleichung Bock, Yves Rechtsangleichung und Regulierung im Binnenmarkt, 2005; Buck-Heeb, Petra/ Dieckmann, Andreas Selbstregulierung im Privatrecht, 2010; Eiden, Christoph Die Rechtsangleichung gemäß Art 100 des EWG-Vertrages, 1984; Everling, Ulrich/Roth, Wulf-Henning (Hrsg) Mindestharmonisierung im Europäischen Binnenmarkt, 1997; Franzen, Martin Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, 1999; Furrer, Andreas Die Sperrwirkung des sekundären Gemeinschaftsrechts auf die nationalen Rechtsordnungen: die Grenzen des nationalen Gestaltungsspielraums durch sekundärrechtliche Vorgaben unter besonderer Berücksichtigung des „nationalen Alleingangs“, 1994; von der Groeben, Hans Die Bedeutung der Steuerangleichung für die europäische Integration, 1968; Grosche, Nils Rechtsfortbildung im Unionsrecht: eine Untersuchung zum Phänomen richterlicher Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof der Europäischen Union, 2012; Hülper, Jörg-Christian Grenzen der EU-Rechtsangleichung im Verbraucherschutzrecht, 2011; Ihns, Astrid Entwicklung und Grundlagen der europäischen Rechtsangleichung, 2005; Kern, Konrad Überseering – Rechtsangleichung und gegenseitige Anerkennung, 2004; Kieninger, Eva-Maria Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt, 2002; König, Doris/Uwer, Dirk (Hrsg.) Grenzen europäischer Normgebung, 2015; Lohse, Eva Julia Rechtsangleichungsprozesse in

Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

890 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

der Europäischen Union, 2017; Ludwigs, Markus Rechtsangleichung nach Art 94, 95 EG-Vertrag: Eine kompetenzrechtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des Europäischen Privatrechts, 2004; Müller, Markus Systemwettbewerb, Harmonisierung und Wettbewerbsverzerrung, 2000; Ress, Georg (Hrsg) Rechtsprobleme der Rechtsangleichung, Vorträge, Reden und Berichte aus dem Europa-Institut Nr 137, 1987; Riesenhuber, Karl/Takayama, Kanako (Hrsg) Rechtsangleichung: Grundlagen, Methoden, Inhalte: Deutsch-Japanische Perspektiven, 2006; Rönck, Rüdiger Technische Normen als Gestaltungsmittel des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1995; Schmeder, Winfried Die Rechtsangleichung als Integrationsmittel der Europäischen Gemeinschaft, 1978; Strauß, Walter Fragen der Rechtsangleichung im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften, 1959; Wagner, Matthias Das Konzept der Mindestharmonisierung, 2001; Wiesendahl, Stefan Technische Normung in der Europäischen Union, 2007. Grundfreiheiten Barnard, Catherine The Substantive Law of the EU. The Four Freedoms, 5. Aufl, 2016; Borgmann, Bernd Die Entsendung von Arbeitnehmern in der Europäischen Gemeinschaft, 2001; Calliess, Christian/Korte, Stefan Dienstleistungsrecht in der EU, 2011; Ehlers, Dirk (Hrsg) Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl, 2015; Förster, Philipp Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2007; Forsthoff, Ulrich Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften, 2006; Frenz, Walter, Handbuch Europarecht. Band 1: Europäische Grundfreiheiten, 2. Aufl, 2012; Gormley, Laurence W EU Law of Free Movement of Goods and Customs Union, 2009; Habersack, Mathias/Verse, Dirk Europäisches Gesellschaftsrecht, 4. Aufl, 2011; Haferkamp, Ute Die Kapitalverkehrsfreiheit im System der Grundfreiheiten des EG-Vertrags, 2003; Hindelang, Steffen The Free Movement of Capital and Foreign Direct Investment, 2009; Holst, Johannes Die Warenverkehrsfreiheit zwischen unbeschränktem Marktzugang und mitgliedstaatlicher Autonomie, 2017; Kainer, Friedemann/Herzog, Lucina Der Marktausgang im Konzept der Grundfreiheiten, EuR 2018, 405; Kemmerer, Martin Kapitalverkehrsfreiheit und Drittstaaten, 2010; Kingreen, Thorsten Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999; Lach, Andreas Umgekehrte Diskriminierungen im Gemeinschaftsrecht, 2008; Lackhoff, Klaus Die Niederlassungsfreiheit des EGV, 2000; Müller-Graff, Peter-Christian Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten, EuR 2014, 3; Oliver, Peter Free Movement of Goods in the European Union, 5. Aufl, 2010; Schlachter, Monika/Ohler, Christoph (Hrsg) Europäische Dienstleistungsrichtlinie, 2008; Stein, Sarah Katharina Drittwirkung im Unionsrecht, 2016; White, Robin C A Workers, Establishment, and Services in the European Union, 2004. Leitentscheidungen Binnenmarkt und Rechtsangleichung EuGH, Rs 148/78 – Tullio Ratti; Rs C-15/81 – Gaston Schul; Rs 11/82 – Piraiki-Patraiki / Kommission; Rs 178/84 – Kommission / Deutschland (Reinheitsgebot); Rs C-331/88 – Fedesa; Rs C-300/89 – Titandioxid; Rs C-24/90 – Faust; Rs C-359/92 – Deutschland / Rat; Rs C-233/94 – Einlagensicherungssysteme; Rs C-284/95 – Safety Hi-Tech Srl; Rs C-319/97 – Antoine Kortas; Rs C-376/98 – Tabakwerbung; Rs C-377/98 – Biopatent; Rs C-491/01 – British American Tobacco; Rs C-434/02 – Arnold André; Rs C-210/03 – Swedish Match; Rs C-380/03 – Tabakwerbung II; verb Rs C-154/04 ua – Alliance for Natural Health ua; Rs C-301/06 – Vorratsdatenspeicherung; Rs C-58/08 – Vodafone. Grundfreiheiten Waren: EuGH, Rs 7/68 – Kommission / Italien; Rs 8/74 – Dassonville; Rs 120/78 – Cassis de Dijon; Rs 249/81 – Buy Irish; verb Rs C-267/91 ua – Keck und Mithouard; Rs 178/84 – Kommission / Deutschland (Reinheitsgebot); Rs C-470/93 – Mars; verb Rs C-34/95 ua – De Agostini; Rs C-265/95 – Kommission / Frankreich; Rs C-112/00 – Schmidberger; Rs C-322/01 – Deutscher Apothekerverband; Rs C-383/01 – De Danske Bilimportører; Rs C-36/02 – Omega; Rs C-421/09 – Humanplasma; Rs CHermann-Josef Blanke/Robert Böttner

I. Der Zusammenhang zw. Binnenmarkt, Rechtsangleichung u. Wettbewerbsrecht | 891

456/10 – ANETT; Rs C-171/11 – Fra.bo; Rs C-333/14 – The Scotch Whiskey Asociation; Rs C-15/15 – New Valmar; Arbeitnehmer: EuGH, Rs 152/73 – Sotgiu; Rs 53/81 – Levin; Rs 66/85 – Lawrie-Blum; Rs C-415/93 – Bosman; Rs C-281/98 – Angonese; Rs C-94/07 – Raccanelli; Rs C-46/12 – N.; Rs C333/13 – Dano; Rs C-496/15 – Eschenbrenner; Rs C-566/15 – Erzberger; Niederlassung: EuGH, Rs 2/74 – Reyners; Rs 81/87 – Daily Mail; Rs C-221/89 – Factortame; Rs C-55/94 – Gebhard; Rs C-212/97 – Centros; Rs C-208/00 – Überseering; Rs C-167/01 – Inspire Art; Rs C-411/03 – SEVIC Systems; Rs C210/06 – Cartesio; Rs C-378/10 – VALE; Rs C-201/15 – AGET Iraklis; Dienstleistung: EuGH, Rs 33/74 – van Binsbergen; verb Rs 286/82 ua – Luisi und Carbone; Rs C-275/92 – Schindler; Rs C-384/93 – Alpine Investments; Rs C-158/96 – Kohll; Rs C-60/00 – Carpenter; Rs C-385/99 – Müller-Fauré; Rs C452/04 – Fidium Finanz; C-341/05 – Laval; Kapital: EuGH, verb Rs C-358/93 ua – Bordessa; verb Rs C-163/94 ua – Sanz de Lera; Rs C-35/98 – Verkooijen; Rs C-483/99 – Elf Aquitaine; Rs C-112/05 – VWGesetz; Rs C-171/08 – Kommission / Portugal; Rs C-560/13 – Wagner-Raith. I. Der Zusammenhang zw. Binnenmarkt, Rechtsangleichung u. Wettbewerbsrecht

I. Der Zusammenhang zwischen Binnenmarkt, Rechtsangleichung und Wettbewerbsrecht Eines der Leitziele der EU ist die Errichtung eines Binnenmarkts (Art 3 III UAbs 1 S 1 1 EUV). Er wird im Vertrag als „Raum ohne Binnengrenzen“ definiert, „in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital […] gewährleistet ist“ (Art 26 II AEUV). Diese vier Grundfreiheiten bilden den zentralen, aber nicht ausschließlichen Kern des Binnenmarkts und werden in Art 28–37 AEUV sowie Art 45–66 AEUV konkretisiert. Die umfassende Freiheit des Wirtschaftsverkehrs stützt sich auf die Nichtdiskriminierung der Wirtschaftsteilnehmer aus Gründen der Staatsangehörigkeit sowie auf die Abschaffung aller sonstigen Behinderungen für den grenzüberschreitenden Austausch. Die Grundfreiheiten wirken bei der Verwirklichung des Binnenmarkts als Maßnahmen der negativen Integration.1 Sie erlauben den Marktteilnehmern eine freie ökonomische Entscheidung, indem sie einen grundsätzlichen Zwang zur Rechtfertigung von beschränkenden staatlichen Maßnahmen begründen. Das Hauptinstrument zur Schaffung des Binnenmarkts im Sinne positiver Integration ist indes die Rechtsangleichung (Art 114, 115 AEUV), die der Union die Befugnis verleiht, im gesamten Raum der Union die „gleichen institutionellen Bedingungen“2 zugunsten der Wirtschaftsteilnehmer zu schaffen. Gleichzeitig kann sie zur Verwirklichung bestimmter Sachziele herangezogen werden (Rn 55 ff, 71, 118, 184 ff).3 In Verbindung mit der Koordinierung der mitgliedstaatlichen Politiken (Rn 52, 117) werden so Hindernisse beseitigt oder minimiert, die andernfalls durch mitgliedstaatliche Regelungen entstünden.4

_____ 1 Der Begriff der negativen Integration geht zurück auf Tinbergen S 122. 2 Ohr/Mussler/Streit S 270. 3 Möstl EuR 2002, 318 (320); Wägenbaur EuZW 2000, 549. 4 Tinbergen S 95, 122; Schwarze/Hatje Art 26 AEUV Rn 15; Pelkmans/Hanf/Chang/Pelkmans S 48; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Terhechte Art 3 EUV Rn 40. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

892 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

2

Der Abbau von Handelsschranken setzt die Unternehmen dem Wettbewerb aus, der die Grundlage für eine freie Marktwirtschaft und Wohlstand ist. In diesem Umfeld können Innovationen entstehen, die als Hebel für Marktwachstum und Differenzierung eingesetzt werden. Verbraucher erhalten eine bedeutend größere Auswahl an Produkten und Dienstleistungen, wenn viele Anbieter miteinander konkurrieren. Vor diesem Hintergrund umfasst der Binnenmarkt auch ein System gemeinsamer Wettbewerbsregeln.5 Bereits in Art 3 EGV war das Ziel verankert, ein System zu errichten, „das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde es aus dem Zielkatalog des Art 3 EUV herausgenommen und ist nun im Protokoll Nr 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb normiert. Ungeachtet seiner marginalen Lage ist es Bestandteil der Verträge (Art 51 EUV) und nicht minder rechtsverbindlich.6 Neben den Grundfreiheiten und der Rechtsangleichung bildet das Wettbewerbsrecht einen weiteren Grundpfeiler des Binnenmarkts.7 Während die Grundfreiheiten staatliche Hemmnisse abbauen, ist es der Zweck der Wettbewerbsregeln, Beschränkungen des Binnenmarkts von Seiten Privater zu verhindern. Unverzerrte Wettbewerbsbedingungen sind grundlegend für die diskriminierungsfreie Ausübung der Grundfreiheiten und damit elementar für das Funktionieren des Binnenmarkts.8 Die Unterstützung einzelner Unternehmen durch staatliche Beihilfen ist deshalb ebenso verboten wie geheime Absprachen (Art 107, Art 101 AEUV) und der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung (Art 102 AEUV)9 (Rn 83).10 Als Raum ohne Binnengrenzen mit freiem Personen- und Leistungsverkehr bil3 det der Binnenmarkt das zentrale wirtschaftliche Ziel und ist eine essentielle Aufgabe der Union. Seit den Römischen Verträgen verfügt sie über entsprechende, allmählich gewachsene Zuständigkeiten. Die Grundfreiheiten, das Instrument der Rechtsangleichung und das Wettbewerbsrecht verfolgen bei unterschiedlichen Ansätzen einen gemeinsamen Zweck, nämlich die Schaffung eines einheitlichen europäischen Binnenmarkts, in dem sich der Wirtschaftsverkehr weitgehend frei von staatlicher und privater (marktmächtiger) Beeinträchtigung entfalten kann. Auch im Vertrag von Aachen (2019) über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration haben die Vertragspartner vereinbart, den Binnenmarkt zu stärken (Art 1).11 Sie zeigen sich damit gewillt, auch bei seinem weiteren Ausbau eine Vorreiterrolle zu übernehmen.

_____ 5 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Bast Art 26 AEUV Rn 12a. 6 Nowak EuR 2011, Beiheft 1, 21 (24). 7 Jungheim-Hertwig/Weiß § 14 (in diesem Band) Rn 1 f. 8 Immenga/Mestmäcker Rn 23. 9 So etwa EuGH, Rs C-52/09 – TeliaSonera Sverige, Rn 20 f. 10 Jungheim-Hertwig/Weiß § 14 (in diesem Band) Rn 261 ff, 66 ff, 116 ff. 11 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration v 22.1.2019. Die verfassungsmäßigen Voraussetzungen für die Ratifizierung des Vertrags sollen durch das Vertragsgesetz über die deutschHermann-Josef Blanke/Robert Böttner

II. Der Binnenmarkt | 893

II. Der Binnenmarkt II. Der Binnenmarkt 1. Die ideellen und geschichtlichen Grundlagen a) Das Konzept des Binnenmarkts Blickt man zurück auf die europäische Integration im 20. Jhd, dann stellt sie sich zuvörderst als eine Erfolgsgeschichte wirtschaftlicher Integration dar. Sie nahm mit der Montanunion ihren Anfang und führte über verschiedene Entwicklungsstufen, namentlich die Vertiefung des europäischen Binnenmarkts und eine zunehmende Vergemeinschaftung verschiedener Politikbereiche, zum Vertrag von Lissabon (2009), ohne aber hier schon ihren Abschluss zu finden. Der Binnenmarkt unterscheidet sich dabei deutlich von anderen Formen überstaatlicher Zusammenarbeit. Die geringste Stufe wirtschaftlicher Integration begegnet uns in sog Präferenzabkommen. Dabei handelt sich um bi- oder multilaterale Vorzugsbedingungen für den Handel mit bestimmten Gütern. Einen Schritt weiter geht die Integration innerhalb einer Freihandelszone. Hier werden für den gesamten Güterverkehr Handelshemmnisse in Form von Zöllen oder Quoten abgebaut. Im Gegensatz zur Zollunion ist die Freihandelszone jedoch nicht durch einen gemeinsamen Zolltarif gegenüber Drittländern gekennzeichnet. Die nächsthöhere Stufe wirtschaftlicher Integration bildet der Binnenmarkt (Gemeinsamer Markt), der die Zollunion und darüber hinaus den freien Verkehr von Arbeit, Kapital und Dienstleistungen umfasst. Gleichzeitig setzen die staatlichen Akteure einen gemeinsamen Ordnungsrahmen für die Wettbewerbspolitik und ermöglichen eine Harmonisierung bestimmter, binnenmarktrelevanter Politikbereiche (Rn 49 ff, 55 ff, 184 ff). Die höchste Form wirtschaftlicher Integration stellt die Wirtschafts- (und Währungs-)union dar. Sie umfasst neben den Integrationsschritten des Binnenmarkts auch eine Vereinheitlichung der Wirtschafts-, Währungs- und letztlich der Fiskalpolitik.12 Die Dominanz des Ökonomischen in der Geschichte der europäischen Einigung wurde wiederholt kritisiert,13 aber auch als „Mittel zum Zweck“ verstanden, um durch wachstums- und wohlstandsfördernde Effekte eine Verbundenheit zwischen den Mitgliedstaaten zu schaffen und damit die Grundlage für eine Politische Union zu legen.14 Mit Blick auf diese Erwartungen kommt dem Binnenmarkt bei der Integration eine Schlüsselfunktion zu: Die ihm inhärente Zollunion bildet die Grundlage für die Beseitigung der tarifären Handelshemmnisse. Der Binnenmarkt ist mehr und

_____ französische Zusammenarbeit und Integration geschaffen werden. Vgl Deutscher Bundestag, Drs 19/10051 v 10.5. 2019. 12 Gramlich § 15 (in diesem Band) Rn 83 ff, 118, 154; Swann S 192 ff; Ohr/Smeets S 60. 13 Häberle S 250. 14 Schwarze/Schwarze Verfassungsentwurf S 165; Chalmers/Davies/Monti S 675 f. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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mehr zu einem Sammelbegriff für sämtliche Rechtsvorschriften geworden, die in irgendeiner Weise das wirtschaftliche Geschehen innerhalb der EU betreffen, und zugleich zu einem Topos, der den Harmonisierungsbedarf weiterer Politikbereiche begründet. Die Bedeutung des Binnenmarkts als „Kernstück“15 der europäischen Integ8 ration wird dadurch verdeutlicht, dass der EU-Vertrag (Art 3 III UAbs 1 S 1 EUV) seine Errichtung zu einem Ziel der Union erklärt.16 Er ist damit Element einer Trias, die in Gestalt von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Marktwirtschaft das Leitbild der Union bildet. Die parlamentarische Demokratie und der soziale Rechtsstaat bedürfen der Sozialen Marktwirtschaft als Unterbau.17 Es bewahrheitet sich die Feststellung von der „Interdependenz der Ordnungen“.18 Von Anfang an unterscheidet diese Prägung die supranationale Gemeinschaft der Europäer – vor allem angesichts der unauflösbaren Rückbindung ihrer Ziele an die mitgliedstaatlichen Verfassungs- und Wirtschaftsordnungen unter Einbeziehung der Demokratie (Art 2 iVm Art 7 EUV) – von anderen Verbänden, die auf die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes gerichtet sind, wie der Mercosur (1991) und die African Economic Community (1991), oder zumindest eine Freihandelszone darstellen wie die Asean Free Trade Association (1992) innerhalb der internationalen Organisation ASEAN (1967)19 einschließlich der bisher weitgehend symbolischen Gründung der Asean Economic Community (2015). Eine Definition des Binnenmarkts erfolgt erst an späterer Stelle der Verträge: Gemäß der Legaldefinition des Art 26 II AEUV umfasst er einen „Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital […] gewährleistet ist“. Dieses Leitziel wird durch die Schaffung eines einzigen Marktes verwirklicht, in dem die „grenzüberschreitende Wirtschafts- und Wettbewerbsfreiheit jedes Einzelnen“ 20 garantiert wird. Die als Grund- oder Marktfreiheiten bezeichneten wirtschaftlichen Freiheiten 9 setzen sich aus der Warenverkehrsfreiheit (Art 28 ff AEUV), der Personenverkehrsfreiheit (bestehend aus Arbeitnehmerfreizügigkeit, Art 45–48 AEUV und der Niederlassungsfreiheit, Art 49–55 AEUV), der Dienstleistungsfreiheit (Art 56–62 AEUV) sowie der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit (Art 63–66 AEUV) zusammen. Sie bilden den Kern des Binnenmarkts (Rn 70, 252 f)21 und sollen gewährleisten, dass

_____ 15 Jochum § 11 Rn 597. 16 Blanke/Mangiameli/Sommermann Art 3 TEU Rn 31 ff. 17 Vgl Isensee/Kirchhof/Isensee HStR IX § 202 Rn 175; Isensee/Kirchhof/Rupp HStR IX § 203 Rn 23. 18 Eucken 1955 S 14 ff, 341 ff. 19 Diese Feststellung gilt auch nach Verabschiedung der ASEAN-Charta (2007), die die einzelnen Mitgliedstaaten zur Wahrung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten verpflichtet. 20 Nowak EuR 2004, Beiheft 3, 77 (79). 21 S Blanke/Scherzberg/Wegner/Müller-Graff S 329. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

II. Der Binnenmarkt | 895

sich jeder Marktbürger im gesamten Gebiet des Binnenmarkts wie in einem innerstaatlichen Wirtschaftsraum ökonomisch betätigen kann.22 Die Verwirklichung des Binnenmarkts liegt damit im Wesentlichen in der Organisation eines staatenübergreifenden Marktes, der allen Unionsbürgern unter den Bedingungen der Nichtdiskriminierung und der Freiheit von Hemmnissen Zugang gewährt und eine Interaktion zwischen den Marktakteuren aller Mitgliedstaaten garantiert.

b) Die Idee des Marktes Vor diesem Hintergrund stellt sich zunächst die Frage, wie der Begriff des „Marktes“ 10 zu verstehen ist. Die Wirtschaftswissenschaften verwenden diese Bezeichnung als abstrakten Begriff für den Ort, an dem Angebot und Nachfrage für bestimmte Güter aufeinandertreffen.23 Zwar finden diese Marktprozesse heute nicht mehr zwangsläufig an realen Orten statt und setzen auch nicht voraus, dass sich die Marktakteure (Anbieter und Nachfrager) tatsächlich begegnen, wie dies der stetig zunehmende Handel über das Internet belegt. Ebenso wenig beschränkt sich der Tausch nur auf physische Gegenstände. Vielmehr sind alle denkbaren Arten von Dienstleistungen – vom Haarschnitt bis zur Unternehmensberatung – vom Marktbegriff umfasst. Auch der Arbeitsmarkt ist ein Markt in diesem Sinne, auf dem der Arbeitnehmer im Tausch gegen Lohn seine Arbeitskraft anbietet. Gleiches gilt für den Kapitalmarkt. Hier bietet der Gläubiger in Form von Krediten Geld an und erhält dafür vom Schuldner entsprechend Zinsen. Geld und Arbeitskraft sind also ebenfalls auf dem Markt „tauschbare“ Güter.24 Anbieter und Nachfrager können Privatpersonen ebenso wie juristische Personen, sprich Unternehmen, aber auch der Staat oder seine Behörden und Institutionen sein. Die beschriebenen Tauschbeziehungen sind das Resultat einer arbeitsteiligen 11 Gesellschaft und gleichzeitig Garanten ihrer Funktionsfähigkeit. Sie ermöglichen die Spezialisierung der Wirtschaftssubjekte auf bestimmte Tätigkeiten oder Branchen und führen damit zu erhöhter Produktivität und Effizienz.25 Andererseits bedeutet dies aber auch, dass nicht jeder Marktakteur alle Güter und Dienstleistungen selbst herstellen kann und daher mit anderen Markteilnehmern in Austauschbeziehungen treten muss, um die Güter und Dienstleistungen zu erwerben, die er selbst nicht herzustellen vermag.26 Allen Austauschbeziehungen auf dem Markt gemeinsam ist damit das Ziel, durch Tausch die eigene Position im Vergleich zum Tauschzustand, wie er ex ante bestand, zu verbessern.

_____ 22 23 24 25 26

Streinz/Schröder Art 26 AEUV Rn 20. Pelkmans/Hanf/Chang/Pelkmans S 30. Vgl Wagener/Eger S 302 ff, 337 ff. Smith S 9 ff. Smith S 16 ff.

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Eine funktionierende Privatrechtsordnung ist die Voraussetzung für solche Austauschbeziehungen, die sich in rechtlicher Hinsicht in Verträgen zwischen den beteiligten Marktakteuren manifestieren.27 Nur wenn sichergestellt ist, dass der Tausch entsprechend der zwischen Anbieter und Nachfrager getroffenen Vereinbarung zustande kommt und ein Verstoß gegen die Vereinbarung privat- oder strafrechtliche Sanktionen nach sich zieht, werden die Marktteilnehmer bereit sein, sich auf Tauschbeziehungen einzulassen.28 Eine zentrale Rolle kommt damit der Privatautonomie zu, die es den Marktteilnehmern ermöglicht, sich frei zu entscheiden, mit wem sie Verträge eingehen und welchen Inhalt diese Vereinbarungen haben. Allerdings sind weder Produktionsfaktoren noch Güter und Dienstleistungen 13 oder die ihnen zugrunde liegenden Ressourcen unbegrenzt verfügbar. Der Grad ihrer Knappheit spiegelt sich im Preis wider, der seinerseits durch Angebot und Nachfrage bestimmt wird.29 Ein großes Angebot eines Gutes bei relativ geringer Nachfrage drückt sich in der Regel in niedrigen Preisen aus, während ein knappes Angebot bei gleichzeitig starker Nachfrage hohe Preise zur Folge hat. Wie in anderen marktwirtschaftlichen Systemen erfolgt die Verteilung der knappen Güter im Binnenmarkt über den Wettbewerb als zentralem Steuerungs- und Koordinierungsinstrument im Sinne des Ordoliberalismus (Rn 164 f).30 Der vom Wettbewerb ausgehende Kosten- und Preisdruck zwingt die Marktteilnehmer zu wirtschaftlich rationalem Verhalten. Dies bewirkt zum einen eine optimale Allokation der Produktionsfaktoren. Gleichzeitig versuchen die Wettbewerber sich gegenseitig zu übertrumpfen – sei es durch günstige Preise, besonders hohe Qualität oder eine weitergehende Produktdifferenzierung. Die im Vorfeld von Produktentwicklungen nötige Forschung führt zu Innovationen und technischem Fortschritt.31 Der durch den Binnenmarkt vergrößerte Wirtschaftsraum ist darüber hinaus mit 14 verbesserten Wohlfahrts- und Wachstumschancen verbunden.32 Schließlich eröffnet er den Zugang zu bislang im „eigenen“ Markt fehlenden Ressourcen und Absatzchancen. Zugleich führt der Wegfall der Grenzen aber auch zu mehr Konkurrenz. So können durch den Binnenmarkt einerseits neue Produktionskapazitäten und Arbeitsplätze geschaffen werden; andererseits werden ineffiziente Wettbewerber durch ihre effizientere Konkurrenz verdrängt und so die Wirtschaftsstruktur insgesamt effizienter.33 Ein auf dem Prinzip des freien Wettbewerbs basierendes Wirt12

_____ 27 Blanke/Scherzberg/Wegner/Blanke/Thumfahrt S 3; Behrens Ökonomische Grundlagen, S 155 ff. 28 Fritsch S 10; Ott/Schäfer/Köndgen/Randow S 123 f. 29 Oswalt/Eucken S 8; vBogdandy/Bast/Hatje S 813. 30 Vgl Eucken Die Grundlagen der Nationalökonomie, 9. unveränderte Aufl; Martini S 143; Immenga/Mestmäcker Rn 24; Cox/Jens/Markert/Cox/Hübner S 4. 31 Blanke/Mangiameli/Blanke The European Union after Lisbon S 373 f. 32 Vgl Baldwin/Wyplosz S 166 ff; Smith S 19 f. 33 Baldwin/Wyplosz S 166 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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schaftssystem hat somit drei entscheidende Vorteile: 1) Es generiert Innovationen und technischen Fortschritt; 2) es stellt eine optimale Ressourcenallokation sicher; 3) es führt zu sinkenden Preisen bei höherer Qualität.34

c) Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union Die Chance, über den Wettbewerb eine optimale Ressourcenallokation zu erzielen, 15 ist jedoch begrenzt. Dies gilt beispielsweise für öffentliche Güter (Staudämme, Verteidigung), für die keine individuelle Zahlungsbereitschaft feststellbar ist, oder für den Fall, dass der Preismechanismus durch andere Einflüsse, etwa durch Wettbewerbsverzerrungen, gestört wird.35 Um Wettbewerb und Markt als Leitmotive wirtschaftlichen Handelns zu erhalten, ist es erforderlich, den (Binnen-)Markt bestimmten staatlichen Ordnungsprinzipien und Regeln zu unterwerfen.36 Geprägt vom deutschen ordnungstheoretischen Denken, hat sich für diese Re- 16 geln der Begriff der Wirtschaftsverfassung etabliert, ohne dass allerdings Einigkeit darüber besteht, welche Regeln konkret hierunter zu subsumieren sind.37 Die Antwort hierauf hängt davon ab, ob die Wirtschaftsverfassung im formellen oder materiellen Sinne definiert wird. Im materiellen Sinn beinhaltet sie alle Rechtsnormen, die sich auf die Ordnung der Wirtschaft beziehen, unabhängig davon, ob es sich um einfache Gesetze oder um Normen mit Verfassungsrang handelt.38 Doch birgt ein solch weites Begriffsverständnis unter Einbeziehung des einfachen Rechts die Gefahr der „Konturenlosigkeit“.39 Daher ist ein formelles Verständnis der Wirtschaftsverfassung vorzuziehen, wonach nur die wirtschaftsordnenden Regelungen mit Verfassungsrang Teil der Wirtschaftsverfassung sind.40 Anders als das deutsche Grundgesetz, das nach Auffassung des BVerfG durch 17 „wirtschaftspolitische Neutralität“ gekennzeichnet ist,41 trifft der Vertrag von Lissabon in Art 3 III UAbs 1 S 2 AEUV eine Grundsatzentscheidung für eine „in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“. Er schließt damit, abgesehen von bestimmten Abweichungen etwa im Bereich der Agrarpolitik (zB Art 40 I lit b AEUV), ein planwirtschaftlich organisiertes Wirtschaftssystem aus.42 Ebenso wenig hat jedoch ein zügelloses Wettbewerbssystem in der europäischen Wirtschaftsverfas-

_____ 34 Kantzenbach S 16 ff; Cox/Jens/Markert/Cox/Hübner S 4 ff. 35 Brüggemeier/Behrens S 78 f. 36 Blanke/Mangiameli/Blanke The European Union after Lisbon S 374. 37 Nowak EuR 2009, Beiheft 1, 129 (143 ff). 38 HP Ipsen S 564. 39 Nowak EuR 2009, Beiheft 1, 129 (145). 40 HP Ipsen S 564. 41 BVerfG, 1 BvR 459/52, BVerfGE 4, 7 (17 f) – Investitionshilfe, Leitsatz Nr 6; 1 BvR 596/56, BVerfGE 7, 377 – Apotheken-Urteil, Rn 63. 42 So auch Nowak EuR 2009, Beiheft 1, 129 (149); Müller-Graff EuR 1997, 433 (440). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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sung seinen Platz. In der sozialen Marktwirtschaft wird das Marktgeschehen vielmehr mit sozialen Zielen verklammert,43 wie sie im Unionsrecht in der Generalklausel des „sozialen Fortschritts“ (Art 3 III UAbs 1 S 2 EUV) sowie konkretisierend in der Förderung der Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen (3. Erwägung Präambel AEUV) und in den Vorschriften über die Sozialpolitik (Art 151–161 AEUV) und die gleiche Bezahlung von Männern und Frauen (Art 157 AEUV) normiert sind.44 Ebenfalls Teil der europäischen Wirtschaftsverfassung sind die Wirtschafts18 grundrechte, namentlich die Berufsfreiheit (Art 15 GRCh), die unternehmerische Freiheit (Art 16 GRCh) sowie das Recht auf Eigentum (Art 17 GRCh).45 Schließlich sind die Vorschriften über die Wirtschafts- und Währungsunion (Art 119 ff AEUV) zu nennen, die die Bedeutung einer offenen, wettbewerbsverfassten Marktwirtschaft für die Koordinierung der Wirtschaftspolitiken verdeutlichen (Art 119 I AEUV). Den Eckstein dieser Wirtschaftsverfassung bilden der Binnenmarkt und die ihn konstituierenden Grundfreiheiten sowie die gemeinsamen Wettbewerbsregeln und Beihilfeverbote (Art 101 ff, Art 106 f AEUV).46 Die Gewährleistung der Grundfreiheiten vollzieht sich vorrangig im Wege der negativen Integration:47 Danach sind alle handelsbeschränkenden oder die Ausübung der Grundfreiheiten beeinträchtigenden Maßnahmen verboten (Rn 1 ff).48 Weitere konkrete Vorgaben für die Ausgestaltung des Binnenmarkts ergeben 19 sich aus dem „magischen Oktogon“ nach Art 3 III UAbs 1 S 2 EUV (Rn 99). Die tragende Idee des Binnenmarkts ist hiernach eine nachhaltige Entwicklung Europas mit ausgewogenem Wirtschaftswachstum bei gleichzeitiger Gewährleistung stabiler Preise. Der Begriff der nachhaltigen Entwicklung bringt zum Ausdruck, dass die wirtschaftliche Entwicklung der Union nicht zu Lasten künftiger Generationen gehen darf, sondern ökonomische, ökologische und soziale Ziele gleichermaßen zu beachten sind.49 Das Wirtschaftswachstum soll insofern „ausgewogen“ sein, als es nicht durch massive Arbeitslosigkeit, eine unausgeglichene Außenhandelsbilanz oder Inflation erzwungen wird.50 Die Wahrung der Preisstabilität ist unerlässlich, um das Funktionieren des Marktes über den Tausch von Waren zu erhalten und nicht durch einen zu starken Preisverfall das Eigentum zu gefährden.51

_____ 43 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Terhechte Art 3 EUV Rn 47. 44 Blanke/Mangiameli/Blanke The European Union after Lisbon S 374 f; Grabitz/Hilf/Nettesheim/ Terhechte Art 3 EUV Rn 47. 45 Kugelmann § 4 (in diesem Band) Rn 127 ff. Vgl Blanke/Mangiameli/Blanke The European Union after Lisbon S 389 ff. 46 Müller-Graff EuR 1997, 433 (441); HP Ipsen S 566. 47 Der Begriff der negativen Integration geht zurück auf Tinbergen S 122. 48 Reich EuZW 1991, 203 (203). 49 Blanke/Mangiameli/Sommermann Art 3 TEU Rn 33; Kotzur DÖV 2005, 313 (318). 50 Calliess/Ruffert/Ruffert Art 3 EUV Rn 23; Kotzur DÖV 2005, 313 (319). 51 vBogdandy/Bast/Hatje S 814 f. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

II. Der Binnenmarkt | 899

Nachhaltigkeit impliziert, dass die Politiken der Union ein „hohes Maß an 20 Umweltschutz“ (Art 3 III UAbs 1 S 2 EUV) verfolgen müssen. Die Erfordernisse des Umweltschutzes sind gemäß Art 11 AEUV bei der Festlegung und Durchführung aller Unionspolitiken und -maßnahmen einzubeziehen. Die Förderung von wissenschaftlichem und technischem Fortschritt (Art 3 III UAbs 1 S 3 EUV) liegt an der Schnittstelle von Wirtschaft und Umwelt und dient als Motor für Innovationen, etwa bei der Entwicklung umweltfreundlicher Produktionsverfahren. Der Binnenmarkt ist als eine in „hohem Maße wettbewerbsfähige und soziale 21 Marktwirtschaft“ (Art 3 III UAbs 1 S 2 EUV) organisiert. Dieses marktwirtschaftliche Konzept mit sozialer Steuerung ist orientiert an den wegweisenden Vorstellungen von Walter Eucken,52 Alfred Müller-Armack53 und Ludwig Ehrhard,54 ohne dass insoweit eine schlichte Übernahme stattgefunden hat.55 Der soziale Aspekt kommt hiernach bereits in der Schaffung fairer, weil gleicher Wettbewerbsbedingungen für alle zum Ausdruck. Dieser Gedanke findet in der „Wettbewerbsfähigkeit“ der „sozialen Marktwirtschaft“ seinen Niederschlag.56 Zugleich ist die soziale Marktwirtschaft auf Vollbeschäftigung und „sozialen Fortschritt“ (Art 3 III UAbs 1 S 2 AEUV) ausgerichtet – letzteres vor allem durch die Angleichung und Verbesserung der Lebensund Arbeitsbedingungen und die Umsetzung der Europäischen Sozialcharta.57 In diesem Kontext sind auch die Vertragsvorschriften über die gleiche Bezahlung von Männern und Frauen (Art 157 AEUV) sowie die Gleichwertigkeit bezahlten Urlaubs (Art 158 AEUV) und die äußerst heteronom und dürftig ausgestalteten Vorschriften zur Sozialpolitik (Art 151–156 und 159–161 AEUV)58 zu verstehen, die ein Sozialdumping in den Mitgliedstaaten vermeiden sollen.59 Schon lange werden mit der Verwirklichung des Binnenmarkts nicht mehr nur 22 ökonomische, sondern auch soziale und ökologische Ziele verfolgt, so dass teilweise von einem Wandel von einer reinen Wirtschaftsgemeinschaft hin zu einer Sozialgemeinschaft gesprochen wird.60 Aus sozialpolitischer Perspektive könnte insoweit die im Rahmen des Sozialgipfels von Göteborg am 17. November 2017 von den Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rates der Europäischen Union sowie der Europäischen Kommission proklamierte „Europäische Säule sozialer Rechte“ einen

_____ 52 Grundlegend Eucken Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 2. Aufl, 1955. 53 Müller-Armack Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, 1947, S 88. 54 Erhard Wohlstand für alle, 1957, S 7 ff. 55 Insb Ruffert/Calliess/Ruffert/ Art 3 EUV Rn 38 mahnt zur Zurückhaltung bei dieser Annahme. 56 Blanke/Mangiameli/Sommermann Art 3 TEU Rn 34; Schwarze/Becker Verfassungsentwurf S 201. 57 Calliess/Ruffert/Ruffert Art 3 EUV Rn 38. 58 Vgl zu dieser Kennzeichnung Pompe S 29. 59 Blanke/Mangiameli/Blanke The European Union after Lisbon S 373. 60 Schwarze/Becker Art 3 EUV Rn 13; vBogdandy/Bast/Hatje S 824. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Beleg bilden.61 Dieses erweiterte Binnenmarktkonzept wird von Anhängern eines streng ökonomisch geprägten Binnenmarkts kritisiert, weil sie befürchten, dass die EU ohne Legitimation lenkend in die Wirtschaft eingreifen und damit die Wirkungsweise der Märkte durch die Willkür bürokratischer Apparate außer Kraft setzen könnte.62 Ob sich ein erweitertes Binnenmarktkonzept tatsächlich negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung im Gemeinsamen Markt auswirkt, ist fraglich, denn eine frühzeitige Einbeziehung sozialer oder ökologischer Aspekte bei der ökonomischen Entwicklung im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung kann langfristig gesehen einen Wettbewerbsvorteil darstellen. Allerdings liegt die Zuständigkeit für die Sozialpolitik überwiegend bei den Mitgliedstaaten, so dass ihnen auch die Umsetzung der Mehrzahl der „sozialen Rechte“ obliegt. Deshalb handelt es sich bei der „Europäischen Säule“ aller jemals in Europa erdachten sozialen Rechte eher um symbolische Politik. Die Frage, ob die Union sich auf rein wirtschaftliche Gesichtspunkte beschränkt 23 oder „mehr“ als nur ein Binnenmarkt ist, wird auch durch die Stellung der Marktbürger bestimmt. Kritisiert wurde, dass sie auf die Rolle als „Verbraucher und Gewinner der Marktfreiheiten“63 reduziert werden. Die dem homo oeconomicus zugewiesene Rechtsstellung beschränkte sich unter der Geltung des EWG-Vertrags auf seine „Teilhabe am Gemeinsamen Markt“.64 In seiner „ökonomisch relevanten Rolle“ wurde er zwar dem Inländer gleichgestellt, hatte darüber hinaus aber keinerlei politische Rechte.65 Mit dem Zusammenwachsen der europäischen Mitgliedstaaten zu einer Politischen Union gewinnt der „Marktbürger“ indes den Status eines „Unionsbürgers“ in einem „Europa der Bürger“.66 Als solcher genießt er ein erweitertes Aufenthaltsrecht, das nicht mehr an die starren Grenzen der Erwerbstätigkeit geknüpft ist, und wird inzwischen auch im Bereich der sozialen Sicherung zunehmend gleichgestellt. Am deutlichsten manifestiert sich die Unionsbürgerschaft jedoch in den politischen Rechten des civis Europaeus.67 In den Gewährleistungen der Europäischen Grundrechtecharta (Art 39–46), namentlich im Wahlrecht zum Unionsparlament und im kommunalen Wahlrecht für Unionsbürger, die in einem anderen Mit-

_____ 61 Europäische Säule sozialer Rechte v 17.11.2017, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/commission /sites/beta-political/files/social-summit-european-pillar-social-rights-booklet_de.pdf. 62 Brüggemeier/Behrens S 79; Ohr/Mussler/Streit S 268 f, 274. 63 Hartmann/De Witte GLJ 2013, 449 (450). Der Beitrag ist ein Plädoyer für eine Politische Union, die zwar gleichermaßen nach Wohlstandsförderung und wirtschaftlicher Entwicklung strebt, aber sich nicht auf „economic rationalization“ beschränkt. 64 HP Ipsen S 251. 65 HP Ipsen S 252. 66 Magiera DÖV 1987, 221 (221). 67 EuGH, Rs 32/75 – Cristini; Rs 53/81 – Levin; verb Rs 286/82 ua – Luisi und Carbone; Rs 293/83 – Gravier; Rs 139/85 – Kempf; vgl Magiera DÖV 1987, 221 (222 ff); Oppermann FS Hans Peter Ipsen, 1977, S 87 (93); Blanke/Mangiameli/Horspool The European Union after Lisbon S 281. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

II. Der Binnenmarkt | 901

gliedstaat leben, finden diese politischen Rechte ihren konkreten Ausdruck (Art 6 EUV, Art 14 EUV, Art 22 I AEUV).68 Mit dem Aufstieg des Marktbürgers zum Unionsbürger haben zumindest 24 teilweise sozialpolitische Aspekte Eingang in die Binnenmarktpolitik gefunden, auch wenn das ökonomische Movens unverkennbar ist.69 Dies gilt etwa für den Bereich der Personenfreizügigkeit und die Koordinierung der Sozialversicherungssysteme nach Art 48 AEUV, die eine herausragende Bestimmung des europäischen Sozialrechts darstellt. So wird den Wanderarbeitnehmern bspw die Übertragbarkeit von Leistungsansprüchen aus den verschiedenen Sozialversicherungssystemen der Mitgliedstaaten gewährleistet, in deren Regelungsbereich sie beschäftigt waren.70 Auch die in Art 3 III UAbs 1 S 2 EUV beschriebenen sozialen Ziele, wie die „Förderung des sozialen Fortschritts“ oder die „wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“, machen deutlich, dass die soziale Dimension des Binnenmarkts unabdingbar ist, um den Völkern die Idee der europäischen Integration weiterhin vermitteln zu können (Rn 21, 76).71 Das politische Bestreben, einen Rahmen für Mindestlohnregelungen sowie für nationale Grundsicherungssysteme in den Staaten der Union zu entwickeln,72 ist im Zeichen dieser Ziele zu deuten. Soziale und ökonomische Aspekte stehen auch bei der Errichtung des Binnen- 25 markts nicht zwangsläufig in einem Widerspruch. Dies lassen bereits die Mindestvorschriften für den Arbeitnehmerschutz oder die Sozialrechtskoordinierung erkennen, die dazu beitragen sollen, unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen zu vermeiden und so die Mobilität der Wanderarbeitnehmer zu steigern. Zudem ist nicht zu übersehen, dass sozialer Fortschritt maßgeblich von der wirtschaftlichen Stärke der Mitgliedstaaten abhängt. Eine stabile wirtschaftliche Lage ist Voraussetzung für eine gute finanzielle Situation der Sozialversicherungssysteme.73 Umgekehrt kann eine Politik des sozialen Ausgleichs auch wirtschaftspolitisch förderlich sein, weil sie Innovations- und Investitionsanreize geben kann. Kritisches und innovatives Denken sowie die Bereitschaft zu unternehmerischem Risiko werden gesteigert, wenn sich die Unionsbürger durch Rahmenbedingungen der Union ausreichend abgesichert fühlen.74

_____ 68 Magiera DÖV 1987, 221 (228); Wollenschläger S 100. 69 Schwarze/Becker Verfassungsentwurf S 204. 70 Art 6 VO 883/2004, ABl 2004 L 166/1. 71 Ziegler EuR 2004, Beiheft 3, 13. 72 Vgl Koalitionsvertrag CDU, CSU und SPD, Ein neuer Aufbruch für Europa – Eine neue Dynamik für Deutschland – Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, 19. Legislaturperiode, 12.3.2018, S 7; auch die „Europäische Säule der sozialen Rechte“ (Fn 61), S 15, enthält unter Ziff. 06 ein Bekenntnis zu „minimum wages“. 73 Schwarze/Hatje Verfassungsentwurf S 190. 74 Vgl Crouch S 29. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

902 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

d) Vom Gemeinsamen Markt zum Binnenmarkt 26 Auch wenn die Idee eines vereinten Europas häufig wegen ihrer friedenstiftenden

und versöhnenden Wirkung gefeiert und zugleich die Abkoppelung der Wirtschaftsverfassung von der Sozialverfassung als ein Konstruktionsfehler der europäischen Integration kritisiert wird,75 ist nicht zu verkennen, dass dieser Prozess in seinen Anfängen nur in Gestalt einer Wirtschaftsgemeinschaft realisierbar war. Dies gilt namentlich für die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, 1951) sowie die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) als dem bedeutendsten Ergebnis der Römischen Verträge von 1957. Mit der Gründung der EGKS wurde das Fundament der wirtschaftlichen Integra27 tion gelegt,76 die sich im nächsten Schritt in der Errichtung einer Zollunion und eines „Gemeinsamen Marktes“ manifestierte (Art 2 EWGV). Nach Art 8 EWGV sollte der Gemeinsame Markt während einer Übergangszeit von zwölf Jahren schrittweise in drei Stufen von je vier Jahren ins Werk gesetzt werden. Er war von Anfang an auch auf die Verwirklichung der vier Grundfreiheiten ausgerichtet, also auf den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital. Das Ziel, die wirtschaftliche Einheit der Mitgliedstaaten herzustellen, umfasst zugleich ihre Verpflichtung, Wettbewerbsverzerrungen abzubauen und begleitende Politiken zu unterstützen, die für den Gemeinsamen Markt förderlich sind (Rn 55 ff, 77 f, 87 ff, 92 ff, 184 ff).77 Ein solcher Gemeinsamer Markt – so hofften die Vertragsschöpfer – werde in28 folge der besseren Mobilität von Produktionsfaktoren wie Arbeit und Kapital und wegen eines vergrößerten Absatzmarktes in den Mitgliedstaaten die Wirtschaft ankurbeln und handels- sowie wohlfahrtssteigernde Effekte erzeugen.78 Um diesem Ziel näher zu kommen, verfügte der Rat gemäß Art 100 EWGV (= Art 115 AEUV) über die Zuständigkeit, auf Vorschlag der Kommission Richtlinien zur Rechtsangleichung von Gesetzen oder Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes betrafen. Handelshemmnisse, die aus einer unterschiedlichen nationalen Gesetzgebung resultierten, sollten auf diese Weise abgebaut werden. Allerdings konnten diese Richtlinien nur einstimmig erlassen werden, was den Prozess der Rechtsangleichung stark verzögerte. Hinzu kamen Mitte der 1970er Jahre erschwerend die Auswirkungen der Ölkrise hinzu, die die Erwartungen an das Wirtschaftswachstum dämpften. Dies führte zu einem Nachlassen integrationspolitischer Anstrengungen, die zur Herstellung eines Gemeinsamen Marktes nötig gewesen wären („Eurosklerose“).79

_____ 75 76 77 78 79

Vgl etwa Scharpf ZSE 2009, 419 mwN. Ohr/Smeets S 47. Schroeder Grundkurs § 2 Rn 9. Ohr/Mussler/Streit S 265. Giersch Kieler Diskussionsbeiträge Nr 112 (1985), S 4; Baldwin /Wyplosz S 19 f. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Einen neuen Impuls setzte die Kommission auf Initiative von Jacques Delors 29 1985 mit dem „Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes“.80 Es beinhaltet einen Katalog von knapp 300 Maßnahmen, die das Ziel verfolgen, den Binnenmarkt durch die Beseitigung verschiedener Arten von Beschränkungen zu vollenden. Dabei geht es zuvörderst um die Aufhebung „materieller Schranken“, insb die Beseitigung von Waren- und Personenkontrollen an den Grenzen. Vor allem sollten die „technischen Hemmnisse“ beseitigt werden, um so die Ausübung der Warenverkehrs-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit zugunsten der Marktbürger zu gewährleisten. Dem diente auch die Harmonisierung technischer Normen und Produktstandards81 (Rn 184 ff). Das dritte Hemmnis, das das Weißbuch in den Blick nimmt, stellen die unterschiedlichen Regelungen der Mitgliedstaaten im Bereich der indirekten Steuern dar. Da sich diese heterogenen Abgaben für den Endverbraucher letztlich in den Preisen niederschlagen, sind auch sie geeignet, die Grundfreiheiten zu beschränken. Um dies zu verhindern, schlägt das Weißbuch eine Harmonisierung der indirekten Steuern vor82 (Rn 188 ff). Noch heute ist das Programm zur Verwirklichung des Binnenmarkts im Kern darauf gerichtet, diese drei Schranken zu beseitigen. Die Einheitliche Europäische Akte (EEA) baute auf der Analyse des Weißbuchs 30 auf.83 In diesem am 1. Juli 1987 in Kraft getretenen spezifischen Reformvertrag wurde das Ziel formuliert, bis zum 31. Dezember 1992 den Binnenmarkt „schrittweise“ zu verwirklichen, wobei diese Terminvorgabe keine bindende rechtliche Wirkung entfalten sollte. Zugleich wurde der Binnenmarkt im Sinne eines „Raums ohne Binnengrenzen“ als Rechtsbegriff definiert, in dem die vier Grundfreiheiten gewährleistet sind (Art 8a EWGV = Art 26 AEUV). Um die angestrebte Harmonisierung zu erreichen, änderte die EEA das Ent- 31 scheidungsverfahren im Bereich des Binnenmarkts: Dynamisierend wirkte dabei insb die Einführung des Art 100a EWGV (= Art 114 AEUV), der dem Rat den Erlass von Maßnahmen zur Rechtsangleichung ermöglichte, sofern sie die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Ziel haben.84 Bis auf einige Ausnahmen (etwa hinsichtlich des Steuerrechts) reichen seitdem für Binnenmarkt-Beschlüsse im Ministerrat qualifizierte Mehrheiten aus, wohingegen zuvor die Einstimmigkeitsregel nach Art 100 EWGV (= Art 115 AEUV) den Entscheidungsprozess erschwerte. Die Reform im Sinne der Beschlussfassung im Rat nach dem Prinzip der qualifizierten Mehrheit war ein Meilenstein bei der vertraglichen Ausgestaltung eines binnenmarktfreundlichen Gesetzgebungsverfahrens (Rn 206 f). Zusätzlichen Auftrieb er-

_____ 80 81 82 83 84

KOM(85) 310. KOM(85) 310, S 9 ff (Abbau materieller Schranken), S 17 ff (Abbau technischer Schranken). KOM(85) 310, S 39 ff (Harmonisierung der indirekten Steuern). Blanke/Mangiameli/Blanke The European Union after Lisbon S 372. Ahlfeldt S 39.

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904 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

fuhr die Verwirklichung des Binnenmarkts durch die Ergebnisse einer von der Kommission in Auftrag gegebenen Studie über die wirtschaftlichen Auswirkungen der Vollendung des Binnenmarkts, wenngleich die Prognosen des Cecchini-Berichts sich als zu optimistisch erwiesen.85 Die Einführung des Terminus „Binnenmarkt“ durch die EEA führte allerdings 32 aufgrund der zeitweiligen parallelen Verwendung der Begriffe „Binnenmarkt“ und „Gemeinsamer Markt“ im Schrifttum zu Kontroversen darüber, ob es sich hierbei um Synonyme handelt86 oder der Begriff des Binnenmarkts gegenüber dem Gemeinsamen Markt umfassender ist.87 Mit dem Vertrag von Lissabon wurde die parallele Verwendung der beiden Begriffe aufgegeben und durch die allgemeine Verwendung der Bezeichnung „Binnenmarkt“ ersetzt. Die Diskussion über diese Begrifflichkeiten ist damit hinfällig geworden,88 denn die Synonymitätstheorie wurde seitens der Vertragsschöpfer im Ergebnis bestätigt.89 Das Ziel, den Binnenmarkt bis zum 31. Dezember 1992 zu verwirklichen, wurde 33 nicht vollständig erreicht. Auch über 25 Jahre später gilt der Binnenmarkt noch nicht als vollendet, so dass er mittlerweile als kontinuierlicher Prozess, ja als „Daueraufgabe“ verstanden wird.90 Neben den nationalen Umsetzungsdefiziten sind es vor allem Gesetzeslücken und administrative Hürden, vorwiegend im Steuer- und privaten Wirtschaftsrecht, die den Integrationsprozess hemmen. Aus diesem Grund

_____ 85 Cecchini Europa ’92, 1988, S 134. Dieser Bericht ging von einem zusätzlichen Wachstum des BIP von 4,5%, durchschnittlich um 6,1% sinkenden Verbraucherpreisen und der Schaffung von 1,8 Millionen neuen Arbeitsplätzen aus. Zwar wird in dem Bericht der Europäischen Kommission „20 Jahre Europäischer Binnenmarkt“ von etwa 2,77 Millionen neuen Arbeitsplätzen gesprochen – allerdings für einen Zeitraum von 20 Jahren und nicht nur bis 1992; zur Kritik vgl Berghold S 4 ff sowie Ochel ifo Schnelldienst 1990 (05/06), 14 (17 f). 86 Schroeder Grundkurs § 18 Rn 2 f. 87 Schwarze/Hatje Art 26 AEUV Rn 2; hierzu etwa Ehlermann CMLRev 1987, 361 (369); Hipp S 248 f. Mit Verweis auf das Urteil des EuGH im Fall Gaston Schul wurde demgegenüber lange Zeit die Auffassung vertreten, beim Gemeinsamen Markt handele es sich um die Vorstufe zum integrationsintensiveren Binnenmarkt (vgl Dauses EuZW 1990, 8 [10]). Der EuGH hatte in diesem Urteil erklärt, der Gemeinsame Markt ziele auf die „Beseitigung aller Handelshemmnisse im innergemeinschaftlichen Handel“ ab, um die „nationalen Märkte zu einem einheitlichen Markt [zu verschmelzen], dessen Bedingungen denjenigen eines wirklichen Binnenmarkts möglichst nahekommen“ (EuGH, Rs 15/81 – Gaston Schul, Rn 33). Demgegenüber wurde vereinzelt auch die Ansicht vertreten, der Gemeinsame Markt sei „mehr“ als der Binnenmarkt, da jener auch andere Bereiche wie etwa die Agrar- oder Wettbewerbspolitik umfasst (Hailbronner/Jochum, Europarecht II (2005) Rn 2). Angesichts der Tatsache, dass die Wettbewerbspolitik ein Kernelement des Binnenmarkts darstellt (vgl Protokoll Nr 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb) und zur Errichtung des Binnenmarkts weitere Politikbereiche wie Umwelt, Gesundheit oder Verkehrspolitik mit einbezogen werden, muss diese Auffassung abgelehnt werden. 88 Schroeder Grundkurs § 18 Rn 3. 89 Blanke/Mangiameli/Blanke The European Union after Lisbon S 378. 90 Schwarze/Hatje Art 26 AEUV Rn 1. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

II. Der Binnenmarkt | 905

und angesichts der Auswirkungen der Finanzkrise hat die Kommission im April 2011 die erste Binnenmarktakte vorgelegt, die zwölf Ansatzpunkte („Hebel“) zur Ankurbelung des Wachstums und zur Stärkung des Vertrauens enthält (Binnenmarktakte I).91 Im Oktober 2012 hat die Kommission ein zweites Maßnahmenpaket vorgeschlagen (Binnenmarktakte II),92 um den Binnenmarkt weiterzuentwickeln und sein ungenutztes Potenzial als Wachstumsmotor auszuschöpfen. Die in der Mitteilung genannten Initiativen beziehen sich auf verschiedene Bereiche, wie zB den Zugang zu Finanzierungsoptionen für kleine und mittlere Unternehmen (KMU), die Mobilität von Arbeitnehmern, das regulatorische Umfeld, die Förderung der Normung und die Bereitstellung von einfacheren, schnelleren und kosteneffizienten Streitbeilegungsverfahren für Verbraucher (Rn 104 ff, 249). Seit dem Jahr 2012 legt die Kommission den anderen europäischen Institutionen 34 in Ergänzung zum Jahreswachstumsbericht jährlich Berichte über den Stand der Verwirklichung des Binnenmarkts vor. Der Bericht für das Jahr 2017 fordert die Mitgliedstaaten auf, ihr politisches Engagement für diesen Markt zu intensivieren. Denn obwohl er enorme Erfolge vorzuweisen habe, werde es mit einem steigenden Grad an Integration politisch zunehmend schwieriger, Fortschritte zu erzielen. Um den Binnenmarkt weiter zu vertiefen und zu stärken, appellierte die Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, die wichtigsten Vorschläge zu seinem Ausbau noch vor dem Ende der bis Mai 2019 laufenden Legislaturperiode anzunehmen. Dazu sollten etwa die Investitionen in die Bürger gehören, um ihnen den Erwerb der fortgeschrittenen digitalen Kompetenzen zu ermöglichen, aber auch der Zugang zu den neuesten digitalen Technologien sowie der Aufbau der Kapitalmarktunion.93 Bereits seit 1997 werden die Fortschritte bei der Verwirklichung des Binnen- 35 markts im Binnenmarktanzeiger dokumentiert. Aus dem Binnenmarktanzeiger 2018, der das 25-jährige Bestehen des EU-Binnenmarkts markiert, geht hervor, dass zwar die meisten Hindernisse für den freien Verkehr von Personen, Dienstleistungen, Waren und Kapital abgebaut werden, es jedoch einige Bereiche gibt, in denen die Situation stagniert oder sich sogar verschlechtert hat. Der Bericht dokumentiert im Vergleich zum Vorjahr Defizite in den Bereichen der Offenheit für den grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungsverkehr und der Fairness der öffentlichen Auftragsvergabe sowie eine Zunahme der Zahl der Vertragsverletzungsverfahren.94

_____ 91 KOM(2011) 206. 92 KOM(2012) 573. 93 Europäische Kommission Der Binnenmarkt in einer Welt im Wandel – Ein wertvoller Aktivposten braucht politisches Engagement, COM(2018) 772. 94 Europäische Kommission Einhaltung des EU-Rechts in den Mitgliedstaaten verbesserungsfähig, IP/18/4295. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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2. Der Binnenmarkt als Raum ohne Binnengrenzen und die Außenwirtschaftspolitik der Union a) Die Zollunion als Grundlage des Binnenmarkts 36 Die „Binnengrenzen“, die geeignet sind, die Verwirklichung des Binnenmarkts iSd Art 26 II AEUV zu behindern, können ganz unterschiedlicher Natur sein. Neben Sprachgrenzen oder unterschiedlichen Produktstandards und Produktregulierungen sind dies nicht zuletzt gewisse „Grenzen in den Köpfen“.95 Vorrangig werden unter den Binnengrenzen im engeren Sinne jedoch die innergemeinschaftlichen Staatsgrenzen verstanden, die unterschiedliche Zollgebiete markieren und mit Grenzkontrollen und erschwerten Grenzübergängen verbunden sind, um so letztlich den heimischen Markt gegen ausländische Anbieter zu schützen (Protektionismus).96 Aus ökonomischer Perspektive ist die Aufhebung der Binnengrenzen vor allem durch den Wegfall der tarifären Hemmnisse gekennzeichnet, die als Ergebnisse der nationalstaatlichen Grenzen einer Marktintegration entgegenstehen (Rn 333 ff).97 Die Rechtsgrundlage für einen „unbeschwerten Grenzübertritt“ folgt allerdings 37 nicht unmittelbar aus den Grundfreiheiten oder aus Art 26 AEUV, sondern beruht auf den sog „Schengener Abkommen“, bestehend aus dem 1985 in Kraft getretenen Abkommen Schengen I und dem Durchführungsübereinkommen (Schengen II – 1990/1995).98 Erst in diesen Verträgen, die – von derzeit 26 Staaten ratifiziert und ergänzt um den Schengener Grenzkodex99 sowie das Schengener Informationssystem II100 – zum „Schengen-Besitzstand“ der Gemeinschaft wurden, ist festgelegt, dass die Binnengrenzen an jeder Stelle ohne Personenkontrolle überschritten werden dürfen (Art 2 I Schengen II).101 Die Öffnung der Binnengrenzen ist zudem Voraussetzung für die Harmonisierungsmaßnahmen zur Verwirklichung der Grundfreiheiten. So ist etwa die Durchsetzung des Ursprungslandprinzips nur sinnvoll, wenn auch tatsächlich ein grenzüberschreitender Verkehr möglich ist und nicht von vorneherein durch Binnengrenzen behindert wird. Die Zollunion ist daher Vorstufe des Binnenmarkts und zugleich weiterer Integrationsschritt,102 mithin die „Grundlage der Gemein-

_____ 95 Pelkmans/Hanf/Chang/Pelkmans S 41; Jochum § 11 Rn 697. 96 Dauses/Ludwigs/Brigola C.I Rn 7. 97 Pelkmans/Hanf/Chang/Pelkmans S 31. 98 Schengener Übereinkommen, GMBl 1986, 79; Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen, BGBl 1993 II 1013. Ein „Anspruch“ auf den Wegfall jeglicher Grenzkontrollen ergibt sich indes nicht aus den Binnenmarktvorschriften (Frenz Hdb 1 Rn 24). 99 VO Nr 2016/399 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen, ABl 2016 L 77/1. 100 VO Nr 1987/2006 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems der zweiten Generation, ABl L 381/4. 101 Pache § 21 (in diesem Band) Rn 11, 86 ff. 102 Zur grundlegenden Bedeutung der Zollunion für weitere binnenmarktrelevante Politikfelder siehe auch Dauses/Ludwigs/Lux C.II Rn 7–9; Zippel/Clapham S 33. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

II. Der Binnenmarkt | 907

schaft“103 oder ihr „Nukleus“.104 2017 bewältigten die Zollbehörden der Mitgliedstaaten, die wie eine einzige Zollverwaltung agieren, 15,6% des weltweiten Handels,105 obwohl der Anteil der EU an der Weltbevölkerung lediglich 6,9 Prozent beträgt. Die Regelung der Zollunion (Rn 258 ff, 329 ff), eine der ersten entscheidenden 38 Schritte der Gemeinschaft auf dem Weg zum weltweit größten Handelsblock (1. Juli 1968), unterliegt gemäß Art 3 I lit a AEUV der ausschließlichen Zuständigkeit der Union. Die primärrechtliche Grundlage der Zollunion findet sich in den Art 28 ff AEUV. Gemäß Art 28 I AEUV erstreckt sich die Zollunion auf den gesamten Warenaustausch und umfasst das Verbot, zwischen den Mitgliedstaaten Ein- und Ausfuhrzölle sowie Abgaben gleicher Wirkung zu erheben. Von diesem Warenbegriff werden ausnahmslos auch ordnungsgemäß eingeführte Waren aus Drittstaaten erfasst, die in einem Mitgliedstaat bereits frei zirkulieren dürfen, so dass sämtliche Vorschriften zur Zollunion auch auf sie anwendbar sind (Art 28 II AEUV). Angriffe auf die Zollunion und Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit 39 liegen vor, wenn Mitgliedstaaten Handelshemmnisse, insb in Form von „Maßnahmen gleicher Wirkung“, errichten (Rn 342 ff). Nach der immer noch gültigen Definition der Dassonville-Entscheidung von 1974 (Rn 116, 304, 343) ist „jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern […], als Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung anzusehen“.106 In dieser richterlichen Definition wird der Anwendungsbereich der „Maßnahmen gleicher Wirkung“ weit gefasst, insb weil die Spürbarkeit oder die tatsächliche Behinderung des Warenverkehrs infolge der Maßnahme keine Rolle spielt.107 Die Weiterentwicklung der Zollunion ist ein dynamischer Prozess. Die Zollverwaltung der Union steht vor Herausforderungen, die insbesondere den Austritt des UK, verstärkte Kontrollen und Betrugsbekämpfung (u.a. ein Management der finanziellen Risiken im Zollbereich in der gesamten EU), die verstärkte Überwachung des EU-Zollrechts sowie den Umgang mit dem elektronischen Handel betreffen.108 b) Die Verbindungslinien der Zollunion mit der Außenhandelspolitik Im Unterschied zu einer bloßen Freihandelszone kennzeichnet die Zollunion zudem 40 „die Einführung eines Gemeinsamen Zolltarifs gegenüber dritten Ländern“

_____ 103 HP Ipsen S 569. 104 Schwarze/Terhechte Art 28 AEUV Rn 2. 105 Vgl Mitteilung der Kommission, Erster Zweijahresbericht für die Entwicklung der EU-Zollunion und ihrer Governance, COM(2018) 524 final. 106 EuGH, Rs 8/74 – Dassonville, Rn 5. Für einen Überblick über die verschiedenen nicht tarifären Handelshemmnisse siehe Zippel/Langhammer S 41 ff. 107 Becker JA 1997, 65 (70); Dauses RIW 1984, 197 (201). 108 Vgl Mitteilung der Kommission, Erster Zweijahresbericht für die Entwicklung der EU-Zollunion und ihrer Governance, COM(2018) 524 final. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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(Art 28 I letzter Halbs AEUV). Die Errichtung der europäischen Zollunion und noch mehr die Errichtung des Binnenmarkts wurden von Drittstaaten zunächst mit Skepsis aufgenommen, befürchteten sie doch wegen der Zahl der in diesem Markt lebenden Konsumenten eine „Festung Europa“, die durch die Liberalisierung des Handels nach innen und die Verfestigung von Handelshemmnissen nach außen markiert sei.109 Auf diese Kritik hin betonte die Europäische Kommission, dass die Verwirklichung des Binnenmarkts nicht „Protektionismus“ bedeute, sondern „für Mitgliedstaaten sowie für Drittstaaten“ gleichermaßen vorteilhaft sei.110 Gleichzeitig ist die EU Gründungsmitglied der Welthandelsorganisation und wird auch hinsichtlich des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) wie ein Vertragspartner behandelt.111 Ziel dieses Abkommens ist es, den zwischenstaatlichen Handel durch den Abbau tarifärer Hemmnisse zu fördern. Der 1947 abgeschlossene völkerrechtliche Vertrag beschränkte sich zunächst auf die Etablierung des Meistbegünstigungsprinzips. Danach sollen die Bedingungen, die in Präferenzabkommen mit einem Vertragspartner abgeschlossen worden sind, gleichermaßen für den Handel mit den anderen Vertragspartnern gelten.112 Schrittweise wurde dieser Vertrag dann sowohl im Hinblick auf seine Vertragspartner als auch auf die Liberalisierung des Handels erweitert, so dass Zölle und mengenmäßige Beschränkungen zwischen den Industrienationen heute kaum mehr eine Rolle spielen.113 Den Umstand, dass die europäische Handelspolitik nicht auf die Isolation des 41 europäischen Marktes, sondern vielmehr auf eine „allumfassende Weltordnungspolitik“114 gerichtet ist, verdeutlichen auch die vertraglichen Bestimmungen zur Handelspolitik. So sieht Art 206 AEUV vor, dass die Union „durch die Schaffung einer Zollunion […] zur harmonischen Entwicklung des Welthandels, zur schrittweisen Beseitigung der Beschränkungen im internationalen Handelsverkehr und bei den ausländischen Direktinvestitionen sowie zum Abbau der Zollschranken“ beiträgt.115 Zu Beginn der Neunziger Jahre wurde die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) neu ausgerichtet. Unter den Vorzeichen der Liberalisierung der Welthandelspolitik hat die

_____ 109 Kirchhoff RIW 1991, 533; Pelkman/Chang/Hahn/Gstöhl S 222. 110 Europäische Kommission Europe World Partner, Information Memo P-117, Brüssel 1988. Verneinend zur Errichtung einer „Festung Europa“ auch Eeckhout. Dieser merkt an, dass die Abschaffung nationaler Quoten und anderer Hemmnisse ohne den Binnenmarkt der EU gleichwohl bedeutend schwieriger gewesen wäre (Eeckhout S 356 f). 111 Bungenberg/Hermann/Hahn S 14; zur EU als GATT-Vertragspartner vgl Hilf/Petersmann/ Petersmann S 119 (127). 112 Herdegen IntWR § 10 Rn 37. Eine Ausnahme ergibt sich allerdings für Zollunionen oder Freihandelszonen: Die zwischen den teilnehmenden Staaten gewährten Handelsvorteile müssen anderen Handelspartnern nicht ebenfalls eingeräumt werden (Art X–XXiV GATT). 113 Cremer § 22 (in diesem Band) Rn 206 ff; Herrmann EuR 2004, Beiheft 3, 175 (179). 114 Herrmann EuR 2004, Beiheft 3, 175 (194). 115 Cremer § 22 (in diesem Band) Rn 181. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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EU damals begonnen, protektionistische Maßnahmen im Bereich der GAP abzubauen. Als handelspolitischer global player hat sie seit Mitte der Neunziger Jahre 41 Abkommen mit 72 Ländern, ua mit Südafrika, Chile, Mexiko sowie verschiedenen Mittelmeeranrainern und den Cariforum-Staaten geschlossen, zuletzt mit Japan (JEFTA – 2018/2019) und dem Mercosur (2019), aber auch Präferenzabkommen zugunsten von Entwicklungsländern (Allgemeines Präferenzsystem für Entwicklungsländer116). Die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (Transatlantic Trade and Investment Partnership – TTIP) und das Umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen EU-Kanada (Comprehensive Economic and Trade Agreement – CETA) zählen zu den beiden bekanntesten Freihandelsabkommen, die die EUKommission im Namen und Auftrag der Mitgliedstaaten verhandelt hat. Während das TTIP als (vorläufig) gescheitert gilt, ist das CETA am 21. September 2017 (zunächst provisorisch) in Kraft getreten und gilt als Vorreiter für weitere Handelsabkommen, die von der Union mit Drittstaaten geschlossen wurden. Die „Festung Europa“ wird daher mittlerweile weniger aus einer rein ökonomischen und handelspolitischen Warte apostrophiert, sondern mit Blick auf die Migrations-, Einwanderungs- und Asylpolitik der Union – vor allem angesichts der Flüchtlingsdramen vor den südlichen Küsten Italiens und Griechenlands – kritisiert.117 Von besonderer Bedeutung ist auch das Abkommen über den Europäischen 42 Wirtschaftsraum (EWR).118 Dabei handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen der Union und den EFTA-Staaten119 (mit Ausnahme der Schweiz), der binnenmarktähnliche Verhältnisse schafft. Auch in diesem Raum gelten die vier Grundfreiheiten. Dies schließt Koordinierungs- und Harmonisierungsmaßnahmen in vielen Bereichen ein – allerdings nicht auf dem Gebiet der Agrarpolitik und der indirekten Steuern. Zudem gibt es keinen gemeinsamen Außenzoll, da es sich beim EWR lediglich um eine Freihandelszone und nicht um eine Zollunion handelt.120 Damit ist die Gemeinsame Handelspolitik nicht auf die Zollunion als Ausschnitt des europäischen Binnenmarkts begrenzt, sondern führt zu einer „räumlichen Erweiterung des Binnenmarktrechts“,121 wenngleich sich diese Entwicklung bislang vornehmlich auf Erleichterungen des Warenverkehrs konzentriert. Die Handelspolitik unterliegt gemäß Art 3 I lit e AEUV der ausschließlichen Zu- 43 ständigkeit der Union. Die Reichweite dieser Kompetenz war in der Vergangenheit

_____ 116 VO Nr. 978/2012 über ein Schema allgemeiner Zollpräferenzen, ABl 2012 L 303/1. 117 Zum Begriff der „Festung Europa“ unter migrations-, einwanderungs- und asylpolitischen Gesichtspunkten vgl Pache § 21 (in diesem Band) Rn 83 ff. 118 ABl 1994 L 1/3. 119 Island, Liechtenstein, Norwegen, Schweiz. 120 Streit NJW 1994, 555; http://www.eftasurv.int/internal-market-affairs/the-internal-market/; Hummer EuR 2002, Beiheft 1, 75 (96 ff). 121 Hummer EuR 2002, Beiheft 1, 73. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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umstritten.122 Nachdem der EuGH im Gutachten 1/94 die Zuständigkeit der Union im Rahmen der Gemeinsamen Handelspolitik auf den Warenhandel und grenzüberschreitende Dienstleistungen beschränkt hatte,123 weitet Art 207 I AEUV die Zuständigkeit der Union nunmehr auf die gemeinsame Handelspolitik aus.124 Die Union ist daher seit dem Inkraftreten des Vertrags von Lissabon zum Abschluss von Zoll- und Handelsabkommen mit Drittstaaten und internationalen Organisationen ermächtigt (Art 207 I, III AEUV).125 Diese Handelspolitik wird insb mit Blick auf die Zollpolitik, den Handel mit Waren und Dienstleistungen, Handelsaspekte des geistigen Eigentums und ausländische Direktinvestitionen sowie Liberalisierungsmaßnahmen, Ausfuhrpolitik und handelspolitische Schutzmaßnahmen gemäß Art 207 I 1 AEUV nach einheitlichen Grundsätzen gestaltet.126 Die einheitlichen Grundsätze sollen sicherstellen, dass die Außenhandelspolitik, „die einheitlich auf das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes […] konzipiert ist“,127 nicht durch die Verfolgung nationaler außenpolitischer Einzelinteressen konterkariert wird. Eine „Restkompetenz“ verbleibt bei den Mitgliedstaaten nur insoweit, als inter44 nationale Abkommen Bereiche betreffen, in denen die Union über keine ausschließliche Zuständigkeit verfügt. Dies gilt etwa für bilaterale Abkommen der EU, in denen auch Ziele verfolgt werden, die nicht der Handelspoltik unterfallen. Die Zuständigkeit für die institutionellen Regelungen bestimmt sich nach der Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich nach den materiell-rechtlichen Regelungen eines Abkommens, deren Wirksamkeit die institutionellen Bestimmungen sicherstellen. Somit fallen auch die meisten institutionellen Regelungen des Freihandelsabkommens zwischen der Europäischen Union und der Republik Singapur in die alleinige Zuständigkeit der EU, mit Ausnahme (a) der institutionellen Bestimmungen, die sich auf andere ausländische Investitionen als Direktinvestitionen beziehen, (b) der Vorgaben zum Investor-Staat-Schiedsverfahren, soweit die Mitgliedstaaten als Streitparteien betroffen sind und (c) derjenigen Vertragsbestimmungen, die in die

_____ 122 Pache/Schorkopf/Tietje S 36; Johanssen Beiträge zum transnationalen Wirtschaftsrecht, Heft 90, 2009, 5 (6 f). 123 EuGH, Gutachten 1/94, Rn 27, 44. Im Gegensatz dazu hatte der EuGH in früheren Urteilen bemerkt, dass „die Zuständigkeit für die Handelspolitik insgesamt auf die Gemeinschaft übertragen worden ist“ (EuGH, Rs 41/76 – Donckerwolcke, Rn 31/37; Rs C-70/94 – Werner, Rn 12; Rs C-83/94 – Leifer, Rn 12). 124 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Weiß Art 207 AEUV Rn 3, 32. 125 Vgl zur Kompetenz der Union im Bereich der Gemeinsamen Handelspolitik auch Bungenberg/Herrmann/Weiß S 35; Calliess/Ruffert/Calliess Art 3 AEUV Rn 14. 126 Zudem hat der EuGH schon vorher festgestellt, dass im Rahmen der Gemeinsamen Handelspolitik auch außen- und sicherheitspolitische Zwecke verfolgt werden dürfen, was de facto ebenfalls zu einer weiteren Kompetenz der EU auf diesem Gebiet beiträgt (EuGH, Rs C-70/94 – Werner, Rn 10; Rs C-83/94 – Leifer). Zur Definition „ausländischer Direktinvestitionen“ vgl EuGH, Rs C-492/04 – Lasertec. Siehe auch Cremer § 22 (in diesem Band) Rn 183. 127 EuGH, Gutachten 1/75, S 1363. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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zwischen der Union und den Mitgliedstaaten geteilten Zuständigkeiten fallen.128

3. Die rechtlichen Grundlagen des Binnenmarkts a) Die Zuständigkeit der Union für den Binnenmarkt Die Daueraufgabe Binnenmarkt wird in Art 3 I lit b AEUV und Art 4 II lit a AEUV ja- 45 nusköpfig als teilweise ausschließliche, teilweise konkurrierende Zuständigkeit der Union normiert.129 Art 3 I lit b AEUV regelt die ausschließliche Zuständigkeit der Union für die Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsregeln.130 „Ausschließlich“ bedeutet, dass in diesen Bereichen nur die Union gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen darf. Ein Tätigwerden der Mitgliedstaaten ist indes nur nach Ermächtigung durch die Union oder zur Durchführung der von ihr erlassenen Rechtsakte erlaubt (Art 2 I AEUV).131 Die allgemeine Kompetenz für den Binnenmarkt fällt gemäß Art 4 II lit a AEUV hingegen in den Bereich der konkurrierenden Zuständigkeit.132 Für die Mitgliedstaaten bedeutet auch dies zunächst ein Regelungsverbot.133 Allerdings dürfen sie gemäß Art 2 II 2, 3 AEUV im Bereich des Binnenmarkts dann tätig werden, sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeiten in diesen Bereichen nicht wahrnimmt oder nicht mehr ausübt. Für beide Arten der Zuständigkeit gilt, dass sich die tatsächliche Handlungsbefugnis und ihr Umfang erst aus den Bestimmungen der Verträge zu den einzelnen Bereichen ergeben (Art 2 VI AEUV). Auch für die Ausübung der Kompetenzen im Bereich des Binnenmarkts gilt das 46 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, wonach die Union nur innerhalb der ihr vertraglich zugewiesenen Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer Ziele tätig werden darf.134 Eine klare positivrechtliche Abgrenzung der Kompetenzen von Mitgliedstaaten und Union soll die demokratische Legitimation des Handelns des

_____ 128 Vgl EuGH, Gutachten 2/15, Rn 305; zu dieser Einschätzung vgl auch Behrends/Kubicki/Rathke Das Gutachten des EuGH zum EU-Freihandelsabkommen mit Singapur (EUSFTA). Zur Zuständigkeitsverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten sowie der Beteiligung des Bundestages am Zustandekommen von EU-Freihandelsabkommen der „neuen Generation“, Deutscher Bundestag (Unterabteilung Europa) 2017, S 37; abrufbar unter https://www.bundestag.de/blob/516218/3d436e7222 ad16b5b694607ee5bda524/gutachten-des-eugh-freihandelsabkommen-singapur-data.pdf). Cremer § 22 (in diesem Band) Rn 88 ff. 129 Blanke ZG 2004, 225; Blanke/Mangiameli/Weber Art 5 TEU Rn 4. 130 Härtel § 6 (in diesem Band) Rn 52 ff. 131 Vgl dazu etwa Blanke/Mangiameli/Weber Art 5 TEU Rn 16 ff. 132 Härtel § 6 (in diesem Band) Rn 65 ff. 133 Schwarze/Hatje Verfassungsentwurf S 193. 134 Dazu auch Härtel § 6 (in diesem Band) Rn 26 ff; Blanke ZG 2004, 225 (237); Blanke/Mangiameli/ Weber Art 5 TEU Rn 5, 6; Obwexer EuR 2004, Beiheft 1, 145 (151). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Unionsgesetzgebers erhöhen135 und verhindern, dass die Kompetenzverteilung der Rechtsprechung des EuGH überlassen wird.136 Dies gelingt angesichts der unterschiedlichen Zuständigkeiten für den Binnenmarkt allerdings nur bedingt: Die im Bereich der geteilten Zuständigkeit getroffene Abgrenzung der „für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsregeln“ (Art 3 I lit b AEUV) von weiteren Regelungszuständigkeiten für den Binnenmarkt (Art 114 AEUV) ist unscharf und hängt maßgeblich von der Auslegung dieser „Wettbewerbsregeln“ ab.137 Als „Wettbewerbsregeln“ werden übereinstimmend die Vorschriften des Kapi47 tels 1 des Titels VII verstanden.138 Umstritten ist jedoch, ob sämtliche Wettbewerbsregeln der ausschließlichen Zuständigkeit der Union unterliegen.139 Nähme man dies an, wäre das gesamte Wettbewerbsrecht einschließlich des Kartellrechts in seiner Ausprägung in Art 101 und 102 AEUV von Art 3 I lit b AEUV hiervon erfasst.140 Dem steht die überwiegend vertretene Auffassung gegenüber, dass sich Art 3 I lit b AEUV nur auf Art 103, 105 III, 106 III, 108 IV und 109 AEUV, also die Rechtsetzungskompetenzen im Bereich des Wettbewerbs, bezieht.141 Die Beschränkung der Zuständigkeiten der Union auf diese Legislativkompetenz ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Art 3 I lit b AEUV, der von der „Festlegung“ der Wettbewerbsregeln spricht. Damit wird die Union ermächtigt, Wettbewerbsregeln zu erlassen, verfügt aber nicht über die Kompetenz, sie anzuwenden und durchzusetzen. 142 Die materiellrechtlichen Wettbewerbsregeln gehören daher zu den zwischen der Union und den Mitgliedstaaten geteilten Zuständigkeiten und erlauben eine parallele Anwendung des europäischen und des nationalen Kartellrechts.143 Über eine weitere ausschließliche Zuständigkeit im Bereich des Binnenmarkts 48 verfügt die Union gemäß Art 3 I lit a AEUV hinsichtlich der Zollunion (Rn 38). Sie umfasst neben dem freien Warenverkehr insb die Festlegung eines gemeinsamen Zolltarifs im Verhältnis zu Drittländern (Art 31 AEUV), der bereits wegen der Natur der Sache sinnvollerweise nur von der Union festgelegt werden kann (Rn 40, 327). Auch mit Blick auf die allgemeine Zuständigkeit für den Binnenmarkt nach Art 4 II lit a AEUV wurde teilweise die Auffassung vertreten, dass sie bereits „kraft Natur der

_____ 135 Schwarze/Hatje Verfassungsentwurf S 193. 136 Wuermeling EuR 2004, 216 (216); Buchhold S 23. 137 Blanke ZG 2004, 225 (237). 138 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 3 AEUV Rn 12. 139 Calliess/Ruffert/Calliess, Art 3 AEUV Rn 2. 140 So Schwarze/Schröter Verfassungsentwurf S 241 ff, der von einer „Gleichschaltung“ des nationalen Kartellrechts mit dem der Union spricht. 141 Calliess/Ruffert/Calliess Art 3 AEUV Rn 9; Schwarze/Pelka Art 3 AEUV Rn 9, 10. 142 Schwarze EuZW 2004, 135 (137). 143 Jungheim-Hertwig/Weiß § 14 (in diesem Band) Rn 13 ff, 34; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 3 AEUV Rn 14; EuGH, Rs 14/68 – Walt Wilhelm, Rn 4, 6; Rs 253/78 – Guerlain. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Sache“ nur durch den Unionsgesetzgeber wahrzunehmen sei.144 Angesichts der Fülle der Sachbereiche, die im Rahmen der Binnenmarktkompetenz zu regulieren sind, würde dies faktisch dazu führen, dass die Mitgliedstaaten in all diesen Bereichen ihre Zuständigkeit verlören.145 Der EuGH hat indes klargestellt, dass selbst die Vorschrift des Art 114 AEUV „keine ausschließliche Zuständigkeit für die Regelung der wirtschaftlichen Tätigkeit im Binnenmarkt verleiht, sondern nur die Zuständigkeit für die Verbesserung der Bedingungen für die Errichtung und das Funktionieren dieses Marktes durch Beseitigung von Hemmnissen für den freien Warenund Dienstleistungsverkehr oder von Wettbewerbsverzerrungen.“146 Damit unterfallen nicht bestimmte Sachbereiche der Binnenmarktkompetenz, sondern die Kompetenz ergibt sich aus dem Ziel der Errichtung des Binnenmarkts.147 Den Mitgliedstaaten verbleibt insofern ein Gestaltungsspielraum im Bereich des Binnenmarkts; denn sie sind zwar befugt, weiterhin ihr eigenes Wirtschafts(verwaltungs)recht zu erlassen und durchzuführen, müssen dabei aber den Vorrang des Unionsrechts und die Gewährleistung der Grundfreiheiten beachten.148

b) Harmonisierungskompetenzen der Union zur Herstellung des Binnenmarkts In der Frage der Zuständigkeit der Union orientiert sich der EuGH hier eng am Wort- 49 laut des Art 114 AEUV. Die in diesem Rahmen zu ergreifenden Maßnahmen schließen den Erlass von Rechtsvorschriften ein, die zur Verwirklichung der Grundfreiheiten beitragen und Wettbewerbsverzerrungen beseitigen.149 Davon ausgenommen sind nach Art 114 II AEUV allerdings Bestimmungen über Steuern, Freizügigkeit und die Rechte und Interessen der Arbeitnehmer. Zwar betont der EuGH immer wieder, dass es das Ziel jeder Harmonisierungsmaßnahme sein müsse, den Binnenmarkt zu verwirklichen.150 Die von Irland erhobene Nichtigkeitsklage151 gegen die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung152 macht jedoch deutlich, dass die Kritik, Art 114 AEUV berge eine „uferlose“153 Kompetenz „zur allgemeinen Regelung des Binnen-

_____ 144 Agence Europe v 30.10.1992 Nr 1804/05, GA Fenelly, Rs C-376/98, Tabakwerbeverbot I, Nr 142. 145 Trüe ZaöRV 2004, 391 (416 f). 146 EuGH, Rs C-491/01 – British American Tobacco, Rn 179 – Hervorhebung nicht im Original. 147 Möstl EuR 2002, 318 (324). 148 Nettesheim EuR 2004, 511 (531); Ehlers NVwZ 1990, 810. 149 Möstl EuR 2002, 318 (318); Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje Art 114 AEUV Rn 94; EuGH, Rs C300/89 – Titandioxid, Rn 23; Rs C-58/08 – Vodafone. 150 EuGH, Rs C-70/88 – Parlament / Rat, Rn 17; Rs C-155/91 – Kommission / Rat, Rn 19; Rs C-376/98 – Deutschland / Parlament und Rat, Rn 32. 151 EuGH, Rs C-301/06 – Vorratsdatenspeicherung. 152 ABl 2006 L 105/54. 153 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje Art 114 AEUV Rn 94. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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markts“, nicht völlig fehl geht (Rn 225 f).154 Irland argumentierte, dass es Zweck der Richtlinie sei, Straftaten zu verfolgen, nicht aber den Binnenmarkt zu verwirklichen. Dem widersprach der EuGH und betonte, die Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung sei für die Diensteanbieter eine große wirtschaftliche Belastung, so dass unterschiedliche nationale Regelungen ungleiche Wettbewerbsbedingungen hervorgerufen hätten, die sich negativ auf den Binnenmarkt ausgewirkt hätten. Auch das Subsidiaritätsprinzip führt in diesem Fall nicht zu einer Begrenzung 50 der Kompetenz der Union.155 Das Handeln der Union steht vielmehr im Einklang mit Art 5 III EUV. Danach „wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler oder regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können […].“ Konkrete Befugnisse zur Harmonisierung mit dem Ziel, den Binnenmarkt zu verwirklichen, ergeben sich namentlich aus den Regelungen der Art 113 (Rn 188 ff), 114 (Rn 197 ff, 237 f) und 115 AEUV (Rn 191, 196). Binnenmarktbezogene Kompetenzen kann die Union im Bereich der Grundfreiheiten vor allem hinsichtlich der Personenverkehrsfreiheit geltend machen; so kann sie nach Art 53 AEUV Richtlinien für die gegenseitige Anerkennung von Berufsabschlüssen und Diplomen erlassen.156 Schließlich stellt der Vertrag in Art 352 AEUV eine Auffangkompetenz bereit, die 51 neben den ausdrücklichen Zuständigkeiten der Union die Handlungsbefugnis verschafft, den Integrationsprozess fortzuführen.157 Diese sog Flexibilisierungsklausel berechtigt sie, immer dann im Rahmen der vertraglichen Politikbereiche tätig zu werden, wenn dies zur Verwirklichung der Unionsziele nötig ist und die Verträge die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorsehen (Art 352 I AEUV). Wegen der Gefahr, dass Art 352 AEUV von der Union dazu missbraucht wird, um sich nach und nach Kompetenzen anzumaßen, die ihr nicht zustehen, wird diese Kompetenzerweiterungsklausel von den Mitgliedstaaten schon seit langem argwöhnisch betrachtet.158 Im Unionsvertrag von Lissabon wurde sodann die frühere Kompetenznorm des Art 308 EGV reformiert. Während bis dahin lediglich die Anhörung des Europäischen Parlaments beim Erlass von Vorschriften auf Grundlage der Kompetenzabrundungsklausel vorgesehen war, ist seitdem seine Zustimmung erforderlich (Art 352 I S 1 AEUV). Indes bezieht sich die Flexibilisierungsklausel nach Lissabon auf sämtliche Politikbereiche im Verantwortungsbereich der Union mit Ausnahme der in Art 352 IV AEUV ausdrücklich ausgenommenen Außen- und Sicherheitspoli-

_____ 154 EuGH, Rs C-376/98 – Tabakwerberichtlinie, Rn 83; Rs C-491/01 – British American Tobacco, Rn 179. 155 Terhechte EuZW 2009, 199 (203). 156 Möstl EuR 2002, 318 (323). 157 Obwexer EuR 2004, Beiheft 3, 145 (155); Bungenberg EuR 2000, 879. 158 Reich EuGRZ 2001, 1. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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tik.159 In der Praxis der Kommission und des Rates spielt Art 352 AEUV für die Verwirklichung des Binnenmarkts allerdings nur noch eine untergeordnete Rolle.160 Dies dürfte nicht zuletzt auch auf die weite Auslegung des Art 114 AEUV zurückzuführen sein, die einen Rückgriff auf Art 352 AEUV zur Regelung des Binnenmarkts regelmäßig überflüssig macht (Rn 231).161

c) Instrumente und Verfahren zur Verwirklichung des Binnenmarkts Gemäß Art 26 I AEUV erlässt die Union die erforderlichen Maßnahmen, um den Bin- 52 nenmarkt zu verwirklichen und sein Funktionieren zu gewährleisten. Art 26 I AEUV ist als Gesetzgebungsauftrag an die Union zu verstehen, Rechtsakte zur Verwirklichung des Binnenmarkts zu erlassen.162 Die Vorschrift ist von grundlegender Bedeutung für die Kompetenzen der Union im Bereich der Rechtsangleichung, etwa Art 114, 115, 116, 46, 50 AEUV (Rn 49 ff, ausführlicher Rn 118, 137 ff, 142 ff, 195 ff) und damit für die Verwirklichung des Binnenmarkts im Wege der positiven Integration (Rn 1, 18, 117). Während sich die negative Integration auf die Beseitigung handelsbeschränkender Maßnahmen bezieht, sind im Zuge der positiven Integration gleiche Marktbedingungen durch eine „Harmonisierung“ oder Angleichung der binnenmarktrelevanten Rechtsvorschriften zu schaffen (Rn 118 ff, 184, 277).163 Unterschiedliche Produktstandards, Berufszugangsvoraussetzungen oder Anforderungen an den Verbraucher- und Gesundheitsschutz in den einzelnen Mitgliedstaaten sind in hohem Maße geeignet, die Ausübung der Grundfreiheiten zu behindern. Daher wird die Annäherung der einzelstaatlichen Rechtsnormen zur Beseitigung von Rechtsunterschieden im Wege der Rechtsangleichung oder „Harmonisierung“ als Hauptinstrument der Binnenmarktverwirklichung begriffen.164 Die harmonisierende Kraft der Rechtsangleichung soll durch die Stärkung des 53 Herkunftslandprinzips (Ursprungslandprinzip) und damit den Grundsatz der ge-

_____ 159 Kritisch dazu Murswiek Gutachten zum Vertrag von Lissabon, http://www.jura.uni-freiburg. de/institute/ioeffr3/forschung/papers/murswiek/vertr-lissabon-gutachten-2. 160 Nettesheim EuR 2004, 511 (520); Blanke/Mangiameli/Blanke The European Union after Lisbon S 382. Jüngst hat die Kommission den Vorschlag, den ESM in einen EWF umzuwandeln, auf Art 352 AEUV gestützt. Hierzu vgl Deutscher Bundestag Fragen zur Rechtsgrundlage und Subsidiarität des Vorschlags der Europäischen Kommission zur Einrichtung eines Europäischen Währungsfonds, PE 6 – 3000 – 05/18, 2018; Schorkopf Zustimmungserfordernisse des Deutschen Bundestages bei der geplanten Reform des Vertrages zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), Rechtsgutachten erstellt im Auftrag der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag, 2018, abrufbar unter: https://www.fdpbt.de/sites/default/files/2018-10/Gutachten%20FDP-Fraktion%20ESM.pdf. 161 Härtel § 6 (in diesem Band) Rn 27 f. 162 Schwarze/Hatje Art 26 AEUV Rn 3. 163 Tinbergen S 122; W Cremer EuR 2007, Beiheft 1, 75. Vertiefend dazu Lohse S 60 ff. 164 Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Remien § 14 Rn 2. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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genseitigen Anerkennung gebändigt werden.165 Die Mitgliedstaaten erkennen ihre unterschiedlichen Rechtsvorschriften, Normensysteme, Prüfungs- und Zulassungsverfahren gegenseitig an. Daraus folgt, dass jede Ware oder Dienstleistung frei in der gesamten Gemeinschaft zirkulieren kann, sofern sie ordnungsgemäß nach den Bestimmungen eines Mitgliedstaates in den Verkehr gebracht wurde.166 Im Gegensatz dazu steht das Bestimmungslandprinzip, wonach Waren und Dienstleistungen den Anforderungen des Landes entsprechen müssen, in dem sie angeboten werden.167 Die gegenseitige Anerkennung birgt allerdings die Gefahr niedriger Umwelt-, Verbraucher-, Sozial- oder Arbeitsschutzstandards, sofern nicht gewisse Mindeststandards diesen race to the bottom abwenden (Rn 161, 173). Insb unterschiedlich hohe Anforderungen im Bereich des Verbraucherschutzes, 54 aber auch bei umwelt- oder arbeitsschutzrechtlichen Standards können zu ungleichen Marktbedingungen und somit zu spürbaren, die Grundfreiheiten beeinträchtigenden Wettbewerbsverzerrungen und Handelshemmnissen führen. Solche Verwerfungen können durch den Erlass harmonisierender Mindestvorschriften vermieden werden, was bei maßvoller Anwendung dann ein taugliches Mittel zu sein scheint, wenn innerhalb des Binnenmarkts zugleich ein hohes Schutzniveau verwirklicht wird (Art 114 III S 1 AEUV).168 Der Binnenmarkt fordert indes mehr als nur eine Öffnung der Märkte. Er bedarf begleitend einer flankierenden Gesetzgebung vor allem im Bereich der Sozial- und Umweltpolitik,169 wenn die EU die Vorgaben der Querschnittsklauseln etwa zum sozialen Schutz (Art 9 AEUV), Umweltschutz (Art 11 AEUV), Verbraucherschutz (Art 12 AEUV), zur Gesundheitspolitik (Art 168 Abs 1 AEUV), zur Beschäftigungspolitik (Art 147 Abs 2 AEUV) oder auch zur Kulturpolitik (Art 167 Abs 4 AEUV) einlösen will. Die den Binnenmarkt flankierenden Politiken stellen mithin oftmals eine Querschnittsaufgabe dar und müssen daher bei allen Maßnahmen der Union in anderen Bereichen, daher auch im Rahmen der Rechtsangleichung nach Art 114 Abs 1 AEUV, berücksichtigt werden. Die Rechtsangleichung ist somit nicht nur ein Instrument zur Verwirklichung der wirtschaftlichen Dimension des Binnenmarkts, sondern auch ein unverzichtbares Vehikel, um andere Politiken der Union voranzutreiben.170 Horizontale Zuständigkeitskonflikte, die bei der Bestimmung der Kompetenzgrundlage einer Maßnahme auftreten können, sind in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH171 dadurch zu lösen, dass der

_____ 165 166 167 168 169 170 171

Reich EuZW 1991, 203 (205); Steindorff ZHR 1986, 689. Weidenfeld/Dicke S 442. Ehlers/Ehlers § 7 Rn 3. Oppermann/Classen/Nettesheim § 33 Rn 19; Möstl EuR 2002, 318 (343); Kur GRUR Int 1994, 453. Reich EuZW 1991, 203 (207). Möstl EuR 2002, 318 (326). EuGH, Rs C-380/03 – Tabakwerbung II, Rn 39 – stRspr. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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politikspezifische Schwerpunkt der Maßnahme objektiv zu ermitteln ist. Die Abgrenzung der Kompetenzgrundlagen erfolgt nach dem materiellen Regelungsgehalt bzw der Sachnähe sowie den erkennbaren Zielsetzungen des Rechtsakts (vgl auch Rn 282).

Verbraucherschutz Der Verbraucherschutz nimmt bei der Verwirklichung des Binnenmarkts eine her- 55 ausragende Rolle ein. Während es zunächst primär darum ging, durch gemeinsame Verbraucherschutzvorschriften gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, betont die Binnenmarktstrategie des früheren Binnenmarktkommissars M. Monti, dass es das vorrangige Ziel ist, den Verbraucher selbst zum Profiteur des Binnenmarkts zu machen. 172 Einen einheitlichen Verbraucherbegriff gibt es bislang allerdings nicht. Als Definition kann jedoch gelten, dass der Verbraucher eine natürliche Person ist, die im Zusammenhang mit dem jeweiligen privatrechtlichen Vertrag aus nicht gewerblichen oder beruflichen Zwecken handelt.173 Seine Bedeutung ergibt sich bereits aus den Gründen, die für die Errichtung des Binnenmarkts maßgeblich sind; er ist auf positive Wohlfahrtseffekte einschließlich der Steigerung der Konsumentenrente gerichtet.174 So wurde Verbraucherinteressen bei der Verwirklichung des Binnenmarkts zunächst über die kartellrechtliche Freistellung und die Gemeinsame Agrarpolitik Rechnung getragen.175 Es mehren sich die Befürworter, die die Steigerung der Konsumentenwohlfahrt als einziges Kriterium bei der Bewertung kartellrechtlicher Vorgänge heranziehen wollen („more economic approach“).176 Gleichzeitig stellt der Verbraucherschutz – vor allem neben dem Gesundheitsschutz – auch ein anerkanntes Allgemeininteresse im Rahmen der Rechtfertigung grundfreiheitlicher Beschränkungen dar.177 Mit der Verabschiedung der EEA wurde erstmalig der Verbraucherschutz als 56 Gemeinschaftsziel in Art 3 lit s EGV sowie als eigenständiges Politikfeld in Art 129 EGV aufgenommen. Er trat damit aus dem Schattendasein, das er bis dahin als Annex zu anderen Politiken gefristet hatte. Der Wille der Union, einen „Beitrag zur Verbesserung des Verbraucherschutzes“ (Art 3 lit s EGV) zu leisten, ist seitdem deutlich erkennbar (Rn 209 ff). Mittlerweile unterfällt der Verbraucherschutz der geteilten Zuständigkeit der Union (Art 4 II lit f AEUV), die „[z]ur Förderung der Inte-

_____ 172 173 174 175 176 177

Monti Eine Neue Strategie für den Binnenmarkt, S 46. Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Schulte-Nöltke § 23 Rn 33. vBodgandy/Bast/Drexl S 941; Fastenrath/Nowak/Terhechte S 190. Rösler EuR 2008, 800 (801). Körber ZWeR 2007, 515. EuGH, Rs 120/78 – Cassis de Dijon, Rn 8.

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ressen der Verbraucher und zur Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutzniveaus“ auf den Gebieten des Schutzes der Gesundheit, der Sicherheit, der Förderung der wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher und zur Förderung ihres Rechts auf Information, Erziehung und Bildung von Vereinigungen zur Wahrung ihrer Interessen einen Beitrag leistet (Art 169 I AEUV). Die Schutzbedürftigkeit des Verbrauchers bemisst sich nach dem vom EuGH 57 entwickelten Leitbild des „durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers“.178 Da Art 169 II lit a AEUV selbst keine eigenständige Kompetenznorm darstellt, 179 verwirklicht die Union die Verbraucherschutzziele, indem sie Maßnahmen ergreift, „die sie im Rahmen der Verwirklichung des Binnenmarkts nach Art 114 AEUV erlässt“ (Art 169 II lit a AEUV). Darüber hinaus findet der Verbraucherschutz als Querschnittsklausel nach Art 12 AEUV bei der Festlegung und Durchführung der Unionspolitiken Beachtung. Die meisten verbraucherrechtlichen Schutzvorschriften finden indes ihre Rechtsgrundlage in Art 114 AEUV, der bei der Verwirklichung eines hohen Schutzniveaus seinerseits auch auf den Verbraucherschutz Bezug nimmt (Art 114 III AEUV). Somit ist der Erlass verbraucherschützender Maßnahmen an die Verwirklichung 58 des Binnenmarkts geknüpft und nur möglich, wenn die Anwendungsvoraussetzungen des Art 114 AEUV erfüllt sind180 (Rn 193, 197 ff). Regelungen können sogar auch „vorbeugend“ erlassen werden, um unterschiedliche mitgliedstaatliche Regelungen zu verhindern, die „zu nicht vertretbaren Disparitäten beim Verbraucherschutz führen und somit den innergemeinschaftlichen Handel behindern“.181 Die damit verbundene Rechtssicherheit für Unternehmen ist indes nur ein Aspekt des gemeinschaftlichen Verbraucherschutzes. Er dient mittlerweile als Mittel zu dem Zweck, die Ausübung der Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit zu unterstützen.182 Aus diesem Grund fokussieren Reformvorschläge zur Verwirklichung des Binnenmarkts in der Stärkung des Verbrauchervertrauens, etwa durch die Etablierung alternativer Streitbeilegungsverfahren oder die Verbesserung der Produktsicherheit.183 Damit soll die Bereitschaft gestärkt werden, Dienstleistungen oder Waren über Ländergrenzen hinweg nachzufragen und so das Potenzial des Binnenmarkts stärker auszuschöpfen.184 Insoweit ist insbes auf die 2011 verabschiedete Verbraucherrechte-

_____ 178 Soweit ersichtlich, hat der EuGH diese Formulierung erstmals in EuGH, Rs C-210/96 – Gut Springenheide und Tusky, Rn 31 verwendet. 179 Schwarze/Stumpf Art 169 AEUV Rn 33. 180 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Pfeiffer Art 169 AEUV Rn 5. 181 EuGH, Rs C-359/92 – Deutschland / Rat, Rn 30. 182 Calliess/Ruffert/Krebber Art 169 AEUV Rn 6 f. 183 12 Hebel zur Förderung von Wachstum und Vertrauen, KOM(2011) 206, S 11. 184 Rischkowsky Wirtschaftsdienst 2010, 59 (59). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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richtlinie 2011/83 sowie zwei neue Richtlinienentwürfe zum Fernabsatzrecht185 und zu digitalen Inhalten186 hinzuweisen (Rn 194).

Umweltschutz Eine weitere Querschnittsklausel stellt gemäß Art 11 AEUV der gemeinsame Um- 59 weltschutz dar, dessen Erfordernisse bei der Festlegung und Durchführung der Unionspolitiken einzubeziehen sind. Er beinhaltet mithin ebenfalls ein anerkanntes Allgemeininteresse, um Beschränkungen der Grundfreiheiten zu rechtfertigen. Nachdem der Umweltschutz lange Zeit in der Politik der Union wenig beachtet worden war, wurde seine Bedeutung für die Errichtung des Binnenmarkts schließlich im Vertrag von Maastricht anerkannt (nunmehr Art 3 III UAbs 1 S 2 EUV). Das Spannungsverhältnis zwischen den ökonomischen Zielen der Binnenmarktpolitik und den Zielen des Umweltschutzes ist nicht zu übersehen.187 Der Schutz der Umwelt auf Unionsebene ergibt sich aus dem „natürlicherweise“ grenzüberschreitenden Phänomen der Umweltverschmutzungen: Sie machen keinen Halt vor Ländergrenzen, sondern betreffen alle Mitgliedstaaten. Ein hohes Maß an Umweltschutz kann im Binnenmarkt indes nur gewährleistet werden, wenn die Anforderungen in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen verbindlich sind. Nur so kann sichergestellt werden, dass Unternehmen in der gesamten Union den gleichen Umweltauflagen unterliegen und wettbewerbsverzerrende Nach- oder Vorteile aufgrund besonders strenger oder weicher nationaler Anforderungen an den Umweltschutz verhindert oder zumindest vermindert werden. Ohne die gemeinsamen Schutzanforderungen bestünde die Gefahr eines race to the bottom (Rn 53, 161, 173, 206 ff), in dessen Verlauf sich die niedrigsten Umweltstandards durchsetzen könnten – etwa indem die Unternehmen die Niederlassungsfreiheit missbrauchen und ihre Produktionsstandorte in Mitgliedstaaten mit geringen Umweltschutzstandards verlegen.188 Somit sind auch gemeinsame Umweltschutzstandards ein Instrument zur Herstellung des Binnenmarkts, die folglich auf Art 114 AEUV gestützt werden können. Gleichzeitig entspricht die Berücksichtigung des Umweltschutzes den Anforde- 60 rungen nach Art 114 III S 1 AEUV, wonach bei der Verwirklichung der Ziele des Art 26 AEUV von einem hohen Schutzniveau auszugehen ist. Allerdings besteht mit Art 192 I AEUV im Gegensatz zum Verbraucherschutz eine eigenständige Kom-

_____ 185 Vorschlag für eine RL des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Online-Warenhandels und anderer Formen des Fernabsatzes von Waren, COM(2015) 635 final; siehe auch die überarbeitete Fassung in COM(2017) 637 final. 186 Vorschlag für eine RL des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte, COM(2015) 634 final. 187 Dauses/Ludwigs/Scherer/Heselhaus, O. Rn 2. 188 Calliess/Ruffert/Calliess Art 191 AEUV Rn 1; Korte S 49 f. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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petenzgrundlage zum Erlass von umweltschützenden Rechtsakten, wobei die Wahl der Kompetenzgrundlage davon abhängt, ob der Binnenmarkt oder der Umweltschutz den Schwerpunkt der Maßnahme bildet (Rn 121, 231).189

Arbeitsschutz 61 Die Wettbewerbsbedingungen werden maßgeblich durch die Regulierung der Be-

ziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern sowie die Vorschriften über den Arbeitsschutz bestimmt. Diese Bestimmungen sind Teil der europäischen Sozialpolitik (Art 151 ff AEUV), die insb auf eine „Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen“ gerichtet ist (Art 151 S 1 AEUV).190 Die zu diesem Zweck erlassenen Maßnahmen sollen vor allem der Verwirklichung der sozialen Dimension des Binnenmarkts dienen.191 Im Bereich des Arbeitsschutzes ist eine unterstützende Tätigkeit der Union etwa hinsichtlich der Verbesserung des Gesundheitsschutzes und der Sicherheit der Arbeitnehmer, der Arbeitsbedingungen, der sozialen Sicherheit und des Schutzes bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses (Art 153 I lit a–d AEUV) vorgesehen. Zu diesem Zweck können das Europäische Parlament und der Rat zum einen Maßnahmen zum gegenseitigen Informations- und Wissensaustausch ergreifen (Art 153 II lit a AEUV), aber auch Mindestvorschriften in Form von Richtlinien erlassen (Art 153 II lit b AEUV). Dennoch können die Mitgliedstaaten auch strengere Schutzbestimmungen er62 lassen oder beibehalten, soweit diese Maßnahmen mit den Verträgen vereinbar sind (Art 153 IV Spstr 2 AEUV).192 Deshalb können die für die Unternehmen verbindlichen Arbeitsschutzvorschriften von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat variieren. Beispielsweise ist es möglich, dass der gesetzliche Jahresurlaub in einem Mitgliedstaat 22 Tage beträgt, während er in einem anderen Mitgliedstaat bei 24 Tagen liegt. Durch den gemeinschaftsrechtlich vorgeschriebenen Mindeststandard von 20 gesetzlichen Urlaubstagen wird ein „Arbeitsschutzdumping“ in jedem Fall verhindert.193 Während für die Bereiche des Art 153 I lit a und b AEUV der Erlass von Richtli63 nien gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren vorgesehen ist, muss der Rat unter den Voraussetzungen von lit c und d Maßnahmen einstimmig beschließen (Art 153 II UAbs 3 AEUV). Ein Tätigwerden der Union in Angelegenheiten des Arbeitsentgelts sowie des Koalitions-, Streik- und Aussperrungsrechts ist indes ausge-

_____ 189 Schwarze/Käller Art 192 AEUV, Rn 7–10. 190 Davy § 18 (in diesem Band) Rn 20. 191 Vgl RL 93/104 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, ABl 1993 L 307/18; Hanau/ Adomeit Rn 114. 192 Streinz/Eichenhofer Art 153 AEUV Rn 3. 193 Vgl Art 7 RL 2003/88/EG über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, ABl 2003 L 299/9. Dazu auch Jurrat 2017, S 8. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

II. Der Binnenmarkt | 921

schlossen (Art 153 V AEUV).194 Dieser Kompetenzausschluss könnte jedoch durch einen Rückgriff auf die Kompetenzgrundlage des Art 115 AEUV umgangen werden, sofern damit unmittelbar ein Beitrag zur Errichtung oder zum Funktionieren des Binnenmarkts geleistet werden soll; eine solche Entscheidung verlangt allerdings Einstimmigkeit im Rat.195 Die Einordnung der verschiedenen Arbeitsschutzaspekte in Bereiche, in denen ein Tätigwerden der Union ausgeschlossen ist oder einstimmig bzw nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zu erfolgen hat, folgt keiner Systematik, sondern ist vielmehr eine Konsequenz politischer Kompromisse.196 Insgesamt weist dieser Befund auf eine Entkoppelung von Arbeits- und Wirtschaftsverfassung in der Union hin.197 Zum Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer (Art 153 I lit a 64 AEUV) sind bislang die meisten Maßnahmen ergriffen worden.198 Was im Unterschied dazu unter den Begriff der Arbeitsbedingungen (Art 153 I lit b AEUV) fällt, ist bisweilen unklar, werden „gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen“, wie sie in Art 31 GRCh normiert sind, doch wesentlich dadurch definiert, dass die Arbeitsbedingungen „sicher und gesund“ sind.199 Daher können die Maßnahmen zur Regelung der Arbeitsbedingungen nur auf die Begründung und Beendigung von Arbeitsverhältnissen oder die vertraglichen Ansprüche von Arbeitnehmern gerichtet sein.200 In Art 153 I lit c AEUV wird der Union die Kompetenz eingeräumt, im Bereich des 65 sozialen Schutzes Maßnahmen zu erlassen; diese Zuständigkeit geht über ihre Koordinierungsbefugnis im Sinne des Art 48 AEUV hinaus, die indes gleichermaßen den Aspekt der sozialen Sicherung in den Vordergrund rückt (Rn 76, 375).201 Für den Fall der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses sieht Art 153 I lit d AEUV den Erlass von Schutzmaßnahmen für die Arbeitnehmer vor, die nicht aus anderen Gründen (beispielsweise Mutterschaftsschutz) einem bestimmten Kündigungsschutz unterliegen.

_____ 194 Junker Rn 34. 195 Schrammel/Winkler S 24 f. 196 Calliess/Ruffert/Krebber Art 153 AEUV Rn 16. 197 Kritisch hierzu Joerges Der Staat 2012, 357 (364). 198 Exemplarisch dazu RL 89/391 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer (ABl 1989 L 183/1), RL 89/654 über Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheit in Arbeitsstätten (ABl 1989 L 393/170), RL 89/655 über Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheit bei Benutzung von Arbeitsmitteln (ABl 1989 L 393/13), RL 90/270 über Mindestvorschriften bzgl der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes bei der Arbeit an Bildschirmgeräten oder RL 93/104 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, um sicherzustellen, dass Arbeitnehmer ausreichend Erholung in Form von Jahresurlaub und Ruhepausen erhalten (ABl 1993 L 307/18). 199 Calliess/Ruffert/Krebber Art 153 AEUV Rn 25. 200 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Benecke Art 153 AEUV Rn 41; Junker Rn 38 ff. 201 Calliess/Ruffert/Krebber Art 153 AEUV Rn 18; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Benecke Art 153 AEUV Rn 68 f. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

922 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

66

Neben der Verwirklichung des Binnenmarkts im Wege positiver und negativer Integration (Rn 1, 18, 52, 117) wird die Binnenmarktintegration durch das Handeln der Union in weiteren Politikfeldern unterstützt. Denn der Binnenmarkt wird nicht im „luftleeren Raum“ verwirklicht, sondern ist einzubetten in den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gemäß Art 67 AEUV.202 Relevant ist zunächst der Aspekt der Freizügigkeit, die seit dem Schengen-Abkommen dadurch erlebbar wird, dass die Personenkontrollen im Schengen-Raum an den Binnengrenzen gemäß Art 67 II 1 AEUV aufgehoben sind (Rn 37); dies gilt auch für Personen aus Drittstaaten, die sich bereits im Raum der Union aufhalten.203 Dieses Recht auf Freizügigkeit, das den Unionsbürgern als essentieller Bestandteil der Unionsbürgerschaft garantiert wird (Art 21 AEUV), unterliegt indes Beschränkungen, um „ein hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten“ (Art 67 III AEUV). So verlangt Art 67 II 1 AEUV in Erfüllung des Auftrags, einen Raum der Sicherheit zu schaffen, eine gemeinsame Asyl-, Einwanderungs- und Kontrollpolitik; Art 67 III AEUV ermächtigt die Union, Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Kriminalität sowie von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu treffen.204 Auch der „Raum des Rechts“ ist als „Ausfluss des Binnenmarktkonzepts“,205 67 als ein den Binnenmarkt ergänzendes Integrationskonzept206 zu verstehen. Neben der justiziellen Zusammenarbeit im Bereich transnationaler Kriminalität trägt hierzu vor allem der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen in Zivilsachen (Art 67 IV AEUV) und die justizielle Zusammenarbeit in diesen Angelegenheiten (Art 81 AEUV) bei. Nur wenn auch bei staatenübergreifenden Vertragsverhältnissen die nötige Rechtssicherheit im Falle von zivilrechtlichen Streitigkeiten innerhalb der Union gewährleistet ist, werden die Wirtschaftsteilnehmer bereit sein, ihre Grundfreiheiten auszuüben und sich insofern vertraglich zu binden.207 Die transeuropäischen Netze (Art 170–172 AEUV) tragen ebenfalls zur Vollen68 dung des europäischen Binnenmarkts bei. Dies gilt insb für die Verwirklichung des sog digitalen Binnenmarkts und der Energieunion, zwei Großprojekte, die die Europäische Kommission mit Nachdruck betreibt.208 Der digitale Binnenmarkt ist eine

_____ 202 Pache § 21 (in diesem Band) Rn 3 f. 203 Müller-Graff EuR 2009, Beiheft 1, 105 (110). 204 Calliess/Ruffert/Suhr Art 67 AEUV Rn 82. 205 Müller-Graff EuR 2009, Beiheft 1, 105 (110). 206 Nitschke/Blanke/Bunse S 56 f, 63, 99. 207 Dauses/Ludwigs/Müller-Graff A.I Rn 145. 208 Juncker, J.-C. Ein neuer Start für Europa, 2014, S 5 f, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/ commission/sites/beta-political/files/juncker-political-guidelines-speech_de_1.pdf sowie Juncker, J.-C. Rede zur Lage der Union 2015. Siehe dazu auch Mitteilung der Kommission, Strategie für einen digitalen Binnenmarkt für Europa, COM(2015) 192 final; Mitteilung der Kommission, Rahmenstrategie für eine krisenfeste Energieunion mit einer zukunftsorientierten Klimaschutzstrategie, Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

II. Der Binnenmarkt | 923

Strategie der Europäischen Kommission, die den Zugang zu Online-Aktivitäten für Einzelpersonen und Unternehmen unter fairen Bedingungen für Wettbewerb, Verbraucher- und Datenschutz sowie die Beseitigung von Problemen mit Geoblocking und Urheberrechten gewährleisten soll. Die Energieunion soll sicherstellen, dass Verbraucher und Unternehmen Zugang zu sicherer, erschwinglicher und klimafreundlicher Energie erhalten und der Energiebinnenmarkt in der gesamten Union zur Realität werden kann („Free Flow“). Durch den Aufbau und die Verwirklichung der transeuropäischen Netze soll eine Verbindung zwischen den Staaten und Regionen, zentral oder peripher, hergestellt werden, um die Kommunikation, die Mobilität sowie die Energieversorgung sicherzustellen und die Marktteilnehmer so tatsächlich in den Genuß der Liberalisierung zu bringen.209 Die Aufgaben der Union liegen insoweit gemäß Art 170 II 1 AEUV vor allem darin, die Interoperabilität der Netze durch die Harmonisierung technischer Normen zu gewährleisten und den Anschluss an diese Netze herzustellen, so dass auch Randgebiete eine entsprechende infrastrukturelle Anbindung erhalten. Die wachstumsfördernde Bedeutung gut integrierter transeuropäischer Netze als „Rückgrat des Binnenmarkts“210 – insb im Bereich der Energie, digitalen Infrastruktur sowie der Verkehrsinfrastruktur – hat die Europäische Kommission auch in den Mitteilungen über die Binnenmarktakten I211 und II212 hervorgehoben.

d) Die vier Grundfreiheiten als Pfeiler des Binnenmarkts und ihre sekundärrechtliche Ausgestaltung Gemäß Art 26 II AEUV umfasst der Binnenmarkt einen Raum ohne Binnengrenzen, 69 in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist. Diese Grundfreiheiten sind als subjektive Rechte zu begreifen, die jedem Unionsbürger individuelle Rechtspositionen verleihen und vor nationalen Gerichten und Unionsgerichten durchsetzbar sind (Rn 271). Vorrangig beinhalten die Grundfreiheiten ein eigenständiges Diskriminierungsverbot und verbürgen so das Recht, sich im Binnenmarkt im Rahmen der Grundfreiheiten wirtschaftlich zu betätigen, ohne dabei im Verhältnis zu den Inländern schlechter gestellt zu werden (Rn 300 f, 377 ff, 396 f, 422 f).213 Zugleich statuieren sie allesamt ein Beschränkungsverbot. Danach ist jede Maßnahme, die die Ausübung der Grundfreiheiten

_____ COM(2015) 80 final. Eingehend zum Digitalen Binnenmark Strohmeier/Spichtinger Essays in Honour of Albrecht Weber, 2015, S 529 ff. 209 Dazu auch Bogs 2002, S 49 f; Koenig/Scholz EWS 2003, 223 ff. 210 Binnenmarktakte I, KOM(2011) 206 endg, S 13 f. 211 Binnenmarktakte I, KOM(2011) 206 endg, S 13 f. 212 Binnenmarktakte II, COM(2012) 573 endg, S 7 ff, 10. 213 Barnard S 18 f; Ehlers/Ehlers § 7 Rn 24 ff; Huster/Kaltenborn/Cremer § 3 Rn 9. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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behindert oder auch nur potenziell beeinträchtigt, verboten (Rn 273, 304 ff, 379, 398, 403, 443). Dennoch geht der Binnenmarkt über den Gehalt der Grundfreiheiten hinaus, 70 wie durch die konkretisierenden Vorschriften des Binnenmarkts als Ziel der Union (Art 3 III 1 EUV) und die begleitenden Politiken deutlich wird. Doch liegt die einzigartige Bedeutung der Grundfreiheiten nach dem Konzept des Binnenmarkts darin, dass sie die Ausübung der wirtschaftlichen Grundrechte und der Privatautonomie über den nationalstaatlichen Rahmen hinaus garantieren.214 Daher sind sie auch als „Marktzugangsfreiheiten“ zu verstehen, welche die diskriminierungsfreie wirtschaftliche Betätigung im Binnenmarkt sicherstellen (Rn 252, 255, 300).215 Die Grundfreiheiten und die damit verbundene Öffnung der Märkte durch den Wegfall der Binnengrenzen gewährleisten mithin den Wettbewerb als oberstes Ordnungsprinzip in einem marktwirtschaftlich organisierten System.216 Umgekehrt ist ein unverzerrter Wettbewerb Voraussetzung für die unbeschränkte Ausübung der Grundfreiheiten. Das mit dem Binnenmarkt und dem Wettbewerbsprinzip verbundene Wohlstandsversprechen (Rn 14, 79 f, 256) ist erst dann vollständig eingelöst, wenn die Marktbürger die Grundfreiheiten ungehindert ausüben können. Zu diesem Zweck wurden im Rahmen der Rechtsangleichung ergänzend zum 71 Prinzip der gegenseitigen Anerkennung eine Reihe sekundärrechtlicher Maßnahmen zur Garantie der Grundfreiheiten erlassen.217 Angesichts der handelsbeeinträchtigenden Auswirkung unterschiedlicher Produktstandards erfasst das im Bereich der Warenverkehrsfreiheit erlassene Sekundärrecht vor allem die technische Harmonisierung (Rn 184 ff).218 Diese Angleichung ist aber zugleich geboten, um „grundlegende Sicherheitsanforderungen“ festzulegen oder „sonstige Anforderungen im Interesse des Gemeinwohls“ zu erfüllen.219 Dem wird bereits durch die Pflicht Rechnung getragen, dass bei der Verwirklichung des Binnenmarkts ein hohes Schutzniveau in den Bereichen Gesundheit, Umwelt, Sicherheit und Verbraucherschutz zugrunde zu legen ist (Art 114 III AEUV). Diesen Sicherheitsaspekten soll zu-

_____ 214 Müller-Graff NJW 1993, 13 (14); zum Zusammenhang von Grundrechten und Grundfreiheiten etwa Müller-Graff FS Peter Fischer, 2004, S 363 ff; Frenz NVwZ 2011, 961 (963 f). 215 Blanke/Wegner/Scherzberg/Müller-Graff S 336. 216 Behrens Wirtschaftsverfassung der EG S 80; Müller-Graff EuR 2002, Beiheft 1, 7 (35); Nowak EuR 2009, Beiheft 1, 129 (151); Micklitz/Weatherill/Agnew S 136. 217 Merten/Papier/Streinz HGR VI/1 § 153 Rn 69. Vertiefend dazu auch König/Uwer/Obwexer S 71 ff. 218 Vgl dazu die im Zeichen der EEA stehenden Beiträge von Lukes, Marburger, Vieweg, Winckler und Anselmann in Müller-Graff (Hrsg) Technische Regeln im Binnenmarkt S 17 ff, 27 ff, 57 ff., 79 ff, 101 ff; zu jüngeren Entwicklungen vgl Rönck S 70 ff; Wiesendahl S 25 ff, 46 ff, 52 ff, 66 ff, 76 ff, 87 ff. 219 So die Entschließung des Rates v 7.5.1985, ABl C 136/1, Anhang II. Harmonisierungsmaßnahmen in diesem Bereich betreffen beispielsweise die RL 2009/48 über die Sicherheit von Spielzeug (ABl 2009 L 170/1) oder die RL 2006/42 über Maschinen (ABl 2006 L 157/24), mit denen in beiden Fällen die nötige Sicherheit der „Verbraucher“ garantiert werden soll. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

II. Der Binnenmarkt | 925

vörderst durch die allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie Nr 2001/95/EG entsprochen werden.220 Daneben ist eine Reihe weiterer produktspezifischer Richtlinien zu nennen, die die Anforderungen an die Beschaffenheit und die Voraussetzungen für die Verkehrsfähigkeit der Waren – etwa im Bereich von Medizinprodukten,221 Kosmetika222 oder Lebensmitteln223 – regeln. Mit dem Ziel, die Union zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten […] Wirt- 72 schaftsraum der Welt“ zu machen und das Potenzial des Dienstleistungssektors besser zu nutzen, trat 2006 die Richtlinie 2006/123 über Dienstleistungen im Binnenmarkt in Kraft.224 Sie soll sicherstellen, dass Dienstleistungserbringer in allen Mitgliedstaaten der Union, wenn schon nicht nach den rechtlichen Bedingungen ihres Herkunftslandes, so doch möglichst genauso „einfach“ tätig werden können wie innerhalb ihres eigenen Mitgliedstaates.225 Zu diesem Zweck sieht sie einen „einheitlichen Ansprechpartner“ vor, der die Funktion eines Lotsen für die Anbieter von Dienstleistungen aus anderen Mitgliedstaaten erfüllen soll (Art 6, 7 RL 2006/123). 226 Ergänzend sollen eine Vereinfachung der Verwaltung – mit dem Herzstück des einheitlichen Ansprechpartners (Art 5–8 RL 2006/123) – und eine verstärkte Verwaltungszusammenarbeit (Art 28–36 RL 2006/123) dazu beitragen, den Binnenmarkt für Dienstleistungen zu beleben. Die an diese Richtlinie gerichteten Erwartungen227 wurden bisher auch deshalb nicht erfüllt, weil sie von den Mitgliedstaaten nur teilweise wirksam umgesetzt wurde. Wichtige Dienstleistungsbereiche (bspw Unternehmensdienstleistungen und Bauwirtschaft) sind noch immer mit einer bedeutenden Anzahl von Beschränkungen konfrontiert. Darüber hinaus kann das System der Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten seinen Nutzen nicht voll entfalten. Eine ausführliche Analyse zur Funktionsfähigkeit und Praxistauglichkeit der einheitlichen Ansprechpartner kam zu dem Schluss, dass die meisten einheitlichen Ansprechpartner in Bezug auf die Erbringung vorübergehender grenzüberschreitender Dienstleistungen oder die Gründung eines Unternehmens die erwartete Vereinfachung der Verwaltung noch nicht in vollem Umfang erreicht haben.228

_____ 220 ABl 2002 L 11/4. 221 RL 2001/83, ABl 2001 L 311/67. 222 VO 1223/2009, ABl 2009 L 342/59. 223 VO 1272/2008, ABl 2008 L 351/1; VO 178/2002, ABl 2002 L 31/1; VO 258/97, ABl 1997 L 43/1; RL 89/107, ABl 1989 L 40/27; RL 79/112, ABl 1979 L 33/1. 224 RL 2006/123, ABl 2006 L 376/36 Begründungserwägung Nr 4; Calliess DVBl 2007, 336 (339); Calliess/Korte S 316 ff; Schlachter/Ohler/Streinz Einleitung Rn 23. 225 Blanke/Scherzberg/Wegner/Blanke S 352 f, 355. 226 Blanke WiVerw 2008, S 191 ff. 227 Europäische Kommission Europa 2020, KOM(2010) 2020, S 24 f. 228 Europäische Kommission Vorschlag für eine Verordnung zur Einführung einer Elektronischen Europäischen Dienstleistungskarte und entsprechender Verwaltungserleichterungen COM(2016) 824 v 10.1.2017, S 9 (Begründung). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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73

Ein entscheidender Faktor für die Verwirklichung des Binnenmarkts für Dienstleistungen, aber auch für die Niederlassungsfreiheit ist die Anerkennung von Berufsqualifikationen. Seit den 1980er Jahren werden die Qualifikationen von Ärzten, Krankenschwestern/-pflegern, Hebammen, Tier- und Zahnärzten, Apothekern und Architekten ex lege anerkannt, sofern sie bestimmten Ausbildungsstandards genügen.229 Die einschlägigen Regelungen sind in der RL 2005/36230 zusammengefasst worden, die iVm der RL 2006/100/EG231 die berufliche Anerkennung im Bereich der sog reglementierten Berufe normiert. Eng verknüpft mit der Dienstleistungsfreiheit ist die Niederlassungsfreiheit. 74 Beide beziehen sich auf selbstständige Tätigkeiten mit dem Unterschied, dass im Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit die Tätigkeit nur vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat erbracht wird, während im Bereich der Niederlassungsfreiheit der Sitz des Unternehmens vollständig in einen anderen Mitgliedstaat verlagert wird (Rn 384 ff).232 Vor diesem Hintergrund enthält die Dienstleistungsrichtlinie Bestimmungen, die sich auf die Niederlassungsfreiheit beziehen. Da der Dienstleistungserbringer sich in diesem Fall dauerhaft der Rechtsordnung des anderen Mitgliedstaats unterwirft, sind nationale Genehmigungserfordernisse zur Erbringung von Dienstleistungen, wie etwa die Mitgliedschaft in der Handwerkskammer, nicht generell verboten.233 Sie dürfen allerdings nicht diskriminierend wirken und müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt und verhältnismäßig sein (Art 9 I der RL 2006/123). Die gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen ist auch für die 75 Personenverkehrsfreiheit (Niederlassungsfreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit) förderlich.234 Um den Schritt zur Berufstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat zu erleichtern, wurden umfassende Bleiberechte auch für die Familienangehörigen und die Lebenspartner des Arbeitnehmers normiert, die mittlerweile in der RL 2004/ 38 zusammengefasst sind.235 Einen wichtigen Beitrag zur Erhöhung der Mobilität von Selbstständigen und 76 Arbeitnehmern leistet vor diesem Hintergrund das Sozialkoordinierungsrecht, das davon ausgeht, dass Leistungen der sozialen Sicherheit bei Grenzübertritt ex-

_____ 229 Europäische Kommission 20 Jahre Europäischer Binnenmarkt, 2012, S 27 (http://docplayer.org/ 6400127-20-jahre-europaeischer-binnenmarkt-gemeinsam-fuer-neues-wachstum-wichtigste-erfolgebinnenmarkt-und-dienstleistungen.html). 230 RL 2005/36 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, ABl 2005 L 255/22. 231 RL 2006/100 zur Anpassung bestimmter Richtlinien im Bereich Freizügigkeit anlässlich des Beitritts Bulgariens und Rumäniens, ABl 2006, S 141 ff. 232 Stober/Korte Rn 476; Schlachter/Ohler/Streinz/Leible Einleitung, Rn 2. 233 Blanke/Scherzberg/Wegner/Blanke S 357; vgl auch die Unterscheidung EuGH, Rs C-58/98 – Corsten, Rn 46. 234 RL 2005/36, ABl 2005 L 255/22, Begründungserwägung Nr 1. 235 ABl 2004 L 158/77. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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portiert werden können. Dies stellt sicher, dass alle Versicherungszeiten – unabhängig davon, in welchem Mitgliedstaat sie gesammelt wurden – beim Erwerb von Leistungsansprüchen aus den Sozialversicherungssystemen berücksichtigt werden (Art 48 I AEUV). Konkretisiert wird diese primärrechtliche Regelung durch Art 7 der VO 883/2004 (Koordinierungsverordnung) und die Durchführungs-VO 987/2004.236 Zu nennen ist schließlich die VO 492/2011,237 die insb die Gleichbehandlung von inländischen und ausländischen Arbeitnehmern im Hinblick auf Beschäftigung, Entlohnung oder sonstige Arbeitsbedingungen, namentlich auch des Kündigungsschutzes, regelt. Für beitragsabhängige Leistungen sind diese Regelungen wichtig, weil sie die einmal erworbenen sozialrechtlichen Anwartschaften effektiv schützen.238

4. Der Binnenmarkt als System des vor Verfälschungen geschützten Wettbewerbs a) Rechtliche und ökonomische Grundlagen des Wettbewerbs Bereits die häufige Erwähnung des Begriffs „Wettbewerb“ in den Verträgen unter- 77 streicht seine fundamentale Bedeutung für die europäische Integration und den Binnenmarkt. So heißt es in Art 3 III UAbs 1 S 2 EUV anknüpfend an das Binnenmarktziel des Art 3 III UAbs 1 S 1 EUV, dass die Union auf eine in „hohem Maße wettbewerbsfähige und soziale Marktwirtschaft“ hinwirkt. Zudem geht aus dem Wortlaut der Art 101, 102 AEUV hervor, dass Wettbewerbsverfälschungen „mit dem Binnenmarkt unvereinbar“ und daher „verboten“ sind. Binnenmarkt und Wettbewerb bedingen sich somit gegenseitig.239 Allerdings normiert der Vertrag von Lissabon den Binnenmarkt als ein System des unverfälschten Wettbewerbs nicht mehr in den Unionszielen des Art 3 EUV, wie dies zuvor in Art 3 I lit g EGV der Fall war. Stattdessen wurde das Bekenntnis zum Wettbewerb auf französischen Wunsch dort herausgenommen und wird nun lediglich im Protokoll Nr 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb apostrophiert.240 Danach umfasst der Binnenmarkt ein System, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass ein „System, das den Binnenmarkt vor Verfälschungen schützt“, weiterhin vom Binnenmarktbegriff umfasst ist und mithin ein Unionsziel darstellt. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass die Union Maßnahmen zum Schutz des Wettbewerbs weiterhin auf den explizit der Verwirklichung der Unionsziele vorbe-

_____ 236 237 238 239 240

VO 883/2004, ABl 2004 L 166/1; DurchführungsVO 987/2009, ABl 2009 L 284/1. Diese ersetzt die vorher maßgebliche VO 1612/68, ABl 1968 L 257/2. Eichenhofer Sozialrecht der EU Rn 80 f. Immenga/Mestmäcker Rn 23. Oppermann/Classen/Nettesheim § 20 Rn 1; vBogdandy/Bast/Drexl S 910.

Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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haltenen Art 352 AEUV stützen kann (Art 352 I S 1 AEUV);241 zum anderen sind die Protokolle Bestandteil der Verträge (Art 51 EUV). Zudem sieht Art 119 I AEUV vor, dass die Wirtschaftspolitik „dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist“. Noch heute aber scheint in der französischen Politik die Konvergenz der mitgliedstaatlichen Gesellschaften ein höheres Ziel zu sein als der wirtschaftliche Wettbewerb.242 Eine Legaldefinition des Wettbewerbs beinhalten die Verträge nicht. Auch sonst 78 gibt es bislang keine einheitliche Definition des Rechtsbegriffs „Wettbewerb“.243 Allgemein lässt sich Wettbewerb als Rivalitätsbeziehung zwischen verschiedenen Akteuren im Streit um ein knappes Gut definieren.244 Mit der Eigentumsordnung des „Habens und Erwerbendürfens“ eng verbun79 den245 stellt Wettbewerb ein zukunftsorientiertes Mittel zur Auslese, zur Leistungssteigerung sowie zur optimalen – weil selbstbestimmten – Lösung von gesellschaftlichen Aufgaben dar. Er dient dabei als Verfahren, das Alternativen schaffen und so die „Wahl der besten Alternative“ ermöglichen soll:246 Sich in der Rivalitätsbeziehung durchzusetzen, gelingt nur, wenn man durch Steigerung der eigenen Leistung „besser“ als die Konkurrenz ist und sich dadurch von ihr abheben kann.247 Daher spricht Hayek auch vom „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“. Nur wer neue Ideen entwickelt und sie verwirklicht, kann im Wettbewerb bestehen. Aus diesen „Entdeckungen“ entstehen Innovationen und schließlich technischer Fortschritt.248 Der Wettbewerbsgedanke als Mittel zur Leistungssteigerung, Innovationsmotor 80 und Ausleseverfahren zur Lösung gesellschaftlicher Aufgaben spielt im europäischen Binnenmarkt in zweifacher Hinsicht eine wichtige Rolle:249 Zum einen ist der „System- oder Regulierungswettbewerb“ als eine gegenüber der Harmonisierung alternative Integrationsstrategie anerkannt (Wettbewerb der Rechtsordnungen – Rn 167 ff, 251).250 Zum anderen bildet der Wettbewerb das zentrale Instrument zur

_____ 241 EuGH, Rs C-52/09 – TeliaSonera Sverige, Rn 20; Blanke/Mangiameli/Blanke The European Union after Lisbon S 377; Nowak EuR 2009, Beiheft 1, 129 (189); Nowak EuR 2011, Beiheft 2, 21 (24); vBogdandy/Bast/Drexl S 910; EuGH, Rs 6/72 – Continental Can, Rn 23 ff. 242 Vgl Staatspräsident Macron, der in seiner Rede in der Sorbonne „Initiative für Europa“ (26.9.2017) hinsichtlich der Entwicklung der Union bis zum Jahr 2024 ausgeführt hat: “Simple, efficace, protecteur, le marché unique doit redevenir cet espace de convergence plus que de concurrence.” 243 Baur ZHR 1970, 134. 244 Giegerich VVDStRL 69 (2010), 57 (60); Cox/Jens/Markert/Cox/Hübner S 4. 245 Fikentscher S 132. 246 Blanke/Scherzberg/Wegner/Blanke/Thumfart S 1. 247 Hoppmann ORDO 18 1976, S 80. 248 vHayek, Freiburger Studien S 249 ff; Kantzenbach S 17. 249 Blanke/Scherzberg/Wegner/Blanke/Thumfart S 1. 250 Ohr/Streit/Mussler S 269 ff; Blanke/Scherzberg/Wegner/Heine S 235 ff; Blanke/Scherzberg/ Wegner/Terhechte S 279 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Ordnung und Koordinierung der (Binnen-)Marktprozesse. Verfahrens- und Produktinnovationen zur Effizienzsteigerung und Produktdifferenzierung sind nötig, um sich durch Kostensenkungen, Qualitätssteigerungen und die Anpassung an die Kundenpräferenzen gegen die Konkurrenz durchzusetzen (Rn 14).251 Im Monopol hingegen können nicht nur die Preise frei festgesetzt, sondern auch Qualitätsaspekte vernachlässigt werden. Ebenso wenig ist der Monopolist gezwungen, seine Produkte zu differenzieren, zu verbessern oder Neues zu entwickeln und ist damit gewissermaßen „fortschrittsfeindlich“.252 Kurze monopolistische Momente sind jedoch auch im Wettbewerb nicht ausgeschlossen. Sie bestehen in dem Zeitraum, in dem ein Wettbewerber im Sinne des „Schumpeterschen Bahnbrechers“ eine Innovation eingeführt hat und den Wettbewerbern die Nachahmung noch nicht gelungen ist.253 Gleichwohl darf der enorme Wettbewerbsdruck, dem sich schwächere Volks- 81 wirtschaften durch die Binnenmarktintegration ausgesetzt sehen, nicht unterschätzt werden.254 Um weniger entwickelten Volkswirtschaften die Möglichkeit zu geben, sich an die veränderten Wettbewerbsbedingungen anzupassen, sieht Art 27 AEUV die Möglichkeit der „abgestuften Integration“ vor.255 Im Kern ist damit der Erlass von Ausnahmeregelungen gemeint, die, wie Art 27 II AEUV hervorhebt, im Sinne der Rechtsgleichheit nur vorübergehend gelten dürfen.

b) Die Wettbewerbspolitik der Union Diese und weitere Gründe können dazu führen, dass staatliche Akteure versuchen, 82 bestimmte Wirtschaftszweige oder einzelne Unternehmen vor der Konkurrenz zu schützen. Auch Unternehmen haben die Tendenz, dem „unbequemen Wettbewerbsdruck“256 entgehen zu wollen. Um das zu verhindern, gelten innerhalb der EU bestimmte „Spielregeln“, die den Wettbewerb „vor Verfälschungen“ schützen und so zu seinem Erhalt beitragen sollen.257 Die wichtigsten Vorschriften der europäischen Wettbewerbspolitik sind das 83 Kartellverbot (Art 101 AEUV), das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung (Art 102 AEUV) und das generelle Beihilfenverbot (Art 107 AEUV) sowie die zur Verwirklichung der Art 101 und 102 AEUV erlassenen Richtlinien und Verordnungen (Art 103 AEUV). Diese Regeln sind Teil und Ausdruck des spezifischen Wettbewerbskonzepts der EU. Während bestimmte ökonomische Strö-

_____ 251 252 253 254 255 256 257

Cox/Jens/Markert/Cox/Hübener S 4 ff; Kantzenbach S 17. Cox/Jens/Markert/Arndt S 69 f. Baur ZHR 1970, 97 (101 f). Craig/de Búrca S 629 f; Streinz/Schröder Art 27 AEUV Rn 2. Schwarze/Hatje Art 27 AEUV Rn 1; Streinz/Schröder Art 27 AEUV Rn 3. Cox/Jens/Markert/Cox/Hüebner S 8. Hoppmann ORDO 18 1967, 77 (85).

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mungen wie die Chicago School ökonomische Effizienz als das einzig legitime Ziel staatlicher Wettbewerbspolitik betrachten, verfolgt die Wettbewerbspolitik der Union gleich mehrere Ziele. Dies hat ihr den Vorwurf einer gewissen „Inkonsistenz“ eingebracht.258 Sie dürfte im Wesentlichen jedoch die Folge der unterschiedlichen Auffassung der Mitgliedstaaten über die Ziele der Wirtschaftspolitik sein.259 Auch wenn die Sicherung der Handlungsfreiheit ein Teilziel europäischer Wett84 bewerbspolitik ist, herrscht Wettbewerb nicht, wie dies in der Theorie der Wettbewerbsfreiheit (Hoppmann, Hayek) vertreten wird, um seiner selbst willen.260 Vielmehr dient er in der Union der Verwirklichung des Gemeinwohls. 261 Damit tendiert das europäische Wettbewerbskonzept zur Idee des „funktionsfähigen Wettbewerbs“, der Wettbewerb als Mittel zur Erreichung gesamtwirtschaftlicher Ziele begreift (Rn 23, 78 ff, 258).262 Trotz gewisser Tendenzen, die Konsumentenwohlfahrt in den Mittelpunkt der 85 europäischen Wettbewerbspolitik zu rücken, bleibt das Hauptziel des in der Judikatur des EuGH als „wirksam“ bezeichneten Wettbewerbs die Verwirklichung des Binnenmarkts. 263 Hierunter lassen sich weitere Wettbewerbsziele subsumieren. Wettbewerb und gemeinsame Wettbewerbsregeln (Art 101, 102, 107 AEUV) sollen verhindern, dass die durch den Binnenmarkt abgebauten staatlichen Handelshemmnisse infolge der wirtschaftlichen Macht Privater an anderer Stelle durch private Hemmnisse ersetzt werden.264 Diese enge Verknüpfung zwischen dem Binnenmarkt und der Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen wird in der Rechtsprechung des EuGH bestätigt.265

c) Intervention zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit 86 Nicht alle supranationalen Politikbereiche folgen dem marktwirtschaftlichen Prin-

zip des Wettbewerbs. Die prägnantesten Beispiele für solche vom Konzept der Planbarkeit geprägten Gebiete sind die Gemeinsame Agrar- und Industriepolitik

_____ 258 Gröner/Schüller/Kerber S 282, 289 f. 259 Jungheim-Hertwig/Weiß § 14 (in diesem Band) Rn 5 ff. 260 Blanke/Scherzberg/Wegner/Blanke/Thumfart S 9; Gröner/Schüller/Kerber S 285 f. 261 Kirchhof/Palm S 112. 262 Cox/Jens/Markert/Kantzenbach/Kallfass S 105; Gröner/Schüller/Kerber S 291. 263 EuGH, Rs 26/76 – Metro / Kommission, Rn 20. 264 EuGH, Rs 78/70 – Deutsche Grammophon / Metro, Rn 12; verb Rs 56/64 ua – Consten-Grundig, Rn 23 f; Nowak EuR 2011, Beiheft 1, 21 (25); Behrens/Braun/Nowak/Behrens S 17; Nowak EuR 2004, Beiheft 3, 77. 265 So etwa EuGH, Rs C-300/89 – Titandioxid, Rn 8; Rs C- 380/03 – Tabakwerbeurteil II; Rs 78/70 – Deutsche Grammophon / Metro, Rn 12; verb Rs 56/64 ua – Consten-Grundig, Rn 23 f; Nowak EuR 2011, Beiheft 2, 21 (25); Behrens/Braun/Nowak/Behrens S 17; Nowak EuR 2004, Beiheft 3, 77. Vgl auch Jungheim-Hertwig/Weiß § 14 (in diesem Band) Rn 1, 5, 45 f. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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sowie der Bereich der Forschung und Entwicklung. Im Kern geht es in allen diesen Bereichen darum, durch die Intervention der „öffentlichen Hand“ die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Union und ihrer Mitgliedstaaten (in einem weiten Verständnis) zu steigern. Die besondere (finanzielle) Unterstützung, die die Union hier gewährt, und die damit verbundenen Ausnahmen vom Wettbewerbsprinzip werden mit der wirtschaftlichen oder integrationspolitischen Bedeutung dieser Bereiche für die Union begründet. So führe ihre Förderung zu einer Wettbewerbsfähigkeit der Union266 (Agrarpolitik), einem hohen Beschäftigungsniveau oder zu Innovationen (Industriepolitik) und technischem sowie wirtschaftlichem Fortschritt namentlich im Zeichen der Förderung der digitalen Kompetenz und der künstlichen Intelligenz (Forschung).

Die gemeinsame Agrarpolitik Gemäß Art 38 I UAbs 2 S 1 AEUV umfasst der Binnenmarkt auch die Landwirt- 87 schaft, die Fischerei und den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Sofern die Art 39 bis 44 AEUV nichts anderes bestimmen, finden nach Art 38 II AEUV grundsätzlich die Vorschriften über die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarkts Anwendung. Damit sind auch landwirtschaftliche Erzeugnisse von der Warenverkehrsfreiheit erfasst und können wie andere Produkte im gesamten Binnenmarkt gehandelt werden – Zölle oder ähnliche Maßnahmen sind auch in diesen Fällen nicht statthaft.267 Der Agrarmarkt unterscheidet sich jedoch insofern von anderen Gütermärkten, als mit der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) die Produktivitätssteigerung der Landwirtschaft, die Gewährleistung eines angemessenen Lebensstandards der landwirtschaftlichen Bevölkerung, die Stabilisierung der Märkte, die Sicherstellung der Versorgung und die Gewährleistung angemessener Preise für die Verbraucher erreicht werden sollen.268 Diese Ziele erklären sich aus der besonderen Bedeutung der Agrarwirtschaft angesichts ihrer Funktion, die Existenz der Beschäftigten zu sichern, sowie aus ihrer Abhängigkeit von Witterungsbedingungen und den damit verbundenen Schwierigkeiten, flexibel auf Marktveränderungen zu reagieren.269 Zu diesem Zweck sieht Art 40 AEUV eine gemeinsame Organisation der Ag- 88 rarmärkte vor.270 Ihre Instrumente bestehen in gemeinsamen Wettbewerbsregeln, einer bindenden Koordinierung der einzelstaatlichen Marktordnungen sowie in der

_____ 266 Streinz/Härtel Art 38 AEUV Rn 6 f., Schwarze/Stumpf Art 173 AEUV Rn 8, 11. 267 Calliess/Ruffert/Martinez Art 38 AEUV Rn 14. 268 Martinez § 17 (in diesem Band) Rn 74 ff. 269 Streinz/Härtel Art 38 AEUV Rn 2, Art 39 AEUV Rn 5 ff; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe Art 39 AEUV Rn 30 ff. 270 Martinez § 17 (in diesem Band) Rn 92 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Errichtung einer europäischen Marktordnung (Art 40 I AEUV). Die Gemeinsame Marktordnung (GMO) bedient sich interventionistischer Maßnahmen, die dem System einer freien Marktwirtschaft nicht entsprechen.271 Vorgesehen sind etwa Ankäufe von Agrarerzeugnissen, Beihilfen zur privaten Lagerhaltung oder Produktionsbeschränkungen durch Quotenregelungen zwecks Vermeidung von Überschüssen.272 Die Wettbewerbsregeln der Union finden für Produktion und Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen nur insoweit Anwendung, als das Europäische Parlament und der Rat dies bestimmen (Art 42 I AEUV). Zudem wird der Rat vertraglich ermächtigt, auf Vorschlag der Kommission Beihilfen zum Schutz von strukturellen bzw naturbedingt benachteiligten Betrieben oder im Rahmen wirtschaftlicher Entwicklungsprogramme zu gewähren (Art 42 II AEUV). Dieses Abrücken vom Prinzip des Wettbewerbs bedeutet jedoch nicht, dass der 89 Bereich der Landwirtschaft vollständig außerhalb freier Wettbewerbsbedingungen organisiert wird.273 Abweichungen vom Prinzip der freien Marktwirtschaft mit offenem Wettbewerb müssen vielmehr durch die Ziele der Agrarpolitik besonders gerechtfertigt sein.274 Im Fall eines Zielkonflikts zwischen der Errichtung eines Systems unverfälsch90 ten Wettbewerbs und den Zielen der GAP hat der EuGH jedoch mehrfach deutlich gemacht, dass die Ziele der Agrarpolitik Vorrang vor den Wettbewerbszielen haben.275 Die „Milchseen und Butterberge“ zu Beginn der 1980er Jahre sind nur einige Beispiele für die negativen Auswirkungen dieser Marktinterventionen der Union. Versuche, die überschüssige Ware abzusetzen, führten außerdem zu einem massiven Dumping.276 Der Druck der WTO und der anderen Handelspartner der Union hat zwar be91 wirkt, dass die Überproduktion, begünstigende Maßnahmen wie Interventionskäufe und Preisregulierungen mehr und mehr abnehmen;277 die GAP verursacht aber nach wie vor enorme Kosten. Für den Zeitraum 2021–2027 schlägt die Europäische Kommission für die GAP Mittel in Höhe von insgesamt 365 Mrd. EUR und somit knapp einem Drittel des gesamten EU-Haushalts vor. Die GAP-Mittel werden auf die traditionellen zwei „Säulen“ aufgeteilt: einerseits Direktzahlungen für Landwirte und Marktmaßnahmen (Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft – EGFL) und andererseits die Entwicklung des ländlichen Raums (Europäischer Landwirtschafts-

_____ 271 VO 1308/2013, ABl 2013 L 347/671. 272 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe Art 40 AEUV Rn 21 ff; Schwarze/Bittner Art 40 AEUV Rn 12 ff. 273 Martínez EuZW 2010, 368 (368). 274 Martínez EuZW 2010, 368 (369). 275 EuGH, Rs C-280/93 – Bananenstreit, Rn 61; Rs C-137/00 – Milk Marque, Rn 81; Rs 139/79 – Maizena, Rn 23 f. 276 Baldwin/Wyplosz S 248 f. 277 Streinz/Härtel Art 40 AEUV Rn 9 f. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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fonds für die Entwicklung des ländlichen Raums – ELER). Damit die Mitgliedstaaten ihre Politik besser an die Prioritäten ihres jeweiligen Agrarsektors anpassen können, erhalten sie die Möglichkeit, bis zu 15% ihrer Mittelzuweisungen für die GAP zwischen Direktzahlungen und der Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums zu übertragen. Außerdem können die Mitgliedstaaten für Umwelt- und Klimamaßnahmen ohne Kofinanzierung weitere 15% der Mittel von der ersten Säule auf die zweite Säule übertragen. Zusätzliche 10 Mrd. EUR werden im Rahmen des EUForschungsprogramms „Horizont Europa“ bereitgestellt, um spezifische Forschung und Innovation in den Bereichen Ernährung, Landwirtschaft, ländliche Entwicklung und Biowirtschaft zu fördern. Die künftige GAP soll die Funktionsweise der Agrarpolitik wesentlich vereinfachen und modernisieren. An die Stelle der pauschalen Vorgaben tritt ein flexibleres System, das den EU-Ländern mehr Spielraum gibt zu entscheiden, wie sie die gemeinsamen Ziele am besten erreichen und gleichzeitig auf die spezifischen Bedürfnisse ihrer Landwirte und ländlichen Gemeinschaften eingehen können. Zu den neun GAP-Zielen gehört ua die Verstärkung der Ausrichtung auf den Markt und die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, auch durch einen stärkeren Schwerpunkt auf Forschung, Technologie und Digitalisierung.278

Industriepolitik Auch im Zuge der gemeinsamen Industriepolitik rückt die EU vom liberalen wirt- 92 schaftspolitischen Ideal ab. Stattdessen versucht sie, im Wege einer intervenierenden Industriepolitik Industriezweige mit hohem Zukunftspotenzial zu fördern („picking the winners“ – sunrise industries) und niedergehende Industrien durch Strukturanpassung zu unterstützen („helping the loosers“ – sunset industries).279 Diese bereits in den Römischen Verträgen angelegte Politik ist vor dem Hintergrund der Globalisierung als Reaktion auf den industriellen Wandel und die starke internationale Konkurrenz in bestimmten Industriezweigen zu werten.280 Im Verbund mit den Mitgliedstaaten sieht sich die Union berufen, im Wege öffentlicher Steuerung industrielle Wettbewerbsfähigkeit (Art 173 I AEUV), Marktführerschaft durch markt-

_____ 278 Vgl Europäische Kommission Vorschlag für eine Verordnung mit Vorschriften für die Unterstützung der von den Mitgliedstaaten im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik zu erstellenden und durch den Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) und den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) zu finanzierenden Strategiepläne (GAP-Strategiepläne) und zur Aufhebung der VO (EU) Nr. 1305/2013 sowie der VO (EU) Nr. 1307/2013, COM(2018) 392 v 1.6.2018; vgl ferner Europäische Kommission Vorschlag für eine Verordnung über die Finanzierung, Verwaltung und Überwachung der Gemeinsamen Agrarpolitik, COM(2018) 393 v 1.6.2018. 279 Streit/Streit S 313; Ohr/Berthold/Hilpert S 83. 280 Oppermann/Classen/Nettesheim § 18 Rn 4. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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schaffende Innovation und damit letztlich ein hohes Einkommens- und Beschäftigungsniveau zugunsten der europäischen Unternehmen zu sichern.281 Zu diesem Zweck kann die Union im Rahmen ihrer bloß ergänzenen Zuständigkeit (Art 6 lit b AEUV) Fördermaßnahmen ergreifen, die etwa die strukturelle Anpassung der Industrie an Veränderungen erleichtern (Art 173 I UAbs 2 Spstr 1 AEUV) oder die bessere Nutzung des industriellen Potentials in den Bereich Innovation, Forschung und technologische Entwicklung stärken (Art 173 I UAbs 2 Spstr 4 AEUV). Die europäische Industriepolitik ist eng mit der europäischen Forschungspo93 litik verschränkt, die die Union durch grenzüberschreitende „Maßnahmen“ (Programme) im Binnenmarkt „fördern“ und „unterstützen“ (Art 179 II AEUV), dabei aber zugleich die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten wahren soll. Denn auch die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der Union „einschließlich der ihrer Industrie“, insb die Unterstützung der Unternehmen in der Union samt der kleineren und mittleren Unternehmen (KMU), kennzeichnet der Vertrag als eine Form der Industriepolitik (Art 179 I iVm II AEUV). Unter den Bedingungen der Globalisierung ermöglicht der Binnenmarkt die Integration der europäischen Unternehmen in europäische und globale Wertschöpfungsketten.282 Anlässlich der Debatte über den mehrjährigen Finanzrahmen 2021–2027 hat der Rat – gestützt auf die Vorschläge der Kommission – den Übergang zu sicheren und nachhaltigen Technologien und zu einer CO2armen Kreislaufwirtschaft als ein zentrales Ziel der Industriepolitik der Union hervorgehoben, um eine starke, ressourcenschonende und wettbewerbsfähige industrielle Basis in Europa zu schaffen.283 Das EP betont insoweit die Notwendigkeit, dass auf die Herstellung marktreifer Produkte schon bei der Auswahl der Forschungszuschüsse geachtet werden und den innovativen Unternehmen leichterer Zugang zu Risiko-Krediten gegeben werden müsse.284 Die Kommission sieht eine Priorität auf der Agenda der europäischen Industriepolitik darin, die Marktführerschaft im Bereich der Elektrofahrzeuge und Energiespeicherung durch die Schließung einer vollständigen Batterie-Wertschöpfungskette in der EU zu erobern.285 Zwar müssen die hierauf gerichteten Maßnahmen „einem System offener und 94 wettbewerbsorientierter Märkte“ entsprechen (Art 173 I UAbs 2 AEUV) und dürfen nicht als Grundlage für wettbewerbsverzerrende Maßnahmen dienen (Art 173 III

_____ 281 Europäische Kommission Investitionen in eine intelligente, innovative und nachhaltige Industrie. Eine neue Strategie für die Industriepolitik der EU, COM(2017) 479. 282 COM(2017) 479, S 7. 283 Rat der Europäischen Union Strategie für die Industriepolitik der EU, Schlussfolgerungen v 12.3.2018, Rats-Dok 7037/18. 284 Europäisches Parlament Entschließung des Europäischen Parlaments v 9.3.2011 zu einer Industriepolitik im Zeitalter der Globalisierung, ABl 2012 C 199 E/131, Ziff 44, 86, 104. 285 Europäische Kommission Investitionen in eine intelligente, innovative und nachhaltige Industrie. Eine neue Strategie für die Industriepolitik der EU, COM(2017) 479, S 12 ff (13). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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UAbs 2 AEUV). Sowohl die Gewährleistung von Beihilfen als auch die bloße Unterstützung oder Förderung der strukturellen Anpassung der nationalen Industrien stellen aber bereits eine Diskriminierung zwischen unterstützten und nicht unterstützten Regionen, Industriezweigen oder Beschäftigten dar.286 Statt den Wettbewerbsmechanismus zur Selektion zwischen „sunrise“- und „sunset“-Industrien zu nutzen, entscheiden staatliche Behörden über Fortleben oder Untergang. Die nationalen Maßnahmen sind indes dann nichtdiskriminierend, wenn ein sachlicher Grund für eine abweichende Behandlung bestimmter Industriezweige gegeben ist. Dazu gehört die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Union. Die Auswahl der Sektoren, die industriepolitisch gefördert oder nicht gefördert 95 werden, setzt jedoch ein Wissen über die konkreten Auswirkungen wirtschaftspolitischer Interventionen voraus, das in der Realität nicht existiert und, wie Hayek betont hat, qualitativ hinter den Lösungen, die der Wettbewerb als Entdeckungsprozess hervorbringt, zurückbleibt.287 Die Gefahr, dass der Staat zu Fehleinschätzungen hinsichtlich der künftigen Wachstumsbranchen oder Schlüsselindustrien kommt, wird zudem noch dadurch erhöht, dass die Förderung bestimmter Branchen durch Steuergelder und nicht durch eigene Mittel erfolgt, also Risiko und Haftung auseinanderfallen.288 Dies gilt gleichermaßen für die Unterstützung der „sunset“Industrien. Das Bestreben, die Folgen des Strukturwandels, etwa durch Hilfen aus dem Sozial- und Regionalfonds (Art 164, 176 AEUV), abzufedern, birgt die Gefahr, dass wettbewerbsunfähige Branchen oder Unternehmen „künstlich“ am Leben gehalten werden.289 Damit wird in Abwendung von innovativen Politikansätzen das Ziel konterkariert, über den Wettbewerb eine optimale Allokation knapper Ressourcen zu erreichen.

5. Ein prosperierender Binnenmarkt als Gegenstand der Governance a) Empirische Befunde Trotz seiner zuvor markierten Ineffizienz auf einigen Politikfeldern der Union ist der 96 Europäische Binnenmarkt von zentraler Bedeutung für den wirtschaftlichen Erfolg und den Wohlstand der Mitgliedstaaten. Europaweit hat er einen beachtlichen Beitrag zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Steigerung des Wohlstands geleistet und damit den sozialen Fortschritt gefördert.290 Dabei hat dieser Markt selbst eine rasante Entwicklung erfahren: Seit 1992 ist die Zahl der Verbraucher von 345 Mio –

_____ 286 Streit/Streit S 317 f; Schwarze/Stumpf Art 173 AEUV Rn 16. 287 vHayek Freiburger Studien S 249 ff; Calliess/Ruffert/Ruffert Art 173 AEUV Rn 11; Streit/Streit S 314. 288 Winter S 28 f. 289 Ohr/Berthold/Hilpert S 83. 290 Blanke/Mangiameli/Blanke The European Union after Lisbon S 370. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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in 12 Ländern – auf 512 Mio – in 28 Ländern – angestiegen. Diese Entwicklung zeigt sich auch am Handel mit Waren und Dienstleistungen zwischen den Mitgliedstaaten. Er ist, gemessen am Bruttoinlandsprodukt der Union im Jahr 2004, von 27% auf 33% im Jahr 2017 angestiegen.291 Mit einem Bruttoinlandsprodukt von insgesamt 15.300 Milliarden Euro ist der Binnenmarkt einer der größten Märkte der Welt.292 Der Anstieg der Beschäftigung im Zeitraum von 1992 bis 2012 wird auf 1,3% ge97 schätzt: Damit wurden 2,677 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen.293 Mit dieser Entwicklung ging eine Zunahme der grenzüberschreitenden Arbeitskräftemobilität einher. Im Jahr 2017 lebten und arbeiteten 17 Millionen Unionsbürger in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen. Diese Zahl hat sich innerhalb des zurückliegenden Jahrzehnts nahezu verdoppelt.294 1,4 Millionen EU-Bürger pendeln zu einem Arbeitsplatz in einem anderen Mitgliedstaat.295

b) Die Einbettung des Binnenmarkts in die Wirtschafts- und Währungsunion 98 Im Vertrag von Maastricht (1992) haben die Mitgliedstaaten die Wirtschafts- und

Währungsunion (WWU) gegründet. Eine echte Wirtschaftsunion gilt als die höchste Form wirtschaftlicher Integration und wird im Wege einer stufenweisen Harmonisierung der Außen- und Binnenwirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten sowie ihrer Sozialpolitik verwirklicht. In der WWU gehört die Wirtschaftspolitik jedoch zum domaine reservé der Mitgliedstaaten.296 Sie wird daher mittels einer bloßen – bis zum Beginn der Staatsschuldenkrise zudem nur unzureichend entwickelten – Koordinierung der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten abgestimmt (Art 119 I, Art 121, Art 136 I lit a AEUV) und weist so auf die asymmetrische Verfasstheit der WWU hin. Sie ist durch eine supranationale Kompetenz für die Währungspolitik bei fortbestehender nationaler Zuständigkeit für die Wirtschaftspolitik gekennzeichnet.297 Ungeachtet dieser binären Struktur der WWU und der damit verbundenen Krisenanfälligkeit wird die europäische Marktintegration politisch und wirtschaftsverfassungsrechtlich von der Wirtschaftsunion überwölbt.298

_____ 291 Europäische Kommission Der Binnenmarkt in einer Welt im Wandel, COM(2018) 772, S 5. 292 COM(2018) 772, S 7. 293 Europäische Kommission 20 Jahre Europäischer Binnenmarkt, 2012, S 13. 294 Vorschlag der Europäische Kommission Vorschlag für eine Verordnung zur Errichtung einer Europäischen Arbeitsbehörde, COM(2018) 131, S 1. 295 Europäische Kommission COM(2018) 131, S 1 f. 296 Calliess/Ruffert/Häde Art 19 AEUV Rn 8. 297 Blanke/Scherzberg/Wegner/Blanke S 81 f; Wagner S 1. 298 Nach Auffassung des Werner-Plans (1969) konnte eine Wirtschaftsunion noch als Bestandteil eines Binnenmarkts verstanden werden. Nach dem Delors-Bericht (1985: „Weißbuch zur Vollendung des Europäischen Binnenmarktes“) ist indes eine Wirtschaftsunion weit mehr als ein Binnenmarkt; vgl Köster S 142 f. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Die Koordinierung der Wirtschaftspolitik nach Art 119 I AEUV „beruht“ auf dem 99 Binnenmarkt und den Zielen, die ihn dirigieren (Art 3 III EUV). Diese Ziele fasst Art 3 III UAbs 1 S 2 EUV in ein magisches Oktogon, das sich aus heterogenen Elementen zusammensetzt: Nachhaltigkeit, ausgewogenes Wirtschaftswachstum, Preisstabilität, wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, Vollbeschäftigung, sozialer Fortschritt, Umweltschutz sowie wissenschaftlicher und technischer Fortschritt sind die Vorgaben für die Errichtung des Binnenmarkts – seinerseits ein Ziel der Union – und bilden zugleich in ihrer Gesamtheit den archimedischen Punkt der koordinierungsbedürftigen nationalen Wirtschaftspolitiken (Rn 19 ff).299 Auch die Koordinierung der Wirtschaftspolitik ist dem Grundsatz „einer offenen 100 Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ verpflichtet (Rn 21); dies wird in Art 119 I AEUV prononciert hervorgehoben. In ihrer Ausrichtung korrespondiert sie mithin zu den binnenmarktprägenden Zielen nach Art 3 III UAbs 1 S 2, 3 EUV. Schon der Wortlaut des Art 119 I AEUV macht deutlich, dass die Wirtschaftspolitik keine isolierte Politik der Union darstellt, sondern die anderen wirtschaftlichen Politiken der Union ergänzt; ihr Fundament ist stets der Binnenmarkt.300 Der Binnenmarkt samt seinem Wachstumspotenzial wird auf diese Weise in die Wirtschaftsunion eingebettet. Er bildet die Voraussetzung der WWU.301 Vor diesem Hintergrund ist auch die 2014 von der Kommission initiierte Offensive zu verstehen, die die Investitionsbedingungen im Binnenmarkt verbessern und damit die Wettbewerbsfähigkeit und das Wachstum der in der Wirtschaftsunion kooperierenden nationalen Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten entfachen soll. Die als Juncker-Plan bekannte Initiative stellte über den Europäischen Fonds für strategische Investitionen Kredite und Garantien von insgesamt 335 Mrd. Euro (2017) bereit, die in die Modernisierung kleiner und mittlerer Firmen oder in grenzüberschreitende Großprojekte wie den Bau von Straßen, Daten- und Energie-Netzen fließen. Die Union übernimmt damit einen Teil des Investitionsrisikos, um ein Projekt für private Investoren attraktiver zu machen.302 Auf diese Weise wurden bislang mehr als 750.000 Arbeitsplätze gefördert. Das BIP der EU ist infolge dieser die Investitionsoffensive um 0,6% gestiegen.303 Die ausdrückliche Betonung des Binnenmarkts in Art 119 I AEUV ist als Vorgabe 101 für konkrete wirtschaftspolitische Entscheidungen zu interpretieren, die seinen Regeln nicht zuwiderlaufen dürfen.304 Die Einbindung des Binnenmarkts in die Wirt-

_____ 299 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Terhechte Art 3 EUV Rn 48 f; Dauses/Ludwigs/Müller-Graff A.I Rn 149. 300 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Bandilla Art 119 AEUV Rn 21. 301 Franz/Franz S 13 ff. 302 Europäische Kommission Eine Investitionsoffensive für Europa, COM(2014) 903. 303 Europäische Kommission Investitionsoffensive für Europa: Factsheet Juli 2018, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/juncker-plan-factsheet-july2018_de.pdf. 304 Siekmann/Siekmann Art 119 AEUV Rn 83. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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schaftsunion wird auch auf institutioneller Ebene deutlich. Der Wirtschafts- und Finanzausschuss (Art 134 AEUV) ist ein beratendes Expertengremium, das sich aus jeweils zwei Mitgliedern der Mitgliedstaaten, der Kommission und der EZB zusammensetzt und sich auf Sachfragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik konzentriert.305 Durch seine Stellungnahmen und Koordinierungsaufgaben unterstützt es die Sitzungen des ECOFIN-Rates.306 Angesichts der asymmetrischen Struktur der WWU besteht insb im Bereich der mitgliedstaatlichen Wirtschaftspolitik ein erhöhter Koordinierungsbedarf.307 Ein weiteres Gremium zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik ist der Ausschuss für Wirtschaftspolitik. Dem Ausschuss gehören jeweils zwei Mitglieder aus jedem Mitgliedstaat, Kommission und EZB an. Die Arbeit dieses auf Abteilungsleiterebene angesiedelten Ausschusses ist primärrechtlich nicht verankert,308 sondern wird durch eine Satzung des Rates geregelt.309 „Unbeschadet“ der Arbeit des Wirtschafts- und Finanzausschusses beobachtet der Ausschuss für Wirtschaftspolitik die makroökonomische Entwicklung in den Mitgliedstaaten und befasst sich mit strukturpolitischen Maßnahmen der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Güter-, Kapital-, Dienstleistungs- und Arbeitsmärkte.310 Die Übereinstimmung der Wirtschaftspolitik mit den Freiheiten, Garantien und Zielen des Binnenmarkts wird somit inhaltlich und institutionell gesichert. In der Diskussion über die Währungsunion herrschte bereits in den 1980er 102 Jahren die Annahme vor, dass die Schaffung eines einheitlichen europäischen Währungsraums mit einer Europäischen Zentralbank als eine ökonomisch konsequente und sogar notwendige Ergänzung des Binnenmarkts anzusehen ist. Ein einheitlicher Währungsraum sollte zum Katalysator für die Konvergenz der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten werden.311 Diesen Erwartungen zufolge fördern der Abbau von Handelshindernissen und die Verminderung von Transaktionskosten als Ergebnis der gemeinsamen Währung den Binnenmarkt und damit Wachstum und Beschäftigung.312 Der größte Gewinner des Binnenmarkts in der Währungsunion ist die deutsche Volkswirtschaft, die seit 2007 hohe Leistungsbilanzüberschüsse beim Export in andere Mitgliedstaaten verzeichnet (mehr als 6%

_____ 305 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Palm Art 134 AEUV Rn 4. 306 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Palm Art 134 AEUV Rn 1. 307 Blanke/Scherzberg/Wegner/Blanke S 82 ff. 308 Hahn/Häde § 22 Rn 74. 309 Beschluss 2003/475 zur Änderung des Beschlusses 2000/604 über die Zusammensetzung und die Satzung des Ausschusses für Wirtschaftspolitik, ABl 2003 L 158/55. 310 Art 1 I, II Satzung WPA. Zur Abgrenzung des Wirtschafts- und Finanzausschusses vom Ausschuss für Wirtschaftspolitik vgl Siekmann/Becker Art 134 AEUV Rn 31. 311 Marshall S 85, unter Verweis auf das Genscher-Memorandum v 26.2.1988; vgl auch Europäische Kommission European Economy Nr 44, One market, one money, 1990, etwa S 19 f. 312 Zur Währungspolitik Gramlich § 15 (in diesem Band) Rn 95 ff; Zippel/Ledig S X. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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ihrer Wirtschaftsleistung).313 Ein teilweise immer noch bestehendes Tauschhindernis ist die Währungspluralität, also die Existenz unterschiedlicher Währungen im Binnenmarkt, der Mitgliedstaaten umfasst, deren Währung der Euro ist (Art 136 ff AEUV), und solche, für die eine Ausnahmeregelung gilt (Art 139 AEUV). Die Unterstützung der allgemeinen Wirtschaftspolitik in der Union durch die 103 gemeinsame Geld- und Wechselkurspolitik erfolgt unter der Prämisse, dass die Wirtschaftspolitik den Grundsatz einer offenen wettbewerbsverfassten Marktwirtschaft beachtet. Dies ist allerdings keine ausschließliche Bindung. Die Wirtschaftspolitik ist vielmehr primär an das vorrangige Ziel der Preisstabilität gebunden, so dass auch hoheitliche, also nicht marktmäßige Maßnahmen getroffen werden dürfen.314 Eine an der Preisstabilität orientierte Geld- und Wechselkurspolitik sichert der Union bei gleichzeitiger Unterstützung dieses Ziels durch die allgemeine Wirtschaftspolitik einen funktionierenden und prosperierenden Binnenmarkt.

c) Übergang zu einer „Governance des Binnenmarkts“: Binnenmarktakte I und II Vor dem Hintergrund der Finanz-, Staatsschulden- und Bankenkrise entwickelt die 104 von der Kommission im April 2011 vorgelegte Binnenmarktakte eine Querschnittsstrategie, um Hemmnisse und daraus erwachsende Defizite des Binnenmarkts zu beseitigen und so ungenutzte Wachstumspotenziale freizusetzen.315 Die Binnenmarktakte I beinhaltet zwölf Reformvorschläge.316 Der zu ihrer Verwirklichung vorgestellte Maßnahmenkatalog macht 50 Vorschläge und fügt sich in das Gesamt-

_____ 313 Vgl Gasparotti/Kullas 20 Jahre Euro: Verlierer und Gewinner. Eine empirische Untersuchung, cepStudie Februar 2019, S 4 f. Die Europäische Kommission – COM(2013) 790 final, S 17 f, 23 f – hat im Warnmechanismusbericht 2014 im Rahmen der Verordnung über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte („Europäisches Semester“) angekündigt, mit Blick auf die Leistungsbilanzüberschüsse in eine vertiefte Prüfung der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands und Luxemburgs einzutreten. Zu Deutschland heißt es: „Auf der außenwirtschaftlichen Seite liegt der Leistungsbilanz-Indikator deutlich über dem indikativen Schwellenwert, und macht der deutsche Leistungsbilanzüberschuss wegen der Größe der deutschen Wirtschaft den größten Teil des Überschusses des Eurogebiets aus. [...] Dies könnte den Euro gegenüber anderen Währungen unter Aufwertungsdruck setzen. In diesem Fall wäre es für die Länder der Peripherie schwerer, durch interne Abwertung an Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen.“ 314 Siekmann/Siekmann Art 119 AEUV Rn 106. 315 Vgl Europäische Kommission Bessere Governance für den Binnenmarkt, COM(2012) 259; vgl dazu auch die Entschließung des Europäischen Parlaments v 7.2.2013 mit Empfehlungen an die Kommission zur Governance des Binnenmarktes – A7-0019/2013, Erwägungen BB. Das Frühwarnsystem zur Feststellung makroökonomischer Ungleichgewichte („Europäisches Semester“) ist in der VO 1176/2011 des EP und des Rates über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte, ABl 2011 L 306/25, normiert. 316 Europäische Kommission Binnenmarktakte I – 12 Hebel zur Förderung von Wachstum und Vertrauen, KOM(2011) 206 endg, S 1 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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konzept der Strategie „Europa 2020“ für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum ein.317 Ziel dieser Strategie ist es, durch gezielte Maßnahmen die Krise zu überwinden und dauerhafte Strukturen zu schaffen, durch die die Mitgliedstaaten der Union langfristig wettbewerbsfähig und gestärkt aus der Krise hervorgehen. Dem Binnenmarkt wird dabei eine ausschlaggebende Bedeutung zugeschrieben, um diese Wachstumsziele zu verwirklichen.318 Um die Maßnahmen der Binnenmarktakte I zu forcieren, legte die Kommission im Oktober 2012 die Binnenmarktakte II vor.319 Durch „vier Motoren“, die die zwölf Binnenmarkthebel ergänzen, soll neues Wachstum im Binnenmarkt generiert werden. Diese vier Kernbereiche beinhalten 1. den Aufbau vollständig integrierter Netze, 2. die Förderung der grenzüberschreitenden Mobilität, 3. die Unterstützung der digitalen Wirtschaft und 4. die Stärkung des sozialen Unternehmertums, des sozialen Zusammenhalts und des Verbrauchervertrauens. Die auch als „Wachstumshebel“ (levers) bezeichneten Reformvorschläge der 105 Binnenmarktakten I und II setzen neben der Gewährleistung der Grundfreiheiten vor allem bei der Verbesserung der Rahmenbedingungen des Binnenmarkts und der Unterstützung bestimmter Wirtschaftsbereiche oder Akteure an. Die Umsetzung der Reformvorschläge soll durch entsprechende Leitaktionen – insb in Form von Rechtsvorschriften nach Art 114 AEUV – erfolgen. Da die Unionsbürger von ihrem Recht der Binnenmigration selbst in der Krise 106 wenig Gebrauch gemacht haben, legt die Binnenmarktakte einen Schwerpunkt auf die Gewährleistung der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Einen wichtigen Schritt, um die Mobilität der Bürger zu erhöhen (zweiter Hebel), hat die Kommission mit der Änderung der Berufsanerkennungsrichtlinie unternommen. Der im November 2013 verabschiedete Rechtsakt soll es vorrangig durch die Einführung eines Europäischen Berufsausweises vereinfachen, Dienstleistungen zu erbringen und sich in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen.320 Darüber hinaus soll eine verbesserte Umsetzung der Entsenderichtlinie321 (zehnter Hebel – sozialer Zusammenhalt) und eine Verordnung über die Ausübung des Rechts auf Durchführung kollektiver Maßnah-

_____ 317 KOM(2011) 206 endg, S 3 f. 318 Europäische Kommission Europa 2020 – Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum, KOM(2010) 2020 endg, S 1 ff, 24 f. Diese Mitteilung wurde in einem ersten Schritt konkretisiert durch die Mitteilung der Kommission „Auf dem Weg zu einer Binnenmarktakte. Für eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“, KOM(2010) 068 endg. 319 Europäische Kommission Binnenmarktakte II – Gemeinsam für neues Wachstum, COM(2012) 573 endg. 320 Europäische Kommission Vorschlag für Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der RL 2005/36 EG, KOM(2011) 883 endg, S 24; angenommen durch RL 2013/55/EU, ABl 2013, L 354/132. 321 Europäische Kommission Vorschlag für eine Richtlinie zur Durchsetzung der RL 96/71 EG, KOM(2012) 131 endg; angenommen durch RL 2014/67/EU, ABl 2014, L 159/11. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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men im Kontext der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit322 die sozialen Rechte der Arbeitnehmer erweitern und damit ihre Bereitschaft zur Mobilität stärken. Um das Wachstumspotenzial des Dienstleistungssektors zu steigern, schlägt 107 der fünfte Hebel vor, auch bei Dienstleistungen stärker auf Normung zu setzen.323 Normungen im Dienstleistungsbereich funktionieren ähnlich wie dispositives Recht oder Allgemeine Geschäftsbedingungen. Im Kern soll die Interoperabilität von Dienstleistungen erhöht und ihr grenzüberschreitender Handel gefördert werden.324 Umgesetzt wurde die Leitaktion bereits durch die VO 1025/2012.325 Eine Zunahme des Dienstleistungsverkehrs erwartet die Kommission auch vom Ausbau des digitalen Binnenmarkts (siebter Hebel) angesichts der damit verbundenen Beseitigung nationaler Schranken für Online-Transaktionen.326 Den Grund für die bislang fehlende Entwicklung dieses Sektors sieht sie vor allem im mangelnden Vertrauen der Verbraucher in die Sicherheit des elektronischen Handels. Um dies zu ändern, soll die Identifizierung im Netz sicherer gemacht und vereinheitlicht werden.327 Das Verbrauchervertrauen soll zudem durch alternative Streitbeilegungsverfahren gestärkt werden (vierter Hebel – Verbraucher).328 Zudem sollen eine Überarbeitung der Produktsicherheitsrichtlinie und eine verbesserte Marktüberwachung den Weg zum „Binnenmarkt für Verbraucher“ ebnen. Wie stark das durch die Binnenmarktakten I und II generierte Wachstum letzt- 108 lich sein wird, hängt maßgeblich von der Qualität der Richtlinien- und Verordnungsvorschläge und der Entschiedenheit ihrer Umsetzung ab. Während Maßnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen auf breite Zustimmung stoßen dürften, wirft die Unterstützung einzelner Wirtschaftszweige wie der digitalen Wirtschaft die „altbekannte“ ordnungspolitische Diskussion über das Für und Wider interventionistischer Wirtschaftspolitik auf.329 Die im Zusammenhang mit den Reformvorschlägen zu erwartende Vielzahl von Mitteilungen, Legislativvorschlägen sowie Grün- und Weißbüchern stellt in einer Übergangszeit auch eine Gefahr für die Rechtssicherheit dar.

_____ 322 Europäische Kommission Vorschlag für eine Verordnung über die Ausübung des Rechts auf Durchführung kollektiver Maßnahmen im Kontext der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit, KOM(2012) 130 endg.; zurückgezogen, vgl ABl 2013 C 109/7. 323 Busch NJW 2010, 3061. 324 Binnenmarktakte I, KOM(2011) 206 endg, S 12. 325 ABl 2012 L 316/12. 326 Vgl auch Europäische Kommission Eine digitale Agenda für Europa, KOM(2010) 245 endg, S 2. 327 VO 910/2014 über elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 1999/93/EG, ABl 2014 L 257/73. 328 RL 2013/11 über die alternative Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten, ABl 2013 L 165/63, VO Nr 524/ 2013 über die Online-Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten, ABl 2013 L 165/1. 329 Vgl dazu Streit/Streit S 312 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Mitunter erwecken die immer neuen Ideen zur Optimierung des Binnenmarkts den Eindruck, dass jedwedes Binnenmarkthindernis mit dem richtigen Maßnahmenmix und einer strikten Umsetzung beseitigt werden könnte. Außer Acht gelassen wird dabei, dass der Grund für die mangelnde Wahrnehmung der Grundfreiheiten mitunter schlichtweg in bestimmten persönlichen Präferenzen der Unionsbürger liegt.

d) Mögliche Folgen des Exit-Votums des Vereinigten Königreichs für den Binnenmarkt 110 Knapp 52% der wahlberechtigten Briten haben im Juni 2016 in einem Referendum für den Austritt aus der Europäischen Union (sog „Brexit“) gestimmt. Das Land wollte gemäß Art 50 Abs 3 zweite Alternative am 29. März 2019 die Union verlassen.330 Das britische Parlament hat vor diesem Hintergrund im Januar 2018 die „European Union (Withdrawal) Act 2018“331 verabschiedet. Der „Withdrawal Act“ regelt wegen des absehbaren (jedenfalls teilweisen) Endes der Geltung des aquis communautaire im Jurisdiktionsbereich des Vereinigten Königreichs die Überführung der rund 12.000 Richtlinien und Verordnungen der EU in das britische Recht. Das am 25. November 2018 zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich 111 unterzeichnete Withdrawal Agreement332 sieht in seinem völkerrechtlichen Teil vor, dass sich nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs Ende März 2019 eine 21-monatige Übergangszeit anschließen sollte, in der das Königreich den Zugang zum Binnenmarkt behalten und Teil der Zollunion bleiben soll. Das Vereinigte Königreich soll weiterhin das EU-Regelwerk anerkennen, ohne selbst noch ein Stimmrecht in der Union ausüben zu können, und sich verpflichteten, weiter Mitgliedsbeiträge zu zahlen. Die Einhaltung der Regeln des Wettbewerbsrechts sowie von Umwelt- und Sozialstandards sind als entscheidende Bedingung konzipiert, um

_____ 330 Zum Austritt und den einzelnen Verfahrensschritten hat der Europäische Rat einen Leitfaden veröffentlicht, European Council guidelines following the United Kingdom’s notification under Article 50 TEU, 29.4.2017, abrufbar unter http://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/ 2017/12/15/european-council-art-50-guidelines-for-brexit-negotiations/. 331 Das Gesetz ist zugänglich unter https://services.parliament.uk/bills/2017-19/europeanunion withdrawal.html. 332 Draft Agreement on the withdrawal of the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland from the European Union and the European Atomic Energy Community, as agreed at negotiators' level on 14 November 2018. Abrufbar unter: https://ec.europa.eu/commission/sites/betapolitical/files/draft_withdrawal_agreement_0.pdf. Eingehend zu den einzelnen Regelungen HM Government, Explainer for the agreement on the withdrawal of the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland from the European Union, 14.11.2018, abrufbar unter: https://assets.pub lishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/756376/14_Nove mber_Explainer_for_the_agreement_on_the_withdrawal_of_the_United_Kingdom_of_Great_Britain _and_Northern_Ireland_from_the_European_Union___1_.pdf. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

II. Der Binnenmarkt | 943

Großbritannien weiterhin den Zugang zum Binnenmarkt zu gewähren (Art 40–108 Austritts-Abkommen). Zudem sollen die ca. 3 Mio. im UK lebenden Unionsbürger das Recht erhalten, dort weiterhin ihren Aufenthalt zu nehmen, zu arbeiten oder zu studieren; sofern sie in der Übergangszeit in einem Mitgliedstaat ihren Aufenthalt nehmen, sollen sie sich dort auch nach der Übergangszeit gemäß den unionsrechtlichen Standards aufhalten können. Auch Ansprüche auf Krankenversicherung, Rente und sonstige Sozialleistungen sollen weiterhin garantiert werden.333 Mit Blick auf den für das Vereinigte Königreich besonders wichtigen Sektor "Finanzdienstleistungen" schweigt das Abkommen, fordert aber einen „fairen Wettbewerb“ auf beiden Seiten. Soweit Unionsbestimmungen zur Anwendung gelangen, soll das Rechtsprechungsmonopol des EuGH bei der Anwendung des Austritts-Abkommens erhalten bleiben. Das Abkommen soll mit einer politischen (rechtlich nicht verbindlichen) Erklärung verbunden werden, in der sich das Vereinigte Königreich ua verpflichten soll, die Unteilbarkeit der vier Marktfreiheiten anzuerkennen und die Zuständigkeiten des EuGH in allen handelsrechtlichen Streitigkeiten, die sich zwischen den Parteien des Abkommens ergeben, anerkennen. Als der umstrittenste Punkt des 185 Artikel umfassenden Austritts-Abkommens 112 gilt die Regelung der Frage, wie Grenzkontrollen zwischen Nordirland und Irland vermieden werden können. Grund dafür ist das Karfreitagsabkommen, das den blutigen Nordirland-Konflikt zwischen irisch-katholischen Nationalisten und protestantischen Loyalisten beendete. Es basiert auf einer Grenze ohne Kontrollen. In Nordirland soll es neben einer Wahrung dieser Rechtslage weitere spezielle Regelungen geben, um Grenzkontrollen zwischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland nicht wieder einführen zu müssen. Dies soll durch drei Optionen garantiert werden, über die während der Übergangsphase bis Juli 2020 entschieden werden soll: Entweder sollen die Vertragsparteien die Frage über eine (endgültige) Vereinbarung zu den künftigen Beziehungen lösen. Sofern die Zeit dazu nicht ausreicht, soll alternativ die Übergangsphase verlängert werden werden oder eine Auffanglösung greifen, nach der das gesamte Vereinigte Königreich bis auf Weiteres in einer Zollunion mit der EU verbleibt. Für Nordirland sollen die Bestimmungen des EU-Binnenmarkts weiterhin gelten ("backstop agreement“).334 Für den Fall, dass kein Abkommen über die zukünftigen Beziehungen geschlossen wird, soll gemäß dem Protokoll über Irland / Nordirland ein „einheitliches Zollgebiet“ geschaffen werden, das die EU und das Vereinigte Königreich umfasst, um eine „harte Grenze“ zu vermeiden335 Das European Union Committee des House of Lords hat das Bedenken zum Ausdruck gebracht, dass eine Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs im „einheitlichen Zollgebiet“ seine Freiheit, eine

_____ 333 Art 9–39 Austritts-Abkommen. 334 Sechste Erwägung der Präambel sowie Art 1 Abs 3 Protocol on Ireland / Northern Ireland. 335 Art 6 Abs 1 Protocol on Ireland / Northern Ireland. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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unabhängige Handelspolitik zu verfolgen, erheblich einschränken werde.336 Das Land wäre in der Tat verpflichtet, die gemeinsame Handelspolitik der EU einschließlich der Zölle des Außenhandels mit Drittländern weiterhin zu wahren und die EURegelungen über das Zollverbot einzuhalten. Am 29. März 2019 hat das britische Unterhaus den „Brexit-Deal“ in einer dritten Abstimmung nochmals mit eindeutiger Mehrheit abgelehnt. Um einen ungeordneten Austritt zu verhindern, hat dann aber der Europäische Rat am 10. April 2019 die Frist zur Ratifizierung des Austrittsabkommens bis zum 31. Oktober 2019 verlängert. Sollten beide Parteien das Abkommen vor diesem Termin ratifizieren, erfolgt der Austritt am ersten Tag des folgenden Monats.337 Andernfalls droht der „harte Brexit“. Mit dem Austritt aus der Union verlässt das UK nach dem gegenwärtigen Stand 113 der Verhandlungen auch den Binnenmarkt, in dem dann nur noch knapp 450 Millionen Menschen leben werden. Die primär- und sekundärrechtlichen Regelungen über den Binnenmarkt gelten nach einem Austritt im UK nicht mehr. Dafür hat das Vereinigte Königreich freie Hand etwa bei der Gewährung von Subventionen und Steuervorteilen. Die wirtschaftlichen Beziehungen des UK zum Binnenmarkt müssten folglich neu geordnet werden.338 Einee Einigung würde Rechtssicherheit für alle Beteiligten bedeuten. Vor allem unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten ist es geboten, einen „No-Deal-Brexit“ zu vermeiden. Denn ein ungeordneter Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union erscheint als ein Rückschritt hin zu bloßen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wirtschaftlicher Kooperation (WTO), die dann künftig in einer sog Drittstaaten-Beziehung zwischen der Union und dem Austrittsland gelten würden. Die hieraus resultierenden Kosten würden die Unternehmen auf beiden Seiten des Ärmelkanals enorm belasten. Bei gleichbleibendem Handelsvolumen nach dem Austritt des UK würden auf europäische Exporte Zollbelastungen von durchschnittlich 3,6% und umgerechnet mehr als zehn Milliarden Euro jährlich anfallen. Britische Exporte in die verbliebene EU-27 würden wohl mit durchschnittlich 2,8% belastet; die jährlichen Zahlungen würden sich dann auf rund fünf Milliarden Euro belaufen. Besonders stark wären die deutschen Exporteure durch diese Abgaben betroffen, da ein Drittel der Zollüberweisungen nach London sich auf deutsche Produkte bezögen.339 Die Unsicherheit über die Zukunft der politischen sowie wirtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Union hält an (August 2019).

_____ 336 House of Lords, European Union Committee, 24th report of Session 2017–19, Brexit: The Withdrawal Agreement and Political Declaration, HL Paper 245, 2018, Rn 156. Abrufbar unter: https://publications.parliament.uk/pa/ld201719/ldselect/ldeucom/245/245.pdf. 337 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen v 10.4.2019, EUCO XT 20015/19, Ziff 2. 338 Vgl Blanke/Mangiameli/Blanke, Art 26 TFEU Rn 72 ff. 339 Zu den wirtschaftlichen Konsequenzen eines „Hard Brexit“ vgl Diermeier/Jung Institut der deutschen Wirtschaft Köln, 16.10.2018, abrufbar unter: https://www.iwkoeln.de/presse/in-denmedien/beitrag/matthias-diermeier-markos-jung-harter-brexit-harte-grenze.html. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

III. Rechtsangleichung | 945

III. Rechtsangleichung III. Rechtsangleichung 1. Strategien der Rechtsangleichung und ihre Alternativen a) Begriff und Ziel der Rechtsangleichung Die Mitgliedstaaten der EU benannten bereits im EWG-Vertrag im Jahre 1957 die 114 Aufgabe, einen Gemeinsamen Markt zu errichten und zu einer schrittweisen Annäherung ihrer Wirtschaftspolitik sowie zu einer harmonischen Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft zu gelangen.340 Der Gemeinsame Markt ist gekennzeichnet durch die Abschaffung von Zöllen und die Errichtung einer Zollunion (Rn 36 ff), aber auch durch die Gewährleistung der Grundfreiheiten und die Errichtung eines Systems des unverfälschten Wettbewerbs (Rn 1 ff).341 Die Vertragsstaaten legten damit die Grundlagen für eine immer engere Union der Völker Europas (Art 1 II EUV), die sich seit dem Unionsvertrag von Maastricht (1992) in Grundfragen ihres politischen Schicksals innerhalb des Staatenverbunds und gegenüber der Staatengemeinschaft gemeinsam zu positionieren versuchen. Die Entwicklung von einer partiellen wirtschaftlichen Zusammenarbeit in den 60er und 70er Jahren hin zu einer umfassenden wirtschaftlichen Integration in den 80er und 90er Jahren – angestoßen durch die Einheitliche Europäische Akte (1987) – war maßgeblich das Ergebnis des Einsatzes des Instruments der Rechtsangleichung. Sie gehört mittlerweile zu den zentralen Tätigkeitsfeldern der Union.342 Um die Krisenphase und damit auch die zahlreichen Vollzugsdefizite bei der 115 Verwirklichung der Integrationsziele zu überwinden, in die das europäische Einigungswerk ab 1973 geraten war („Eurosklerose“), legte die Kommission am 14. Juni 1985 ein „Weißbuch über die Vollendung des Binnenmarkts“ vor, das die Grundlage für eine Reform der Gemeinschaft bilden sollte (Rn 29). In diesem Dokument benannte sie die erforderlichen Harmonisierungsmaßnahmen, die zur Verwirklichung des Binnenmarkts als notwendig ansah, und formulierte zugleich eine „neue Strategie“.343 Angesichts des umfassenden Aktionsprogramms der Kommission, das die Beseitigung von knapp 300 Schranken und Hemmnissen für den Waren- und Personenverkehr beinhaltete, und der bisherigen Erfahrungen bei der Rechtsangleichung nach Art 100 EWGV entschied sich die damalige Gemeinschaft für eine grundlegende Reform, die einen flexibleren Einsatz der Rechtsangleichung ermöglichen sollte. Die von der Kommission skizzierte Novellierung sah ein Abweichen von der bisherigen Exklusivität der umfassenden Harmonisierung vor, indem die ge-

_____ 340 Art 2 EWGV sowie fünfte Erwägung der Präambel. 341 vdGroeben NJW 1970, 359 (359). 342 So die Feststellung des BVerfG im Maastricht-Urteil (1993): BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (190). 343 Weißbuch über die Vollendung des Binnenmarkts, KOM(85) 310, Ziff 61 ff, 65 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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genseitige Anerkennung als Prinzip europäischer Integration gestärkt werden sollte.344 Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruht auf der Annahme der Gleichwertigkeit von Produkt- und Sicherheitsstandards in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten.345 Die Kommission folgte damit dem vom EuGH in den Rechtssachen Dassonville346 116 und Cassis de Dijon347 angelegten Prinzip der gegenseitigen Anerkennung nationaler Produktstandards (Rn 52, 71), die in der Einheitlichen Europäischen Akte als eine gegenüber der Rechtsangleichung alternative Strategie anerkannt wurde (Art 100b EWGV).348 Nach Ansicht des Gerichtshofs darf gemäß diesem unter dem Terminus „Ursprungslandprinzip“349 bzw „Herkunftslandprinzip“350 bekannten Grundsatz jedes in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellte Erzeugnis auch in einem anderen Mitgliedstaat vermarktet werden. Die einzige Ausnahme, die sich auf das Allgemeininteresse wie Schutz der Gesundheit, der Verbraucher oder der Umwelt stützt, ist an strenge Bedingungen geknüpft.351 Die Kommission begründete dieses Prinzip damit, dass zur Schaffung eines Gemeinsamen Marktes „nicht überall die gleichen Regeln gelten müssen“.352 In der Praxis ist dieses Konzept der Gleichwertigkeitsanerkennung jedoch kraftlos geblieben, so dass Art 100b EWGV im Amsterdamer Vertrag als „toter Buchstabe“353 wieder aufgehobenen wurde.

_____ 344 Weißbuch über die Vollendung des Binnenmarkts, KOM(85) 310, Ziff 77 ff (77, 79): „Im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs [dürfen] Waren, die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind, ungehindert nach anderen Mitgliedstaaten eingeführt werden […] In den Fällen, in denen eine Harmonisierung der Vorschriften und Normen nicht aus gesundheits-, sicherheits- oder industriepolitischen Gründen als wesentlich angesehen wird, muss die sofortige uneingeschränkte Anerkennung unterschiedlicher Qualitätsnormen und unterschiedlicher Vorschriften […] die Regel sein. Insbesondere können Verkaufsverbote nicht auf das alleinige Argument gestützt werden, dass ein importiertes Produkt nach anderen als im Einfuhrland üblichen Spezifikationen hergestellt wurde […] In den – in der Zukunft also engeren – Bereichen, wo Rechtsangleichung noch erforderlich sein wird, werden sich die Unternehmen nur noch nach einem einzigen Bündel harmonisierter Regeln anstatt nach 10 oder 12 unterschiedlichen Ordnungen zu richten haben, um ihre Waren in allen Teilen der Gemeinschaft frei zu verkaufen. Ebenso werden die Verwirklichung der neuen Haltung gegenüber der Normung und die Gewichtsverlagerung zugunsten des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung in einer wachsenden Zahl anderer Bereiche den Willensbildungsprozess beschleunigen und eine neue Schicht gemeinschaftlicher Regeln, die sich über die nationalen stülpt, überflüssig machen.“ 345 Weißbuch über die Vollendung des Binnenmarkts, KOM(85) 310, Ziff 65. 346 EuGH, Rs 8/74 – Dassonville, Rn 5 f. 347 EuGH, Rs 120/78 – Cassis de Dijon, Rn 8. 348 Franzen S 123 ff. 349 Giersch Kieler Diskussionsbeiträge Nr 147 (1988), S 12. 350 Roth RabelsZ 55 (1991), 623 (665). S dazu auch Brömmelmeyer S 145 ff. 351 EuGH, Rs 120/78 – Cassis de Dijon, Rn 8. 352 Weißbuch über die Vollendung des Binnenmarkts, KOM(85) 310, Ziff 58. 353 Ehlermann integration 1995, 11 (13). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Mit der Einführung des Euro als einheitliches Zahlungsmittel innerhalb der Eu- 117 rozone (1999) und dem damit verbundenen Anstieg der grenzüberschreitenden Transaktionen zwischen Unternehmern und Verbrauchern rückte die Rechtsangleichung in weiten Teilen des Privatrechts zur Förderung der wirtschaftlichen Integration immer stärker in den Mittelpunkt des Interesses.354 Denn allein durch die sog negative Integration – im Sinne einer primärrechtlichen Gewährleistung der Grundfreiheiten – kann die Union den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital im Binnenmarkt nicht gewährleisten. Um Hemmnisse für den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr abzubauen, bedarf es vielmehr einer aktiven Politik der Rechtsangleichung (positive Integration). Jahrzehnte nach dem Abschluss der Römischen Verträge wurde sogar die Vereinheitlichung des europäischen Privatrechts zu einem Ziel der Binnenmarktpolitik der Europäischen Kommission, dessen Verwirklichung aber erheblich ins Stocken geraten ist (Rn 120, 128 ff). Der Begriff der Rechtsangleichung erscheint in zahlreichen Bestimmungen der 118 EU-Verträge (etwa in Art 46 I, 50 I, 81 II, 113 AEUV). Er meint die sachbezogene Annäherung nationaler Rechtsvorschriften an einen unionsrechtlich vorgegebenen Standard.355 Dieser Terminus findet sich indes nicht immer in den Verträgen, wenn es darum geht, nationale Rechtsunterschiede und die daraus resultierenden Wettbewerbsverzerrungen mittels einer Angleichung der nationalen Vorschriften zu beseitigen. Häufig ist stattdessen von „Harmonisierung“356 oder „Koordinierung“357 die Rede.358 Der Vertrag enthält eine Reihe von Ermächtigungsnormen zur Angleichung der Rechtsvorschriften, die sich auf den Binnenmarkt (Art 114 ff AEUV) oder auf konkrete Sachbereiche, namentlich zur Gewährleistung der vier Grundfreiheiten359 oder zur Verwirklichung besonderer Politikbereiche (ua Landwirtschaft, Verkehr, Energie), beziehen (Rn 137 ff). Mit der Rechtsangleichung konkurriert – als alternativer Ansatz zur Öffnung der Märkte – das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung nationaler Standards, das als „Neue Strategie“ erstmals in der EEA formuliert wurde (Rn 115).360 Mit der Einfügung eines Kapitels über die Angleichung der Rechtsvorschriften 119 zur Herstellung und Funktionssicherung des Gemeinsamen Marktes in die Römischen Verträge (Titel I, Kapitel 3 des EWGV) reagierten die Vertragsschöpfer auf den Umstand, dass die drei Gemeinschaften zur Errichtung eines einheitlichen Wirt-

_____ 354 Riesenhuber/Takayama/Riesenhuber/Takayama S 1. 355 Lenz/Borchardt/Fischer Vorbem Art 114–118 AEUV Rn 1. Zum Begriff der Rechtsangleichung siehe außerdem vdGroeben/Schwarze/Hatje/Classen, Art 114 AEUV Rn 10 ff. 356 Vgl etwa Art 113 AEUV. 357 Vgl etwa Art 52 II, 53 I, II AEUV. 358 Bock S 53 f.; Smit/Herzog/Reich Art 114 p 114-5. Für eine eingehend linguistische Annährung an den Begriff vgl Lohse S 26 ff; Lochner ZgS 1962, 35 ff. 359 Vgl Art 46 I, 50 I, 52 II, 53 I, 62, 64 II AEUV. 360 Vgl Lohse S 152 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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schaftsraums zwar auf institutioneller Ebene eng miteinander verbunden, die Mitgliedstaaten aber rechtlich in hohem Maße fragmentiert sind und daher über keinen verlässlichen gemeinsamen Rechtsrahmen verfügen.361 Die Errichtung eines Binnenmarkts, in dem die Grundfreiheiten der Marktteilnehmer nicht durch nationale Barrieren beeinträchtigt werden, verlangt indes gleiche Wettbewerbsvoraussetzungen.362 Die unterschiedlichen nationalen Rechtsvorschriften, die ihrerseits das Ergebnis der verschiedenen historischen Entwicklungen und geistigen Strömungen der Mitgliedstaaten sind, zeigen sich auf den verschiedenen Feldern des Binnenmarkts als sehr beharrlich. Die Rechtsangleichung stellt vor diesem Hintergrund das wichtigste Instrument zu seiner Herstellung und Funktionssicherung des Binnenmarkts dar, denn sie erlaubt es, zumindest annähernd gleiche Bedingungen zu schaffen.363 Neben den Grundfreiheiten ist sie der Garant seines „ungestörten Funktionierens“.364 Im Rahmen der Verwirklichung des europäischen Binnenmarkts setzen die Mit120 gliedstaaten auf die Wahrnehmung der Grundfreiheiten durch die Marktteilnehmer und damit auf eine grenzüberschreitend entfaltete Privatautonomie.365 Bei der Integration der Märkte fällt dem Privatrecht eine zentrale Bedeutung zu. Indem sich die binnenmarktrelevanten Vorschriften der Mitgliedstaaten einem einheitlichen Standard annähern, wird das Privatrecht selbst zum Gegenstand der Integration. Es fungiert als Integrationsmittel, da es unter anderem Vorschriften über die privatautonome Sanktionierung von Verstößen gegen europäische Wettbewerbsregeln (§ 823 II BGB iVm Art 101 AEUV) und zur Ergänzung sowie zur Ankoppelung bewusst unvollständig gebliebenen Unionsrechts bereithält. Zudem erzeugt es neue Vorschriften zwecks Umsetzung der Vorgaben von Richtlinien zur Privatrechtsangleichung.366 Vor allem wegen des Einflusses der Rechtsangleichung bei der Verwirklichung der Ziele des Binnenmarkts hat sich das Privatrecht als „Unionsprivatrecht“ im Sinne einer eigenen Rechtsmasse etabliert. Hierzu gehören sämtliche in den Mitgliedstaaten geltenden verbindlichen Regeln des Privatrechts, die auf Vorschriften des primären und sekundären Unionsrechts zurückzuführen sind.367 Das Instrument der Rechtsangleichung wird dabei zum „verlängerten Arm des Vertrages“, mit dem die Union ihre Ziele in weiten Bereichen des Wirtschaftsrechts konkretisiert und verwirklicht.368

_____ 361 362 363 364 365 366 367 368

Strauß S 8 f; Götz/Kroeschell/Winkler/Müller-Graff S 650. EuGH, Rs C-350/92 – Spanien / Rat, Rn 32 f; Schwartz FS Walter Hallstein, 1966, S 474 (488). Strauß S 13. vdGroeben NJW 1970, 359 (360). Müller-Graff/Zuleeg/Müller-Graff S 27. Müller-Graff NJW 1993, 13 (13). Müller-Graff NJW 1993, 13 (13); Bron S 94. Schwartz FS Hallstein, 1966, S 474 (477). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

III. Rechtsangleichung | 949

Die wichtigste, weil funktional auf die Realisierung und Funktionssicherung 121 des Binnenmarkts ausgerichtete Vorschrift ist Art 114 AEUV. Das Europäische Parlament und der Rat erlassen hiernach Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, ohne dabei auf bestimmte Rechtsbereiche begrenzt zu sein. Zusammen mit Art 115 AEUV handelt es sich um eine Generalklausel, die den punktuellen, nach Politikbereichen geordneten Ermächtigungsnormen diametral entgegensteht. Als einzige Bedingung für die Anwendbarkeit der Vorschrift gilt das funktionale Kriterium, wonach die Maßnahme der Union „die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben“ muss. Der Integrationsverband erhält damit eine auf die Verwirklichung des Binnenmarkts bezogene „Querschnittskompetenz“, die ihn zum Erlass aller in Art 288 AEUV genannten Arten von Sekundärrechtsakten ermächtigt. Auf diese Weise können die gesetzgebenden Organe der Union ihren Handlungsspielraum zulasten der Kompetenzen der Mitgliedstaaten im Bereich des Binnenmarkts erweitern (Rn 146).369 Der Einsatz der Rechtsangleichung ist an die Ziele des Vertrags geknüpft. Dies 122 unterstreicht den Befund, dass die Rechtsangleichung nicht als Selbstzweck,370 sondern funktional als Mittel zum Zweck der Integration371 zu verstehen ist. Sie ist darauf gerichtet, die sich aus der Unterschiedlichkeit nationaler Vorschriften „ergebenden Hindernisse aller Art zu mildern“,372 um „störende Einflüsse auf die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts auszuschalten“.373 Die Grenzen des Unionsgesetzgebers bei der Ausübung dieser Querschnitts- 123 kompetenz hat der EuGH in der Entscheidung über das Tabakwerbeverbot im Jahr 2000 gezogen. Hier führte er aus, dass Art 114 AEUV keine allgemeine Kompetenz des Unionsgesetzgebers für die Regelung des Binnenmarkts bereitstellt. Ein solche Interpretation der Norm „widerspräche nicht nur dem Wortlaut der genannten Bestimmungen, sondern wäre auch unvereinbar mit dem in Art 3b EGV [= Art 5 EUV] niedergelegten Grundsatz, dass die Befugnisse der Gemeinschaft auf Einzelermächtigungen beruhen“.374 Diese erste Richtlinie zum Tabakwerbeverbot sah in Art 3 I vor, jede Form der Werbung und des Sponsoring in der Gemeinschaft zu ver-

_____ 369 Jürgens S 149. Zur rechtlichen Problematik von Querschnittsklauseln vgl Stein FS Everling Bd II, 1995, S 1439 (1444 ff). 370 Schwartz FS Hallstein, 1966, S 474 (486); vdGroeben NJW 1970, 359. AA Wohlfarth JuristenJahrbuch 3 (1962), 241 (251), der im Instrument der Rechtsangleichung einen Selbstzweck sieht und meint, dass es ausschließlich den Gemeinschaftsorganen obliegt, über den Umfang der Inanspruchnahme zu befinden. 371 Zur Bedeutung und Funktion der Rechtsangleichung für die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes und des Binnenmarkts vgl Everling FS Steindorff, 1990, S 1155 (1156 ff), der allein zur Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes auf 900 Richtlinien zur Rechtsangleichung verweist. 372 EuGH, Rs 193/80 – Kommission / Italien, Rn 17. 373 Lenz/Borchardt/Fischer Vorbem Art 114–118 AEUV Rn 2. 374 EuGH, Rs C-376/98 – Tabakwerbung, Rn 83. Dazu näher König/Uwer/Calliess S 22 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

950 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

bieten.375 Um das Verbot durchzusetzen, hatte die Europäische Kommission sich auf die notwendige Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen und Handelsbeschränkungen berufen und die Richtlinie auf Art 100a EWGV (= Art 114 AEUV) gestützt. Der Rechtsakt bezweckte primär die Förderung eines hohen Gesundheitsschut124 zes innerhalb der EU. In diesem Politikbereich ist die Union jedoch angesichts der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten (Art 6 lit a AEUV) auf eine ergänzende Rolle beschränkt (Art 161 II AEUV).376 Damit ist es jedoch vereinbar, dass auf der Grundlage anderer Vertragsbestimmungen erlassene Harmonisierungsmaßnahmen Auswirkungen auf den Schutz der menschlichen Gesundheit haben.377 Allerdings darf nach der Leitentscheidung des EuGH Art 114 AEUV nicht als Rechtsgrundlage herangezogen werden, um gezielt die Kompetenzregelungen des Vertrages zu umgehen. Stattdessen müssen die einzelnen Tatbestandsmerkmale mit Blick auf den Sachverhalt konkretisiert und die Unionsmaßnahme daraufhin überprüft werden, ob sie tatsächlich zu einer Verbesserung der Funktionsbedingungen des Binnenmarkts führt. Die bloße Feststellung von Unterschieden zwischen den nationalen Vorschriften und die abstrakte Gefahr von Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten oder daraus möglicherweise entstehenden Wettbewerbsverzerrungen reichen nicht aus, um auf das Instrument der Rechtsangleichung zurückzugreifen.378 Legt man diese Maßstäbe an die erste Richtlinie über das Tabakwerbeverbot an, so ist festzustellen, dass das beabsichtigte Verbot den gesamten Handel mit Tabakwerbeprodukten und Werbe-Dienstleistungen unterbunden und damit die Existenz des Marktes auf diesem Sektor bedroht hätte. Eine Förderung des Binnenmarktziels ist darin nicht zu sehen. Von seiner Vorgabe, dass Art 114 AEUV nicht als eine Allzweckkompetenz des 125 Unionsgesetzgebers für die Regelung des Binnenmarkts ausgelegt werden darf, wich der Gerichtshof in seinem zweiten Tabakwerbeurteil ab.379 In der Entscheidung stand die auf Grundlage von Art 95 I EGV (= Art 114 I AEUV) erlassene RL 2003/33 über Werbung und Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen380 auf dem Prüfstand. Diese zweite Richtlinie sah in Art 3 und 4 ein vollständiges Verbot für Tabakwerbung in Print- und Rundfunkmedien vor. Die Argumentation seiner ersten Entscheidung, in der der Gerichtshof von einer systematischen und teleologischen Auslegung des Art 95 I EGV (= Art 114 I AEUV) unter Rückgriff auf Art 5 EGV (= Art 5 EUV) ausging, bleibt in der zweiten Entscheidung unberücksichtigt. Zwar

_____ 375 RL 98/43 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung und Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen, ABl 1998 L 213/9. 376 EuGH, Rs C-376/98 – Tabakwerbung, Rn 76 f. 377 EuGH, Rs C-376/98 – Tabakwerbung, Rn 78. 378 EuGH, Rs C-376/98 – Tabakwerbung, Rn 84 ff. 379 EuGH, Rs C-380/03 – Tabakwerbung II. 380 ABl 2003 L 152/16. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

III. Rechtsangleichung | 951

verneinen die Luxemburger Richter eine auf den Gesundheitsschutz nach Art 152 IV lit c EGV (= Art 168 AEUV) gestützte Harmonisierungskompetenz der Union, doch stellen sie fest, dass Art 152 IV lit c EGV keine Kompetenzsperre hinsichtlich des Erlasses von Harmonisierungsmaßnahmen auf Grundlage anderer Regelungen des Vertrags begründe.381 Damit kann der Unionsgesetzgeber im Anwendungsbereich von Art 114 I AEUV Maßnahmen selbst dann erlassen, wenn dem Gesundheitsschutz bei den zu treffenden Entscheidungen maßgebliche Bedeutung zukommt.382 Eine solche Harmonisierungsmaßnahme muss indes der Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts dienen. Um dieses Ziel zu erreichen, darf Art 114 I AEUV auch als Rechtsgrundlage herangezogen werden, um neuen Hindernissen für den Handel infolge einer heterogenen Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften vorzubeugen. Das Entstehen solcher Hindernisse muss jedoch wahrscheinlich sein und die Maßnahmen die Vermeidung der wahrscheinlichen Beeinträchtigung bezwecken.383 Das zweite Tabakwerbeurteil öffnet unter dem Einfluss solcher Querschnittsklauseln (Gesundheitsschutz oder Umweltschutz) ein Einfallstor zugunsten eines interventionsfreudigen Gesetzgebers, der so wettbewerbsfremde Gestaltungsinteressen durchsetzen kann.384 Der Prognosespielraum, den der Gerichtshof den gesetzgebenden Institutionen Kommission, Rat und Parlament zubilligt, ist gerichtlich kaum kontrollierbar.385 Der Begriff der Rechtsangleichung ist nicht gleichbedeutend mit dem Begriff der 126 Rechtsvereinheitlichung. Maßnahmen, die zum Zweck der Angleichung, Koordinierung oder Harmonisierung verabschiedet werden, zielen nicht darauf ab, nationale Rechtsbereiche durch europäische Regelungen zu unitarisieren.386 Vielmehr verbleibt den Mitgliedstaaten im Rahmen der Rechtsharmonisierung zumeist ein erheblicher Ermessensspielraum bei der Ausgestaltung des Rahmens. Dies folgt allein schon daraus, dass in vielen Politikbereichen die Richtlinie als Instrument zur Rechtsangleichung zwingend vorgegeben ist (Rn 147).387 Die Richtlinie gilt als ein Sekundärrechtsakt, der kein neues, einheitliches Unionsrecht schafft und die Vielfalt nationaler Rechtsformen und -traditionen weitgehend respektiert. Bei diesem souveränitätsschonenden Ansatz behalten die Mitgliedstaaten vielfältige Hand-

_____ 381 EuGH, Rs C-380/03 – Tabakwerbung II, Rn 95. 382 EuGH, Rs C-380/03 – Tabakwerbung II, Rn 39. 383 EuGH, Rs C-380/03 – Tabakwerbung II, Rn 38. Siehe dazu auch EuGH, Rs C-301/06 – Irland / Parlament, Rn 63 f, sowie Rs C-58/08 – Vodafone, Rn 33. 384 Vgl dazu vBogdandy/Bast/Hatje S 827, 839; Grosche S 301; Ludwigs S 197. 385 Ähnlich auch Murswiek Vertrag von Lissabon S 50, der Art 114 AEUV als eine „inhaltlich kaum noch eingrenzbare Generalklausel“ identifiziert. 386 Strauß S 18; Eiden S 15; Ludwigs S 92 f. Zum Terminus der Unitarisierung vgl Müller-Graff Festschrift Reinhard Mußgnug, 2005, S 311 (313 ff). 387 Etwa im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art 46 II AEUV), sowie der Niederlassungsund Dienstleistungsfreiheit (Art 52 II, 62 AEUV). Siehe auch Smit/Herzog/Reich Art 114 p 114–9. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

952 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

lungsspielräume.388 Dazu gehören die technische Form, etwa als förmliches Gesetz oder als nationale Verordnung, wie auch die sprachliche Form der Umsetzung.389 Die Rechtsangleichung ist damit grundsätzlich auf einer mittleren Intensitätsstufe angesiedelt.390 In der Rechtsetzungspraxis schränkt die Kommission den Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten des Öfteren ein, indem sie in der Richtlinie präzise Vorgaben über den herzustellenden Rechtszustand normiert.391 Der Entscheidungs- und Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten wird dadurch erheblich verkürzt. Indes liegt darin kein auf Unitarisierung ausgerichteter Politikwechsel der Kommission, sondern der Versuch, die Harmonisierungsziele effizient zu erreichen. Gerade im Bereich der technischen Standards und Umweltgrenzwerte könnte die politische Effizienz der Rechtsangleichung durch nationale Umsetzungsspielräume nicht erreicht werden.392 Die Rechtsvereinheitlichung verfolgt zwar ebenfalls das Ziel, die nationalen 127 Rechtsvorschriften an einen europäischen Standard anzupassen, greift hierfür aber auf Maßnahmen zurück, die sich durch eine höhere Intensitätsdichte auszeichnen und letztlich auf die Schaffung einer einheitlichen Rechtsordnung hinauslaufen.393 Die Vereinheitlichung des Rechts tritt dabei nicht kurzfristig ein, sondern ist das Ergebnis eines langwierigen Prozesses, der über die Rechtsangleichung führt. Insofern ist die Rechtsvereinheitlichung unter methodischen Gesichtspunkten eine Sonderform der Rechtsangleichung.394 Die Rechtsvereinheitlichung zielt in allen Einzelregelungen auf vollständige Uniformität auch bei der Anwendung und Auslegung der Rechtsquellen395 und nimmt dabei allenfalls begrenzt Rücksicht auf nationale Befindlichkeiten. Die Gefahr der Diskontinuität der Rechtsanwendung und des Verlustes der Identifikation der Staatsbürger mit ihrem eigenen nationalen Recht unterstreicht diesen Befund.396 Riesenhuber/Takayama sehen bei der Handhabung der sog „Rechtstransplantate“ Schwierigkeiten mit Blick auf die nationale Auslegung und Rechtsfortbildung.397 Ulmer verweist in diesem Zusammenhang auf den Deutschen Zollverein und die fehlende Notwendigkeit einer vollständigen Uni-

_____ 388 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 288 AEUV Rn 104. 389 Wagner S 37 f. Dies entspricht dem Grundsatz der Subsidiarität (Art 5 III EUV) und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip (Art 5 IV EUV), die als Kompetenzausübungsschranken bei der Rechtsharmonisierung zu berücksichtigen sind. 390 Dauses/Ludwigs/von Danwitz B.II Rn 86. 391 GA Jacobs, Rs C-316/93 – Vaneetveld, Nr 28; Scherzberg Jura 1992, 572 (574). 392 Oppermann/Classen/Nettesheim § 9 Rn 85. 393 Schmeder S 9 f. Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Remien § 14 Rn 2. 394 Schmeder S 8. 395 Strauß S 19. 396 Drobnig FS Steindorff, 1990, S 1149 ff; Bangemann ZEuP 1994, 378 (378 ff). 397 Riesenhuber/Takayama/Riesenhuber/Takayama S 1 (4). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

III. Rechtsangleichung | 953

formierung.398 Die positive wirtschaftliche Entwicklung des am 22. März 1833 gegründeten Zollvereins, der auf einheitliche Regelungen über Zollangelegenheiten hinaus verzichtete,399 zeigt, dass ein gemeinsamer Markt zu seiner Funktionsfähigkeit keiner Einheit der Privatrechtsordnungen und -systeme bedarf. Gewiss erschwert dies angesichts der unterschiedlichen Rechtskulturen und der historisch gewachsenen Rechtsinstitute den Weg zur Rechtseinheit. Der langwierige Prozess hin zu einer partiellen Rechtsvereinheitlichung spie- 128 gelt sich paradigmatisch in der Kodifizierung eines fakultativen europäischen Vertragsrechts. Hierbei handelt es sich um ein Rechtsregime, das als 29. Regelung neben die 28 Vertragsrechtssysteme der Mitgliedstaaten treten soll und damit eine Option für Verbraucher und Unternehmer darstellt (Rn 132). Bereits in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde das Bedürfnis nach einer Vereinheitlichung des Kaufrechts formuliert, um die Abwicklung internationaler Warenkäufe zu vereinfachen.400 Zu diesem Zweck sollte die Zusammenarbeit im Recht „aus der Ebene regionaler Kleinräume auf die Plattform großräumigerer Lebensbereiche […] übertragen [werden]“, um so im Rahmen einer europäischen Privatrechtsunion Rechtseinheit zu erlangen.401 Trotz der ambitionierten Initiative von E Rabel und B Aubin konnte die Lando-Kommission, eine im Jahre 1982 gegründete Gruppe von Zivilrechtswissenschaftlern aus den damaligen zehn Mitgliedstaaten der EG,402 erst am Ende des 20. Jhds rechtssatzförmig gefasste Vorschläge für ein gesamteuropäisches Recht in Form der Principles of European Contract Law vorlegen.403 Der Bericht spiegelte nicht die politischen Interessen der beteiligten Staaten wider, sondern bildete den gemeinsamen Kern des Vertragsrechts der beteiligten Mitgliedstaaten. 404 Auf internationaler Ebene hat das International Institute for the Unification of Private Law in ähnlicher Weise die UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts formuliert, die 1994 in Rom veröffentlicht wurden.405 Einen weiteren Ansatz bildet das UN-Kaufrecht aus dem Jahr 1980.406

_____ 398 Ulmer S 8. 399 Zum Zollverein vgl grundlegend ER Huber S 282 ff; Korioth S 361 ff. 400 Ulmer S 11. Erste Initiativen zu einem einheitlichen Kaufrecht gehen auf das Jahr 1929 zurück. Vgl dazu Rabel Der Entwurf eines einheitlichen Kaufgesetzes, 1935. 401 So der Vorschlag von Aubin, Zweigert/Aubin S 45 (69, 72); Rabel Der Entwurf eines einheitlichen Kaufgesetzes, 1935. 402 Lando/Beale/Lando/Beale S xi f. 403 Zum divergierenden politischen Kalkül unter den Staaten vgl O‘Hara O’Connor Eur J Law Econ 2012, 505 (508 ff). 404 Zimmermann JZ 1995, 477 (479). 405 Hartkamp/Hesselink/Hondius/Perron/Vranken/Müller-Graff S 19 (27 ff). 406 United Nations Convention on Contracts for the International Sale of Goods, BGBl 1989 II S 588. Grundlegend Schlechtriem Einheitliches UN-Kaufrecht, 1981; Bron S 144. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Für die Herleitung der Principles of European Contract Law verfolgte die LandoKommission nicht den im Rahmen der Rechtsangleichung praktizierten „top-down“Ansatz im Sinne einer oktroyierten Harmonisierung „von oben“ durch die Institutionen der EU. Vielmehr ging es der Lando-Gruppe um die „(Wieder-)Begründung einer gemeinsamen Rechtskultur“ durch die Berücksichtigung gemeinsamer historischer Grundlagen der europäischen Vertragsrechtsordnungen, die aus der Rechtsvergleichung von Wissenschaft und Rechtsprechung in den Mitgliedstaaten geschöpft wurden. 407 Eine ausschließlich deskriptive Erhebung, die lediglich die gemeinsamen Regelungen („common core“) der in Frage stehenden Rechtsordnungen berücksichtigt,408 führt indes zwangsläufig zu fragmentarischen Ergebnissen.409 Der Ansatz der Lando-Kommission setzt an den Gemeinsamkeiten der Rechtsordnungen an, erweitert diese jedoch im Interesse einer optimalen Lösung. Nicht der kleinste gemeinsame Nenner wird gesucht, sondern eine systemunabhängige Best Practice-Lösung. Dies kann zwar dazu führen, dass Ergebnisse erzielt werden, die kein Vorbild in den nationalen Rechtsordnungen haben, aber zu einem funktionalen Ergebnis führen.410 Diese Methode der Lando-Kommission strebt nicht nach einem eigenständigen Harmonisierungsmodell, kann aber als „Rechtsangleichung von unten“ Maßnahmen der Union vorbereiten oder ergänzen. Das Problem der Principles of European Contract Law – wie auch der UNIDROIT 130 Principles – besteht in der Rechtsgeltung. Da es sich bei den Grundsätzen nicht um eine Sammlung von einheitlichen Rechtsgrundsätzen handelt, entstehen bei Divergenzen zwischen den nationalen Rechtsordnungen Legitimationsprobleme. Hinzu kommen die fehlende Regelungsdichte der Prinzipien und ihre ausstehende Integration in eine Europäische Zivilrechtskodifikation. Es handelt sich daher um ein ausbaufähiges Regelwerk, das insb einer exakten und vollständigen Abstimmung mit dem acquis communautaire bedarf.411 Die Kompetenz zur Entwicklung eines fakultativen einheitlichen europäischen 131 Vertragsrechts liegt bei der Europäischen Kommission.412 Erste Schritte unternahm sie in diese Richtung im September 2001, als sie in einer Mitteilung verschiedene Optionen für künftige Initiativen auf dem Gebiet des Vertragsrechts unterbreitete.413 Konkretisiert wurden die Vorschläge im Jahr 2003 in einem Aktionsplan der Kommission, der die Beeinträchtigungen des Binnenmarkts wegen des bisher fehlenden Gemeinsamen Kaufrechts aufzeigte und anregte, einen Referenzrahmen für 129

_____ 407 408 409 410 411 412 413

Riesenhuber S 175 f. Metzger S 245. Hesselink/Hesselink S 75 (92 ff). Lando/Beale/Lando/Beale S xxv ff. Zimmermann ZEuP 2003, 707 (711). Mitteilung der Kommission zum Europäischen Vertragsrecht, KOM(2001) 398 endg, S 3. KOM(2001) 398 endg, S 7 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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die elementaren Prinzipien des bestehenden europäischen Vertragsrechts zu schaffen; zudem stellt er eine Prüfung der Notwendigkeit allgemeiner Vertragsregeln in Aussicht.414 Schwierigkeiten ergeben sich nach Ansicht der Kommission angesichts der unterschiedlichen nationalen Vertragsrechtsregime, die zusätzliche Transaktionskosten verursachen.415 Eine konkrete Gesetzesvorlage über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht 132 (GEK) verabschiedete die Europäische Kommission – gestützt auf Art 114 AEUV – erst im Oktober 2011.416 Um einen funktionsfähigen Binnenmarkt durch die Förderung des grenzüberschreitenden Handels zwischen Unternehmen und Verbrauchern herzustellen, sollte ein eigenständiges einheitliches Regelwerk, auch als Common European Sales Law bekannt, in Form einer Verordnung erlassen werden (Rn 240).417 Der Entwurf umfasste vertragsrechtliche und verbraucherschützende Regeln, die die Binnenmarkttransaktionen der Marktakteure erleichtern sollten, indem das GEK in jedem Mitgliedstaat fakultativ als zweites Vertragsrecht zur Verfügung stehen sollte.418 Die Verwendung des GEK muss von den Parteien unter den Voraussetzungen des Art 8 II, III VO-E GEK vereinbart werden. Haben die Parteien seine Anwendung vereinbart, gelten für Fragen, die in seinen Anwendungsbereich fallen, ausschließlich diese Bestimmungen.419 Die Anwendung anderer einzelstaatlicher Vorschriften ist dann ausgeschlossen.420 Nachdem der Deutsche Bundestag bereits im Dezember 2011 eine Subsidiaritätsrüge gegen den Verordnungsentwurf der Kommission mit der Begründung eingelegt hatte, dieses Vorhaben sprenge die Rechtsgrundlage des Art 114 AEUV,421 lehnte im Juli 2013 auch der Ausschuss für

_____ 414 KOM(2002) 441. 415 KOM(2002) 441, S 39 f. Vgl dazu Ackermann CMLRev 2013 (1/2), 11 ff; Ganuza/Gomez CMLRev 2013 (1/2), 29 ff. 416 VO-E über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, KOM(2011) 635. Näher dazu Piers/Vanleenhove Another Step Towards Harmonization In EU Contract Law: The Common European Sales Law, Working Paper v 15.4.2012, abrufbar unter: http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm ?abstract_id=2151256. 417 KOM(2011) 635, S 4. Vgl dazu auch Whittaker CMLRev 2013 (1/2), 85 (88 ff). 418 Zu den Vor- und Nachteilen eines gemeinsamen europäischen Kaufrechts vgl Gómez Pomar The Harmonization of Contract Law through European Rules: a Law and Economics Perspective, Working Paper v 29.4.2008, abrufbar unter: www.indret.com/pdf/535_en.pdf; Grundmann CMLRev 2013 (1/2), 225 ff. 419 Zu den Vorteilen der Wahlfreiheit vgl Smits CMLRev 2013 (1/2), 51 (52 ff); Eidenmüller CMLRev 2013 (1/2), 69 (73 ff). 420 KOM(2011) 635, S 6 f; Ben-Shahar CMLRev 2013 (1/2), 3 (6 f). 421 Deutscher Bundestag Stellungnahme gemäß Protokoll Nr 2 zum Vertrag über die Europäische Union und zum Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, BT-Drs 17/8000, S 4. In diesem Sinne auch Kämmerer, der die Anwendung von Art 114 AEUV zur Rechtsvereinheitlichung ausschließt, vgl Kämmerer RabelsZ 76 (2012), 253 (261 f). Eingehend zur Kompetenzkritik Ludwigs EuZW 2012, 608 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Binnenmarkt und Verbraucherschutz des Europäischen Parlaments diesen Entwurf ab.422 Diese Harmonisierungsinitiative im Bereich des Privatrechts ist nicht neu, son133 dern steht in einer langen Reihe punktueller Maßnahmen423 zur Regelung von Pauschalreisen,424 Verbraucherverträgen,425 des Verbrauchsgüterkaufs,426 der Produktsicherheit427 und des Fernabsatzes von Finanzdienstleistungen.428 Ein Novum in der Harmonisierungsgeschichte der EU ist indes der Umfang dieses Ansatzes: Statt einer fragmentarischen Harmonisierung über Richtlinien wählt die Kommission erstmals einen ganzheitlichen Ansatz, der das gesamte europäische Kaufrecht im Wege einer Verordnung zu einem unmittelbar geltenden Einheitsrecht zu formen versucht. Angesichts des optionalen (fakultativen) Ansatzes bei der Anwendung des Rechts, sollten die nationalen Kaufrechtsvorschriften unberührt bleiben (Rn 159 f).429 Gerade dieser Umstand begründet die Unvereinbarkeit des Gesetzgebungsvorschlags mit Art 114 AEUV. Denn gesetzgeberische Maßnahmen, die den Anspruch verfolgen, einheitliche Regelungen für die gesamte Union zu normieren, aber nur parallel neben den jeweiligen Vorschriften des nationalen Rechts gelten sollen und die nationalen Normen daher allenfalls überlagern, können nicht auf Art 114 AEUV gestützt werden (Rn 203).430 Eine ähnliche, aber auf Art 352 AEUV gestützte Normierung paralleler Rechtsti134 tel zeigt sich im Bereich des europäischen Gesellschaftsrechts. Auch hier wird eine Vereinheitlichung der Rechtsvorschriften angestrebt, um den grenzüberschreitend tätigen Unternehmen die Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit zu ermöglichen. Wirtschaftsunternehmen, die als Personen- oder Kapitalgesellschaft organisiert sind und durch die Verlegung des Gesellschaftssitzes oder die Gründung von Zweigstellen die Vorteile des Binnenmarkts für sich in Anspruch nehmen wol-

_____ 422 Stellungnahme des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz, Dok 2011/ 0284(COD). 423 Eine Übersicht über die wichtigsten Harmonisierungsakte auf dem Gebiet des Vertragsrechts gibt Riesenhuber S 213 ff; Hommelhoff AcP 1992, 71 (75 ff). 424 RL 90/314 über Pauschalreisen, ABl 1990 L 158/59. 425 RL 93/13 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl 1993 L 95/29. 426 RL 1999/44 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl 1999 L 171/12. 427 RL 2001/95 über die allgemeine Produktsicherheit, ABl 2002 L 11/4. 428 RL 2002/65 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher, ABl 2002 L 271/16. 429 Im neunten Erwägungsgrund der VO ist festgehalten, dass eine Harmonisierung des Vertragsrechts nicht durch eine Änderung des bestehenden innerstaatlichen Vertragsrechts bewirkt wird, sondern durch Schaffung einer fakultativen zweiten Vertragsrechtsregelung in jedem Mitgliedstaat für die in ihren Anwendungsbereich fallende Verträge, KOM(2011) 635. Dazu kritisch Bar-Gill/BenShahar CMLRev 2013 (1/2), 109 ff; Porat CMLRev 2013 (1/2), 127 ff; Posner CMLRev 2013 (1/2), 261 ff. 430 EuGH, Rs C-436/03 – Parlament / Rat, Rn 37 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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len, sehen sich gesellschaftsrechtlichen Restriktionen in den einzelnen Mitgliedstaaten ausgesetzt.431 Um wirtschaftliche Faktoren für die Standortentscheidung der Unternehmen in den Mittelpunkt zu rücken und Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern, ist die EU bestrebt, gleiche Rahmenbedingungen zu schaffen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Regelungen über das Recht der Handelsgesellschaften. Die Bemühungen und die Notwendigkeit, zu einer Rechtsvereinheitlichung in diesem Bereich zu gelangen, werden anhand zweier zentraler Projekte verdeutlichtlicht werden: der Schaffung einer Europäischen Gesellschaft, der sog Societas Europaea (SE), sowie einer Europäischen Privatgesellschaft, der Societas Privata Europaea (SPE). Die Europäische Gesellschaft ist als supranationale Rechtsform (Rn 404) kon- 135 zipiert, deren Rechtsquellen und Regelungsprinzipien im Recht der EU verankert sind.432 Mit der Einbettung der SE in das supranationale Recht haben die Mitgliedstaaten erstmals eine einheitliche Handelsgesellschaft geschaffen, die grenzüberschreitende Unternehmensverschmelzungen und Aktivitäten erleichtern soll. 433 Rechtsgrundlage für die SE ist die VO 2157/2001.434 Mit dem Inkrafttreten der SE-VO am 8. Oktober 2004435 endete ein über 40 Jahre dauernder Prozess, der zwei Jahre nach Abschluss der Römischen Verträge in den Vorschlägen von Pieter Sanders vom 22. Oktober 1959 seinen Ausgangspunkt gefunden hatte.436 Sanders konkretisierte seine Vorschläge im Jahr 1966 und leistete damit die Vorarbeit zu einem ersten Vorschlag der Kommission für eine Verordnung über das Statut für Europäische Aktiengesellschaften.437 Endgültig beschlossen wurde das Statut auf dem EU-Gipfel von Nizza am 8. Oktober 2000, nachdem jahrelange politische Differenzen über die Frage der Mitbestimmung in der SE beigelegt werden konnten.438 Das der SE zugrunde liegende Ziel der Vereinheitlichung der Rechtsform ist in der rechtlichen Umsetzung nur unvollständig gelungen. Zwar ist das SE-Statut die supranationale Grundlage der Europäischen Gesellschaft, doch weist ihr einheitliches Rechtskleid eine Vielzahl von Regelungslücken auf, die durch das nationale Recht aufgefangen werden müssen. So werden zentrale Rechtsmaterien der SE durch einen Verweis auf das nationale Recht geregelt (Art 9 I SE-VO). Vor dem Hintergrund der Unterschiede im nationalen Handels- und Gesellschaftsrecht ist das Ziel der Schaffung einer ein-

_____ 431 Weißbuch der Kommission an den Europäischen Rat über die Vollendung des Binnenmarktes, KOM(85) 310, Ziff 137, 142. 432 Spindler/Stilz/Casper Vorbem Art 1 SE-VO Rn 1. 433 Erwägungsgründe 1 bis 4 der VO 2157/2001, ABl 2001 L 294/1; Walden/Meyer-Landrut DB 2005, 2619 (2623). 434 ABl 2001 L 294/11. 435 BGBl 2004 I S 3675. 436 Zum Entwicklungsprozess der SE vgl Kern S 80 ff. 437 VO-E über das Statut für europäische Aktiengesellschaften, ABl 1970 C 124/1. 438 Kern S 86 f. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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heitlichen, für den gesamten Binnenmarkt geltenden Rechtsform lediglich teilweise erreicht, so dass weitere Harmonisierungsschritte unumgänglich sind. Um im Binnenmarkt die Rahmenbedingungen für Unternehmen, insb KMU, 136 kontinuierlich zu verbessern und ihr Wachstum zu fördern, hat die Europäische Kommission im Rahmen eines Maßnahmenpakets (sog „Small Business Act für Europa“439) zur Unterstützung der KMU einen Vorschlag für ein Statut einer Europäischen Privatgesellschaft (SPE) vorgestellt (Rn 406).440 Mit der Initiative soll eine neue europäische Rechtsform geschaffen werden, die die Wettbewerbsfähigkeit der KMU durch erleichterte Bedingungen ihrer Niederlassung und Tätigkeit im Binnenmarkt erhöhen soll. Denn der Vorschlag für ein Statut der SPE ist auf ihre spezifischen Bedürfnisse zugeschnitten. Er gestattet den Unternehmern, in allen Mitgliedstaaten nach den gleichen einfachen und flexiblen Gesellschaftsrechtsvorschriften eine SPE zu gründen.441 Damit greift die Kommission den bereits bei der Erarbeitung des SE-Statuts leitenden Gedanken einer Vereinheitlichung des Rechts zur Erleichterung des Rechtsverkehrs auf und führt ihn im Gegensatz zur Ausgestaltung des SE-Statuts, das in weiten Bereichen auf das nationale Recht verweist, konsequent zu Ende.442 Gleichwohl führen nationale Präferenzen und Befindlichkeiten über die Ausgestaltung einer europäischen Unternehmensrechtsform zu Widerständen der Mitgliedstaaten, die eine Einigung auf eine Europäische Privatrechtsgesellschaft bislang (2019) verhindert haben.443 Auch dieses Vorhaben ist zumindest ausgesetzt.

b) Vertragliche Grundlagen der Rechtsangleichung 137 Die vertraglichen Grundlagen der Rechtsangleichung sind im dritten Teil des AEUV normiert und lassen sich in binnenmarktbezogene und in spezielle Kompetenznormen mit Bezug zu den Grundfreiheiten und ausgewählten Politikbereichen einteilen. Ausweislich des Art 4 II lit a AEUV gehören diese Vorschriften zu den geteilten Zuständigkeiten, die dadurch gekennzeichnet sind, dass die Union und die Mitgliedstaaten in diesem Bereich gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen können. Die Mitgliedstaaten nehmen ihre Kompetenz wahr, sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat (Art 2 II AEUV). Auch die Art 114, 115 AEUV, die beiden zentralen Vorschriften zur Rechtsanglei-

_____ 439 KOM(2008) 394. 440 KOM(2008) 396; Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Möllers § 18 Rn 197 ff; Dauses/Ludwigs/Kalss/ Klampfl E.III Rn 618 ff. 441 VO-E über das Statut der Europäischen Privatgesellschaft, KOM(2008) 396, S 2; Dauses/Kalss/ Klampfl E.III Rn 620. 442 So auch Pfennig S 29. 443 Zur langwierigen Genese des Gesetzgebungsprozesses vgl Pfennig S 20 ff; Maschke S 24 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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chung, gehören zu den geteilten Zuständigkeiten der Union.444 Dieser Befund steht zunächst im Widerspruch zum Wortlaut des Art 26 I AEUV, wonach die Union die erforderlichen Maßnahmen zur Verwirklichung und Funktionssicherung des Binnenmarkts erlässt.445 Solange die Union aber darauf verzichtet, gemeinsame Regelungen zu erlassen, sind im Sinne von Art 2 II AEUV die Mitgliedstaaten zuständig. Sobald die Union eine Harmonisierungsmaßnahme erlässt, sind die Mitgliedstaaten wegen der dann eintretenden Sperrwirkung nicht mehr berechtigt, eigene Handlungen vorzunehmen.446 Die allgemeinen Vorschriften über die Verwirklichung des Binnenmarkts 138 mittels der Rechtsangleichung beinhalten die Art 114–118 AEUV. Dabei handelt es sich um Vorschriften, die ohne inhaltliche Änderungen aus dem Vertrag von Nizza übernommen (Art 94–97 EGV) und um die Regelung des Art 118 AEUV ergänzt wurden (Rn 204). Während sich die Vorschriften in Art 116 f AEUV auf spezifische wettbewerbsverzerrende Beeinträchtigungen in einzelnen Wirtschaftsbereichen beziehen, die durch repressive (Art 116 AEUV) bzw präventive Harmonisierungsmaßnahmen (Art 117 AEUV) punktuell beseitigt werden können (Rn 191), ergeben sich aus Art 114, 115 AEUV generelle und systematische Handlungsermächtigungen der Union, durch das Instrument der Rechtsangleichung den Binnenmarkt herzustellen. Art 118 AEUV wurde erst durch den Vertrag von Lissabon eingefügt und nimmt gegenüber den allgemeinen Vorschriften zur Verwirklichung des Binnenmarkts eine Sonderstellung ein, da er der Union eine ausdrückliche Kompetenz zur Rechtsangleichung im Bereich des Schutzes des geistigen Eigentums verleiht. Seit dem Reformvertrag von Lissabon ist Art 114 AEUV (= ex-Art 95 EGV) die 139 zentrale Kompetenznorm zur Verwirklichung des Binnenmarktzieles.447 Sie steht in einem engen inhaltlichen Zusammenhang mit Art 115 AEUV, der nach dem Vertrag von Nizza (ex-Art 94 EGV) noch den Einsatz des Instruments der Rechtsangleichung im Interesse der Errichtung und des Funktionierens des Gemeinsamen Marktes zum Gegenstand hatte. Um das Verhältnis dieser beiden Vorschriften (Grundnorm und Auffangnorm) in der Rechtsetzungspraxis neu zu bestimmen, wurde der frühere Art 95 EGV an die Spitze der binnenmarktbezogenen Rechtsangleichungsvorschriften gesetzt. Damit haben die beiden Vorschriften im Vertrag von Lissabon die Rolle als Grundnorm getauscht.448

_____ 444 Calliess/Ruffert/Korte Art 114 AEUV Rn 8; Oppermann/Classen/Nettesheim § 32 Rn 14; Grabitz/ Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 4 AEUV Rn 10; Streinz/Schröder Art 114 AEUV Rn 7. 445 Härtel/Streinz Hdb 4 § 85 Rn 31. 446 EuGH, Rs 22/70 – AETR, Rn 15/19. 447 Rossi bezeichnet Art 114 AEUV im Verhältnis zu Art 115 als „Spezialvorschrift“, vgl Vedder/ Heintschel vHeinegg/Rossi Art 115 AEUV Rn 2. Ähnlich auch Lenz/Borchardt/Fischer Art 114 Rn 2; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje Art 115 AEUV Rn 1; Smit/Herzog/Reich Art 114 p 114-11. 448 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje Art 115 AEUV Rn 1. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Art 114 AEUV dient als Rechtsgrundlage für den Erlass von Maßnahmen, die auf die Errichtung und das Funktionen des Binnenmarkts zielen. Dabei scheinen die Anwendungsvoraussetzungen angesichts der bloßen Bezugnahme auf den Binnenmarktbegriff in Art 26 AEUV höchst unvollkommen ausgestaltet zu sein. Die Zuständigkeit der Union ist darauf gerichtet, die effektive Ausübung der Grundfreiheiten zu gewährleisten. Die Rechtsangleichungskompetenz erstreckt sich damit auf Maßnahmen zur Verwirklichung des Binnenmarkts und zur Beseitigung von Wettbewerbsverfälschungen.449 Art 114 AEUV darf aber nicht als Befugnis zur allgemeinen Wirtschaftsregulierung missverstanden werden.450 Die Regelung des Art 115 AEUV gilt seit dem Vertrag von Rom (Art 100 EWGV) 141 als gründungsvertragliche Zentralkompetenz zur Rechtsangleichung. Diese Sonderstellung wurde mit der Aufnahme von Art 114 AEUV aufgehoben. Durch den Vertrag von Lissabon wurde in Art 115 AEUV der Begriff „Gemeinsamen Markt“ durch den Binnenmarktbegriff ersetzt. Infolge der sprachlichen Annäherung sind die Unterschiede zwischen Art 114 und 115 AEUV nur noch marginal: Während Art 114 AEUV auf Vorschriften Anwendung findet, die sich auf die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts im Sinne der Art 3 III EUV und Art 26 AEUV auswirken, kommt Art 115 AEUV als Ausnahmeregelung bei Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zum Tragen, die einen unmittelbaren Einfluss auf die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts haben (Rn 229). Ausweislich des Wortlauts des Art 115 AEUV geht der Vertrag von unterschiedlichen Normenkategorien im nationalen Rechtskreis aus und stellt in dieser Regelung ausschließlich auf die Rechts- und Verwaltungsvorschriften ab, die einen unmittelbaren Marktbezug aufweisen.451 Art 114 AEUV ist im Vergleich hierzu die Grundnorm für die Rechtsangleichung.452 In ihrem Anwendungsbereich wird das Entscheidungsverfahren durch das bloße Erfordernis einer qualifizierten Mehrheitsentscheidung im Rat unter gleichgewichtiger Beteiligung des Europäischen Parlaments im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens (Art 289, 294 AEUV) gegenüber Art 115 AEUV erleichtert. Art 115 AEUV verlangt hingegen mit Blick auf die Anwendung des besonderen Gesetzgebungsverfahrens einen einstimmigen Beschluss des Rates nach bloßer Anhörung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses. Diese Vorschrift stellt, wie sich aus der Formulierung „unbeschadet des Art 114 AEUV“ ergibt, eine subsidiäre Auffangnorm dar, die in den Bereichen angewendet wird, in denen Art 114 AEUV nicht einschlägig ist.453

_____ 449 EuGH, Rs C-300/89 – Titandioxid, Rn 14; Rs C-491/01 – British American Tobacco, Rn 60. 450 GA Fenelly, Rs C-376/98 – Tabakwerbung, Nr 83. 451 So auch Vogelaar CMLRev 1975, 211 (214 f). 452 Oppermann/Classen/Nettesheim § 32 Rn 8; Frenz Hdb 6 Rn 3501. 453 Vgl Calliess/Ruffert/Korte Art 115 AEUV Rn 3; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje Art 115 AEUV Rn 2; Lenz/Borchardt/Fischer Art 114 AEUVRn 3; Oppermann/Classen/Nettesheim § 32 Rn 8. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Neben den allgemeinen Bestimmungen stehen die sachspezifischen Kompe- 142 tenznormen, durch die Hindernisse für die Grundfreiheiten oder einzelne Politikbereiche beseitigt werden können. Solche spezifischen Kompetenzregelungen bestehen im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art 46 I AEUV), der Niederlassungsfreiheit (Art 50 I, 52 II, 53 I AEUV), der Dienstleistungsfreiheit (Art 52, 62 AEUV) sowie der Kapitalverkehrsfreiheit (Art 64 II AEUV).454 Abgerundet werden sie durch Regelungen zur Rechtsangleichung in den binnenmarktbezogenen Politikbereichen der Landwirtschaft (Art 43 AEUV),455 der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen (Art 81 II AEUV),456 des Verkehrs (Art 91, 95, 100 AEUV),457 der indirekten Steuern (Art 113 AEUV) sowie der Transeuropäischen Netze (Art 172 AEUV)458 und der Energie (Art 194 II AEUV).459 Zudem bestehen seit dem Vertrag von Lissabon im Rahmen der Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen umfangreiche Zuständigkeiten der Union zur Rechtsangleichung im Bereich des Strafrechts (Art 82 II, Art 83 I AEUV). So wird die EU ausweislich des Art 83 I UAbs 1 AEUV dazu ermächtigt, durch Richtlinien Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität festzulegen, die aufgrund der Art oder der Auswirkungen der Straftaten oder aufgrund einer besonderen Notwendigkeit, sie auf einer gemeinsamen Grundlage zu bekämpfen, eine grenzüberschreitende Dimension haben. Die in Art 83 I UAbs 2 AEUV enthaltene Aufzählung der Kriminalitätsbereiche ist nicht abschließend und kann nach Art 83 I UAbs 3 AEUV einstimmig durch den Rat und unter Zustimmung des Europäischen Parlaments erweitert werden.460 Im Verhältnis zur allgemeinen Vertragsbestimmung über die Verwirklichung des Binnenmarkts mittels Rechtsangleichung in Art 114 AEUV sind die sachspezifischen Normen als leges speciales vorrangig anzuwenden.461 Exemplarisch für die aktuelle Entwicklung im Bereich der sachspezifischen Angleichung nationaler Rechtsnormen sind die Umsetzungsregelungen hinsichtlich des sechsten und zehnten Binnenmarkthebels anzuführen. Während zur Umsetzung des sechsten Binnenmarkthebels („Europäische Netze“) die VO 347/2013 über Leitlinien für die transeuropäische Infrastruktur,462 gestützt auf Art 172 AEUV, erlassen wurde, verabschiedeten das Europäische Parlament und der Rat zur Umsetzung des zehnten

_____ 454 Calliess/Ruffert/Korte Art 114 AEUV Rn 12; Streinz/Schröder Art 114 AEUV Rn 9. 455 Ludwigs S 287 f.; Pechstein/Nowak/Häde/Terhechte Art 114 AEUV Rn 35; Streinz/Schröder Art 114 AEUV Rn 132. 456 Pechstein/Nowak/Häde/Terhechte Art 114 AEUV Rn 36; Streinz/Schröder Art 114 AEUV Rn 133. 457 Pechstein/Nowak/Häde/Terhechte Art 114 AEUV Rn 41; Streinz/Schröder Art 114 AEUV Rn 138. 458 Pechstein/Nowak/Häde/Terhechte Art 114 AEUV Rn 40; Streinz/Schröder Art 114 AEUV Rn 137. 459 Pechstein/Nowak/Häde/Terhechte Art 114 AEUV Rn 43; Streinz/Schröder Art 114 AEUV Rn 141. 460 Vgl dazu auch BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (296) – Lissabon. 461 Calliess/Ruffert/Korte Art 114 AEUV Rn 12; Pechstein/Nowak/Häde/Terhechte Art 114 AEUV Rn 32. 462 VO 347/2013, ABl 2013 L 115/39. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Binnenmarkthebels („Sozialer Zusammenhalt“) eine Richtlinie zur Durchsetzung der RL 96/71 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen463 auf der Grundlage von Art 51 I und 62 AEUV. In der praktischen Rechtsanwendung bereitet es immer wieder Schwierig143 keiten, eine genaue Abgrenzung der Generalklausel des Art 114 AEUV von den spezielleren Rechtsangleichungskompetenzen vorzunehmen.464 Da die Abweichungsmöglichkeiten der Schutzintensivierungsklauseln in Art 114 Abs 4 f. AEUV (Rn 212 ff) nur bei Maßnahmen nach Art 114 Abs 1 AEUV zur Anwendung gelangen, ist eine Abgrenzung des Art 114 AEUV zu anderen Kompetenzgrundlagen von großer Bedeutung. Entscheidend für die Auswahl der Rechtsgrundlage ist insoweit, welches Ziel den Schwerpunkt der Maßnahme bildet (sog Schwerpunkttheorie).465 Verfolgt ein Rechtsakt der Union mehrere Ziele und lässt sich eines davon als das wesentliche oder überwiegende ausmachen, während die weiteren Ziele nur von untergeordneter Bedeutung sind, so ist der Rechtsakt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nur auf eine Rechtsgrundlage zu stützen. Herangezogen werden muss diejenige Rechtsgrundlage, die die wesentliche oder überwiegende Zielsetzung erfordert.466 Verfolgt ein Rechtsakt dagegen mehrere untrennbar miteinander verbundene Ziele, die nicht in einem abgestuften Verhältnis stehen, kann der Rechtsakt ausnahmsweise auf mehrere Rechtsgrundlagen gestützt werden.467

c) Instrumente der Rechtsangleichung 144 Die Beseitigung der für das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarkts ab-

träglichen Unterschiede erfolgt aufgrund unterschiedlicher Kompetenznormen und, je nach Ausgestaltung der Ermächtigung, unter Anwendung unterschiedlicher Instrumente, denen verschiedene Methoden zugrunde liegen. Sowohl die sachspezifischen als auch die allgemeinen Vorschriften zur Rechtsangleichung im Binnen-

_____ 463 RL 2014/67/EU, ABl 2014 L 159/11. 464 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje Art 114 AEUV Rn 124; Pechstein/Nowak/Häde/Terhechte Art 114 AEUV Rn 32. 465 Eingehend dazu Calliess/Ruffert/Korte Art 114 AEUV Rn 138 ff. 466 EuGH, Rs C-42/97 – Parlament / Rat, Rn 39 f; Rs C-36/98 – Spanien / Rat, Rn 59; Rs C-338/01 – Kommission / Rat, Rn 55; Rs C-178/03 – Kommission / Parlament und Rat, Rn 42; Rs C-411/06 – Kommission / Parlament und Rat, Rn 46. 467 EuGH, Rs C–338/01 – Kommission / Rat, Rn 56; Rs C–178/03 – Kommission / Parlament und Rat, Rn 43; Rs C–411/06 – Kommission / Parlament und Rat, Rn 47. Dazu auch Pechstein/Nowak/ Häde/Terhechte Art 114 AEUV Rn 33. Kritisch zur Schwerpunkttheorie und für eine bloße Förderung des Binnenmarktziels als Kriterium etwa Ihns Entwicklung und Grundlagen der europäischen Rechtsangleichung, S 132; kritisch zur Schwerpunkttheorie auch Kahl in FS Scheuing, 2011, 92 (105 ff.). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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markt beinhalten ein oder mehrere Instrumente, die es der Union ermöglichen, eine aktive Politik bei der Beseitigung von Hindernissen zu betreiben. Das Prinzip der begrenzten Einzelzuständigkeit, das sämtliches Wirken der EU- 145 Organe beherrscht, ist auch im Anwendungsbereich der Rechtsangleichung zu beachten. Es bewirkt, dass die Unionsorgane zum Erlass rechtsangleichender Sekundärrechtsakte einer konkreten Kompetenzgrundlage bedürfen. Eine solche findet sich in einer sachspezifischen oder allgemeinen Rechtsangleichungskompetenz des Primärrechts (Rn 137 ff). Art 288 AEUV statuiert mit Blick auf außenrechtsverbindliche Akte – in nicht abschließender Weise – die wichtigsten Handlungsformen, die der Union für die Ausübung ihrer Zuständigkeiten zur Verfügung stehen.468 Das praktisch bedeutsamste Instrument zur Rechtsangleichung ist die Richtlinie, die zur Harmonisierung im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art 46 II AEUV), der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit (Art 52 II, 62 AEUV) expressis verbis vorgegeben ist. Eine Reihe anderer Ermächtigungskompetenzen verzichtet hingegen auf eine 146 ausdrückliche Formvorgabe und belässt dem Unionsgesetzgeber die Wahl der jeweiligen „Maßnahmen“ (Art 64 II, 81 II, 114 I, 194 II AEUV), der „geeigneten Vorschriften“ (Art 100 AEUV) oder „Bestimmungen, die notwendig sind“ (Art 113 AEUV). In diesen Fällen stellt sich die Frage nach der zu wählenden Handlungsform. Da die einschlägigen Rechtsangleichungskompetenzen den Erlass der zu ergreifenden Maßnahmen stets im Rahmen des ordentlichen469 oder des besonderen470 Gesetzgebungsverfahrens (Art 289 I, II iVm Art 294 AEUV) vorgeben, kommen als Handlungsformen ausweislich des Wortlauts von Art 289 I, II AEUV ausschließlich Verordnungen, Richtlinien oder Beschlüsse in Betracht.471 Unbeschadet seiner Wahlfreiheit bedient sich der Unionsgesetzgeber wegen ih- 147 res geringen Eingriffs in die nationalen Rechtskulturen und -strukturen und zur Wahrung des Prinzips der Subsidiarität (Rn 235) im Regelfall der Richtlinie (Art 288 III AEUV) als Handlungsinstrument (Rn 126). Bereits anlässlich der Regierungskonferenz zum Inkrafttreten der EEA erklärten die Mitglieder hinsichtlich der künftigen Anwendung von Art 100a I EWGV, dass „die Kommission bei ihren Vorschlägen der Rechtsform der Richtlinie den Vorzug geben [werde]“.472 Der Gesetzgeber ist bei künftigen Gesetzesänderungen verpflichtet, den Inhalt der Richtlinie zu beachten,

_____ 468 Calliess/Ruffert/Ruffert Art 288 AEUV Rn 98; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 288 AEUV Rn 75, 83. 469 Etwa im Bereich der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit nach Art 64 II AEUV oder der Umweltpolitik (Art 194 II AEUV). 470 So im Rahmen der Justizellen Zusammenarbeit in Zivilsachen (Art 81 III AEUV) oder im Bereich der Steuern (Art 113 AEUV). 471 Frenz Hdb 6 Rn 3382; Lenz/Borchardt/Hetmeier Art 289 AEUV Rn 2; Grabitz/Hilf/Nettesheim/ Krajewski/Rösslein Art 289 AEUV Rn 43. 472 Erklärung zu Art 100a EWGV, ABl 1987 L 169/24. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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so dass eine autonome Änderung der betroffenen nationalen Vorschriften ausgeschlossen ist.473 Schließlich wird der rechtliche Rahmen, innerhalb dessen der nationale Gesetzgeber handeln kann, umso enger, je detaillierter der Unionsgesetzgeber beim Erlass einer Harmonisierungsrichtlinie vorgeht. Die durch die Richtlinie erzielte Sperrwirkung für den nationalen Gesetzgeber verlagert dessen Legislativbefugnis auf die Ebene des europäischen Gesetzgebers. Denn eine Änderung bereits harmonisierten Rechts darf nun ausschließlich durch den Unionsgesetzgeber erfolgen.474 Im Fall einer Rechtsangleichung durch Richtlinien liegt der Ursprung des har148 monisierten Rechts in einer einheitlichen Quelle, doch werden im Ergebnis in den einzelnen Mitgliedstaaten keine gleichlautenden Gesetze erlassen.475 Die Richtlinie gilt daher als ein geschmeidiger Sekundärrechtsakt, der den Mitgliedstaaten ein zu erreichendes Ziel vorgibt, den innerstaatlichen Stellen jedoch die Wahl der Form und der Mittel zur Erreichung des Zieles überlässt (Art 288 III AEUV). Der Richtliniengesetzgebung der Union, die mit dem Ziel der Rechtsangleichung erfolgt, geht es nicht um Ersetzung des mitgliedstaatlichen Rechts; sie führt angesichts des fragmentarischen Charakters ihrer Regelungen zu keinem kohärenten Gesamtbild.476 Ein noch weiterreichender Einschnitt in die Souveränität der Mitgliedstaaten ist 149 bei der Anwendung der Verordnung (Art 288 II AEUV) festzustellen, da in diesem Fall die Unterschiede in den Mitgliedstaaten direkt beseitigt und nationale Rechtsvorschriften faktisch verdrängt werden. Die Gerichte und Verwaltungsbehörden sind verpflichtet, die Verordnungen unmittelbar anzuwenden und entgegenstehendes nationales Recht unbeachtet zu lassen.477 Die Anwendung der Verordnung als Handlungsform der Rechtsangleichung geht daher stets mit einem gesteigerten Souveränitätsverlust der nationalen Parlamente einher. Angesichts der größeren Anpassungsfähigkeit und Flexibilität der Richtlinie wurde die Verordnung über lange Zeit lediglich zur Harmonisierung derjenigen Bereiche des nationalen Rechts angewendet, in denen die territoriale Abschottungswirkung nationaler Rechtsordnungen allein durch gemeinschaftsweit einheitliches Recht überwunden werden kann. In ihrer Strategie für Wachstum (Europa 2020) kündigte die Kommission aller150 dings an, die „Agenda für intelligente Regulierung gegebenenfalls unter vermehrtem Rückgriff auf Verordnungen anstelle von Richtlinien“ voranzutreiben, um

_____ 473 Wagner S 37 f. 474 Timmermans RabelsZ 48 (1984), 1 (7); Bergmann S 14 ff; Ress/Ress S 17. 475 Strauß S 18. 476 Lando S 8; Basedow ZEuP 2004, 1 (3). 477 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 288 AEUV Rn 89, 101; Lenz/Borchardt/Hetmeier Art 288 AEUV Rn 8; Calliess/Ruffert/Ruffert Art 288 AEUV Rn 20. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Binnenmarkthindernisse zu beseitigen.478 Damit schien die Kommission ein Abrücken von der Philosophie des Weißbuchs über die Vollendung des Binnenmarkts (Rn 115 f) und einen Schwenk hin zu einer „stärkeren wirtschaftspolitischen Steuerung“,479 namentlich im Bereich eines Binnenmarkts für Onlinedienste und transeuropäische Netze, vollziehen zu wollen. Um die Einheit des europäischen Rechtsraumes zu gewährleisten, bevorzugt die Kommission die unmittelbar anwendbare Verordnung statt der bisher verwendeten Richtlinie (Rn 149 f).480 So hat die Kommission im Bereich des Energiebinnenmarkts als Teil der „europäischen Netze“, gestützt auf Art 172 AEUV, die Verordnung zu Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur481 vorgeschlagen. Den Erlass einer konkreten Maßnahme zur Rechtsharmonisierung maßt sich die Kommission insoweit allerdings nicht an. Wichtige erste Projekte der Rechtsangleichung, die die Strategie „Europa 2020“ markieren, hat die Kommission – im Bereich der Dienstleistungskonzessionsvergabe482 und der Auftragsvergabe483 (Rn 430) – indes als Richtlinien oder überarbeitete Richtlinien vorgelegt. Allerdings ist es auch bei einer Rechtsangleichung mittels des Instruments der 151 Verordnung möglich, den Mitgliedstaaten einen geringen, durch nationales Recht auszufüllenden Handlungsspielraum zu lassen. Exemplarisch kann in diesem Zusammenhang auf die VO 2157/2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft hingewiesen werden,484 das zwecks Schaffung einer Europäischen Aktiengesellschaft (SE) ein einheitliches Rahmenrecht beinhaltet und hinsichtlich der zentralen Rechtsmaterien der SE auf das nationale Recht verweist (Art 9 I, 10 SE-VO). Der Beschluss (Art 288 IV AEUV) ist in allen Teilen für denjenigen verbindlich, 152 den er bezeichnet (adressatenspezifischer Beschluss). In dieser Formulierung drückt sich der Umstand aus, dass die adressatengerichteten Beschlüsse für ihre Adressaten Rechtsgeltung beanspruchen.485 Da sich dieser Typus von Rechtsakten ausschließlich auf die Regelung von Einzelfällen bezieht, kommt diesem Instrument auf dem Gebiet der Rechtsangleichung allerdings kaum Bedeutung zu.486 Die Entscheidung zwischen dem Handlungsinstrument der Richtlinie oder der 153 Verordnung erfolgt in Abhängigkeit von der angestrebten Harmonisierungsinten-

_____ 478 Europäische Kommission Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum, KOM(2010) 2020, S 25; Rösch S 91. 479 KOM(2010) 2020, S 6. 480 Blanke/Mangiameli/Blanke The European Union after Lisbon S 382; Rösch S 92; Streinz/ Schröder Art 288 AEUV Rn 54. 481 VO 347/2013, ABl 2013 L 115/39. 482 RL-E über die Konzessionsvergabe, KOM(2011) 897. 483 RL-E über die öffentliche Auftragsvergabe, KOM(2011) 896. 484 ABl 2001 L 294/1. 485 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim Art 288 AEUV Rn 181. 486 Wagner S 39 mwN. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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sität. Die Angleichung von nationalen Rechtsvorschriften kann auf verschiedenen Intensitätsstufen erfolgen. Bestimmend für die Intensität ist die gewählte Harmonisierungsmethode. Den zur Verfügung stehenden Methoden der Rechtsangleichung ist das Ziel gemein, Rechtsnormen gleichen oder identischen Inhalts in den nationalen Rechtsordnungen zu implementieren und damit ein einheitliches Recht zu schaffen.487 Je größer sich der Spielraum für nationale Abweichungen gestaltet, desto geringer ist die Harmonisierungsintensität des Harmonisierungsaktes.488

d) Methoden der Rechtsangleichung 154 Der Umfang der zur Verwirklichung und Funktionssicherung des Binnenmarkts zu

ergreifenden Harmonisierungsmaßnahmen erfordert einen Ermessensspielraum zugunsten der gesetzgebenden europäischen Institutionen, um zu bestimmen, in welcher Intensität sie die Harmonisierungsaufgabe im Einzelfall erfüllen.489 In der Rechtsangleichungspraxis der Union lassen sich zwei unterschiedliche Methoden der Rechtsangleichung ausmachen, die sich in ihrer Intensität voneinander unterscheiden.490 Die Methode, die den höchsten Grad an Angleichung aufweist, ist die Vollhar155 monisierung. Bei dieser Methode versucht der europäische Gesetzgeber Unterschiede in den nationalen Rechtsordnungen durch detaillierte Harmonisierungsakte zu beseitigen. Das Handeln im Unionsverband („von oben“) mit Wirkungen für die nationalen Rechtsordnungen („nach unten“) wird als vertikale Angleichung bezeichnet.491 Diese Methode lässt den Mitgliedstaaten keine Möglichkeit zur Festlegung abweichender Regelungen und führt zu einer grundlegenden Veränderung der nationalen Rechtsvorschriften.492 Ein Abweichen von den auf supranationaler Ebene gesetzten Regelungsstandards zugunsten eigener Regelungen ist daher ausgeschlossen.493 Abweichungen von einer „absoluten Harmonisierung“ sind lediglich dann zulässig, wenn der Harmonisierungsakt ausdrücklich solche Abweichungen erlaubt.494 Diese sog „echten Schutzklauseln“ sind in Art 114 X AEUV deklaratorisch festgehalten495 und betreffen Ausnahmesituationen, die abweichende Regelungen zulassen (Rn 227). So ist den Mitgliedstaaten bei einer Vollharmonisierung, etwa im

_____ 487 Universität Köln/Kegel S 9 (10). 488 Wagner S 45. 489 EuGH, Rs 37/83 – REWE-Zentrale, Rn 20; Rs C-63/89 – Assurances de Credit / Rat und Kommission Rn 11; Rs C-491/01 – British American Tobacco, Rn 123. Dazu auch Bron S 101. 490 Ein Überblick dazu bei Bieber/Epiney/Haag/Kotzur § 17 Rn 29 ff. 491 Andermann S 107. 492 Wagner S 45; König/Uwer/Obwexer S 57 f. 493 Ludwigs S 108; Wagner S 47 f; Bron S 102. 494 Ludwigs S 107. 495 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje Art 114 AEUV Rn 228. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Bereich des Gefahrenstoffrechts, jegliche legislative Tätigkeit untersagt, die auf die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung gefährlicher Stoffe gerichtet ist. Nicht nur im Gefahrenstoffrecht, sondern auch im Bereich des Lebensmittel- 156 rechts wird diese Methode der vertikalen Harmonisierung angewandt. Exemplarisch dafür steht die RL 2009/54/EG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Gewinnung von und den Handel mit natürlichen Mineralwässern.496 Um das Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten, müssen die Mitgliedstaaten einheitliche Regelungen zur Bestimmung von Grenzwerten für die Gehalte an Bestandteilen natürlicher Mineralwässer, deren Angabe auf dem Ettikett und einheitliche Analysemethoden für den Nachweis des Nichtvorhandenseins von Verunreinigungen umsetzen.497 Die Richtlinie überlässt den Mitgliedstaaten indes einen geringen Spielraum bei der Ausgestaltung der Bedingungen für die Nutzung von Mineralswässerquellen.498 Dieses Beispiel zeigt, dass den Mitgliedstaaten auch bei einer Vollharmonisierung noch ein gewisser nationaler Gestaltungsspielraum verbleiben kann, wenngleich diese Marge den Staaten ausschließlich unter den in der Richtlinie selbst vorgegebenen Voraussetzungen gewährt wird.499 Ein niedriger Intensitätsgrad, der den Mitgliedstaaten Raum für abweichende Regelungen lässt, würde indes neue rechtliche Hindernisse für den zwischenstaatlichen Warenaustausch schaffen und eine Gefahr der Verfälschung der Wettbewerbsverhältnisse mit sich bringen.500 Auch im Bereich des Verbraucherschutzrechts ist die Union zu einer Vollharmonisierung übergegangen (Rn 192 ff). Die mit der EEA eingeführte „Neue Strategie“ sah für die Vollendung des Bin- 157 nenmarkts einen neuen Ansatz vor, wonach die Rechtsangleichung nur in den Bereichen zur Anwendung gelangen soll, in denen eine gegenseitige Anerkennung nicht ausreicht (Rn 115).501 Rechtsangleichung und gegenseitige Anerkennung sollen sich also bei der Herstellung des Binnenmarkts sinnvoll ergänzen,502 so dass Harmonisierungsmaßnahmen ausschließlich hinsichtlich grundlegender Standards in ausgewählten Bereichen erlassen werden.503 Angesichts dieser Neujustierung erfolgt die Rechtsangleichung zuvörderst mit Blick auf Produkte einer bestimmten Kategorie, ohne auf produktspezifische Fragen regulierend einzuwirken.504 Die Anpassung nationaler Rechtsvorschriften behandelt lediglich allgemeine Aspekte einer bestimmten Produktkategorie und wird daher auch als horizontale Rechtsanglei-

_____ 496 497 498 499 500 501 502 503 504

ABl 2009 L 164/45. Art 12 RL 2009/54/EG, ABl 2009 L 164/45. Zweite Erwägung der Präambel i V m Anlage der II der RL 2009/54/EG, ABl 2009 L 164/45. Streinz/Schröder Art 114 AEUV Rn 26. Universität Köln/Seidel S 733 (740 f). Weißbuch über die Vollendung des Binnenmarktes, KOM(85) 310, Ziff 65, Spstr 1. Pühs S 58. Weißbuch über die Vollendung des Binnenmarktes, KOM(85) 310, Ziff 65, Spstr 2. Streinz Rn 973.

Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

968 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

chung bezeichnet.505 Diese Form der Rechtsangleichung ist von einer vertikalen Harmonisierung im Sinne einer umfassenden Detailangleichung produktspezifischer Fragen strikt zu unterscheiden.506 Unter Verzicht auf eine Detailangleichung strebt die Kommission eine Kernangleichung zum Schutz der zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls an,507 um so die „Grundvoraussetzungen für die Verkehrsfähigkeit eines Produkts“ in der EU zu schaffen.508 Ausdruck des Zusammenspiels von Rechtsangleichung und gegenseitiger Aner158 kennung ist die sog teilweise Harmonisierung. Die Einführung dieser Harmonisierungsmethode erlaubt es den Mitgliedstaaten, bei einer Harmonisierung die inländischen Sachverhalte in Form eigenständiger nationaler Vorschriften zu regeln, ohne dabei das Schutzniveau der Gemeinschaftsbestimmungen zu unterminieren.509 Die partielle Harmonisierung prägt sich in der optionellen Harmonisierung sowie in der Mindestharmonisierung aus. Sie stehen dann der Verwirklichung des Binnenmarkts nicht entgegen, wenn sie geeignet sind, die Voraussetzungen für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zu verbessern. Die optionelle Harmonisierung ist die Rechtsangleichungsmethode mit der 159 geringsten Harmonisierungsintensität, da diese Methode den Mitgliedstaaten hinsichtlich reiner Inlandssachverhalte einen großzügigen Spielraum für Abweichungen gestattet und lediglich das Niveau des Angleichungsrechtsaktes als verbindliches Schutzniveau vorgibt. Die Methode zielt damit auf die freie Verkehrsfähigkeit von Produkten innerhalb der Union.510 Dabei steht es dem nationalen Gesetzgeber frei, auch strengere Standards festzulegen.511 In Verbindung mit dem Begriff der optionellen Harmonisierung wird im Schrift160 tum häufig auch die fakultative Harmonisierung genannt.512 Diese Methode gilt als Spezialfall der optionellen Harmonisierung und ermöglicht Produzenten und Händlern, sich entweder an den harmonisierten Vorschriften des Unionsrechts oder am Standard der Vorschriften des Importstaates zu orientieren.513 Diese Option ist bereits durch die Richtlinie selbst vorgegeben und betrifft nicht den nationalen Spielraum bei ihrer Umsetzung, sondern eine den Produzenten und Händlern eröffnete Wahlmöglichkeit.514 Ein Beispiel stellt die Kodifizierung eines europäischen Ver-

_____ 505 Andermann S 107; König/Uwer/Obwexer S 60. 506 Pühs S 59. 507 Müller-Graff EuR 1989, 107 (111). 508 Weißbuch über die Vollendung des Binnenmarktes, KOM(85) 310, Ziff 68. 509 Wagner S 50. 510 Streinz ZfRV 1991, 357 (369). 511 Everling/Roth/Seidel S 39 (44 f); Streinz/Schröder Art 114 AEUV Rn 54. 512 Vgl dazu Nentwich S 224 f; Ludwigs S 110 ff; kritisch dazu Wagner S 52 f. 513 Nentwich S 226. 514 Kritisch dazu Wagner S 52 f, der einerseits angesichts des fehlenden hinreichenden begrifflichen Unterschieds und andererseits der ausschließlichen Qualifizierung der Mitgliedstaaten als Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

III. Rechtsangleichung | 969

tragsrechts dar. Hierbei handelt es sich um ein eigenständiges und einheitliches Regelwerk in Form einer Verordnung, für das sich Verbraucher und Unternehmer an Stelle des nationalen Vertragsrechts entscheiden können (Rn 132). Im Fall der Mindestharmonisierung, die auch als horizontale Harmonisierung 161 bezeichnet wird (Rn 157), normiert die Union Minimalstandards eines Regelungsregimes, die in die nationalen Rechtsordnungen übernommen werden müssen.515 Diese Harmonisierung beschränkt sich daher auf grundlegende und allgemeingültige Aspekte einer bestimmten Produktkategorie oder eines bestimmten binnenmarktrelevanten Politikbereichs. Dabei handelt es sich namentlich um technische Standards und gesundheits- oder verbraucherschützende Anforderungen. 516 Die gesetzgebenden Körperschaften der Mitgliedstaaten sind in ihren auf diesem Mindeststandard aufbauenden Entscheidungen nicht beschränkt, sondern können gegebenenfalls ein höheres Schutzniveau anordnen.517 Denn im Gegensatz zur optionellen Harmonisierung stehen bei der Mindestharmonisierung nicht ein unionales und ein nationales Konzept zur Auswahl, sondern es wird von der Union ein Mindeststandard vorgegeben, der zwar auf nationaler Ebene verschärft, aber nicht unterschritten werden darf. Diese Methoden der Harmonisierung können zudem noch nach ihrem Anwen- 162 dungsbereich klassifiziert werden. Ernst Steindorff hat in diesem Zusammenhang die terminologische Unterscheidung der aktiven und reaktiven Rechtsangleichung geprägt.518 In den Anwendungsbereich der aktiven Rechtsangleichung fallen die Maßnahmen der Union, die den Schutz bestimmter Gruppen oder Medien im Wege aktiver Gestaltung verfolgen.519 Dabei handelt es sich um Rechtsvorschriften, die unterschiedliche Schutzstandards in den entsprechenden Politikbereichen setzen und damit die Wettbewerbsbedingungen der Marktteilnehmer beeinflussen.520 Dagegen beinhaltet die reaktive Rechtsangleichung alle Harmonisierungsmaßnahmen zur Beseitigung von Hindernissen für die Verwirklichung der Grundfreiheiten. Auf die eingeschränkte Ausübung der Grundfreiheiten der Marktteilnehmer reagiert die Union durch Maßnahmen, die auf die ungehinderte Mobilität von Produkten und Produktionsfaktoren im gesamten Binnenmarkt abzielen.521 Um die Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts zu gewährleisten, ist es im Be- 163 reich der Grundfreiheiten notwendig, durch möglichst umfassende Vorgaben eine

_____ Adressaten einer Richtlinie, eine Einbindung der fakultativen Harmonisierung in den Kanon der Harmonisierungsmethoden ablehnt. 515 Ludwigs S 112; Streinz/Schröder Art 114 AEUV Rn 29; König/Uwer/Obwexer S 59 f. 516 Siehe etwa EuGH, Rs C-88/79 – Grunert, Rn 5 ff; Streinz Rn 973. 517 Eiden S 69. 518 Steindorff FIW Schriftenreihe 1992 (Nr 148), 11 (24); Furrer S 51 ff; Franzen S 108 f. 519 Steindorff FIW Schriftenreihe 1992 (Nr 148), 11 (24). 520 Franzen S 108. 521 Franzen S 108. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

970 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

Sperrwirkung (Rn 212) zu erzielen, während bei der Verwirklichung der Regulierungsziele der EU im Wege der aktiven Rechtsangleichung Minimalstandards genügen.522 Auf diese Weise wird der nationale Gestaltungsspielraum in Bereichen, die die Ausübung wirtschaftlicher Grundfreiheiten nicht tangieren, nicht mehr als nötig beeinträchtigt.

e) Rechtsangleichung im Spiegel der Ökonomischen Theorie 164 Die Verwirklichung des Binnenmarkts durch Grundfreiheiten, Rechtsangleichung und Wettbewerbsrecht ist Ausdruck der ökonomischen Integration im Raum der Union. Auch über 60 Jahre nach dem Abschluss der Römischen Verträge ist die „Präponderanz des Ökonomischen“523 in der Union ungebrochen. Mit dem Ziel, die Volkswirtschaften innerhalb eines Binnenmarkts zu einigen und ihre harmonische Entwicklung zu fördern, verfolgen die Mitgliedstaaten seit jeher eine auf die Prosperität der Völker ausgerichtete wirtschaftliche Integration.524 Die europäische Integration als historisches Friedensprojekt und die durch die Unionsverträge von Maastricht und Lissabon erfolgten Schritte zu einer Politischen Union – mit Gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik, einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sowie einer Wirtschafts- und Währungsunion – ändern nichts an dem Befund, dass die Union im Kern eine Wirtschaftsgemeinschaft (Rn 26) ist. Der Binnenmarkt bietet den Marktteilnehmern ein zur Verwirklichung ihrer 165 ökonomischen Freiheit geeignetes level playing field, das ihnen insb mittels des Wettbewerbsrechts (Art 101 ff AEUV) und der Grundfreiheiten (Art 28 ff, 45 ff, 49 ff, 56 ff, 63 ff AEUV) die Chance eröffnet, wirtschaftliche Tätigkeiten zu entfalten. Den Regelungen über den Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr sowie die Bekämpfung von Marktmissbrauch liegt das Konzept der ordoliberalen Schule zugrunde (Rn 13).525 Der Ordoliberalismus ist das Konzept einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung, in der ein durch den Staat geschaffener Ordnungsrahmen den ökonomischen Wettbewerb und die Freiheit der Bürger auf dem Markt gewährleisten soll.526 Im Modell des europäischen Binnenmarkts steuern klare wirtschaftsrechtliche Regeln die ökonomischen Prozesse mit dem Ziel einer optimalen Ressourcenallokation und größtmöglicher Wohlfahrt.527 Indessen besteht trotz der

_____ 522 Furrer S 183 ff. 523 Ruffert EnzEuR 5/Ruffert § 1 Rn 2. 524 Nicht eine permanente und institutionalisierte Unterstützung der weniger wohlhabenden durch die reicheren Mitgliedstaaten, sondern die Herstellung wirtschaftlicher Freiheit sollte herbeigeführt werden. Vgl Tomuschat LA Pierre Pescatore, 1987, S 729 (734). 525 Joerges Kritische Justiz 2010, 394 ff; Blanke/Mangiameli/Blanke The European Union after Lisbon S 370 f mwN. 526 Peters S 150. 527 Ruffert EnzEuR 5/Ruffert § 1 Rn 8. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

III. Rechtsangleichung | 971

Öffnung des Binnenmarkts durch die Grundfreiheiten und das Wettbewerbsrecht noch immer die Gefahr, dass der grenzüberschreitende Verkehr durch geschriebene und ungeschriebene Vorbehalte erschwert wird.528 Derartige beschränkende Regelungen können etwa aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung oder Sittlichkeit (zB Art 36, 45 III AEUV) durchaus berechtigt sein, bewirken allerdings negative Effekte für den zwischenstaatlichen Handel. Nationale Vorschriften haben indes auch Auswirkungen auf das individuelle 166 Verhalten der Marktteilnehmer, deren Interaktionen sich nach den Kosten und Erträgen des transnationalen Verkehrs richten. Erfolgt die Verteilung von Kosten und Erträgen ausschließlich zum Vorteil eines Akteurs, kommt die Interaktion nicht zustande.529 Je weniger die nationalen Rechtsordnungen Verzerrungen der Rahmenbedingungen des wirtschaftlichen Handelns bewirken, desto weniger lenkt von der eigentlichen Konkurrenzsituation zwischen den Unternehmen im Binnenmarkt ab. Vor diesem Hintergrund wird die Schaffung einheitlicher rechtlicher (Rahmen-)Regelungen in Teilbereichen der europäischen Integration als ein Gebot ökonomischer Vernunft angesehen.530 Die Diskussion über einen Ausweg aus dem Dilemma, das Ziel eines gut funk- 167 tionierenden Binnenmarkts trotz der hinderlichen Barrieren infolge nationaler Regulierungsspielräume zu erreichen, wird von zwei gegensätzlichen Methoden bestimmt: der Forderung nach einem forcierten Einsatz des Instruments der Rechtsangleichung, das die nationalen Regelungen im Rahmen einer „top-down“Strategie durch Unionsrechtsakte zunehmend harmonisieren soll, 531 steht der Vorschlag eines Wettbewerbs der Systeme gegenüber, der die Harmonisierung „bottom-up“ durch die gegenseitige Anerkennung nationaler Standards anstrebt.532 Dieser Systemwettbewerb, auch bekannt als „institutioneller Wettbewerb“, horizontaler Wettbewerb, 533 „regulatory“ oder „institutional competition“, 534 findet eine spezielle Ausprägung im Regulierungswettbewerb („state competition for corporate charters“), der sich als Folge des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung im Bin-

_____ 528 Grundlegend Steindorff ZHR 1994, 149. 529 Holzgräbe HFR 1999, 69 (70). 530 Vgl Schön Erster Europäischer Juristentag 2002, 143 (146); Neßler ZfRV 2000, 1 (2); maßvoll befürwortend auch Mehde S 340, der hierin „ein Mittel gegen eine wettbewerbsbedingte Absenkung der notwendigen Regulierungsstandards“ sieht. 531 So darf wohl die Mitteilung der Kommission „Europa 2020“, KOM(2010) 2020, S 25, verstanden werden, die „harmonisierte Regeln für Verbraucherverträge, EU-weite Modell-Vertragsklauseln und Vorarbeiten für ein fakultatives einheitliches europäisches Vertragsrecht“ vorschlägt, um Binnenmarkthindernisse zu überwinden. 532 Vgl Towfigh/Rehberg S 29 ff (33 ff); Bron S 123. 533 Giegerich VVDStRL 69 (2010), 57 (76 f). 534 Für einen Überblick über die verschiedenen terminologischen Formen vgl Kieninger S 9. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

972 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

nenmarkt beobachten lässt.535 Die neuere ökonomische Literatur favorisiert mit dem Gedanken des Systemwettbewerbs ganz überwiegend die Pluralität von Rechtsordnungen.536 Einen „Königsweg“ sieht das rechtswissenschaftliche Schrifttum hierin nicht, immerhin aber „eine der Annäherungsmöglichkeiten, die Entscheidungsträger bei ihrer Rechtsetzung und Rechtsanwendung in kritischer Aufgeschlossenheit einkalkulieren sollten.“537 Auf den Wettbewerb der Rechtsordnungen lassen sich hiernach die Grundsätze 168 des Wettbewerbs von Produkten übertragen. Die Teilrechtsordnungen stehen als Anbieter in einem horizontalen Regulierungswettbewerb und fungieren darin zugleich selbst als Nachfrager. An die Stelle der Nachfrage nach bestimmten Gütern tritt die Nachfrage nach bestimmten Rechtsnormen verschiedener Herkunft durch natürliche und juristische Personen. Staaten als „Anbieter“ der Rechtsnormen können auf die Nachfrage nach ihren „gesetzgeberischen Produkten“ durch eine Veränderung ihres Angebots reagieren.538 Die Ansätze von Joseph Schumpeter539 und Friedrich von Hayek,540 die Wettbewerb als einen Prozess definieren, in dem rivalisierende Konkurrenten ständig auf der Suche nach besseren Lösungen für die Probleme ihrer Kunden sind, gelten analog auch für den Systemwettbewerb.541 Danach stehen die Mitgliedstaaten untereinander in einem „regulatorischen Wettbewerb“ um die besten Regelungen.542 Die Gesetzgebung richtet sich an rationalen Marktprozessen aus und führt zu effizienten Ergebnissen.543 Insofern kann der institutionelle Wettbewerb dazu beitragen, „verkrustete“ Systeme aufzubrechen und kann so zu neuen, überlegenen Regelungen führen.544 Effiziente Regelungen können dabei sowohl zwischen den einzelnen Staaten auf horizontaler Ebene als auch im Vertikalverhältnis (sog vertikaler Wettbewerb) zwischen den Mitgliedstaaten und der Metaebene – wie die Gesellschaftsform der Europäischen Gesellschaft zeigt – entstehen.545 Auf der anderen Seite erlaubt der Wettbewerb Unternehmern wie auch Verbrauchern, eine physische Exit-Option hin zu einer ihnen „genehmeren“

_____ 535 Vgl Pitsoulis S 230; Streit FS Mestmäcker, 1996, S 521 ff; zum Rechtsföderalismus und Rechtspluralismus vgl Peters sowie Giegerich VVDStRL 69 (2010), 7 (15 ff) bzw 57 (75 ff). Eingehend dazu auch Korte S 26 ff. 536 Nachweise bei Hopt ZHR 1997, 368 (382); Hauser AuWi 1993, 459 ff; Riesenhuber/Takayama/ Franck S 47 (47). 537 Giegerich VVDStRL 69 (2010), 57 (99). 538 Kieninger S 11; Bron S 122; Korte S 48 ff. 539 Schumpeter Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Nachdruck der 1. Auflage von 1912, 2006. 540 vHayek New studies, S 179 ff. 541 So auch Kerber Fordham International Law Journal 1999, 217 (224). 542 Riesenhuber S 187. 543 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje Art 114 AEUV Rn 28; Bron S 124; Mock GLJ 2002, 216 f. 544 Streit Zeitschrift für Wirtschaftspolitik 1995, 113 ff. 545 Peters VVDStRL 69 (2010), 7 (15 ff); Giegerich VVDStRL 69 (2010), 57 (78 f). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

III. Rechtsangleichung | 973

Rechtsordnung auszuüben (Rn 172). Die supranational garantierte Freiheit von Waren, Arbeitnehmern und Selbstständigen, Dienstleistungen sowie Kapital hat nicht nur zu einem Wettbewerb der europäischen Produktionsstandorte, sondern von Anfang an auch zu einem Wettbewerb der politischen und kollektivvertraglichen Regelungssysteme geführt.546 Zu unterscheiden ist zwischen der bloßen Dezentralität der Rechtsetzung (erste Stufe), dem Ideenwettbewerb, bei dem zusätzlich ein Informationsaustausch über unterschiedliche rechtliche Lösungen stattfindet (zweite Stufe), der Wahl ausländischer Institutionen seitens der Rechtsunterworfenen entweder durch Rechtswahlfreiheit oder durch die Möglichkeit physischer Abwanderung (dritte Stufe) sowie den Reaktionen des Gesetzgebers als Anbieter von Institutionen (vierte Stufe).547 Ausgelöst wird der institutionelle Wettbewerb von Seiten der Nachfrager durch 169 die Wahl eines Standortes oder eines bestimmten Rechtsregeln entsprechenden Produkts.548 Sie haben die Möglichkeit, „zwischen unterschiedlichen institutionellen Arrangements“ zu wählen.549 Indem beispielsweise Unternehmen als Nachfrager nach einem geringen Steuersatz für Körperschaften auftreten und dorthin abwandern, wo dieser am niedrigsten ist, haben die nationalen Legislativen den ökonomischen Anreiz, durch gesetzgeberische Maßnahmen die Unternehmen an ihrem Standort zu halten.550 Diese Form des institutionellen Wettbewerbs wird auch als Standortwettbewerb bezeichnet.551 Unter Allokationsgesichtspunkten liegt darin die Basis für einen effizienten Binnenmarkt, wenn es die Mitgliedstaaten vermeiden, in einen ruinösen Wettbewerb, einen race to the bottom (Rn 173) – auch mit negativen Wirkungen für die eigene nationale Haushaltskonsolidierung – einzutreten. Die um das Real- und Finanzkapital der Marktteilnehmer im Wettbewerb stehenden Staaten erhalten bei maßvollem Einsatz des Instruments einen Anreiz, die gemäß den Präferenzen ihrer Bürger optimale Menge an öffentlichen Gütern bereitzustellen. In der nationalen politischen Debatte wird allerdings gerade ein Wettbewerb der Steuerrechtsordnungen unter Hinweis auf die Staatsschulden- und Wirtschaftskrise kritisiert und eine einheitliche Bemessungsgrundlage der Besteuerung auf der Ebene der Union gefordert.552 Um sie festzulegen, fehlt es der Union indes an der Zuständigkeit (Rn 188 ff). So beschränkt sich die Kommission auf Vorschläge, die die

_____ 546 Hrbek/Scharpf Politische Union S 99 ff. 547 Vgl Kieninger S 8 ff. 548 Dreher JZ 1999, 105 (108 f). 549 Streit FS Mestmäcker, 1996, S 521 (525); Schön ASA Archives 2002/2003, 337 (342). 550 Riesenhuber S 187; Schön ASA Archives 2002/2003, 337 (343). 551 Koenig EuZW 1998, 513; M Müller S 23 f; Lohse S 150 f. 552 Vgl zu diesen Forderungen von S Gabriel den Bericht der FAZ v 22.8.2013: „Gabriel will Euro-Hilfen an einheitliche Steuern knüpfen“. Zum umstrittenen Begriff des Wettbewerbs der Steuerrechtsordnungen in der EU vgl Blanke/Scherzberg/Wegner/Reimer S 369 ff, sowie Blanke/ Scherzberg/Wegner/Seiler S 393 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Mitgliedstaaten – vor dem Hintergrund dieser Krise – dazu veranlassen sollen, ihre Steuerpolitik zu koordinieren, um damit Wettbewerbsgleichheit zu schaffen. Damit sollen der Faktor Arbeit steuerlich entlastet und stattdessen eine weniger nachteilige Besteuerung – namentlich in Form von Verbrauchs-, Umwelt- oder Eigentumssteuern – eingeführt, die Steuerbasis erweitert, die Effizienz der Steuerverwaltung der Mitgliedstaaten verbessert und die Zusammenarbeit der nationalen Steuerbehörden gefördert werden.553 Als Indikator für die Präferenzen der Marktteilnehmer gilt das voting by feet.554 170 Dabei handelt es sich um eine 1956 von dem Ökonomen Charles Tiebout entwickelte Analyse fiskalischen Wettbewerbs um öffentliche Güter. Nach Tiebout stimmen die Individuen über ihren jeweiligen Lebensort „mit den Füßen“ ab, dh sie ziehen an den Ort, der ihnen hinsichtlich ihrer individuellen Präferenzen optimale Lebensbedingungen bietet. Mit der Entscheidung für eine bestimmte Gemeinde bringen die consumer-voters ihre tatsächliche Präferenz für ein bestimmtes öffentliches Gut zum Ausdruck.555 Die Wanderungen der Individuen führen im Gleichgewicht zu einer pareto-effizienten Situation einer Vielzahl von Gemeinden, die sich hinsichtlich des Niveaus der Bereitstellung öffentlicher Güter und der Steuerbelastung voneinander unterscheiden.556 Bei seinem Modell geht Tiebout im Wesentlichen von fünf Grundannahmen aus: (1.) vollständige Mobilität der Konsumenten-Wähler, (2.) umfassende Information über die vorhandenen öffentlichen Güter in den verschiedenen Gemeinden, (3.) eine große Anzahl wählbarer Gemeinden, (4.) keine Restriktionen bei der Wohnsitzwahl, (5.) die angebotenen Leistungen produzieren keine externen Effekte.557 Dieser in den 70er Jahren unter dem Begriff des Fiskalföderalismus558 bekannt 171 gewordene institutionelle Wettbewerb untersucht, wie eine optimale hierarchische Mehr-Ebenen-Struktur von Jurisdiktionen auszusehen hat.559 Danach treten Jurisdiktionen faktisch als Unternehmer auf, die mit anderen Jurisdiktionen, also anderen „Anbietern“ von Normen, im Wettbewerb stehen. Die hinter den Jurisdiktionen stehenden Regierungen und Legislativen sind vergleichbar mit einem Management, das die Entscheidungen im Sinne des Unternehmens trifft.560 Das angefertigte Produkt ist letztendlich eine Steuer oder eine Regelung, die mit den „Produkten“ ande-

_____ 553 „Der Pakt für Wachstum und Beschäftigung: Ein Jahr danach“ (Juni 2013), S 5; so auch der Jahreswachstumsbericht 2014 der Kommission, COM(2013) 800 final, S 10. 554 Tiebout The Journal of Political Economy 1956, 416 ff. 555 Tiebout The Journal of Political Economy 1956, 416 (420). 556 Tiebout The Journal of Political Economy 1956, 416 (419). Vgl dazu auch Hauser/Hösli Außenwirtschaft 1991, 497 (503 ff). 557 Tiebout The Journal of Political Economy 1956, 416 (419). 558 Vgl grundlegend Oates Chapters 1 & 2. 559 Kerber Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie 17 (1998), 199 (206). 560 Kerber Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie 17 (1998), 199 (201). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

III. Rechtsangleichung | 975

rer Jurisdiktionen konkurriert. Als Hauptanwendungsfelder treten das Steuerrecht, das Umweltschutzrecht und das Recht der Produktvorschriften in Erscheinung.561 Der Wettbewerb unter den Rechtsordnungen ermöglicht die Anpassung von 172 Produkten und Dienstleistungen an sich verändernde äußere Umstände, treibt den technischen Fortschritt voran (Innovation) und dient der Befriedigung individuell unterschiedlicher Konsumwünsche (Wahlfreiheitsfunktion). Friedrich von Hayeks Vorstellung vom „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“562 ist auch auf den institutionellen Wettbewerb anwendbar. Im Gegensatz zu einer Rechtsangleichung durch die zentrale Ebene (Europäische Union), die im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens unter Einbindung von Rat und Europäischem Parlament erst zeitverzögert zu einer Entscheidung gelangt, können die kleineren nationalen Einheiten kostengünstiger und schneller in der Lage sein, auf sich verändernde Rahmenbedingungen zu reagieren (Rn 235 ff).563 Allerdings ist die Reaktion des Gesetzgebers auf die Wahl des Unternehmers ausschlaggebend, um von einem tatsächlichen Wettbewerb zu sprechen. Wandern Unternehmen lediglich ab bzw entscheiden sie sich für eine andere Rechtsordnung (Exit-Option), ohne dass der Mitgliedstaat darauf legislativ reagiert, ist entgegen der Auffassung in Rechtsprechung564 und Schrifttum565 kein Wettbewerb gegeben.566 Das Konzept eines Wettbewerbs der Systeme ist indes ebenfalls umstritten.567 So 173 wird die Theorie des fiskalischen Föderalismus mit dem Hinweis kritisiert, dass die dem Tiebout-Modell entnommenen Grundannahmen unrealistisch seien und insb Informationsdefizite, Transaktionskosten, externe Effekte und die Mobilität der Nachfrager vernachlässigten.568 Im Zuge der ihn kennzeichnenden Deregulierung droht eine Abwärtsspirale,569 die bei abgesenkten Schutzstandards zu extern verursachten negativen Folgen für Umwelt und Gesundheit sowie zu systematischen Informationsasymmetrien führen kann.570 Verwiesen wird auch auf die mit

_____ 561 Kieninger S 28. 562 vHayek Freiburger Studien S 249. 563 Kieninger S 28; Grundmann/Kerber S 67 (68). 564 GA La Pergola, Rs C-212/97 – Centros, Slg 1999, 1459 (1479): „Solange eine Harmonisierung fehlt, muß letztlich der Wettbewerb zwischen den normativen Systemen („competition among rules“) unbehindert zum Zug kommen, selbst im Recht der Handelsgesellschaften.“ 565 Blaurock ZEuP 1998, 460 (462 f). 566 Kieninger S 17. 567 Bratton/McCahery Georgetown Law Journal 1997, 201 (219 ff). 568 Bratton/McCahery Georgetown Law Journal 1997, 201 (225 ff). 569 Im Schriftum wird in diesem Zusammenhang auf den sog „Delaware-Effekt“ hingewiesen, benannt nach der amerikanischen Kleinstadt Delaware, in der die Deregulierung ihres Gesellschaftsrechts zu einer hohen Konzentration der Gesellschaften geführt hat. Gegenstand der Deregulierung waren Regelungen zur Gründung und Verlegung von Gesellschaften, die in Einzelfällen eine Benachteiligung von Gläubigern und Minderheitsaktionären nach sich zog. Vgl dazu Kern S 45 f. 570 Kieninger S 48 f; Riesenhuber/Takayama/Franck S 47 (52); Kern S 44. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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einem zunehmenden institutionellen Wettbewerb verbundene Gefahr einer gravierenden Beschränkung der staatlichen Handelspolitik, in deren Folge der Staat wesentliche Aufgaben nicht mehr in adäquater Weise erfüllen kann.571 Insgesamt birgt dieser Wettbewerb die Gefahr eines Marktversagens,572 das sich exemplarisch in einer Unterversorgung mit öffentlichen Gütern äußert.573 Ein Marktversagen stellt seinerseits den eigentlichen Grund für staatliche Markteingriffe dar: Erkennen die politischen Akteure die Gefahren des ruinösen Wettbewerbs, kann sich der Systemwettbewerb um mobile Faktoren dann in sein Gegenteil verkehren und zu einem hastigen Umsteuern in Form von Regulierungen, letztlich sogar zu protektionistischen Maßnahmen führen.574 Allerdings liegen keinerlei empirische Belege für das tatsächliche Eintreten in einen solchen race to the bottom vor.575 Die ökonomische Analyse soll Auskunft geben, welche Methode zur Herstellung 174 des Binnenmarkts vorzugswürdig ist. Wieviel Harmonisierung ist aus allokationstheoretischer Sicht erforderlich, um die von Land zu Land verschiedenen Regelungen zur Gewährleistung eines funktionsfähigen Binnenmarkts anzupassen? Als Maßstab für die Bewertung der Vorteilhaftigkeit einer Maßnahme ist eine KostenNutzen-Analyse aus Sicht der Marktteilnehmer vorzunehmen. Die Interaktionen der Marktteilnehmer sind von dem Streben des Einzelnen nach einer Erhöhung des individuellen Nutzens gekennzeichnet.576 Als homo oeconomicus versucht der Einzelne stets, die Befriedigung seiner Bedürfnisse zu optimieren, indem er unter Einsatz möglichst weniger Ressourcen ein Höchstmaß der erzeugten knappen Güter erhält.577 Eine Angleichung des Rechts kann zu einer erheblichen Vereinfachung der In175 teraktionen im Binnenmarkt führen. Denn die heterogenen nationalen Regelungen stellen eine Quelle erheblicher Rechtsunsicherheit der Marktteilnehmer bei grenzüberschreitenden Interaktionen dar. Die Kenntnis dieser Unterschiede im Herstellungs- und im Zielland durch Information ist eine Voraussetzung für ökonomisch rationale Entscheidungen. Der Austausch von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital wird insoweit bereits durch die teilweise komplexen, teilweise widersprüchlichen sowie lückenhaften Vorschriften und auslegungsbedürftigen Rechtsbegriffe des Ziellandes erschwert, das seine nationalen Rechtsvorschriften in der

_____ 571 Sinn Austrian Economic Papers 1990, 3 (5 ff). 572 Grundlegend dazu Bator The quarterly journal of economics 72 (1958), 351 ff. 573 Dazu auch Grundmann/Kerber S 67 (81) mwN. 574 Dreher JZ 1999, S 105 (109 f). 575 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje Art 114 AEUV Rn 30; Mock GLJ 2002, 216 f; Korte S 40 f. 576 Becker S 4. 577 Kirchgässner S 46 ff. Im sog „Ökonomischen Prinzip“ findet das rationale Handeln des homo oeconomicus seinen Ausdruck. Das ökonomische Prinzip stellt einen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Gütern und Mitteleinsatz her und differenziert vor diesem Hintergrund zwischen dem Maximal- und Minimalprinzip, vgl dazu Müller-Merbach S 1–8. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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jeweiligen Amtssprache veröffentlicht.578 Dies alles macht Transaktionen aufwendiger, vor allem da es unverhältnismäßig hohe Kosten erzeugt.579 Rechtssicherheit und Kosteneffizienz scheinen mithin vor allem durch eine vereinheitlichende Regulierung erreichbar zu sein, die die Vorhersehbarkeit sowie die einheitliche Anwendung des Rechts sicherstellt und in der Rechtsgemeinschaft weitgehend auf Akzeptanz stößt.580 Die durch divergierende Regelungen verursachte Rechtsunsicherheit führt hin- 176 gegen zu steigenden Transaktionskosten und damit Wohlfahrtsverlusten der Marktteilnehmer. Transaktionskosten sind die Kosten der Anbahnung, des Abschlusses, der Kontrolle und der Durchsetzung von Tauschvorgängen,581 die maßgeblich durch die staatlichen Rechtsordnungen beeinflusst werden.582 Unterschiedliche Regelungen führen zu steigenden Informationskosten, welche durch die Akteure aufzuwenden sind, um für einen Vertragsabschluss genügend informiert zu sein. Informationsdefizite bergen bei grenzüberschreitenden Transaktionen ceteris paribus Risiken, die Ineffizienzen nach sich ziehen.583 Ob die infolge – oftmals aufwendig – eingeholter Informationen eingetretenen Kooperationsgewinne die zusätzlichen Transaktionskosten für die Informationsbeschaffung kompensieren, kann nicht pauschal beurteilt werden.584 Neben erhöhten Transaktionskosten ziehen unterschiedliche Rahmenordnun- 177 gen auch zusätzliche Kosten in der Herstellung eines Produkts nach sich. Gelten in verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedliche Regelungen und Standards im Hinblick auf die Herstellung und Vermarktung eines Produkts, müssen die Produzenten zusätzliche, kostenwirksame Produktionsverfahren einführen, um über die Grenzen der nationalen Volkswirtschaft hinaus zu agieren.585 Hohe Kosten können einen Produzenten daher von grenzüberschreitenden Interaktionen abhalten.

_____ 578 Zum Problem der Handhabung der Sprachenvielfalt im Binnenmarkt am Beispiel der Patentvorschriften vgl Schmalenberg S 144. 579 Ott/Schäfer/Kerber/Heine S 167 (178). 580 Jansen S 13. 581 Der Transaktionskostenansatz basiert auf den Überlegungen von Coase Economica 1937, 386– 405. Transaktionskosten haben häufig den Charakter von Opportunitätskosten. Dabei handelt es sich um die Abweichung des Nutzens der verwirklichten Alternative von dem Nutzen der besten dadurch verworfenen Alternative. Vgl dazu Buchanan S 85. 582 Holzgräbe HFR 1999, 69 (72). 583 Schäfer/Ott S 80. 584 Freyhold/Gessner/Vial/Wagner Cost of Judical Barriers for Consumers in the Single Market. A report for the European Commission, 1995, abrufbar unter: http://aei.pitt.edu/id/eprint/37274, verweisen auf eine Studie der Europäischen Kommission aus dem Jahr 1995, welche belegt, dass die vorhandenen Strukturen für die grenzüberschreitende Streitbeilegung alles andere als vertrauenswürdig, leicht zugänglich und wirksam sind und für den Verbraucher unmittelbare Kosten nach sich ziehen. 585 Grundmann/Kerber S 67 (85). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

978 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

178

Vor diesem Hintergrund können unterschiedliche Regelungen in den nationalen Rechtsordnungen wiederum zu Wettbewerbsverzerrungen führen, die dem in Art 3 III EUV formulierten Ziel einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen Marktwirtschaft zuwiderlaufen.586 Die spezifischen Verzerrungen stellen nach überwiegender Ansicht587 eine Gefahr für das Funktionieren des Binnenmarkts dar. Sie bewirken einen Wettbewerbsvorteil und zugleich einen Wettbewerbsnachteil in einem Wirtschaftszweig der in verschiedenen Mitgliedstaaten agierenden Unternehmen. Im Interesse positiver Gemeinwohlergebnisse muss der Wettbewerb der Rechtsordnungen daher reguliert werden. Dies ist die Aufgabe einer den Wettbewerbern übergeordneten Meta-Rechtsordnung, die auch festlegt, wieviel Regulierungswettbewerb gewagt werden soll.588 Die wichtigsten europarechtlichen Grenzen des horizontalen Regulierungswettbewerbs ergeben sich aus den Vorgaben der Verträge – namentlich den Grundfreiheiten und dem Beihilfeverbot – sowie aus den Richtlinien zur Rechtsangleichung. Ihre Effektivität beruht auf dem Vorrang des Unionsrechts und der Aufgabe des EuGH, bei der Auslegung und Anwendung der Verträge „die Wahrung des Rechts“ zu sichern (Art 19 I UAbs 1 S 2 EUV). Seine Rechtsprechung hat sich als das wirksamste Instrument erwiesen, um einer unterschiedlichen Entwicklung des angeglichenen Rechts entgegenzuwirken.589 Der Erfolg der begrenzenden Regelungen des Regulierungswettbewerbs im Bin179 nenmarkt hängt in hohem Maße von der Intensität der harmonisierenden Maßnahmen ab. Denn angesichts der Dynamik des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umfelds in den einzelnen Mitgliedstaaten entstehen bei einer vereinheitlichenden Überregulierung auf der Meta-Ebene Friktionen, die die Vorteile der Rechtsangleichung konterkarieren können. Namentlich der kompromisshafte Charakter eines von Rat und Parlament nach Art 114 AEUV erlassenen Harmonisierungsrechtsakts gibt dazu Anlass, die europäische Rechtsangleichung als Integrationsmethode auf den Prüfstand zu stellen. Die von den europäischen Institutionen ausgehandelten Gesetzesentwürfe stellen in der Regel das Ergebnis eines gegenseitigen Nachgebens auf der Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners dar.590 Dies garantiert jedoch nicht, dass die Einheitsregelung für die Funktionsfähigkeit

_____ 586 Unter Zugrundelegung des Spaak-Berichts aus dem Jahr 1956 können Verzerrungen sowohl allgemeiner Art sein und auf unterschiedlichen Belastungen der nationalen Rechtsordnung beruhen (Steuern und Sozialabgaben) als auch einen spezifischen Charakter haben und Verzerrungen hervorrufen, die lediglich bestimmte Industrie- und Wirtschaftszweige belasten oder begünstigen. Vgl Spaak-Bericht: Bericht der Delegationsleiter des von der Konferenz von Messina eingesetzten Regierungsausschusses an die Außenminister v 21.4.1956, Titel II, Kapitel 4, Abschnitt 1, abgedruckt bei Schwarz S 277 (303). 587 Aubin FS Riese, 1964, S 245 (251 f); Ihns S 135. 588 Giegerich VVDStRL 69 (2010), 57 (81 ff); Peters VVDStRL 69 (2010), 7 (39 ff; 48 ff). 589 Korinek/Rill/Everling, S 98 f. 590 Riesenhuber/Takayama/Franck S 47 (52). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

III. Rechtsangleichung | 979

des Binnenmarkts dienlicher ist als die vorherigen divergierenden Normen der Mitgliedstaaten. Auch ein „Best Practice“-Ansatz, wonach diejenige nationale Regelung europaweit eingeführt wird, die sich am besten bewährt hat, ist wegen der Unsicherheit über die Vergleichbarkeit der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Mitgliedstaaten dafür anfällig, den Erfolg einer Harmonisierung zu vereiteln.591 Denn unterschiedliche Konditionen können zu unterschiedlichen Wirkungen führen. Zudem kann die Fähigkeit zur Lösung von sowohl temporär als auch lokal auftretenden gesellschaftlichen Problemen einer statischen und einheitlichen Rechtsordnung nicht a priori attestiert werden. Vielmehr kann es einer „von oben“ gesteuerten Harmonisierung gerade an der notwendigen Flexibilität fehlen, um effektiv auf kurzfristige und national begrenzte Veränderungen zu reagieren. Dem Unionsgesetzgeber droht mithin infolge einer unionsweiten Harmonisierung die Gefahr einer Versteinerung592 und damit das Unvermögen, auf zeitlich und regional begrenzte Phänomene angemessen zu reagieren.593 Denn Maßnahmen der Rechtsangleichung determinieren die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten so stark, dass eine im Einzelfall erforderliche Änderung zumindest erheblich erschwert wird.594 Ein weiterer Nachteil der Rechtsangleichung liegt in den räumlich unterschied- 180 lichen Präferenzen der Bevölkerung, die unter einem angeglichenen Recht weniger effiziente Problemlösungen generieren können. Denn die detailgenaue Rechtsangleichung, die zunehmend Tendenzen zu einer Rechtsvereinheitlichung aufweist (Europäisches Kaufrecht, Europäisches Gesellschaftsrecht), hemmt auch die Innovationsfähigkeit des nationalen und regionalen Rechts, dessen Schöpfer in dezentralen Systemen bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen eher zum Experimentieren, Ausprobieren und Testen neigt.595 Damit wird die Chance vergeben, das Binnenmarktziel auf verschiedenen Wegen in belebender Konkurrenz zu verfolgen. Rechtsangleichung dieser Intensität verschleiert den Befund, dass im europäischen Markt außer den Anbietern der Produkte immer auch die staatlichen Regulierungssysteme in Wettbewerb miteinander treten.596 Angesichts der fehlenden empirischen Belege für die Risiken des institutionel- 181 len Wettbewerbs sowie seiner unabweisbaren Vorteile, wie beispielsweise das Aufzeigen von Regelungslücken oder der Anstoß von Gesetzesreformen, ist ein legislatorischer Wettbewerb kein der Rechtsangleichung von vornherein unterlegenes Modell. Vielmehr eröffnet ein solcher Wettbewerb den mitgliedstaatlichen

_____ 591 592 593 594 595 596

Donges/Freytag S 374. Vor dem Hintergrund der Rechtsvereinheitlichung vgl Behrens RabelsZ 50 (1986), 19 (26 ff). Riesenhuber S 185. Bron S 125. Grundmann/Kerber S 67 (85 f). Nörr/Starbatty/Mestmäcker S 129 (142); Blanke/Scherzberg/Wegner/Blanke/Thumfart S 1 (24 ff).

Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

980 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

Rechtsordnungen in der EU die Chance, nationale Rechtsregeln an rationalen Marktprozessen zu orientieren und dadurch effektiver zu gestalten. Zugleich eröffnen sich Unternehmen und Verbrauchern als Nachfragern komparative Kostenvorteile angesichts niedriger Opportunitätskosten. Die damit verbundenen Perspektiven für den Binnenmarkt hat auch der EuGH erkannt.597 Ein Wettbewerb der Systeme schließt somit weder die Anwendung des Instru182 ments der Rechtsangleichung aus, noch stehen die beiden Methoden in einem hierarchischen Verhältnis zueinander.598 In einer Gesamtbilanz empfiehlt sich vielmehr als Handlungsanleitung eine parallele Anwendung beider Methoden seitens der EU. Dabei sichern die Grundfreiheiten und das Wettbewerbsrecht einen institutionellen Wettbewerb zwischen den Rechtsordnungen, die durch eine Reihe von Kompetenznormen der Verträge hin zur Angleichung der Rechtsvorschriften balanciert werden (Rn 137 ff). Der Erfolg dieser Kombination hängt wesentlich von der Dosierung der Rechtsangleichung ab. So können durch eine Mindestharmonisierung (Rn 161) Grundstandards unionsweit normiert werden, in deren Rahmen sich ein Wettbewerb zwischen Staaten und Rechtsordnungen entfalten kann599 und die zugleich verhindern, dass der institutionelle Wettbewerb am Marktversagen scheitert.600 Ein Wettbewerb der nationalen Regulierungssysteme manifestiert sich in einem 183 Bestand unterschiedlicher, aber angemessener Regelwerke in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Richtungsweisend hat der EuGH in der Rechtssache Dassonville festgestellt, dass das Verbot von Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen (Art 34, 36 AEUV) nicht nur Ausländerdiskriminierung untersagt, sondern auch unterschiedslos auf aus- und inländische Waren anwendbare Rechtsvorschriften, soweit sie den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beschränken (Rn 306 f). Damit beinhaltet die Warenverkehrsfreiheit nicht nur das Prinzip des Herkunftslands, wonach allein das Recht des Ursprungs der Ware anzuwenden ist, sondern auch den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der besagt, dass das Recht des Herkunftslandes vom Bestimmungsland zu respektieren ist. Wenn somit die Warenverkehrsfreiheit dazu führt, dass ein mitgliedstaatliches Einfuhrverbot unanwendbar ist, erhöhen sich die Wahlmöglichkeiten der Nachfrager in diesem Mitgliedstaat. Im Februar 1979 hat der Gerichtshof sodann in der Entscheidung in der Rechtsache Cassis de Dijon den – ausdrücklich nicht von ihm genannten – Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung dahingehend konkretisiert, dass Waren oder Dienstleistungen, die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht wurden, in die anderen Mitgliedstaaten eingeführt werden dürfen, ohne die Prüf- und Zulassungsverfahren des Ziellands durch-

_____ 597 598 599 600

EuGH, Rs C-212/97 – Centros, Rn 26, 27, 30. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje Art 114 AEUV Rn 31. Weißbuch über die Vollendung des Binnenmarktes, KOM(85) 310, Ziff 61 ff. Grundmann/Kerber S 67 (84, 87). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

III. Rechtsangleichung | 981

laufen zu müssen (Rn 115 f).601 Durch diese und weitere Entscheidungen wuchs der Gerichtshof immer mehr in die ihm eigentlich nicht zustehende Rolle eines Kontrolleurs des internen nationalen Wirtschaftsrechts.602

2. Rechtsangleichung als Instrument der Binnenmarktangleichung a) Harmonisierung technischer Normen Die Rechtsangleichungsmaßnahmen der EU konzentrierten sich in den Anfangsjah- 184 ren des Integrationsprozesses auf die Errichtung des Gemeinsamen Marktes durch die Beseitigung von Wettbewerbshindernissen und den Abbau von Hindernissen für den freien Warenverkehr.603 In den späten 1960er Jahren rückten in der Rechtsangleichungspolitik der Union insb die technischen Handelshemmnisse in den Mittelpunkt. Dabei handelt es sich um Hemmnisse, die die Herstellung, den Import und das Inverkehrbringen oder die Verwendung eines Erzeugnisses von bestimmten sicherheitsspezifischen Anforderungen gemäß den mitgliedstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften abhängig machen.604 Beschlossen wurde ihre Abschaffung in einem vom Rat am 28. Mai 1969 verabschiedeten Allgemeinen Programm „zur Beseitigung der technischen Hemmnisse im Warenverkehr, die sich aus den Unterschieden in den Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten ergeben“.605 Umfassende Detailregelungen in Form von Richtlinien zur Beseitigung der Handelshemmnisse prägten die Harmonisierungspolitik in den Folgejahren.606 Hierbei war die Idee leitend, ein europäisches Normenwerk zu schaffen, um nicht nur bestehende Handelshemmnisse abzubauen, sondern über ein „Verständigungsmittel“, also eine europäische Norm, im Gemeinsamen Markt zu verfügen, unabhängig vom Sitz der jeweiligen Handelspartner.607 Vor dem Hintergrund der zeitaufwendigen Verfahren zum Erlass der Harmoni- 185 sierungsregelungen608 erarbeitete die Europäische Kommission 1985 eine „Neue Konzeption für die technische Harmonisierung und Normung“, die grundlegende Sicherheitsanforderungen für verbindlich erklärte.609 Der neuen Konzeption lag die bereits im Jahre 1973 erlassene EG-Niederspannungsrichtlinie610 zugrunde, die an

_____ 601 EuGH, Rs 120/78 – Cassis de Dijon, Rn 8. 602 Everling ZLR 1994, 221 (223); Joliet GRUR Int 1994, 979 (984). 603 Everling LA Pierre Pescatore, 1987, S 227 (231). 604 Breulmann S 19, Schmeder S 69 ff; Ludwigs S 61 mwN. 605 ABl 1969 C 76/1. 606 Rönck S 73 f. 607 Müller-Graff/Winckler S 79 (83); Breulmann S 30. 608 Klindt EuZW 2002, 133 (133 f). 609 Entschließung des Rates v 7.5.1985 über eine neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und der Normung, Anhang II, Spstr 1, ABl 1985 C 136/1. 610 RL 73/23, ABl 1973 L 77/29. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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die Stelle von umfassenden Detailregelungen eine zielorientierte, technisch-abstrakte Beschreibung der sicherheitstechnischen Anforderungen an Elektrogeräte unter Gesichtspunkten des Verbraucherschutzes setzte.611 Für die Formulierung, Herausgabe und Anwendung dieser technischen Regelwerke wurde erstmals der Sachverstand technischer Normenorganisationen eingeholt. Die „Neue Konzeption“ verstetigt dieses Verfahren, indem die Konkretisierung dieser Standards den europäischen Normenorganisationen, etwa CEN,612 CENELEC613 oder ETSI614, übertragen wurde. Hierbei handelt es sich um privatrechtlich organisierte Körperschaften. 615 Sie erarbeiten im Auftrag der Europäischen Kommission technische Detailregelungen, die anschließend im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht werden.616 Der Regelungsgehalt der technischen Normung beschränkt sich auf die Vor186 gabe eines Sicherheitsziels oder entsprechender Ergebnisse. Diese Normung ist nicht verbindlich (obligatorisch); ihre Verwendung begründet die Vermutung, dass die Produzenten ihr Produkt unter Einhaltung der Vorgaben der jeweiligen Richtlinien hergestellt haben.617 Der Hersteller erklärt durch das Anbringen der CEKennzeichnung gegenüber den Marktüberwachungsbehörden, die geforderten Sicherheitsbestimmungen beachtet zu haben.618 Die CE-Kennzeichnung ist ein Verwaltungszeichen, das die Freiverkehrsfähigkeit entsprechend gekennzeichneter Industrieerzeugnisse im Europäischen Binnenmarkt bescheinigt.619 Mit den einheitlichen europäischen Sicherheitsanforderungen verfolgt die 187 Union eine Reihe von Zielen. Dazu gehört insb die Beachtung der berechtigten Interessen der Allgemeinheit, namentlich der Gefahren-, Umwelt- und Verbraucherschutz, die Kompatibilität und Austauschbarkeit von Produkten, die Verwendung eindeutiger, auf gegenseitiger Anerkennung beruhender Prüfkriterien sowie die Verpflichtung, Kosten zu reduzieren, die öffentlichen Beschaffungsmärkte zu öffnen und einen breiten Heimatmarkt als Basis für das Auftreten auf dem Weltmarkt zu schaffen.620 Im Interesse dieser Ziele hat die EU seit 1985 eine Vielzahl

_____ 611 Klindt EuZW 2002, 133 (134); Griller S 19 ff. 612 Comité Européen de Normalisation. 613 Comité Européen de Normalisation Electrotechnique. 614 European Telecommunications Standards Institute. 615 Zu Aufbau und Arbeitsweise der europäischen Normenorganisationen vgl Breulmann S 41 ff; Rönck S 52 ff; Wiesendahl S 111 ff. 616 Röthel JZ 2007, 755 (758 f). Zu den Verfahren und Kriterien zur Aufstellung harmonisierter Normen vgl Müller-Graff/Anselmann S 101 (107 f). 617 Breulmann S 29. 618 Art 20 Ziff 20 VO 765/2008 über die Vorschriften für die Akkreditierung und Marktüberwachung im Zusammenhang mit der Vermarktung von Produkten, ABl 2008 L 218/30. 619 Müller-Graff/Anselmann S 101 (109). 620 Müller-Graff/Winckler S 79 (84). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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von Richtlinien zur technischen Normung verschiedener Gerätegattungen geregelt. Zu den harmonisierten Produktgruppen gehören namentlich Haushaltskühl- und Gefriergeräte,621 einfache Druckbehälter,622 Spielzeug,623 pyrotechnische Gegenstände, 624 Maschinen, 625 Medizinprodukte, 626 Aufzüge, 627 In-Vitro-Diagnostika, 628 Druckgeräte629 und Warmwasserheizkessel630. Zu den neueren Entwicklungen auf dem Gebiet der technischen Normung gehört die Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften über die Bereitstellung nichtselbstständiger Waagen,631 Messgeräte,632 Aufzüge und Sicherheitsbauteile für Aufzüge633 sowie Druckgeräte (Neufassung).634

b) Steuerrecht (Art 113, 115 ff AEUV) Der Erfolg des Binnenmarkts ist in hohem Maß von den nationalen Steuerordnun- 188 gen der Mitgliedstaaten abhängig. Um einen Raum ohne Binnengrenzen zu verwirklichen, ist die Beseitigung innergemeinschaftlicher Steuergrenzen unerlässlich. Zwar besitzt die EU keine originären Kompetenzen zur Besteuerung,635 so dass die Steuergesetzgebung und -erhebung in den ausschließlichen Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten fällt. Dies unterstreicht die vertragliche Ausgestaltung in Art 114 II AEUV, der die Harmonisierung der direkten Steuern zum Zwecke der Herstellung des Binnenmarkts ausdrücklich von der Ermächtigung zur Rechtsangleichung nach Art 114 I AEUV ausgenommen hat.636 Art 113 AEUV richtet aber an die europäischen Institutionen ein Steuerharmonisierungsgebot für bestimmte Arten von („indirekten“) Steuern, die sich unmittelbar auf die Preise für grenzüberschreitend zu erbringende Leistungen auswirken. Eine Kompetenz zur vollständigen Unitarisierung des Steuerrechts ist damit nicht gemeint. Das Ziel ist es vielmehr, die steuerli-

_____ 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636

RL 96/57, ABl 1996 L 236/36. RL 2009/105, ABl 2009 L 264/12. RL 2009/48, ABl 2009 L 170/1. RL 2007/23, ABl 2007 L 154/1. RL 2006/42, ABl 2006 L 157/24. RL 2007/47, ABl 2007 L 247/21. RL 95/16, ABl 1995 L 213/1. RL 98/79, ABl 1998 L 331/1. RL 97/23, ABl 1997 L 181/1. RL 92/42, ABl 1992 L 167/17. RL 2014/31/EU, ABl 2014 L 96/107. RL 2014/32/EU, ABl 2014 L 96/149. RL 2014/33/EU, ABl 2014 L 96/251. RL 2014/68/EU, ABl 2014 L 189/164. Seiler FS Isensee, 2007, S 875 (875 ff). Seiler FS Isensee, 2007, S 875 (885).

Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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che Wettbewerbsgleichheit im Binnenmarkt zu gewährleisten637 und die Verwirklichung der wirtschaftlichen Grundfreiheiten zu unterstützen.638 Um die Harmonisierung der Steuerpolitik voranzutreiben, hat die Europäische 189 Kommission bereits 1996 ein Diskussionspapier vorgelegt, das drei Ziele bei der Verwirklichung einer europäischen Steuerpolitik vorgibt.639 Im Einzelnen sollen durch Harmonisierungsmaßnahmen im Bereich der Umsatz- und Verbrauchssteuern die Steuereinnahmen der Mitgliedstaaten stabilisiert, das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts gewährleistet und die Beschäftigung gefördert werden.640 Die Union stützt diese Harmonisierung der Steuerpolitik auf Art 113, 115 AEUV. 190 Maßgeblich für die Wahl des jeweiligen Kompetenztitels für den Abbau der auf den heterogenen nationalen Steuerrechtsordnungen beruhenden Handelshemmnisse641 ist der Bereich, in dem eine steuerliche Harmonisierung erfolgen soll. Die Angleichung der indirekten Steuern ist in Art 113 AEUV ausdrücklich vorgesehen.642 Danach erlässt der Rat nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses einstimmig die Bestimmungen zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern, die Verbrauchsabgaben und sonstige indirekte Steuern, soweit diese Harmonisierung für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts und die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen notwendig ist. Die umfangreichsten Harmonisierungsmaßnahmen fanden bislang im Bereich der Umsatzsteuer statt. Beispielhaft für die Beseitigung wettbewerbsverzerrender Unterschiede zwischen inländischen und innereuropäischen Umsätzen sind die Richtlinien zur Einführung eines gemeinsamen Mehrwertsteuersystems mit Vorsteuerabzug (1967),643 über Struktur und Anwendungsmodalitäten der mitgliedstaatlichen Umsatzsteuergesetze (1967),644 über die Harmonisierung der Bemessungsgrundlage (1977),645 zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems (1992)646 und zur Einführung von Vereinfachungsmaßnahmen im Bereich der Mehrwertsteuer (1992).647 Neben der Umsatzsteuer wurden die Verbrauchsabgaben,

_____ 637 Mick S 57. 638 vdGroeben S 8 ff. 639 Europäische Kommission Steuern in der Europäischen Union: Diskussionspapier v 20.3.1996 für die informelle Tagung der für Wirtschafts- und Finanzfragen zuständigen Minister, SEK(96) 487. 640 SEK(96) 487, S 2 ff, 6 f, 8 f. 641 EuGH, Rs 171/78 – Kommission / Dänemark, Rn 20. 642 Braun Binder S 50. 643 RL 67/227, ABl 1967 P 71, S 1301. 644 RL 67/228, ABl 1967 P 71, S 1303. 645 RL 77/388, ABl 1977 L 145/1. 646 RL 92/77, ABl 1992 L 316/1. 647 RL 92/111, ABl 1992 L 384/47. Für einen ausführlichen Überblick über alle ergangenen Rechtsakte s Calliess/Ruffert/Waldhoff Art 113 AEUV Rn 13 ff; Pechstein/Nowak/Häde/Schenke Art 113 AEUV Rn 25 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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insb für die Produkte Mineralöl, Alkohol und Tabak, zum Gegenstand der Harmonisierungspolitik. Die Angleichung der Verbrauchssteuer ist in der Richtlinie über das allgemeine Verbrauchssteuersystem aus dem Jahr 2005 geregelt.648 Neben allgemeinen Strukturregelungen enthält die Richtlinie spezielle Harmonisierungsmaßnahmen für einzelne Steuerarten. Die Harmonisierung der direkten Steuern kann hingegen über Art 115 AEUV 191 erfolgen. Diese Vorschrift ist insoweit als einschlägige Generalklausel heranzuziehen.649 Die Union möchte auf diese Weise eine Annäherung der unterschiedlichen Rechts- und Steuersysteme erreichen, sofern die daraus resultierenden unterschiedlichen steuerlichen Belastungen die Verwirklichung des Binnenmarkts unmittelbar behindern.650 Eine weitere Möglichkeit zur Harmonisierung der direkten Steuern bietet indes die Regelung des Art 116 AEUV, sofern die unterschiedlichen Steuersysteme zu Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt führen. Wenn der Wettbewerb der Steuersysteme binnenmarktverfälschende Auswirkungen hervorruft, etwa durch einen reduzierten Steuersatz im Sinne einer „Nullsteuer“ oder eine sehr niedrige Steuer, kann die Union Harmonisierungsrichtlinien erlassen.651 Im Gegensatz zu Art 114 f AEUV, die eine systematische Harmonisierung anstreben, verfolgen die Art 116 f AEUV eine punktuelle Rechtsangleichung (Rn 138).652 Angesichts vielfältiger Probleme bei der Konkretisierung der Tatbestandsmerkmale, insb mit Blick auf das Vorliegen einer spezifischen Wettbewerbsverzerrung iSd Spaak-Berichts, wurde bislang noch keine Richtlinie auf der Grundlage dieser Ermächtigung erlassen.653

c) Verbraucherschutzrecht (Art 169 AEUV) Einen weiteren Politikbereich, in dem der Umfang notwendiger und zulässiger 192 Rechtsangleichung zunehmend erörtert wird, stellt der Verbraucherschutz dar.654 Nachdem in den 1970er Jahren das Interesse, das Verbraucherschutzrecht auf nationaler und supranationaler Ebene zu harmonisieren, nicht stark ausgeprägt war, zeichnete sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ein Wandel ab.655 Die Zunahme verbraucherrechtlicher Regelungen unterstreicht diesen Befund.656 Die gestiegene Bedeutung des Verbraucherschutzes zeigte sich sodann im Vertrag von Amsterdam,

_____ 648 RL 2008/118, ABl 2009 L 9/12. 649 Lenz/Borchardt/Fischer Art 115 AEUV Rn 3; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje Art 115 AEUV Rn 1. 650 Lehner/Birk DStJG 19 (1996), 63 (75). 651 Peters VVDStRL 69 (2010), 7 (51 f); Schön ASA Archives 71 (2002/2003), 337 (359). 652 Calliess/Ruffert/Korte Art 116 AEUV Rn 3. 653 Jürgens S 147; Calliess/Ruffert/Korte Art 116 AEUV Rn 9. 654 Vgl etwa Reich Verbraucherrecht, S 505 ff; Hülper Grenzen der EU-Rechtsangleichung im Verbraucherschutzrecht, 2011. 655 Tamm S 238. 656 Tamm Kritische Justiz 2013, 52 (55 f). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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der diesen Politikbereich in Art 153 III lit a EGV als Querschnittsklausel verankerte und damit sowohl die Unionsorgane als auch die Mitgliedstaaten bei der Initiierung und Durchführung der Unionspolitiken verpflichtet, den Erfordernissen des Verbraucherschutzes Rechnung zu tragen.657 Die Vorschrift wurde im Vertrag von Lissabon in Art 169 AEUV übernommen und bildet dort neben der Querschnittsklausel in Art 12 AEUV die zweite normative Säule des supranationalen Verbraucherschutzes. Obschon das Verbraucherrecht in den Verträgen somit allmählich erweitert und 193 zu einem „rechtsordnungsimmanenten Schutzprinzip“658 ausgebaut wurde, wird die Union in diesem Bereich in geteilter Zuständigkeit mit den Mitgliedstaaten tätig (Art 4 II lit f AEUV). Vor diesem Hintergrund ist sie ausweislich der Anbindung des Art 169 II lit a AEUV an die Rechtsangleichung in Art 114 AEUV lediglich zum Erlass von Maßnahmen berechtigt, die auf die Verwirklichung und den Erhalt des Binnenmarkts gerichtet sind.659 Die Maßnahmen der Union zum Schutz der Verbraucher müssen daher stets über die Harmonisierungskompetenz nach Art 114 AEUV erfolgen. Zahlreiche Richtlinien, die der Vereinheitlichung von Kennzeichnungs-, Verpackungs- oder Bezeichnungsvorschriften diverser Produkte, dem Abbau von Handelsschranken und somit dem Ausbau des Binnenmarkts dienen, verfolgen gleichzeitig Ziele des Verbraucherschutzes.660 Bislang wurde auf diese Weise lediglich ein punktueller und unsystemati194 scher Ansatz verfolgt, der zu einem compositum mixtum aus nationalen und unionalen Vorschriften geführt hat und dem mithin kein einheitliches Konzept zugrunde liegt.661 Die Bestrebungen der EU, den Bereich des Kaufrechts und des Gesellschaftsrechts zu regulieren, deuten indes daraufhin, dass die Union ungeachtet ihrer fehlenden ausschließlichen Zuständigkeit für die Verbraucherschutzpolitik nicht im gegenwärtigen Integrationsstand verharren will, sondern die Rechtsangleichung (Art 169 II lit a iVm Art 114 AEUV) im Zeichen des Binnenmarkts als Mittel für den „Zweck [der] Entwicklung eines europäischen Privatrechts einsetzen wird“.662 Dabei weicht die Kommission von ihrem in der Vergangenheit verfolgten Prinzip der Mindestharmonisierung ab und geht zum Konzept der Totalharmonisierung über, um die im Verbraucherrecht bestehende Rechtsdiversität abzubauen.663 Vor diesem Hin-

_____ 657 Roth JZ 2001, 475 (479). 658 Gounalakis S 279 f. 659 Roth JZ 2001, 475 (479). Pechstein/Nowak/Häde/Terhechte Art 114 AEUV Rn 39. 660 Einen Überblick über den Gegenstand und das Ziel der wichtigsten Richtlinien, die neben der Verwirklichung des Binnenmarktes auch dem Verbraucherschutz dienen, gibt Tamm S 199–237. Zur Verbraucherschutzpolitik der EU und den Grenzen der Rechtsangleichung im Rahmen der Verbraucherschutzpolitik vgl auch Hülper S 51 ff, 67 ff. 661 Lurger S 11; ebenso Roth JZ 2001, 475 (479). 662 Tamm S 285. 663 Tonner FS Derleder, 2005, S 145 (149 f). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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tergrund haben das Europäische Parlament und der Rat am 25. Oktober 2011 die Europäische Verbraucherrechterichtlinie verabschiedet.664 Sie sieht eine Reform der Richtlinie über Haustürgeschäfte665 und der Fernabsatzrichtlinie 666 im Wege der Vollharmonisierung vor. Wegen des ursprünglich sehr weitreichenden Ansatzes des Kommission,667 der auf eine Gesamtkonsolidierung des vertragsrechtlichen acquis communautaire unter Einschluss der Richtlinien über den Verbrauchsgüterkauf und die Verwendung missbräuchlicher Klauseln in Verbraucherverträgen 668 zielte, 669 erhob sich in den Mitgliedstaaten Widerstand gegen die Initiative, so dass die verabschiedete Richtlinie auf die Einbindung der Richtlinie über missbräuchliche Klauseln und die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie verzichtete.670

3. Tatbestandliche Voraussetzungen der Art 114, 115 AEUV a) Die Abgrenzung des Art 114 von Art 115 AEUV Art 114 AEUV wurde mit dem Ziel der Verwirklichung des Binnenmarkts durch 195 die EEA in das europäische Primärrecht eingeführt und erstreckt sich auf alle hierauf gerichteten Maßnahmen der Rechtsangleichung. Art 115 AEUV findet dagegen auf die Angleichung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften Anwendung, die sich unmittelbar auf die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts auswirken (Rn 138, 229). Der Unterschied zwischen beiden Vorschriften liegt in dem in Art 115 AEUV 196 enger gefassten Tatbestand und den höheren verfahrensrechtlichen Anforderungen (Rn 135). Während nach Art 114 AEUV die Maßnahmen zur Verwirklichung des Binnenmarkts im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art 294 AEUV) mit qualifizierter Mehrheitsentscheidung im Rat und mit Zustimmung des Parlaments erlassen werden, verlangt Art 115 AEUV die Anwendung eines besonderen Gesetzgebungsverfahrens, das einen einstimmigen Beschluss des Rates vorsieht. Die Beteiligung des Europäischen Parlaments beschränkt sich ebenso wie die des Wirtschafts- und Sozialausschusses auf eine bloße Anhörung. Nach dem Vertrag von Lissabon steht Art 115 AEUV gegenüber Art 114 AEUV in einem nachgeordneten Verhältnis, wie es

_____ 664 RL 2011/83, ABl 2011 L 304/64. Zur Entwicklung der Verbraucherrechte-RL vgl Wendt S 199 ff. 665 RL 85/577, ABl 1985 L 372/31. 666 RL 97/7, ABl 1997 L 144/19. 667 Vgl den RL-E über die Rechte der Verbraucher, KOM(2008) 614. 668 RL 93/13 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl 1993 L 95/29; RL 99/44 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantie für Verbrauchsgüter, ABl 1999 L 171/12. 669 Grünbuch zur Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstandes im Verbraucherschutz, KOM(2006) 744, S 9 f. 670 Grundmann JZ 2013, 53. Zur Diskussion im Europäischen Parlament vgl Föhlisch MMR 2009, 75 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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auch der Wortlaut der Regelung („unbeschadet des Art 114 AEUV“) zum Ausdruck bringt. In der Praxis ist Art 115 AEUV kaum von Bedeutung (Rn 141).671

b) Verwirklichung der Ziele des Art 26 AEUV durch Maßnahmen 197 Ausweislich des Wortlauts des Art 114 I 1 AEUV streben die Vertragsstaaten mittels

der Rechtsangleichung die Ziele des Art 26 AEUV an. Abs 1 dieser Bestimmung beinhaltet einen Handlungsauftrag an die Union, die erforderlichen Maßnahmen zur Verwirklichung und Funktionssicherung des Binnenmarkts zu ergreifen. Der Binnenmarkt, so der Abs 2, zielt auf die Verwirklichung der Grundfreiheiten und die Beseitigung von Wettbewerbsverfälschungen (Rn 69). Angesichts dieser funktionalen Ausrichtung des Art 114 AEUV ist diese Ermächtigungsgrundlage auf keine spezifischen Rechtsbereiche begrenzt, sondern als Querschnittskompetenz auf alle binnenmarktbezogenen Politikbereiche anwendbar (Rn 121 ff). Art 114 AEUV setzt den Binnenmarktbezug der Angleichungsmaßnahme vor198 aus (objektive Komponente). Sodann ist zu prüfen, ob eine Maßnahme „die Voraussetzungen für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts verbessern [soll]“672 (subjektive Komponente). Die Wahl der Rechtsgrundlage muss sich „auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen“, zu denen insb das Ziel und der Inhalt des Rechtsakts gehören.673 Der Errichtung und dem Funktionieren des Binnenmarkts tragen alle Maßnahmen Rechnung, die substanzielle oder konkrete Auswirkungen auf den Binnenmarkt haben, seien sie unmittelbarer oder mittelbarer Art.674 Bei seiner Prüfung legt der Gerichtshof die Erwägungsgründe eines Rechtsakts 199 zugrunde.675 Ein kumulatives Vorliegen der Tatbestandsmerkmale „Verwirklichung des Binnenmarkts“ oder „Erhalt seiner Funktionsfähigkeit“ ist nicht erforderlich.676 Die Intention der Harmonisierungsmaßnahme differenziert zwischen der Angleichung produktbezogener Normen und der Harmonisierung von Wettbewerbsbehinderungen am Produktionsstandort.677 Handelt es sich um eine Harmonisierungsmaßnahme, die dazu dient, die 200 Grundfreiheiten zu verwirklichen, indem sie bestehende Unterschiede in den natio-

_____ 671 Grabitz/Hilf/Tietje Art 115 AEUV Rn 1, 4. 672 EuGH, Rs C-376/98 – Tabakwerbung, Rn 83, ausdrücklich bestätigt in Rs C-491/01 – British American Tobacco, Rn 60; Rs C-58/08 – Vodafone, Rn 32. Dazu auch Blanke/Mangiameli/Blanke The European Union after Lisbon S 380 f. 673 EuGH, Rs C-301/06 – Vorratsdatenspeicherung, Rn 60; Rs C-233/94 – Einlagensicherungssysteme, Rn 13; Rs C-300/89 – Titandioxid, Rn 10. 674 GA Jacobs, Rs C-350/92 – Spanien / Rat, Nr 45. 675 EuGH, Rs C-376/98 – Tabakwerbung, Rn 90 ff. 676 Dauses/Ludwigs/von Danwitz B.II Rn 119. 677 GA Léger, Rs C-380/03 – British American Tobacco, Nr 147 f. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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nalen Rechtsordnungen beseitigt, ist zunächst zu prüfen, ob die unterschiedlichen Rechtsvorschriften tatsächlich ein Handelshemmnis darstellen. Die Beurteilung dieser Frage erfolgt anhand der für die Warenverkehrsfreiheit (Art 34 AEUV) vom Gerichtshof herausgearbeiteten Grundsätze. Vor diesem Hintergrund nehmen die Rechtsakte zur Harmonisierung von nationalem Recht nur diejenigen mitgliedstaatlichen Vorschriften in den Blick, „die geeignet [sind], den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern“.678 Analog zu den Kriterien, die der EuGH in der „Keck-Rechtsprechung“ entwickelt hat, um die weitgefasste Dassonville-Formel im Bereich der Grundfreiheiten zu begrenzen (Rn 306), gilt auch für die Rechtsangleichung, „dass nationale Regelungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten“,679 kein Hemmnis für die Verwirklichung der Grundfreiheiten darstellen und daher nicht im Wege der Rechtsangleichung nach Art 114 AEUV beseitigt werden können.680 Neben der Harmonisierung zum Abbau von Handelshemmnissen findet Art 114 201 AEUV auf die Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen Anwendung.681 Obgleich Art 114 AEUV als Querschnittskompetenz den europäischen Gesetzgeber zur Rechtsangleichung ermächtigt, um die uneingeschränkte Verwirklichung des Binnenmarkts zu gewährleisten, liegt darin keine allumfassende Kompetenz, um jede auch noch so marginale Beeinträchtigung zum Anlass für eine Rechtsangleichung zu nehmen.682 Bereits der Wortlaut von Art 26 I AEUV deutet darauf hin, dass nicht jede wettbewerbsbeschränkende Regelung der Mitgliedstaaten eine Kompetenz begründet, sondern ausschließlich die „erforderlichen Maßnahmen“ ergriffen werden sollen (Rn 195).683 Beispielhaft kann insoweit auf die Richtlinie zum Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt hingewiesen werden. Um den Wettbewerb auf dem Urheberrechtsmarkt vor Verzerrungen zu schützen und eine Fragmentierung des Binnenmarkts zu verhindern,684 haben das Europäische Parlament und der Rat im Frühjahr 2019 im Trilog-Verfahren diese Richtlinie trotz zahlreicher kritischer Einwände namentlich deutscher Internetnutzer verabschiedet.685 Ihr Ziel ist eine

_____ 678 EuGH, Rs 8/74 – Dassonville, Rn 5 – Hervorhebung nicht im Original. 679 EuGH, verb Rs C-267/91 ua – Keck und Mithouard, Rn 15. 680 EuGH, Rs C-491/01 – British American Tobacco, Rn 64; Rs C-434/02 – Arnold André, Rn 39; Rs C-210/03 – Swedish Match, Rn 38. 681 Ausführlich zum Begriff der Wettbewerbsverfälschung/-verzerrung Bock S 104 ff. 682 EuGH, Rs C-376/98 – Tabakwerbung, Rn 83. 683 EuGH, Rs C-376/98 – Tabakwerbung, Rn 106 f unter Verweis auf Rs C-300/89 – Titandioxid, Rn 23. Hierzu überdies Dauses/Ludwigs/von Danwitz B.II Rn 120; König/Uwer/Calliess S 25 ff. 684 COM(2016) 593, S 2. 685 Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments v 26.3.2019 zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt, P8_TA-PROV(2019)0231. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Harmonisierung der Urheberrechte und verwandter Schutzrechte im Rahmen des Binnenmarkts unter besonderer Berücksichtigung der digitalen und grenzüberschreitenden Nutzung geschützter Inhalte.686 Damit soll die Stellung der Rechteinhaber, insbesondere von Musikern, Interpretenund Drehbuchautoren („Kreative“), aber auch von Journalisten und Nachrichtenverlagen verbessert werden, so dass sie eine angemessene Vergütung für die Verwendung ihrer Werke vor allem auf wirkmächtigen Internet-Plattformen (etwa Google, Youtube) effektiv durchsetzen können.687 Im Mittelpunkt der Kritik steht insoweit Art 17 RL, der eine Lizensierung der veröffentlichten Inhalte zum Gegenstand hat. Internetunternehmen können künftig gezwungen werden, dafür zu sorgen, dass ihre Nutzer nur noch Inhalte hochladen können, für die die jeweilige Plattform auch eine Lizenz erworben hat. Die Plattformen werden direkt für Inhalte, die auf ihre Website hochgeladen werden, haftbar sein. Bisher wurden Internetunternehmen wenig Anreize geboten, faire Lizenzvereinbarungen mit Rechteinhabern abzuschließen, da sie nicht für die Inhalte haftbar gemacht werden konnten, die ihre Nutzer hochluden. Sie waren lediglich verpflichtet, unrechtmäßig hochgeladene Inhalte zu entfernen, wenn ein Rechteinhaber sie dazu aufforderte. Dies war jedoch für die Rechteinhaber mit großen Umständen verbunden und garantierte ihnen kein faires Einkommen.688 Die Haftung von Internetunternehmen soll die Chancen der Rechteinhaber auf faire Lizenzvereinbarungen verbessern. So sollen sie eine gerechtere Vergütung für die digitale Nutzung ihrer Werke erhalten. Kritiker lehnen diese Reform ab, da sie den Plattformbetreibern die Verantwortung auferlegt, darüber zu entscheiden, was veröffentlicht wird und was nicht.689 Sie befürchten, dass Internetunternehmen die hochgeladenen Inhalte mittels eines digitalen Filters (sog Uploadfilter) prüfen und gegebenenfalls abweisen. Umstritten ist vor allem die Zuverlässigkeit der Erkennungssoftware.690 Sollte der Algorithmus Ausnahmen und Sonderfälle nicht zuverlässig als solche identifizieren, besteht die Gefahr eines „Overblocking“.691 In diesem Fall werden Texte und Videos, die andere Werke satirisch aufgreifen und urheberrechtlich erlaubt sind, nicht erkannt. Wenn aber Zitate oder Parodien nicht mehr hochgeladen werden können, wäre dies ein empfindlicher Eingriff in die freie Meinungsäußerung von Millionen von Internet-Nutzern.692 Da viele dieser Werke einerseits dem Urheberrecht unterliegen und andererseits nicht von Medienhäusern vermark-

_____ 686 Art 1 Abs 1 S 1 RL-E. 687 Art 1 Abs 1 S 2 RL-E. 688 COM(2016) 593 final, S 2. 689 Zum Stand der Diskussion siehe auch Stieper ZUM 2019, 211 (216). 690 Specht GRUR 2019, 253 (256 f). 691 Vgl eine kritische ökonomische Perspektive zum Einsatz von Uploadfiltern bei Suwelack MMR 2018, 582 (585 f). 692 Stieper ZUM 2019, 211 (216). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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tet werden, sind sie nicht in den Lizenz-Datenbanken aufgeführt, die der Uploadfilter abfragt. Es droht damit ein Rechtszustand, der fast jeden Upload jenseits von kommerziellem Material unmöglich macht. Da die Betreiber der Plattformen im Falle eines Urheberrechtsverstoßes haften, müssen sie den Upload anderer Inhalte aus Selbstschutz ablehnen. Im Fall einer Rechtsangleichung ist zunächst zu prüfen, ob das festgestellte 202 Hindernis tatsächlich eine „spürbare“ Verzerrung des Wettbewerbs darstellt und die Harmonisierung zur Beseitigung dieser Situation beiträgt.693 Diese Eingrenzung des Anwendungsbereichs von Art 114 AEUV soll verhindern, dass über geringfügige Wettbewerbsverzerrungen eine Allzuständigkeit des Gesetzgebers geschaffen wird (Rn 196).694 Die Spürbarkeit einer Wettbewerbsverzerrung wurde indes noch nicht umfassend vom EuGH definiert. Auch dem Schrifttum ist es bisher nicht gelungen, das Spürbarkeitskriterium in konsistenter Weise zu konkretisieren. Einen ersten Vorstoß unternahm insoweit der Gerichtshof in der Entscheidung 203 Titandioxid. Im Zusammenhang mit umweltrechtlichen Vorschriften stellte er fest, dass unterschiedliche nationale Regelungen geeignet seien, den Wettbewerb zwischen den betroffenen Unternehmen spürbar zu verfälschen. Folglich seien Harmonisierungsmaßnahmen in diesem Bereich „zur Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen […] geeignet“.695 In der Entscheidung zur Tabakwerbe-Richtlinie (Rn 123 f) knüpfte der Gerichtshof hieran an und führte aus, dass sich unterschiedliche Rechtsvorschriften „unmittelbar oder mittelbar auf die Wettbewerbsbedingungen der betroffenen Unternehmen auswirken“.696 Geringfügige Wettbewerbsverzerrungen, die allenfalls entfernt die Marktteilnehmer betreffen, werden danach nicht von Art 114 AEUV erfasst. Nach der Regel de minimis non curat lex („Das Recht kümmert sich nicht um Kleinigkeiten”) ist somit herauszufinden, ob ein Handelshemmnis von erheblichem Gewicht der Verwirklichung der Grundfreiheiten entgegensteht.697 Tietje entnimmt den Ausführungen des Gerichtshofs ein qualitatives Kriterium und bejaht eine spürbare Wettbewerbsverzerrung in den Fällen, in denen die individuelle Freiheit des Marktteilnehmers im Hinblick auf die Inanspruchnahme einer Grundfreiheit beeinflusst wird. Es ist daher bei der Bewertung der Spürbarkeit einer nationalen Regelung stets auf ein gewisses „Näheverhältnis zur grundfreiheitlich geschützten Tätigkeit“ abzustellen.698 Spürbare Wettbewerbsverzerrungen können

_____ 693 EuGH, Rs C-376/98 – Tabakwerbung, Rn 106 f unter Verweis auf Rs C-300/89 – Titandioxid, Rn 23. 694 EuGH, Rs C-376/98 – Tabakwerbung, Rn 107. Siehe auch Pechstein/Nowak/Häde/Terhechte Art 114 AEUV Rn 61 ff. 695 EuGH, Rs C-300/89 – Titandioxid, Rn 23. 696 EuGH, Rs C-376/98 – Tabakwerbung, Rn 107. 697 vDanwitz Produktwerbung S 42 ff. 698 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje Art 114 AEUV Rn 104 mwN. AA vDanwitz Produktwerbung S 42 ff, der sich für die Anwendung eines dem europäischen Wettbewerbsrecht zugrundeliegenden Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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nach der Rechtsprechung im Einzelfall nur von Bestimmungen ausgehen, die unterschiedliche Herstellungskosten auslösen, nicht aber von solchen, die nur in sonstiger Weise die Gewinnerzielung betreffen.699 Ferner ist in der Rechtsprechung des EuGH geklärt, dass ein Gesetzgebungs204 akt, der die bestehenden nationalen Rechtsordnungen unverändert lässt, keine Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten im Sinne des Art 114 I AEUV bezweckt.700 Diese Auslegung des Art 114 AEUV wird durch einen systematischen Vergleich mit der Rechtsgrundlage des Art 118 AEUV bestätigt. Nach dieser Bestimmung des Vertrags von Lissabon können im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren unter anderem europäische Rechtstitel über einen einheitlichen Schutz der Rechte des geistigen Eigentums in der Union geschaffen werden. Solche Rechtstitel treten parallel neben die entsprechenden Rechtstitel der Mitgliedstaaten, ohne diese zu ändern oder zu ersetzen. Der Vertrag von Lissabon eröffnet der Union also ausschließlich für den begrenzten Bereich der Rechte des geistigen Eigentums eine Kompetenz, legislative Maßnahmen zu erlassen, die parallel neben die mitgliedstaatlichen Regelungen treten. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass Art 114 AEUV als Rechtsgrundlage für europäische Regelungen in allen sonstigen Bereichen nicht herangezogen werden kann, sofern diese Regelungen parallel neben die nationalen Rechte treten und diese ansonsten unberührt lassen. Rechtstitel und Rechtsformen des Unionsrechts, die parallel neben den entsprechenden nationalen Rechtsvorschriften stehen, ohne diese zu ändern und zu ersetzen, dürfen daher nicht auf Art 114 AEUV, sondern müssen auf Art 352 AEUV gestützt werden.701 Hieran scheiterte dann auch das Projekt der Kommission, das gesamte europäische Kaufrecht im Wege einer Verordnung zu einem unmittelbar geltenden Einheitsrecht zu formen (Rn 132 f). Auf rechtsangleichende Gesetzgebungsakte finden die Grundsätze der Subsi205 diarität und der Verhältnismäßigkeit Anwendung (Rn 232, 235 ff, 241 ff). Der Subsidiaritätsgrundsatz ist anwendbar, weil Art 114 I AEUV dem Unionsgesetzgeber keine ausschließliche Zuständigkeit für die Regelung der wirtschaftlichen Tätigkeiten im Binnenmarkt verleiht, sondern nur die Zuständigkeit für die Verbesserung der Bedingungen für die Errichtung und das Funktionieren dieses Marktes durch Beseitigung von Hemmnissen für den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr

_____ quantitativen Spürbarkeitstests ausspricht. Für eine Kombination aus qualitativen und quantitativen Aspekten plädiert Ludwigs EuR 2006, 370 (389). 699 EuGH, Rs C-376/98 – Tabakwerbung, Rn 107; Dauses/Ludwigs/von Danwitz B.II Rn 121. 700 EuGH, Rs C-436/03 – Parlament / Rat, Rn 44, 46. 701 Vgl zu dieser Argumentation die Beschlussempfehlung im Rahmen der Stellungnahme des Rechtsausschusses des Bundestages zum Vorschlag für eine VO des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, BT-Drs 17/8000 v 30.11.2011, S 5 Ziff 2 b. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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oder von Wettbewerbsverzerrungen.702 Die ausschließliche Zuständigkeit der Union im Bereich der Rechtsangleichung ist von den von ihr ergriffenen binnenmarktbezogenen Maßnahmen zu unterscheiden. Auf letztere findet das Subsidiaritätsprinzip Anwendung. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit ist nach der Rechtsprechung des EuGH namentlich die Geeignetheit und Erforderlichkeit der rechtsangleichenden Maßnahme zu prüfen.703

c) Gesetzgebungsverfahren (Art 114 I 2 AEUV) Als Rechtsfolge statuiert Art 114 I 2 AEUV den Erlass von „Maßnahmen“ zur Anglei- 206 chung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten durch das Europäische Parlament und den Rat. Das Vorschlagsrecht für Maßnahmen zur Rechtsangleichung liegt bei der Europäischen Kommission (Art 294 II AEUV), die diese bei umfangreicheren Vorhaben regelmäßig durch die Vorlage von Grün- und Weißbüchern initiiert.704 Die Beschlussfassung erfolgt im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Art 289 I, 294 AEUV durch das Europäische Parlament und den Rat nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses. Der Rat entscheidet durch Beschluss mit qualifizierter Mehrheit (Art 16 III EUV). 207 Eine Berufung auf den sog Luxemburger Kompromiss zur Sicherung wichtiger nationaler Interessen im Gesetzgebungsverfahren der Union ist ausgeschlossen, da diese Schutzfunktion bereits in der Ausgestaltung von Art 114 AEUV berücksichtigt ist.705 Einzelstaatlichen Interessen wird durch spezielle Verfahrensvorschriften in dessen Abs 4 ff Rechnung getragen (Rn 211).

d) Bereichsausnahmen (Art 114 II AEUV) Art 114 II AEUV enthält drei wichtige Bereichsausnahmen, die eine Rechtsanglei- 208 chung ausschließen. Danach gilt Art 114 I AEUV wegen der Souveränitätsvorbehalte der Mitgliedstaaten nicht für Bestimmungen über Steuern, die Freizügigkeit sowie die Rechte und Interessen der Arbeitnehmer.706 In diesen politisch hochsensiblen Bereichen ist daher stets ein Rückgriff auf speziellere Kompetenzvorschriften erforderlich. Im Bereich der steuerlichen Regelungen besteht für die Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern, die Verbrauchsabgaben und sonstige indirekte Steuern in Art 113 AEUV eine Spezialregelung, die gegenüber Art 114 AEUV vorrangig ist (Rn 188 ff). Für die Harmonisierung der direkten Steuern existiert dagegen keine pri-

_____ 702 703 704 705 706

EuGH, Rs C-491/01 – British American Tobacco, Rn 179. EuGH, Rs C-58/08 – Vodafone, Rn 51 ff. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje Art 114 AEUV Rn 120. Everling FS Steindorff, 1990, S 1155 (1165). Ehlermann CMLRev 1987, 361 (386 f); Müller-Graff EuR 1989, 107 (132).

Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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märrechtliche Kompetenznorm, sodass für diesen Bereich Art 115 AEUV als subsidiäre Auffangnorm anzuwenden ist (Rn 191). Als Ermächtigungsgrundlage für die Harmonisierung der Vorschriften über die Rechte und Interessen der Arbeitnehmer ist Art 153 AEUV heranzuziehen. Danach können das Europäische Parlament und der Rat ua auf den Gebieten der Arbeitsumwelt, der Arbeitssicherheit, der sozialen Sicherheit, des Arbeitsvertragsrechts und des kollektiven Arbeitsrechts durch Richtlinien Mindestvorschriften erlassen (Art 153 II lit b AEUV).707 Zum Schutz wirtschaftlich schwächerer Mitgliedstaaten und Regionen vor einer zu schnellen Anhebung des Schutzniveaus können durch Art 153 AEUV indes nur Mindestvorschriften erlassen werden.708 Von einer Mindestharmonisierung (Rn 161) ausgenommen bleiben nach Abs 5 das Streikrecht, das Aussperrungsrecht, das Koalitionsrecht und das Tarifrecht. Harmonisierungsmaßnahmen im Bereich der Freizügigkeit fallen unter die Grundfreiheit des freien Personenverkehrs und werden vorrangig unter Titel IV des AEUV behandelt. Als leges speciales zu Art 114 AEUV treten die Art 45 ff und 49 ff AEUV hinzu, die die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Niederlassungswilligen regeln (Rn 360 ff). Daher verbleibt im Ergebnis für Art 114 AEUV im Kern vor allem der Bereich des freien Warenverkehrs (Art 34 ff AEUV).

e) Der Begriff des „hohen Schutzniveaus“ (Art 114 III AEUV) 209 Ein Harmonisierungsvorschlag in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz verpflichtet die Kommission nach Art 114 III AEUV, von einem hohen Schutzniveau auszugehen. Diese Verpflichtung auf ein hohes Schutzniveau ist ein Ergebnis der EEA (Rn 114 f) und soll dazu beitragen, dass das Instrument der Rechtsangleichung nicht zu einer gemeinschaftsrechtlich verursachten Absenkung des in einzelnen Staaten bestehenden hohen Schutzniveaus missbraucht wird.709 In Verbindung mit den in Art 114 IV ff AEUV festgelegten Derogationsmöglichkeiten bildet es ein Regelungssystem, das einen Ausgleich zwischen dem Ziel der Verwirklichung eines einheitlichen Binnenmarkts und der Sicherung nationaler Schutzstandards ermöglichen soll.710 Auf diese Weise wird den Mitgliedstaaten, die vor der Harmonisierung nach Art 114 I AEUV eigene Regelungen erlassen haben, in den genannten Politikfeldern erlaubt, ein höheres Schutzniveau beizubehalten als es auf Unionsebene angestrebt wird.711 Die Schutzniveauklausel richtet sich in Art 114 III 1 AEUV ausdrücklich an die 210 Kommission als Inhaberin des Initiativrechts. Es handelt sich dabei nicht um einen

_____ 707 708 709 710 711

Fuchs/Marhold S 103 ff, 264 ff. Calliess/Ruffert/Krebber Art 153 AEUV Rn 30. Langeheine EuR 1988, 235 (242); Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje Art 114 AEUV Rn 132. Langeheine EuR 1988, 235 (242); Kahl S 37 f. Frenz Hdb 6 Rn 3469. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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politischen Appell, sondern um eine Rechtspflicht.712 Umstritten war zunächst die Frage, ob neben der Kommission auch das Europäische Parlament und der Rat hierzu verpflichtet sind, da diese Gesetzgebungsorgane nach Art 114 III 2 AEUV ein hohes Schutzniveau lediglich iS eines Optimierungsgebots „anstreben“.713 Setzt man die Verpflichtung auf ein hohes Schutzniveau indes in ein Verhältnis zum angestrebten Binnenmarktziel, müssen zwangsläufig auch das Europäische Parlament und der Rat an diese Rechtspflicht gebunden sein.714 Die Formulierung in Satz 2 berücksichtigt lediglich die Vielfalt der in Art 3 EUV aufgeführten Ziele des Vertrags, die vom Gesetzgeber (der „Union“) verfolgt und im Wege praktischer Konkordanz zur größtmöglichen Wirkung gebracht werden müssen.715 Vor diesem Hintergrund wird allerdings auch deutlich, dass diese Rechtspflicht 211 nicht darauf abzielt, das höchstmögliche Schutzniveau zu erreichen.716 Letztendlich ist ein möglichst hohes, über dem unionalen Durchschnitt liegendes Schutzniveau ein anzustrebendes Ideal, das allerdings nicht im Voraus objektiv vorgezeichnet werden kann.717 Zudem würde ein optimales Schutzniveau angesichts der stark divergierenden und daher harmonisierungsbedürftigen Regelungen der Mitgliedstaaten im Rat nicht die erforderliche Mehrheit erreichen.718 Diese Auslegung ist auch unter systematischen Gesichtspunkten zu vertreten, da bei einer Verpflichtung von Kommission, Europäischem Parlament und Rat auf ein höchstmögliches Schutzniveau die Derogationsmöglichkeiten in Art 114 IV ff AEUV obsolet würden, sehen doch die Absätze 4 und 5 die Möglichkeit vor, unter bestimmten Voraussetzungen ein höheres Schutzniveau in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen beizubehalten oder einzuführen.719

f) Beibehaltung einzelstaatlicher Bestimmungen (Art 114 IV-VI AEUV) Mit dem Erlass von Maßnahmen nach Art 114 I AEUV ist eine abschließende Harmoni- 212 sierung bestimmter Bereiche verbunden. Dies hat zur Folge, dass es den Mitgliedstaaten fortan untersagt ist, in dem jeweiligen Regelungsbereich abweichende Vorschrif-

_____ 712 Dauses/Ludwigs/von Danwitz B.II Rn 125; Kahl S 95; Calliess/Ruffert/Korte Art 114 AEUV Rn 52; Streinz Rn 980. 713 Schroeder DVBl 2002, S 213 (214 f). 714 Calliess/Ruffert/Korte Art 114 AEUV Rn 52; Streinz Rn 980. 715 Schroeder DVBl 2002, S 213 (214); Dauses/Ludwigs/von Danwitz B.II Rn 125; Calliess/Ruffert/ Korte Art 114 AEUV Rn 54. 716 EuGH, Rs C-233/94 – Einlagensicherungssysteme, Rn 48; EuGH, Rs C-284/95 – Safety Hi-Tech Srl, Rn 49. 717 Frenz Hdb 6 Rn 3470; Pechstein/Nowak/Häde/Terhechte Art 114 AEUV Rn 76. 718 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje Art 114 AEUV Rn 141. 719 EuGH, Rs C-284/95 – Safety Hi-Tech Srl, Rn 49; Rs C-341/95 – Gianni Bettati, Rn 47. Dazu auch Schroeder DVBl 2002, S 213 (215). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

996 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

ten zu erlassen. Die von der Harmonisierungsmaßnahme ausgehende Sperrwirkung für die nationalen Gesetzgebungsorgane720 führte bereits bei der Einführung der Vorläuferregelung (Art 100a EWGV) in die EEA (Rn 114 f) zu Diskussionen unter den Staaten. Von einem Übergang von einstimmigen Beschlüssen zu Ratsentscheidungen mit qualifizierter Mehrheit befürchteten einige Mitgliedstaaten einen Souveränitätsverlust.721 Um diesen Befürchtungen wirksam zu begegnen, wurden in Art 100a EWGV Durchbrechungsmöglichkeiten vorgesehen. GA Giuseppe Tesauro fasste im Verfahren Frankreich / Kommission (1994) diese Absicht der Mitgliedstaaten und die Folgen für die Ausgestaltung von Art 100a EWGV in seinen Schlussanträgen wie folgt zusammen: „Dadurch, daß den Mitgliedstaaten das Recht eingeräumt wurde, ihre nationale Regelung trotz der Harmonisierung eines Bereichs auf Gemeinschaftsebene beizubehalten, sollten ein ‚verstärkter‘ Schutz bestimmter besonders wesentlicher Interessen sichergestellt und vor allem die von einigen Staaten in den Verhandlungen über die Einheitliche Europäische Akte geäußerten Befürchtungen entkräftet werden, eine durch Mehrheitsbeschluß erlassene Harmonisierungsmaßnahme könne gegebenenfalls zu einer Verringerung des Schutzes führen, der für diese Interessen auf nationaler Ebene gewährleistet sei. Die Bestimmung stellt mit anderen Worten ein ‚Gegengewicht‘ dazu dar, daß der Grundsatz der Einstimmigkeit für den Erlaß von Maßnahmen [nach Art] 100a Absatz 1 aufgegeben worden ist.“722 Hinsichtlich der Durchbrechung des Verfahrens nach Art 100a EGV (= Art 114 I 213 AEUV) bestanden bis zum Vertrag von Amsterdam eine Reihe von Unsicherheiten bei der Anwendung,723 die erst durch die Präzisierungen anlässlich dieser Vertragsrevision beseitigt werden konnten.724 Seitdem erlaubt es Art 114 IV AEUV den Mitgliedstaaten, einzelstaatliche Bestimmungen aufgrund wichtiger Erfordernisse im Sinne des Art 36 AEUV oder in Bezug auf den Schutz der Arbeitsumwelt oder den Umweltschutz beizubehalten. Die Einführung neuer nationaler Vorschriften erlaubt Art 114 V AEUV lediglich aus Gründen des Umweltschutzes oder zum Schutz der Arbeitsumwelt. Die Durchbrechungsklauseln (sog „opt-out-Klauseln“) sind Ausnahmevor214 schriften mit Blick auf das Regelverfahren des Art 114 I AEUV und müssen daher eng ausgelegt werden. Da die Rechtsangleichung auf eine Harmonisierung der Bedingungen im Binnenmarkt abzielt, muss das „Gegengewicht“ bzw der „Ausgleich“ des Abs 4 eng verstanden werden, so dass seine Anwendbarkeit strengen Bedingungen unterliegt.725 Auch um den systematischen Zusammenhang zu Art 114 III AEUV zu

_____ 720 Frenz Hdb 6 Rn 3473. 721 Kahl S 37 f. 722 GA Tesauro, Rs C-41/93 – Frankreich / Kommission, Nr 4. 723 Langeheine GS Eberhard Grabitz, 1995, S 369 ff. 724 Gundel JuS 1999, S 1171 ff. 725 GA Saggio, Rs C-127/97 – Willi Burstein, Nr 22; GA Saggio, Rs C-319/97 – Antoine Kortas, Nr 23 f; GA Tizzano, Rs C-3/00 – Dänemark / Kommission, Nr 66. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

III. Rechtsangleichung | 997

wahren, dürfen die Mitgliedstaaten nur solche Regelungen beibehalten oder einführen, die ein höheres Schutzniveau aufweisen als die Harmonisierungsmaßnahme nach Art 114 I AEUV.726 Ein Aufweichen des Schutzniveaus durch ein „Abweichen nach unten“ ist damit ausgeschlossen.727 Auf diese Weise wird dem Spannungsverhältnis von grenzüberschreitender Marktintegration und nationalstaatlichen Souveränitätsinteressen angemessen Rechnung getragen.728 Zu berücksichtigen ist zudem, dass eine Derogation ausschließlich bei Maßnahmen möglich ist, die auf Art 114 I AEUV beruhen. Für Rechtsakte, die auf andere Kompetenztitel – etwa Art 352 AEUV – gestützt sind, sind die Bestimmungen des Art 114 IV-VI AEUV nicht anwendbar. Der Tatbestand des „Beibehaltens“ erfasst zunächst bestehende innerstaatli- 215 che Regelungen, die nach dem Erlass einer Harmonisierungsmaßnahme weiterbestehen. Unter den Begriff können indes auch Vorschriften fallen, die nachträglich zwar geändert wurden, den Regelungskern aber nicht antasten.729 Ausweislich des Wortlauts des Art 114 IV AEUV ist die Durchbrechung einer Harmonisierungsmaßnahme auf den Zeitpunkt des Erlasses durch den europäischen Gesetzgeber festgelegt. Dabei handelt es sich um den Zeitpunkt des formellen Inkrafttretens, der in der Unterzeichnung des Gesetzgebungsaktes durch die Präsidenten des Europäischen Parlaments und des Rates (Art 297 I AEUV) als abschließender Akt des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens liegt.730 Die Beibehaltung innerstaatlicher Regelungen setzt zu ihrer Rechtfertigung 216 wichtige Erfordernisse im Sinne von Art 36 AEUV oder einen Bezug zum Schutz der Arbeitsumwelt bzw zum Umweltschutz voraus. Der Begriff der Arbeitsumwelt wird bereits in Art 153 AEUV verwendet und umfasst „sämtliche körperliche oder sonstige Faktoren, welche die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer in ihrem Arbeitsumfeld mittelbar oder unmittelbar berühren“.731 Dazu gehören neben Fragen der Arbeitsplatzgestaltung auch die sichere Gestaltung der Arbeitsgeräte, -stoffe und -materialien.732 Der Umweltbegriff entspricht dem in Art 191 AEUV verwendeten Tatbestandsmerkmal. Er ist weit auszulegen und umfasst die „natürliche Umwelt“, zu der sowohl die „unberührte“ Natur als auch die vom Menschen geschaffene bzw beeinflusste „künstliche Umgebung“ gehören.733 Um dem Ausnahmecharakter der Durchbrechungsklauseln gerecht zu werden, 217 handelt es sich bei den wichtigen Erfordernissen im Sinne von Art 36 AEUV

_____ 726 GA Saggio, Rs C-319/97 – Antoine Kortas, Nr 24; GA Tizzano, Rs C-3/00 – Dänemark / Kommission, Nr 66. 727 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje Art 114 AEUV Rn 165. 728 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje Art 114 AEUV Rn 159. 729 Frenz Hdb 6 Rn 3476. 730 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Krajewski/Rösslein Art 297 AEUV Rn 5. 731 EuGH, Rs C-84/94 –Vereinigtes Königreich / Rat, Rn 15. 732 Streinz/Eichenhofer Art 153 AEUV Rn 15. 733 Epiney § 19 (in diesem Band) Rn 10. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

998 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

nicht um alle zwingenden Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung. Vielmehr sind die Rechtfertigungsmöglichkeiten auf die explizit in Art 36 S 1 AEUV genannten Rechtsgüter beschränkt, namentlich die öffentliche Sittlichkeit, die Ordnung und Sicherheit, den Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert sowie des gewerblichen und kommerziellen Eigentums (Rn 349 ff).734 Neben der Beibehaltung abweichender Vorschriften ist überdies in Art 114 V 218 AEUV die Einführung einzelstaatlicher Bestimmungen vorgesehen. Ähnlich dem Maßstab, der für die Beibehaltung bestehender Regelungen gilt, werden auch an die Neuschaffung einzelstaatlicher Vorschriften keine strengen Voraussetzungen geknüpft. Der Anwendungsbereich von Art 114 V AEUV ist nicht erst bei einer umfassenden Neuordnung des nationalen Regelwerks eröffnet, sondern bereits bei einer punktuellen Änderung eines bestehenden Gesetzes.735 Im Gegensatz zur Beibehaltung nationaler Regelungen ist der Anwendungsbereich von Art 114 V AEUV auf den Schutz der Umwelt und der Arbeitsumwelt beschränkt, was eine Derogation erheblich eingrenzt. Die Entscheidung, einzelne Mitgliedstaaten von einer Rechtsangleichung nach 219 Art 114 I AEUV freizustellen, erfolgt im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens nach Art 114 VI AEUV. Nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens, das eine Harmonisierungsmaßnahme zum Gegenstand hat (Art 114 I, 294 AEUV), entscheidet die Kommission auf der Grundlage der Mitteilung eines Mitgliedstaates (Art 114 IV, V AEUV) innerhalb einer – um weitere sechs Monate verlängerbaren – Frist von sechs Monaten, ob sie eine Derogation genehmigt oder ablehnt. Sofern die Kommission nicht innerhalb der Sechsmonatsfrist – spätestens innerhalb von zwölf Monaten – entscheidet, gilt die Derogationsmaßnahme nach Art 114 VI UAbs 2 AEUV als gebilligt. Die Kommission prüft unter Beachtung des grundsätzlichen Vorrangs der mit220 gliedstaatlichen Risikobewertung, ob die rechtlichen Voraussetzungen vorliegen. Dabei handelt es sich um die Untersuchung der einzelstaatlichen Bestimmungen auf ihre Eignung zur willkürlichen Diskriminierung oder zur verschleierten Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten, die das Funktionieren des Binnenmarkts behindern können.736 Die Kommission ist verpflichtet, ihre Entscheidung detailliert zu begründen.737 Die Entscheidung der Kommission über die Derogationsmaßnahme eines Mitgliedstaates hat konstitutive Wirkung. Dem Mit-

_____ 734 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje Art 114 AEUV Rn 170. 735 Calliess/Ruffert/Korte Art 114 AEUV Rn 83. 736 EuGH, Rs C-405/07 P, Rn 56 f. – Niederlande / Kommission. 737 EuGH, Rs C-41/93 – Frankreich / Kommission, Rn 34 ff; Rs C-3/00 – Dänemark / Kommission, Rn 120 ff; Frenz Hdb 6 Rn 3478. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

III. Rechtsangleichung | 999

gliedstaat ist demzufolge erst dann ein Abweichen von einer Harmonisierungsmaßnahme nach Art 114 I AEUV gestattet, wenn die Entscheidung der Kommission vorliegt.738 Lehnt die Kommission die Derogationsmaßnahme ab, hat der betroffene Mitgliedstaat nach Art 263 II AEUV die Möglichkeit, diese Entscheidung vor dem EuGH anzufechten.

g) Neue wissenschaftliche Erkenntnisse (Art 114 V AEUV) Will ein Mitgliedstaat die Standards einer rechtsangleichenden Maßnahme im An- 221 wendungsbereich von Art 114 AEUV durchbrechen, dann ist zwischen nationalen Bestimmungen zu unterscheiden, die bereits vor der Rechtsangleichung bestanden (Art 114 IV AEUV), und solchen, die der betreffende Mitgliedstaat beabsichtigt, nach einer Harmonisierung einzuführen (Art 114 V AEUV). Während eine Derogation im Anwendungsbereich von Art 114 IV AEUV aufgrund wichtiger Belange im Sinne von Art 36 AEUV oder in Bezug auf den Schutz der Arbeitsumwelt oder den Umweltschutz erfolgt, setzt eine Derogation nach Art 114 V AEUV das kumulative Vorliegen neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und ein spezifisches Problem für den betreffenden Mitgliedstaat voraus. Für die nachträgliche Einführung einzelstaatlicher Vorschriften gelten demnach strengere Voraussetzungen.739 Die unterschiedlichen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Mit- 222 gliedstaat von einer Rechtsangleichung der Union abweichen kann, müssen zum Zeitpunkt der Einführung einer harmonisierenden Regelung vorliegen. Im Anwendungsbereich des Art 114 IV AEUV bestehen bereits mitgliedstaatliche Regelungen beim Erlass der Harmonisierungsmaßnahme. Der Unionsgesetzgeber kann daher die von einer einzelstaatlichen Regelung ausgehenden Gefahren im Rahmen des Entscheidungsverfahrens nach Absatz 1 berücksichtigen und insoweit bewusst ein niedrigeres Schutzniveau einführen.740 Dabei muss er damit rechnen, dass der hiervon betroffene Mitgliedstaat, der ein höheres Schutzniveau in seiner nationalen Gesetzgebung verankert hatte, nach Abschluss des Harmonisierungsverfahrens einen Antrag auf Weitergeltung seiner bisherigen Regelung stellt.741 Hingegen entstehen dann, wenn eine Harmonisierungsmaßnahme der Union durch eine mitgliedstaatliche Regelung nachträglich durchbrochen wird, also in der Situation des Art 114 V AEUV, zusätzliche Gefahren für die Rechtsangleichung. Sie kann der Unionsgesetzgeber zum Zeitpunkt des Erlasses der Harmonisierungsmaßnahme zumeist nicht

_____ 738 EuGH, Rs C-3/00 – Dänemark / Kommission, Rn 30; Rs C-319/97 – Antoine Kortas, Rn 28. 739 Dauses/Ludwigs/von Danwitz B.II Rn 127; Calliess/Ruffert/Korte Art 114 AEUV Rn 103 f. AA Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje Art 114 AEUV Rn 171 ff. 740 Streinz Rn 983. 741 EuGH, Rs C-512/99 – Deutschland / Kommission, Rn 41. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1000 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

absehen und daher nicht berücksichtigen.742 In diesem Fall müssen folglich strengere Voraussetzungen an eine Derogation geknüpft werden.743 Andernfalls wäre der Grundsatz der Einheit des Unionsrechts gefährdet, der den exklusiven Vorrang des Unionsrechts auch vor dem nationalen Verfassungsrecht einfordert.744 Die Einführung einzelstaatlicher Derogationsmaßnahmen nach Art 114 V AEUV 223 erfolgt auf der Grundlage neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse im Bereich der Umwelt und der Arbeitsumwelt. Eine konkrete Kausalität muss dabei nicht nachgewiesen werden. Vielmehr genügen bereits fundierte Zweifel an dem unionsrechtlich vorgegebenen Schutzniveau.745 Die Erkenntnisse müssen jedoch objektiv vorliegen und dürfen nicht lediglich die Ansicht eines Mitgliedstaates dokumentieren.746 Die Bedeutung des Maßstabs der Wissenschaftlichkeit erschließt sich aus dem systematischen Zusammenhang mit Art 114 III AEUV, der bereits die Verpflichtung auf ein hohes Schutzniveau unter Berücksichtigung aller „auf wissenschaftliche Ergebnisse gestützten neuen Entwicklungen“ vorgibt. Die terminologische Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen Ergebnissen (Art 114 III AEUV) und wissenschaftlichen Erkenntnissen (Art 114 V AEUV) deutet auf einen qualitativen Unterschied dergestalt hin, dass die Anforderungen an die Erkenntnisse höher sind als an die Ergebnisse. Könnte ein Mitgliedstaat eine unionale Harmonisierungsmaßnahme durchbrechen, ohne sich auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse berufen zu können, wäre Art 114 V AEUV seines Charakters als Ausnahmeklausel zugunsten einer dauerhaften und beliebigen opting-out-Klausel beraubt.747 Neben neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen knüpft Art 114 V AEUV die Frei224 stellung einer Derogationsmaßnahme daran, dass ein spezifisches Problem auftritt. Der Begriff selbst wird in der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht näher definiert.748 Er erfasst jedoch die Fälle, in denen im gesamten Gebiet eines Mitgliedstaats oder in einem Teil davon ein neues Phänomen auftritt, das sich negativ auf die Umwelt oder Arbeitsumwelt auswirkt und bei der Ausarbeitung der harmonisierten Vorschriften nicht berücksichtigt werden konnte. Vorausgesetzt wird zudem, dass dieser Entwicklung sofort auf einzelstaatlicher Ebene begegnet werden muss, da eine Änderung der Harmonisierungsvorschriften nicht abgewartet werden kann. Die erlassene Rechtsangleichungsmaßnahme könnte nämlich ungeeignet sein, um ein spezifisches nationales Problem zu lösen, sei es wegen eines rein lokal begrenzten Befundes oder wegen der örtlichen Besonderheiten des Phänomens, die in den

_____ 742 743 744 745 746 747 748

EuGH, Rs C-512/99 – Deutschland / Kommission, Rn 41. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje Art 114 AEUV Rn 175. Streinz Rn 981. Albin/Bär NuR 1999, S 185 (187 f). Albin/Bär NuR 1999, S 185 (188). Albin/Bär NuR 1999, S 185 (187). Exemplarisch dazu EuGH, Rs C-512/99 – Deutschland / Kommission, Rn 40. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

III. Rechtsangleichung | 1001

Verhandlungen über Harmonisierungsmaßnahmen und bei den Fristen ihres Inkrafttretens nicht ausreichend berücksichtigt werden können.749 Nicht erforderlich ist, dass dieses spezifische Problem exklusiv in einem einzi- 225 gen Mitgliedstaat auftritt. Vielmehr kann das Phänomen lokaler Natur sein und sich aus den geografischen, geologischen, sozialen oder sonstigen Umständen eines Ortes ergeben.750 Es kann sich auch um ein Problem allgemeiner Art, aber mit örtlichen Spezifika handeln.751 Das von einem Mitgliedstaat geltend gemachte Problem muss indes inhaltlich die Derogation rechtfertigen und daher die Haltung des Mitgliedstaates begründen.752 Art 114 V AEUV ist jedoch nicht anwendbar, wenn es sich um Probleme allge- 226 meiner Natur handelt. Allgemein und damit nicht spezifisch im Sinne von Art 114 V AEUV ist jedes Problem, das sich in entsprechender Weise in sämtlichen Mitgliedstaaten stellt. In dieser Konstellation ist zu prüfen, ob dem nicht durch eine Harmonisierungsmaßnahme der Union angemessen begegnet werden kann.753

h) Schutzklauseln (Art 114 X AEUV) Ausweislich der Bestimmung des Art 114 X AEUV können die Harmonisierungsmaß- 227 nahmen der Union „in geeigneten Fällen“ mit einer Schutzklausel verbunden werden. Sie ermächtigt die Mitgliedstaaten, aus einem oder mehreren der in Art 36 AEUV genannten nicht-wirtschaftlichen Gründe vorläufige Maßnahmen zu treffen.754 Vor allem im Bereich der Produktsicherheit sind Schutzklauseln ein Bestandteil von Harmonisierungsmaßnahmen. Wenn ein Mitgliedstaat Bedenken gegen die Zulassung eines Produktes hat, kann er so abweichend von den Bestimmungen des Harmonisierungsrechtsakts vorübergehende Maßnahmen treffen.755 Die einzelstaatlichen Maßnahmen sind keine nationalen Alleingänge iSv Abs 4 und 5, sondern vorläufige Schutzmaßnahmen.756 Durch diese Regelungssystematik wird ein Produkt in der Union unter dem Vorbehalt der Gefahrenabwehr für Drittrechtsgüter rechts-

_____ 749 EuG, Rs T-182/06 – Niederlande / Kommission, Rn 61, aufgehoben wegen mangelhafter Sachverhaltsermittlung seitens der Kommission durch EuGH, Rs C-405/07 P, Rn 51 ff. – Niederlande / Kommission. 750 Albin/Bär NuR 1999, S 185 (189). 751 Calliess/Ruffert/Korte Art 114 AEUV Rn 105. 752 Entscheidung 2003/653 der Kommission v 2.9.2003 über die einzelstaatlichen Bestimmungen zum Verbot des Einsatzes gentechnisch veränderter Organismen im Land Oberösterreich, die von der Republik Österreich gemäß Art 95 V EGV mitgeteilt wurden, ABl 2003 L 230/34, S 34, Rn 66. 753 EuG, Rs T-182/06 – Niederlande / Kommission, Rn 62 ff. 754 Calliess/Ruffert/Korte Art 114 Rn 57 ff; Streinz/Schröder Art 114 AEUV Rn 122 ff. 755 Löwer S 86. 756 Lenz/Borchardt/Fischer Art 114 AEUV Rn 38; Pechstein/Nowak/Häde/Terhechte Art 114 AEUV Rn 104. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1002 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

angleichend zugelassen.757 Die Union strebt auf diese Weise ein hohes Schutzniveau im Wege der Rechtsangleichung an; dieses Niveau kann jedoch in Einzelfällen zugunsten der Gesundheit oder Sicherheit durch mitgliedstaatliche Eingriffsbefugnisse vorübergehend derogiert werden.758 Als ein Beispiel dieser Methode der Harmonisierung gilt die RL 89/398 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Lebensmittel, die für eine besondere Ernährung bestimmt sind.759 Art 12 der Richtlinie erlaubt es den Mitgliedstaaten, die einschlägigen Bestimmungen der Harmonisierungsrichtlinie vorübergehend auszusetzen, wenn die Verwendung eines Lebensmittels, das für eine besondere Ernährung bestimmt ist, die menschliche Gesundheit gefährdet, obwohl es der jeweiligen Einzelrichtlinie entspricht. Die nationale Anwendung der Schutzklausel ist indes eng auszulegen und auf 228 „Notfälle“ in den Mitgliedstaaten zu beschränken.760 Die in diesem Rahmen getroffenen einzelstaatlichen Maßnahmen unterliegen einer Kontrolle der Union, die in erster Linie der Kommission obliegt.761 Die Derogationsrechte der Mitgliedstaaten nach Art 114 IV, V AEUV bleiben vom Bestehen einer Schutzklausel unberührt. Art 114 X AEUV entfaltet gegenüber den Derogationsklauseln keine Sperrwirkung.762

i) Unmittelbare Auswirkung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften auf die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarkts (Art 115 AEUV) 229 Ausweislich des Wortlauts von Art 115 AEUV erlässt der Rat einstimmig im besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Europäischen Parlaments sowie des Wirtschafts- und Sozialausschusses Richtlinien für die Angleichung derjenigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarkts auswirken. Der Bezugspunkt einer Anwendung des Art 115 AEUV ist daher ebenso wie in Art 114 AEUV der Binnenmarkt. Die Regelungen zur Rechtsangleichung systematisieren innerhalb des Binnenmarkts allerdings nach einzelstaatlichen Bestimmungen, die auf einen bloßen Marktbezug abstellen (Art 114 AEUV) oder einen unmittelbaren Marktbezug fordern (Art 115 AEUV). Das Verhältnis der beiden Vorschriften definiert sich damit über die engeren Tatbestandsvoraussetzungen des Art 115 AEUV (Rn 141). Zudem setzt die Anwendung des besonderen Gesetzgebungsverfahrens,

_____ 757 Löwer S 87. 758 GA Jacobs, Rs C-359/92 – Deutschland / Kommission, Nr 23. 759 RL 89/398, ABl 1989 L 186/27. 760 EuGH, Rs 11/82 – Piraiki-Patraiki / Kommission, Rn 26; GA Jacobs, Rs C-359/92 – Deutschland / Kommission, Nr 23. 761 EuGH, Rs 148/78 – Tullio Ratti, Rn 37. 762 Calliess/Ruffert/Korte Art 114 AEUV Rn 60 mwN. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

III. Rechtsangleichung | 1003

das nur zum Erlass einer harmonisierenden Richtlinie führen kann, einer Rechtsangleichung nach Art 115 AEUV enge Grenzen.763 Die restriktive Auslegung dieser Vorschrift ist insb mit Blick auf das hieran geknüpfte Gesetzgebungsverfahren von Bedeutung. Ohne die Vorgabe dieser hohen Verfahrenshürden könnte andernfalls die Mitwirkung des Europäischen Parlaments im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren bei einer Rechtsangleichung nach Art 114 I AEUV dauerhaft umgangen werden. Der Begriff der unmittelbaren Auswirkung wird weder in den Verträgen noch 230 im Schrifttum konturiert. Um unmittelbare Auswirkungen festzustellen, wurde in der Vergangenheit auf einen direkten Kausalzusammenhang zwischen der einzelstaatlichen Vorschrift und negativen Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts abgestellt.764 Eine solche Interpretation der Vorschrift setzte sich aber nicht durch, da die oftmals komplexen Sachverhalte die Kausalitätsanforderungen nicht erfüllen konnten.765 In der neueren Rechtsprechung und im Schrifttum deutet sich nunmehr eine andere Lösung hinsichtlich der Frage an, ob eine einzelstaatliche Rechtsvorschrift einen unmittelbaren Marktbezug aufweist.766 Unter Berücksichtigung der Intention der Rechtsangleichungsmaßnahme, namentlich die Verwirklichung der Grundfreiheiten oder die Beseitigung von Wettbewerbsverfälschungen, haben Rechtsprechung und Lehre, angelehnt an die Keck-Entscheidung767 (Rn 344) des EuGH, Kriterien für die Abgrenzung des jeweiligen Marktbezugs entwickelt.768 Dieser Ansatz geht von einer Differenzierung zwischen produkt- und vertriebsbezogenen Regelungen aus (Rn 345) und attestiert Regelungen, die die Beschaffenheit von Produkten und Dienstleistungen betreffen, eine unmittelbare Wirkung auf das Funktionieren des Binnenmarkts. Demgegenüber haben Vorschriften über den Vertrieb von Produkten und Dienstleistungen lediglich mittelbare Auswirkungen auf den Binnenmarkt. Sie wirken sich daher am Markt nicht in nachteiliger Weise auf den Zugang des Verbrauchers zu einem eingeführten Produkt oder einer angebotenen Dienstleistung aus.769 Anhand dieser Kriterien kann mithin festgestellt werden, ob die Grundfreiheiten und damit der Binnenmarkt beeinträchtigt sind.770 Hinsichtlich der Maßnahmen gegen eine Verfälschung des Wettbewerbs ist auf die Spürbarkeit der Störung – entsprechend Art 114 AEUV (Rn 202 ff) – abzustellen.771

_____ 763 Frenz Hdb 6 Rn 3501. 764 Ludwigs S 184 mwN. 765 Ludwigs S 184; Braun Binder S 47 f. 766 Dauses/Ludwigs/von Danwitz B.II Rn 137. 767 EuGH, verb Rs C-267/91 ua – Keck und Mithouard. 768 EuGH, Rs C-376/98 – Tabakwerbung, Rn 98 ff, 106 ff; Seidel EuR 1979, S 171 (178 ff). 769 EuGH, verb Rs C-267/91 ua – Keck und Mithouard, Rn 15 ff. 770 Seidel EuR 1979, 171 ff. 771 Vgl dazu auch EuGH, Rs C-376/98 – Tabakwerbung, Rn 106 ff unter Verweis auf Rs C-300/89 – Titandioxid, Rn 23. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1004 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

j) Konkurrenzen zur Rechtsangleichung 231 Die einzelnen Tatbestandsmerkmale des Art 114 AEUV und ihre Auslegung durch

den EuGH unterstreichen ihren Wert als Generalklausel (Rn 121, 244), die es der Union ermöglicht, in nahezu allen Politikbereichen unter dem Deckmantel des Binnenmarktbezugs Harmonisierungsmaßnahmen zu ergreifen. Dabei ist es unerheblich, dass eine Vielzahl dieser Maßnahmen auch anderen Zielen der EU, etwa dem Umwelt- oder Verbraucherschutz, dient (Rn 123 ff). Die Wahl der Rechtsgrundlage muss sich daher „auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen“, zu denen insb das Ziel und der Inhalt des Rechtsakts gehören.772 Ergibt die Prüfung eines Rechtsakts der EU, dass er zwei Ziele verfolgt oder zwei Komponenten umfasst, und lässt sich unter ihnen eine Präponderanz ausmachen, dann ist der Rechtsakt nur auf eine Rechtsgrundlage zu stützen, und zwar auf diejenige, die die hauptsächliche oder überwiegende Zielsetzung oder Komponente des Rechtsakts erfordert. Andernfalls würde nicht nur der Wortlaut von Art 114 AEUV verkannt, sondern auch dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zuwidergehandelt (Rn 233 f).773 Allerdings ist es dem EuGH nicht gelungen, die Grenzen der Rechtsangleichung durch eine gefestigte Rechtsprechung zu untermauern. Die ambivalente Bewertung des Binnenmarktbezugs einer Maßnahme, insb im ersten und zweiten Tabakwerbeurteil, unterstreicht diesen Befund (Rn 123 f). Durch eine weite Interpretation des Binnenmarktbezugs haben die Luxemburger Richter ein Einfallstor für eine unabsehbare Kompetenzausübung des europäischen Gesetzgebers geschaffen, das in seiner Anwendung kaum noch gerichtlich kontrollierbar ist (Rn 244).

4. Grenzen und Bedingungen der Rechtsangleichung 232 Die Mitgliedstaaten der EU haben in den Verträgen keinen endgültigen Souveräni-

tätsverzicht erklärt, sondern der Union einzelne Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen (Art 1 I EUV). Sie bleiben mithin – nach einer kritikwürdigen Formulierung des Bundesverfassungsgerichts – die „Herren der Verträge“ und verfügen über die Macht, der Union Zuständigkeiten zuzuweisen oder zu entziehen („Kompetenz-Kompetenz“).774 Um die Entwicklungsfähigkeit der Union als Rechtsgemeinschaft innerhalb des ihr gesteckten Zuständigkeitsrahmens sicherzustellen, haben die Vertragsstaaten seit dem Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art 3 EWGV = Art 5 I, II EUV) normiert, das als Strukturprinzip eine Selbstermächtigung

_____ 772 EuGH, Rs C-301/06 – Vorratsdatenspeicherung, Rn 60; Rs C-233/94 – Einlagensicherungssysteme, Rn 13; Rs C-300/89 – Titandioxid, Rn 10. 773 EuGH, Rs C-376/98 – Tabakwerbung, Rn 83. 774 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (381) – Lissabon; Blanke/Mangiameli/Weber Art 5 TEU Rn 5 f. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

III. Rechtsangleichung | 1005

der Union ausschließt. Dieser Befund ist auch für das Instrument der Rechtsangleichung bedeutsam. So unterliegen die Harmonisierungsmaßnahmen der Union nach Art 114, 115 AEUV den in Art 5 I EUV ausdrücklich gesetzten Schranken. Dort heißt es, dass „für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union […] der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung [gilt]. Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union gelten die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.“

a) Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art 5 I, II EUV) begrenzt die Kom- 233 petenzen der Union auf die ihr in den Verträgen ausdrücklich oder implizit übertragenen Aufgaben. Bei diesen Aufgaben handelt es sich nicht um umfassende Kompetenzen, sondern um begrenzte, enumerativ aufgezählte Einzelzuständigkeiten.775 Somit verbleiben alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten im Souveränitätsbereich der Mitgliedstaaten (Art 5 II S 2 EUV). Der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung limitiert die Hoheitsgewalt der Union „von der Quelle her“,776 indem der europäische Gesetzgeber nur innerhalb der von den Mitgliedstaaten gesetzten Grenzen zum Handeln ermächtigt wird und daher verpflichtet ist, bei der Wahl der Rechtsgrundlage von objektiven, gerichtlich nachprüfbaren Kriterien auszugehen und dabei das Ziel und den Inhalt des Rechtsakts zu berücksichtigen. 777 Die begrenzte Einzelzuständigkeit wirkt als eine „absolute Handlungsschranke“,778 deren Beachtung durch den Gesetzgeber der ausschließlichen Kontrolle des EuGH (Art 263 II AEUV) unterliegt. Auch für Maßnahmen der Rechtsangleichung nach Art 114, 115 AEUV gilt das 234 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Obgleich Art 114, 115 AEUV wegen ihrer funktionalen Zielrichtung in Gestalt des Binnenmarkts keine Kompetenzermächtigung zugunsten eines bestimmten Sachgebiets iSv Art 5 I, II EUV beinhalten,779 muss der Unionsgesetzgeber prüfen, ob nicht eine speziellere Vorschrift einschlägig ist, um die beabsichtigte Regelung zu erlassen (lex specialis).780 Da es sich im Fall von Art 114, 115 AEUV um weit gefasste Kompetenznormen handelt, ist das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung auch im Rahmen der Auslegung dieser Handlungsermächtigungen zu berücksichtigen. 781 Im Zusammenspiel mit

_____ 775 EuGH, Rs C-376/98 – Tabakwerbung, Rn 83; Riesenhuber S 132. 776 Nicolaysen EuR 1966, 129 (135). 777 EuGH, Rs C-233/94 –Einlagensicherungssysteme, Rn 12; Rs C-268/94 – Portugal / Rat, Rn 22; Rs C-84/94 – Vereinigtes Königreich / Rat, Rn 25; Rs C-155/91 – (Abfallrichtlinie 91/156), Rn 7; Rs C300/89 – Titandioxid, Rn 10. 778 Nörr/Oppermann/Bieber S 165 (171). 779 Wagner S 56 f. 780 Tamm VuR 2012, 3 (6). 781 Kraußer S 121 ff; Bron S 66. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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dem Subsidiaritätsprinzip sichert es die Handlungsspielräume der Mitgliedstaaten.782

b) Grundsatz der Subsidiarität 235 Im Zuge der Einheitlichen Europäischen Akte und der intensiveren Nutzung des

Instruments der Rechtsangleichung mit dem Ziel, den Binnenmarkt zu errichten,783 mehrten sich die Zweifel, ob das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung geeignet ist, die Kompetenzen der Union von den umfassenden Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten abzugrenzen.784 Um die Einwirkungen des europäischen Rechts im Mehrebenensystem der Union besser zu steuern und den Regelungsanspruch der Union nach Sachbereichen und Kompetenzen einzugrenzen,785 integrierten die Vertragsschöpfer von Maastricht die Prinzipien der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit als „Eckpfeiler in die Architektur des gesamten europäischen Vertragswerks“.786 Das Subsidiaritätsprinzip erlangt innerhalb der EU immer dann Bedeutung, 236 wenn es um die Ausübung der Kompetenzen im Verhältnis zwischen Union und Mitgliedstaaten und damit um die Grenzen der unionalen Kompetenzausübung geht. Im Spannungsfeld der konkurrierenden Kompetenzen wirkt das Subsidiaritätsprinzip als ein Kompetenzausübungsgrundsatz, der sicherstellt, dass die Union nur die Zuständigkeiten wahrnimmt, die notwendig und wirksamer sind als entsprechende nationale Maßnahmen. Das Subsidiaritätsprinzip zielt darauf ab, die nationale Eigenart der in der EU zusammengeschlossenen Völker zu gewährleisten und die rechtliche Existenz und politische Eigenständigkeit der Staaten787 vor dem Aufgehen in einer zentralisierten bundesstaatlichen Union zu bewahren. Zustimmung gewinnt immer mehr die für die Rechtsangleichung relevante Ansicht, dass das Subsidiaritätsprinzip auch zur Prüfung einer Zuständigkeit der Union – ebenso wie der Verhältnismäßigkeit und selbst einer allgemeinen Zweckmäßigkeit einer Maßnahme – berechtigt.788

_____ 782 Ludwigs S 150. 783 Zum Abbau von Freiverkehrshemmnissen wurden allein von September 1988 bis zum Ende des Jahres 1989 annähernd 300 Maßnahmen von Kommission und Ministerrat verabschiedet. Zur Rechtsangleichung im Binnenmarkt in Folge der Novellierung durch die EEA vgl Müller-Graff EuR 1989, 107 (113). 784 Kraußer S 98 ff. 785 Wendel S 527; Schambeck FS Isensee, 2007, S 707 (719). 786 Hrbek/Blanke Subsidiaritätsprinzip S 95 (96). 787 Constantinesco EuZW 1991, 561 (562). 788 Bejahend Wuermeling EuR 2004, 216 (225); Calliess Protokoll der 23. Sitzung des Rechtsausschusses – Unterausschuss Europarecht am 28.11.2007, S 14; Georgiev/Silberhorn S 118 (127); vDanHermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Mehrfach hat der EuGH anerkannt, dass das Subsidiaritätsprinzip auf Maßnah- 237 men der Rechtsangleichung nach Art 114 AEUV anwendbar ist. Nachdem die Luxemburger Richter in der Biopatent-Entscheidung nur implizit zum Ausdruck gebracht hatten, dass Art 114 AEUV als eine nicht-ausschließliche Zuständigkeit der Union zu qualifizieren sei,789 betonten sie in der Entscheidung zur Tabakwerbung erstmals ausdrücklich, dass das Subsidiaritätsprinzip im Rahmen von Art 114 AEUV Anwendung finde, „da diese Vorschrift ihm [dem Unionsgesetzgeber] keine ausschließliche Zuständigkeit für die Regelung der wirtschaftlichen Tätigkeiten im Binnenmarkt verleiht, sondern nur die Zuständigkeit für die Verbesserung der Bedingungen für die Errichtung und das Funktionieren dieses Marktes durch Beseitigung von Hemmnissen für den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr oder von Wettbewerbsverzerrungen.“790 Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips im Gesetzgebungsverfahren der 238 Union wird durch das Protokoll Nr 2 zum Vertrag von Lissabon geregelt, das das Subsidiaritätsprinzip prozedural ausgestaltet und ein System seiner Kontrolle durch die nationalen Parlamente oder die Kammern eines dieser Parlamente zu errichten versucht.791 Auf diese Weise soll das Subsidiaritätsprinzip justiziabel und stärker als bisher zum Prüfungsmaßstab des EuGH gemacht werden.792 Indes wurde das Frühwarnsystem (Art 6 Protokoll Nr 2) nicht um justiziable materielle Kriterien ergänzt, anhand derer geprüft werden kann, ob der Unionsgesetzgeber das Subsidiaritätsprinzip beachtet hat. Die Subsidiaritätsprüfung erfolgt in der Union einerseits nach dem sog Negativ- oder Effizienzkriterium und andererseits nach dem sog Positivoder Erforderlichkeitskriterium.793 Während das Effizienzkriterium verlangt, dass die Ziele der in Betracht kommenden Maßnahme auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können, besagt das Erforderlichkeitskriterium, dass die Ziele wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Unionsebene erreicht werden können (europäischer Mehrwert).794 Beide Kriterien müssen kumu-

_____ witz Der Mehrwert gemeinsamen Handelns, Frankfurter Allgemeine Zeitung v 23.10.2008, S 8; vgl auch BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (353, 383) – Lissabon. 789 EuGH, Rs C-377/98 – Biopatent, Rn 30 ff. 790 EuGH, Rs C-491/01 – British American Tobacco, Rn 179; verb Rs C-154/04 ua – Alliance for Natural Health ua, Rn 103; Rs C-58/08 – Vodafone, Rn 72 ff. Hierzu auch Möstl EuR 2002, 318 (344). 791 Protokoll Nr 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Zur Ausgestaltung der Subsidiaritätskontrolle. Vgl grundlegend Blanke/Mangiameli/ Blanke/Colasante/Fasone/Iacoviello/Lupo/Mangiameli Protocol (No. 2) Rn 1 ff. 792 Dauses/Ludwigs/von Danwitz B.II Rn 148. 793 Dazu Blanke/Mangiameli/Weber Art 5 TEU Rn 9; Blanke/Mangiameli/Blanke/Colasante/ Fasone/Iacoviello/Lupo/Mangiameli Protocol (No. 2) Rn 61 ff. 794 Nörr/Oppermann/Bieber S 165 (177). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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lativ erfüllt sein.795 Da die Parameter zur Überprüfung der beiden Kriterien nicht definiert sind, verbleibt den Unionsorganen ein erheblicher Beurteilungsspielraum. Diesen Befund verdeutlicht nicht zuletzt die Rechtsprechung des EuGH, die bis239 lang keinen Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip festgestellt hat. In den Urteilen zum Biopatent,796 zur Tabakwerbung797 und zu den Preisen für grenzüberschreitendes Roaming798 hat der EuGH das Subsidiaritätsprinzip lediglich apostrophiert, ohne es zu einer entscheidungserheblichen Größe zu machen. Um das Subsidiaritätsprinzip zu schärfen und einen effektiven Einsatz des Frühwarnsystems im Bereich der Rechtsangleichung zu gewährleisten, darf das Kontrollrecht der nationalen Parlamente nicht auf eine reaktive Prüfung der europäischen Rechtsetzung begrenzt bleiben (Rn 244).799 Vielmehr muss der Grundsatz der Subsidiarität weit interpretiert und die Subsidiaritätsrüge auch auf die Einhaltung der Kompetenzgrenzen ausgedehnt werden.800 Dies entspricht auch der Kontrollpraxis der nationalen Parlamente, wie sie sich innerhalb des Protokolls Nr 2 in einer Reihe von Mitgliedstaaten entwickelt hat. Erst die Überprüfung der dem Subsidiaritätsgrundsatz vorgelagerten Frage der Kompetenz für ein konkretes Rechtsetzungsvorhaben ermöglicht einen effektiven Rechtsschutz.801 Kontrastierend zur richterlichen Zurückhaltung bei der Anwendung des Subsi240 diaritätsprinzips spielte dieser Grundsatz beim Scheitern der Gesetzesvorlage über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht eine gewichtige Rolle.802 Neben der fehlenden kompetenziellen Grundlage (Rn 132) stehen dem Vorhaben auch (andere) Erwägungen des Subsidiaritätsprinzips entgegen. Das Erforderlichkeitskriterium besagt, dass die Ziele wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Unionsebene erreicht werden können. Dies setzt indes voraus, dass die Maßnahme als solche überhaupt geeignet ist, das angestrebte Ziel zu erreichen. Zwar verfügt der Unionsgesetzgeber gerade im Bereich der Binnenmarktpolitik über ein weites Ermessen. Dies darf allerdings nicht zum Erlass einer Harmonisierungsmaßnahme führen, die „zur Erreichung des Zieles, das das zuständige Organ verfolgt, offen-

_____ 795 Blanke/Mangiameli/Blanke/Colasante/Fasone/Iacoviello/Lupo/Mangiameli Protocol (No. 2) Rn 64. 796 EuGH, Rs C-377/98 – Biopatent, Rn 30 ff. 797 EuGH, Rs C-491/01 – British American Tobacco, Rn 173 ff. 798 EuGH, Rs C-58/08 – Vodafone, Rn 72 ff. 799 So auch Calliess im Rahmen eines Expertengesprächs im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages (Unterausschuss Europarecht) zum Thema: „Entsteht ein einheitliches europäisches Strafrecht“, Protokoll der 23. Sitzung des Rechtsausschusses – Unterausschuss Europarecht am 28.11. 2007, S 14. 800 Wuermeling EuR 2004, 216 (225). 801 BVerfG, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (383 f) – Lissabon. 802 VO-E über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, KOM(2011) 635. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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sichtlich ungeeignet ist“.803 Vor diesem Hintergrund verweist Tamm auf die Sprachbarrieren, die räumliche Entfernung sowie die Transport- und Versandkosten in Europa, die dazu führen, dass der Binnenmarkt nicht so stark wie von der Kommission angestrebt für grenzüberschreitende Transaktionen genutzt wird.804 Gegen die Eignung eines das Privatrecht der Mitgliedstaaten harmonisierenden Regelungsregimes spricht im Übrigen auch ein Vergleich mit dem US-amerikanischen Binnenmarkt, der über die Grenzen der US-Bundesstaaten hinweg Geschäftsabschlüsse ohne ein Einheitsrecht ermöglicht.805

c) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Als eine weitere Kompetenzausübungsschranke enthält Art 5 EUV neben dem 241 Subsidiaritätsprinzip in Abs 4 mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip einen weiteren allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts.806 Auch mit Blick auf Harmonisierungsmaßnahmen nach Art 114, 115 AEUV führt seine Anwendung dazu, dass die Rechtmäßigkeit der Regelung der Union nur dann zu bejahen ist, wenn sie zur Erreichung der hiermit verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist; ferner müssen die auferlegten Belastungen in einem angemessenen Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen. Stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen.807 Im Anwendungsbereich von Art 114 I AEUV bedeutet dies, dass bei der Entscheidung, welche „Maßnahmen zur Angleichung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten“ zu treffen sind, der Richtlinie gegenüber der Verordnung stets Vorrang gebührt.808 Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines Harmonisierungsvorhabens wird be- 242 stimmt durch die Abwägung der Ziele des Art 26 AEUV mit den einzelstaatlichen

_____ 803 EuGH, Rs C-491/01 – British American Tobacco, Rn 123; Rs C-380/03 – Tabakwerbung II, Rn 145. 804 Tamm VuR 2012, S 3 (10). Ähnlich auch Riesenhuber, der die Geeignetheit des GEK vor dem Hintergrund wesentlicher nicht geregelter verbraucherrechtsrelevanter Bereiche, namentlich Vertragssprache, Geschäftsfähigkeit, Stellvertretung, Abtretung usw, verneint. Vgl Riesenhuber, Protokoll der 67. Sitzung des Rechtsausschusses am 21.11.2011, S 9. 805 Tamm VuR 2012, S 3 (10). 806 EuGH, Rs 265/87 – Schräder, Rn 21; Rs C-331/88 – Fedesa, Rn 13; Rs C-24/90 – Faust, Rn 12; Rs C-58/08 – Vodafone, Rn 51 ff. 807 EuGH, Rs 265/87 – Schräder, Rn 21; Rs C-331/88 – Fedesa, Rn 13; Rs C-24/90 – Faust, Rn 12; Rs C-84/94 – Vereinigtes Königreich / Rat, Rn 57; Rs C-380/03 – Tabakwerbung II, Rn 144; GA Fenelly, Rs C-376/98 – Tabakwerbung, Rn 97; GA Kokott, Rs C-66/04 – Raucharomen, Nr 44 ff; GA Poiares Maduro, Rs C-58/08 – Vodafone, Nr 37 ff; Rs C-358/14 – Aroma-Werbeverbot, Rn 78 ff. 808 Wagner S 67. Ähnlich auch Schröder, der die – im Vertrag nicht erwähnte – „Rahmenrichtlinie“ (Ziff. 6 des dem Amsterdamer Vertrag beigefügten Protokolls Nr. 30 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit, ABl C 321 E/308) einer detaillierten Maßnahme vorziehen würde (Streinz/Schröder Art 288 AEUV Rn 54.). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Regelungsinteressen. 809 Dabei ist nicht nur das Binnenmarktziel zu beachten, sondern angesichts der Prägung des Art 114 AEUV als „Querschnittskompetenz“ (Rn 121) auch die weiteren Ziele, die über das Binnenmarktziel im engeren Sinne hinausgehen. Dazu gehört neben dem Gesundheits- und Umweltschutz namentlich auch der Verbraucherschutz.810 In die Abwägung gehen ferner die von einer Harmonisierungsmaßnahme ausgehenden individuellen Freiheitsbeeinträchtigungen ein. Ohne ihre Berücksichtigung würde der Charakter des Binnenmarkts als ein Ort wirtschaftlicher Freiheit verkannt (Rn 4). Diese Abwägung wird durch rasch veränderliche technische und wissenschaft243 liche Faktoren bestimmt. Vor dem Hintergrund dieser komplexen Entscheidung beschränkt sich die gerichtliche Kontrolle auf die Prüfung, ob ein offensichtlicher Beurteilungsfehler oder ein Ermessensmissbrauch vorliegt oder ob der Gesetzgeber die Grenzen seines Ermessens offenkundig überschritten hat.811 In seinem Urteil vom 4. Mai 2016 zur Richtlinie 2014/40/EU über die Herstellung, Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen hat der Gerichtshof diesen weiten Ermessensspielraum des Unionsgesetzgebers im Anwendungsbereich von Art 114 AEUV bestätigt.812 Danach können die Organe der Union, Unterschiede zwischen den nationalen Regelungen in Bezug auf die Zusammensetzung von Tabakerzeugnissen oder die Verhinderung einer heterogenen Entwicklung dieser Regelungen beseitigen, um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts für die betreffenden Erzeugnisse zu vereinfachen.813 Insoweit weisen die Luxemburger Richter daraufhin, dass die Verfasser des Vertrags dem Unionsgesetzgeber mit dem Ausdruck der „Maßnahmen zur Angleichung“ in Art 114 AEUV einen Ermessensspielraum eingeräumt haben.814 Vor diesem Hintergrund stellt der Gerichtshof fest, dass Art 114 AEUV dem Unionsgesetzgeber einen Ermessensspielraum hinsichtlich der Angleichungstechnik eingeräumt hat, wie das angestrebten Ergebnisses am besten erreicht werden kann. Dies gilt insbesondere für Bereiche, die durch komplexe technische Besonderheiten gekennzeichnet sind.815 Ungeachtet dieses Ermessensspielraums ist der Gesetzgeber dazu verpflichtet, seine Entscheidung auf objektive Kriterien zu stützen, die zudem in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit der Regelung verfolgten Ziel stehen.816

_____ 809 EuGH, Rs C-233/94 – Einlagensicherungssysteme, Rn 22 ff; Rs C-426/93 – Deutschland / Rat, Rn 42 ff. 810 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje Art 114 AEUV Rn 55. 811 EuGH, Rs C-84/94 – Vereinigtes Königreich / Rat, Rn 58. 812 EuGH Rs C-358/14 – Aroma-Werbeverbot, Rn 78 ff. 813 EuGH Rs C-358/14 – Aroma-Werbeverbot, Rn 64. 814 EuGH Rs C-358/14 – Aroma-Werbeverbot, Rn 37. 815 EuGH Rs C-358/14 – Aroma-Werbeverbot, Rn 68. 816 EuGH, Rs C-127/07 – Arcelor, Rn 58. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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d) Demokratische Legitimation Die breit gefächerten Anwendungsbereiche des Instruments der Rechtsangleichung 244 als „Querschnittskompetenz“ zur Funktionssicherung des Binnenmarkts belegen ihre Bedeutung für die europäische Integration (Rn 121) und verdeutlichen gleichsam als Kehrseite den stets drohenden Verlust der Gesetzgebungsbefugnisse der Mitgliedstaaten zugunsten der Union.817 Denn sobald der Bedarf einer einheitlichen Regulierung durch die Kommission artikuliert wird, agiert der europäische Gesetzgeber im Bereich der originären Befugnisse der nationalen Parlamente. Rechtsangleichende Maßnahmen der Union stoßen nicht nur kurzfristig in den Einflussbereich der nationalen Parlamente vor, sondern zwingen sie durch die unionale Regulierung auf Dauer in einen vorgegebenen Rahmen (Rn 137).818 Angesichts der Reichweite der Harmonisierungskompetenz nach Art 114 AEUV handelt es sich um eine „inhaltlich kaum noch eingrenzbare Generalklausel“,819 die in praktisch sämtlichen binnenmarktrelevanten Bereichen eine Regulierung ermöglicht. Vor allem die Rückwirkungen der unionalen Rechtsangleichung auf die nationalen Parlamente führen zu der Frage der demokratischen Legitimation dieser Maßnahmen. Die mitgliedstaatlichen Parlamente sind in die demokratische Legitimation der Gesetzgebungsakte der EU auf supranationaler Ebene über Art 12 lit a EUV iVm dem Protokoll Nr 1 über die Rolle der nationalen Parlamente rein beratend eingebunden. Dabei beschränkt sich ihre Stellung auf das Recht, über die Entwürfe von Rechtsetzungsakten im Rahmen eines politischen Dialogs von der Kommission unterrichtet zu werden (Art 2 III Protokoll Nr 1) und „eine begründete Stellungnahme zur Übereinstimmung eines Entwurfs eines Gesetzgebungsakts mit dem Subsidiaritätsprinzip an die Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission zu richten“ (Art 3 I Protokoll Nr 1 iVm Art 6 I Protokoll Nr 2). Begründete Stellungnahmen sind im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zu berücksichtigen (Art 7 I Protokoll Nr 2). Das Europäische Parlament wurde zum gleichberechtigten Partner des Ra- 245 tes im Rahmen der Rechtsangleichung nach Art 114 AEUV erst mit der Einführung des Kodezisionsverfahrens durch den Vertrag von Maastricht. Hingegen unterliegt die Beteiligung des Europäischen Parlaments im Rahmen einer Harmonisierung nach Art 115 AEUV noch immer den bereits im Vertrag von Rom festgelegten Verfahrensregeln, wonach es neben dem Wirtschafts- und Sozialausschuß nur anzuhören ist. Die Ursache für das auf das Verfahren nach Art 114 AEUV reduzierte Mitentscheidungsrecht des Europäischen Parlaments dürfte in der fehlenden Bereitschaft der Mitgliedstaaten liegen, sich in Bereichen fortgeltender staatlicher Souveränitätsansprüche einer parlamentarischen Mehrheit zu beugen. Denn Mehrheits-

_____ 817 Kern S 56. 818 Everling FS R Schmidt, 1977, S 165 (175). 819 Murswiek Vertrag von Lissabon S 50. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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entscheidungen setzen eine relative Homogenität der Völker der Mitgliedstaaten voraus.820 Erst dann, wenn die Bürgerinnen und Bürger auf Unionsebene kraft eines Wir-Gefühls vertreten werden, das sich trotz des politischen und ökonomischen Widerstreits und ungeachtet der sozialen und kulturellen Unterschiede in der Union entwickeln müsste, werden die Mitgliedstaaten und ihre Völker bereit sein, sich auch in Angelegenheiten der Rechtsangleichung außerhalb des Binnenmarkts im Rat und im Europäischen Parlament überstimmen zu lassen und solche Entscheidungen als verbindlich zu akzeptieren.821 Der fehlende Grundkonsens und der Mangel an Kompromissbereitschaft auf verschiedenen Politikfeldern schlagen sich letztlich auch in der Ausgestaltung des Art 115 AEUV nieder. Angesichts der Defizite demokratischer Legitimation, die auf der Ebene der Uni246 on beim Beschluss über Rechtsakte zur Harmonisierung festzustellen sind, wird die Bedeutung der Vermittlung demokratischer Legitimation kraft nationaler Verfahren erkennbar. Im Rechtsraum der Bundesrepublik Deutschland ist der Bundestag im Rahmen des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (Art 23 III 3 GG iVm §§ 1 I, 5 I Nr 4 und § 8 II und IV EUZBBG) auch bei Gesetzgebungsvorhaben der Union auf dem Gebiet der Rechtsangleichung (Art 114, 115 AEUV) zu beteiligen.822 Dieses vertikale Verfahren mittels einer Rückbindung der Stellungnahme der Bundesregierung im Rat an das Votum des Bundestages bleibt jedenfalls mit Blick auf Art 115 AEUV einstweilen die bedeutendste Quelle demokratischer Legitimation für die Geltung der beschlossenen Harmonisierungsakte im deutschen Jurisdiktionsbereich. Doch kennen nur ganz wenige Mitgliedstaaten eine solche vertikale Vermittlung demokratischer Legitimation kraft nationaler Bestimmungen über die Integrationsverantwortung des nationalen Parlaments und seiner Kammern (etwa Dänemark und Österreich).823

5. Die Krise der Rechtsangleichung 247 Die wirtschaftliche Integration in Europa manifestiert sich seit den Römischen Ver-

trägen in dem Leitziel der EU, einen funktionierenden Binnenmarkt (Art 3 III S 1 EUV) zu errichten. Die schrittweise Verwirklichung dieses Zieles erfolgte maßgeblich mittels der Rechtsangleichung, die zu bedeutenden Rechtsetzungsakten der Union vor allem im Bereich des Privatrechts geführt hat. Erinnert sei hier exempla-

_____ 820 Kern S 60. 821 BVerfG, 2 BvR 2134/92, BVerfGE 89, 155 (186) – Maastricht, unter Verweis auf Heller S 421 (427 ff). 822 Vgl zum Konzept der Integrationsverantwortung vArnauld/Hufeld/Hufeld, Abschn 1 Rn 1 ff, 14 ff, 22 ff. 823 Blanke/Böttner FS Albrecht Weber, 2015, S 243 (269 ff). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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risch an die Vielzahl von Richtlinien aus den achtziger und neunziger Jahren zur punktuellen Harmonisierung einzelner Bereiche des Privatrechts (Rn 133). Begünstigt wurde diese Entwicklung durch den „new approach“ der Kommission (Rn 115 f) und die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Cassis de Dijon, die darauf abzielten, eine europäische Überregulierung zu vermeiden und stattdessen im Zeichen der Gleichwertigkeit eine Politik der gegenseitigen Anerkennung nationaler Vorschriften – ergänzt durch europäische Mindeststandards – zu betreiben (Rn 183). Immerhin sind seit dem Vertrag von Rom bis zum Jahr 2014 im Wege der Rechtsangleichung im Binnenmarkt über 1000 Unionsrechtsakte erlassen worden. Die Krise der Rechtsangleichung resultiert aus der sich wandelnden Einstellung 248 der Mitgliedstaaten zur Geschwindigkeit und Reichweite der Integration.824 Die seit der Vertragsreform von Maastricht zunehmende Vergemeinschaftung klassischer Bereiche staatlicher Souveränität, namentlich im Bereich der WWU und des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, führte zu einer Änderung der Haltung der Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer Bereitschaft, weitere gewichtige Einwirkungen des Europarechts auf den nationalen Rechtsbestand hinzunehmen. Der Prozess der Rechtsangleichung, die sich oftmals zu stark in Detailregelungen verzettelt hat, sollte durch eine Kultur der Selbstbeschränkung gebändigt werden. Dann kann es der Union gelingen, „in kleinen Dingen klein und großen Dingen groß zu sein“ (J.-C. Juncker). Die Kompetenzausübungsregeln der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, die auch bei der Rechtsangleichung zur Anwendung kommen, unterstreichen diese Forderung. Aufgrund der wachsenden Heterogenität der Union als Folge zahlreicher Erweiterungsrunden825 ist die Kommission bereits im Rahmen der Gesetzgebungsinitiative bemüht, durch die Aufnahme von opting-outMöglichkeiten einen Konsens zwischen den Staaten zu erzielen. Allerdings wird damit das Ziel der Rechtsangleichung teilweise konterkariert.826 Eine neue Dynamik könnten indes die Binnenmarkthebel entfachen, die auf 249 verschiedenen Gebieten Impulse zur Fortentwicklung des Binnenmarkts geben wollen (Rn 104 ff). Für den Erlass der einschlägigen Richtlinien und Verordnungen bildet Art 114 AEUV eine maßgebliche Kompetenzgrundlage. Dies folgt bereits aus der Weite des Binnenmarktbegriffs, die zur Folge hat, „dass nahezu jede Maßnahme der Union [auf dem Gebiet der supranationalen Politik] irgendeinen (Rand-)Bezug zum Binnenmarkt hat“.827 So ließen sich etwa die Maßnahmen zur Umsetzung des fünften Hebels zur Normung im Dienstleistungssektor828 oder des ersten Hebels zur

_____ 824 825 826 827 828

Kern S 15. Roßkopf S 240. Kern S 16. Streinz/Schröder Art 114 AEUV Rn 47. VO 1025/2012, ABl 2012 L 316/12.

Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1014 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

Ausweitung der Finanzierungsmöglichkeiten für KMU829 (Rn 73) auf Art 114 AEUV stützen. Allerdings gilt auch insoweit, dass Art 114 AEUV hinter spezielle Kompetenzvorschriften zurücktritt.830 Die Binnenmarkthebel verdeutlichen, dass Rechtsangleichung notwendig ist, um Beschränkungen der Grundfreiheiten auszuräumen, die die Mitgliedstaaten durch Regelungen im Interesse des Gemeinwohls noch vornehmen dürfen. Wer die Rechtsangleichung einschränken will, muss also die Grundfreiheiten des Binnenmarkts enger verstehen, als sie sich in der bisherigen, jahrelangen Praxis und Rechtsprechung herausgebildet haben. Sie gehören zum Kernbestand der Union.831 Die „wirtschaftliche, steuerliche und soziale Konvergenz“, die Deutschand und Frankreich im Rahmen ihrer bilateralen Kooperation auf der Grundlage des Vertrags von Aachen anstreben (Art 1, 20),832 macht die Bedeutung der Rechtsangleichung überdeutlich – etwa zwecks Harmonisierung des Insolvenzrechts und des Unternehmenssteierrechts. Doch ist sie in der Hand des Gesetzgebers der Union sowie in der Auslegung durch den EuGH ein ambivalentes ordnungspolitisches Instrument. Die durch Rechtsangleichung gesetzten Standards beschränken sich infolge der 250 mangelnden Kompromissbereitschaft der Mitgliedstaaten häufig auf Minimalstandards.833 Um die Umsetzung der Harmonisierungsmaßnahmen auf einem hohen Schutzniveau sicherzustellen, ist die Kommission daher zu einer detailgenauen Ausgestaltung der Richtlinienentwürfe übergegangen.834 Auf diese Weise wird einerseits die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts gefördert, andererseits jedoch die Kompromissunfähigkeit bei den Beratungen der Mitgliedstaaten provoziert.835 Im Ergebnis mündet dies in langwierige Gesetzgebungsverfahren, in denen die mit der Neuen Strategie angestrebte Vermeidung nicht konsensfähiger Detailregelungen sowie die Förderung einer flexiblen Regulierung ad absurdum geführt werden.

_____ 829 VO 345/2013, ABl 2013 L 115/1. 830 Streinz/Schröder Art 114 AEUV Rn 9. Vgl hierzu die Richtlinie zur Modernisierung der Berufsanerkennungsrichtlinie (Hebel 2), die zunächst auf die Grundlage des Art 114 AEUV gestützt werden sollte, schließlich aber zutreffend gemäß Art 46, 53 II und 62 AEUV erlassen wurde. Hierzu vgl die Stellungnahme des Vorsitzenden des Rechtsausschusses des EP (http://www.europarl.europa.eu/sid es/getDoc.do?type=COMPARL&reference=PE-514.672&format=PDF&language=DE&secondRef=02). 831 Vgl vBogdandy/Bast/Everling S 981 f. 832 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration v 22.1.2019. Die verfassungsmäßigen Voraussetzungen für die Ratifizierung des Vertrags sollen durch das Vertragsgesetz über die deutschfranzösische Zusammenarbeit und Integration geschaffen werden. Vgl Deutscher Bundestag, Drs 19/10051 v 10.5.2019. 833 Riesenhuber/Takayama/Franck S 47 (52). 834 Pagenkopf NVwZ 1993, 216 (222 mwN). 835 Kern S 18. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

IV. Grundfreiheiten: allgemeine Lehren | 1015

Ein Wettbewerb der Rechtsordnungen dürfte daher, wo nötig gepaart mit 251 Maßnahmen der Mindest- und Teilharmonisierung, bei gegenseitiger Anerkennung der unterschiedlichen nationalen Regelungen bisweilen die bessere Option darstellen, um die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten kompatibel zu machen. Er eröffnet den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen die Möglichkeit, nationale Rechtsregeln an Marktprozessen zu orientieren. Die nationalen Legislativen werden durch die Nachfrage nach gesetzgeberischen Regeln dazu angehalten, bestehende Rechtssysteme auf ihre Praktikabilität zu überdenken und mit Blick auf ihre einzelstaatliche Position im Standortwettbewerb mit anderen Mitgliedstaaten zu reformieren. Indem Unternehmen als Nachfrager ihren Unternehmensstandort nach den für sie günstigen rechtlichen Rahmenbedingungen auswählen, sind die nationalen Legislativorgane als Anbieter gefordert, die Bedürfnisse der Nachfrager zu berücksichtigen. Auf diese Weise werden ineffiziente Regelungssysteme aufgedeckt und durch effektive Regelungen ersetzt. Langwierige Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten um eine Harmonisierungsmaßnahme auf Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners könnten so umgangen werden. Zugleich profitieren Unternehmer und Verbraucher von marktgerechten Lösungen in Form niedrigerer Opportunitätskosten. IV. Grundfreiheiten: allgemeine Lehren IV. Grundfreiheiten: allgemeine Lehren 1. Grundfreiheiten im System des Binnenmarkts Die Grundfreiheiten bilden neben dem Wettbewerbsrecht836 und der Rechtsanglei- 252 chung (Rn 114 ff) einen der Grundpfeiler des Binnenmarkts. Alle drei Komponenten dienen, mit unterschiedlichem Ansatzpunkt, der Schaffung eines einheitlichen europäischen Marktes, in dem sich der Wirtschaftsverkehr weitgehend frei von staatlicher und privater (marktmächtiger) Beeinträchtigung entfalten kann. Die Grundfreiheiten sind seit jeher ein zentrales Element der europäischen Integration und ein Instrument zur Verwirklichung des Binnenmarkts (Rn 69 ff),837 der auf die zunächst primär wirtschaftliche Integration hinweist. So bestimmt denn Art 26 II AEUV, dass der Binnenmarkt „einen Raum ohne Binnengrenzen [umfasst], in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist“. Um dieses Ziel zu erreichen, erklärt das europäische Primärrecht bestimmte Handlungsweisen für verboten, die die freie Zirkulation von Produkten und Personen beeinträchtigen. Nach der Systematik des AEUV lassen sich vier Grundfreiheiten benennen: der 253 freie Warenverkehr als Ergänzung der Zollunion, die Personenfreizügigkeit (Freizü-

_____ 836 Jungheim-Hertwig/Weiß § 14 (in diesem Band) Rn 1 f. 837 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 3. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1016 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

gigkeit der Arbeitnehmer und Niederlassungsfreiheit), der freie Dienstleistungs- sowie schließlich der freie Kapitalverkehr (einschließlich des Zahlungsverkehrs).838 Kategorisch lassen sich die Grundfreiheiten nach ihrem Bezugspunkt in Produkt- (Ware, Kapital) und Personenverkehrsfreiheiten (Arbeitnehmer, Niederlassungen) einteilen, wobei die Dienstleistungsfreiheit eine Zwischenstellung einnimmt (Rn 407).839 Ergänzt wird dieses System durch die allgemeine Freizügigkeit der Unionsbürger (Art 21 AEUV),840 die allerdings von einer wirtschaftlichen Aktivität losgelöst ist und daher streng genommen nicht zu den Grundfreiheiten des Binnenmarkts zählt, auch wenn der EuGH sie bisweilen als eine solche bezeichnet.841 Die Kommission spricht ihrerseits von einer „fünften Freiheit“ mit Blick auf den freien Verkehr von Wissen.842 Die Grundfreiheiten sind im Lichte der Wirtschaftsgrundrechte zu sehen, na254 mentlich der Berufsfreiheit (Art 15 GRCh), der unternehmerischen Freiheit (Art 16 GRCh) sowie des Rechts auf Eigentum (Art 17 GRCh).843 Art 15 GRCh gewährt jeder Person das Recht zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben (Abs 1), sowie den Unionsbürgern die Freiheit, in jedem Mitgliedstaat Arbeit zu suchen, zu arbeiten, sich niederzulassen oder Dienstleistungen zu erbringen (Abs 2). Den Drittstaatsangehörigen werden die Freiheit, in einem Mitgliedstaat arbeiten dürfen, und der Anspruch auf gleiche Arbeitsbedingungen wie die Unionsbürger garantiert (Abs 3).

2. Ökonomische Analyse 255 Zu einem vollständig integrierten Binnenmarkt gehört, dass Produktionsfaktoren

(Input: Arbeit, Kapital844) und Güter (Output: Waren, Dienstleistungen) frei im Gebiet des Marktes zirkulieren können. Dafür ist es nötig, die spezifischen Barrieren wie die Anerkennung von Berufsabschlüssen (Arbeit), ungleiche Vorschriften und Aufsichten über Finanzmärkte (Kapital), nicht-tarifäre Handelshemmnisse (Waren) oder gewisse Zugangsvorschriften (Dienstleistungen) zu überwinden.845 Dies erlaubt

_____ 838 Die Bezeichnung als „vier“ Grundfreiheiten hat sich etabliert. Je nach Unterteilung können sie aber als fünf oder sechs gezählt werden. Vgl etwa Kingreen S 20. 839 So auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Randelzhofer/Forsthoff Art 56/57 AEUV Rn 4 f. 840 Hilpold § 12 (in diesem Band) Rn 180 ff. 841 EuGH, Rs C-224/98 – D’Hoop, Rn 29; Rs C-148/02 – Garcia Avello, Rn 24. 842 So etwa „Eine europäische Strategie für gewerbliche Schutzrechte“, KOM(2008) 465, S 3; vgl bereits das Weißbuch über die Vollendung des Binnenmarktes, KOM(85) 310, Ziff 145 ff; kritisch dazu Hufeld GPR 2009, 121. 843 Vgl Kugelmann § 4 (in diesem Band) Rn 127 ff; Blanke/Mangiameli/Blanke The European Union after Lisbon S 389 ff; zur Anwendbarkeit der GRCh im Rahmen der Grundfreiheiten unten Rn 338. 844 In diesem Zusammenhang gelten etwa Rohstoffe auch als Kapital, unterfallen aber der Warenverkehrsfreiheit. 845 Vgl Brasche S 68 f; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 5; Hoffmann S 44. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

IV. Grundfreiheiten: allgemeine Lehren | 1017

eine möglichst effiziente Faktorallokation und einen möglichst gewinnbringenden Absatz, da die Berechtigten der Grundfreiheiten unter weitgehendem Ausschluss äußerer Hindernisse selbst und damit ökonomisch rationale Entscheidungen treffen. Die Grundfreiheiten sind somit konstitutiv für einen echten europäischen Wettbewerb.846 Die Untersuchung von Handelsgrenzen ist älter als der Prozess der wirtschaftli- 256 chen Integration Europas.847 Adam Smith (1723–1790)848 gilt als Begründer der klassischen Außenhandelstheorie. Smith zufolge ist ein grenzüberschreitender Handel mit internationaler Arbeitsteilung und ohne abgeschirmte Märkte das beste Instrument zur Steigerung der Gesamtwohlfahrt. Ihm folgte David Ricardo (1772– 1823),849 der in seiner Theorie der komparativen Kostenvorteile850 beschreibt, dass sich jedes Land auf das Gut spezialisiert, das es vergleichsweise produktiver als andere Staaten herstellt, und die Länder in Handelsbeziehungen miteinander treten. Dies führt zu größerem Wohlstand, als wenn jedes Land autark wirtschaften würde: Die durch den komparativen Kostenvorteil gewonnene Spezialisierung und optimale Ressourcenallokation führen zu einer Effizienzsteigerung, so dass die Produktion insgesamt gesteigert und eingesparte Produktionsfaktoren in anderen Bereichen eingesetzt werden können. Konzentriert sich also jede Volkswirtschaft auf die Produktion des Gutes, bei dem sie einen relativen Kostenvorteil besitzt, sind in allen Staaten Wohlstandsgewinne zu erwarten. Das setzt aber voraus, dass Input- und Outputfaktoren frei zirkulieren können (also etwa ein Arbeitnehmer jeden Beruf ausüben kann). Eine freie Faktormobilität erfordert dabei nicht zwangsläufig eine vollkommene 257 Angleichung rechtlicher und technischer Bedingungen oder die Schaffung gemeinsamer Regeln (positive Integration).851 Schon der bloße Abbau von Handelshemmnissen zwischen verschiedenen Volkswirtschaften (negative Integration) kann erheblich zum ungehinderten Wirtschaftsverkehr beitragen (Rn 18). Die durch den Wegfall der Handelsbarrieren vergrößerten Absatzmärkte erhö- 258 hen regelmäßig auch die Nachfrage, so dass Unternehmen möglicherweise erst dadurch ihre mindestoptimale Betriebsgröße erhalten. Ganz im Sinne Adam Smiths erlaubt dies eine Spezialisierung und erhöhte Effizienz durch internationale Ar-

_____ 846 Blanke/Scherzberg/Wegner/Müller-Graff S 329 ff. 847 Pelkmans S 2; Frenz Hdb 1 Rn 5 ff. Für eine ausführliche Einführung in die verschiedenen Außenwirtschaftstheorien empfiehlt sich zB Krugman/Obstfeld/Melitz. 848 An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776. 849 On the Principles of Political Economy and Taxation, 1821. 850 Ausf Brasche S 97 ff; Krugman/Obstfeld/Melitz S 55 ff; Zapka S 99 ff. Das von Ricardo zugrunde gelegte Modell zur Unterstützung seiner Argumentation ist stark vereinfacht, da es sich um ein EinFaktor-Modell handelt, in dem Arbeit der einzige Produktionsfaktor in einem vollkommenen Markt ist. Jeder Marktteilnehmer verfügt zu jeder Zeit über alle notwendigen Informationen, es herrscht vollkommener Wettbewerb und gibt keine Transaktionskosten. 851 Vgl Ehlers/Tietje § 10 Rn 2. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1018 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

beitsteilung, so dass steigende Skalenerträge zu sinkenden Kosten und Preisen führen. Dies bedingt nicht nur eine Steigerung der Produzenten- und Konsumentenrente,852 sondern ermöglicht infolge der Spezialisierung auch ein erweitertes Angebot, das besser an die Verbraucherwünsche angepasst ist.853 Niedrigere Preise kommen auch der öffentlichen Hand in Form von sinkenden Beschaffungskosten zugute.854 Zudem erhöhen größere Märkte den Wettbewerbsdruck auf die bestehenden Unternehmen und zwingen sie zu effizientem Verhalten, das auch technischen Fortschritt und damit Wachstumssteigerung ermöglicht.855 So war auch die Errichtung der Zollunion (Rn 36 ff) von Beginn an auch von den Wohlstandsversprechungen des Wettbewerbs als dem effektivsten Organisationsprinzip der Wirtschaft geprägt.856 Es lässt sich durchaus feststellen, dass der Handel innerhalb der Union durch Zollunion und Binnenmarkt zugenommen hat.857 Aus ökonomischer Sicht gilt ähnliches für eine bloß regionale wirtschaftliche 259 Integrationszone wie die EU, hier verdeutlicht am Beispiel der Zollunion. Vom freien Wirtschaftsverkehr innerhalb des Integrationsgebiets können sowohl positive handelsschaffende (trade creation) als auch eher negative handelsumlenkende (trade diversion) Effekte ausgehen.858 Handelsschaffende Effekte entstehen, wenn durch den Wegfall der Binnenzölle teurere inländische Produkte durch günstigere Importe aus einem Mitgliedstaat der Zollunion ersetzt werden. Handelsumlenkung liegt hingegen dann vor, wenn günstige Importe durch vergleichsweise teurere Importe ersetzt werden. Dies geschieht, wenn der eigentlich günstigste Anbieter nicht Mitglied der Zollunion ist und seine Waren durch Zölle derart verteuert werden, dass sie gegenüber dem zollbefreiten Anbieter innerhalb der Zollunion nicht die preiswertere Variante darstellen und es so zu einem Verdrängungseffekt des Anbieters außerhalb der Zollunion kommt. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu positiven Wohlfahrtseffekten kommt, ist 260 größer, wenn der vormals bestehende Zollsatz hoch war und die Importe aus anderen Staaten niedrig.859 Dabei kommt es zu Wohlfahrtsgewinnen in Form von Einspa-

_____ 852 Zapka S 57. 853 Wagener/Eger S 246 f. 854 Brasche S 90. 855 Baldwin/Wyplosz S 166; Zippel/Clapham S 29; Ohr/Berthold/Hilpert S 78. 856 Haucap/Coenen Wirtschaftsdienst, Sonderheft 2010, 5 (5); Blanke/Scherzberg/Wegner/Blanke/ Thumfart S 1 ff. 857 Vgl zB Europäische Kommission Economic Evaluation Nr 4 1996, S 69: Anstieg der EU-Importe der EU 15 im Vergleich zu den Importen insgesamt von ca 37% 1960 auf 60% im Jahr 1994; zur Vorgehensweise zur Evaluierung der Integrationseffekte etwa Blank/Clausen/Wacker Internationale Ökonomische Integration 1998, S 206 ff; Pelkmans S 109; Zippel/Clapham S 39. 858 Vgl dazu Viner S 45 ff. 859 Pelkmans S 101 ff; Swann S 109–124; Wagener/Eger S 240 ff; Jovanović S 441–443; Europäische Kommission European Economy, Economic Evaluation of the Internal Market, Nr 4, 1996, S 68 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

IV. Grundfreiheiten: allgemeine Lehren | 1019

rungen von Produktionskosten und von Konsumerweiterungen innerhalb der Zollunion, die im günstigsten Fall über den Verlusten durch den Wegfall von Zolleinnahmen liegen, so dass insgesamt ein Netto-Wohlfahrtsgewinn durch die Zollunion produziert wird. Welche Auswirkungen eine Zollunion auf die interne Wettbewerbsstruktur des nun vergrößerten Marktes hat, ist allerdings umstritten.860 Hier greift das Wettbewerbsrecht zur Verhinderung von Marktverzerrungen.861 In einem vollständig verwirklichten Binnenmarkt führt allein das Zusammen- 261 spiel von Angebot und Nachfrage, das sich im Preis des jeweiligen Wirtschaftsguts spiegelt (Kaufpreis für Ware, Entgelt für Arbeitskraft, Zins für Kapital), zu einer solchen optimalen Allokation. Die folgende ökonomische Betrachtung geht dabei von einigen, in der Realität so nicht anzutreffenden Annahmen aus, verdeutlicht aber die Grundprinzipien des freien Wirtschaftsverkehrs: Erstens spielen Entfernungen oder geografische Gegebenheiten und somit die Transportkosten keine Rolle. Zugleich herrscht vollständige Information auf Seiten der Anbieter und der Nachfrager und auch soziokulturelle Unterschiede wie Sprachbarrieren bleiben außer Betracht.

Quelle: angelehnt an Wagener/Eger S 34

_____ 860 Vgl Wagener/Eger S 245 f mwN. 861 Jungheim-Hertwig/Weiß § 14 (in diesem Band) Rn 1 f. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1020 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

262 Betrachten wir die Auswirkungen, die die Verhängung eines Zolls auf ein Land ha-

ben kann.862 In der obigen Grafik wird eine bestimmte Ware angeboten (AH) und nachgefragt (NH). Der Gleichgewichtspreis, der ohne Außenhandel bestehen würde (Schnittpunkt AH und NH), liegt über dem Weltmarktpreis PW. Ohne Zoll würde daher bis zur Menge QH1 aus dem Inland konsumiert, der Rest bis zur Menge QW vom Weltmarkt importiert. Ein Zoll (t) erhöht nun den Preis, der für Waren vom Weltmarkt gezahlt werden muss, auf PW+t, so dass nun bis zur Menge Q2 im Inland konsumiert wird und wegen des höheren Preises nur noch bis zur Menge Qt importiert wird. Insgesamt sind verschiedene Effekte zu beobachten. Die Flächen 1 und 3 sind Umverteilungseffekte aufgrund der geringeren Nachfragebefriedigung: Fläche 1 wird von den Konsumenten auf die Produzenten umverteilt, da die Produzenten im Inland durch den Zoll mehr Waren absetzen können. Fläche 3 sind Zolleinnahmen des Staates. Die Dreiecke 2 und 4 hingegen sind gesamtwirtschaftliche Verluste infolge des Zolls. Die Konsequenz aus dieser Betrachtung ist allerdings nicht, jegliche staatliche 263 Intervention in die Märkte zu verbieten. Märkte existieren nicht allein zwischen Produzenten und Konsumenten. Geht man von dem geschilderten, recht minimalistischen Modell aus, bliebe im voll integrierten Markt kein Raum mehr für staatliches Handeln. Tatsächlich sind die Märkte aber nicht vollkommen. Davon geht auch das europäische Recht aus, wenn es den Mitgliedstaaten gewisse Eingriffe in die Grundfreiheiten erlaubt (Rechtfertigungsgründe). Dazu zählt neben der klassischen Staatsaufgabe der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung insb die Beseitigung von Marktversagen. Marktversagen liegt vor, wenn der Markt im freien Spiel von Angebot und Nachfrage nicht zu den ökonomisch wünschenswerten Resultaten führt und die Faktorallokation nicht den größtmöglichen gesamtwirtschaftlichen Ertrag liefert. Dies ist etwa der Fall bei öffentlichen Gütern (Rn 15), Informationsasymmetrien zu Lasten der Nachfrager (Verbraucherschutz als Gegenmaßnahme) oder bei sog „meritorischen Gütern“, bei denen die Nachfrage unterhalb der gesellschaftlich wünschenswerten oder optimalen Schwelle liegt.863 Die Bekämpfung von Marktversagen führt durch die mit ihr einhergehenden Handelshemmnisse zu Wohlfahrtsverlusten. Diese Kosten sollten rationalerweise den daraus erzielten Nutzen nicht übersteigen.864

_____ 862 Wagener/Eger S 34 ff; Zippel/Langhammer S 46 ff. Die Auswirkungen eines Zolls auf den freien Wirtschaftsverkehr sind am einfachsten darzustellen. Gleichwohl haben auch andere tarifäre und nicht-tarifäre Handelshemmnisse einen ähnlichen Effekt. In komplexeren Betrachtungen können auch die Auswirkungen eines Markthindernisses auf das Ausland beleuchtet werden, vgl dazu Wagener/Eger S 36 f. 863 Vgl Brasche S 135 f; ausf dazu Fritsch S 79, 319. 864 Vgl Wagener/Eger S 38. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

IV. Grundfreiheiten: allgemeine Lehren | 1021

3. Rechtliche Bedeutung Die Grundfreiheiten können ihre volle Wirkkraft nur entfalten, wenn sie den Wirt- 264 schaftsteilnehmern als unmittelbar geltendes und anwendbares Recht (Rn 266 ff) Rechtspositionen vermitteln. Zwar ersetzen sie nationales Recht nicht, sie geben aber einen Rahmen für die Beurteilung der Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Europarecht im Hinblick auf Beeinträchtigungen des freien Wirtschaftsverkehrs vor. Steht nationales Recht außerhalb europäischer Vorgaben, kann es juristisch angegriffen werden (negative Integration; Rn 268). Die Schlüsselvorschriften finden sich im europäischen Primärrecht. Der Schutzumfang der einzelnen Grundfreiheiten sowie die Ansätze einer einheitlichen Dogmatik ergeben sich aber insb aus der abundanten Rechtsprechung des EuGH. Flankiert werden diese primärrechtlichen Eckpfeiler durch Maßnahmen des Sekundärrechts, die einerseits oft die Rspr des EuGH konkretisierend nachvollziehen, andererseits aber selbst rechtsgestaltend weitere Hindernisse auf dem Weg zur vollständigen Verwirklichung des Binnenmarkts beseitigen und rechtliche Vorgaben in den einzelnen Mitgliedstaaten harmonisieren sollen (positive Integration).865 Bei der rechtlichen Betrachtung der Grundfreiheiten lassen sich gewisse ge- 265 meinsame Strukturen herausarbeiten, die denen der grundrechtlichen Dogmatik stark ähneln. Gleichwohl können trotz aller Gemeinsamkeiten die Grundfreiheiten nicht als Grundrechte qualifiziert werden,866 insb aufgrund ihres unterschiedlichen historischen Ursprungs und der systematischen Stellung der Grundfreiheiten im Vertragsgefüge. Grundfreiheiten erfassen anders als Grundrechte nur grenzüberschreitende Sachverhalte (Rn 286).867. Während zudem Grundrechte allein das subjektive Recht des Einzelnen zum Ausgangspunkt haben, sind die Grundfreiheiten zunächst Mittel zur Verwirklichung des Binnenmarkts und insofern instrumenteller Natur, also „zweckgebundene“ Freiheiten.868 Dessen ungeachtet können aufgrund der subjektiv-rechtlichen Komponente (Rn 271) die Grundfreiheiten als „grundrechtsgleiche Rechte“ bezeichnet werden.869

_____ 865 So auch Blanke/Scherzberg/Wegner/Müller-Graff S 331. 866 So auch Gebauer S 346 ff; Valta S 66 ff; anders etwa Ehlers/Ehlers § 7 Rn 31 und § 14 Rn 22, der aufgrund der Qualifikation der Grundfreiheiten als Freiheitsrechte diese als Grundrechte bzw Unionsgrundrechte iwS qualifiziert. 867 Vgl zur Abgrenzung auch Ehlers/Ehlers § 14 Rn 22; Frenz EuR 2003, 603 (608 ff); vgl auch Jarass EuR 1995, 202 (204). 868 Preedy S 150 ff; Merten/Papier/Streinz HGR VI/1 § 151 Rn 13 ff. 869 Ähnlich Schroeder Grundkurs § 14 Rn 2: „grundrechtsähnliche Rechte“; Preedy S 150 f: „Marktrechte“ und „Bürgerrechte“; Schwarze/Becker Art 34 AEUV Rn 6; vgl auch Ehlers/Ehlers § 7 Rn 13: „spezielle Formen der Grundrechte“; Kingreen EuR 2007, Beiheft 1, 43 (46): „zu Bürgerrechten fortentwickelt“. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1022 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

a) Unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit 266 Die vom EuGH in den Grundsatzentscheidungen Van Gend & Loos (1963) und Costa /

E.N.E.L. (1964)870 festgestellte unmittelbare Geltung des Unionsrechts bedeutet, dass seine Regelungen vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens für alle Beteiligten unmittelbare Quelle von Rechten und Pflichten werden, die dem Regelungsbereich des Unionsrechtes unterfallen.871 Davon zu unterscheiden ist die unmittelbare Anwendbarkeit des Unions267 rechts.872 Die unmittelbare Anwendbarkeit wurde vom EuGH für alle Grundfreiheiten bestätigt.873 Wie auch die anderen europarechtlichen Normen fallen die Bestimmungen zu den Grundfreiheiten unter den allgemeinen Anwendungsvorrang des Unionsrechts. Das bedeutet, dass nationales Recht, welches nicht im Einklang mit dem europäischen Primär- oder Sekundärrecht steht, zwar weiterhin gültig, aber nicht mehr anzuwenden ist.874 Wegen der unmittelbaren Anwendbarkeit der Grundfreiheiten kann sich der 268 Einzelne gegen beeinträchtigende Maßnahmen wenden, entweder in Form einer Nichtigkeitsklage vor dem EuG nach Art 263 IV AEUV (bei Sekundärrechtsakten)875 oder – weitaus bedeutender – vor den zuständigen nationalen Behörden (bei mitgliedstaatlichen Akten), die das Unionsrecht vollziehen (dezentrale Kontrolle).876 Dies beinhaltet auch die Kontrolle durch die mitgliedstaatlichen Gerichte nach Maßgabe des nationalen Prozessrechts.877 Bestehen Zweifel an der Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit den europä269 ischen Grundfreiheiten, so kann oder muss der nationale Richter diese Frage nach Art 267 AEUV dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegen. Lässt sich eine beeinträchtigende Maßnahme nicht rechtfertigen und liegt somit ein Verstoß gegen die Grundfreiheiten vor, kann der EuGH die nationale Norm aufgrund des bloßen Anwendungsvorrangs des Unionsrechts aber nicht verwerfen, sondern nur für den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten (grenzüberschreitender Sachverhalt) für

_____ 870 EuGH, Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L.; EuGH, Rs 26/62 – Van Gend & Loos, Slg 1963, 3 (25). 871 Vgl dazu EuGH, Rs 106/77 – Simmenthal, Rn 14/16. Beitrittsakte können allerdings Übergangsfristen vorsehen, vgl jüngst die Beitrittsakte Kroatiens, ABl 2012 L 112/67, Anhang V. 872 Weiß § 5 (in diesem Band) Rn 144 ff; EuGH, Rs 26/62 – Van Gend & Loos, S 25; vgl dazu Ehlers/Ehlers § 7 Rn 7. 873 EuGH, Rs 26/62 – Van Gend & Loos, S 25 (Verbot von Zöllen); Rs C-46/93 ua – Brasserie du pêcheur, Rn 23 (Warenverkehr); Rs 41/74 – van Duyn, Rn 5/7 (Arbeitnehmerfreizügigkeit); Rs 2/74 – Reyners, Rn 29/31 (Niederlassungsfreiheit); Rs 33/74 – van Binsbergen, Rn 27 (Dienstleistungsfreiheit); Rs C-163/94 ua – Sanz de Lera, Rn 43 (freier Kapital- und Zahlungsverkehr). 874 Vgl dazu Ehlers/Ehlers § 7 Rn 11; Merten/Papier/Streinz HGR VI/1 § 152 Rn 5. 875 Vgl Kingreen S 176 f. 876 Merten/Papier/Streinz HGR VI/1 § 152 Rn 70 ff; vgl auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Leible/Streinz Art 34 AEUV Rn 20 ff. 877 Zur deutschen Rechtslage Ehlers/Ehlers § 7 Rn 138. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

IV. Grundfreiheiten: allgemeine Lehren | 1023

nicht anwendbar erklären.878 Daraus folgt dann auch, dass die nationale Rechtsnorm für rein innerstaatliche Sachverhalte weiter anwendbar bleibt und so zum Phänomen der Inländerdiskriminierung (Rn 302) führen kann.879 Letzter Prüfungsmaßstab bleibt aber das Unionsrecht selbst. Internationale Übereinkünfte zum freien Wirtschaftsverkehr können jedoch aufgrund der Verpflichtung zur völkerrechtskonformen Auslegung des Unionsrechts Auswirkungen880 auf die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten auf Drittstaatsangehörige haben.881

b) Objektive und subjektive Rechte Der Binnenmarkt als ein Ziel der Union (Art 3 III UAbs 1 S 1 EUV) und der von ihm 270 garantierte freie Wirtschaftsverkehr (Art 26 II AEUV) stellen objektive Wertentscheidungen dar, die auf alle Rechtsgebiete der Mitgliedstaaten sowie auf das von den Unionsorganen erlassene Sekundärrecht ausstrahlen. Die Grundfreiheiten bilden fundamentale Grundsätze bzw Grundprinzipien des Unionsrechts.882 Das nationale wie auch das unionale Recht müssen daher mit den Grundfreiheiten in Einklang stehen und grundfreiheitskonform ausgelegt werden.883 Dies gilt sogar für diejenigen Bereiche, in denen den Mitgliedstaaten die ausschließliche Zuständigkeit verbleibt,884 etwa im Steuerrecht,885 im Bereich der Bildung886 oder der Gesundheitsversorgung.887 Hingegen können die Grundfreiheiten keine Kompetenzen der Union begründen oder erweitern, es gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art 5 II EUV). Die Union darf zudem nur im Rahmen der Zuständigkeiten tätig werden, die ihr zur Ausgestaltung und Konkretisierung der Grundfreiheiten verliehen sind (Art 46, 50, 53, 59, 60 AEUV).888

_____ 878 Vgl Kingreen S 178 ff; Behrens EuR 1992, 145 (146 f). 879 Vgl Schroeder Grundkurs § 14 Rn 9 f; einen Geltungsvorrang fordert Behrens EuR 1992, 145 (161). 880 Weiß § 5 (in diesem Band) Rn 142; Cremer § 22 (in diesem Band) Rn 108 ff. 881 Vgl Ehlers/Tietje § 10 Rn 10; Hobe/Müller-Sartori JuS 2002, 8 (12). Dazu EuGH, Rs C-53/96 – Hermès, Rn 28; verb Rs C-300/98 ua – Dior, Rn 47 f. 882 Aus der Rspr des EuGH: Waren: Rs 37/83 – Rewe-Zentral, Rn 18; Arbeitnehmer: Rs 118/75 – Watson und Belman, Rn 16; Rs C-19/92 – Kraus, Rn 29; Rs C-415/93 – Bosman, Rn 93; Dienstleistungen: Rs 279/80 – Webb, Rn 17; Rs C-348/96 – Calfa, Rn 16; Niederlassung: Rs 2/74 – Reyners, Rn 42/43; Rs C-438/05 – Viking, Rn 68. 883 Vgl auch Jarass EuR 1995, 202 (211). 884 Vgl dazu auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 62 mwN aus der Rspr. 885 EuGH, Rs C-10/10 – Kommission / Österreich, Rn 23 ff; Rs C-72/09 – Établissements Rimbaud, Rn 23 ff mwN; Rs C-76/05 – Schwarz und Gootjes-Schwarz, Rn 69; vgl dazu Kokott/Ost EuZW 2011, 496. 886 EuGH, Rs C-76/05 – Schwarz und Gootjes-Schwarz, Rn 70. 887 EuGH, Rs C-372/04 – Watts, Rn 92, 147. 888 Ehlers/Ehlers § 7 Rn 42. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1024 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

271

Nur unter Anerkennung dieses objektiv-rechtlichen Gehalts lassen sich den Grundfreiheiten auch subjektive Rechte entnehmen, also Rechtspositionen, die der Einzelne geltend machen kann.889 Bereits in der Entscheidung Van Gend & Loos (1963) hat der EuGH darauf hingewiesen, dass der EWG-Vertrag das Ziel beinhaltet, einen Binnenmarkt zu schaffen, „dessen Funktionieren die der Gemeinschaft angehörigen Einzelnen unmittelbar betrifft“ und dass sich „die Bürger […] vor den nationalen Gerichten auf das Gemeinschaftsrecht berufen können“ müssten.890 Auch insofern heben sich die europäischen Verträge von normalen völkerrechtlichen Verträgen ab.891 Aufgrund der unmittelbaren Drittwirkung und der daraus folgenden Wirkung zwischen Privaten (Rn 295) sind die Grundfreiheiten aber nicht nur subjektiv-öffentliche Rechte. 892 Die eingeräumten subjektiven Rechte vereinfachen als Kehrseite des Verbots von Beschränkungen des Wirtschaftsverkehrs die Durchsetzung des durch die Grundfreiheiten bezweckten Wettbewerbs.893

c) Grundfreiheiten als Gleichheits-, Freiheits- und Leistungsrechte 272 Der Wortlaut der Vertragsvorschriften (Art 45 II, 49 II, 57 S 3, 63 I, II AEUV) gestaltet die Grundfreiheiten primär als Diskriminierungsverbote aus, die als leges speciales das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV „bereichsspezifisch konkretisieren“.894 Sie verbieten jede offene oder versteckte Ungleichbehandlung (Rn 298 ff) zwischen Inländern (oder auch nur einem Teil der Inländer) eines Staates und den übrigen EU-Ausländern, wenn sie sich im Binnenmarkt grenzüberschreitend (Rn 286) betätigen. Dies gilt nicht nur für EU-Ausländer im Aufnahmestaat, sondern auch für Inländer gegenüber ihrem Heimatstaat, sofern sie im EU-Ausland und somit grenzüberschreitend tätig werden wollen. Die Grundfreiheiten vermitteln ihren Trägern (Rn 288 ff) somit das Recht auf gleiche Marktzugangschancen. Unter diesem Gesichtspunkt entfalten die Grundfreiheiten eine gleichheitsrechtliche Dimension, die dem Betroffenen als Abwehrrecht einen (gleichstellenden) Unterlassungs- oder Beseitigungsanspruch hinsichtlich der erlittenen Nachteile bzw mit Blick auf vorenthaltene Vergünstigungen einen Anspruch auf Gleichstellung vermittelt.895 Über das Diskriminierungsverbot hinaus sehen die Grundfreiheiten nach dem 273 Wortlaut des Vertrags auch ein Verbot von nichtdiskriminierenden nationalen Be-

_____ 889 Vgl auch Behrens EuR 1992, 145 (147); Preedy S 144 ff. 890 EuGH, Rs 26/62 – Van Gend & Loos, Slg 1963, 3 (24 f). 891 Niedobitek § 1 (in diesem Band) Rn 6, 9 ff, 137 f; Kingreen S 24. 892 Ausf dazu Kingreen S 23 ff, der aber eine unmittelbare Drittwirkung ablehnt. 893 Blanke/Scherzberg/Wegner/Müller-Graff S 330 f. 894 Ehlers/Ehlers § 7 Rn 24; in diesem Sinne auch EuGH, Rs 36/74 – Walrave, Rn 31/33; Rs C-341/05 – Laval, Rn 54 f. 895 Ehlers/Ehlers § 7 Rn 29; Jarass EuR 1995, 202 (216 ff); Hoffmann S 20 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

IV. Grundfreiheiten: allgemeine Lehren | 1025

schränkungen des grenzüberschreitenden freien Wirtschaftsverkehrs vor (Rn 304). Auf der subjektiv-rechtlichen Ebene korrespondieren diese Beschränkungsverbote mit einem abwehrrechtlichen Beseitigungs- oder Unterlassungsanspruch und können somit als Freiheitsrechte qualifiziert werden.896 Sie beziehen sich auf die Freiheit des Marktzugangs, nicht jedoch auf die Freiheit von jeder Maßnahme, die das Marktverhalten regelt.897 Zu beachten ist weiterhin, dass trotz der freiheitsrechtlichen Dimension die grundfreiheitlichen Gewährleistungen zu einer Inländerdiskriminierung führen können (Rn 302). Schwieriger zu beurteilen ist die Frage, ob sich daneben auch Leistungsrechte 274 aus den Grundfreiheiten ableiten lassen, dh ein Anspruch auf ein bestimmtes positives Handeln durch den Staat. Aus der gleichheitsrechtlichen Dimension folgt in aller Regel ein abgeleitetes Teilhaberecht an bereits bestehenden Leistungen.898 Demgegenüber folgt aus der Ausgestaltung der Grundfreiheiten als Instrumente zum Abbau von Diskriminierungen und Beschränkungen regelmäßig kein originärer Teilhabeanspruch, dh kein Anspruch auf Schaffung oder Gewährung zusätzlicher Einrichtungen oder Vergünstigungen.899 Allein in den seltenen Fällen, in denen ein Anspruch auf staatlichen Schutz vor schwerwiegendem grundfreiheitswidrigem Handeln Privater besteht, der Mitgliedstaat also die Beachtung der Grundfreiheit auf seinem Gebiet sicherstellen muss,900 ist ein solches originäres Leistungsrecht anzunehmen. Dann entfalten die Grundfreiheiten eine mittelbare Drittwirkung. Eine solche Schutzpflicht des Staates ergibt sich dann aus der entspr Wirtschaftsfreiheit iVm der Unionstreue (Art 4 III EUV).901 Dieser Schutzanspruch findet seine Grenze allerdings dort, wo der Eingriff in die Grundfreiheiten durch die Berufung Privater auf die Ausübung ihrer Grundrechte legitimiert ist.902 Dogmatisch ist dies als Rechtfertigung dafür anzusehen, dass der Staat in diesem Fall seiner Schutzpflicht nicht nachkommen muss (Rn 315). Um eine staatliche Schutzpflicht auszulösen, muss das private Handeln zudem eine gewisse Schwelle der Beein-

_____ 896 Vgl Ehlers/Ehlers § 7 Rn 31 f; Kingreen S 12; anders Jarass EuR 1995, 202 (216). 897 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Leible/Streinz Art 34 AEUV Rn 18. 898 Unbenommen ist den Verpflichteten der (unwahrscheinliche) Fall, die Gleichheit dadurch herzustellen, dass allen die vormals gewährte Vergünstigung verwehrt wird; vgl Ehlers/Ehlers § 7 Rn 37; Merten/Papier/Streinz HGR VI/1 § 152 Rn 38. 899 Ehlers/Ehlers § 7 Rn 40; Merten/Papier/Streinz HGR VI/1 § 152 Rn 39. 900 EuGH, Rs C-265/95 – Kommission / Frankreich, Rn 32; vgl dazu Kainer JuS 2000, 431; Stein S 47 ff; Lengauer S 217 ff. 901 EuGH, Rs C-265/95 – Kommission / Frankreich, Rn 32; Oppermann/Classen/Nettesheim § 22 Rn 49; Burgi EWS 1999, 327 (329); Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Pache Rn 29 ff; vgl auch Frenz EuR 2002, 603 (605 f): kein Rekurs auf Art 4 III EUV nötig. 902 Vgl dazu Ehlers/Ehlers § 7 Rn 38; Frenz EuR 2002, 603 (605); Schorkopf ZaöRV 2004, 125; aus der Rspr EuGH, Rs C-112/00 – Schmidberger. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1026 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

trächtigung einer Grundfreiheit überschreiten.903 Der EuGH belässt den Mitgliedstaaten dabei einen erheblichen Ermessensspielraum, welche Maßnahmen sie zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (Rechtfertigung) treffen wollen.904

4. Gemeinsame Strukturen der Grundfreiheiten 275 Zwar unterscheidet der AEUV zwischen dem freien Verkehr von Waren, Personen,

Dienstleistungen und Kapital, doch lässt sich eine allen vier Grundfreiheiten gemeinsame Systematik herausarbeiten. Grundsätzlich erfassen die Grundfreiheiten den gesamten Wirtschaftsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten.905 Die normativ unterschiedlich ausgestalteten Marktfreiheiten wurden vor allem durch die Rspr des EuGH allmählich – ausgehend von der Warenverkehrsfreiheit – einer einheitlichen Betrachtung unterzogen. Diese „Konvergenz der Grundfreiheiten“ rechtfertigt es, nachfolgend von einer einheitlichen Dogmatik „der Grundfreiheiten“ zu sprechen.906 Die Ähnlichkeit von Grundfreiheiten und Grundrechten907 legt es zudem nahe, sie nach einer parallelen Struktur zu betrachten. Insoweit ist anerkannt, dass die Prüfung einer Verletzung der Grundfreiheiten in Anlehnung an die (deutsche) Grundrechtsdogmatik in drei Stufen erfolgt: „Anwendungsbereich“ (Schutzbereich), „Beeinträchtigung“ (Eingriff) und „Rechtfertigung“. Weniger differenziert, aber in der Grundannahme ähnlich geht auch der EuGH in seiner Rspr vor.908

a) Anwendungsbereich 276 Die Grundfreiheiten entfalten ihre Schutzwirkung nur, wenn ein Sachverhalt in den Anwendungsbereich der betreffenden Grundfreiheit fällt.909 Zunächst ist allerdings zu fragen, ob für einen Bereich Harmonisierungsmaßnahmen vorliegen. Zunehmend werden die primärrechtlichen Garantien der Grundfreiheiten durch konkretisierendes Sekundärrecht überlagert.910 Dies betrifft sowohl den Anwendungsbe-

_____ 903 Ehlers/Epiney § 8 Rn 18. 904 EuGH, Rs C-265/95 – Kommission / Frankreich, Rn 32 f, 56 f; Streinz/Leible EuZW 2000, 459 (466) mwN. 905 Vgl Behrens EuR 1992, 145 (146). 906 Behrens EuR 1992, 145; Jarass EuR 1995, 202; Jarass EuR 2000, 705; Classen EWS 1995, 97; Steinberg EuGRZ 2002, 13; Ehlers/Ehlers § 7 Rn 20; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Leible/Streinz Art 34 AEUV Rn 15; Valta S 72 ff; vgl insb Kingreen S 21 ff. 907 Kugelmann § 4 (in diesem Band) Rn 29 ff, 36 ff. 908 Besonders deutlich EuGH, Rs C-415/93 – Bosman; Rs C-378/10 – VALE. 909 Zu prüfen ist, ob nach einem Beitritt die Grundfreiheiten (schon) voll anwendbar sind oder Übergangszeiten festgelegt wurden. S zuletzt die Beitrittsakte Kroatiens, ABl 2012 L 112/67, Anhang V. 910 Ausf auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 354 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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reich selbst als auch die Möglichkeit gerechtfertigter Beeinträchtigungen. Gibt es spezielleres Sekundärrecht, so ist der Sachverhalt primär danach zu beurteilen.911 Namentlich können dadurch die Rechtfertigungsgründe eingeschränkt sein (Rn 309, 319). Sekundärrechtliche Normen dürfen jedoch selbst nicht in Widerspruch zu den 277 vertraglich garantierten Grundfreiheiten stehen. Vielmehr ist auch der Unionsgesetzgeber durch die Grundfreiheiten verpflichtet (Rn 294). Zudem muss das Sekundärrecht im Lichte der Grundfreiheiten ausgelegt werden.912 Bei Harmonisierungsmaßnahmen ist zu unterscheiden, ob es sich um eine Voll- oder lediglich um eine Teilharmonisierung handelt (Rn 158, 309). Nach stRspr des EuGH ist jede nationale Regelung in einem abschließend harmonisierten Bereich anhand der entspr Harmonisierungsmaßnahme und nicht anhand des Primärrechts zu beurteilen.913 Eine Abweichung nach oben ist unter den Voraussetzungen des Art 114 AEUV möglich (Rn 195 ff).

aa) Sachlicher Anwendungsbereich Der sachliche Anwendungsbereich umschreibt die durch die einzelnen Grundfrei- 278 heiten geschützten Verhaltensweisen. Als eines der Kernelemente des Binnenmarkts sind die Gewährleistungen des freien Wirtschaftsverkehrs gemäß der Rspr des EuGH im Lichte des effet-utile-Grundsatzes weit auszulegen und der Anwendungsbereich möglichst weit zu ziehen.914 Schwierigkeiten, die insb auf moralischen Erwägungen beruhen (Embryonen als Ware,915 Prostitution als Dienstleistung916), sind wegen der Annahme eines weiten Anwendungsbereichs tunlichst auf der Rechtfertigungsebene zu bewältigen.917 Dabei ist zu beachten, dass es sich jeweils um unionsrechtliche Begriffe handelt, die zur Sicherstellung einer einheitlichen Anwendung in den Mitgliedstaaten autonom auszulegen sind. Grundsätzlich

_____ 911 EuGH, verb Rs C-427/93 ua – Bristol-Myers Squibb, Rn 25 f; Rs C-352/95 – Phytheron International, Rn 17; Rs C-322/01 – Deutscher Apothekerverband, Rn 64; Rs C-205/07 – Gysbrechts, Rn 33; Kingreen S 151 f. 912 Vgl etwa EuGH, Rs C-47/90 – Delhaize, Rn 26; Rs C-315/92 – Clinique, Rn 12; Rs C-322/01 – Deutscher Apothekerverband, Rn 64 f; Ehlers/Ehlers § 7 Rn 8 f; Schroeder Grundkurs § 14 Rn 3 („Parallelität der Grundfreiheiten“). 913 EuGH, Rs C-320/93 – Ortscheit, Rn 14; Rs C-5/94 – Hedley Lomas, Rn 18; Rs C-322/01 – Deutscher Apothekerverband, Rn 64, 102 mwN; Rs C-470/03 – A.G.M.-COS.MET, Rn 50; Rs C-205/07 – Gysbrechts, Rn 33; vgl auch Oppermann/Classen/Nettesheim § 22 Rn 36; Schwarze/Becker Art 34 AEUV Rn 95. 914 Vgl etwa EuGH, Rs 53/81 – Levin, Rn 15. Zum effet-utile Grundsatz vgl Härtel § 6 (in diesem Band) Rn 29. 915 Vgl in diesem Zusammenhang aber EuGH, Rs C-34/10 – Brüstle, Rn 30. 916 EuGH, Rs C-268/99 – Jany. 917 Ehlers/Epiney § 8 Rn 13; Ehlers/Tietje § 10 Rn 23. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1028 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

vom Anwendungsbereich ausgenommen sind allerdings schlechthin strafbare Tätigkeiten.918 In jedem Fall geht es bei den in Rede stehenden Handlungen um wirtschaftli279 che Aktivitäten. Es muss sich nicht zwangsläufig um geldwerte Güter oder Leistungen handeln, sondern die betreffende Tätigkeit muss allgemein dem wirtschaftlichen Fortkommen dienen. Dabei kann es sich auch um eine wirtschaftliche Tätigkeit handeln, die unentgeltlich erbracht wird; denn die Vergütung für eine Tätigkeit wird nicht notwendig von denjenigen bezahlt, denen diese zugutekommt.919 Bestimmungsschwierigkeiten können insb bei kulturellen, sozialen, religiösen oder sportlichen Tätigkeiten auftreten. Diese weisen aber in aller Regel auch einen wirtschaftlichen Bezug auf und unterfallen so den Grundfreiheiten.920 Lediglich dort, wo dieser Bezug gänzlich fehlt, etwa bei karitativen Tätigkeiten, kann eine Anwendung ausgeschlossen sein.921 Aus diesem Kriterium folgt die Abgrenzung der eigentlichen Grundfreiheiten zur „Grundfreiheit ohne Markt“922 des allgemeinen Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger.923 Der sachliche Anwendungsbereich einer Grundfreiheit kann aber durch die Ver280 träge selbst in Form von sog Bereichsausnahmen924 eingeschränkt sein. Sie klammern bestimmte Verhaltensweisen von vornherein aus dem Anwendungsbereich der Grundfreiheiten aus. Als Ausnahmen sind diese grundsätzlich eng auszulegen und unterliegen der Kontrolle durch den EuGH. In diesem Sinne spricht der EuGH etwa davon, dass die Ausnahmen nicht weiter reichen dürfen, „als der Zweck es erfordert, um dessentwillen sie vorgesehen sind.“925 Geschriebene Bereichsausnahmen bestehen insb dort, wo die Ausübung einer Tätigkeit mit hoheitlichen Befugnissen verbunden ist (etwa Art 45 IV AEUV; Rn 368).Wenn der EuGH zwischen Marktzugangsbeschränkungen und Marktverhaltensregeln unterscheidet (Rn 307), handelt es sich dabei hinggen nicht um Bereichsausnahmen, sondern um die Frage des Eingriffscharakters einer belastenden Maßnahme.

_____ 918 EuGH, Rs C-343/89 – Witzemann, Rn 10 ff (Falschgeld); Rs 294/82 – Einberger, Rn 19 f; Rs C324/93 – The Queen / Secretary of State for the Home Department, ex parte Evans Medical und Macfarlan Smith, Rn 19 f; Rs C-137/09 – Josemans, Rn 41 f mwN (jew Betäubungsmittel); vgl auch Streinz Rn 820. 919 Vgl EuGH, Rs C-291/13 – Papasavvas, Rn 28 f; Rs C-484/14 – Mc Fadden, Rn 41 f. 920 Vgl etwa EuGH, Rs 196/87 – Steymann; Rs 182/83 – Fearon, Rn 8; Rs C-70/95 – Sodemare, Rn 25. 921 Vgl dazu Ehlers/Tietje § 10 Rn 22. 922 Wollenschläger Grundfreiheit ohne Markt, 2007; s auch Streinz Rn 809; Merten/Papier/Streinz HGR VI/1 § 152 Rn 43. 923 Hilpold § 12 (in diesem Band) Rn 180 ff; aA Valta S 72 („Einbeziehung [und] Bezeichnung als Grundfreiheit gerechtfertigt“); vgl auch EuGH, Rs C-224/98 – D’Hoop, Rn 29; Rs C-148/02 – Garcia Avello, Rn 24 (allgmeine Freizügigkeit als Grundfreiheit). 924 Kingreen S 76 f: „negative Tatbestandsvoraussetzungen“. 925 EuGH, Rs 152/73 – Sotgiu, Rn 4; Rs 2/74 – Reyners, Rn 42 f. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Eine weitere Einschränkung der geschützten Verhaltensweisen liegt im Verbot 281 der missbräuchlichen oder betrügerischen Berufung auf das Unionsrecht,926 etwa durch Gründung eines Scheinsitzes zur Umgehung nationaler Steuervorschriften927 oder bei der künstlichen Herbeiführung von Re-Importen zum alleinigen Zweck der Umgehung gesetzlicher Regelungen.928 Ein Missbrauch liegt aber nicht schon dann vor, wenn man günstigere Regelungen in einem anderen Mitgliedstaat nutzt,929 denn dies ist vielmehr Ausdruck von Wettbewerb – hier in Form eines Wettbewerbs mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen (Rn 167 f). Insgesamt ist der EuGH zurückhaltend bei der Feststellung einer rechtsmissbräuchlichen Berufung auf die Grundfreiheiten. Gleichzeitig betont er aber, dass unter gewissen Voraussetzungen solchem Verhalten durch gerechtfertigte nationale Maßnahmen begegnet werden kann.930 Schwierigkeiten können bisweilen die genaue Zuordnung eines Sachverhalts zu 282 einer Grundfreiheit und deren Abgrenzung voneinander bereiten. Fällt ein Lebenssachverhalt wegen seiner verschiedenen Aspekte unter mehrere Freiheiten, sind diese grundsätzlich nebeneinander anwendbar.931 Etwas anderes gilt hingegen, wenn der Schwerpunkt eines einheitlichen Sachverhalts eindeutig dem Gewährleistungsgehalt einer bestimmten Grundfreiheit zugeschrieben werden kann, so dass damit in Zusammenhang stehende Dienstleistungen, Warenlieferung oä lediglich akzessorischen Charakter haben. In diesem Fall ist der Sachverhalt insgesamt im Lichte der schwerpunktmäßig betroffenen Freiheit zu beurteilen.932 Indes besteht zwischen den einzelnen Grundfreiheiten kein Rangverhältnis. 283 Wenn Art 57 S 1 AEUV bestimmt, dass die Dienstleistungsfreiheit nur einschlägig ist, sofern der betreffende Sachverhalt „nicht den Vorschriften über den freien Warenund Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen“ unterliegt, so handelt

_____ 926 So EuGH, Rs C-212/97 – Centros, Rn 24 mwN aus der Rspr zu den einzelnen Grundfreiheiten; Rs C-155/13 – SICES, Rn 29. Ausf Ehlers/Ehlers § 7 Rn 79; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 302 ff; Ottersbach passim; Kamanabrou ELRev 2018, 534. 927 EuGH, Rs C-196/04 – Cadbury Schweppes, Rn 55. 928 Vgl EuGH, Rs 229/83 – Leclerc, Rn 27 und andererseits Rs C-322/01 – Deutscher Apothekerverband, Rn 130. 929 EuGH, Rs C-212/97 – Centros, Rn 27; verb Rs C-58/13 – Torresi, Rn 41 ff; Rs C-419/14 – WebMindLicenses, Rn 48 f; Rs C-106/16 – Polbud, Rn 40. 930 Vgl etwa EuGH, Rs C-23/93 – TV10, Rn 20 ff; Rs C-196/04 – Cadbury Schweppes, Rn 55. 931 Vgl etwa EuGH, Rs C-484/93 – Svensson und Gustavsson, Rn 10 f; Rs C-390/99 – Canal Satélite Digital, Rn 31 ff; so auch Ehlers/vWilmowsky § 12 Rn 51. 932 EuGH, Rs C-275/92 – Schindler, Rn 22; Rs C-390/99 – Canal Satélite Digital, Rn 31; Rs C-71/02 – Karner, Rn 46; Rs C-36/02 – Omega, Rn 26 f; Rs C-452/04 – Fidium Finanz, Rn 34 ff; Rs C-233/09 – Dijkman, Rn 33; Rs C-137/09 – Josemans, Rn 50; Rs C-322/16 – Global Starnet, Rn 29 ff. So auch Ehlers/Ehlers § 7 Rn 78; Germelmann EuZW 2008, 596 (598 ff); Dauses/Ludwigs/Brigola C.I Rn 14, jew mwN aus der Rspr; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Randelzhofer/Forsthoff Art 56/57 AEUV Rn 37 f. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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es sich hier nicht um Subsidiarität, sondern lediglich um eine Abgrenzung des Anwendungsbereichs.933 Um den grundfreiheitlichen Schutz umfassend zu gewährleisten, ist es notwen284 dig, nicht nur die von den entspr Vorschriften in den Blick genommenen primären Verhaltensweisen (Warenlieferung, Erbringen einer Dienstleistung etc) vor Beeinträchtigungen zu bewahren. Vielmehr müssen auch alle mit der Ausübung der Wirtschaftsfreiheit in Zusammenhang stehenden und für deren Ausübung unabdingbaren Tätigkeiten betrachtet werden.934 Bei den Personenverkehrsfreiheiten sind auch sämtliche Aktivitäten geschützt, die der Vorbereitung der Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit dienen, etwa Kauf/Miete von Geschäftsräumen,935 Arbeitssuche und Bewerbung (Art 45 III AEUV; Rn 372) oder schlechthin die Einreise in einen anderen Staat zum Zwecke der Dienstleistungserbringung. Der grundfreiheitliche Schutz umfasst zudem Maßnahmen der Werbung und Verkaufsförderung, die Phase der Vertragsanbahnung 936 oder Vertragsabwicklung und Rechtsdurchsetzung, etwa die Bezahlung als eine Gegenleistung für eine Ware oder Dienstleistung. Diese Annexrechte sind für eine effektive Wahrnehmung der Grundfreiheiten notwendig, so dass eine Behinderung dieser Nebenrechte die Wahrnehmung der eigentlichen Grundfreiheit beeinträchtigen kann.

bb) Räumlicher Anwendungsbereich und Grenzübertritt 285 Der räumliche Anwendungsbereich der Verträge und damit auch der Grundfreihei-

ten bestimmt sich nach Maßgabe des Art 52 EUV iVm Art 355 AEUV. Danach sind die Grundfreiheiten – mit gewissen Ausnahmen für überseeische Gebiete (Art 355 AEUV) – grundsätzlich im gesamten Staatsgebiet der Mitgliedstaaten anwendbar.937 Das Unionsrecht allgemein und damit auch die Grundfreiheiten können aber auch eine extraterritoriale Wirkung entfalten. Voraussetzung ist in aller Regel ein über die Anknüpfung an mitgliedstaatliches Recht vermittelter Bezug der fraglichen Rechtsbeziehung zum Unionsgebiet, entweder aufgrund ihres Entstehungsortes oder aufgrund des Ortes, an dem sie ihre Wirkungen entfaltet, etwa im Falle von diplomatischen Vertretungen im Ausland.938 Die Grundfreiheiten sind hingegen

_____ 933 EuGH, Rs C-452/04 – Fidium Finanz, Rn 32 f; so auch Oppermann/Classen/Nettesheim § 25 Rn 6; aA Ehlers/Ehlers § 7 Rn 78; Dauses/Ludwigs/Ludwigs E.I Rn 40, 161. 934 Zahlreiche Bsp für die Niederlassungsfreiheit bei Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 49 AEUV Rn 76. 935 Oppermann/Classen/Nettesheim § 28 Rn 18; Dauses/Ludwigs/Ludwigs E.I Rn 67. 936 Für die Dienstleistungsfreiheit etwa EuGH, Rs C-384/93 – Alpine Investments, Rn 19; Rs C275/92 – Schindler, Rn 22 f. 937 Niedobitek § 1 (in diesem Band) Rn 150 ff. 938 EuGH, Rs C-214/94 – Boukhalfa, Rn 15 ff mwN; verb Rs C-396/05 ua – Habelt, Rn 122; vgl auch Ehlers/Ehlers § 7 Rn 65; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 13 f mwN. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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nicht einschlägig, wenn der fragliche Sachverhalt dem Außenhandel im Sinne der Art 206 f AEUV zuzurechnen ist. Aus dem Wortlaut des Vertrags ergibt sich, dass es sich um einen grenzüber- 286 schreitenden Sachverhalt handeln muss.939 Ein physischer Grenzübertritt ist allerdings – wie die Erbringung von Dienstleistungen über das Internet zeigt – nicht zwangsläufig erforderlich. Ein nur hypothetischer Grenzübertritt – etwa die rein hypothetische Aussicht auf eine berufliche Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat – reicht dabei nach der Rspr des EuGH jedoch nicht aus.940 Hingegen ist ein grenzüberschreitender Sachverhalt gegeben, wenn ein konkreter Rechtsstreit zwar nur Inländer berührt, die zugrunde liegende Situation aber geeignet ist, ebenso den Wirtschaftsverkehr mit EU-Ausländern zu beeinträchtigen.941 Dies gilt auch für nationale Maßnahmen, die regional begrenzt sind.942 Das Erfordernis eines grenzüberschreitenden Elements im Rahmen der Marktfreiheiten grenzt somit unionsrechtlich relevante von rein internen Sachverhalten ab, die grundsätzlich nicht vom Schutz der Grundfreiheiten erfasst sind.943 Die Rspr des EuGH stellt dabei keine großen Anforderungen an das Erfor- 287 dernis eines Grenzübertritts, sobald auch nur die entfernte Möglichkeit eines grenzüberschreitenden Sachverhalts besteht.944 Dies ist zwar mit Blick auf das Binnenmarktziel des Art 26 II AEUV zu begrüßen, führt aber mangels klarer Grenzlinien

_____ 939 Vgl nur EuGH, Rs 175/78 – Saunders, Rn 11; Rs 180/83 – Moser, Rn 15; Rs 98/86 – Mathot, Rn 12; Rs C-332/90 – Steen, Rn 9; Rs C-19/92 – Kraus, Rn 15; Rs C-212/06 – Gouvernement de la Communauté française, Rn 33, 38; Rs C-139/12 – Caixa d'Estalvis i Pensions de Barcelona, Rn 42; Rs C-268/15 – Ullens de Schooten, Rn 47; aA Ehlers/Epiney § 8 Rn 15; Calliess/Ruffert/Kingreen Art 34– 36 AEUV Rn 16. 940 EuGH, Rs 180/83 – Moser; Rn 17 f; Rs C-299/95 – Kremzow, Rn 16. Sehr weitgehend demgegenüber EuGH, Rs C-60/00 – Carpenter. 941 Vgl jüngst EuGH, verb Rs C-197/11 ua – Libert, Rn 34; Rs C-470/11 – Garkalns, Rn 21; verb Rs C357/10 ua – Duomo Gpa, Rn 25 ff mwN; verb Rs C-570/07 – Blanco Pérez, Rn 39 mwN; Rs C-212/06 – Gouvernement de la Communauté française, Rn 33 ff. 942 Zum Warenverkehr EuGH, Rs C-163/90 – Legros („octroi de mer“), Rn 16 ff; verb Rs C-363/93 ua – Lancry („octroi de mer“); verb Rs C-485/93 ua – Simitzi („Dodekanes“), Rn 21 ff; Rs C-45/94 – Ceuta und Melilla; Rs C-72/03 – Carrara-Marmor; Rs C-293/02 – Jersey Produce Marketing Organisation, Rn 62 ff. Vgl für die Personenfreizügigkeit EuGH, Rs C-281/98 – Angonese, Rn 41; Rs C-212/06 – Gouvernement de la Communauté française; zum Dienstleistungsverkehr EuGH, Rs C-388/01 – Kommission / Italien, Rn 14; Rs C-169/08 – Region Sardegna. 943 Vgl EuGH, Rs 20/87 – Gauchard, Rn 12; Rs C-97/98 – Jägerskiöld, Rn 42; verb Rs C-197/11 ua – Libert, Rn 33; Rs C-298/14 – Brouillard, Rn 26; Rs C-566/15 – Erzberger, Rn 24 ff (Beschäftigung bei einer Tochtergesellschaft mit Mutterkonzern in anderem Mitgliedstaat); Rs C-293/02 – Jersey Produce Marketing Organisation; Rs C-591/15 – The Gibraltar Betting and Gaming Association Limited und The Queen. Kämmerer EuR 2008, 45 (49); Riese/Noll NVwZ 2007, 516 (518 f); kritisch dazu Ehlers/Epiney § 8 Rn 14; Lach S 245 ff. 944 Vgl auch Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Pache Rn 15; Papadileris JuS 2011, 123 (123 ff); Riese/Noll NVwZ 2007, 516 (518 f). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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zwischen dem Geltungsbereich nationaler und supranationaler Regelungen zu Unsicherheiten bei der Rechtsanwendung. Diese Rechtsprechung berücksichtigt zudem nicht ausreichend, dass das Erfordernis eines grenzüberschreitenden Sachverhalts de lege lata eine Anwendbarkeitsvoraussetzung für die Grundfreiheiten bildet. Auch um dem Problem der Inländerdiskriminierung (Rn 302) zu begegnen, wäre es langfristig allerdings ratsam, das unklare Erfordernis des grenzüberschreitenden Bezugs aufzugeben.945

cc) Persönlicher Anwendungsbereich 288 Ausgehend von der wirtschaftlichen Dimension der Grundfreiheiten (Rn 255 ff)

können sich grundsätzlich nur Wirtschaftsteilnehmer auf die Grundfreiheiten berufen. Dabei ist zwischen den Angehörigen der Mitgliedstaaten und Drittstaatsangehörigen (Rn 291) zu differenzieren. Hierbei muss beachtet werden, dass beeinträchtigende Regelungen nicht nur Auswirkungen auf die Anbieter von Waren, Dienstleistungen oder Arbeitskraft haben können, sondern auch auf deren Empfänger. So können sich unter den unten aufgeführten Voraussetzungen auch die Vertragspartner beispielsweise eines Kauf-, Dienstleistungs- oder Arbeitsvertrags auf die Grundfreiheiten berufen.946 Die Grundfreiheiten berechtigen in erster Linie alle Personen, die die Staats289 angehörigkeit eines EU-Mitgliedstaats 947 besitzen (Unionsbürger nach Art 20 I AEUV).948 Für die personenbezogenen Freiheiten (Arbeitnehmer-, Niederlassungs-, Dienstleistungsfreiheit) ergibt sich dies schon aus dem Wortlaut des Vertrages (Art 45 II,949 Art 49 I, Art 56 I AEUV). Auch für die Waren- und Kapitalverkehrsfreiheit, die beide auf das Produkt abstellen, folgt bei systematisch-teleologischer Auslegung, dass von ihnen Unionsbürger profitieren; ihr persönlicher Anwendungsbereich reicht indes weiter (Rn 291). Zudem sind unter gewissen Voraussetzungen

_____ 945 Behrens EuR 1992, 145 (161 f); Papadileris JuS 2011, 123 (127 f) schlägt vor, das unklare Kriterium des Grenzübertritts durch das eines konkreten, nachvollziehbaren und wirtschaftlichen Binnenmarktbezugs zu ersetzen und den Mitgliedstaaten erweiterte Rechtfertigungsmöglichkeiten für rein interne Sachverhalte zuzugestehen; ähnlich Wollenschläger FS Müller-Graff, 2015, S 443 bzgl EuGH, Rs C-221/12 – Belgacom. Vgl auch Epiney Umgekehrte Diskriminierungen S 215–228; Lackhoff S 90– 98. AA Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 55 f; Jarass EuR 2000, 705 (710 f). 946 Vgl etwa EuGH, Rs C-350/96 – Clean Car, Rn 16 ff; Rs C-157/99 – Smits und Peerbooms, Rn 69; Rs C-202/11 – Las, Rn 18; Jarass EuR 1995, 202 (209); Jarass EuR 2000, 705 (708); Schroeder Grundkurs § 14 Rn 18; mit anderer Begründung Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 47 ff. 947 Ausf Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 18 ff. 948 Vgl zu einigen Besonderheiten Ehlers/Kadelbach § 17 Rn 26 f; zur doppelten Staatsbürgerschaft EuGH, Rs 292/86 – Gullung; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 16 f. 949 Der Wortlaut ist nicht vollkommen eindeutig. Vgl aber EuGH, Rs C-230/97 – Awoyemi, Rn 29. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

IV. Grundfreiheiten: allgemeine Lehren | 1033

auch Familienangehörige eines Unionsbürgers, der von seinen Grundfreiheiten Gebrauch macht, berechtigt (Rn 291).950 Nach Art 54 I bzw 62 iVm 54 I AEUV „stehen die nach den Rechtsvorschriften 290 eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung [in den Worten des EuGH ihren „wahren“ Sitz951] oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Union haben“, den Unionsbürgern im Rahmen der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit gleich. Der Verweis auf die „nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften“ und deren Sitz soll, mangels „Staatsangehörigkeit“ juristischer Personen, eine ausreichende Anbindung an einen Mitgliedstaat und damit an die Union bieten.952 Im Sinne des effet utile können sich auch die in der Union ansässigen Gesellschaften auf die in Art 34, 35 und 63 AEUV geschützte Warenverkehrsfreiheit und die Freiheit des Kapitalverkehrs berufen.953 In ihrem Mittelpunkt steht jeweils das Produkt (geschützt sind „Unionswaren“ bzw „Kapital“). Auf die Staatsangehörigkeit der Gesellschafter kommt es nicht an.954 Eine Gesellschaft kann als Arbeitgeberin die Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit geltend machen.955 Nach der Legaldefinition in Art 54 II AEUV gelten als Gesellschaften iSv Abs 1 „die Gesellschaften des bürgerlichen Rechts und des Handelsrechts einschließlich der Genossenschaften und die sonstigen juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts mit Ausnahme derjenigen, die keinen Erwerbszweck verfolgen“. Auf Rechtspersönlichkeit kommt es nicht an.956 Außerdem können auch öffentliche Unternehmen dem Anwendungsbereich unterfallen.957 Der Begriff des Erwerbszwecks ist dabei weit zu verstehen und darf nicht mit Gewinnstreben gleichgesetzt werden. Es genügt die Teilnahme am Wirtschaftsleben mittels Angebots einer entgeltlichen, auf teilweise Kostendeckung abzielenden Tätigkeit.958 Zu den berechtigten juristischen Personen des öffentlichen Rechts zählt unter der Voraussetzung einer wirtschaftlichen Tätigkeit auch der Staat; hierin liegt ein entscheidendes Abgrenzungskriterium zu den Grundrechten.959

_____ 950 Maßgeblich ist hier die RL 2004/38, ABl 2004 L 158/77; korrigierte Fassung in ABl 2004 L 229/35. 951 EuGH, Rs 81/87 – Daily Mail, Rn 20. 952 Vgl EuGH, Rs C-330/91 – Commerzbank, Rn 13; Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 978; Dauses/ Ludwigs/Ludwigs E.I Rn 77 f. 953 So im Ergebnis auch Ehlers/Ehlers § 7 Rn 47. Frenz Hdb 1 Rn 233; Schwarze/Becker Art 34 AEUV Rn 7. 954 EuGH, Rs C-221/89 – Factortame, Rn 30; Dauses/Ludwigs/Ludwigs E.I Rn 81. 955 EuGH, Rs C-350/96 – Clean Car, Rn 19; aA Calliess/Ruffert/Kingreen Art 34–36 AEUV Rn 34. 956 Vgl auch Oppermann/Classen/Nettesheim § 28 Rn 13. 957 Ausf Weiß EuR 2003, 165 (173 ff). 958 Ehlers/Ehlers § 7 Rn 46. 959 Vgl auch Ehlers/Ehlers § 7 Rn 46; Dauses/Ludwigs/Ludwigs E.I Rn 75. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1034 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

291

Komplexer ist die Situation der Drittstaatsangehörigen, sowohl der natürlichen als auch der juristischen Personen. Allein Art 63 AEUV über den freien Kapitalverkehr bestimmt ausdrücklich, dass auch Beschränkungen „zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern“ verboten sind. Aus dem sachlichen Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit ergibt sich ferner, dass sich auch hier drittstaatsangehörige natürliche und juristische Personen auf den Schutz berufen können, solange sie mit Unionswaren handeln.960 Somit sind Drittstaatsangehörige aus den Produktverkehrsfreiheiten (Waren, Kapital) berechtigt. Hingegen können sich auf die personenbezogenen Grundfreiheiten (Arbeitnehmer-, Niederlassungs-, Dienstleistungsfreiheit961) grundsätzlich nur die Unionsangehörigen berufen. Es bestehen jedoch gewisse abgeleitete Rechte, so etwa für die drittstaatsangehörigen Familienmitglieder eines Unionsbürgers (RL 2004/38).962 Darüber hinaus steht es der Union frei, durch Abkommen mit Drittstaaten gewisse Rechte auch für die jeweiligen Drittstaatsangehörigen für anwendbar zu erklären. Die in diesem Zusammenhang wohl bedeutendsten sind das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum963 zwischen den Mitgliedstaaten der EU und der EFTA (mit Ausnahme der Schweiz964) und das Assoziierungsabkommen (Art 217 AEUV, in den Worten des EuGH „integrierender Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung“965) mit der Türkei.966

_____ 960 So auch Jarass EuR 2000, 705 (708); Ehlers/Ehlers § 7 Rn 50; Ehlers/Epiney § 8 Rn 16; Frenz Hdb 1 Rn 231; Schwarze/Becker Art 34 AEUV Rn 8; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Leible/Streinz Art 34 AEUV Rn 32; anders Kingreen S 79, der darauf verweist, dass die Warenverkehrsfreiheit nach Art 310 EG (nunmehr Art 217 AEUV) auch Gegenstand von Assoziationsabkommen sein kann und der eine Berechtigung für Drittstaatsangehörige auch für den freien Kapitalverkehr ausschließt. 961 Art 56 II AEUV sieht eine Öffnungsklausel vor, wonach die Bestimmungen zur Dienstleistungsfreiheit auch für drittstaatsangehörige Erbringer von Dienstleistungen, die innerhalb der Union ansässig sind, für anwendbar erklärt werden können. 962 Vgl auch EuGH, Rs C-413/99 – Baumbast, Rn 47 ff, 68 ff; Rs C-60/00 – Carpenter, Rn 38. 963 ABl 1994 L 1/3; dazu Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 42; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Herrmann Art 28 AEUV Rn 27. 964 Die Schweiz als EFTA-Staat ist dem EWR nicht beigetreten, kooperiert aber mit der EU im Rahmen ähnlicher, bilateraler Abkommen. Die Basis bildet das EFTA-EU Freihandelsabkommen aus dem Jahr 1972, das 1999/2004 um die beiden Vertragspakete Bilaterale I und II ergänzt wurde. Die Bilateralen I sind dabei klassische Marktöffnungsabkommen und enthalten ua Regelungen zur Personenfreizügigkeit. Vgl dazu Kahil-Wolff/Mosters EuZW 2001, 5; Breitenmoser/Weyeneth EuZW 2012, 854. 965 EuGH, Rs 12/86 – Demirel, Rn 7. 966 ABl 1964 P 217/3687; näher dazu Oppermann/Classen/Nettesheim § 27 Rn 18 ff; Ehlers/Becker § 9 Rn 31; Ehlers/Tietje § 10 Rn 7; Tezcan/Idriz CMLRev 2009, 1621; Calliess/Ruffert/Brechmann Art 45 AEUV Rn 34 ff. Vgl zum Ganzen auch Ehlers/Ehlers § 7 Rn 50; Husmann ZAR 2009, 305; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 33 ff. Zur Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit einiger Vorschriften EuGH, Rs 12/86 – Demirel, Rn 25; Rs C-37/98 – Savas, Rn 46 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

IV. Grundfreiheiten: allgemeine Lehren | 1035

b) Beeinträchtigung aa) Verpflichtete Durch die Grundfreiheiten werden vornehmlich die Mitgliedstaaten verpflichtet.967 292 Dies umfasst alle Stellen, die Träger von Staatsgewalt sind.968 Dazu zählen in erster Linie die gesamtstaatliche (in Deutschland der Bund) sowie die regionale (Länder) und lokale Ebene (Kommunen),969 aber auch solche juristischen Personen, die entweder vom Staat mit hoheitlichen Befugnissen ausgestattet worden sind (etwa Kammern970) oder sonstige Einrichtungen, die im Besitz der öffentlichen Hand liegen (etwa kommunale Eigengesellschaften). Die Mitgliedstaaten sind grundsätzlich auch dann angesprochen, wenn sie in 293 Umsetzung von Unionsrecht handeln. Dies gilt gleichermaßen für solche Stellen, auf die der Staat infolge finanzieller oder organisatorischer Verbindungen einen beherrschenden Einfluss ausübt, aber auch dann, wenn ihm das Verhalten der Einrichtung in sonstiger Weise zugerechnet werden kann.971 Dabei spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob der handelnde Akteur eine juristische Person des öffentlichen oder des Privatrechts ist („keine Flucht ins Privatrecht“). Schließlich können auch die Äußerungen eines Beamten dem Staat zurechenbar sein, wenn der Eindruck entsteht, dass es sich um offizielle staatliche Verlautbarungen und nicht um die private Meinung des Beamten handelt.972 Macht ein Privater einen Rechtsanspruch geltend (etwa gewerbliche Schutzrechte), so liegt in der Gewährung dieses Anspruchs durch nationale Behörden oder Gerichte eine staatliche Maßnahme.973 Aber nicht nur der Empfangsstaat (dh das Ziel der Leistung), sondern auch der Heimat- oder Entsendestaat (dh das Ursprungsland der grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Leistung) wird durch die Grundfreiheiten verpflichtet. Denn auch er kann Maßnahmen treffen, die die Ausübung der grundfreiheitlichen Gewährleistungen beeinträchtigen.974

_____ 967 So auch Scheffer S 35 ff. 968 Ehlers/Ehlers § 7 Rn 52. 969 Vgl EuGH, Rs C-72/03 – Carrara-Marmor, Rn 27 f. 970 Vgl etwa EuGH, Rs 249/81 – Buy Irish, Rn 23 ff; verb Rs 266/87 ua – Royal Pharmaceutical Society, Rn 15; Rs C-188/89 – Foster, Rn 18; Rs C-302/88 – Hennen Olie, Rn 16 ff; Rs C-292/92 – Hünermund, Rn 15 ff. 971 EuGH, Rs C-227/06 – Kommission / Belgien, Rn 37–39; vgl auch EuGH, Rs 249/81 – Buy Irish, Rn 29; Rs 222/82 – Apple and Pear Development Council, Rn 17; Rs C-325/00 – CMA-Gütezeichen, Rn 18; Rs C-543/08 – Kommission / Portugal, Rn 48 ff. Vgl jüngst auch EuGH, Rs C-171/11 – Fra.bo; dazu Roth EWS 2013, 16. 972 EuGH, Rs C-470/03 – A.G.M.-COS.MET, Rn 55 ff; Rs C-91/08 – Wall, Rn 49 ff. 973 Ehlers/Epiney § 8 Rn 19; EuGH, Rs 58/80 – Daanske Supermarked, Rn 10 ff; Rs C-10/89 – CNLSUCAL, Rn 9 ff; Rs C-9/93 – Ideal Standard, Rn 33 f; aA Streinz/Leible EuZW 2000, 459 (465). 974 Vgl etwa EuGH, Rs 15/79 – Groenveld, Rn 7; Rs 81/87 – Daily Mail, Rn 16; Rs C-384/93 – Alpine Investments, Rn 38 f; Rs C-484/93 – Svensson und Gustavsson, Rn 10; Rs C-415/93 – Bosman, Rn 103; Rs C-141/99 – AMID; Rs C-109/04 – Kranemann, Rn 26; Rs C-196/04 – Cadbury Schweppes, Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1036 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

Eine umfassende Verpflichtung tritt zudem für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union975 ein,976 sei es durch Erlass von direkt anwendbaren VOen, sei es durch Erlass von durch die Mitgliedstaaten noch umzusetzenden RLen, wenn de facto kein Spielraum für die Umsetzung besteht.977 Dies gilt allerdings nur, solange sich die Union im Rahmen ihrer Kompetenzen bewegt, da kompetenzwidrig erlassenes Sekundärrecht schon wegen Verstoßes gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nichtig wäre.978 Der freie Wirtschaftsverkehr wäre allerdings auch gefährdet, „wenn die Beseiti295 gung der staatlichen Schranken dadurch in ihren Wirkungen wieder aufgehoben würde, daß privatrechtliche Vereinigungen oder Einrichtungen kraft ihrer rechtlichen Autonomie derartige Hindernisse aufrichteten“.979 Der EuGH hat in seiner Rspr eine unmittelbare Drittwirkung (horizontale unmittelbare Wirkung) der Grundfreiheiten und damit eine direkte Verpflichtung Privater durch die Grundfreiheiten anerkannt. Diese grundfreiheitliche Bindung der Privaten geht über die Verpflichtung der Mitgliedstaaten hinaus, bei der Rechtsetzung, -anwendung und -auslegung des nationalen (Privat-)Rechts die Grundfreiheiten und gewisse Schutzansprüche zu berücksichtigen.980 Seinen Ausgangspunkt findet diese Rspr im Fall Walrave, in dem der EuGH eine 296 solche Bindung für marktmächtige private Verbände (hier: Sportverbände) im Rahmen der Arbeitnehmer- und der Dienstleistungsfreiheit erstmals anerkannt hat. Aus dem Wortlaut dieser Grundfreiheiten folge nicht, dass nur staatliche Maßnahmen davon erfasst seien, sondern darüber hinaus auch „Vorschriften anderer Art […], die zur kollektiven Regelung unselbständiger Arbeit dienen“. Zudem verbiete das Sekundärrecht (nunmehr Art 7 IV der VO 492/2011) auch eine diskriminieren-

294

_____ Rn 42; Rs C-38/10 – Kommission / Portugal. Vgl auch Jarass EuR 2000, 705 (714); Ehlers/Ehlers § 7 Rn 52; Ehlers/Pache § 11 Rn 74; Szydło CMLRev 2010, 753; Brigola EuZW 2009, 479; Haratsch/ Koenig/Pechstein Rn 850. 975 Gemäß Art 106a EAGV sind die Organe der EU auch für die Atomgemeinschaft zuständig, Tauschinsky/Böttner EuZW 2018, 674 (677 f). Vgl aber die Sonderbestimmungen betreffend den freien Wirtschaftsverkehr in Art 94 ff EAGV. 976 In diesem Sinne bereits EuGH, verb Rs 80/77 ua – Commissionnaires réunis; vgl auch EuGH, Rs 37/83 – REWE, Rn 18; Rs 15/83 – Denkavit Nederland, Rn 15; Rs C-51/93 – Meyhui, Rn 11; Rs C114/96 – Kieffer und Thill, Rn 27; Rs C-434/02 – Arnold André, Rn 57; vgl auch Schwemer S 25–45; Scheffer S 32 ff, 131 ff; Gormley Rn 11.02 mwN; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 131; ausf Rosenfeldt/Würdemann EuR 2016, 453; aA Calliess/Ruffert/Kingreen Art 34–36 AEUV Rn 110. 977 Ähnlich Scheffer S 82 ff, 121 ff. 978 Vgl dazu EuGH, Rs C-376/98 – Deutschland / Parlament und Rat, Rn 81 ff. 979 EuGH, Rs 36/74 – Walrave, Rn 16/19. Zu unterscheiden sind dabei Fälle, in denen Private mittels staatlicher Stellen Rechtspositionen geltend machen oder das Verhalten Privater auf staatlichen Maßnahmen beruht und so eine Zurechnung zum Staat erfolgt (Rn 310). 980 Vgl Franck S 6 f; Ganten S 22 f; Kingreen S 193; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 152 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

IV. Grundfreiheiten: allgemeine Lehren | 1037

de Anwendung von Arbeitsverträgen zwischen Privaten; für die Dienstleistungsfreiheit könne nichts anderes gelten.981 Im Sinne der praktischen Wirksamkeit und der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts müsse der Vertragsautonomie Privater Grenzen gesetzt werden, sofern diese das Ziel des freien Binnenmarkts gefährdet.982 Derselbe Gedanke wurde später auch auf die Niederlassungsfreiheit übertragen.983 Nachdem Teile der Literatur aus der Rspr des EuGH984 eine unmittelbare Drittwirkung auch für die Warenverkehrsfreiheit hergeleitet hatten,985 lehnte der Gerichtshof eine solche Wirkung indessen explizit ab.986 Art 34 AEUV findet demnach nur auf staatliche oder dem Staat zurechenbare Maßnahmen Anwendung und kann maximal zu einer mittelbaren Drittwirkung führen (Rn 274).987 Die neuere Rspr lässt jedoch möglicherweise ein Abrücken von dieser Position erkennen.988 Im Rahmen der Kapitalverkehrsfreiheit liegt noch keine einschlägige Rspr vor, doch ist auch hier eine horizontale unmittelbare Wirkung zu bejahen.989 Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten ist umstritten.990 Kritiker 297 verweisen darauf, dass sowohl der Wortlaut („zwischen den Mitgliedstaaten“) als auch die Ausrichtung der Rechtfertigungsgründe (insb öffentliche Sicherheit und Ordnung) darauf hindeuten, dass sich die Grundfreiheiten eher auf staatliches Handeln beziehen.991 Überdies könne binnenmarktwidriges Handeln Privater über die Wettbewerbsregeln der Art 101 ff AEUV und das Sekundärrecht erfasst werden.992 Zudem sei das Verhältnis wegen der beidseitigen Berechtigung aus den Grundfrei-

_____ 981 EuGH, Rs C-415/93 – Bosman, Rn 82 f; vgl auch Rs 36/74 – Walrave, Rn 20/24; Rs 13/76 – Donà, Rn 17/18; verb Rs C-51/96 ua – Deliège, Rn 47 f; Rs C-176/96 – Lehtonen, Rn 36; Rs C-281/98 – Angonese, Rn 30 f; Rs C-438/05 – Viking, Rn 33; Rs C-94/07 – Raccanelli, Rn 43 f. Zur Rspr in den Personenfreiheiten Preedy S 39 ff; Förster S 23 ff; Stein S 26 ff; Lengauer S 113 ff. 982 Vgl Franck S 9 f; Preedy S 43; Oppermann/Classen/Nettesheim § 27 Rn 31. 983 Vgl dazu insb EuGH, Rs C-309/99 – Wouters, Rn 120 ff; Rs C-438/05 – Viking, Rn 33; vgl dazu auch Franck S 13 f; Förster S 39 f. 984 Angedeutet in EuGH, Rs 58/80 – Daanske Supermarked. 985 So etwa Schaefer S 103 f; aA Preedy S 27 f; Jaensch S 59 f; Förster S 51. 986 Dazu EuGH, verb Rs 177/82 ua – van de Haar, Rn 11 f und Rs 311/85 – Vlaamse Reisebureaus, Rn 30. Zur Rspr auch Preedy S 26 ff; Förster S 40 ff. 987 Vgl Franck S 14 ff; Ehlers/Epiney § 8 Rn 21; Ganten S 45; Krenn CMLRev 2012, 177. Kritisch gegenüber dieser Differenzierung jedoch Franck S 32 f. 988 EuGH, Rs C-171/11 – Fra.bo; dazu Roth EWS 2013, 16; Schmahl/Jung NVwZ 2013, 607; Kloepfer/Greve DVBl 2013, 1148; Müller-Graff EnzEuR 4/Kellerhals § 6 Rn 19 f; Stein S 39 ff. 989 Vgl auch Oppermann/Classen/Nettesheim § 30 Rn 16 f; Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 1038; näher dazu Franck S 16 ff; Müller-Graff EuR 2014, 3 (16); für eine mittelbare Drittwirkung Kemmerer S 193 ff; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 172. 990 Übersicht bei Müller-Graff EuR 2014, 3 (3 ff). 991 So Ehlers/Ehlers § 7 Rn 60; Jaensch 81 ff; vgl auch Jarass EuR 1995, 202 (210 f). 992 Vgl Ehlers/Ehlers § 7 Rn 60. Lediglich im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit greifen die Wettbewerbsregeln. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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heiten strukturell anders als zwischen Privatem und Staat bzw Union.993 Diese Kritik vermag indes kaum zu überzeugen. Wie der EuGH ausführt, lässt der Wortlaut der Grundfreiheiten lediglich auf ein grenzüberschreitendes Element schließen und macht ferner keine Aussagen zur Herkunft der beschränkenden Maßnahme.994 Darüber hinaus können sich grundsätzlich auch Private auf die Rechtfertigungsgründe berufen,995 zumindest auf die zwingenden Gründe des Allgemeinwohls.996 Bestimmte Verhaltensweisen werden auch nicht vom Wettbewerbsrecht erfasst, obwohl sie den freien Wirtschaftsverkehr durchaus beschränken können. Wie der EuGH dargelegt hat, wird etwa das Handeln der Gewerkschaften aufgrund einer Grundrechtsberechtigung nicht von den Wettbewerbsregeln, wohl aber von den Grundfreiheiten erfasst.997 Nichtsdestotrotz erscheint eine vollumfängliche Verpflichtung Privater aus den Grundfreiheiten als zu weitgehend. Im Ergebnis ist wohl denen zuzustimmen, die eine umfassende Bindung Privater für das Diskriminierungsverbot gelten lassen,998 das Beschränkungsverbot im Bereich der Bindung Privater aber nur auf intermediäre Gewalten bzw sozial mächtige Akteure ausweiten wollen.999

bb) Belastender Eingriff 298 Darüber hinaus muss auf der Ebene der Beeinträchtigung geklärt werden, welche

Maßnahmen überhaupt Eingriffscharakter besitzen. Der Eingriffsbegriff ist weit zu verstehen, um nicht vorschnell die Verletzung einer Grundfreiheit wegen fehlenden Eingriffs zu verneinen. Doch führt diese weite Auslegung, die nahezu jede, insb staatliche, Maßnahme am Maßstab der Grundfreiheiten zu messen versucht, letztlich zu einer Ausdehnung der Kontrollbefugnis des EuGH und stößt damit an kompetenzrechtliche Grenzen.1000 Als Maßnahme erfasst ist jedes Tun, Dulden oder Unterlassen eines Verpflichteten. Es muss dabei eine gewisse Nähebeziehung zwischen der Maßnahme und deren Wirkung bestehen, der Zusammenhang zwischen einer Maßnahme und einer etwaigen Beeinträchtigung darf nicht nur zufällig oder zu

_____ 993 Kischel EuGRZ 1997, 1 (8); Ehlers Jura 2001, 206 (274); vgl auch Burgi EWS 1999, 327 (330 ff). 994 Vgl auch Stein S 20 ff, Müller-Graff EuR 2014, 3 (8 f). 995 EuGH, Rs C-415/93 – Bosman, Rn 84 ff (86); Rs C-350/96 – Clean Car, Rn 24; zust Steinberg EuGRZ 2002, 13 (15 f); zur Problematik von Allgemeininteresse und Privatinteresse Haratsch/Koenig/ Pechstein Rn 946. 996 EuGH, Rs C-438/05 – Viking, Rn 75 ff; s auch Müller-Graff EuR 2014, 3 (12). 997 EuGH, Rs C-438/05 – Viking, Rn 53; s auch Müller-Graff EuR 2014, 3 (13 f). 998 So auch EuGH, Rs C-94/07 – Raccanelli, Rn 38 ff (48). 999 Forsthoff EWS 2000, 389 (393); Streinz/Leible EuZW 2000, 459 (464 ff); Kadelbach/Petersen EuGRZ 2002, 213 (220); Jaensch S 254 ff, 268 ff; Preedy S 60 f; Ehlers/Epiney § 8 Rn 22; einschränkend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 162, 170. 1000 Vgl auch Ruffert JuS 2009, 97 (100). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

IV. Grundfreiheiten: allgemeine Lehren | 1039

ungewiss und indirekt sein.1001 Indes bedarf es für die Beeinträchtigungen keiner Spürbarkeitsschwelle, dh keiner bestimmten Intensität.1002 Es kommt lediglich auf die Geeignetheit zur Handelsbehinderung an, eine – auch noch so geringe – Beeinträchtigung muss nicht auch zwangsläufig eingetreten sein.1003 Ebenso wenig muss die Beeinträchtigung bezweckt sein.1004 Lediglich hypothetische Kausalverläufe erreichen dabei allerdings noch nicht die Schwelle der Geeignetheit, den Handel „potentiell“ zu behindern.1005 Der Begriff des Tuns ist sehr weit gefasst und beinhaltet jegliche Form positi- 299 ver Handlung. Dazu zählen zunächst alle Akte mit Regelungscharakter wie Gesetze, Verordnungen oder Verwaltungsakte. Doch auch eine bloße Verwaltungspraxis ist hierunter zu subsumieren.1006 Selbst Realakte werden als Tun unter den Begriff der Maßnahme gefasst, etwa Kampagnen zur Verkaufsförderung inländischer Produkte.1007 Auch die öffentlich geäußerte Kritik eines staatlichen Beamten kann einen Eingriff darstellen.1008 Ist ein Dulden oder Unterlassen zu beurteilen, so muss sich aus den Grundfreiheiten auch eine entspr Handlungspflicht ergeben, die der Verpflichtete vernachlässigt hat. Dazu zählen insb staatliche Schutzpflichten (Rn 274). Die Grundfreiheiten statuieren als europarechtliche Ausprägung des wirt- 300 schaftsvölkerrechtlichen Prinzips der Inländerbehandlung ein Verbot von Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit, also die Schlechterstellung grenzüberschreitender gegenüber nationalen Sachverhalten. Sie sind in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich leges speciales gegenüber dem allgemeinen Diskriminierungsverbot aus Art 18 AEUV.1009 Das Diskriminierungsverbot kann als Ausprägung des Bestimmungslandprinzips angesehen werden, da EU-Ausländer den gleichen Regelungen unterfallen sollen wie Inländer.1010 Bei der Beurteilung, ob eine

_____ 1001 EuGH, Rs 69/88 – Krantz, Rn 11; Rs C-159/90 – Grogan, Rn 22 ff (24); verb Rs C-418/93 ua – Semeraro Casa Uno, Rn 32; Rs C-266/96 – Corsica Ferries France, Rn 31; Rs C-190/98 – Graf, Rn 25; Ehlers/Ehlers § 7 Rn 105; aA Ehlers/Epiney § 8 Rn 52. 1002 Zur Entwicklung Jansson/Kalimo CMLRev 2014, 523. 1003 EuGH, Rs 16/83 – Prantl, Rn 20; Rs C-126/91 – Yves Rocher, Rn 21; Rs C-49/89 – Corsica Ferries France, Rn 8; Rs C-169/98 – Kommission / Frankreich, Rn 46; Rs C-212/06 – Gouvernement de la Communauté française, Rn 52. Kingreen S 84; Becker EuR 1994, 162 (170 f); Jarass EuR 1995, 202 (219); Thomas NVwZ 2009, 1202. 1004 Kingreen S 84. 1005 EuGH, Rs C-126/91 – Yves Rocher, Rn 21; so auch Ehlers/Epiney § 8 Rn 53. 1006 EuGH, Rs C-41/02 – Kommission / Niederlande, Rn 24 ff; Rs C-135/05 – Kommission / Italien, Rn 21; Rs C-88/07 – Kommission / Spanien, Rn 54. 1007 EuGH, Rs 249/81 – Kommission / Irland („Buy Irish“), Rn 3; vgl auch Rs 222/82 – Apple and Pear Development Council, Rn 18; Rs C-325/00 – CMA-Gütezeichen, Rn 23 f. 1008 EuGH, Rs C-470/03 – A.G.M.-COS.MET, Rn 66. 1009 Ehlers/Ehlers § 7 Rn 15; Streinz Rn 824; EuGH, Rs 36/74 – Walrave, Rn 31/33; Rs C-341/05 – Laval, Rn 54 f; Rs C-20/16 – Bechtel, Rn 20. 1010 Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 851. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1040 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

Diskriminierung vorliegt, ist zu fragen, ob „unterschiedliche Vorschriften auf vergleichbare Situationen angewandt werden oder […] dieselbe Vorschrift auf unterschiedliche Situationen angewandt wird“.1011 Das Diskriminierungsverbot hat damit einen relativen Charakter.1012 Ungleichbehandlungen aufgrund der Staatsangehörigkeit können einerseits offene (unmittelbare) Diskriminierungen darstellen, wenn die betreffende Maßnahme direkt auf die Staatsangehörigkeit als Unterscheidungsmerkmal oder die Herkunft von Waren oder Kapital abstellt.1013 Ein solcher Fall liegt etwa vor, wenn aufgrund einer nationalen Regelung nur Inländer Zugang zu einem bestimmten Beruf haben. Davon zu unterscheiden sind die sog versteckten (mittelbaren) Diskriminie301 rungen. Hier wird nicht direkt auf die Staatsangehörigkeit abgestellt. Die getroffenen Regelungen beeinträchtigen jedoch durch ihre Auswirkungen typischerweise oder ganz überwiegend ausländische Produkte oder Personen stärker als inländische. Exemplarisch ist ein Wohnsitz- oder Ansässigkeitserfordernis im Inland, welches von den eigenen Staatsangehörigen regelmäßig einfacher zu erfüllen ist als von ausländischen. 1014 Versteckte Diskriminierungen können von sonstigen Beschränkungen (Rn 304 ff) mitunter schwer zu unterscheiden sein. Aus dem Vergleichsmaßstab, der dem Gleichheitsgebot und dem Diskriminie302 rungsverbot zugrunde liegt, folgt im Umkehrschluss aber auch, dass die Vertragsvorschriften die sog „Inländerdiskriminierung“ („reverse discrimination“, „discrimination à rebours“) nicht verbieten.1015 Dabei handelt es sich um Sachverhalte, in denen die Inländer eines Mitgliedstaates strengeren Regeln unterworfen sind als die EU-Ausländer. Denn EU-Ausländer können unter Berufung auf den freien Wirtschaftsverkehr gegen Beschränkungen vorgehen und damit die beschränkenden nationalen Regelungen für sich selber als unanwendbar abwenden. Als Maßstab für die Zulässigkeit einer solchen Diskriminierung kann in diesen Fällen allein das nationale (Verfassungs-)Recht herangezogen werden.1016 Der Ungleichbehandlung

_____ 1011 EuGH, Rs C-279/93 – Schumacker, Rn 30; Rs C-80/94 – Wielockx, Rn 17; Rs C-107/94 – Asscher, Rn 40; Rs C-9/14 – Kieback, Rn 21. 1012 Classen EWS 1995, 97 (97). 1013 Vgl dazu ausf Plötscher 2003; vgl auch Kingreen S 31 ff mit einer Aufarbeitung des deutschen Diskriminierungsverbots im föderalen Staat nach der Rspr des BVerfG. 1014 Vgl etwa EuGH, Rs 152/73 – Sotgiu, Rn 11 f; Rs C-237/94 – O’Flynn, Rn 17 ff. 1015 Hilpold § 12 (in diesem Band) Rn 25 ff; Ehlers/Ehlers § 7 Rn 25 f; Ehlers/Kingreen § 17 Rn 15; Kingreen S 84 ff; Hammerl S 141 ff; Riese/Noll, NVwZ 2007, 516; aA Lach S 220 ff; Eschmann S 27 f. 1016 Zur nationalrechtlichen Beurteilung ausführlich Kingreen S 140 ff; Hammerl S 161 ff; Lackhoff S 67 ff; Gundel DVBl 2007, 269 (271 ff); vgl auch Ehlers/Ehlers § 7 Rn 26; Streinz Rn 847; Merten/Papier/Streinz HGR VI/1 § 152 Rn 29 f; aA Classen EWS 1995, 97 (105). Vgl dazu auch Papadileris JuS 2011, 123 (126); Ehlers/Tietje § 10 Rn 40; ausf Lackhoff S 73 ff; sehr weitgehend Kämmerer EuR 2008, 45 (47 ff); Epiney Umgekehrte Diskriminierungen S 115 ff: Art 18 AEUV als Querschnittsklausel, die auch bei den Grundfreiheiten Diskriminierung gegen eigene Staatsangehörige verbiete. Aus der Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

IV. Grundfreiheiten: allgemeine Lehren | 1041

kann allerdings mittels des harmonisierenden Sekundärrechts auch auf der Unionsebene begegnet werden.1017 Der EuGH gibt aber auch bei faktisch rein nationalen Sachverhalten entsprechende Auslegungshinweise, vor allem in Fällen einer durch nationales Recht indizierten gleichheitsrechtlichen Beurteilung.1018 Solche Hinweise können zu einem unionsrechtlich induzierten Anpassungsdruck auf die nationale Rechtsordnung führen.1019 Anders wiederum sind die Fälle sog „Heimkehrer“ zu beurteilen. Hierbei geht 303 es insb um solche Konstellationen, in denen Inländer im Ausland etwa eine Ausbildung absolvieren und nach erfolgreichem (ausländischem) Abschluss unter Nutzung der grundfreiheitlich gewährten Freizügigkeit in ihren Heimatstaat zurückkehren, um dort tätig zu sein. Hier unterliegt der Inländer den gleichen Regelungen wie die EU-Ausländer.1020 Darüber hinaus gelten die Grundfreiheiten als umfassende Beschränkungs- 304 verbote1021 und haben somit auch einen absoluten1022 Charakter. Dies ergibt sich aus dem vom EuGH vorgeformten1023 Wortlaut (Art 34, 35, 45 III, 49, 56, 63 AEUV). Beschränkungen des freien Wirtschaftsverkehrs werden durch Maßnahmen verursacht, die zwar nicht an bestimmte Unterscheidungsmerkmale anknüpfen, die aber – aus den unterschiedlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten herrührende – Anforderungen an Produkte oder Qualifikationen stellen und so den grenzüberschreitenden Verkehr behindern können. In Dassonville qualifizierte der EuGH umfassend als Beschränkungen (iSv Maßnahmen gleicher Wirkung, Art 34 AEUV) alle „Handelsregelungen, die geeignet sind, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern.“1024 Wenige Jahre später bestätigte der EuGH die Dassonville-Formel in der Rs Cassis 305 de Dijon. Diese Entscheidung ist allerdings in anderer Hinsicht relevant, als der EuGH hier den Übergang vom Bestimmungslandprinzip zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung (Ursprungs- oder Herkunftslandprinzip) maßgeblich begrün-

_____ Rspr vgl EuGH, Rs C-215/01 – Schnitzer, und BVerfG, JZ 2007, 354 sowie dazu Beaucamp DVBl 2004, 1458; Müller NVwZ 2004, 403. 1017 Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 854. 1018 EuGH, Rs C-212/06 – Gouvernement de la Communauté française, Rn 40; Rs C-84/11 – Susisalo, Rn 20 mwN. 1019 Vgl etwa EuGH, Rs 178/84 – Kommission / Deutschland und später BVerwGE 123, 82 = NJW 2005, 1736 sowie EuGH, Rs C-76/90 – Säger, und BVerfG, 1 BvR 780/87, BVerfGE 97, 12 = DVBl 2006, 244; vgl auch Gundel DVBl 2007, 269 (278); Merten/Papier/Streinz HGR VI/1 § 152 Rn 29. 1020 Vgl EuGH, Rs 115/78 – Knoors, Rn 24; Rs C-61/89 – Bouchoucha, Rn 13; Rs C-19/92 – Kraus, Rn 15; vgl auch Rs C-370/90 – Singh, Rn 19 ff; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 59 ff mwN. 1021 Zur Abgrenzung Diskriminierung/Beschränkung Ehlers/Ehlers § 7 Rn 106. 1022 Classen EWS 1995, 97 (98 ff). 1023 Zur Entwicklung vgl Kingreen S 38 ff; Behrens EuR 1992, 145 (148 ff). 1024 EuGH, Rs 8/74 – Dassonville, Rn 5. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1042 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

det und somit einen wesentlichen Schritt vom bloßen Diskriminierungs- zu einem allgemeinen Beschränkungsverbot 1025 vollzieht. In einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig in den Verkehr gebrachte und angebotene Wirtschaftsgüter sind demnach auch in anderen Staaten zuzulassen, wenn kein Rechtfertigungsgrund für eine Beschränkung vorliegt.1026 Die gegenseitige Anerkennung fördert den freien Wirtschaftsverkehr, ohne dass langwierige Verhandlungen über Harmonisierungsmaßnahmen geführt werden müssen. Sie ist zudem Garant der Vielfalt nationaler Besonderheiten, etwa im Warenbereich und beruht insoweit auf dem Gedanken der grundsätzlichen funktionellen Gleichwertigkeit der nationalen Regelungskomplexe.1027 Andererseits trägt die gegenseitige Anerkennung dem Subsidiaritätsprinzip stärker Rechnung.1028 Die in diesem Zusammenhang geäußerte Kritik, es komme dadurch zu einem Absinken der Qualitätsstandards („race to the bottom“; Rn 173), hat allerdings keine empirische Grundlage.1029 Der Gedanke der Gleichwertigkeit findet auch bei der gegenseitigen Anerkennung berufsqualifizierender Nachweise Anwendung. Hierzu kontrastiert das sog Bestimmungslandprinzip, das die Vorschriften des Ziellandes des Wirtschaftsverkehrs für anwendbar erklärt. Eine solche Konstellation ist insb bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit anzutreffen (Rn 428) und findet im Rahmen der Niederlassungsfreiheit ihren Niederschlag in der Abgrenzung zwischen Gründungs- und Sitzstaatstheorie (Rn 391). Die sehr weitreichende Dassonville-Formel ist vom EuGH später in der Entschei306 dung Keck und Mithouard konkretisiert worden. Das Gericht differenzierte in dieser Entscheidung zwischen Maßnahmen, die als sog Verkaufsmodalitäten den Vertrieb von Produkten regeln, und produktbezogenen Regelungen, die das Produkt als solches betreffen. Anders als produktbezogene Regelungen sind Verkaufsmodalitäten grundsätzlich nicht geeignet, den innergemeinschaftlichen Handel zu behindern, sofern diese Bestimmungen unterschiedslos für in- und ausländische Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben (Universalität), und sofern sie den Absatz der in- und ausländischen Erzeugnisse rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren (Neutralität).1030 So kann eine Maßnahme, die prima facie als nicht-diskriminierende Verkaufsmodalität gelten würde, aufgrund ihrer faktischen Ungleichbehandlung (stärkere Auswirkung auf ausländische Pro-

_____ 1025 Vgl Behrens EuR 1992, 145 (156 f); Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 854 f; Pechstein/Nowak/ Häde/Ulrich Art 34 AEUV Rn 165 ff. 1026 EuGH, Rs 120/78 – Cassis de Dijon, Rn 14; zur Anwendung der Cassis-Formel im Verhältnis zur Schweiz vgl Zäch/Heizmann EuZW 2012, 876. 1027 Dauses/Ludwigs/Brigola C.I Rn 4. 1028 Classen EWS 1995, 97 (105). 1029 Vgl Wagener/Eger S 267 f. 1030 EuGH, verb Rs C-267/91 ua – Keck und Mithouard, Rn 16; Rs C-531/07 – LIBRO, Rn 17; vgl dazu auch Ehlers/Ehlers § 7 Rn 99; Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 900 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

IV. Grundfreiheiten: allgemeine Lehren | 1043

dukte) als unzulässige Marktzugangsschranke zu qualifizieren sein.1031 Die Bedeutung dieses Beschränkungsverbotes ist durch die Rspr des EuGH für die einzelnen Grundfreiheiten sachbereichsspezifisch ausgeformt und konkretisiert worden.1032 Während daher solche Regelungen verboten sind, die gewisse Anforderungen 307 etwa an die Beschaffenheit eines Produktes oder die Qualifikation einer Person stellen und somit den Marktzugang (also das „Ob“ der Freiheitsausübung)1033 berühren, sind solche Regelungen erlaubt, die das Marktverhalten (das „Wie“ der Freiheitsausübung) betreffen, wenn sie unterschiedslos (universell und neutral) gelten.1034 Dabei können jedoch Maßnahmen, die sich formal auf das Marktverhalten beziehen (zB Werbeverbote1035), als Behinderung des Marktzugangs betrachtet werden, wenn sie sich derart auswirken, dass ausländische Produkte gar nicht erst in den nationalen Markt eintreten wollen oder können (etwa bei einem totalen Werbeverbot).1036 Dies trifft auch für sog Nutzungsmodalitäten zu, bei denen der Gebrauch einer Ware bestimmten Restriktionen unterworfen ist, die aber so weit sein können, dass das betreffende Produkt gar nicht erst in den Markt eintreten kann.1037 Im Kern stehen die Grundfreiheiten Maßnahmen jeder Art entgegen, die geeignet

_____ 1031 So etwa in EuGH, Rs C-531/07 – LIBRO, Rn 20 ff; vgl auch Ehlers/Epiney § 8 Rn 47; Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 904; Merten/Papier/Streinz HGR VI/1 § 153 Rn 22. 1032 Vgl etwa grundlegend EuGH, Rs 33/74 – van Binsbergen, Rn 10 ff (Dienstleistungsverkehr); Rs C-415/93 – Bosman, Rn 92 ff (Arbeitnehmerfreizügigkeit); Rs C-19/92 – Kraus, Rn 16 f und Rs C-55/94 – Gebhard, Rn 34 ff (Niederlassungsfreiheit); Rs C-98/01 – Kommission / Vereinigtes Königreich, Rn 45 ff (Kapitalverkehrsfreiheit). Vgl dazu Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 959 f, 1007, 1049 ff, 1083 f; abl allgem Ehlers/vWilmowsky § 12 Rn 6 f mwN; Glöckner EuR 2000, 592 (617 ff). 1033 Marktzu- und -austritt sind dabei parallel zu behandeln; Brigola EuZW 2009, 479 (482 ff); Szydło CMLRev 2010, 753 (779 ff). 1034 Für einen einheitlichen Beschränkungsbegriff auch Ehlers/Ehlers § 7 Rn 101; Streinz Rn 843, 909; Ruffert JuS 2009, 97 (101); Glöckner EuR 2000, 592 (617 ff). Zustimmend für die Anwendung auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit Ehlers/Becker § 9 Rn 43; für die Dienstleistungsfreiheit ablehnend Ehlers/Pache § 11 Rn 87. Zur Unterscheidung Marktzugang/Marktverhalten vgl auch Kingreen S 121 ff; Snell CMLRev 2010, 437 (443 ff). Zur Anwendbarkeit auf die Kapitalverkehrsfreiheit Kemmerer S 177 ff; im Ansatz auch Jarass EuR 2000, 705 (711 f); Schwarze/Becker Art 34 AEUV Rn 49; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Leible/Streinz Art 34 AEUV Rn 83 f; vgl auch Dietz/Streinz, EuR 2015, 50. 1035 Zu Problemen von Werbeverboten beim sog „Euro-Marketing“, bei dem Produkte europaweit mit einer einheitlichen Strategie beworben werden sollen vgl Kingreen S 134 ff. 1036 Vgl dazu den Sachverhalt in EuGH, verb Rs C-34/95 ua – De Agostini und in Rs C-405/98 – Gourmet International oder in Rs C-518/06 – Kommission / Italien (Kontrahierungszwang für Versicherungen). So auch Szydło CMLRev 2010, 753 (778). 1037 EuGH, Rs C-110/05 – Kommission / Italien, Rn 37; Rs C-142/05 – Mickelsson, Rn 24; vgl auch Rs C-265/06 – Kommission / Portugal, Rn 31 ff; Rs C-639/11 – Kommission / Polen, Rn 52 ff; Rs C61/12 – Kommission / Litauen, Rn 57 ff; vgl aus der Literatur Streinz Rn 911; Gormley Rn 11.33, 11.43; Müller-Graff EnzEuR 4/Kellerhals § 6 Rn 42 ff; Brigola EuZW 2012, 248 (252); Holst S 141 ff, 197 ff; Cremer/Bothe EuZW 2015, 413 (415 ff). Kröger EuR 2012, 468, sieht im Ergebnis solche Nutzungsmodalitäten analog der Verkaufsmodalitäten der Keck-Rspr eher als Bereichsausnahmen. Krit zur Rspr Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 906. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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sind, den Zugang zum Markt in einem anderen Mitgliedstaat und damit die Ausübung der jeweiligen Grundfreiheit „zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen“1038 bzw „die die Gemeinschaftsangehörigen benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben wollen“.1039 Auch der EuGH scheint primär auf den Marktzugang als entscheidendes Kriterium abzustellen.1040 Hinsichtlich des Marktausgangs ist die Judikatur indes noch uneinheitlich.1041 Um zu verhindern, dass der Begriff der Beeinträchtigung wieder ausufernd weit (Dassonville) verstanden wird, muss das Marktzugangskriterium im Lichte der Kompetenzordnung ausgelegt1042 werden und rein potenzielle Marktzugangshindernisse1043 außer Acht lassen.

c) Rechtfertigung 308 Nicht jede Beeinträchtigung der Grundfreiheiten ist per se verboten. Vielmehr kann

auf einer dritten Ebene gefragt werden, ob sich der Eingriff rechtfertigen lässt. Dabei können sich grundsätzlich alle Verpflichteten auf Rechtfertigungsgründe berufen, auch die Union1044 oder Private1045. Einschlägig sind allerdings nur Gründe nichtwirtschaftlicher Art (Rn 317). Da gerechtfertigte Eingriffe die jeweilige Grundfreiheit einschränken, sind sie als Ausnahmen im Lichte des effet utile eng auszulegen.1046 Die Beweislast trägt die nationale Behörde1047 (bzw ggf jeder andere Verpflichtete, der sich auf den Rechtsfertigungsgrund beruft). Die Tragweite der Rechtfertigungsgründe darf nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig ohne Nachprüfung bestimmt werden.1048 Es handelt sich um unionsrechtliche Begriffe, die grundsätzlich autonom auszulegen sind. Da sie aber auf Konzepte aus dem nationalen

_____ 1038 EuGH, Rs C-168/91 – Konstantinidis, Rn 15; Rs C-272/94 – Guiot, Rn 10; Rs C-205/99 – Analir, Rn 21; Rs C-439/99 – Kommission / Italien, Rn 22; Rs C-202/11 – Las, Rn 20; verb Rs C-197/11 ua – Libert, Rn 49. 1039 EuGH, Rs C-415/93 – Bosman, Rn 94. 1040 EuGH, Rs C-384/93 – Alpine Investments, Rn 33 ff; Rs C-190/98 – Graf, Rn 23 ff; Rs C-442/02 – CaixaBank France, Rn 12; Rs C-110/05 – Kommission / Italien, Rn 34 ff; Rs C-142/05 – Mickelsson, Rn 24; C-108/09 – Ker-Optika, Rn 48 ff; Rs C-456/10 – ANETT, Rn 33 ff; vgl dazu Glöckner EuR 2000, 592 (617 ff); Brigola EuZW 2012, 248; Pechstein/Nowak/Häde/Ulrich Art 34 AEUV Rn 157 ff; krit zur Konsistenz der Rspr Holst EuR 2017 633 (635 ff). 1041 Ausf Brigola EuZW 2009, 479; ders EuZW 2017, 5; Kainer/Herzog EuR 2018, 405. 1042 Dietz/Streinz EuR 2015, 50 (59). 1043 Cremer/Bothe EuZW 2015, 413 (416). 1044 Vgl EuGH, Rs C-434/02 – André GmbH, Rn 57–59; Rs C-210/03 – Swedish Match, Rn 47 ff. 1045 EuGH, Rs C-415/93 – Bosman, Rn 86. 1046 Vgl dazu etwa EuGH, Rs 41/74 – van Duyn, Rn 18; Rs 30/77 – Bouchereau, Rn 33/35. 1047 EuGH, Rs C-421/09 – Humanplasma, Rn 38 mwN; Rs C-73/08 – Bressol, Rn 71; Rs C-379/11 – Caves Krier Frères Sàrl, Rn 49. 1048 EuGH, Rs 41/74 – van Duyn, Rn 18/19; Rs 36/75 – Rutili, Rn 26/28. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

IV. Grundfreiheiten: allgemeine Lehren | 1045

Recht zurückgreifen (etwa bei der Beurteilung der „öffentlichen Ordnung“), wird den Mitgliedstaaten ein gewisser Beurteilungsspielraum eingeräumt.1049 Die Derogationsregeln können allerdings nicht ganze Bereiche vom grundfreiheitlichen Schutz ausklammern. Sie erlauben es nur, bestimmte mitgliedstaatliche Maßnahmen wegen der damit verfolgten schützenswerten Ziele oder der hierdurch geschützten Rechtsgüter nicht als eine Verletzung des freien Wirtschaftsverkehrs zu bewerten.1050 Auf diese Weise soll ein sachgerechter Ausgleich zwischen europäischer Marktfreiheit und nationaler Gestaltungskompetenz hergestellt werden.1051 Die Union erfüllt damit auch ihre Verpflichtung zur Wahrung der mitgliedstaatlichen Identität und der Staatsfunktionen (Art 4 II EUV). Letztlich muss sich das mitgliedstaatliche Vorbringen aber in einem vom Unionsrecht geprägten Rahmen bewegen.1052 Liegen Harmonisierungsmaßnahmen der Union vor, sperren die dort aufge- 309 zählten Ausnahmen die Befugnis der Mitgliedstaaten, die Grundfreiheiten in gerechtfertigter Weise nach Maßgabe des Vertrags oder der zwingenden Allgemeinwohlinteressen zu beschränken (Rn 311 ff). Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass es keines nationalen Schutzes bestimmter Rechtsgüter bedarf, wenn verbindliche Schutzregeln auf Unionsebene erlassen wurden.1053 Fehlen Harmonisierungsmaßnahmen oder bewegt sich die fragliche Maßnahme in einem von einer Harmonisierungsmaßnahme nicht geregelten Bereich (Teilharmonisierung),1054 so sind die geschriebenen und die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe unter Beachtung des Unionsrechts im Allgemeinen 1055 und der Ziele der etwaigen getroffenen Harmonisierungsmaßnahmen anwendbar.1056 Maßnahmen, die sich hierauf stützen, um Grundfreiheiten zu beschränken, müssen zudem stets verhältnismäßig sein.1057

aa) Geschriebene Rechtfertigungsgründe Bereits aus den Verträgen selbst lassen sich verschiedene Rechtfertigungsgründe 310 entnehmen (Art 36, 45 III, 52 I, 62 iVm 52 I, 65 I AEUV). Bei den geschriebenen Rechtfertigungsgründen handelt es sich jeweils um abschließende Aufzählungen,

_____ 1049 EuGH, Rs 41/74 – van Duyn, Rn 18/19; Rs 30/77 – Bouchereau, Rn 33/35; vgl Ehlers/Epiney § 8 Rn 61 („Bandbreitenkonzept“). 1050 EuGH, Rs 153/78 – Kommission / Deutschland, Rn 5. 1051 Vgl Oppermann/Classen/Nettesheim § 22 Rn 12. 1052 Kritisch dazu aber Ehlers/Epiney § 8 Rn 99. 1053 Ehlers/Epiney § 8 Rn 62; vgl auch Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 842. 1054 Vgl EuGH, Rs C-39/90 – Denkavit, Rn 18 f; Rs C-320/93 – Ortscheit, Rn 14 f. Vgl auch Gormley Rn 11.72 mwN. 1055 Schwarze/Becker Art 34 AEUV Rn 95. 1056 So etwa EuGH, Rs C-315/05 – Lidl Italia, Rn 48; Rs C-3/99 – Cidrerie Ruwet, Rn 47. 1057 Vgl allgemein Trstenjak/Beysen EuR 2012, 265 (274 ff). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1046 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

die eng auszulegen sind.1058 Danach können insb Beschränkungen aufgrund der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (ordre public) sowie der öffentlichen Gesundheit rechtmäßig sein.1059 Dies steht im Einklang mit Art 4 II S 2 EUV, wonach die Union die grundlegenden Funktionen des Staates achtet, insb die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Bei den geschriebenen Rechtfertigungsgründen steht zudem die Wahrung nationaler Regulierungskompetenzen aus Gemeinwohlgründen im Vordergrund, während ihnen durch die ungeschriebenen Rechtfertigungen primär gestattet werden soll, zwingende Gemeinwohlerfordernisse der Union vorübergehend zu regeln, bis die entspr Maßnahmen einheitlich auf Unionsebene getroffen werden.1060 Eine Konvergenz der Rechtfertigungsgründe der einzelnen Freiheiten kann darin gesehen werden, dass Art 114 IV AEUV auf die „wichtigen Erfordernisse“ iSv Art 36 AEUV als Legitimation dafür verweist, im Rahmen von Harmonisierungsmaßnahmen nationale Bestimmungen beizubehalten. Dies gilt unabhängig davon, ob der Warenverkehr von der entspr Rechtsangleichung umfasst ist oder nicht.

bb) Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe 311 Neben den ausdrücklich genannten Einschränkungsmöglichkeiten der Grundfrei-

heiten erkennt der EuGH spätestens seit der Entscheidung Cassis de Dijon1061 auch ungeschriebene Rechtfertigungsgründe1062 in Form sog zwingender Erfordernisse des Allgemeininteresses (exigences impératives) an. Diese ergänzen die Liste der geschriebenen Rechtfertigungsgründe, ohne sich jedoch mit den dort aufgezählten Gründen zu überschneiden.1063 Voraussetzung für eine Rechtfertigung durch zwingende Gründe des Allgemeinwohls ist, dass die betreffende Maßnahme in nichtdiskriminierender Weise angewandt wird.1064 Der EuGH wendet in seiner Rspr aber mittlerweile die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe zumindest auch auf mit-

_____ 1058 Vgl etwa EuGH, Rs 95/81 – Kommission / Italien, Rn 27; Rs C-205/89 – Kommission / Griechenland, Rn 9. 1059 Zum Gedanken der einheitlichen Auslegung der Rechtfertigungsgründe für die einzelnen Grundfreiheiten EuGH, Rs C-158/96 – Kohll, Rn 51. 1060 Ruffert JuS 2009, 97 (102). 1061 EuGH, Rs 120/78 – Cassis de Dijon, Rn 8; vgl auch Rs C-237/94 – O’Flynn, Rn 19; Rs C-368/95 – Familiapress, Rn 8; Rs C-158/96 – Kohll, Rn 41. 1062 Anders etwa Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ress/Ukrow Art 63 Rn 225: „negative Tatbestandsmerkmale“. 1063 Vgl EuGH, verb Rs C-1/90 ua – Aragonesa, Rn 13. In Rs C-264/96 – ICI, Rn 28, bezeichnet der EuGH allerdings auch die geschriebenen Rechtfertigungsgründe als zwingende Gründe des Allgemeininteresses. 1064 Vgl etwa EuGH, Rs 352/85 – Bond van Adverteerders, Rn 32 f; Rs C-288/89 – Gouda, Rn 11; verb Rs C-1/90 ua – Aragonesa, Rn 13; Rs C-224/97 – Ciola, Rn 16; C-311/97 – Royal Bank of Scottland, Rn 32. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

IV. Grundfreiheiten: allgemeine Lehren | 1047

telbar diskriminierende Maßnahmen an,1065 was jedoch eine intensivere Verhältnismäßigkeitsprüfung nach sich ziehen sollte.1066 Offene Diskriminierungen sind dadurch aber weiterhin nicht zu rechtfertigen.1067 Es muss sich zudem um ein auf Unionsebene anerkanntes Interesse handeln. 312 Im Rahmen der den Mitgliedstaaten verbleibenden Gestaltungsspielräume können aber auch nationale öffentliche Interessen zur Anwendung gelangen, solange diese mit Unionsrecht vereinbar sind.1068 Der Begriff des Allgemeininteresses ist so Gegenstand einer unionsrechtlichen Überprüfung, auch wenn er erst durch die nationalen Behörden im Einzelfall konkretisiert wird. Der Rechtfertigungstatbestand der zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls erlaubt eine gewisse Flexibilität bei der Beurteilung einer konkreten Situation. Dies führt andererseits aber zu der Schwierigkeit, allgemeingültige Kategorien herauszuarbeiten, denen dieser Rechtfertigungstatbestand unterworfen werden kann. Es sind daher zuvörderst Einzelfallbetrachtungen, die zur Anerkennung ungeschriebener Rechtfertigungsgründe führen.1069 Nichtsdestotrotz lassen sich einige immer wieder auftretende Fallgruppen erkennen. Der Verbraucherschutz gehört unzweifelhaft zu den Unionsinteressen: Ein 313 hohes Verbraucherschutzniveau legen Art 169 AEUV sowie die Querschnittsklausel des Art 12 AEUV zugrunde. Dies gilt etwa mit Blick auf Glücksspiel,1070 irreführende Werbung1071 oder irreführende Produktaufmachungen.1072 Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung legt der EuGH das Bild eines „verständigen Verbrauchers“ zugrunde,1073 so dass auch weniger restriktive Maßnahmen dem Zweck des Verbraucherschutzes ausreichend Rechnung tragen können. Im Lichte des Prinzips der ge-

_____ 1065 Vgl etwa EuGH, Rs C-379/98 – PreussenElektra, Rn 72 ff; Rs C-388/01 – Kommission / Italien, Rn 21 ff; Rs C-386/04 – Centro di Musicologia Walter Stauffer, Rn 42 ff; Rs C-10/10 – Kommission / Österreich, Rn 29; dazu Kingreen S 49 ff; Weiß EuZW 1999, 493; vgl auch Boger S 197 ff; Nowak/Schnitzler EuZW 2000, 627; Dauses/Ludwigs/Brigola C.I Rn 301 ff; Trstenjak/Beysen EuR 2012, 265 (276 f); abl Ehlers/Epiney § 8 Rn 71; Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 858. 1066 So auch Heselhaus EuZW 2001, 645 (647 f); Dauses/Ludwigs/Brigola C.I Rn 309; Grabitz/ Hilf/Nettesheim/Leible/Streinz Art 34 AEUV Rn 99. Vgl nun EuGH, Rs C-375/14 – Laezza, Rn 25, 36 ff. 1067 EuGH, Rs 352/85 – Bond van Adverteerders, Rn 32 f; Rs C-288/89 – Gouda, Rn 11; Rs C311/97 – Royal Bank of Scottland, Rn 32; Rs C-451/03 – Servizi Ausiliari Dottori Commercialisti, Rn 36 f; Rs C-89/09 – Kommission / Frankreich, Rn 50 f; Rs C-64/08 – Engelmann, Rn 34; verb Rs C570/07 ua – Blanco Peréz, Rn 61 f. Kingreen S 48 f; Ehlers/Ehlers § 7 Rn 119; Grabitz/Hilf/Nettesheim/ Forsthoff Art 45 AEUV Rn 325 f, 327 f; Möschel EuZW 2013, 252 (252). 1068 Epiney FS Müller-Graff, 2015, S 467 (469 f). 1069 Vgl Ehlers/vWilmowsky § 12 Rn 13; zahlreiche Bsp aus der Rspr Grabitz/Hilf/Nettesheim/ Forsthoff Art 45 AEUV Rn 380. 1070 EuGH, Rs C-470/11 – Garkalns, Rn 38; Rs C-322/16 – Global Starnet, Rn 39 ff. 1071 EuGH, Rs C-210/96 – Gut Springenheide und Tusky, Rn 27 ff. 1072 EuGH, Rs C-470/93 – Mars, Rn 17 ff. 1073 EuGH, Rs C-470/93 – Mars, Rn 24; Rs C-210/96 – Gut Springenheide und Tusky, Rn 31; Rs C220/98 – Estée Lauder, Rn 27. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1048 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

genseitigen Anerkennung (Rn 305) werden an Gründe des Verbraucherschutzes regelmäßig höhere Anforderungen gestellt, wenn etwa ein Produkt nach den Vorschriften eines Mitgliedstaates ordnungsgemäß in den Verkehr gebracht wurde.1074 Im Ergebnis anerkennt der EuGH auch, dass sich Verbrauchervorstellungen, gerade in einem Binnenmarkt, fortentwickeln können, so dass das Recht eines Mitgliedstaats „nicht dazu dienen [darf], die gegebenen Verbrauchsgewohnheiten zu zementieren, um einer mit deren Befriedigung befaßten inländischen Industrie einen erworbenen Vorteil zu bewahren“.1075 Auch Erwägungen des Umweltschutzes sind oftmals als Gründe angesehen 314 worden, um Beeinträchtigungen des freien Wirtschaftsverkehrs zu rechtfertigen. Der Umweltschutz kann als Allgemeininteresse auch aus anderen Vorschriften des Vertrages hergeleitet werden, etwa aus der Querschnittsklausel des Art 11 AEUV oder aus Art 114 IV AEUV, der einen Mitgliedstaat berechtigt, ein höheres Schutzniveau beizubehalten (Rn 209 ff).1076 Ähnlich taucht auch der Gesundheitsschutz als zwingender Grund des Allgemeininteresses auf, der nach Art 168 AEUV und Art 35 GRCh seinen Niederschlag als Unionsinteresse gefunden hat. Die öffentliche Gesundheit findet sich aber auch unter den geschriebenen Rechtfertigungsgründen. Daneben können die Wirtschaftsfreiheiten auch unter Berufung auf die Grund315 rechte eingeschränkt werden,1077 entweder als Verstärkung1078 der anderen oder als eigenständige Rechtfertigungsgründe.1079 Diese liegen zwar regelmäßig in verschriftlichter Form vor, sind aber nicht ausdrücklich als Rechtfertigungsgründe für Beschränkungen der Grundfreiheiten genannt. Es muss sich dabei aber um Unionsgrundrechte handeln, jedenfalls aber solche der EMRK, deren Grundrechte „zu den von der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten“ gehören1080 und die als „allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“ sind (Art 6 III EUV).1081 In diesem Sinne können etwa die Ausübung der Meinungs-1082 oder der Versammlungsfreiheit,1083 das Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme einschließlich des

_____ 1074 Vgl etwa EuGH, Rs 178/84 – Kommission / Deutschland, Rn 34 ff; Rs C-269/89 – Bonfait, Rn 15 ff. 1075 EuGH, Rs 178/84 – Kommission / Deutschland, Rn 32. 1076 Streinz Rn 919; Wasmeier CMLRev 2001, 159. 1077 Vgl dazu auch Ehlers/Ehlers § 7 Rn 115; Trstenjak/Beysen EuR 2012, 265 (280 ff); Gormley Rn 11.104. 1078 So etwa im Fall EuGH, Rs C-36/02 – Omega, Rn 31 ff; vgl auch Rs C-368/95 – Familiapress, Rn 18. 1079 Vgl auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 335 ff. 1080 EuGH, Rs 4/73 – Nold, Rn 13; Rs C-288/89 – Gouda, Rn 23; Rs C-23/93 – TV10, Rn 24; Rs C112/00 – Schmidberger, Rn 77 ff. So auch Ehlers/Ehlers § 7 Rn 115; Kadelbach/Petersen EuGRZ 2002, 213, (215 f); aA Ehlers/Epiney § 8 Rn 83. 1081 Kugelmann § 4 (in diesem Band) Rn 9 ff; aA wohl Schorkopf ZaöRV 2004, 125 (136 ff). 1082 EuGH, Rs 4/73 – Nold, Rn 13; Rs C-288/89 – Gouda, Rn 23; Rs C-23/93 – TV10, Rn 25 f. 1083 EuGH, Rs C-112/00 – Schmidberger, Rn 74 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

IV. Grundfreiheiten: allgemeine Lehren | 1049

Streikrechts1084 oder der Schutz der Menschenwürde1085 Einschränkungen des freien Wirtschaftsverkehrs rechtfertigen. Der EuGH gesteht den Mitgliedstaaten in dieser Situation einen weiten Beurteilungsspielraum zu.1086 Treffen Grundrechte und Grundfreiheiten aufeinander, ist im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung1087 ein gerechter Ausgleich zwischen beiden Positionen im Sinne praktischer Konkordanz herzustellen,1088 da Grundfreiheiten und Grundrechte rechtstechnisch auf der gleichen Stufe stehen und die Berufung auf die Unionsgrundrechte gerade keinen Unterfall der zwingenden Gründe des Allgemeinwohls darstellt.1089 Der Staat kann sich jedoch nicht auf die eigene Grundrechtsausübung bzw die seiner Beamten berufen.1090

cc) Verhältnismäßigkeit Kann eine Maßnahme auf einen Rechtfertigungsgrund gestützt werden, so ist im 316 letzten Schritt danach zu fragen, ob sie sich auch in dem vom Unionsrecht gezogenen Rahmen bewegt. Der EuGH überprüft diese Maßnahmen daraufhin, ob sie sich noch in den Grenzen des Vertrages bewegen und insb den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit achten. Dies ist der Fall, wenn sie einen legitimen Zweck verfolgen und verhältnismäßig, also geeignet, erforderlich und angemessen sind.1091 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stellt dabei einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts dar. 1092 Aufgrund der Unterschiedlichkeit der mitgliedstaatlichen Traditionen anerkennt der EuGH im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei „Erwägungen insb moralischer oder kultureller Art […] ein bestimmtes Ermessen“ der Mitgliedstaaten „in Bezug auf das Niveau und die Modalitäten“ des Schutzes bestimmter Bereiche.1093

_____ 1084 EuGH, Rs C-438/05 – Viking, Rn 43 ff; Rs C-341/05 – Laval, Rn 90 ff. 1085 EuGH, Rs C-36/02 – Omega, Rn 35. 1086 EuGH, Rs 41/74 – van Duyn, Rn 18; Rs 30/77 – Bouchereau, Rn 34; Rs C-36/02 – Omega, Rn 31 ff. 1087 Vgl etwa EuGH, Rs C-112/00 – Schmidberger, Rn 77; Rs C-36/02 – Omega, Rn 36; Rs C438/05 – Viking, Rn 45. 1088 Vgl dazu EuGH, Rs C-112/00 – Schmidberger, Rn 79 ff mwN; Preedy S 177 ff; Merten/Papier/Streinz HGR VI/1 § 151 Rn 28 ff. 1089 So die Position des GA Jacobs in Rs C-112/00 – Schmidberger, Nr 95. 1090 EuGH, Rs C-470/03 – A.G.M.-COS.MET, Rn 72. 1091 EuGH, Rs 265/87 – Schräder, Rn 21; Rs C-55/94 – Gebhard, Rn 37; Rs C-237/94 – O’Flynn, Rn 19 mwN; Rs C-189/95 – Franzén, Rn 75; Rs C-100/01 – Oteiza Olazabal, Rn 43; Rs C-185/04 – Öberg, Rn 19 – stRspr. Indes legt der EuGH den Fokus oft auf die Prüfung der Erforderlichkeit, in der er bisweilen die Angemessenheitsprüfung aufgehen lässt. Vgl auch Streinz Rn 836 f; Trstenjak/ Beysen EuR 2012, 265 (276). 1092 Vgl Ehlers/Ehlers § 7 Rn 129; ausf Schwab und Koch. 1093 EuGH, Rs C-244/06 – Dynamic Medien, Rn 44; vgl auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 393 f. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1050 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

Zunächst muss ein legitimer Zweck verfolgt werden, was bei Vorliegen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes regelmäßig der Fall ist. Legitime Zwecke sind dabei einerseits die Ziele und Grundsätze der Union, die sich aus den Verträgen ergeben. Andererseits gehören dazu aber auch rein nationale Ziele in den Bereichen, in denen die Union nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gerade keine Kompetenz besitzt und daher keine positiv-rechtliche Verankerung vorliegt.1094 Bei der Beurteilung des legitimen Zwecks ist nicht nur die Intention des Gesetzgebers, sondern auch und insb die objektive Stoßrichtung der Regelung in Betracht zu ziehen.1095 Die vorgebrachte Rechtfertigung darf keine rein wirtschaftliche Zielsetzung um ihrer selbst willen verfolgen. 1096 Eine solche Zielsetzung liegt regelmäßig bei Maßnahmen der Wirtschaftslenkung zugrunde, aber auch bei der Abwendung wirtschaftlicher Nachteile.1097 Allerdings können ökonomische Erwägungen direkt mit gewissen staatlichen Aufgaben und nationalen Kompetenzsphären zusammentreffen. Dazu gehört etwa die Sicherstellung der Nahversorgung abgelegener Gebiete,1098 die Versorgungssicherheit hinsichtlich bestimmter Energieträger 1099 oder die finanzielle Nachhaltigkeit sozialer Sicherungssysteme.1100 In diesen Fällen kann eine letztlich legitime Zwecksetzung bejaht werden, die Förderung wirtschaftlicher Ziele ist eine dem verfolgten Zweck untergeordnete Nebenfolge.1101 Kein legitimer Zweck liegt regelmäßig vor, wenn eine Maßnahme gegen Unionsgrundrechte oder sonstiges Primärrecht verstößt. Zudem können die Grundrechte als Schranken-Schranken fungieren (Rn 321). Erfüllt eine Maßnahme einen legitimen Zweck, muss sie darüber hinaus auch 318 verhältnismäßig sein. Dazu gehört zunächst, dass sie geeignet ist, das angestrebte Ziel überhaupt zu erreichen. Geeignetheit bedeutet in diesem Zusammenhang, dass das eingesetzte Mittel den angestrebten Zweck grundsätzlich zu erreichen vermag oder zumindest einen Beitrag leisten kann.1102 Nicht geeignet sind Maßnahmen dann, wenn sie in Widerspruch zu anderen, mit ihr in Zusammenhang stehen317

_____ 1094 Kingreen S 159 ff. 1095 Cremer NVwZ 2004, 668 (673). 1096 EuGH, Rs C-288/89 – Gouda, Rn 11; Rs C-324/93 – Evans, Rn 36; Rs C-120/95 – Decker, Rn 39; Rs C-456/10 – ANETT, Rn 53; Rs C-220/12 – Thiele Meneses, Rn 43 – stRspr; vgl auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 381 ff; Oliver ELRev 2016 147 (149 ff). 1097 Vgl Ehlers/Epiney § 8 Rn 73 f. 1098 EuGH, Rs C-254/98 – TK-Heimdienst, Rn 34. 1099 EuGH, Rs 72/83 – Campus Oil, Rn 34 f. 1100 EuGH, Rs C-158/96 – Kohll, Rn 41; vgl aber auch Rs 238/82 – Duphar, Rn 23. 1101 Vgl dazu EuGH, Rs 72/83 – Campus Oil, Rn 36. 1102 Ehlers/Epiney § 8 Rn 101; vgl auch Ehlers/Ehlers § 7 Rn 130; vgl EuGH, Rs C-148/15 – Deutsche Parkinson Vereinigung, Rn 37 ff (Geeignetheit verneint). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

IV. Grundfreiheiten: allgemeine Lehren | 1051

den Maßnahmen treten (Kohärenz).1103 Dies ist etwa der Fall, wenn ein Mitgliedstaat die Einfuhr bestimmter Waren verbietet, aber gleichzeitig „gegenüber den gleichen Waren, die in seinem Hoheitsgebiet hergestellt oder vermarktet werden, keine […] ernsthaften und wirksamen Maßnahmen zur Verhinderung ihres Vertriebs in seinem Hoheitsgebiet ergreift“.1104 In der Beurteilung der Geeignetheit prüft der EuGH meist nur, ob die ergriffenen Maßnahmen nicht evident ungeeignet sind: Die Wahl geeigneter Maßnahmen sei Sache der Mitgliedstaaten, die dabei über ein weites Ermessen verfügen.1105 Den Schwerpunkt der Prüfung legt der EuGH auf die Erforderlichkeit. Eine 319 Maßnahme ist erforderlich, wenn ein Zweck nicht durch eine weniger belastende, aber gleichermaßen effektive Maßnahme erreicht werden kann.1106 Da den Mitgliedstaaten hier ein gewisser Beurteilungsspielraum zugestanden wird, verlegt sich der EuGH regelmäßig auf die Prüfung, ob Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die nationale Maßnahme über das hinausgehe, was zur Erreichung des Zwecks erforderlich sei.1107 Keine Rolle spielt es dabei, ob ein anderer Mitgliedstaat weniger eingriffsintensive Regelungen erlassen hat.1108 Die Vorschriften anderer Mitgliedstaaten sind aber insoweit in Betracht zu ziehen, als sie ggf erneute Kontrollen im Empfangsstaat nicht mehr erforderlich machen, weil solche bereits im Entsendestaat vorgesehen sind (Doppelkontrollen).1109 Auch die Versagung der Anerkennung gleichwertiger Diplome aus einem anderen Mitgliedstaat kann als nicht erforderlich gelten.1110 Hier findet sich der strukturelle Anknüpfungspunkt für das Herkunftslandprinzip.1111 Ebenso nicht erforderlich ist eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten, wenn dem verfolgten Ziel bereits durch Sekundärrechtsakte ausreichend Rechnung getragen wurde.1112 Schließlich muss eine Maßnahme auch angemessen sein. Hier ist zu prüfen, ob 320 die Einschränkung des freien Wirtschaftsverkehrs und der verfolgte Zweck in einem

_____ 1103 Vgl etwa EuGH, Rs C-243/01 – Gambelli, Rn 67; Rs C-531/06 – Kommission / Italien, Rn 66 ff; Rs C-470/11 – Garkalns, Rn 37, 44 ff; Rs C-333/14 – Scotch Whiskey Association, Rn 36 f; Grabitz/ Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 401 ff. 1104 EuGH, Rs 121/85 – Conegate, Rn 15; vgl auch Rs C-67/88 – Kommission / Italien, Rn 6, 8. 1105 EuGH, Rs C-293/93 – Houtwipper, Rn 22. 1106 Vgl Ehlers/Ehlers § 7 Rn 130. 1107 EuGH, Rs C-473/98 – Toolex, Rn 40 ff (45); vgl auch Rs C-394/97 – Heinonen, Rn 44; Rs C108/01 – Prosciutto di Parma, Rn 79; Rs C-333/14 – Scotch Whiskey Association, Rn 41 ff. 1108 EuGH, Rs C-384/93 – Alpine Investments, Rn 51; Rs C-124/97 – Läärä, Rn 36; Rs C-67/98 – Zenatti, Rn 34; Rs C-36/02 – Omega, Rn 38. 1109 Vgl etwa EuGH, Rs C-76/90 – Säger, Rn 15 ff; ferner Ehlers/Ehlers § 7 Rn 132; Ehlers/Epiney § 8 Rn 102. 1110 EuGH, Rs C-340/89 – Vlassopoulou, Rn 15 ff; Rs C-55/94 – Gebhard, Rn 38 f. 1111 Vgl Kingreen S 170 f. 1112 Vgl dazu etwa EuGH, Rs C-267/09 – Kommission / Portugal, Rn 38 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1052 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

ausgewogenen Verhältnis stehen.1113 Der EuGH schenkt diesem Kriterium in seiner Prüfung aber weitaus weniger Aufmerksamkeit oder lässt es in die Erforderlichkeit einfließen.1114 Oft beschränkt er sich auf eine (negative) Offenkundigkeitsprüfung1115 oder überlässt im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren die Beurteilung der Angemessenheit dem nationalen Gericht.1116 Im Rahmen der Angemessenheit können Grundrechte als Schranken-Schranke 321 wirken; die Schranken sind im Lichte der Grundrechte auszulegen. Eine unionsrechtlich relevante Maßnahme, die den freien Wirtschaftsverkehr beeinträchtigt und dabei nicht im Einklang mit den Grundrechten steht, ist regelmäßig nicht verhältnismäßig.1117 Die Grundrechte beanspruchen allerdings mit den Worten des EuGH „keine uneingeschränkte Geltung, sondern können Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese Beschränkungen tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet“.1118 Dabei bezieht sich der EuGH auf die nach Art 6 III EUV geschützten Grundrechte,1119 „deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat“.1120 Mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon zum 1.12.2009, im Zuge des322 sen die EU-Grundrechtecharta Rechtsverbindlichkeit erlangt hat (Art 6 I EUV), stellt sich die Frage, ob die Charta auf Beschränkungen des freien Wirtschaftsverkehrs durch die Mitgliedstaaten Anwendung findet. Gemäß Art 51 I GRCh gilt die Charta unter anderem „für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“, dh nach den Erläuterungen zur Charta „nur dann, wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln“.1121 Da die Grundfreiheiten in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, sind die Mitgliedstaaten bei der

_____ 1113 So etwa EuGH, Rs C-368/95 – Familiapress, Rn 19 mwN; Rs C-463/00 – Kommission / Spanien, Rn 69 mwN; vgl auch Ehlers/Epiney § 8 Rn 103. 1114 Ehlers/Ehlers § 7 Rn 132 mwN. 1115 Vgl EuGH, verb Rs C-1/90 ua – Aragonesa, Rn 17. 1116 EuGH, verb Rs C-34/95 ua – De Agostini, Rn 54; Ehlers/Pache § 11 Rn 111; vDanwitz EWS 2003, 393 (395 ff). 1117 Vgl EuGH, Rs 5/88 – Wachauf, Rn 19; Rs C-260/89 – ERT, Rn 41 ff; Rs C-368/95 – Familiapress, Rn 24 ff; vgl auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 341 ff. Vgl demgegenüber EuGH, Rs C-159/90 – Grogan, Rn 31 f; Frenz Hdb 1 Rn 566, 603. 1118 EuGH, Rs 265/87 – Schräder, Rn 15; Rs C-62/90 – Kommission / Deutschland, Rn 23; vgl auch Rs C-260/89 – ERT, Rn 43; krit dazu Kingreen S 164. S nunmehr auch Rs C-201/15 – AGET Iraklis, Rn 65 ff (79 ff). 1119 Kugelmann § 4 (in diesem Band) Rn 9 ff; EuGH, Rs 4/73 – Nold; Rs C-260/89 – ERT, Rn 44; Rs C-368/95 – Familiapress, Rn 24 f; Rs C-60/00 – Carpenter, Rn 40; Rs C-71/02 – Karner, Rn 48 ff. 1120 EuGH, Rs C-260/89 – ERT, Rn 42; Rs C-71/02 – Karner, Rn 49. 1121 Vgl EuGH, Rs C-617/10 – Åkerberg Fransson, Rn 21 f; vgl in diesem Sinne auch Rs C-40/11 – Iida, Rn 78 ff; Rs C-390/12 – Pfleger, Rn 34. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

V. Warenverkehrsfreiheit | 1053

Beschränkung der Grundfreiheiten auch an die Grundrechte der GRCh gebunden.1122 Dies kann gleichwohl zu Spannungen mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung führen, wenn mitgliedstaatliche Maßnahmen bei der Beschränkung der Grundfreiheiten auch an den Grundrechten der Charta gemessen werden können, selbst wenn Art 51 II GRCh bestimmt, dass die Charta die Zuständigkeiten der Union nicht erweitert. V. Warenverkehrsfreiheit V. Warenverkehrsfreiheit Der freie Austausch von Waren – begleitet durch eine Zollunion – steht in der Regel 323 am Anfang wirtschaftlicher Integrationsbemühungen (Rn 4 ff). Im AEUV stehen die Vorschriften zum freien Warenverkehr daher an der Spitze der grundfreiheitlichen Gewährleistungen. Die Liberalisierung des freien Warenverkehrs steht dabei unter verschiedenen ökonomischen Vorzeichen und Positionen, die, wenn auch nicht ausgesprochen, so doch das Verhalten der Akteure indirekt leiten. Unternehmen sind daran interessiert, ihre Vorprodukte möglichst günstig ein- und ihre Fertigwaren möglichst ertragreich zu verkaufen. Dabei spielen Landesgrenzen nur insofern eine Rolle, als sie Transaktionskosten verursachen. Konsumenten wollen möglichst günstig einkaufen, haben aber auch ein Interesse an Qualität und Vielfalt. Auch hier spielt die nationale Herkunft eher eine untergeordnete Rolle. Politiker und Interessengruppe auf der anderen Seite haben regelmäßig die Interessen ihrer Wähler oder Mitglieder im Blick, etwa wenn es um die Sicherung heimischer Arbeitsplätze geht.1123 Der Anteil des Inner-EU-Handels am gesamten Exportvolumen beträgt etwa 324 65%, wobei sich für einzelne Länder signifikante Unterschiede ergeben.1124 Trotz dieser Handelsverflechtungen im Binnenmarkt zeigt sich aber, dass die Gütermärkte überwiegend national bestimmt sind (sog „home bias“). Auch wenn die Staatsgrenzen ihre Funktion als Handelsgrenzen verloren haben, bleiben sie faktisch dennoch ein Hemmnis für den Güterhandel („Grenzeffekt“).1125 Gründe dafür sind unterschiedliche Sprachen, bürokratische Hürden oder verschiedene Währungen. Integration durch rechtliche Regelungen kann dort nur bedingt Abhilfe schaffen.

_____ 1122 EuGH, Rs C-260/89 – ERT, Rn 43; Rs C-390/12 – Pfleger, Rn 34; Rs C-201/15 – AGET Iraklis, Rn 63 f. So auch Jarass NVwZ 2012, 457 (460); aA Schorkopf ZaöRV 2004, 125 (138); Calliess/Ruffert/ Kingreen Art 51 GrCh Rn 9. 1123 Vgl zum Ganzen Brasche S 96 f. 1124 Eurostat, Stand März 2018 (online). 1125 Brasche S 100 f mwN; Krugman/Obstfeld/Melitz S 45 f. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1054 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

1. Anwendungsbereich 325 Der freie Warenverkehr im Binnenmarkt ist gekennzeichnet durch eine Zollunion

zwischen den Mitgliedstaaten. Darüber hinaus ist aber insgesamt der freie Verkehr von Waren zwischen den Mitgliedstaaten geschützt. Als Produktfreiheit richtet das Unionsrecht seinen Blick auf die Waren, nicht deren Eigentümer oder Besitzer. Der persönliche Anwendungsbereich umfasst daher grundsätzlich alle, die mit Unionswaren grenzüberschreitend handeln (Rn 286).1126 Zudem ist die Warenverkehrsfreiheit durch eine Reihe von Sekundärrechtsakten ausgeformt worden.1127

a) Die Zollunion 326 Die Zollunion bildet historisch die Grundlage und ein Kernelement des Binnenmarkts

und des freien Warenverkehrs. Sie stand bei ihrer Einrichtung unter wirtschaftsvölkerrechtlichen Vorgaben (GATT 1947) und ist nun beim derzeitigen Stand der Integration im Binnenmarkt aufgegangen (Rn 36 ff).1128 Aus ökonomischer Sicht führt die Zollunion zu allgemeinen Wohlfahrtseffekten im Wirtschaftsgebiet (Rn 36 ff, 255 ff). Auch aus rechtlicher Sicht ist die Bezeichnung der Zollunion als „Grundlage 327 der Gemeinschaft“1129 oder „Nukleus“1130 zutreffend, da sich gerade am freien Warenverkehr die juristische Aufarbeitung und Fortentwicklung der Grundfreiheiten vollzog. Nach Art 3 I lit a AEUV hat die Union die ausschließliche Zuständigkeit im Bereich der Zollunion. Nach Art 28 AEUV umfasst die Zollunion das Verbot, zwischen den Mitgliedstaaten Ein- und Ausfuhrzölle und Abgaben gleicher Wirkung zu erheben, und somit die Abschaffung der Binnenzollgrenzen (internes Element). Komplettiert wird es durch das Verbot der nicht-tarifären Handelshemmnisse zwischen den Mitgliedstaaten nach Art 34 ff AEUV (Rn 340 ff). Spiegelbild des innergemeinschaftlichen Freihandels ist nach außen die Gemeinsame Handelspolitik (Art 206 f AEUV)1131 mit einem Gemeinsamen Zolltarif gegenüber dritten Ländern (Art 31 AEUV, externes Element),1132 was die Zollunion von einer bloßen Freihandelszone unterscheidet (Rn 40). Darüber hinaus ist das gesamte auswärtige Handeln der Union an den Grundsatz gebunden, die Integration aller Länder in die Weltwirt-

_____ 1126 So auch Ehlers/Epiney § 8 Rn 16; Frenz Hdb 1 Rn 230 f. 1127 Nachweise bei Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Pache Rn 87 ff. 1128 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Herrmann Art 28 AEUV Rn 9; Wagener/Eger S 42. Zur grundlegenden Bedeutung der Zollunion für weitere binnenmarktrelevante Politikfelder vgl auch Dauses/ Ludwigs/Lux C.II Rn 6–8; Zippel/Clapham S 33. 1129 Vgl den vorher geltenden Art 23 EGV: „Grundlage der Gemeinschaft ist eine Zollunion, die sich auf den gesamten Warenaustausch erstreckt […].“ Dauses/Ludwigs/Lux C.II Rn 7 ff. 1130 Schwarze/Terhechte Art 28 AEUV Rn 2; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Herrmann Art 28 AEUV Rn 9. 1131 Cremer § 22 (in diesem Band) Rn 181 ff; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Herrmann Art 28 AEUV Rn 5. 1132 VO 2658/87, ABl 1987 L 256/1, idF der VO 254/2000, ABl 2000 L 28/16; dazu Streinz Rn 897 ff; Gormley Rn 2.01 ff; Müller-Graff EnzEuR 4/Kellerhals § 6 Rn 9 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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schaft zu fördern, unter anderem auch durch den schrittweisen Abbau internationaler Handelshemmnisse (Art 21 II lit e EUV). Die Zolleinnahmen fallen gemäß Eigenmittelbeschluss des Rates nach Art 311 III AEUV der Union zu.1133 Das materielle Zollrecht ist durch einen Zollkodex harmonisiert.1134 Die Zollunion als Teil des Binnenmarkts ist eingebettet in ein internationales 328 System. Seit 1994 kooperiert die EU mit den EFTA-Staaten (außer der Schweiz) im Bereich des Binnenmarkts im EWR (Rn 42). Seit 1995 ist die EU neben den 28 EUMitgliedstaaten selbst Mitglied in der WTO.1135 Darüber hinaus ist die EU seit 2007 in der Weltzollorganisation vertreten und hat dort die gleichen Rechte und Verpflichtungen wie die Vollmitglieder.1136 Die Regeln der Zollunion müssen im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts,1137 nach Möglichkeit aber auch mit den relevanten internationalen Verträgen1138 ausgelegt werden.

b) Grundfreiheitlicher Warenbegriff Da Zölle auf Waren wegen ihres Grenzübertritts erhoben werden, ist zunächst der 329 Begriff der „Ware“ zu klären. Der EuGH definiert sie weit als „Erzeugnisse […], die einen Geldwert haben und deshalb Gegenstand von Handelsgeschäften sein können“.1139 Somit zählen etwa auch Elektrizität und Gas zum grundfreiheitlichen Warenverkehr,1140 ebenso Abfall.1141 Bilden die Waren allerdings nur einen notwendigen Bestandteil etwa einer Dienstleistung, so ist nach der Schwerpunktformel die entspr Grundfreiheit einschlägig (Rn 282).1142 Ist fraglich, ob überhaupt eine Ware vorliegt (etwa bei embryonalen Stammzellen), sollte der Warenbegriff eher weit verstanden und Abgrenzungsproblemen notfalls auf der Rechtfertigungsebene begegnet werden.1143 Besonders abgrenzungsrelevant ist nach Art 28 II AEUV die Unterscheidung zwi- 330 schen Waren aus dritten Ländern auf der einen Seite (Nichtunionswaren) und an-

_____ 1133 Storr § 9 (in diesem Band) Rn 29. 1134 VO 952/2013, ABl 2013 L 269/1. Ausf zum Zollrecht Dauses/Ludwigs/Lux C.II. 1135 Cremer § 22 (in diesem Band) Rn 202 ff. 1136 Dazu Grabitz/Hilf/Nettesheim/Herrmann Art 28 AEUV Rn 30. 1137 EuGH, Rs C-105/94 – Celestini. 1138 EuGH, Rs C-61/94 – Kommission / Deutschland. 1139 EuGH, Rs 7/68 – Kommission / Italien, Leitsatz 2. 1140 EuGH, Rs 6/64 – Costa / E.N.E.L.; Rs C-393/92 – Almelo, Rn 28; Rs C-159/94 – Kommission / Frankreich; Rs C-379/98 – PreussenElektra. 1141 EuGH Rs C-2/90 – Kommission / Belgien, Rn 23, 28; Rs C-221/06 – Stadtgemeinde Frohnleiten, Rn 37 f. 1142 Vgl etwa EuGH, Rs C-275/92 – Schindler, Rn 22 f einerseits und Rs C-20/03 – Burmanjer, Rn 33 andererseits. 1143 Ausf Ehlers/Epiney § 8 Rn 13. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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dererseits Waren, die aus den Mitgliedstaaten stammen (Unionswaren) oder – diesen gleichgestellt1144 – Drittlandswaren, die sich in den Mitgliedstaaten im freien Verkehr befinden (Freiverkehrswaren, Art 29 AEUV). Es kommt dabei nicht auf die geografische Herkunft (provenance), sondern die rechtliche Herkunft (origine) an.1145 Nicht alle Waren fallen jedoch auch unter die Bestimmungen zur Warenver331 kehrsfreiheit. Zwei wichtige Bereichsausnahmen sind zu nennen. Einerseits bleiben die Erzeugung von und der Handel mit Waffen, Munition und Kriegsmaterial nach Art 346 I lit b AEUV von der Warenverkehrsfreiheit ausgenommen, jedenfalls soweit entspr Maßnahmen für die Wahrung wesentlicher nationaler Sicherheitsinteressen erforderlich sind und die Wettbewerbsbedingungen auf dem Binnenmarkt ansonsten nicht beeinträchtigt werden. Zudem gelten nach Art 38–44 AEUV Sonderregelungen für die Landwirtschaft und die Fischerei, die den Vorschriften zum freien Warenverkehr zunächst vorgehen.1146

2. Beeinträchtigung a) Zölle und Abgaben gleicher Wirkung 332 Art 28 I und Art 30 AEUV verbieten Ein- und Ausfuhrzölle und Abgaben gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten, also monetäre Belastungen wegen des Grenzübertritts.1147 Das Verbot ist absolut, insb können die Gründe des Art 36 AEUV nicht zur Rechtfertigung geltend gemacht werden.1148 Daher ist eine Abgrenzung tarifärer und nicht-tarifärer Maßnahmen notwendig, insb im Bereich der Abgaben oder Maßnahmen „gleicher Wirkung“. Unrechtmäßig erhobene Abgaben sind nach Maßgabe des nationalen Rechts zurückzuerstatten.1149 Eine wichtige Ausnahme findet sich für landwirtschaftliche Produkte in Art 44 AEUV, wonach die Kommission Ausgleichsabgaben festsetzen darf. Zölle sind für die Ein- oder Ausfuhr von Waren zu entrichtende Abgaben (Wert333 oder Mengenzoll), unabhängig von dem Zweck, zu dem diese geschaffen wurden, von deren Höhe1150 sowie vom Verwendungszweck der durch sie bewirkten Einnahmen.1151 Zölle zwischen den Mitgliedstaaten wurden nach und nach abgebaut und spielen heute keine Rolle mehr.1152 Auch international ist die Bedeutung von Zöllen

_____ 1144 EuGH, Rs 119/78 – Peureux, Rn 32. 1145 Dazu Art 60 des Zollkodexes, VO 952/2013, ABl 2013 L 269/1. 1146 Martinez § 17 (in diesem Band) Rn 111 ff. 1147 EuGH, Rs C-90/94 – Haahr Petroleum, Rn 20; Rs C-213/96 – Outokumpu, Rn 20. 1148 EuGH, Rs 7/68 – Kommission / Italien; Rs 46/76 – Bauhuis, Rn 12/15; Dauses/Ludwigs/ Brigola C.I Rn 16 mwN. 1149 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Herrmann Art 30 AEUV Rn 24. 1150 Vgl EuGH, verb Rs 2/69 ua – Diamantarbeiders, Rn 7/10. 1151 EuGH, Rs 24/68 – Kommission / Italien, Rn 6/7. 1152 Vgl Gormley Rn 10.02. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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durch die verschiedenen GATT-Runden und damit verbundene, zunehmende internationale wirtschaftliche Integration kontinuierlich gesunken.1153 Eine Abgabe gleicher Wirkung ist dem EuGH zufolge „[e]ine – auch noch so 334 geringe – den in- oder ausländischen Waren wegen ihres Grenzübertritts einseitig auferlegte finanzielle Belastung […], wenn sie kein Zoll im eigentlichen Sinne ist, unabhängig von ihrer Bezeichnung und der Art ihrer Erhebung […], selbst wenn sie nicht zugunsten des Staates erhoben wird und keine diskriminierende oder protektionistische Wirkung hat und wenn die belastete Waren nicht mit inländischer Ware im Wettbewerb steht“.1154 Um eine verbotene Abgabe handelt es sich auch, wenn diese zwar erst anlässlich der Vermarktung, letztlich aber allein wegen des Grenzübertritts erhoben wird.1155 Keine Rolle spielt die Bezeichnung der Abgabe (zB „Gebühr“, „Abgabe“, 335 „Steuer“, „Aufschlag“)1156 Es genügt darüber hinaus jedwede – auch noch so geringe – Abgabe, da bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Abgabe lediglich auf ihre Rechtsnatur, nicht hingegen auf ihre Höhe abgestellt wird.1157 Umfasst vom Verbot sind Abgaben staatlicher Herkunft, egal auf welcher 336 Ebene (Gesamtstaat, Kommune etc). Gleiches gilt aber auch für Beliehene, also Private, die zur Erledigung öffentlicher Aufgaben autorisiert wurden und in diesem Rahmen solche Abgaben erheben. Häufig sind Abgaben in Zusammenhang mit Grenzkontrollen gefordert. Während die Kontrollen selbst etwa aus Gründen des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt sein können (Rn 351), wirkt sich diese Rechtfertigung aber nicht auf eine sonst verbotene Gebührenerhebung aus.1158 Keine verbotenen Abgaben sind hingegen solche, für die im Gegenzug eine echte Dienstleistung erbracht wird,1159 ein Entgelt für einen dem Wirtschaftsteilnehmer tatsächlich geleisteten Dienst, das in der Höhe diesem Dienst angemessen ist und dem Wirtschaftsteilnehmer einen besonderen oder individualisierten Vorteil verschafft,1160 der über die reinen Verwaltungskosten hinausgeht.1161

_____ 1153 Vgl bereits Zippel/Langhammer S 41. 1154 EuGH, Rs 24/68 – Kommission / Italien, Rn 8/9; verb Rs 2/69 ua – Diamantarbeiders, Rn 15/18; Rs C-389/00 – Kommission / Deutschland, Rn 22; vgl auch Gormley Rn 10.03; Dauses/ Ludwigs/Brigola C.I Rn 22 ff; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Herrmann Art 30 AEUV Rn 12. 1155 EuGH, Rs 78/76 – Steinike & Weinlig, Rn 29. 1156 EuGH, Rs 87/75 – Bresciani, Rn 9; Rs 229/87 – Kommission / Griechenland, Rn 17. 1157 EuGH, Rs 24/68 – Kommission / Italien, Rn 14. 1158 EuGH, Rs 251/78 – Denkavit, Rn 31. 1159 EuGH, Rs 24/68 – Kommission / Italien, Rn 11; Streinz Rn 895; Gormley Rn 10.04. 1160 Vgl EuGH, Rs C-130/93 – Lamaire, Rn 22. Vgl auch Gormley Rn 10.06 mit zahlreichen Beispielen. 1161 EuGH, Rs 340/87 – Kommission / Italien, Rn 17; EuGH, Rs 266/81 – SIOT, Rn 23. Unzulässig sind hingegen Gebühren für Dienstleistungen, die einen nur allgemeinen Vorteil mit sich bringen, zB Statistikgebühren (EuGH, Rs 24/68 – Kommission / Italien, Rn 16) oder Gebühren für die DurchHermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Anders ist demgegenüber der Fall bei Abgaben zu beurteilen, die auf unionaler Rechtsetzung oder internationalen Abkommen beruhen.1162 Bei Abgaben, die anlässlich von Kontrollen zur Erfüllung gemeinschaftsrechtlicher Verpflichtungen durch die Mitgliedstaaten erhoben werden, handelt es sich nicht um Abgaben gleicher Wirkung, wenn bestimmte Kriterien erfüllt werden:1163 die Gebühren übersteigen nicht die tatsächlichen Kosten der Kontrollen; die Kontrollen sind für alle betroffenen Erzeugnisse in der Union obligatorisch und einheitlich; die Gebühren sind vom Unionsrecht im allgemeinen Interesse der Union vorgesehen; sie begünstigen den freien Warenverkehr, insb indem sie die Wirkung der Hindernisse aufheben, die sich aus einseitigen Kontrollmaßnahmen ergeben können, die im Einklang mit Art 36 AEUV getroffen werden.1164

b) Diskriminierende und protektionistische Besteuerung ausländischer Waren 338 Das Gegenstück zu den Abgaben zollgleicher Wirkung findet sich in Kapitel 2 des

Titels VII (Art 110–113 AEUV). Art 110 AEUV legt in seinem Abs 1 zentral festlegt, dass die Mitgliedstaaten auf Waren aus anderen Mitgliedstaaten weder unmittelbar noch mittelbar höhere inländische Abgaben gleich welcher Art erheben als gleichartige inländische Waren unmittelbar oder mittelbar zu tragen haben (diskriminierende Besteuerung). Zudem dürfen nach Abs 2 die Mitgliedstaaten auf Waren aus anderen Mitgliedstaaten keine inländischen Abgaben erheben, die geeignet sind, andere Produktionen mittelbar zu schützen (protektionistische Besteuerung), also bei Substitutionsgütern (etwa Bier und Wein).1165 Diese Bestimmung soll somit die vollkommene Wettbewerbsneutralität der inländischen Besteuerung für inländische und eingeführte Erzeugnisse sicherstellen.1166 Die Vorschriften über Abgaben zollgleicher Wirkung und diejenigen über dis339 kriminierende inländische Abgaben schließen sich gegenseitig aus.1167 Inländische

_____ führung einer im allgemeinen Interesse vorgeschriebenen gesundheitspolizeilichen Kontrolle (EuGH, Rs 87/75 – Bresciani, Rn 10). 1162 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Herrmann Art 30 AEUV Rn 3 f. 1163 Dazu EuGH, Rs 18/87 – Kommission / Deutschland, Rn 8. 1164 EuGH, Rs 46/76 – Bauhuis, Rn 34 ff; Rs 18/87 – Kommission / Deutschland, Rn 14; Rs C389/00 – Kommission / Deutschland, Rn 38 ff. 1165 Wagener/Eger S 255; vgl auch die Übersicht bei Barnard S 55. 1166 EuGH, Rs 47/88 – Kommission / Dänemark, Rn 9; Rs C-383/01 – De Danske Bilimportører, Rn 37; vgl auch verb Rs C-393/04 ua – Air Liquide Industries Belgium, Rn 55 mwN. Vgl auch Wagener/Eger S 254. 1167 EuGH, Rs C-266/91 – Celbi, Rn 9; Rs C-90/94 – Haahr Petroleum, Rn 19; Rs C-234/99 – Nygård, Rn 17; Rs C-383/01 – De Danske Bilimportører, Rn 33; Rs C-387/01 – Weigel, Rn 63; verb Rs C-393/04 ua – Air Liquide Industries Belgium, Rn 50; Rs C-221/06 – Stadtgemeinde Frohnleiten, Rn 26; Gormley Rn 10.09; Dauses/Ludwigs/Brigola C.I Rn 68 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Abgaben unterscheiden sich von „Abgaben gleicher Wirkung“ (Rn 334) dadurch, dass sie nicht wegen eines Grenzübertritts erhoben werden, sondern Teil eines allgemeinen inländischen Abgabensystems sind, die Gruppen von Waren systematisch nach objektiven Kriterien erfassen und die unabhängig von der Herkunft der Waren gelten und somit keine diskriminierende oder schützende Wirkung zeitigen.1168 Für diese Qualifizierung spielt es keine Rolle, dass es aktuell keine gleichartige oder konkurrierende inländische Produktion in dem die Abgabe erhebenden Land gibt (außer bei prohibitiven Abgaben).1169 Eine unzulässige Abgabe kann in einem solchen Fall aber vorliegen, wenn nach Art 110 II AEUV die Abgaben erhoben werden, um andere inländische Produktionen mittelbar zu schützen, etwa weil ein anderes inländisch hergestelltes Gut durch die Einfuhren substituiert werden könnte.1170 Dies gilt bspw für im Inland produzierte und ausländische Obstsorten.1171 Ebenso kann durch die Verwendung einer vermeintlich allgemeinen Abgabe zugunsten der inländischen Erzeugnisse diese – je nach Einzelfall – als verbotene diskriminierende Abgabe (Art 110 AEUV) oder Abgabe gleicher Wirkung (Art 28 AEUV) qualifiziert werden.1172 Auch eine Überschneidung mit dem Beihilfeverbot (Art 107 AEUV) ist in solchen Fällen denkbar.1173 Die Tatsache allein, dass im Ausfuhrstaat bereits eine Abgabe erhoben, diese im Einfuhrstaat aber nicht wieder abgezogen wurde (und somit die Höhe der Belastungen zwischen eingeführten und inländischen Produkten nivelliert wird – Doppelbesteuerung), ist kein Grund für eine Unvereinbarkeit dieser Abgabe mit Art 110 AEUV.1174

c) Mengenmäßige Beschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung Der Vertrag verbietet nicht nur tarifäre, sondern auch nicht-tarifäre Handels- 340 hemmnisse. Letztere sind meist weniger offensichtlich und führen, stärker als Zölle und vergleichbare Abgaben, bei denen die monetäre Komponente eine nicht unwesentliche Rolle spielt, zu einem gewollten oder ungewollten Bestandsschutz heimi-

_____ 1168 EuGH, Rs 47/88 – Kommission / Dänemark, Rn 10; Rs C-234/99 – Nygård, Rn 19; Rs C383/01 – De Danske Bilimportører, Rn 35; Rs C-387/01 – Weigel, Rn 64; Rs C-221/06 – Stadtgemeinde Frohnleiten, Rn 31. 1169 Vgl etwa EuGH, Rs C-383/01 – De Danske Bilimportører, Rn 38; vgl auch EuGH, Rs 168/78 – Whiskey und Cognac; Gormley Rn 10.09. 1170 Vgl Schroeder Grundkurs § 14 Rn 70. 1171 EuGH, Rs 184/85 – Tafelobst. 1172 EuGH, Rs C-72/92 – Scharbatke, Rn 16; Dauses/Ludwigs/Brigola C.I Rn 73–75; Gormley Rn 10.09 mwN. 1173 Jungheim-Hertwig/Weiß § 14 (in diesem Band) Rn 239 ff; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Herrmann Art 30 AEUV Rn 22. 1174 EuGH, Rs C-72/92 – Scharbatke, Rn 16. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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scher Wirtschaftszweige vor außenwirtschaftlichem Anpassungsdruck.1175 Zu unterscheiden sind mengenmäßige Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie Maßnahmen gleicher Wirkung. Da Art 30 AEUV eine Spezialvorschrift darstellt, können Zölle und Abgaben gleicher Wirkung nicht (auch) unter Art 34, 35 AEUV subsumiert werden,1176 was erhebliche Relevanz für die Möglichkeit der Rechtfertigung hat. Verboten sind zunächst mengenmäßige Beschränkungen, also direkte voll341 ständige oder teilweise Begrenzungen der Menge oder des Wertes ein- oder ausgeführter Güter.1177 Dies kann von wert- oder mengenmäßiger Kontingentierung bis hin zu einem vollständigen Ein- oder Ausfuhrverbot reichen. Mengenmäßige Beschränkungen sind immer diskriminierend, da sie bestimmte Waren(-gruppen) eines Staates aus Anlass des Grenzübertritts anders behandeln als die gleichen Waren(-gruppen) eines anderen Staates.1178 Schwieriger ist hingegen die Bestimmung von „Maßnahmen gleicher Wir342 kung“. Diese können sowohl als diskriminierende Regelungen, aber auch als nichtdiskriminierende Beschränkungen auftreten.1179 Aus dem Wortlaut folgt lediglich, dass es sich dabei um Maßnahmen gleichen Effekts wie eine mengenmäßige Beschränkung handeln muss. Nach RL 70/50 über die Beseitigung von Maßnahmen gleicher Wirkung1180 zählten dazu insb „diejenigen Maßnahmen, die die Einfuhr oder den Absatz der eingeführten Waren auf jeder Handelsstufe einer anderen Bedingung als einer Formalität unterwerfen, welche allein für eingeführte Waren gefordert wird, oder von einer unterschiedlichen Bedingung abhängig machen, die schwieriger zu erfüllen ist als die für inländische Waren geforderte“ (Art 2 II) sowie „Maßnahmen über die Vermarktung von Waren, insb betreffend die Form, die Ausmaße, das Gewicht, die Zusammensetzung, die Aufmachung, die Identifizierung, die Aufbereitung“ (Art 3). In „Dassonville“ konstatierte der EuGH, dass „[j]ede Handelsregelung der Mit343 gliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, […] als Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung anzusehen“ sei.1181 Aus der Eignung, den freien Warenverkehr zu behindern, folgt, dass die Behinderung nicht auch eingetreten sein muss.1182

_____ 1175 Zippel/Langhammer S 44. 1176 EuGH, verb Rs C-78/90 ua – Compagnie commerciale de l’Ouest, Rn 20; Rs C-228/98 – Dounias, Rn 39; Rs C-383/01 – De Danske Bilimportører, Rn 32. 1177 Vgl EuGH, Rs 2/73 – Geddo, Rn 7; Rs 34/79 – Henn und Darby, Rn 12. 1178 Ehlers/Epiney § 8 Rn 26; Schwarze/Becker Art 34 AEUV Rn 33. 1179 Zahlreiche Beispiele bei Gormley Rn 11.16 ff. 1180 ABl 1970 L 13/29. 1181 EuGH, Rs 8/74 – Dassonville, Rn 5; ausf vdGroeben/Schwarze/Hatje/Müller-Graff Art 34 AEUV Rn 46 ff. 1182 EuGH, Rs 16/83 – Prantl, Rn 20. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Seit der Rs Cassis de Dijon wird die Dassonville-Formel vom Prinzip der ge- 344 genseitigen Anerkennung flankiert (Rn 305).1183 Die in Dassonville gefundene Umschreibung ist freilich sehr weitreichend und erfasst nahezu jede staatliche Regelung, die auch nur entfernt eine Auswirkung auf den freien Warenverkehr haben kann. Der EuGH nahm daher in seiner nachfolgenden Rechtsprechung eine Differenzierung zwischen verschiedenen Arten von Maßnahmen vor, die schließlich in der Keck-Formel mündete, wonach eine Maßnahme, die keine Regelung des Warenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten bezwecke, nicht als Maßnahme gleicher Wirkung gelten könne. Solche Verkaufsmodalitäten seien nämlich, anders als Produktregelungen, grundsätzlich nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne der Dassonville-Formel zu behindern.1184 Die Unterscheidung zwischen Verkaufsmodalitäten und Produktregelungen be- 345 trifft dabei im Wesentlichen die Frage, ob es sich um Marktzugangs- oder Marktverhaltensregeln handelt (Rn 307). Produktregelungen sind dabei solche, die sich auf die Beschaffenheit eines Erzeugnisses beziehen. Dazu gehören etwa Bezeichnung,1185 Form,1186 Abmessungen, Gewicht, Zusammensetzung,1187 Aufmachung, Etikettierung und Verpackung.1188 Um Produktregelungen handelt es sich grundsätzlich, wenn das Produkt selbst oder die damit verbundene Verpackung geändert werden müssen, um in einem anderen Land vertrieben werden zu dürfen,1189 also insgesamt immer dann, wenn die Unternehmer zur Herstellung von (nationalen) Produktvarianten gezwungen wären, was seinerseits höhere Kosten für Exportprodukte verursacht und so zu Wettbewerbsverzerrungen führt.1190 Sie sind unter Anwendung der Dassonville-Formel grundsätzlich unzulässig, sofern „Waren aus anderen Mitgliedstaaten, die dort rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind, bestimmten Vorschriften […] entsprechen müssen, auch wenn diese unterschiedslos für einheimische und eingeführte Erzeugnisse gelten“.1191 Eine besondere Spannungslage ergibt sich bei nationalen technischen Standards und

_____ 1183 Vgl dazu die Rechtsakte VO 764/2008, ABl 2008 L 218/21, VO 765/2008, ABl 2008 L 218/30 und Beschluss 768/2008, ABl 2008 L 218/82. Vgl auch Gormley Rn 11.13 mwN aus der Rspr. 1184 EuGH, verb Rs C-267/91 ua – Keck und Mithouard, Rn 15–17; ausf vdGroeben/Schwarze/ Hatje/Müller-Graff Art 34 AEUV Rn 237 ff; Dauses/Ludwigs/Brigola C.I Rn 119 ff sowie Rn 140 ff zur Folgerechtsprechung. 1185 EuGH, Rs C-317/92 – Clinique, Rn 21 f; vgl auch Rs C-313/94 – Graffione, Rn 24 ff. 1186 EuGH, Rs 261/81 – Rau / De Smet, Rn 13 (Margarine in Würfelform). 1187 EuGH, Rs 16/83 – Prantl, Rn 22 ff (Bocksbeutelflaschen); Rs 178/84 – Kommission / Deutschland, Rn 24 ff (Reinheitsgebot); Rs 407/85 – 3 Glocken, Rn 28 (Nudeln). 1188 EuGH, Rs C-470/93 – Mars, Rn 12; Rs C-3/99 – Ruwet, Rn 46; Rs C-12/00 – Kommission / Spanien, Rn 74 ff. 1189 EuGH, Rs C-33/97 – Colim, Rn 37; Rs C-12/00 – Kommission / Spanien, Rn 76; Rs C-416/00 – Morellato, Rn 30; verb Rs C-158/04 und 159/04 – Alfa Vita Vassilopoulos, Rn 19. 1190 Brasche S 104. 1191 EuGH, Rs C-470/93 – Mars, Rn 12; Rs C-3/99 – Ruwet, Rn 46. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Produktionsvorschriften, so dass hierfür Harmonisierungsmaßnahmen getroffen wurden (Rn 184 ff). Verkaufsmodalitäten auf der anderen Seite sind vertriebsbezogene Maßnah346 men, die sich auf die Vermarktung eines Produktes, nicht auf seine Substanz beziehen.1192 Solche Vertriebsanforderungen sind etwa Vorschriften über Ort1193 und Uhrzeiten (Ladenschlusszeiten)1194 des Verkaufs bestimmter Erzeugnisse sowie über die Werbung für diese Erzeugnisse1195 und über bestimmte Absatzmethoden. Sie sind grundsätzlich nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern, „sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren“ (Universalität und Neutralität; Rn 306), da sie dann gleichsam „nicht geeignet [sind], den Marktzugang für diese Erzeugnisse zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse [tun]“.1196 Die Fokussierung auf das Kriterium des Marktzugangs (Rn 307)1197 führt dann zur Unzulässigkeit von vertriebsbezogenen Maßnahmen, die für den Verkauf von Waren an eine (inländische) Geschäftsstelle anknüpfen1198 und somit etwa den Internet-Versandhandel verbieten.1199 Gleiches gilt für die Festsetzung einheitlicher Abgabepreise für Arzneimittel.1200 Sie gelten aber nicht als „Verkaufsmodalitäten“ im Sinne der Keck-Rspr, da es hier an der faktischen Neutralität der jeweiligen Maßnahme fehlt. Dies scheint auch der Ansatz des EuGH für das Problem sog „Nutzungsmodalitäten“ zu sein, also Regelungen, die Verwendungsbeschränkungen enthalten, welche den Kauf bestimmter Waren behindern könnten (Rn 307). Eine gewisse Konkretisierung muss schließlich für die Maßnahmen gleicher 347 Wirkung wie eine Ausfuhrbeschränkung vorgenommen werden (Art 35 AEUV).1201 Darunter sind nationale Maßnahmen zu verstehen, „die spezifische Beschränkungen der Ausfuhrströme bezwecken oder bewirken und damit unterschiedliche Be-

_____ 1192 Vgl Ehlers/Epiney § 8 Rn 45; Gormley Rn 11.35. 1193 EuGH, Rs C-254/98 – TK-Heimdienst; Rs C-391/92 – Kommission / Griechenland, Rn 15. 1194 EuGH, verb Rs C-401/92 und C-402/92 – Tankstation ’t Heukske und Boermans, Rn 15; verb Rs C-69/93 ua – Punto Casa, Rn 9 ff; verb Rs C-418/93 ua – Semeraro Casa Uno, Rn 9 ff. 1195 EuGH, Rs C-292/92 – Hünermund, Rn 22; Rs C-412/93 – Leclerc, Rn 20 ff; verb Rs C-34/95 ua – De Agostini, Rn 39 f. Zum Problem eines generellen Werbeverbots vgl Ehlers/Epiney § 8 Rn 48. 1196 EuGH, verb Rs C-267/91 und C-268/91 – Keck und Mithouard, Rn 15–17. 1197 Danach kategorisieren Grabitz/Hilf/Nettesheim/Leible/Streinz Art 34 AEUV Rn 85 ff. 1198 Vgl etwa EuGH, Rs C-254/98 – TK-Heimdienst, Rn 24 ff; Rs C-322/01 – Deutscher Apothekerverband, Rn 45 ff. 1199 Vgl etwa EuGH, Rs C-322/01 – Deutscher Apothekerverband, Rn 45 ff; Rs C-108/09 – KerOptika, Rn 20 ff. 1200 EuGH, Rs C-148/15 – Deutsche Parkinson Vereinigung, Rn 26 f; dazu Rixen EuR 2017, 744; Mittwoch EuZW 2016, 936. 1201 Ausf jüngst Reyes y Ráfales S 133 ff; Kainer/Herzog EuR 2018, 405 (409 f). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

V. Warenverkehrsfreiheit | 1063

dingungen für den Binnenhandel eines Mitgliedstaats und für seinen Außenhandel schaffen, so dass die nationale Produktion oder der Binnenmarkt des betroffenen Staates zum Nachteil der Produktion oder des Handels anderer Mitgliedstaaten einen besonderen Vorteil erlangt“.1202 Spiegelbildlich zu den mengenmäßigen Einfuhrbeschränkungen sind Ausfuhrbeschränkungen etwa Ausfuhrformalitäten oder Qualitätskontrollen für Exporte.1203 Auch hier geht es jedoch im Endeffekt um die Abschottung des nationalen Marktes, allerdings mit Maßnahmen zulasten inländischer Produzenten.1204 Es erscheint daher eine einheitliche Betrachtung der Marktaustrittsregeln und der Marktzutrittsschranken geboten.1205

3. Rechtfertigung Art 36 AEUV erlaubt Derogationen vom Verbot der mengenmäßigen Beschränkun- 348 gen oder Maßnahmen gleicher Wirkung hinsichtlich der Ein-, Aus- oder Durchfuhr von Waren, solange sie weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten1206 darstellen. Als Ausnahme von einer grundlegenden Vorschrift des Vertrages ist Art 36 AEUV eng auszulegen und abschließend zu verstehen.1207 Gleichwohl hat der EuGH in seiner Rspr (Cassis de Dijon) weitere Rechtfertigungsgründe in der Form der zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls entwickelt. All diese erlauben jedoch keine Beschränkungen aus wirtschaftlichen Gründen.1208 Zu beachten ist bei der Warenverkehrsfreiheit auch das dazu erlassene harmonisierende Sekundärrecht, etwa im Bereich der Produkt-1209 und Lebensmittelsicherheit, 1210 des Kulturgüterschutzes,1211 des Pflanzen- und Tierschutzes1212 und des Schutzes geistigen Eigentums.1213

_____ 1202 EuGH, Rs 15/79 – Groenveld, Rn 7; Rs C-47/90 – Delhaize, Rn 12; Rs C-205/07 – Gysbrechts, Rn 40 mit Anm Roth CMLRev 2010, 509; vgl auch Streinz Rn 906 f; Szydło CMLRev 2010, 753; Brigola EuZW 2009, 479 (480 ff). 1203 Streinz Rn 908; Gormley Rn 11.57 mwN aus der Rspr. 1204 Ehlers/Epiney § 8 Rn 56 ff; Gormley Rn 11.56 ff. 1205 So auch Brigola EuZW 2009, 479 (482 ff); Dauses/Ludwigs/Brigola C.I Rn 225 ff; Szydło CMLRev 2010, 753 (779 ff). S nunmehr EuGH, Rs C-15/15 – New Valmar, Rn 36 ff; dazu Brigola EuZW 2017, 5 (7 ff). 1206 Dazu vdGroeben/Schwarze/Hatje/Müller-Graff Art 36 AEUV Rn 160 ff. 1207 EuGH, Rs 95/81 – Kommission / Italien, Rn 27; Rs 229/83 – Leclerc, Rn 30; Rs C-205/89 – Kommission / Griechenland, Rn 9. 1208 Vgl EuGH, Rs C-120/95 – Decker, Rn 39. 1209 RL 2001/95, ABl 2002 L 11/4, idF der VO 596/2009, ABl 2009 L 188/14. 1210 VO 178/2002, ABl 2002 L 31/1, idF der VO 2017/228, ABl 2017 L 35/10. 1211 VO 116/2009, ABl 2009 L 39/1 und RL 2014/60 ABl 2014 L 159/1. 1212 VO 338/97, ABl 1997 L 61/1, idF der VO 2017/160, ABl 2017 27/1. 1213 VO 608/2013, ABl 2013 L 181/15. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1064 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

a) Geschriebene Rechtfertigungsgründe 349 Die erste Gruppe von Rechtfertigungsgründen umschreibt der Vertrag mit „Gründen

der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit“ (Art 36 AEUV). Dieser Vorbehalt des ordre public erklärt sich aus der Struktur der EU als Staatengemeinschaft und der Anerkennung der „grundlegenden Funktionen des Staates“ durch die EU (Art 4 II EUV). Die öffentliche Sicherheit und Ordnung sind souveränitätssensible Materien. Maßnahmen können aus Gründen der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sein, wenn sonst Gefahren für die Existenz des Staates selbst oder das Funktionieren seiner Einrichtungen und seiner wichtigen öffentlichen Dienste oder das Überleben seiner Bevölkerung entstünden.1214 Eine Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung umfasst demgegenüber zunächst grundsätzlich jede Gesetzesverletzung. Aus der Zusammenschau von Art 36 AEUV und Art 4 II EUV ergibt sich allerdings, dass es sich nur um grundlegende Fragen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung handeln kann.1215 Dementsprechend fällt eine Regelung nicht bereits deshalb unter den Begriff der öffentlichen Ordnung, weil sie strafbewehrt ist (etwa gewerbliche Schutzrechte).1216 Dies findet sich auch in der Rspr des EuGH bestätigt, wenn er bestimmt, dass „die öffentliche Ordnung und Sicherheit nur geltend gemacht werden [können], wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt“.1217 Eine Rechtfertigung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit kann etwa vorliegen, wenn durch die staatliche Beeinträchtigung die Versorgung mit bestimmten Rohstoffen sichergestellt werden soll.1218 Die öffentliche Sittlichkeit bezieht sich auf die in einem Mitgliedstaat gelten350 den Moralvorstellungen zu einer bestimmten Zeit. Dabei ist es grundsätzlich Sache des Mitgliedstaates, „den Begriff der öffentlichen Sittlichkeit für sein Gebiet im Einklang mit seiner eigenen Wertordnung und in der von ihm gewählten Form auszufüllen“, so dass er „Einfuhren […] grundsätzlich rechtmäßig verbieten kann, wenn die eingeführten Gegenstände im Sinne seines innerstaatlichen Rechts anstößigen oder unzüchtigen Charakter besitzen“,1219 sofern er gegenüber gleichen inländischen Waren ernsthafte und wirksame Maßnahmen zur Verhinderung ihres Vertriebs ergreift (Kohärenz).1220 Die Rechtfertigung der öffentlichen Sittlichkeit kann auch mit der öffentlichen Ordnung als Rechtfertigungsgrund zusammentreffen.1221

_____ 1214 Vgl EuGH, Rs 72/83 – Campus Oil, Rn 34; Rs C-367/89 – Richardt, Rn 22 f. 1215 EuGH, Rs 30/77 – Bouchereau, Rn 33/35; vgl auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Leible/Streinz Art 36 AEUV Rn 20; Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 911. 1216 EuGH, Rs 16/83 – Prantl, Rn 33. 1217 EuGH, Rs C-54/99 – Association Église de scientologie, Rn 17; Rs 36/75 – Rutili, Rn 26 f; Rs C36/02 – Omega, Rn 30. Vgl dazu Blanke/Mangiameli/Blanke Art 4 TEU Rn 75 f. 1218 Vgl EuGH, Rs 72/83 – Campus Oil, Rn 35. 1219 EuGH, Rs 34/79 – Henn und Darby, Rn 15, 17; Rs 121/85 – Conegate, Rn 14. 1220 EuGH, Rs 121/85 – Conegate, Rn 15 f; Gormley Rn 11.64. 1221 Vgl EuGH, Rs C-244/06 – Dynamic Medien, Rn 36 (Jugendschutz). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

V. Warenverkehrsfreiheit | 1065

Die nächste Gruppe bilden die Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit und 351 des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen. Wie der EuGH in stRspr ausführt, nehmen dabei „die Gesundheit und das Leben von Menschen den ersten Rang“ unter den in Art 36 AEUV geschützten Gütern und Interessen ein.1222 Maßnahmen der öffentlichen Gesundheit umfassen insb staatliche Akte im Bereich der Hygiene-, Arznei-, Nahrungsmittel- oder Veterinärvorschriften1223 sowie Maßnahmen zum Schutz von wildlebenden Tier- und Pflanzenarten1224 oder Vorschriften zur Eindämmung des Alkoholkonsums.1225 Dabei lassen sich aber insb hygienerechtliche Doppelkontrollen wegen Unverhältnismäßigkeit nicht rechtfertigen (Rn 319).1226 Gründe der öffentlichen Gesundheit können mit Gründen der öffentlichen Ordnung zusammenfallen.1227 Aufgrund von Unsicherheiten in Forschung und Technik gesteht der EuGH den Mitgliedstaaten einen weiten Beurteilungsspielraum zu.1228 Auf diese Rechtfertigungsgründe kann Rückgriff genommen werden, wenn die in Frage stehende Maßnahme unmittelbar den Schutz dieser Rechtsgüter betrifft. Handelt es sich um Maßnahmen, die sich nur indirekt auf den Schutz des Lebens oder der Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen auswirken (Verbraucher- oder Umweltschutzmaßnahmen), so sind diese im Bereich der „zwingenden Erfordernisse“ zu betrachten.1229 Eine Einschränkung kann auch zum Schutz des nationalen Kulturguts von 352 künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert gerechtfertigt sein (vgl insoweit auch Art 3 III UAbs 4 EUV). Damit nicht zu rechtfertigen ist allerding ein nationales System der Buchpreisbindung, das eine Maßnahme mit gleicher Wirkung darstellt, da der Schutz der kulturellen Vielfalt (Schutz der Bücher als Kulturgut) „generell nämlich nicht unter den [Schutz] des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert“ im Sinne von Art 36 AEUV fällt. Es kommt aber hier ein zwingendes Allgemeininteresse in Betracht.1230 Schließlich darf die Warenverkehrsfreiheit auch zum Schutz des gewerblichen 353 und kommerziellen Eigentums eingeschränkt werden.1231 Darunter fallen Patent-

_____ 1222 EuGH, Rs C-170/04 – Rosengren, Rn 39; Rs C-322/01 – Deutscher Apothekerverband, Rn 103 mwN; Rs C-421/09 – Humanplasma, Rn 32. 1223 Ausf Dauses/Ludwigs/Brigola C.I Rn 247 ff; Gormley Rn 11.69 jew mwN aus der Rspr. 1224 EuGH, Rs C-67/97 – Bluhme, Rn 33 ff; Rs C-219/07 – Nationale Raad van Dierenkwekers en Liefhebbers und Andibel, Rn 27 ff; Rs C-100/08 – Kommission / Belgien, Rn 92 ff. 1225 EuGH, Rs C-333/14 – Scotch Whiskey Association, Rn 34 f; dazu Alemanno CMLRev 2016, 1037. 1226 EuGH, Rs 251/78 – Denkavit, Rn 23 ff. 1227 EuGH, Rs C-434/06 – Ahokainen und Leppik (alkoholishe Getränke). 1228 EuGH, Rs C-347/89 – Eurim-Pharm, Rn 26; Rs C-293/94 – Brandsma, Rn 11; RsC-421/09 – Humanplasma, Rn 39: Rs C-148/15 – Deutsche Parkinson Vereinigung, Rn 30. 1229 Ehlers/Epiney § 8 Rn 86; Frenz Hdb 1 Rn 1115. 1230 EuGH, Rs 229/83 – Leclerc, Rn 30; Rs C-531/07 – LIBRO, Rn 32–34. 1231 Ausf Dauses/Ludwigs/Brigola C.I Rn 272 ff; Gormley Rn 11.75 ff; Grabitz/Hilf/Nettesheim/ Leible/Streinz Art 36 AEUV Rn 32 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1066 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

rechte, 1232 Urheberrechte 1233 und andere gewerbliche Schutzrechte wie Warenzeichen.1234 Ebenso umfasst sind geografische Herkunfts- bzw Ursprungsbezeichnungen,1235 nicht jedoch, wenn sie sich auf das gesamte Gebiet eines Mitgliedstaates beziehen.1236 Bei erstgenannten Schutzrechten stellte sich immer wieder das Problem sog Parallel- und Re-Importe.1237 Hierbei geht es um die Frage, ob der Inhaber eines Schutzrechtes (auf Grundlage einer nationalen gesetzlichen Regelung) verbieten kann, dass ein anderes Unternehmen Produkte des Rechteinhabers günstiger im Ausland einkauft und im Inland wieder verkauft. Nach der Rspr des EuGH kann sich ein Rechteinhaber, der von seinem Recht durch Vermarktung in einem Mitgliedstaat Gebrauch gemacht hat, nicht mehr darauf berufen, um einen Weiterverkauf zu verhindern (sog Erschöpfungsgrundsatz).1238

b) Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe 354 Ein oft vorgebrachter Grund zur Rechtfertigung nationaler beschränkender Maß-

nahmen im Sinne eines zwingenden Erfordernisses des Allgemeinwohls ist der Schutz des Verbrauchers vor Irreführung.1239 Dazu zählt etwa das Verbot vermeintlich irreführender Produktbezeichnungen1240 oder -aufmachungen,1241 irreführende Werbung1242 oder das Verbot des Inverkehrbringens von Produkten, die nicht den nationalen Vorgaben entsprechen, etwa bei italienischer (Hartweizen-)Pasta1243 oder deutschem Bier.1244 Zu beachten bleibt, dass die Maßnahmen unter Zugrundelegung

_____ 1232 EuGH, Rs 35/87 – Thetford, Rn 14 f. 1233 EuGH, Rs 402/85 – SACEM, Rn 11 ff. 1234 EuGH, Rs 16/74 – Centrafarm / Winthrop, Rn 4 ff; Rs 102/77 – Hoffmann-La Roche, Rn 7 ff. 1235 EuGH, Rs C-47/90 – Delhaize, Rn 16 ff, und Rs C-388/95 – Belgien / Spanien, Rn 50 ff (Qualitätsweine); Rs C-3/91 – Exportur, Rn 25 ff (Turrón); Rs C-161/09 – Kakavetsos-Fragkopoulos, Rn 22 ff (Korinthen). 1236 EuGH, Rs C-325/00 – CMA-Gütezeichen, Rn 27. 1237 Vgl Wagener/Eger S 262 f; Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 916. Aus der Rspr vgl auch EuGH, Rs 15/74 – Centrafarm / Sterling Drug, Rn 10/12; Rs 16/74 – Centrafarm / Winthrop, Rn 9/11. Vgl auch EuGH, Rs 102/77 – Hoffmann-La Roche, Rn 9 ff, wobei der EuGH hier jedoch, nach Bejahung einer Rechtfertigung, auf das Vorliegen einer verschleierten Beschränkung des Handels abstellte; Rs 187/80 – Merck / Stephar. 1238 EuGH, Rs 78/70 – Deutsche Grammophon, Rn 11 ff; Rs C-9/93 – Ideal Standard, Rn 34; vgl auch Rs C-322/01 – Deutscher Apothekerverband, Rn 130. 1239 Vgl auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Leible/Streinz Art 34 AEUV Rn 106 ff mwN; vdGroeben/ Schwarze/Hatje/Müller-Graff Art 34 AEUV Rn 204 ff. 1240 EuGH, Rs C-315/92 – Clinique. 1241 EuGH, Rs C-470/93 – Mars, Rn 17 ff. 1242 EuGH, Rs C-210/96 – Gut Springenheide und Tusky, Rn 27 ff. 1243 EuGH, Rs 407/85 – Drei Glocken, Rn 28. 1244 EuGH, Rs 178/84 – Kommission / Deutschland, Rn 53 f. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

V. Warenverkehrsfreiheit | 1067

des Bildes eines „verständigen Verbrauchers“ auch verhältnismäßig sein müssen, dass also nicht jede dem Verbraucherschutz dienende Maßnahme auch gerechtfertigt ist. Immer wieder ist versucht worden, nationale Maßnahmen aus Gründen des 355 Umweltschutzes zu rechtfertigen. Dabei spielte etwa die Beurteilung nationaler Pfandsysteme eine Rolle, die aber in der konkreten Ausformung meist am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gescheitert sind.1245 Auch technische Anforderungen hinsichtlich Abgasemissionen und Lärmpegel bei (importierten) Gebrauchtwagen, die den innergemeinschaftlichen Warenverkehr behindern können, sind grundsätzlich einer Rechtfertigung aus Gründen des Umweltschutzes zugänglich, solange sie verhältnismäßig sind.1246 Daneben gibt es eine Vielzahl weiterer, als zwingende Gründe des Allgemeinin- 356 teresses anerkannter Rechtfertigungen. Dazu zählen etwa die oftmals im Zusammenhang mit dem Verbraucherschutz auftretende Lauterkeit des Handelsverkehrs1247 oder kulturelle Interessen wie Gründe des Schutzes der einheimischen Filmindustrie1248 oder von Büchern als Kulturgut1249 oder der Aufrechterhaltung der Medienvielfalt.1250 Darüber hinaus kann auch der Schutz der Grundrechte ein berechtigtes Interesse sein, aufgrund dessen der freie Warenverkehr Beschränkungen unterworfen werden kann.1251 Zu beachten bleibt aber auch hier, dass die zu rechtfertigenden Maßnahmen nicht über das hinausgehen dürfen, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist.

4. Umformung staatlicher Handelsmonopole Ebenfalls im Titel über den freien Warenverkehr geregelt ist die Umformung staatli- 357 cher Handelsmonopole in der Weise, „dass jede Diskriminierung in den Versorgungs- und Absatzbedingungen zwischen den Angehörigen der Mitgliedstaaten ausgeschlossen“ ist (Art 37 I UAbs 1 AEUV). Namentlich fordert diese Vorschrift nicht die völlige Abschaffung der staatlichen Handelsmonopole, sondern lediglich deren Umformung hin zu einer diskriminierungsfreien Verfassung,1252 um so

_____ 1245 Vgl etwa EuGH, Rs 302/86 – Kommission / Dänemark; Rs C-463/01 – Kommission / Deutschland; Rs C-309/02 – Radlberger. 1246 Vgl EuGH, Rs C-524/07 – Kommission / Österreich. 1247 Vgl EuGH, Rs 120/78 – Cassis de Dijon, Rn 8; Rs 220/81 – Robertson, Rn 11; Rs C-220/98 – Estée Lauder, Rn 25; Schwarze/Becker Art 36 AEUV Rn 51 ff; vdGroeben/Schwarze/Hatje/MüllerGraff Art 34 AEUV Rn 209 ff. 1248 EuGH, verb Rs 60/84 ua – Cinéthèque, Rn 24. 1249 EuGH, Rs C-531/07 – LIBRO, Rn 34. 1250 EuGH, Rs C-368/95 – Familiapress, Rn 18. 1251 Vgl dazu insb EuGH, Rs C-112/00 – Schmidberger und Rs C-36/02 – Omega. 1252 EuGH, Rs 78/82 – Kommission / Italien, Rn 10. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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den Handel mit Monopolwaren den gleichen Regeln des freien Marktes zu unterwerfen wie die gleichartigen Waren aus anderen Mitgliedstaaten.1253 Die Vorschrift gilt nur in Bezug auf Waren, eine entspr Vorschrift für Dienstleistungen fehlt. Diese sind jedoch nach ähnlichen Grundsätzen am Maßstab der Dienstleistungsfreiheit (Rn 407 ff) zu beurteilen.1254 Art 37 UAbs 2 AEUV definiert Handelsmonopole als „Einrichtungen, durch die 358 ein Mitgliedstaat unmittelbar oder mittelbar die Einfuhr oder die Ausfuhr zwischen den Mitgliedstaaten rechtlich oder tatsächlich kontrolliert, lenkt oder merklich beeinflusst“. Zudem findet die Regelung auch Anwendung auf „für die von einem Staat auf andere Rechtsträger übertragenen Monopole“. Besonders häufig anzutreffen sind staatliche Monopole für Alkohol,1255 Tabak1256 oder Energieträger (zB Erdöl). Während der EuGH anfänglich wohl vom lex specialis Charakter des Art 37 359 AEUV gegenüber Art 34 AEUV1257 und dann von der gleichzeitigen Anwendbarkeit beider Vorschriften ausging,1258 nimmt er in späteren Jahren eine genauere Trennung einzelner Aspekte staatlicher Monopole vor. Demnach sind die Bestimmungen über das Bestehen und die Funktionsweise dieses Monopols an Art 37 AEUV zu messen, der speziell den Fall betrifft, dass ein staatliches Handelsmonopol seine Ausschließlichkeitsrechte ausübt. Dagegen ist die Auswirkung der anderen Bestimmungen der nationalen Regelung auf den innergemeinschaftlichen Handel, die sich von der Funktionsweise des Monopols trennen lassen, auch wenn sie mittelbar einen Effekt haben, an Art 34 AEUV zu messen.1259 VI. Personenverkehrsfreiheiten VI. Personenverkehrsfreiheiten 360 Neben der Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit der Unionsbürger nach Art 20 II

lit a iVm Art 21 AEUV1260 als „Grundfreiheit ohne Markt“1261 gewährt die eher wirtschaftlich orientierte Marktfreiheit des freien Personenverkehrs die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art 45–48 AEUV) und die Niederlassungsfreiheit (Art 49–55 AEUV). Sie ist dabei lex specialis zum allgemeinen Freizügigkeitsrecht nach Art 21

_____ 1253 Vgl EuGH, Rs C-189/95 – Franzén, Rn 37 ff. 1254 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Randelzhofer/Forsthoff Art 56/57 AEUV Rn 113 ff. 1255 So in EuGH, Rs C-189/95 – Franzén; Rs C-170/04 – Rosengren. 1256 EuGH, Rs C-456/10 – ANETT. 1257 EuGH, Rs 59/75 – Manghera. 1258 EuGH, Rs 119/78 – Peureux. 1259 EuGH, Rs 120/78 – Cassis de Dijon, Rn 7; Rs C-189/95 – Franzén, Rn 35 f; Rs C-170/04 – Rosengren, Rn 17 f; Rs C-456/10 – ANETT, Rn 22; vgl dazu Gormley Rn 11.49. 1260 Hilpold § 12 (in diesem Band) Rn 180 ff. 1261 Wollenschläger Grundfreiheit ohne Markt, 2007; Streinz Rn 809; Merten/Papier/Streinz HGR VI/1 § 152 Rn 43; vgl auch EuGH, Rs C-224/98 – D’Hoop, Rn 29; Rs C-148/02 – Garcia Avello, Rn 24. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

VI. Personenverkehrsfreiheiten | 1069

AEUV.1262 Gleichwohl kann im Zuge fortschreitender Integration die wirtschaftliche Komponente der Personenfreizügigkeit nicht von der sozialen und politischen Dimension entkoppelt werden.1263 Darüber hinaus muss insb die Arbeitnehmerfreizügigkeit, in ihrer sozialen Dimension und historischen Entwicklung, im Lichte der Europäischen Sozialcharta des Europarats (1961) sowie der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer (1989) gesehen werden (Art 151 AEUV).1264 Die Gewährleistungen der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer sind dabei in die Europäische Grundrechtecharta eingegangen. Neben den rechtlichen Determinanten sind auch die ökonomischen Faktoren 361 für Personenmobilität in den Blick zu nehmen. Eine wesentliche Entscheidungsgröße ist hierbei die Einkommensdifferenz zwischen Herkunfts- und Zielland.1265 Relevant ist dabei das Nettoeinkommen im Zielland, also das Einkommen abzüglich der Mobilitätskosten. Ein nicht unwichtiger Faktor ist ferner die unterstützende Rolle von sog „Migranten-Netzwerken“ und damit von „Pionier-Migranten“, die die Unsicherheiten und Risiken, aber auch die Chancen der Migration in einem bestimmten Mitgliedstaat erkundet haben und so spätere Ankömmlinge informieren und beraten können.1266 Rechtlich und politisch ist es aber unmöglich, alle Hemmnisse zu überwinden, die die Personenmobilität belasten. Dies gilt namentlich für die sprachlichen und kulturellen Differenzen. Die Personenmobilität kann sich außerdem auf die einzelnen Staaten ganz unterschiedlich auswirken. Denn im Herkunftsland kann der Arbeitsmarkt durch die Abwanderung von Arbeitskräften zwar entlastet werden, doch besteht zugleich die Gefahr eines Verlustes qualifizierter Arbeiter („brain drain“). Auch die Effekte im Zielland können ambivalent sein. Ergänzen die zugewanderten Arbeitskräfte den einheimischen Arbeitsmarkt, vergrößert sich der Wohlstand. Ersetzen sie allerdings heimische Arbeitskräfte, kann es einen abwärts gerichteten Einfluss auf die dortigen Löhne haben, weil insgesamt die verfügbare Zahl an Arbeitnehmern für die gleiche Arbeit steigt.1267

1. Freizügigkeit der Arbeitnehmer Art 45 I AEUV bestimmt ebenso allgemein wie grundsätzlich, dass innerhalb der 362 Union die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet ist. Diese Garantie wird sodann in Abs 2 und 3 näher ausgestaltet (Rn 371 ff). Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist

_____ 1262 Vgl EuGH, Rs C-193/94 – Skanavi, Rn 22; Rs C-348/96 – Calfa, Rn 18. 1263 Vgl etwa EuGH, Rs C-138/02 – Collins, Rn 63; Rs C-258/04 – Ioannidis, Rn 22; vgl auch Oppermann/Classen/Nettesheim § 27 Rn 2 f. 1264 Davy § 18 (in diesem Band) Rn 29. 1265 Dazu Brasche S 118 ff. 1266 Brasche S 119. 1267 Vgl dazu Brasche S 129. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1070 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

jedoch in besonderem Maße durch das Sekundärrecht geformt. Zu nennen sind insb die FreizügigkeitsRL 2004/38 für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen,1268 die VO 492/2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer,1269 die VO 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit1270 sowie die RL 2014/54 über Maßnahmen zur Erleichterung der Ausübung der Rechte von Arbeitnehmern der Union und ihrer Familienangehörigen.1271

a) Arbeitnehmerbegriff 363 Der Begriff des Arbeitnehmers bestimmt einerseits positiv den sachlichen Anwen-

dungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit und grenzt sie gleichzeitig negativ von anderen Grundfreiheiten ab. Zwar legt jede mitgliedstaatliche Rechtsordnung für ihre Zwecke eine eigene Definition des Arbeitnehmers zugrunde, im Rahmen des grundfreiheitlichen Schutzes ist aber von einem autonomen Arbeitnehmerbegriff auszugehen.1272 Als Arbeitnehmer im Sinne des Unionsrechts gelten Personen, die weisungsabhängig tätig sind, eine wirtschaftliche Leistung erbringen und dafür eine Vergütung als Gegenleistung erhalten.1273 Der erforderliche grenzüberschreitende Bezug wird allerdings noch nicht dadurch hergestellt, dass eine Tochtergesellschaft, bei der die betreffenden Arbeitnehmer tätig sind, von einer Muttergesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat kontrolliert wird.1274 Das Element der wirtschaftlichen Tätigkeit (Rn 279) grenzt die Arbeitnehmer364 freizügigkeit als spezielleren Regelungskomplex vom allgemeinen Freizügigkeitsrecht nach Art 21 AEUV ab. Die Frage nach der wirtschaftlichen Natur einer Tätigkeit ist dabei funktional zu verstehen. Studenten üben in der Regel keine wirtschaftliche Tätigkeit aus,1275 es sei denn, das Studium steht im Zusammenhang mit einer vorher ausgeübten Berufstätigkeit. 1276 Referendare, 1277 Doktoranden und Doktorandensti-

_____ 1268 ABl 2004 L 158/77. In Dtl umgesetzt durch das Freizügigkeitsgesetz/EU v 30.7.2004 (BGBl I S 1950, 1986), idF des Art 6 des Gesetzes v 20.7.2017 (BGBl I S 2780). 1269 ABl 2011 L 141/1 idF der VO 2016/589, ABl 2016 L 107/1. Diese ersetzt in weiten Teilen die vorher maßgebliche VO 1612/68. 1270 ABl 2004 L 166/1, idF der VO 2017/492, ABl 2017 L 76/13. 1271 RL 2014/54, ABl 2014 L 128/8. 1272 So bereits EuGH, Rs 75/63 – Unger; Rs 53/81 – Levin, Rn 11. 1273 EuGH, Rs 66/85 – Lawrie-Blum, Rn 17; Rs C-85/96 – Martínez Sala, Rn 32; Rs C-337/97 – Meeusen, Rn 13. 1274 EuGH, Rs C-566/15 – Erzberger, Rn 29. 1275 Krit Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 74. 1276 EuGH, Rs 39/86 – Lair, Rn 39; Rs C-357/89 – Raulin, Rn 21. Natürlich sind sie aber durch das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Art 18 AEUV geschützt; vgl EuGH, Rs C-184/99 – Grzelczyk, Rn 35 f. Art 24 II der RL 2004/38 sieht allerdings vor, dass etwa die Gewährung von Studienbeihilfen den Arbeitnehmern oder Selbstständigen und deren Familienangehörigen vorbehalten werden darf. 1277 EuGH, Rs 66/85 – Lawrie-Blum, Rn 19; Rs C-79/99 – Schnorbus, Rn 28; Rs C-109/04 – Kranemann, Rn 13 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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pendiaten1278 fallen unter gewissen Voraussetzungen regelmäßig auch unter den Arbeitnehmerbegriff. Praktikanten sind nach der Rspr des EuGH als Arbeitnehmer zu sehen, „wenn das Praktikum unter den Bedingungen einer tatsächlichen und echten Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis durchgeführt wird“.1279 Für die erbrachte Leistung muss es eine Vergütung als Gegenleistung geben. 365 Die beschränkte Höhe der Vergütung, der Ursprung der Mittel oder eine geringe Produktivität des Betroffenen schließen die Arbeitnehmereigenschaft nicht aus.1280 Die Höhe der Vergütung ist unerheblich, sofern sie nicht lediglich als Aufwandsentschädigung für ansonsten ehrenamtliche Tätigkeiten gilt.1281 Die Entlohnung muss nicht zur Bestreitung des Lebensunterhaltes ausreichend sein.1282 Die Vergütung kann auch in Sachwerten bestehen.1283 Rein soziale oder kulturelle Tätigkeiten1284 oder bestimmte Maßnahmen der Rehabilitation sowie der Wiedereingliederung der Arbeitnehmer in das Arbeitsleben1285 unterfallen demnach nicht dem Arbeitnehmerbegriff. Der Status als Arbeitnehmer ist auch dann nicht ausgeschlossen, wenn eine Entlohnung aus öffentlichen Mitteln (etwa im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen) erfolgt.1286 Der Beschäftigungsumfang (Voll- oder Teilzeit, geringfügige Beschäftigung) spielt grundsätzlich keine Rolle, sofern die Tätigkeit nicht einen so geringen Umfang hat, dass sie sich „als völlig untergeordnet und unwesentlich“ darstellt.1287 Die Arbeitnehmereigenschaft entfällt auch nicht deshalb, weil die Tätigkeit als sittlich verwerflich angesehen wird, etwa im Fall der erwerbsmäßigen Prostitution.1288 Eine Einschränkung ist lediglich dann möglich, wenn eine Tätigkeit schlechthin verboten ist (zB Drogenhandel). Bei der Weisungsabhängigkeit oder Unselbstständigkeit geht es im Grunde um 366 die Verteilung von Entscheidungskompetenzen und unternehmerischem Risiko. Unter Weisung (und ggf Aufsicht) steht eine Person, wenn ihr etwa die zu erbrin-

_____ 1278 Vgl EuGH, Rs C-94/07 – Raccanelli, Rn 33 ff. 1279 EuGH, Rs 66/85 – Lawrie-Blum, Rn 19; Rs C-3/90 – Bernini, Rn 15 f; Rs C-109/04 – Kranemann, Rn 13; Rs C-10/05 – Mattern, Rn 21. 1280 Vgl jüngst EuGH, Rs C-46/12 – N., Rn 41. 1281 Vgl Ehlers/Becker § 9 Rn 7, 10. 1282 EuGH, Rs 53/81 – Levin, Rn 15 f; Rs 139/85 – Kempf, Rn 14 ff; Rs C-444/93 – Megner, Rn 18 mwN. 1283 Sehr weitgehend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 77. 1284 Auch hier ist eine funktionelle Betrachtung erforderlich. Tätigkeiten, die das Mitglied einer Religionsgemeinschaft verrichtet, können in den Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit fallen, vgl dazu EuGH, Rs 196/87 – Steymann, Rn 11 ff. 1285 EuGH, Rs 344/87 – Bettray, Rn 17 ff. 1286 EuGH, Rs 344/87 – Bettray, Rn 15; Rs C-1/97 – Birden, Rn 28. 1287 EuGH, Rs 53/81 – Levin, Rn 17; Rs 139/85 – Kempf, Rn 12; Rs C-357/89 – Raulin, Rn 10, 14 ff; Rs C-444/93 – Megner, Rn 18 mwN; Rs C-1/97 – Birden, Rn 25, 27; Rs C-138/02 – Collins, Rn 26; Rs C94/07 – Raccanelli, Rn 33; EuGH, Rs C-46/12 – N., Rn 42; Rs C-20/13 – Haralambidis, Rn 28. 1288 Vgl Ehlers/Becker § 9 Rn 12. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1072 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

genden Leistungen und Arbeitszeiten vorgeschrieben werden, sie diese unter Anweisungen eines andern auszuführen und dessen Vorschriften einzuhalten hat.1289 Dabei kommt es auf die „Gesamtheit der jeweiligen Faktoren und Umstände [an], die die Beziehungen zwischen den Parteien charakterisieren“.1290 Das Kriterium der Unselbstständigkeit ist das wesentliche Abgrenzungsmerkmal zur Niederlassungsund Dienstleistungsfreiheit, da es sich dort jeweils um selbstständige Tätigkeiten handelt.1291 Eine Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers liegt auch im Rahmen der Arbeitnehmerentsendung vor; als solche ist die Entsendung (durch den Arbeitgeber) allerdings als Dienstleistung einzustufen (Rn 419). Anderes gilt hingegen für die Arbeitnehmerüberlassung, da hier die Arbeitnehmer (zeitlich begrenzt) dem Weisungsrecht eines anderen Arbeitgebers unterstehen.1292 Der persönliche Anwendungsbereich erstreckt sich auf Unionsbürger sowie 367 deren Familienangehörige,1293 die akzessorische Rechte aus RL 2004/38 genießen. Dazu zählt insb das Recht zum Daueraufenthalt im Aufnahmestaat, dh über drei Monate hinaus (Art 7 RL 2004/38). Drittstaatsangehörige sind ansonsten nur bei Vorliegen eines gesonderten Abkommens direkt als Arbeitnehmer anspruchsberechtigt (Rn 291). Auch die Vertragspartner (Arbeitgeber) können sich auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen.1294 Die Vorschriften zur Arbeitnehmerfreizügigkeit finden keine Anwendung auf 368 die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung (Art 45 IV AEUV). Als funktionell, nicht institutionell auszulegender Begriff1295 findet er Anwendung auf Beschäftigungen, die „eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bring[en], die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates und anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind“. Die Beschäftigung auf derartigen Stellen setzt nämlich „ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des jeweiligen Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten“ voraus,

_____ 1289 Vgl EuGH, Rs 53/81 – Levin, Rn 18; Rs 3/87 – The Queen / Ministry of Agriculture, Rn 35 ff; vgl auch Rs C-20/13 – Haralambidis, Rn 30 ff. 1290 EuGH, Rs C-3/87 – Agegate, Rn 36. 1291 Zu Abgrenzungsproblemen Ehlers/Becker § 9 Rn 35. 1292 Zur Abgrenzung EuGH, Rs C-113/89 – Rush Portuguesa, Rn 12 ff sowie Haratsch/Koenig/ Pechstein Rn 934, 979; Kort NZA 2002, 1248; Müller-Graff EnzEuR 4/Krebber § 2 Rn 5. 1293 Familienangehörige sind nach Art 2 Nr 2 der RL Ehegatten, Lebenspartner, deren Verwandte in gerade absteigender Linie, sofern diese unter 21 sind oder in gerade aufsteigender oder absteigender Linie, sofern der Unionsbürger oder dessen Ehegatte/Lebenspartner diesen Unterhalt gewährt. 1294 Vgl jüngst EuGH, Rs C-208/05 – ITC, Rn 23; Rs C-202/11 – Las, Rn 18; Rs C-379/11 – Caves Krier Frères, Rn 28; Rs C-474/12 – Schiebel, Rn 25 f; Calliess/Ruffert/Brechmann Art 45 AEUV Rn 19. 1295 Vgl zur Rspr Eschmann S 73 ff; vgl auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 427 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

VI. Personenverkehrsfreiheiten | 1073

die sich aus dem Staatsangehörigkeitsband ergeben.1296 Um öffentliche Verwaltung im Sinne des Art 45 IV AEUV handelt es sich mit anderen Worten immer, aber auch nur dann, wenn der Staat dem Bürger gegenüber von Sonderrechten, Hoheitsprivilegien und Zwangsbefugnissen Gebrauch macht.1297 Grundsätzlich kann auch die mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse der Bereichsausnahme unterfallen. 1298 Dabei müssen die zugewiesenen hoheitlichen Befugnisse tatsächlich regelmäßig ausgeübt werden und dürfen nicht nur einen sehr geringen Teil der betreffenden Tätigkeit ausmachen.1299 Ohne Bedeutung ist es dabei, ob es sich um ein Arbeiter-, Angestellten- oder Beamtenverhältnis1300 handelt und ob das Beschäftigungsverhältnis öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich geregelt ist.1301 Die immer stärkere Öffnung der Mitgliedstaaten gegenüber EU-Ausländern 369 zwingt zu einer dynamischen Interpretation der Bereichsausnahme.1302 Berufsgruppen, die typischerweise unter diese Ausnahmeregelung fallen, sind Richter, Gerichtsvollzieher, Ordnungs- und Steuerbeamte sowie Mitglieder der Streitkräfte und des Auswärtigen Dienstes. Dazu zählen weiterhin Tätigkeiten, die in einem Zusammenhang mit hoheitlichen Befugnissen stehen, wie die Ausarbeitung und Durchführung von Rechtsakten und die Aufsicht über nachgeordnete Stellen.1303 Demgegenüber ist (selbst verbeamtetes) Lehrpersonal nicht mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse betraut und unterfällt somit der Arbeitnehmerfreizügigkeit. 1304 Gleiches gilt für Einrichtungen, die mit der Erbringung kommerzieller Dienstleistungen betraut sind (öffentliches Verkehrswesen, Energieversorgung, Luftverkehrsunternehmen und Reedereien, Post und Fernmeldewesen, Rundfunkund Fernsehanstalten) sowie für weite Teile der Gesundheits- und Sozialverwaltung.1305 Die Ausnahmeregelung des Art 45 IV AEUV schließt nicht generell alle Aspekte 370 der Tätigkeiten in der öffentlichen Verwaltung aus. Vielmehr vermag sie nur den

_____ 1296 Rs C-392/05 – Alevizos, Rn 69 f; vgl auch Rs 149/79 – Kommission / Belgien, Rn 7. 1297 Vgl in diesem Sinne EuGH, Rs 2/74 – Reyners. 1298 Eschmann S 96, 99; vgl auch Kranz Die Ausübung öffentlicher Gewalt durch Private nach dem Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1984. 1299 EuGH, Rs C-405/01 – Marina Mercante, Rn 44; Rs 47/02 – Anker, Rn 63. 1300 Vgl etwa EuGH, Rs 66/85 – Lawrie-Blum, Rn 26. 1301 EuGH, Rs 152/73 – Sotgiu, Rn 5. 1302 Vgl Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 420. 1303 Vgl auch die „Systematische Aktion“ der Kommission auf dem Gebiet der Anwendung von Art 48 IV EWG (= Art 45 IV AEUV), ABl 1988 C 72/2. 1304 EuGH, Rs 66/85 – Lawrie-Blum, Rn 24, 28; Rs 33/88 – Allué, Rn 7. 1305 „Systematische Aktion“ der Kommission auf dem Gebiet der Anwendung von Art 48 IV EWG (= Art 45 IV AEUV), ABl 1988 C 72/2; vgl auch Oppermann/Classen/Nettesheim § 27 Rn 28; Streinz Rn 932. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Zugang ausländischer Staatsangehöriger zu bestimmten Tätigkeiten zu reglementieren.1306 Hingegen rechtfertigt diese Bestimmung „keine unterschiedliche Behandlung in bezug auf Entlohnung oder sonstige Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer […], wenn diese einmal in den Dienst der Verwaltung aufgenommen sind.“ Denn die Aufnahme ausländischer Staatsangehöriger in den Verwaltungsdienst zeigt, „daß die Interessen, die die Ausnahmen vom Grundsatz der Nichtdiskriminierung […] rechtfertigen, nicht in Frage stehen“.1307

b) Geschützte Rechte 371 Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer umfasst nicht nur das Recht, zwecks Ausübung

einer beruflichen Tätigkeit in einen anderen Mitgliedstaat zu ziehen, sondern ausdrücklich auch verschiedene komplementäre Rechte.1308 Durch den Vertrag wird ferner angeordnet, dass sich der zeitliche Schutz auch über die eigentliche Ausübung der Tätigkeit hinaus auf den vorgelagerten Bereich der Arbeitssuche und den sich an die Beendigung einer Tätigkeit anschließenden Zeitraum erstreckt (Art 45 III AEUV).1309 Die Arbeitnehmerfreizügigkeit vermittelt zunächst das Recht, sich auf tatsäch372 lich angebotene Stellen zu bewerben und sich dafür im Empfangsstaat frei zu bewegen (Art 45 III lit a, b AEUV). Davon umfasst ist nicht nur die Mobilität im Empfangsstaat zum Zwecke der Arbeitssuche1310 und Bewerbung, sondern als Voraussetzung auch das Recht auf Einreise gegenüber dem Empfangsstaat (Art 5 RL 2004/38). Der Arbeitnehmer darf sich dort ohne weitere Voraussetzungen bis zu drei Monate aufhalten. Ist die Arbeitssuche im konkreten Fall1311 endgültig ohne Aussicht auf Erfolg und verfügt der Unionsbürger nicht über ausreichende Mittel zum Lebensunterhalt, darf der Empfangsstaat eine Ausweisung aussprechen,1312 allerdings vorbehaltlich des Aufenthaltsrechts aus Art 21 I AEUV.1313 Eine Visumspflicht besteht

_____ 1306 So auch Ehlers/Ehlers § 7 Rn 82. Andere Autoren sehen in der Bestimmung einen Rechtfertigungsgrund, so etwa Jarass EuR 1995, 202 (221 f); Jarass EuR 2000, 705 (717 f). 1307 EuGH, Rs 152/73 – Sotgiu, Rn 4; Rs 33/88 – Allué, Rn 8; Rs C-392/05 – Alevizos, Rn 70. 1308 Vgl auch ausf Müller-Graff EnzEuR 4/Krebber § 2 Rn 45 ff. 1309 Arbeitsuchende gelten dabei allerdings noch nicht als „Arbeitnehmer“ iSv Art 45 AEUV, sie unterfallen aber trotzdem dem Gleichbehandlungsgrundsatz; vgl dazu EuGH, Rs C-138/02 – Collins, Rn 26 ff; C-258/04 – Ioannidis, Rn 21 ff. 1310 EuGH, Rs C-292/89 – Antonissen, Rn 13. 1311 EuGH, Rs C-292/89 – Antonissen, Rn 21; Rs C-344/95 – Kommission / Belgien, Rn 17 f: keine automatische Ausweisung. 1312 Eine Ausweisung nach sechs Monaten erfolgloser Arbeitssuche hat der EuGH nicht beanstandet, Rs C-292/89 – Antonissen, Rn 21; Rs C-171/91 – Tsiotras, Rn 13; Rs C-344/95 – Kommission / Belgien, Rn 16 f. 1313 EuGH, Rs C-413/99 – Baumbast, Rn 94; vgl auch Dauses/Ludwigs/Hailbronner D.I Rn 131 sowie Gößling S 95 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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nicht, so dass ein gültiger Personalausweis oder Reisepass genügen (Art 6 I RL 2004/38). Als Arbeitnehmer haben Unionsbürger grundsätzlich ein Aufenthaltsrecht im Empfangsstaat über drei Monate hinaus (Art 7 I lit a RL). Dies gilt als Annex auch für Familienangehörige, gleich welche Staatsangehörigkeit sie besitzen (Art 7 II RL).1314 Arbeitsuchende erhalten im Aufnahmestaat die gleiche Hilfe wie inländische Arbeitsuchende (Art 5 VO 492/2011).1315 Ein Arbeitnehmer kann sich in bestimmten Fällen auch gegenüber seinem Heimatstaat auf sein Freizügigkeitsrecht berufen, etwa beim Recht auf Ausreise (Art 4 RL 2004/38)1316 oder im Falle sog Heimkehrer (Rn 303). Zudem ist auch die Berufsausübung im Empfangsstaat selbst umfassend 373 geschützt. Sie muss für EU-Ausländer zu den gleichen Bedingungen wie für Inländer gewährleistet sein (Art 45 III lit c AEUV; Art 1 I VO 492/2011). Dies setzt allerdings nicht voraus, dass der Arbeitnehmer dort seinen Wohnsitz nimmt. Vielmehr unterfallen auch Grenzpendler der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Dieses vorrangige Diskriminierungsverbot wird durch Art 45 II AEUV verstärkt, der die Abschaffung jeglicher auf Staatsangehörigkeit beruhender unterschiedlicher Behandlung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen umfasst. Erfasst sind hiervon alle mit der Beschäftigung in Zusammenhang stehenden Bedingungen und Umstände, etwa mit Blick auf Entlohnung, Kündigungsschutz oder Wiedereingliederungsmaßnahmen, aber auch hinsichtlich einer gewerkschaftlichen Betätigung (Art 7, 8 VO 492/2011).1317 Dies gilt unabhängig davon, ob die Gewährung dieser Vorteile „aufgrund einer gesetzlichen oder vertraglichen Verpflichtung erfolgt oder […] lediglich eine freiwillige Leistung“ darstellt.1318 Namentlich soziale und steuerliche Vorteile sind auch den Wanderarbeitnehmern zu gewähren (Art 7 II VO 492/2011; Rn 375).1319 Insofern gilt im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit das Bestimmungslandprinzip. Nach Art 23 RL 2004/38 haben auch aufenthaltsberechtigte Familienangehörige das Recht zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit im Empfangsstaat, sofern sie nicht schon selbst als Unionsbürger unmittelbar aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit berechtigt sind. Darüber hinaus gilt auch im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit die Anerkennung von Berufsqualifikationen (Rn 428 f). Nach Beendigung der Beschäftigung hat der Arbeitnehmer im Empfangsstaat 374 ein Verbleiberecht. Aus Art 17 I der RL 2004/38 ergibt sich ein Recht zum Dauer-

_____ 1314 Ausf Dauses/Ludwigs/Hailbronner D.I Rn 44 ff. 1315 EuGH, Rs C-138/02 – Collins, Rn 63; Rs C-258/04 – Ioannidis, Rn 22. 1316 Vgl für eine die Ausreise faktisch beeinträchtigende nationale Regelung EuGH, Rs C-104/06 – Kommission / Schweden, Rn 21. 1317 Vgl EuGH, Rs C-258/04 – Ioannidis, Rn 34 f mwN; vgl auch Ehlers/Becker § 9 Rn 21; Oppermann/Classen/Nettesheim § 27 Rn 64. 1318 EuGH, Rs 152/73 – Sotgiu, Rn 8 f. 1319 Zur steuerlichen Gleichbehandlung vgl etwa EuGH, Rs C-152/03 – Ritter-Coulais, Rn 34 ff; vgl auch Dauses/Ludwigs/Hailbronner D.I Rn 193 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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aufenthalt im Empfangsstaat, wenn der Arbeitnehmer in das Rentenalter oder den Vorruhestand eintritt und sich vorher mindestens drei Jahre im Aufnahmestaat aufgehalten hat. Dabei muss er im Empfangsstaat in den letzten zwölf Monaten einer Erwerbstätigkeit nachgegangen sein (lit a) oder sich mindestens zwei Jahre im Aufnahmestaat aufgehalten haben und gezwungen gewesen sein, die Arbeit wegen dauerhafter Arbeitsunfähigkeit aufzugeben (lit b)1320 oder nach drei Jahren Erwerbstätigkeit und Aufenthalt im Aufnahmestaat eine Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat aufgenommen haben und dorthin gependelt sein (lit c).1321 Das Aufenthaltsrecht gilt ebenfalls für die Familienangehörigen des Unionsbürgers (Art 17 III RL).1322 Verstirbt der Arbeitnehmer vor dem Erwerb des Daueraufenthaltsrechts, haben seine Angehörigen ein Verbleiberecht, sofern sich der Arbeitnehmer bis zu seinem Tod seit zwei Jahren im Aufnahmestaat aufgehalten hat, der Tod infolge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit eingetreten ist oder der überlebende Ehegatte durch Eheschließung mit dem Arbeitnehmer die Staatsangehörigkeit des Aufnahmestaats verloren hat (Art 17 IV RL). Entfällt die Eigenschaft als Wanderarbeitnehmer aus anderen Gründen, kann sich ein weiteres Aufenthaltsrecht aus der Unionsbürgerschaft ergeben.1323 Bei der Migration von Arbeitskräften stellt sich unweigerlich auch die Frage 375 nach ihrem Zugang zu den sozialen Leistungen des Aufnahmestaates als notwendigem Korrelat. Ökonomisch hat dieser Aspekt einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Wanderungsentscheidung selbst, da sie maßgeblich vom Netto- und nicht vom Bruttoentgelt bestimmt wird. Dazu zählen einerseits Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, andererseits aber auch Sozialleistungen im weiteren Sinne.1324 Art 7 II VO 492/2011 bestimmt in diesem Zusammenhang, dass Wanderarbeitnehmern die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie den inländischen Arbeitnehmern zustehen,1325 sofern die Aufenthaltsbedingungen der RL 2004/38 erfüllt sind.1326 Dies umfasst „alle Vergünstigungen, die – gleich ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht – den inländischen Arbeitnehmern hauptsächlich wegen ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen

_____ 1320 Tritt die Arbeitsunfähigkeit aufgrund eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit ein, entfällt unter gewissen Voraussetzungen das Aufenthaltserfordernis. 1321 Nach Art 17 I aE der RL 2004/38 gelten Zeiten unfreiwilliger Arbeitslosigkeit sowie krankheits- oder unfallbedingte Fehlzeiten und Unterbrechungen als Zeiten der Erwerbstätigkeit. 1322 Mit Blick auf Art 8 EMRK und Art 33 GRCh zur Achtung des Familienlebens sind diese Vorschriften weit auszulegen; vgl Oppermann/Classen/Nettesheim § 27 Rn 60. 1323 Hilpold § 12 (in diesem Band) Rn 180 ff; vgl dazu EuGH, Rs C-413/99 – Baumbast, Rn 80 ff. 1324 Wagener/Eger S 319. 1325 vdGroeben/Schwarze/Hatje/Kreuschitz Art 45 AEUV Rn 82 ff. 1326 EuGH, Rs C-333/13 – Dano, Rn 69. Nach Art 24 I RL 2004/38 kann Sozialhilfe in den ersten drei Monaten verwehrt werden. S dazu EuGH, Rs C-67/14 – Alimanovic, Rn 40 ff; Calliess/Ruffert/ Brechmann Art 45 AEUV Rn 73 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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ihres Wohnorts im Inland gewährt werden.“ Ihre Erstreckung auf die Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, „erscheint deshalb als geeignet, deren Mobilität innerhalb der Gemeinschaft zu erleichtern“.1327 Dazu gehört auch die Teilnahme am Unterricht für Kinder der Arbeitnehmer unter den gleichen Bedingungen, wie sie den Staatsangehörigen des Aufnahmestaates zustehen (Art 10 VO 492/2011).1328 Das schließt ein Bleiberecht für die Kinder zum Zwecke der Beendigung der Ausbildung ein, wenn sich der Arbeitnehmer von seiner (drittstaatsangehörigen) Ehefrau trennt und in seinen Heimatstaat zurückkehrt. Daraus fließt auch ein Aufenthaltsrecht für den drittstaatsangehörigen sorgeberechtigten Elternteil.1329 Auch ein Recht auf Gewährung von Ausbildungsförderung1330 oder Familienleistungen ist damit umfasst.1331 Ergänzt werden diese Aspekte durch eine Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit nach Art 48 AEUV.1332 Zu diesem Zwecke wurde die VO 883/20041333 erlassen, die auch auf Selbstständige anwendbar ist.1334 Diese VO gilt nach Art 2 etwa für Leistungen bei Krankheit, Invalidität, im Alter, bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, bei Arbeitslosigkeit sowie für Familienleistungen. Ein wichtiges Element ist insoweit die Zusammenrechnung der Versicherungszeiten in verschiedenen Mitgliedstaaten (Art 6). Anwendbar ist regelmäßig das Recht des Beschäftigungsstaates (Art 11 III).1335 Es handelt sich hierbei aber nicht um eine Harmonisierungsmaßnahme. Die Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme obliegt – unter Achtung des Unionsrechts, vor allem der Grundfreiheiten – weiterhin den Mitgliedstaaten.1336

_____ 1327 EuGH, Rs 249/83 – Hoeckx, Rn 20; Rs C-85/96 – Martínez Sala, Rn 25; vgl auch Ehlers/Becker § 9 Rn 22 f; ausf Calliess/Ruffert/Brechmann Art 45 AEUV Rn 62 ff; Fuchs/Fuchs, Einführung Rn 12 ff sowie Teil II. 1328 EuGH, Rs 9/74 – Casagrande, Rn 3; verb Rs 389/87 ua – Echternach, Rn 21 ff; Rs 42/87 – Kommission / Belgien, Rn 10. 1329 EuGH, Rs C-413/99 – Baumbast, Rn 47 ff, 68 ff. 1330 EuGH, Rs C-308/89 – Di Leo, Rn 12 ff; Rs C-3/90 – Bernini, Rn 28; Rs C-337/97 – Meeusen, Rn 22; Rs C-46/12 – N., Rn 48 ff. 1331 EuGH, Rs C-237/94 – O’Flynn, Rn 14 (Bestattungsgeld); Rs C-85/96 – Martínez Sala, Rn 28, 49 (Erziehungsgeld); Rs C-87/99 – Zurstrassen, Rn 19 ff (Ehegattensplitting); ausf Grabitz/Hilf/ Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 296. 1332 Dazu Ehlers/Becker § 9 Rn 25 f; Müller-Graff EnzEuR 4/Krebber § 2 Rn 62 ff. 1333 ABl 2004 L 166/1 idF der VO 2017/492, ABl 2017 L 76/13. S dazu vdGroeben/Schwarze/Hatje/ Langer Art 48 AEUV Rn 21 ff. 1334 Davy § 18 (in diesem Band) Rn 97 ff. 1335 Ausf Eichenhofer S 73 ff; Oppermann/Classen/Nettesheim § 27 Rn 71 ff; Calliess/Ruffert/ Brechmann Art 48 AEUV Rn 4 ff. 1336 Vgl EuGH, verb Rs C-570/07 ua – Blanco Pérez, Rn 43. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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c) Beeinträchtigung 376 Die Vorschriften zur Arbeitnehmerfreizügigkeit verpflichten zunächst die Union und

die Mitgliedstaaten (Rn 292 ff). Art 7 IV VO 492/2011 bestimmt darüber hinaus, dass Klauseln in Tarif- oder Einzelarbeitsverträgen nichtig sind, die wegen der Staatsangehörigkeit diskriminieren (unmittelbare Drittwirkung).1337 Demnach sind auch Private, vor allem privatrechtliche Vereinigungen,1338 in gewissem Umfang an die Arbeitnehmerfreizügigkeit gebunden und dürfen keine Maßnahmen treffen, die mit dem Binnenmarkt unvereinbar sind. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer ist im Vertrag vorrangig als Diskriminie377 rungsverbot ausgestaltet (Art 45 II AEUV). Konkretisiert wird dies durch die Vorschriften der VO 492/2011 über den Zugang zu (Art 1–6) und die Ausübung von Beschäftigungen (Art 7–9). Sie ergänzt damit auch das Diskriminierungsverbot hinsichtlich des Entgelts zwischen Mann und Frau nach Art 157 AEUV und ist so Teil eines umfassenden Diskriminierungsverbots auf Unionsebene (Art 18 AEUV, Art 21 GRCh). Die schwerste Art des Eingriffs im Bereich der direkten Diskriminierungen stellen dabei Einreiseverbote oder Ausweisungen dar. 1339 Vorbehaltlich der Bereichsausnahme (Rn 368) ist es den Mitgliedstaaten auch verboten, die Zulassung zu bestimmten Berufen auf eigene Staatsangehörige zu beschränken1340 oder ausländischen Staatsangehörigen den Zugang zu Sozialwohnungen zu verweigern.1341 Auch eine unterschiedliche steuerliche Behandlung in- und ausländischer Arbeitnehmer kann diskriminierend sein. Hingegen liegt keine offene Diskriminierung vor, wenn nur eigene Staatsangehörige in einer Nationalmannschaft spielen dürfen, da der Nationalmannschaft eine wichtige Bedeutung für die „nationale Identität [und] die Solidarität mit dem Breitensport“ zukommt.1342 Als indirekte Diskriminierungen können sich namentlich Wohnsitzerforder378 nisse auswirken. Obwohl sie an sich für alle ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit gelten, erschweren sie es Angehörigen eines anderen Staates, vor allem in Grenzregionen, eine Tätigkeit auszuüben.1343 Auch im Steuer- und Sozialrecht finden sich oft Maßnahmen, die mittelbar diskriminierend wirken, wenn Wanderarbeiter faktisch stärker betroffen sind als Inländer.1344 Gleiches gilt für die Nichtberücksichtigung

_____ 1337 So etwa EuGH, Rs C-281/98 – Angonese, Rn 30 f; Rs C-94/07 – Raccanelli, Rn 43 f; zur Arbeitnehmerfreizügigkeit vgl auch Ehlers/Becker § 9 Rn 46. 1338 Oppermann/Classen/Nettesheim § 27 Rn 31; Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 946 f. 1339 Vgl EuGH, Rs C-100/01 – Olazabal, Rn 40 mwN. 1340 Ausf Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 247. 1341 EuGH, Rs 63/86 – Kommission / Italien. 1342 Kommission, Weißbuch Sport, KOM(2007) 391, S 15 f. 1343 EuGH, Rs C-350/96 – Clean Car; Rs C-162/99 – Kommission / Italien, Rn 16 ff. 1344 Vgl etwa EuGH, Rs 152/73 – Sotgiu, Rn 11 ff (Trennungsgeld); Rs 41/84 – Pinna (Familienbeihilfe); Rs C-237/94 – O’Flynn (Bestattungsgeld); Rs C-302/98 – Sehrer (Krankenversicherungsbeitrag); Rs C-400/02 – Merida (Berechnung von Sozialleistungen); Rs C-258/04 – Ioannidis, Rn 28 Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

VI. Personenverkehrsfreiheiten | 1079

von Dienstzeiten, die im Ausland erbracht wurden, etwa bei Bewerbungen im Inland.1345 Mittelbar diskriminierend ist es auch, an eine bestimmte (innerstaatliche) Berufsqualifikation als Zugangsvoraussetzung anzuknüpfen, ohne dabei im Ausland erworbene Abschlüsse zu berücksichtigen;1346 dies gilt ebenso mit Blick auf formal neutrale Maßnahmen bei der Besetzung von solchen Arbeitsstellen, die regelmäßig mit ausländischen Arbeitnehmern besetzt werden (etwa Fremdsprachenlektoren).1347 Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist darüber hinaus als Beschränkungsverbot zu 379 verstehen. Nach der Rspr des EuGH „stellt jede nationale Regelung eine Behinderung der Arbeitnehmerfreizügigkeit dar, die […] geeignet ist, die Ausübung dieser […] Grundfreiheit durch einen Angehörigen eines Mitgliedstaats zu behindern oder weniger attraktiv zu machen“.1348 Eine Beeinträchtigung stellt etwa die Pflicht zur Genehmigung der Führung von im Ausland erworbenen Titeln dar, welche aber gerechtfertigt sein kann.1349 Keine Beeinträchtigung ist es hingegen, den Zugang zu einer bestimmten Beschäftigung von einem allgemeingültigen Auswahlverfahren abhängig zu machen. Bei der Ausgestaltung müssen aber ggf bereits (auch im Ausland) erworbene Qualifikationen berücksichtigt werden.1350 Auch die Restriktion des Immobilienerwerbs kann in ihrer Wirkung die Arbeitnehmerfreizügigkeit beschränken.1351 Im Bereich des Sports liegt eine Beschränkung etwa vor, wenn durch Regelungen des Sportverbandes ein sog „Espoir“-Spieler nach Abschluss seiner Ausbildungszeit faktisch verpflichtet ist, seinen ersten Vertrag als Berufsspieler mit dem auszubildenden Verein abzuschließen, um Erstattungs- bzw Schadensersatzzahlungen zu vermeiden.1352 Allerdings ist nicht jeder Nachteil infolge der Wanderarbeitnehmerschaft (etwa Steuerunterschiede) eine rechtfertigungsbedürftige Beschränkung.1353

_____ (Überbrückungsgeld); Rs C-20/16 – Bechtel, Rn 37 ff (Sozialbeiträge, EStG); Rs C-496/15 – Eschenbrenner, Rn 35 ff (Insolvenzgeld). 1345 Vgl etwa EuGH, Rs C-419/92 – Scholz; Rs C-15/96 – Schöning. 1346 Dazu EuGH, Rs C-285/01 – Burbaud; Rs C-234/97 – Fernández de Bobadilla; vgl auch Rs C19/92 – Kraus; Rs C-379/11 – Caves Krier Frères Sàrl, Rn 42 ff. 1347 EuGH, Rs 33/88 – Allué, Rn 11 ff (Fremdsprachenlektoren). 1348 EuGH, Rs C-55/94 – Gebhard, Rn 37; Rs C-285/01 – Burbaud Rn 95; vgl auch Rs C-19/92 – Kraus, Rn 32; Rs C-415/93 – Bosman, Rn 94; Rs C-18/95 – Terhoeve, Rn 37. Vgl auch Haratsch/ Koenig/Pechstein Rn 959 f. 1349 EuGH, Rs C-19/92 – Kraus. 1350 EuGH, Rs C-285/01 – Burbaud, Rn 96 ff; vgl dazu Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 45 AEUV Rn 281 ff. 1351 Vgl jüngst EuGH, verb Rs C-197/11 ua – Libert, Rn 38 ff. 1352 EuGH, Rs C-325/08 – Olympique Lyonnais, Rn 35, 37. 1353 EuGH, Rs C-496/15 – Eschenbrenner, Rn 45 f mwN; Rs C-187/15 – Pöpperl, Rn 23 f; Rs C-566/15 – Erzberger, Rn 34. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1080 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

d) Rechtfertigung 380 Art 45 III AEUV bestimmt, dass die dort aufgezählten Rechte nur „vorbehaltlich der

aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen“ gewährt werden. Konkretisierend bestimmt Art 27 II der RL 2004/38, dass bei Geltendmachung der Rechtfertigungsgründe ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein darf.1354 Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.1355 Es „muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.“1356 Dies beinhaltet, dass weder strafrechtliche Register systematisch abgefragt noch ärztliche Untersuchungen systematisch angeordnet werden dürfen. Wie auch im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit (Rn 349)1357 ist der Begriff der 381 öffentlichen Sicherheit und Ordnung so zu verstehen, dass er als Rechtfertigungsgrund nur vorgebracht werden kann, wenn „außer der Störung der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung darstellt, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt“.1358 Dies betrifft etwa Maßnahmen, „die [die Mitgliedstaaten] insofern bei ihren eigenen Staatsangehörigen nicht anwenden könnten, als sie nicht die Befugnis haben, diese auszuweisen oder ihnen die Einreise in das nationale Hoheitsgebiet zu untersagen“.1359 Unverhältnismäßig, da inkohärent, sind allerdings solche Maßnahmen, die ein Verhalten sanktionieren, das bei eigenen Staatsangehörigen keine repressiven oder anderen tatsächlichen und effektiven Maßnahmen zu seiner Bekämpfung zur Folge hat.1360 Der Rechtfertigungsgrund der öffentlichen Gesundheit im Rahmen von Art 45 III AEUV ist in seiner Konkretisierung durch RL 2004/38 enger gefasst als im Rahmen des Art 36 AEUV. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit darf danach nur aufgrund bestimmter Krankheiten eingeschränkt werden (Art 29 der RL 2004/38). Eine Ausweisung aus Gründen des ordre public ist aber regelmäßig unverhältnismäßig, wenn den Zwecken schon durch eine teilweise (temporäre oder lokale) Beschränkung des Aufenthaltsrechts Rechnung getragen werden kann.1361

_____ 1354 Vgl dazu EuGH, Rs C-348/96 – Calfa, Rn 24 ff. 1355 S dazu EuGH, verb Rs C-316/16 ua – B. 1356 Vgl auch EuGH, Rs 67/74 – Bonsignore, Rn 7; verb Rs C-482/01 ua – Orfanoupolos, Rn 68 ff. 1357 Zum Gedanken der einheitlichen Auslegung der Rechtfertigungsgründe für die einzelnen Grundfreiheiten EuGH, Rs C-158/96 – Kohll, Rn 51. 1358 EuGH, Rs 30/77 – Bouchereau, Rn 33/35; Rs C-363/89 – Roux, Rn 30; Rs C-100/01 – Olazabal, Rn 39. 1359 EuGH, Rs C-100/01 – Olazabal, Rn 40. 1360 EuGH, verb Rs 115/81 ua – Adoui und Cornuaille, Rn 9; Rs C-100/01 –Olazabal, Rn 42. 1361 Vgl EuGH, Rs C-100/01 – Olazabal, Rn 42. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

VI. Personenverkehrsfreiheiten | 1081

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit kann auch aufgrund zwingender Gründe des 382 Allgemeininteresses oder durch Grundrechte1362 eingeschränkt werden. Im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit kann insb die Integrität von Systemen der sozialen Sicherung einen zwingenden Grund darstellen. Im Sport kann der Zweck, die Anwerbung und die Ausbildung junger Spieler zu fördern, ein legitimes Allgemeininteresse darstellen. Rechtfertigen lassen sich damit (verhältnismäßige) Maßnahmen von Sportverbänden, die zur Vermeidung der Erstattung von Ausbildungskosten junge Spieler faktisch dazu verpflichten, ihren ersten Berufsspielervertrag mit ihrem ausbildenden Verein abzuschließen.1363

2. Niederlassungsfreiheit Die Freiheit der Niederlassung (Art 49 ff AEUV) innerhalb der Union soll die Wahl 383 des (ökonomisch) optimalen Unternehmensstandortes ermöglichen.1364 Wie die Arbeitnehmerfreizügigkeit muss das Niederlassungsrecht im Lichte der Wirtschaftsgrundrechte der Art 15 ff GRCh gesehen werden (Rn 18, 254). Zudem gelten im Rahmen der Niederlassungsfreiheit für natürliche Personen die Einreise- und Aufenthaltsrechte der RL 2004/38 sowie die Regelungen zur Sozialversicherung der VO 883/2004, die bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit angesprochen wurden (Rn 375).

a) Anwendungsbereich Der persönliche Anwendungsbereich umfasst einerseits Unionsbürger, die als 384 Selbstständige im EU-Ausland eine Tätigkeit ausüben wollen. Die Annexrechte für Familienangehörige gemäß RL 2004/38 (Rn 291, 367) gelten dabei auch für die Angehörigen von Selbstständigen. Daneben berührt das Niederlassungsrecht insb auch juristische Personen in Form von „Gesellschaften“ (Rn 290). Gerade im Zusammenhang mit der Niederlassungsfreiheit sei nochmals daran erinnert, dass sich die Berechtigten sowohl gegenüber dem Aufnahmestaat als auch gegenüber ihrem Heimatstaat auf den Schutz der Grundfreiheiten berufen können (Rn 293).1365 Nach Art 49 II AEUV und in Abgrenzung zur Dienstleistungsfreiheit umfasst der 385 sachliche Anwendungsberich der Niederlassungsfreiheit „die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen […] nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates für seine

_____ 1362 Vgl dazu Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 968 f. 1363 EuGH, Rs C-415/93 – Bosman, Rn 106, 109; Rs C-325/08 – Olympique Lyonnais, Rn 39, 45; vgl auch Müller-Graff EnzEuR 4/Krebber § 2 Rn 18. 1364 EuGH, Rs C-55/94 – Gebhard, Rn 25. 1365 EuGH, Rs C-251/98 – Baars, Rn 8; Rs C-141/99 – AMID, Rn 21; Rs C-9/02 – de Lasteyrie du Saillant, Rn 42; vgl dazu Ehlers/Tietje § 10 Rn 39, 54; Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 984. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1082 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

eigenen Angehörigen“. Dies beinhaltet „die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit“.1366 Art 49 AEUV umfasst dabei das Recht zur Begründung einer primären sowie einer sekundären Niederlassung (Rn 389 ff). Wie bei der Dienstleistungsfreiheit (Rn 413 f) muss es sich zunächst um eine 386 selbstständige Erwerbstätigkeit handeln. Hier erfolgt die Abgrenzung zu abhängigen Beschäftigungsverhältnissen, die der Arbeitnehmerfreizügigkeit unterfallen (Rn 366). Maßgebliche Beurteilungskriterien sind etwa unternehmerisches Risiko und Selbstbestimmtheit der Tätigkeit.1367 Der Begriff der Erwerbstätigkeit verweist dabei auf eine wirtschaftliche Tätigkeit (Rn 279, 364). Für die Anerkennung von Berufsqualifikationen von Selbstständigen gilt ebenfalls die RL 2005/36 (Rn 428 f). Die Erwerbstätigkeit muss mittels einer festen Einrichtung in einem anderen 387 Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit erfolgen. Gemeint ist damit eine dauerhafte und stabile Eingliederung in die Volkswirtschaft.1368 Dies stellt das wesentliche Unterscheidungsmerkmal der Niederlassungs- zur Dienstleistungsfreiheit dar, die nur vorübergehender Natur ist (Rn 415).1369 Ein Indiz für eine Niederlassung ist der Aufbau einer Infrastruktur im Aufnahmestaat sowie die Dauer der Leistung, ihre Häufigkeit, Regelmäßigkeit oder Kontinuität. Zu diesem Zwecke kann schon ein einfaches Büro ausreichen. Indes kann auch für die Erbringung einer Dienstleistung eine gewisse Infrastruktur nötig sein, ohne dass sich der Berechtigte im Gastland niederlassen will.1370 Im Wesentlichen kommt es also darauf an, ob sich der Erwerbstätige in die Volkswirtschaft des Gastlandes dauerhaft eingliedert.1371 Bei Investitionen (in Unternehmen) gilt es, die Kapital- von der Niederlassungs388 freiheit zu unterscheiden. Dabei ist auf den Gegenstand der betreffenden nationalen Regelung abzustellen.1372 Der EuGH geht – anknüpfend an die Schwerpunktformel (Rn 282) – zumindest in steuerrechtlichen Fragen grundsätzlich von der Einschlägigkeit der Kapitalverkehrsfreiheit aus, es sei denn, dass mit der Investition ein

_____ 1366 EuGH, Rs C-221/89 – Factortame, Rn 20 sowie Art 4 Nr 5 der DienstleistungsRL 2006/123, ABl 2006 L 376/36. 1367 Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 979. 1368 Vgl EuGH, Rs C-201/15 – AGET Iraklis, Rn 50 f; Ehlers/Tietje § 10 Rn 24; ausf Grabitz/Hilf/ Nettesheim/Forsthoff Art 49 AEUV Rn 29 ff. 1369 EuGH, Rs C-70/95 – Sodemare, Rn 23 ff; vgl auch Oppermann/Classen/Nettesheim § 28 Rn 16; Dauses/Ludwigs/Ludwigs E.I Rn 40 ff. 1370 EuGH, Rs C-55/94 – Gebhard, Rn 27; vgl auch EuGH, Rs C-190/95 – ARO Lease, Rn 17 ff; Rs C347/09 – Dickinger, Rn 33 ff. 1371 Ehlers/Tietje § 10 Rn 30, 32; zur Abgrenzung auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 49 AEUV Rn 44 ff. 1372 EuGH, Rs C-196/04 – Cadbury Schweppes, Rn 31–33; Rs C-452/04 – Fidium Finanz, Rn 34, 44–49; Rs C-524/04 – Test Claimants, Rn 27; Rs C-157/05 – Holböck, Rn 22; Rs C-212/09 – Kommission / Portugal, Rn 41; ausf Germelmann EuZW 2008, 596. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

VI. Personenverkehrsfreiheiten | 1083

„sicherer Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft“ einhergeht. In diesem Fall sei die Niederlassungsfreiheit anwendbar.1373 In gesellschaftsrechtlichen Fragen solle jedoch auch bei einem „sicheren Einfluss“ („Goldene Aktien“; Rn 444) die Kapitalverkehrsfreiheit einschlägig bleiben. In der neueren Rspr hat der EuGH diese Unterscheidung zwischen steuer- und gesellschaftsrechtlichen Sachverhalten jedoch relativiert.1374 Allerdings ist eine parallele Anwendung beider Grundfreiheiten nicht per se ausgeschlossen.1375 Hingegen hat er ein Genehmigungserfordernis für den Erwerb von Aktien, die einen bestimmten Einfluss auf die Geschäftsführung und Kontrolle einer strategischen Aktiengesellschaft vermitteln, allein am Maßstab der Niederlassungsfreiheit geprüft.1376 Der Wortlaut des Art 49 AEUV hat zwei Formen der grenzüberschreitenden Nie- 389 derlassung im Blick. Die Freiheit der primären Niederlassungen umfasst die „Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen“, handelt also mit anderen Worten vom grenzüberschreitenden Wechsel der Ansässigkeit. Dabei geht es um die Verlegung oder die Neubegründung der Hauptniederlassung selbstständig erwerbstätiger (natürlicher und juristischer) Personen einschließlich der grenzüberschreitenden Verschmelzung,1377 die die grenzüberschreitende Verlagerung unternehmerischer Tätigkeit meint.1378 Die Hauptniederlassung ist dabei der Ort des wirtschaftlichen Schwerpunktes der Tätigkeiten bzw der Sitz der gesellschaftsrechtlich herrschenden Gesellschaft.1379 Als sekundäre Niederlassung wird demgegenüber die Gründung einer un- 390 selbstständigen betrieblichen Teileinheit (ungeachtet der Rechtsform1380) zum Zwecke der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in diesem Staat auf unbestimmte Zeit1381 verstanden. Abgrenzungsprobleme zur Dienstleistungsfreiheit können sich allerdings dort ergeben, wo es sich bei der vermeintlichen Niederlassung um einen Leistungserbringer (Vertreter oder Vermittler) handelt,

_____ 1373 EuGH, Rs C-251/98 – Baars, Rn 22; Rs C-208/00 – Überseering, Rn 77; Rs C-196/04 – Cadbury Schweppes, Rn 31; Rs C-112/05 – Kommission / Deutschland, Rn 13; Rs C-326/07 – Kommission / Italien, Rn 34; Rs C-543/08 – Kommission / Portugal, Rn 41. 1374 Vgl Ehlers/Tietje § 10 Rn 33; EuGH, Rs C-207/07 – Kommission / Spanien, Rn 36 ff. 1375 EuGH, verb Rs C-515/99 ua – Reisch, Rn 29 f; Rs C-326/07 – Kommission / Italien, Rn 36; Rs C212/09 – Kommission / Portugal, Rn 44. 1376 EuGH, Rs 212/09 – Kommission / Portugal, Rn 98; Rs C-244/11 – Kommission / Griechenland, Rn 21 ff, 30. 1377 EuGH, C-411/03 – SEVIC Systems, Rn 16 ff. 1378 Vgl Ehlers/Tietje § 10 Rn 35; Oppermann/Classen/Nettesheim § 28 Rn 21. 1379 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 49 AEUV Rn 55; Schwarze/Schlag Art 49 AEUV Rn 19; vgl aber EuGH, Rs C-212/97 – Centros, Rn 26 ff (29) zu Scheinsitzen. 1380 EuGH, Rs 270/83 – Kommission / Frankreich, Rn 22; Rs C-307/97 – Saint-Gobain, Rn 42. 1381 EuGH, Rs C-221/89 – Factortame, Rn 20; Rs C-246/89 – Kommission / Vereinigtes Königreich, Rn 21; Rs C-196/04 – Cadbury Schweppes, Rn 54. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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der rechtlich unabhängig tätig wird.1382 Der Gründer der sekundären Niederlassung muss im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates ansässig sein.1383 Ausreichend ist somit bei Selbstständigen nicht allein die Unionsbürgerschaft; vielmehr ist die wirtschaftliche Integration in einer mitgliedstaatlichen Volkswirtschaft erforderlich.1384 Für juristische Personen bedeutet dies, dass sie ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Union haben müssen,1385 was dazu dient, „ihre Zugehörigkeit zur Rechtsordnung eines Mitgliedstaates zu bestimmen“.1386 Die Gründung einer Zweigniederlassung ist umfassend geschützt und darf im Aufnahmestaat nicht von Voraussetzungen abhängig gemacht werden, wie sie dort für die Gründung von Unternehmen gelten.1387 Wird in einem Mitgliedstaat eine Gesellschaft gegründet, um sogleich im Heimatstaat unter Berufung auf die Niederlassungsfreiheit und unter Umgehung der nationalen Gründungsvoraussetzungen eine Zweigniederlassung zu gründen, so liegt darin kein Rechtsmissbrauch.1388 Eine besondere Spannungslage ergibt sich bei der grenzüberschreitenden Sitz391 verlegung im Rahmen der primären Niederlassungsfreiheit mit Blick auf die Beurteilung der Rechtsfähigkeit (und damit der Parteifähigkeit) von Gesellschaften im Rechtsraum des Aufnahmestaates. Dabei stehen sich grundsätzlich zwei Modelle gegenüber. Nach der Gründungstheorie bestimmt sich die Rechtsfähigkeit nach dem Recht des Gründungsstaates, nach der Sitztheorie hingegen nach dem Recht des Landes, in dem die Gesellschaft ihren Sitz hat.1389 Der EuGH hat der noch in Daily Mail1390 vertretenen Sitztheorie insofern eine Absage erteilt, als er in der Rs Überseering entschied, dass der Aufnahmemitgliedstaat verpflichtet ist, „die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit zu achten, die diese Gesellschaft nach dem Recht ihres Gründungsstaates besitzt“.1391 Damit lässt der EuGH in gewissem Umfang auch hier das Herkunftslandprinzip zur Anwendung kommen. Nach der Rspr des EuGH ist allerdings zu unterscheiden, ob es um den Zuzug 392 oder den Wegzug einer Gesellschaft geht, ob eine Maßnahme also vom Heimat-

_____ 1382 Zu dieser Problematik näher Ehlers/Tietje § 10 Rn 36; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 49 AEUV Rn 65. 1383 Ausf Forsthoff S 137 ff. 1384 Vgl EuGH, Rs C-141/99 – AMID, Rn 20 mwN. 1385 EuGH, Rs C-141/99 – AMID, Rn 20. 1386 EuGH, Rs C-212/97 – Centros, Rn 20 mwN; Rs C-167/01 – Inspire Art, Rn 97. 1387 EuGH, Rs C-167/01 – Inspire Art, Rn 143. 1388 EuGH, Rs 79/85 – Segers, Rn 16; Rs C-212/97 – Centros, Rn 29; Rs C-167/01 – Inspire Art, Rn 96. 1389 Vgl Ehlers/Tietje § 10 Rn 67 ff; ausf Müller-Graff EnzEuR 4/Kainer § 4 Rn 15. 1390 EuGH, Rs 81/87 – Daily Mail, Rn 29. 1391 EuGH, Rs C-208/00 – Überseering, Rn 95; Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 988 ff; Kämmerer EuR 2008, 45 (51 ff). Der BGH ist in der Folge von der vorher vertretenen Sitztheorie abgerückt: BGH NJW 2003, 1461; BGH NJW 2005, 1648. Vgl auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 54 AEUV Rn 39 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

VI. Personenverkehrsfreiheiten | 1085

oder vom Aufnahmestaat ausgeht.1392 In Ermangelung einer unionsrechtlichen Harmonisierung gesteht der EuGH den Mitgliedstaaten eine gewisse Autonomie bei der Regelung der rechtsformwahrenden Sitzverlegung zu. Ein Mitgliedstaat muss bei der Sitzverlegung keine ausländischen Gesellschaftsformen akzeptieren. Er muss sich allerdings die nach dem ausländischen Recht bestehende Rechtspersönlichkeit entgegenhalten lassen. 1393 Die Niederlassungsfreiheit gewährt jedoch nicht das Recht, bei Verlegung des satzungsmäßigen Sitzes die Rechtsform des Gründungsstaates beizubehalten. 1394 Eine grenzüberschreitende, zumindest identitätswahrende Umwandlung ist hingegen umfassend geschützt. Hat der Aufnahmestaat Bestimmungen zur Umwandlung erlassen, die für innerstaatliche Gesellschaften gelten, so sind diese auch auf grenzüberschreitende Sachverhalte anzuwenden. Es darf daher nicht verlangt werden, dass sich die Gesellschaft im Gründungsstaat auflöst, um sich im Aufnahmestaat neu zu gründen.1395 Auf grenzüberschreitende Verschmelzungen findet ein eigenes Regime Anwendung.1396 Nach Art 51 I AEUV findet das Kapitel zur Niederlassungsfreiheit keine Anwen- 393 dung auf Tätigkeiten, die „dauernd oder zeitweise mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind“. Die Bereichsausnahme darf sich nur auf das beziehen, „was zur Wahrung der Interessen, die diese Bestimmung den Mitgliedstaaten zu schützen erlaubt, unbedingt erforderlich ist“, wenn EU-Ausländer also „lediglich von denjenigen Tätigkeiten ferngehalten werden, die, in sich selbst betrachtet, eine unmittelbare und spezifische Teilnahme an der Ausübung öffentlicher Gewalt darstellen“.1397 Danach dürfen nicht per se ganze Berufe von der Niederlassungsfreiheit ausgenommen werden, wenn lediglich eine abtrennbare Tätigkeit mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden ist.1398 Bei dieser Beurteilung verbleibt den Mitgliedstaaten ein gewisser Spielraum.

_____ 1392 Vgl dazu ausf Müller-Graff EnzEuR 4/Kainer § 4 Rn 41 ff; vgl auch Mörsdorf EuZW 2009, 97; Dauses/Ludwigs/Ludwigs E.I Rn 123 f, 125 ff; Kindler EuZW 2012, 888 (888); Franz EuZW 2016, 930; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 54 AEUV Rn 25 ff. 1393 EuGH, Rs C-208/00 – Überseering, Rn 70 ff. 1394 EuGH, Rs 81/87 – Daily Mail, Rn 24 f; Rs C-210/06 – Cartesio, Rn 124; Rs C-371/10 – National Grid, Rn 27; Zimmer/Neandrup NJW 2009, 545; Oppermann/Classen/Nettesheim § 28 Rn 25. 1395 Vgl EuGH, Rs C-411/03 – SEVIC Systems, Rn 20 ff; Rs C-210/06 – Cartesio, Rn 112 f; Rs C-378/10 – VALE, Rn 41. Dazu Thiermann EuZW 2012, 209; Kindler EuZW 2012, 888. S auch EuGH, Rs C-106/16 – Polbud, Rn 29 ff und dazu Stelmanszczyk EuZW 2017, 890; S nunmehr den Vorschlag COM(2018) 241, Art 1, zur grenzüberschreitenden Umwandlung. 1396 Zum gesamten s Art 87 ff der RL 2017/1132, ABl 2017 L 169/46; s auch Wagener/Eger S 353 ff; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 54 AEUV Rn 29 ff; Thiermann passim. 1397 EuGH, Rs 2/74 – Reyners, Rn 45; Rs C-42/92 – Thijssen, Rn 8; Rs C-114/97 – Kommission / Spanien, Rn 34 f. 1398 EuGH, Rs 2/74 – Reyners, Rn 46; C-42/92 – Thijssen, Rn 8; C-283/99 – Kommission / Italien, Rn 20. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1086 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

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Der Begriff der „Ausübung öffentlicher Gewalt“ ist funktional deckungsgleich mit der „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung“ (Art 45 IV AEUV; Rn 368).1399 Nicht darunter fällt etwa der Bereich der Planung, Software und Verwaltung von Datenverarbeitungssystemen für Rechnungen der öffentlichen Verwaltung.1400 Die Bereichsausnahme gilt zudem nicht für selbstständige Rechtsanwälte,1401 bestimmte Arten von Wirtschaftsprüfern,1402 (deutsche) Notare1403 oder private Sicherheitsunternehmen.1404

b) Beeinträchtigung 395 Bereits im Jahre 1962 erließ der Rat ein „Allgemeines Programm zur Aufhebung

der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit“,1405 das eine Reihe von unvereinbaren Beeinträchtigungen identifiziert (Abschnitt III) und auf das sich der EuGH zur Auslegung des Art 49 AEUV bezieht.1406 Art 49 AEUV verbietet zunächst alle offenen Diskriminierungen, also solche 396 Maßnahmen, die eine unterschiedliche Behandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit selbstständiger Erwerbstätiger oder des Sitzes einer Gesellschaft beinhalten.1407 Darunter fällt es insb, EU-Ausländern den Zugang zu bestimmten Berufen zu verwehren.1408 Ebenso zählt dazu die unterschiedliche Besteuerung von nicht realisierten Wertzuwächsen bei einer Sitzverlegung in Abhängigkeit davon, ob der Sitz nur innerhalb des Inlandes oder ins Ausland verlegt wird.1409 Art 55 AEUV ordnet zudem die Gleichstellung aller Unionsbürger hinsichtlich der Kapitalbeteiligung an Gesellschaften an. Zudem gilt auch für die Niederlassungsfreiheit das Verbot versteckter Diskrimi397 nierungen. Speziell in steuerrechtlichen Fragen sind solche mittelbar diskriminierenden Beeinträchtigungen anzutreffen.1410 Darunter fallen insb Wohnsitzerfordernis-

_____ 1399 AA Ehlers/Tietje § 10 Rn 44; ähnlich Oppermann/Classen/Nettesheim § 28 Rn 27; Grabitz/Hilf/ Nettesheim/Forsthoff Art 51 AEUV Rn 2 ff. 1400 EuGH, Rs C-3/88 – Kommission / Italien, Rn 13. 1401 EuGH, Rs 2/74 – Reyners. 1402 EuGH, Rs C-42/92 – Thijssen. 1403 EuGH, Rs C-54/08 – Kommission / Deutschland, Rn 73 ff. 1404 EuGH, Rs C-114/97 – Kommission / Spanien; Rs C-283/99 – Kommission / Italien, Rn 22. 1405 ABl 1962 P2 S 36 ff. 1406 Vgl etwa EuGH, Rs C-337/97 – Meeusen, Rn 27. 1407 Zahlreiche Bsp bei Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 49 AEUV Rn 80. 1408 EuGH, Rs C-54/08 – Kommission / Deutschland, Rn 117. 1409 EuGH, Rs C-38/10 – Kommission / Portugal. Vgl im Steuerrecht auch EuGH, Rs C-170/05 – Denkavit, Rn 39. 1410 Vgl Rs C-371/10 – National Grid, Rn 34 ff; Rs C-18/11 – Philips Electronics UK; Rs C-123/11 – A; vgl dazu Mörsdorf EuZW 2012, 296. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

VI. Personenverkehrsfreiheiten | 1087

se für natürliche Personen.1411 Dies gilt auch für Ansässigkeitsvoraussetzungen, die zu einer unterschiedlichen Anrechenbarkeit bestimmter Ausgaben auf die Besteuerungsgrundlage führen,1412 oder letztlich diskriminierend angewandte Regelungen zur Steuerrückerstattung.1413 Auch im gesellschaftsrechtlichen Bereich sind solche Problemstellungen anzutreffen, etwa wenn es um die Wahl der Niederlassungsform geht. Darüber hinaus ergibt sich schon aus dem Wortlaut des Art 49 AEUV ein Verbot 398 jeglicher Beschränkungen der freien Niederlassung,1414 die den Zugang zum Markt behindern (Rn 307).1415 Die Niederlassungsfreiheit bezweckt nämlich keine unionsweite Harmonisierung des nationalen Wirtschafts- und Unternehmensrechts. Beschränkungen können vor allem daraus resultieren, dass für Niederlassungen ein Genehmigungserfordernis besteht, wie es etwa unter Gesichtspunkten des wirtschaftlichen und sozialen Bedarfs für Apotheken besteht.1416 Beschränkungen können sich auch daraus ergeben, dass zwar nicht die Niederlassung als solche beeinträchtigt wird, aber etwa der Immobilienerwerb als notwendiger Annex gewissen Restriktionen unterworfen ist.1417 Unterschiedliche Regelungen in den einzelnen Mitgliedstaaten, namentlich im Steuer- oder Gesellschaftsrecht, stellen für sich genommen noch keine Beschränkungen dar.1418

c) Rechtfertigung Gemäß Art 52 AEUV können Beeinträchtigungen, aus Gründen der öffentlichen 399 Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sein. Dies sind die gleichen Rechtfertigungsgründe, wie sie nach Art 45 III AEUV und RL 2004/38 auch für die Arbeitnehmerfreizügigkeit gelten (Rn 381), und daher in Übereinstimmung hiermit auszulegen. Der Zusatz, dass es sich um eine „Sonderregelung für Ausländer“ handelt, verweist auf Maßnahmen des nationalen Ausländerrechts. Dem Wortlaut nach vermögen diese Gründe nur Maßnahmen zu rechtfertigen, die sich auf In- und Ausländer unterschiedlich auswirken. Gleichwohl hat sie der EuGH a maiore ad minus auch auf unterschiedslos wirkende Maßnahmen angewandt.1419

_____ 1411 Vgl etwa EuGH, Rs C-111/91 – Kommission / Luxemburg; Rs C-203/98 – Kommission / Belgien, Rn 13, 15. 1412 EuGH, Rs C-254/97 – Baxter; Rs C-311/97 – Royal Bank of Scottland. 1413 EuGH, Rs C-330/91 – Commerzbank. 1414 Kritisch Ehlers/Tietje § 10 Rn 55. 1415 Umfangreiche Nachw hierzu bei Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 49 AEUV Rn 97 ff. 1416 Vgl EuGH, Rs C-531/06 – Kommission / Italien, Rn 44; verb Rs C-570/07 ua – Blanco Pérez, Rn 54. 1417 Vgl etwa EuGH, verb Rs C-197/11 ua – Libert, Rn 38 ff. 1418 Vgl Oppermann/Classen/Nettesheim § 28 Rn 10. 1419 Streinz Rn 867 unter Verweis auf EuGH, Rs C-36/02 – Omega, Rn 28; Haratsch/Koenig/ Pechstein Rn 1008. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1088 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

400

Darüber hinaus sind auch zwingende Gründe des Allgemeininteresses anerkannt.1420 Dazu zählen etwa der Schutz der Interessen der Gläubiger, der Minderheitsgesellschafter oder der Arbeitnehmer einer Gesellschaft1421, aber auch des Fiskus. 1422 Weiterhin kann die Berufung auf die Erhaltung der Lauterkeit des Handelsverkehrs und der Wirksamkeit der Steuerkontrollen als zwingende Gründe des Allgemeinwohls eine Beeinträchtigung der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen.1423 Der Verbraucherschutz ist, wie im Rahmen der anderen Grundfreiheiten, ebenfalls als legitimes Ziel anerkannt worden.1424 Auch der Schutz der Gesundheit kann, etwa mit Blick auf die Niederlassung von Apotheken, ein zwingendes Allgemeinwohlinteresse darstellen.1425

d) Europäisches Gesellschaftsrecht 401 Um den unterschiedlichen rechtlichen Gegebenheiten in den einzelnen Mitglied-

staaten im Bereich des Gesellschaftsrechts zu begegnen,1426 sind auf Unionsebene eine Reihe von Harmonisierungsmaßnahmen erlassen worden. Eine ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage findet sich in Art 50 AEUV. Bedeutend ist in dieser Hinsicht die Befugnis der Koordinierung von Schutzmaßnahmen im Interesse der Gesellschafter und Dritter (Abs 2 lit g).1427 Daneben sind eigene, „europäische“ Gesellschaftsformen geschaffen worden. 402 Die Schaffung supranationaler Gesellschaftsformen stützt sich regelmäßig auf die Flexibilitätsklausel des Art 352 AEUV (Rn 134). Als Ausfluss des supranationalen Charakters dieser Regelungen sind an solchen Gesellschaften dann auch grundsätzlich natürliche oder juristische Personen aus mindestens zwei Mitgliedstaaten zu beteiligen. Zudem folgt daraus, dass diese Gesellschaften ihre rechtliche Existenz nicht mehr aus der nationalen, sondern aus der Rechtsordnung der Union herleiten und so den damit verbundenen Problemen – insb der Frage der Sitzverlegung (Rn 391) – begegnet werden kann. Gleichzeitig haben die Unionsrechtsakte zumeist fragmentarischen Charakter, so dass in Einzelfragen auf das jeweilige einzelstaatli-

_____ 1420 Zahlreiche Bsp bei Dauses/Ludwigs/Ludwigs E.I Rn 106. 1421 Rs C-201/15 – AGET Iraklis, Rn 73 f mwN. 1422 Vgl EuGH, Rs C-208/00 – Überseering, Rn 92; Rs C-411/03 – SEVIC Systems, Rn 28; Rs C378/10 – VALE, Rn 39; Rs C-106/16 – Polboud, Rn 54. 1423 Vgl EuGH, Rs C-167/01 – Inspire Art, Rn 140; Rs C-411/03 – SEVIC Systems, Rn 28; Rs C-378/10 – VALE, Rn 39. 1424 Vgl etwa EuGH, Rs C-442/02 – CaixaBank France, Rn 21. 1425 EuGH, Rs C-531/06 – Kommission / Italien, Rn 51 ff; verb Rs C-570/07 ua – Blanco Pérez, Rn 63. 1426 Vgl bereits das Weißbuch über die Vollendung des Binnenmarktes, KOM(85) 310, Ziff 133 ff. 1427 Ausf Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art 49 AEUV Rn 11 ff; ferner Dauses/Ludwigs/Kalss/ Klampfl E.III Rn 29. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

VI. Personenverkehrsfreiheiten | 1089

che Recht zurückgegriffen werden muss, was seinerseits zu einem Wettbewerb der Systeme führt (Rn 168 f, 251), weitere Harmonisierungsschritte aber wohl unumgänglich macht. Die Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWIV)1428 hat den 403 Zweck, „die wirtschaftliche Tätigkeit ihrer Mitglieder zu erleichtern oder zu entwickeln, um es ihnen zu ermöglichen, ihre eigenen Ergebnisse zu steigern“ (5. Erwägungsgrund der VO), nicht jedoch Gewinn zu erzielen. Die EWIV hat daher nur „Hilfscharakter“ und ist kein Zusammenschluss von Unternehmen, sondern ein Mittel zur Kooperation. Taugliche Zwecke sind etwa Forschung und Entwicklung, Einkauf und Vertrieb und Werbung oder Schulung von Mitarbeitern. Mitgliedsfähig sind grundsätzlich alle juristischen Personen iSv Art 54 II AEUV und solche natürlichen Personen, die eine gewerbliche, kaufmännische, handwerkliche, landwirtschaftliche oder freiberufliche Tätigkeit in der Union ausüben (Art 4). Die Verleihung von Rechtspersönlichkeit bleibt dem nationalen Gesetzgeber vorbehalten. Die Europäische Gesellschaft (Societas Europaea – SE)1429 soll Gesellschaften 404 aus verschiedenen Mitgliedstaaten die Verschmelzung oder Gründung einer Holding oder Tochter auf europäischer Ebene ermöglichen (Rn 135). Die Gesellschaft besitzt Rechtspersönlichkeit und ein festes, in Aktien zerlegtes Stammkapital. Sie steht in ihrer Behandlung einer AG des Sitzstaates gleich (Art 10 der VO). Diese Form der „Europäischen Aktiengesellschaft“ soll es insb multinationalen Großunternehmen ermöglichen, innerhalb des Binnenmarkts mit einer einzigen Gesellschaft oder einheitlichen Konzerngesellschaften zu operieren, steht grundsätzlich aber auch KMU offen. Mitgliedsfähig sind vollumfänglich Aktiengesellschaften, mit Abstrichen auch sonstige juristische Personen iSv Art 54 II AEUV und natürliche Personen. Hauptzweck einer Europäischen Genossenschaft (Societas Cooperativa Euro- 405 paea – SCE)1430 ist es, den Bedarf ihrer Mitglieder zu decken und/oder deren wirtschaftliche und/oder soziale Tätigkeiten zu fördern, etwa durch Abschluss von Vereinbarungen mit ihren Mitgliedern über die Lieferung von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen (Art 1 II der VO). Sie verfügt über Rechtspersönlichkeit. Mitglieder können dabei nicht nur nationale Genossenschaften selbst, sondern auch andere Gesellschaften oder gar natürliche Personen sein. Mitgliederzahl und

_____ 1428 VO 2137/85, ABl 1985 L 199/1; in Dtl umgesetzt durch das EWIV-AusführungsGes v 14.4.1998, BGBl I, S 514. Vgl dazu ausf Habersack/Verse § 12; Teichmann Münch Hdb GesR VI § 48. 1429 VO 2157/2001, ABl 2001 L 294/1 und RL 2001/86, ABl 2001 L 294/22; in Dtl umgesetzt durch das SE-EinführunsGes v 22.12.2004, BGBl I, S 3675. Vgl dazu ausf Habersack/Verse § 13; Leible/Reichert/Teichmann Münch Hdb GesR VI § 49; Grundmann § 29. 1430 VO 1435/2003, ABl 2003 L 207/1 und RL 2003/72, ABl 2003 L 207/25; in Dtl umgesetzt durch das SCE-AusführungsGes v 14.8.2006, BGBl I, S 1911. Vgl ausf dazu Habersack/Verse § 14; Leible/ Reichert/Teichmann Münch Hdb GesR VI § 51. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1090 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

Grundkapital sind dabei ohne Satzungsänderung veränderlich (Art 1 II und 3 V der VO). Noch nicht realisiert ist die von der Kommission vorgeschlagene, einer GmbH 406 ähnliche Europäische Privatgesellschaft (Societas Privata Europaea – SPE).1431 Momentan liegt dieses Vorhaben allerdings brach. VII. Dienstleistungsfreiheit VII. Dienstleistungsfreiheit 407 Neben dem freien Verkehr materieller Güter (Waren) garantiert der AEUV auch die

freie Zirkulation immaterieller Güter in Form von Dienstleistungen. Der Vertrag stellt zwar auf Dienstleistungserbringer und somit einerseits auf den freien Verkehr des Produktionsfaktors Arbeit ab, funktional können die Dienstleistungen, wegen ihrer Ähnlichkeit zu Waren, andererseits aber (auch) den Produktverkehrsfreiheiten zugeordnet werden.1432 Dienstleistungen unterscheiden sich in ökonomischer Sicht von Waren unter verschiedenen Aspekten. Mit ihrer Erbringung, also ihrer „Herstellung“, wird eine Dienstleistung gleichzeitig „verbraucht“. Sie ist nicht handelbar, transportierbar oder lagerbar. Zudem ist regelmäßig eine räumliche Nähe zwischen Anbieter und Empfänger nötig, etwa bei ärztlichen Behandlungen oder touristischen Angeboten. Schließlich sind Dienstleistungen zu einem höheren Grad personengebunden und stützen sich somit stärker auf geistiges Kapital und bestimmte Qualifikationen des Personals. Sie können anders als die Produktion von Waren nicht in einem erheblichen Maß durch den Einsatz von Maschinen oder Anlagen erbracht werden.1433 Gleichzeitig steigt die Bedeutung der Dienstleistungen an der gesamtwirt408 schaftlichen Wertschöpfung kontinuierlich. Dies gründet sich einerseits auf wachsende Einkommen und einer damit verbundenen höheren Nachfrage nach (hochwertigen) Dienstleistungen (Tourismus, Unterhaltung etc). Andererseits erbringt auch der öffentliche Sektor vermehrt Dienste, etwa in den Bereichen Bildung und Gesundheit. Weiterhin führt eine unternehmensinterne und internationale Arbeitsteilung zur Ausweitung des Dienstleistungssektors: spezialisierte Dienstleistungen werden ausgelagert („Outsourcing“), einfache Tätigkeiten werden in Niedriglohnländer verlagert, während anspruchsvolle Dienstleistungen in den Industrieländern verbleiben. Schließlich führt der durch Liberalisierung im Binnenmarkt hervorgerufene Wettbewerb etwa im Post-, Telekommunikations- oder Verkehrssektor zu einem Anwachsen des Dienstleistungsangebots.1434

_____ 1431 KOM(2008) 396; vgl dazu ausf Habersack/Verse § 15; Leible/Reichert/Teichmann Münch Hdb GesR VI § 50; Keil passim. 1432 Vgl auch Dauses/Ludwigs/Ludwigs E.I Rn 147. 1433 Brasche S 139. 1434 Vgl Brasche S 140 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

VII. Dienstleistungsfreiheit | 1091

1. Anwendungsbereich Die Dienstleistungsfreiheit schützt nach Art 56 I AEUV innerhalb der Union jede 409 grenzüberschreitende Dienstleistung. Auf diese Grundfreiheit können sich die Unionsbürger als Dienstleistungserbringer oder -empfänger berufen, wobei es ausreichend, aber auch notwendig ist, dass der Dienstleister die Unionsbürgerschaft besitzt.1435 Sie müssen allerdings auch innerhalb des Unionsgebiets ansässig sein. Drittstaatsangehörige sind vom persönlichen Anwendungsbereich grundsätzlich nicht umfasst,1436 es besteht aber die Möglichkeit, den Anwendungsbereich auf die in der Union ansässigen Drittstaatsangehörigen im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zu erweitern (Art 56 II AEUV). Allerdings findet die MobilitätsRL 2004/38 auch auf Selbstständige Anwendung, so dass unter gewissen Voraussetzungen auch deren (drittstaatsangehörige) Familienmitglieder daraus Rechte ableiten können. Besonderheiten können sich aus internationalen Abkommen ergeben (Rn 291).1437 Juristische Personen sind über den Verweis in Art 62 AEUV ebenfalls geschützt. Wesentlich ist der Begriff der Dienstleistung.1438 Aus der Umschreibung in Art 57 410 AEUV kann folgende Definition extrahiert werden, mit der die Dienstleistungsfreiheit von den anderen Grundfreiheiten abgegrenzt werden kann.1439 Danach sind Dienstleistungen selbstständig erbrachte, nicht-körperliche Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden und von vorübergehender Dauer sind. Aufgrund ihrer Stellung zwischen Personen- und Produktverkehr richtet sich im konkreten Fall der Blick auf den Dienstleistungserbringer (zB Qualifikationen) oder auf die Dienstleistung als Produkt. Nach Art 56 I AEUV ist auch für die Dienstleistungsfreiheit ein grenzüber- 411 schreitendes Element nötig. Dabei lassen sich vier Arten der Dienstleistungserbringung unterscheiden. Überquert der Dienstleistungserbringer die Grenze, handelt es sich um die aktive Form der Dienstleistungsfreiheit. Kommt der Empfänger zum Erbringer und überquert dabei die Grenze, handelt es sich hingegen um einen Fall der passiven Dienstleistungsfreiheit.1440 Ferner ist es möglich, dass eine Dienstleistung erbracht wird, ohne dass der Erbringer oder der Empfänger ihren Ort verlassen und somit keiner von ihnen in eigener Person die Grenze überschreiten muss. Dies ist etwa bei Dienstleistungserbringung über das Internet möglich, betrifft aber

_____ 1435 So EuGH, Rs C-290/04 – Scorpio, Rn 62 ff (68); vgl auch Ehlers/Pache § 11 Rn 38; aA Grabitz/ Hilf/Nettesheim/Randelzhofer/Forsthoff Art 56/57 AEUV Rn 15, 23 f. 1436 Vgl dazu EuGH, Rs C-452/04 – Fidium Finanz, Rn 47; näher Ehlers/Pache § 11 Rn 36 ff. 1437 EuGH, Rs C-60/00 – Carpenter. 1438 Zahlreiche Bsp aus der Rspr bei Grabitz/Hilf/Nettesheim/Randelzhofer/Forsthoff Art 56/57 AEUV Rn 48. 1439 Zum Überblick vgl die „Erläuternde Mitteilung der Kommission über die Freiheit des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs“, ABl 1993 C 334/3. 1440 Vgl die Sachverhalte in EuGH, verb Rs 286/82 ua – Luisi und Carbone; Rs C-158/96 – Kohll; Rs C-224/97 – Ciola; Rs C-290/04 – Scorpio. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1092 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

auch Rundfunk- und Fernsehsendungen. In diesem Fall spricht man von der Korrespondenzdienstleistungsfreiheit.1441 Schließlich können sich Erbringer und Empfänger in einem dritten Land treffen oder sich gemeinsam dorthin begeben (auslandsbedingte Dienstleistung1442).1443 Wichtig ist hier letztlich aber, dass noch ein Unionsbezug gegeben ist (Rn 285).1444 Eine Dienstleistung ist zunächst eine nicht-körperliche Leistung. Dies ergibt 412 sich aus der Aufzählung in Art 57 AEUV. Der Vertrag spricht dort von gewerblichen, kaufmännischen (zB Banken, Versicherungen), handwerklichen (zB Friseure) und freiberuflichen (zB Architekten, Rechtsanwälte) Tätigkeiten. Die Aufzählung ist allerdings nicht abschließend („insbesondere“) und kann somit auch andere Bereiche umfassen.1445 So ist auch Glücksspiel regelmäßig als Dienstleistung einzustufen.1446 Dienstleistungen sind mithin von den eher körperlichen Waren (Rn 329) abzugrenzen. Schwierig kann die Abgrenzung zur Warenverkehrsfreiheit etwa im Bereich der (auditiven/audiovisuellen) Medien werden. Während die Ausstrahlung von Rundfunkbeiträgen grundsätzlich als Dienstleistung einzustufen ist, sind etwa Tonträger, die für die Ausstrahlung verwendet werden, dem Warenverkehr zuzuordnen.1447 Im Zweifel ist auf den Schwerpunkt der Tätigkeit abzustellen (Rn 282). In Abgrenzung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit (Rn 366) sind Dienstleistungen 413 selbstständig erbrachte Leistungen. Selbstständig ist eine Leistungserbringung dann, wenn sie nicht im Rahmen eines Weisungs- bzw Unterordnungsverhältnisses erfolgt, sondern die Tätigkeit frei gewählt und in eigener Verantwortung erbracht wird, die Arbeitsbedingungen mithin vom Dienstleistungserbringer gestaltet werden und dem Leistungserbringer das Entgelt vollständig und unmittelbar gezahlt wird.1448 Ferner muss die Leistung „in der Regel“ entgeltlich erbracht werden. Dies ver414 weist auf die wirtschaftliche Ausrichtung der Dienstleistungserbringung, was zumindest die (angestrebte) Kostendeckung, nicht aber notwendigerweise eine Ge-

_____ 1441 Vgl etwa EuGH, Rs C-60/00 – Carpenter, Rn 29 f. 1442 EuGH, Rs C-154/89 – Kommission / Frankreich, Rn 9 ff; Rs C-180/89 – Kommission / Italien, Rn 7 ff; Rs C-198/89 – Kommission / Griechenland, Rn 9; vgl auch Calliess/Ruffert/Kluth Art 56/57 AEUV Rn 34 f. 1443 Schroeder Grundkurs § 14 Rn 142; Streinz Rn 944; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Randelzhofer/ Forsthoff Art 56/57 AEUV Rn 52 ff. 1444 Vgl auch Dauses/Ludwigs/Ludwigs E.I Rn 155. 1445 EuGH, Rs C-268/99 – Jany: Prostitution. 1446 Vgl dazu EuGH, Rs C-275/92 – Schindler, Rn 24 ff; Rs C-409/06 – Winner Wetten, Rn 43; Rs C470/11 – Garkalns, Rn 24 ff mwN; aA Ehlers/vWilmowsky § 12 Rn 2 (Kapitalverkehr). Je nach Konstellation kann aber auch die Niederlassungsfreiheit mit betroffen sein: EuGH, Rs C-243/01 – Gambelli, Rn 14, 46; verb Rs C-338/04 – Placanica, Rn 42 ff. Vgl zum Ganzen auch Möschel EuZW 2012, 252; Unterreitmeier NJW 2013, 127. 1447 EuGH, Rs 155/73 – Sacchi, Rn 6 f. 1448 EuGH, Rs C-43/93 – Vander Elst, Rn 23; Rs C-268/99 – Jany, Rn 70. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

VII. Dienstleistungsfreiheit | 1093

winnerzielungsabsicht beinhaltet.1449 Entgeltlich ist eine Leistung dann, wenn ihr eine geldwerte Leistung gegenübersteht, ganz gleich, ob diese vom Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erbracht wird.1450 Zwischen Leistung und Entgelt muss aber ein Näheverhältnis bzw Sinnzusammenhang bestehen.1451 Eine im Wesentlichen aus öffentlichen Mitteln gespeiste Leistung, zB Bildung, ist hingegen keine Dienstleistung im Sinne des AEUV.1452 Rein soziale Tätigkeiten unterfallen ebenfalls nicht dem Dienstleistungsbegriff.1453 Schließlich handelt es sich bei Dienstleistungen nicht um nur vorübergehend 415 erbrachte Tätigkeiten (Art 57 II AEUV). Da auch Dauerschuldverhältnisse von der Dienstleistungsfreiheit erfasst sind (etwa im Bereich der Finanzdienstleistungen), ist weniger auf ein formal zeitliches Element abzustellen, sondern auf das zur Niederlassungsfreiheit abgrenzende, hier fehlende Merkmal der dauerhaften und stabilen Eingliederung in die Volkswirtschaft des Zielstaates (Rn 387).1454 So können sich insb große Bauprojekte über Monate oder gar Jahre hinziehen. Es spricht jedoch nichts dafür, dass das Bauunternehmen sich im Zielstaat auch niederlassen will.1455 Trotz des Vorhandenseins einer gewissen Infrastruktur vor Ort (etwa einer Kanzlei oder Praxis) kann es sich andererseits gleichwohl um die Erbringung einer Dienstleistung handeln. Letztlich muss anhand von Dauer, Regelmäßigkeit, Häufigkeit und Kontinuität der Einzelfall bewertet werden.1456 Über den Verweis des Art 62 AEUV gilt die Bereichsausnahme der Ausübung 416 öffentlicher Gewalt nach Art 51 AEUV (Rn 393 f) auch für die Dienstleistungsfreiheit. Art 58 I AEUV nimmt zudem den freien Dienstleistungsverkehr auf dem Gebiet des Verkehrs aus dem Anwendungsbereich der Art 56 ff AEUV heraus und ordnet sie den Bestimmungen der Verkehrspolitik (Art 90 ff AEUV) unter (Rn 68).1457 Keine Bereichsausnahme stellt hingegen Art 58 II AEUV dar, der bestimmt, dass die mit dem Kapitalverkehr verbundenen Dienstleistungen der Banken und Versicherungen im Einklang mit der Liberalisierung des Kapitalverkehrs liberalisiert werden. Im

_____ 1449 Ehlers/Pache § 11 Rn 47; vgl auch EuGH, Rs 263/86 – Humbel, Rn 16 ff. 1450 EuGH, Rs 352/85 – Bond van Adverteerders, Rn 16; verb Rs C-51/96 ua – Deliège, Rn 56; Rs C157/99 – Smits und Peerbooms, Rn 55 ff. 1451 Vgl Ehlers/Pache § 11 Rn 47. 1452 EuGH, Rs 263/86 – Humbel, Rn 18 f; Rs C-109/92 – Wirth, Rn 15 ff. Etwas anderes gilt, wenn das Studium im Wesentlichen aus privaten Mitteln (Studiengebühren) finanziert wird und die Hochschulen dadurch einen Gewinn zu erzielen suchen, da hier wieder eine Leistung gegen Entgelt erbracht wird (EuGH, Rs C-109/92 – Wirth, Rn 17). 1453 Vgl EuGH, Rs C-159/90 – Grogan, Rn 26 f. 1454 EuGH, Rs C-215/01 – Schnitzer, Rn 32; vgl auch Dauses/Ludwigs/Ludwigs E.I Rn 146. 1455 Vgl Ehlers/Tietje § 10 Rn 28. 1456 EuGH, Rs C-55/94 – Gebhard, Rn 27. 1457 Vgl EuGH, Rs C-338/09 – Yellow Cab, Rn 29 f mwN; Rs C-434/15 – Asociación Profesional Elite Taxi, Rn 33 ff; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Randelzhofer/Forsthoff Art 58 AEUV Rn 1 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1094 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

Ergebnis bedeutet dies allerdings, dass die Aktivitäten der Banken und Versicherungen durchaus als Dienstleistungen anzusehen sind (Rn 461).1458 Letztlich ist hier in der Überschneidung mit der Kapitalverkehrsfreiheit auf den Schwerpunkt der Tätigkeit abzustellen (Rn 282).1459 Eine umfassende sekundärrechtliche Ausformung der Dienstleistungsfreiheit 417 wurde 2006 mit dem Erlass der DienstleistungsRL vorgenommen.1460 Nach Protesten entschied sich der Richtliniengeber vor allem aus sozialpolitischen Gründen, vom ursprünglich vorgesehenen Herkunftslandprinzip abzurücken und de facto zum Bestimmungslandprinzip überzugehen; auch die Gefahr eines Absinkens von Qualitäts- und Umweltstandards („race to the bottom“; Rn 173) war hierfür ursächlich. Die nationalen Regelungen dürfen nicht diskriminieren, können ansonsten aber aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit oder – insoweit von Art 52 AEUV abweichend – des Umweltschutzes gerechtfertigt sein, sofern sie verhältnismäßig sind (Art 16 I, III RL).1461 Art 16 II RL enthält eine Negativliste verbotener Einschränkungen (etwa Präsenz- oder Genehmigungspflichten). Die RL betrifft nicht den Bereich der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen 418 Interesse (Rn 433) oder Dienstleistungen, für die spezielle unionsrechtliche Regelungen gelten (Finanzdienstleistungen (Rn 461), Telekommunikation, Verkehr) sowie Dienstleistungen, die unter einem speziellen (nationalen oder unionsrechtlichen) Regelungsvorbehalt stehen (insb im Gesundheitsbereich und in der Zeitarbeit) (Art 2 und 17 RL). Als wichtigstes Element sieht die RL die Einrichtung eines Einheitlichen Ansprechpartners vor (Art 6). Nach dem Gedanken des „one-stop shop“ sollen die Dienstleistungserbringer dort wegen aller zur Aufnahme und Ausübung ihrer Tätigkeit im Gastland erforderlichen Behördengänge und Verwaltungsformalitäten zu den national zuständigen Stellen gelotst werden (§§ 71a–71e VwVfGBund). In Deutschland ist die Einrichtung des Einheitlichen Ansprechpartners zum größten Teil Sache der Länder, die unterschiedliche Verortungsmodelle gewählt haben.1462 Mit Blick auf die grundfreiheitliche Relevanz unterfällt auch die Entsendung 419 von Arbeitnehmern der Dienstleistungsfreiheit. Gleichwohl ergeben sich daraus zahlreiche arbeits- und sozialrechtliche Implikationen, wenn die Arbeitsbedingungen (zB Löhne) des Bestimmungslandes von denen des Entsendestaates abwei-

_____ 1458 EuGH, Rs C-484/93 – Svensson und Gustavsson, Rn 11; Rs C-118/96 – Safir, Rn 22. 1459 Vgl dazu auch Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 1079. 1460 RL 2006/123, ABl 2006 L 376/36. Zur Entwicklung Wagener/Eger S 289 ff; Ehlers/Pache § 11 Rn 20 ff; Brasche S 151 ff; Calliess DVBl 2007, 336 (339 ff); vgl auch Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 1065 ff; Dauses/Ludwigs/Ludwigs E.I Rn 233 ff; Korte NVwZ 2007, 501; Hatje NVwZ 2007, 2357; zur Umsetzung in Dtl Leible (Hrsg) Die Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie, 2008; Schliesky (Hrsg) Die Umsetzung der EU-Dienstleistungsrichtlinie in der deutschen Verwaltung, 2008. 1461 Calliess DVBl 2007, 336 (343 f). 1462 Dazu Ehlers/Pache § 11 Rn 29 f; Bauer/Büchner/Brosius-Gersdorf/Windoffer S 23 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

VII. Dienstleistungsfreiheit | 1095

chen.1463 Der EuGH entschied dazu grundsätzlich, dass das Unionsrecht den Mitgliedstaaten nicht verbiete, „ihre Rechtsvorschriften oder die von den Sozialpartnern geschlossenen Tarifverträge unabhängig davon, in welchem Land der Arbeitgeber ansässig ist, auf alle Personen auszudehnen, die in ihrem Hoheitsgebiet, und sei es auch nur vorübergehend, eine unselbständige Erwerbstätigkeit ausüben“ und diese Vorschriften durchzusetzen.1464 Infolge dessen wurde 1996 die EntsendeRL erlassen.1465 Diese sieht vor, dass ein Mindestbestand an Arbeits(schutz)bedingungen des Zielstaates, etwa Höchstarbeitszeiten, bezahlter Mindestjahresurlaub, Mindestlöhne, Leiharbeit oder Sicherheit, Gesundheitsschutz und Hygiene am Arbeitsplatz, auch auf entsandte Arbeitnehmer Anwendung findet.1466 Die RL stellt insofern für die Dienstleistungsfreiheit einen Schritt in Richtung Bestimmungslandprinzip dar.1467 Für die Zwecke der Sozialversicherungssysteme gilt jedoch bei der Arbeitnehmerentsendung oder selbstständigen Dienstleistungserbringung bis zu 24 Monate das Recht des Heimatstaates (Art 12 VO 883/2004).

2. Beeinträchtigung Die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit kann ebenfalls durch Maßnahmen eines 420 Mitgliedstaates behindert werden. Neben der für die Rechtfertigung relevanten Unterscheidung zwischen diskriminierenden Maßnahmen und Beschränkungen kann bei der Dienstleistungsfreiheit wegen ihrer Stellung zwischen Produkt- und Personenverkehrsfreiheit außerdem danach unterschieden werden, ob die Dienstleistung (als Produkt) oder der Dienstleister (als Person) betroffen ist.1468 Offene Diskriminierungen finden sich immer dann, wenn der Zugang zu gewis- 421 sen Dienstleistungen aufgrund der Staatsangehörigkeit verweigert wird,1469 etwa wenn über die Zulassung zum Beruf des Fremdenführers die Staatsangehörigkeit des Landes der Tätigkeit entscheidet.1470 Ein offen diskriminierendes Verhalten liegt auch dann vor, wenn bei juristischen Personen auf ihre Ansässigkeit im Ausland abgestellt wird.1471

_____ 1463 Ausf Wichmann Dienstleistungsfreiheit und grenzüberschreitende Entsendung von Arbeitnehmern, 1998. 1464 Vgl grundlegend EuGH, verb Rs 62/81 ua – Seco / EVI, Rn 14; Rs C-113/89 – Rush Portuguesa; Rs C-43/93 – Vander Elst, Rn 23. 1465 RL 96/71, ABl 1997 L 18/1; vgl auch Kort NZA 2002, 1248. 1466 Vgl mit Blick auf tarifvertragliche Löhne EuGH, Rs C-341/05 – Laval, Rn 62 ff; Rs 346/06 – Rüffert, Rn 17 ff. 1467 Vgl dazu Wagener/Eger S 280 ff mit ökonomischer Kritik. 1468 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Randelzhofer/Forsthoff Art 56/57 AEUV Rn 86 ff. 1469 Ausf Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 1041 ff. 1470 EuGH, Rs C-375/92 – Kommission / Spanien, Rn 5 ff. 1471 Vgl etwa EuGH, verb Rs 62/81 ua – Seco /EVI, Rn 8. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Versteckte Diskriminierungen können vorliegen, wenn eine bestimmte Dienstleistung zwar grundsätzlich von allen Unionsbürgern erbracht werden kann, aber ein Qualifikationsnachweis gefordert wird, der typischerweise nur von Inländern nachgewiesen werden kann, entsprechende ausländische Qualifikationen hingegen in einem anderen Mitgliedstaat nicht anerkannt werden. Solche Beeinträchtigungen sind unverhältnismäßig, da der gleichzeitige Qualifikations- oder Genehmigungsnachweis im Empfangsstaat regelmäßig eine doppelbelastende Maßnahme darstellt. 1472 Dies ist Ausdruck des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung.1473 Unterliegen Dienstleistungen in einem Staat weniger strengen Regelungen als in einem anderen, handelt es sich hingegen nicht um versteckte Diskriminierungen.1474 Ein anschauliches Beispiel für versteckte Diskriminierungen im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit bilden Ansässigkeitserfordernisse (Präsenzpflichten), also die Notwendigkeit, eine Niederlassung oder einen Wohnsitz im betreffenden Staat zu begründen.1475 So wurde eine nationale Regelung für unzulässig erklärt, nach der bei der Vergabe öffentlicher Bauaufträge ein Teil der Arbeiten den nationalen Gesellschaften vorbehalten wird. Unzulässig ist es auch, bei der Auftragsvergabe solchen Vereinigungen auf Zeit und Konsortien den Vorrang einzuräumen, zu denen Unternehmen gehören, die ihre Tätigkeit hauptsächlich in der Region ausüben, in der die Arbeiten durchgeführt werden.1476 Mittelbar diskriminierend wirken ferner Voraussetzungen, die ein Mitgliedstaat für die Übertragung von Rundfunkprogrammen ausländischer Sendeanstalten mittels der in seinem Hoheitsgebiet niedergelassenen Betreiber von Kabelrundfunkeinrichtungen aufstellt und die sich sowohl auf die Struktur dieser Anstalten als auch auf die in den Programmen enthaltenen Werbemitteilungen beziehen.1477 Die Dienstleistungsfreiheit ist in Parallele zu den anderen Grundfreiheiten durch 423 ein ihr inhärentes umfassendes Beschränkungsverbot gekennzeichnet.1478 Auch hier kann unterschieden werden, ob es sich um eine Marktzugangs- oder eine Marktverhaltensregel handelt (Rn 307).1479 Eine besondere Stellung nehmen dabei Dienstleistungsmonopole ein. 1480 Typische Zugangshemmnisse sind bspw Genehmigungspflichten für Tätigkeiten, die im Heimatstaat nicht genehmigungspflichtig sind, etwa 422

_____ 1472 Vgl EuGH, verb Rs 110/78 ua – van Wesemael; vgl auch EuGH, verb Rs C-34/95 ua – De Agostini, Rn 51; Rs C-272/94 – Guiot, Rn 14. 1473 Schroeder Grundkurs § 14 Rn 162. 1474 Ehlers/Pache § 11 Rn 78. 1475 Vgl etwa EuGH, Rs C-224/97 – Ciola, Rn 14; vgl auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Randelzhofer/ Forsthoff Art 56/57 AEUV Rn 123 mwN. 1476 EuGH, Rs C-360/89 – Kommission / Italien. 1477 EuGH, Rs 288/89 – Gouda, Rn 21 ff. 1478 Dazu bereits EuGH, Rs 33/74 – van Binsbergen, Rn 27. 1479 Abl Ehlers/Pache § 11 Rn 87. 1480 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Randelzhofer/Forsthoff Art 56/57 AEUV Rn 113 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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weil sie eine bestimmte berufliche Qualifikation voraussetzen.1481 Um eine Beschränkung handelt es sich auch, wenn ausländische Dienstleistende verpflichtet werden, sich in einer Standesorganisation einzutragen oder deren Mitglied zu werden, bevor sie Dienstleistungen innerhalb des Bestimmungslandes erbringen.1482 Weiterhin stellt die Verpflichtung, sich in die Handwerksrolle des Bestimmungslandes einzutragen, eine grundfreiheitswidrige Beschränkung dar (vgl Rn 302).1483 Die RL 2005/36 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (Rn 428 f) bestimmt daher, dass eine solche Eintragung automatisch oder pro forma vorgesehen werden kann, um Disziplinarbestimmungen des Aufnahmestaates im Rahmen dieser Organisation zu sichern (Art 6 lit a). Auch in Fällen von Fremdenführern, die mit einer Reisegruppe aus einem anderen Mitgliedstaat anreisen, sah der EuGH eine Beschränkung darin, dass sie den Regelungen unterworfen waren, die für die im Bestimmungsland niedergelassenen Touristenführer galten.1484 Ebenso stellt es eine Beschränkung der (passiven) Dienstleistungsfreiheit dar, wenn die Erstattungsfähigkeit von Gesundheitsleistungen im Ausland von einer vorherigen Genehmigung abhängig gemacht wird.1485 Ein solches Genehmigungserfordernis, so der EuGH, könne für stationäre Aufenthalte, nicht aber für ambulante Behandlungen gerechtfertigt sein.1486 Diese Grundsätze haben nunmehr Eingang in die sog PatientenmobilitätsRL gefunden.1487

3. Rechtfertigung Nach Art 62 AEUV findet Art 52 AEUV auf die Dienstleistungsfreiheit Anwendung. Da- 424 nach können Rechts- und Verwaltungsvorschriften Sonderregelungen für Ausländer vorsehen, solange diese aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (Rn 399).1488 Diese Gründe werden auch von Art 16 III der DienstleistungsRL aufgegriffen, der sie um den Schutz der Umwelt erweitert. Sie können einerseits gegenüber dem Dienstleistungserbringer, aber auch mit Blick auf die Dienstleistung selbst geltend gemacht werden.1489 Im Bereich der Gesundheit hat

_____ 1481 So EuGH, Rs C-76/90 – Säger, Rn 14; vgl auch Rs C-206/98 – Kommission / Belgien, Rn 34; ausf Grabitz/Hif/Nettesheim/Randelzhofer/Forsthoff Art 56/57 AEUV Rn 124 ff. 1482 EuGH, Rs C-58/98 – Corsten, Rn 34; Rs C-215/01 – Schnitzer, Rn 34. 1483 EuGH, Rs C-58/98 – Corsten, Rn 34. 1484 EuGH, Rs C-154/89 – Kommission / Frankreich, Rn 14; Rs C-180/89 – Kommission / Italien, Rn 15; Rs C-198/89 – Kommission / Griechenland, Rn 18. 1485 EuGH, Rs C-158/96 – Kohll, Rn 34 f; Rs C-157/99 – Smits und Peerbooms, Rn 69; Rs C-255/09 – Kommission / Portugal, Rn 60 ff mit Anm Frischhut EuZW 2012, 65. 1486 EuGH, Rs C-385/99 – Müller-Fauré. 1487 RL 2011/24, ABl 2011 L 88/45. Vgl dazu Frischhut/Stein Patientenmobilität. Aktuelle Richtlinie und EuGH-Rechtsprechung, 2011; Wollenschläger EuR 2012, 149. 1488 Vgl dazu Grabitz/Hilf/Nettsheim/Randelzhofer/Forsthoff Art 62 Rn 3 ff. 1489 Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 1056 unter Verweis auf EuGH, Rs C-36/02 – Omega. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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der EuGH anerkannt, dass der freie Dienstleistungsverkehr durch die Mitgliedstaaten eingeschränkt werden darf, um einen bestimmten Umfang der Versorgung oder ein bestimmtes Niveau der Heilkunde für die Gesundheit oder gar das Überleben ihrer Bevölkerung sicherzustellen.1490 Es dürfen daher Qualifikationsanforderungen gestellt werden, um gewisse medizinische und pflegerische Tätigkeiten dem entspr Fachpersonal vorzubehalten1491 oder die Qualität der ärztlichen Leistungen aufrechtzuerhalten.1492 Schließlich können Gründe des Gesundheitsschutzes ein Werbeverbot für gesundheitsschädliche Genussmittel, etwa Alkohol, rechtfertigen.1493 Außerhalb des Anwendungsbereiches der DienstleistungsRL (Rn 418), die inso425 weit Rechtfertigungsgründe abschließend aufzählt,1494 können zwingende Gründe des Allgemeininteresses rechtfertigend wirken.1495 Dazu zählen etwa die Lauterkeit des Handelsverkehrs,1496 der Verbraucherschutz,1497 die Kulturpolitik zur „Erhaltung des historischen und künstlerischen Erbes“1498 sowie das finanzielle Gleichgewicht der Systeme sozialer Sicherheit,1499 etwa durch Maßnahmen zur Verhinderung von Sozialbetrug durch Scheinselbstständigkeit und Schwarzarbeit1500 oder der Bekämpfung von Sozialdumping.1501 Einen gesonderten, im Vertrag systematisch im Wettbewerbsrecht angesiedel426 ten Rechtfertigungsgrund für die Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit bietet Art 106 II AEUV.1502 Danach gelten für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind, die Vertragsvorschriften nur, „soweit die Anwendung dieser Vorschriften nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert“.1503

_____ 1490 EuGH, Rs C-158/96 – Kohll, Rn 51; Rs C-157/99 – Smits und Peerbooms, Rn 74. 1491 EuGH, Rs C-294/00 – Gräbner, Rn 43. 1492 EuGH, Rs C-385/99 – Müller-Fauré, Rn 67; Rs C-496/01 – Kommission / Frankreich, Rn 66. 1493 EuGH, Rs 152/78 – Kommission / Frankreich, Rn 17; verb Rs C-1/90 ua – Publivia, Rn 15; Rs C405/98 – Gourmet International, Rn 27. 1494 EuGH, Rs C-593/13 – Rina Services, Rn 38 f. 1495 Zahlreiche Bsp bei Dauses/Ludwigs/Ludwigs E.I Rn 211. 1496 EuGH, verb Rs C-34/95 ua – De Agostini, Rn 53. 1497 EuGH, Rs C-180/89 – Kommission / Italien, Rn 20; Rs C-6/98 – ARD, Rn 50 und Rs 288/89 – Gouda, Rn 27 [Fernsehwerbung]; Rs C-275/92 – Schindler, Rn 58 ff [Lotterie]; Rs C-384/93 – Alpine Investments, Rn 14 [„cold calling“]. 1498 EuGH, Rs C-180/89 – Kommission / Italien, Rn 20; Rs C-6/98 – ARD, Rn 50 und Rs 288/89 – Gouda, Rn 23 [Erhaltung einer bestimmten Programmqualität, Fernsehwerbung]. 1499 EuGH, Rs C-158/96 – Kohll, Rn 41; Rs C-385/99 – Müller-Fauré, Rn 59; vgl zu diesen Sachverhalten nunmehr die PatientenmobilitätsRL 2011/24, ABl 2011 L 88/45 und dazu Frischhut/Stein. 1500 EuGH, Rs C-346/06 – Rüffert, Rn 42; Rs C-577/10 – Limosa, Rn 45. 1501 EuGH, verb Rs C-49/98 ua – Finalarte, Rn 39; Rs C-341/05 – Laval, Rn 103; Rs C-577/10 – Limosa, Rn 45. 1502 EuGH, Rs C-266/96 – Corsica Ferries France, Rn 59; verb Rs C-147/97 ua – Deutsche Post, Rn 55. 1503 Jungheim-Hertwig/Weiß § 14 (in diesem Band) Rn 235 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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4. Gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen Eine wesentliche Beeinträchtigung für die Personenverkehrsfreiheiten stellt die na- 427 tional begrenzte Geltung von Abschlüssen und Berufsqualifikationen dar. Die sich hieraus ergebenden Hindernisse können nicht allein durch die unmittelbare Anwendung der vertraglichen Regelungen über die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit beseitigt werden.1504 Ebenso wie im Bereich der technischen Normen (Rn 184 ff) erwies sich eine nach Berufen geordnete Harmonisierung als sehr zeitaufwendig und für die Verwirklichung der Freizügigkeit im Binnenmarkt als nicht zielführend. Basierend auf den Art 46, 53 und 62 AEUV und früher erlassenen Rechtsakten wurde mit der RL 2005/36 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen1505 (Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstige Befähigungsnachweise) ein maßgeblicher Beitrag geleistet. Diese RL gilt nicht nur für die Niederlassungsund Dienstleistungsfreiheit, sondern auch für die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Der gegenseitigen Anerkennung liegt eine Systematisierung klassischer Bereiche der Berufsausübung zugrunde, namentlich hinsichtlich der Ausbildungsnachweise, der Berufserfahrung und der Mindestanforderungen an die Ausbildung. Das System zur Anerkennung von Berufsqualifikationen ist von dem gegenseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten in die Gleichwertigkeit der beruflichen Qualifikationen getragen und verfolgt den Zweck, den Berufsangehörigen den grenzüberschreitenden Zugang zum Arbeitsmarkt der Mitgliedstaaten zu erleichtern. Die RL zielt auf die pauschale Anerkennung der Befähigungsnachweise für die benannten Berufsgruppen im Falle einer Gleichwertigkeit unter Verzicht auf eine Überprüfung der Berufsqualifikation im jeweiligen Einzelfall (Grundsatz der automatischen Anerkennung, Art 21 der RL).1506 Nach ihrem Art 1 legt die RL die Vorschriften fest, „nach denen ein Mitglied- 428 staat, der den Zugang zu einem reglementierten Beruf oder dessen Ausübung in seinem Hoheitsgebiet an den Besitz bestimmter Berufsqualifikationen knüpft […], für den Zugang zu diesem Beruf und dessen Ausübung die in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten […] erworbenen Berufsqualifikationen anerkennt, die ihren Inhaber berechtigen, dort denselben Beruf auszuüben“. Der Richtliniengeber folgt damit im Wesentlichen dem Ursprungslandprinzip, wonach eine im Heimatstaat erworbene Qualifikation auch für die Ausübung der entspr Tätigkeit im Aufnahmestaat – ggf unter Auflagen in Form von Anpassungslehrgängen und Eignungsprüfungen – anzuerkennen ist. Allerdings gilt die RL nur für abgeschlossene Qualifika-

_____ 1504 Roth EuR 1986, 340 (360). 1505 RL 2005/36, ABl 2005 L 255/22 idF des delegierten Beschlusses 2017/2113, ABl 2017 L 317/119; vgl dazu H Schneider Wirtschaftssanktionen, 1999; Kluth/Rieger EuZW 2005, 486; Haratsch/Koenig/ Pechstein Rn 1064; Merten/Papier/Streinz HGR VI/1 § 155 Rn 48 ff. 1506 Oppermann/Classen/Nettesheim § 27 Rn 42; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Blanke Art 165/166 AEUV Rn 79. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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tionen bestimmter, staatlich reglementierter Berufe (Art 3 I lit a der RL). Für Teile dieser Ausbildung und nicht-reglementierte Berufe hat der EuGH selber umfangreiche Anerkennungsgrundsätze herausgearbeitet. 1507 Ergänzt wird die allgemeine AnerkennungsRL durch die RL zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs.1508 Sie normiert in Art 4 ff die Voraussetzungen, nach denen ein Rechtsanwalt unter seiner ursprünglichen Berufsbezeichnung im Aufnahmestaat tätig werden kann, sowie die Bedingungen zur Erlangung der Gleichstellung mit den Rechtsanwälten des Aufnahmestaats (Art 10).

5. Dienstleistungen und Staat 429 Die öffentliche Hand wendet etwa 14% des BIP der EU für Liefer-, Dienstleistungs-

und Bauaufträge auf.1509 Abgesehen von wettbewerbsrechtlichen und -politischen Besonderheiten1510 ist die öffentliche Hand als Teilnehmerin am Marktgeschehen ganz anderen Anreizen ausgesetzt als ein privater Teilnehmer, insb weil Budgetbeschränkungen eine geringere Rolle spielen und die Vergabe öffentlicher Aufträge grundsätzlich auch andere Ziele verfolgt als die bloße Beschaffung im eigentlichen Sinne. So hat etwa der Bau von Straßen nicht nur den eigentlichen Bau im Blick, sondern darüber hinaus auch regional- und infrastrukturpolitische Zielsetzungen.1511 Aus wirtschaftlicher Sicht besteht bei der öffentlichen Auftragsvergabe oft ein sog „home bias“, also die Bevorzugung nationaler gegenüber ausländischen Auftragserbringern.1512 Die europäischen Regeln der Auftragsvergabe (Vergaberecht) sollen diesen 430 Markthindernissen entgegenwirken und den Grundfreiheiten, insb der Waren- und der Dienstleistungsfreiheit in diesem Bereich, Rechnung tragen. Das Vergaberecht gründet sich im Wesentlichen auf Sekundärrecht. Die wichtigsten Sekundärrechtsakte sind die allgemeine VergabeRL 2014/24,1513 die SektorRL 2014/25 im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste1514 sowie die KonzessionsvergabeRL 2014/23.1515 Ergänzt werden sie durch zwei RechtsmittelRL.1516

_____ 1507 EuGH, Rs C-313/01 – Morgenbesser; Rs C-586/08 – Rubino. Vgl auch Oppermann/Classen/Nettesheim § 25 Rn 28. 1508 RL 98/5, ABl 1998 L 77/36 idF der RL 2006/100, ABl 2006 L 363/141. 1509 Eine funktionierende öffentliche Auftragsvergabe in und für Europa, COM(2017) 572, S 2. 1510 Jungheim-Hertwig/Weiß § 14 (in diesem Band) Rn 222 ff, 239 ff; Wagener/Eger S 292. 1511 Vgl Wagener/Eger S 292 f. 1512 Wagener/Eger S 294. 1513 ABl 2014 L 64/65, idF der delegierten VO 2017/2365, ABl 2017 L 337/19. 1514 ABl 2014 L 243/94, idF der delegierten VO 2017/2364, ABl 2017 L 337/17. 1515 ABl 2014 L 94/1 idF der delegierten VO 2017/2366, ABl 2017 L 337/21. 1516 RL 89/665, ABl 1989 L 395/33 und RL 92/13, ABl 1992 L 76/14, beide idF der RL 2014/23, ABl 2014 L 94/1; zum Rechtsschutz vgl auch Schroeder Grundkurs § 20 Rn 17 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Namentlich den Prinzipien der Nichtdiskriminierung ausländischer Anbieter und der Transparenz soll durch die Vorschriften Rechnung getragen werden (Art 18 I der VergabeRL). Strittig ist demgegenüber, inwieweit die grundfreiheitlichen Beschränkungsverbote zur Anwendung kommen können.1517 Ausschlaggebendes Kriterium für die Anwendbarkeit der RL ist der wertmäßige 431 Umfang der zu vergebenden Aufträge (Schwellenwerte).1518 In Abhängigkeit von der Komplexität des zu vergebenden Auftrages finden verschiedene Vergabeverfahren Anwendung (Art 25 ff der VergabeRL).1519 Neben seiner Rolle als Nachfrager tritt der Staat in nicht geringem Umfang auch 432 als Anbieter von Gütern und Dienstleistungen auf. Aus einer ökonomischen Warte stellt sich hier die Frage, in welchen Situationen staatliches Agieren am Markt zulässig ist. Weitgehend Einigkeit besteht hierüber mit Blick auf hoheitliche Aufgaben, soziale Leistungen und Fälle, in denen der Markt selbst diese Leistungen nicht oder nicht sinnvoll anbieten kann (Marktversagen).1520 Im Zusammenhang mit der Dienstleistungsfreiheit wird dies im Bereich der Daseinsvorsorge relevant. Problemlos ist die Rolle des Staates bei sog nicht-wirtschaftlichen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (vgl auch Art 2 II lit a RL 2006/123). Sie verstoßen wegen ihres fehlenden wirtschaftlichen Charakters oder wegen der damit verbundenen Ausübung hoheitlicher Gewalt (zB Justiz, Polizei; vgl Rn 368 f, 393 f) regelmäßig nicht gegen die Grundfreiheiten. Etwas anderes gilt für den Bereich der sog „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ (insb in den Bereichen der Verkehrsinfrastruktur, der Energie- und Wasserversorgung sowie der Entsorgung von Abwässern und Abfall). 1521 Sie unterfallen grundsätzlich der grundfreiheitlichen Beurteilung. In Anerkennung ihrer Bedeutung finden sie in den allgemeinen Bestimmungen des Vertrages (Art 14 AEUV) und in der nun verbindlichen Grundrechtecharta besondere Erwähnung (Art 36 GRCh).1522 Die entspr Unternehmen sind über Art 106 II AEUV weitgehend vom Anwendungsbereich der Vertragsvorschriften ausgenommen, soweit dies für die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich erforderlich ist, um diese Dienste im Sinne der praktischen Konkordanz in die europäische Wettbewerbspolitik einzupas-

_____ 1517 EuGH, Rs C-231/03 – Coname, Rn 18 ff. Dazu ausf Huerkamp EuR 2009, 563; Beuttenmüller passim. 1518 Art 4 VergabeRL: 144.000 € für öffentliche Liefer- und Dienstleistungsaufträge, die von zentralen Regierungsbehörden vergeben werden; 221.000 € für öffentliche Liefer- und Dienstleistungsaufträge von anderen Auftraggebern; 5,548 Mio € für öffentliche Bauaufträge. Art 15 SektorRL: 443.000 € für Liefer- und Dienstleistungsaufträge; 5,548 Mio € für Bauaufträge. 1519 Vgl dazu auch Wagener/Eger S 295 f.; Frenz Vergaberecht S 489 ff. 1520 Brasche S 75 ff. 1521 Blanke DVBl 2010, 1333 (1335 ff); Knauff EuR 2010, 725. 1522 Dazu Knauff EuR 2010, 725 (730 ff, 737 ff). Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1102 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

sen.1523 Folgerichtig sind sie auch vom Anwendungsbereich der DienstleistungsRL ausgenommen (Art 17 Nr 1). VIII. Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit VIII. Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit 433 Die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit wurde im Vergleich zu den anderen

Grundfreiheiten erst spät liberalisiert.1524 Zwar sah bereits der EWG-Vertrag eine solche Liberalisierung vor, allerdings nur insoweit es ,,für das Funktionieren des Gemeinsamen Markts notwendig ist“ (Art 67 I EWGV). Mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 (Rn 30) wurde diese Situation überwunden, indem die Kapitalverkehrsfreiheit den anderen Grundfreiheiten als Bestandteil des Binnenmarkts gleichgestellt (Art 8a EWGV = Art 26 II AEUV) und sodann sekundärrechtlich ausgeformt wurde (RL 88/3611525). Auf dieser Grundlage kam es dann zum Wegfall der Kapitalverkehrskontrollen anlässlich des Eintritts in die erste Stufe der Wirtschaftsund Währungsunion.1526 Heute steht der Kapitalverkehr gleichberechtigt neben den anderen Grundfreiheiten und ist mit Blick auf Drittstaaten in ein internationales System eingebettet.1527 Aus ökonomischer Sicht gelten auch für die Kapitalverkehrsfreiheit die oben 434 getroffenen allgemeinen Aussagen zu den Wohlfahrtseffekten eines möglichst ungehinderten Wirtschaftsverkehrs (Rn 255 ff).1528 Zu beachten ist, dass zwischen den Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital eine Verbindung besteht, da je nach Bedarf entweder das Kapital oder die Arbeit grenzüberschreitend wandern können, abhängig von den jeweiligen Transaktionskosten. Insgesamt ist Kapital für grenzüberschreitenden Handel prädestiniert, da es einfach zu „transportieren“, also umzuwandeln (etwa die Übertragung von Rechten) und zu lagern ist (Konten, Depots).1529 Der ungehinderte grenzüberschreitende Kapitalfluss soll insb gewährleisten, dass Investitionen dort realisiert werden, wo sie den größtmöglichen (ökonomischen) Nutzen haben. Sie können handelsflankierenden Charakter haben, indem sie den Aufbau gewisser Handelsinfrastrukturen begleiten. Sie können aber auch handelsersetzend und zugleich handelsschaffend wirken. So ziehen etwa Verlagerungen von Produktionsstandorten Kapital aus dem Inland ab mit der Folge, dass die er-

_____ 1523 Jungheim-Hertwig/Weiß § 14 (in diesem Band) Rn 235 ff; Blanke DVBl 2010, 1333 (1339 f); vgl auch Knauff EuR 2010, 725 (740 ff). 1524 Ausf Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ress/Ukrow Art 63 AEUV Rn 1 ff; Hindelang S 31 ff. 1525 ABl 1988 L 178/5. 1526 Vgl Gramlich § 15 (in diesem Band) Rn 23 ff; Ruffert EnzEuR 5/Ohler § 10 Rn 33. 1527 Ausf Grabitz/Hilf/Nettsheim/Ress/Ukrow Art 63 Rn 36 ff. 1528 Zum Kapitalverkehr vgl Wagener/Eger S 338 ff. 1529 Ruffert EnzEuR 5/Ohler § 10 Rn 32. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

VIII. Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit | 1103

höhte oder billigere Produktion im Ausland zu größerer Nachfrage führt.1530 Freier Kapitalverkehr ist außerdem notwendig, um eine echte WWU unter den Prämissen des wirtschaftlichen Wachstums und der Preisstabilität zu errichten.1531 Wie in der Finanz- und Wirtschaftskrise deutlich geworden ist, kann der freie Fluss von Kapital aber auch erhebliche Risiken bergen. Die durch den freien Kapitalfluss bewirkte internationale Verflechtung von Finanzinstituten kann im Falle von Problemen einzelner Akteure Auswirkungen auf das ganze System, ja sogar auf Staatsfinanzen haben.1532

1. Anwendungsbereich Der EuGH versteht Kapitalverkehr allgemein als „Transfer von Vermögenswer- 435 ten“1533 bzw als „Finanzgeschäfte […], bei denen es in erster Linie um die Anlage oder die Investition […] und nicht um die Vergütung einer [Leistung] geht“.1534 Es geht dabei um finanzielle Transaktionen, die ihrerseits nicht durch Warentransfers oder Dienstleistungen gedeckt sind,1535 einschließlich aller für die Durchführung des Kapitalverkehrs erforderlichen Geschäfte. Dieser Transfer umfasst dabei sowohl die grenzüberschreitende Begründung als auch die Übertragung von Vermögenswerten. Ein wesentliches Auslegungsinstrument ist die RL 88/361, auf die auch der EuGH zur Interpretation des Primärrechts Bezug nimmt.1536 Sie hat in ihrem Anhang I eine „Nomenklatur“ für den Kapitalverkehr, die allerdings nicht erschöpfend ist. Diese RL beinhaltet neben Direktinvestitionen wie die Gründung und Erweiterung von Unternehmen oder Filialen oder die vollständige Übernahme bestehender Unternehmen (durch Erwerb der Vermögensgegenstände – „asset deals“ – oder den Erwerb der Geschäftsanteile – „share deals“), auch Immobilieninvestitionen wie den Erwerb von Grundstücken,1537 Geschäfte mit Wertpapieren, Kredite und Darlehen (inkl deren Rückzahlung),1538 Bürgschaften, die Bestellung von Sicherungsrech-

_____ 1530 Brasche S 181 f. 1531 Vgl Hindelang S 19 ff. 1532 Vgl auch Brasche S 188 ff. 1533 EuGH, verb Rs C-358/93 ua – Bordessa, Rn 13. 1534 EuGH, verb Rs 286/82 ua – Luisi und Carbone, Rn 21; vgl auch Hindelang S 48 ff. 1535 Wagener/Eger S 342; vgl auch Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 1073; Merten/Papier/Streinz HGR VI/1 § 154 Rn 5. 1536 ABl 1988 L 178/5; vgl dazu EuGH, verb Rs 286/82 ua – Luisi und Carbone, Rn 20; Rs C-222/97 – Trummer, Rn 21; Rs C-452/04 – Fidium Finanz, Rn 41; Rs C-112/05 – VW-Gesetz, Rn 18; Rs C-560/13 – Wagner-Raith, Rn 23; vgl auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ress/Ukrow Art 63 Rn 128 ff mit zahlreichen Bsp aus der Rspr. 1537 EuGH, Rs C-302/97 – Konle: Grundstücke; vgl zum Ganzen Glöckner EuR 2000, 592. 1538 So auch EuGH, Rs C-484/93 – Svensson und Gustavsson, Rn 11; vgl aber EuGH, Rs C-222/95 – Parodi, Rn 17; Rs C-452/04 – Fidium Finanz, Rn 39 f, 42 f: „Folglich steht die Tätigkeit der gewerbsHermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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ten, andere Garantien und Pfandrechte, das Abtreten von Forderungen, Transferzahlungen in Erfüllung von Versicherungsverträgen sowie den Kapitalverkehr „mit persönlichem Charakter“1539 (Darlehen, Schenkungen, Erbschaften und Vermächtnisse etc). Umfasst sind weiterhin die Ein- und Ausfuhr von Vermögenswerten (Wertpapiere oder Zahlungsmittel1540) sowie Immaterialgüterrechte (Urheberrechte, Patente, gewerbliche Muster, Warenzeichen und Erfindungen). Eine gesonderte Erwähnung findet in Art 63 II AEUV der Zahlungsverkehr. 436 Darunter sind all diejenigen Kapitalübertragungen zu verstehen, die zur Bezahlung einer Leistung (Waren, Dienstleistungen, Arbeitskraft, Kapital) erfolgen.1541 Zahlungen, die als Gegenleistung für eine Ware oder Dienstleistung getätigt werden, werden als Annex zur Haupttätigkeit bereits von der jeweils schwerpunktmäßig betroffenen Grundfreiheit erfasst (Rn 282), etwa Kaufpreiszahlungen, Miete, Pacht oder Arbeitsentgelte.1542 Umfasst sind hingegen etwa Zahlungen mit Drittstaatsbezug oder Zahlungen, die zur Begleichung eines Kaufpreises aus einem rein nationalen Warenverkauf über eine ausländische Bank abgewickelt werden.1543Zudem gelten einige Beschränkungen, die für den Kapitalverkehr zulässig sind, nicht für den Zahlungsverkehr.1544 Aus dem eben Gesagten ergibt sich, dass die Abgrenzung der Kapital- und Zah437 lungsverkehrsfreiheit gegenüber den anderen Grundfreiheiten besondere Probleme bereiten kann, da bei Austauschverhältnissen regelmäßig auch ein Transfer von Vermögenswerten stattfindet bzw eine Zahlung geleistet wird. Eine Abgrenzung ist aufgrund der unterschiedlichen persönlichen Anwendungsbereiche immer dann geboten, wenn es sich um Sachverhalte mit Drittstaatsbezug handelt.1545 Im Zusammenhang mit der Niederlassungsfreiheit geht es insb um den Erwerb 438 von Geschäftsanteilen an Unternehmen oder Zweigniederlassungen. Trotz gegenseitiger Bezugnahme (Art 49 UAbs 2, 65 II AEUV) ergibt sich keine klare Abgrenzung.1546 Der EuGH hat daher bestimmte Kriterien zur Unterscheidung entwickelt (Rn 388).

_____ mäßigen Kreditvergabe grundsätzlich in einer Beziehung sowohl zum freien Dienstleistungsverkehr […] als auch zum freien Kapitalverkehr.“ 1539 Vgl dazu von Hippel EuZW 2005, 7. 1540 EuGH, verb Rs C-358/93 ua – Bordessa: Bargeld; nicht mehr dem Kapital-, sondern dem Warenverkehr unterfallen allerdings außer Verkehr befindliche Zahlungsmittel: EuGH, Rs 7/78 – Thompson, Rn 30/31. 1541 Ehlers/vWilmowsky § 12 Rn 5; Oppermann/Classen/Nettesheim § 30 Rn 4. 1542 Vgl aber EuGH, verb Rs 286/82 ua – Luisi und Carbone, Rn 21 f. 1543 Beispiel bei Ehlers/vWilmowsky § 12 Rn 5; vgl auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ress/Ukrow Art 63 AEUV Rn 324. 1544 Ehlers/vWilmowsky § 12 Rn 5; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ress/Ukrow Art 63 AEUV Rn 328 f. 1545 EuGH, Rs C-452/04 – Fidium Finanz; Ruffert EnzEuR 5/Ohler § 10 Rn 48 f; Hindelang JZ 2009, 829. 1546 Vgl auch Germelmann EuZW 2008, 596; Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 1076 mwN. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

VIII. Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit | 1105

Eine Investition in ein anderes Unternehmen bzw die Beteiligung daran fällt solange unter die Kapitalverkehrsfreiheit, bis sie die Schwelle überschreitet, ab der es die entspr Beteiligung ermöglicht, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen dieser Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen. In diesem Fall ist die Niederlassungsfreiheit anwendbar.1547 Eine parallele Anwendung beider Freiheiten durch den EuGH ermöglicht es, Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen ihnen zu überwinden, etwa wenn es um den Erwerb von Geschäftsanteilen geht und damit die Frage verbunden ist, ob es sich noch um die Ausübung der Kapitalverkehrsfreiheit handelt oder ob bereits die Niederlassungsfreiheit betroffen ist (Rn 388).1548 Die Abgrenzung gegenüber der Dienstleistungsfreiheit betrifft namentlich 439 die Tätigkeiten von Banken und Versicherungen. Problemlos lassen sich zunächst diejenigen Tätigkeiten der Dienstleistungsfreiheit zuordnen, die nicht direkt mit dem Kapitalgeschäft zu tun haben, zB bloße Beratungen. Demgegenüber bestimmt die etwas sperrige Vorschrift des Art 58 II AEUV, dass die Liberalisierung der mit dem Kapitalverkehr verbundenen Dienstleistungen der Banken und Versicherungen im Einklang mit der Liberalisierung des Kapitalverkehrs durchgeführt wird. Damit wird allerdings zugleich gesagt, dass die Aktivitäten dieser Institute sehr wohl als Dienstleistungen anzusehen sind. Dies gilt etwa für die gewerbsmäßige Vergabe von Krediten als „Finanzdienstleistungen“ (Rn 417).1549 Gleichwohl kann zugleich die Kapitalverkehrsfreiheit betroffen sein.1550 Die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit ist die einzige Grundfreiheit, die 440 schon von ihrem Wortlaut her Drittstaatsangehörige einbezieht. So bestimmt Art 63 AEUV, dass der Kapital- (Abs 1) sowie der Zahlungsverkehr (Abs 2) „zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern“ im Rahmen der Bestimmungen des Kapitels 4 keinerlei Beschränkungen unterworfen sein dürfen. Die Ausweitung des persönlichen Anwendungsbereichs bezweckt, ein größtmögliches Maß an Investitionen in der Union und in den Mitgliedstaaten sicherzustellen. Auch Drittstaatsangehörigen soll dazu ein Anreiz gegeben werden, indem ihnen garantiert wird, ihre Anlagen innerhalb der Union jederzeit wieder auflösen und rückführen zu können.1551 Der persönliche Anwendungsbereich gilt sowohl für natürliche als auch juristische Personen. Ausgangspunkt für die Frage des Grenzübertritts ist die Definition der Kapital- 441 und Zahlungsverkehrsfreiheit als grenzüberschreitender „Transfer von Vermögens-

_____ 1547 Vgl EuGH, Rs C-326/07 – Kommission / Italien, Rn 34 f; Rs C-212/09 – Kommission / Portugal, Rn 42 f; Rs 47/12 – Kronos, Rn 31 f. 1548 Vgl EuGH, Rs C-543/08 – Kommission / Portugal; Rs C-244/11 – Kommission / Griechenland. 1549 Vgl EuGH, Rs C-452/04 – Fidium Finanz, Rn 38 f; Rs C-560/13 – Wagner-Raith, Rn 32. 1550 EuGH, Rs C-484/93 – Svensson und Gustavsson, Rn 10 f; Rs C-560/13 – Wagner-Raith, Rn 36; Ruffert EnzEuR 5/Ohler § 10 Rn 47–49; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ress/Ukrow Art 63 AEUV Rn 295. 1551 Ehlers/vWilmowsky § 12 Rn 4; vgl auch Hindelang S 24 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1106 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

werten“ (Rn 436). Der Grenzübertritt kann in der Weise erfolgen, dass die verkörperten Vermögenswerte (etwa Bargeld) selbst ihren Lageort ändern, also die Grenze überschreiten. Es können indes auch Rechte und Forderungen die Grenze überschreiten, indem ihr Inhaber in ein anderes Land wechselt. Daneben besteht die Möglichkeit, dass die Vermögenswerte ihren Lageort behalten und allein der Inhaber der Forderung die Grenze eines Mitgliedstaates überschreitet. Dies kann der Fall sein, wenn Rechte oder Forderungen von einem Inhaber im Land A an einen neuen Inhaber im Land B übertragen oder abgetreten werden. Denkbar ist aber auch, dass sich eine Auslandsberührung lediglich aus der Belegenheit des Kapitals im Ausland ergibt, auch wenn der alte und neue Inhaber in demselben Land ansässig sind.1552

2. Beeinträchtigung 442 Diskriminierungen liegen grundsätzlich in Form von Staatsangehörigkeits- (offene

Diskriminierung) oder Ansässigkeitserfordernissen (versteckte Diskriminierungen) vor. Wird also etwa der Erwerb von Geschäftsanteilen davon abhängig gemacht, dass der Erwerber Inländer oder im Inland ansässig ist, so handelt es sich um diskriminierende Maßnahmen. Ebenso verhält es sich bei Maßnahmen im Bereich der Kapitalanlage, die Inländern oder im Inland ansässigen günstigere Konditionen gewähren als Ausländern. Auch das Genehmigungserfordernis für ausländische Direktinvestitionen kann eine Diskriminierung darstellen.1553 Der EuGH stellt in seinen Entscheidungen jedoch nicht explizit auf Diskriminierungen, sondern nur allgemein auf „Beschränkungen“ ab.1554 Verboten sind auch im Bereich der Kapitalverkehrsfreit alle Maßnahmen mit 443 beschränkender Wirkung. Hiervon sind sämtliche Beeinträchtigungen des Kapitalverkehrs umfasst, die geeignet sind, Gebietsfremde von Investitionen in einem Mitgliedstaat oder die dort Ansässigen von Investitionen in anderen Mitgliedstaaten abzuhalten.1555 Dies gilt selbst wenn sie Inländer und EU-Ausländer gleichermaßen – also ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit – treffen. Auch hier ist grundsätzlich danach zu fragen, ob es sich um eine Marktzugangs- oder eine Marktverhaltensregel handelt (Rn 307).1556 In diesem Sinne können sich etwa Genehmigungs- oder auch bloße Meldepflichten für die Ein- oder Ausfuhr von Kapital oder für grenzüber-

_____ 1552 EuGH, Rs C-510/08 – Mattner, Rs 19 ff; vgl auch Ehlers/vWilmowsky § 12 Rn 3. 1553 Vgl EuGH, Rs C-54/99 – Scientology, Rn 14 f, der es allerdings als „Beschränkung“ bezeichnet. Vgl auch EuGH, Rs C-423/98 – Albore. 1554 Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 1083 ff mwN. 1555 EuGH, Rs C-483/93 – Svensson und Gustavsson, Rn 10; Rs C-513/03 – van Hilten-van der Heijden, Rn 44; Rs C-342/10 – Kommission / Finnland, Rn 28; Rs C-559/13 – Grünewald, Rn 19; Rs C252/14 –Pensioenfonds Metaal en Techniek, Rn 27. 1556 Kemmerer S 177 ff; ausf Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ress/Ukrow Art 63 Rn 158 ff; kritisch zur Rspr des EuGH Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 1084. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

VIII. Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit | 1107

schreitende Zahlungen als Beschränkungen auswirken. Auch Bestimmungen, die den Grundstückserwerb an gewisse Aufenthalts- oder Genehmigungserfordernisse koppeln, stellen regelmäßig eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs dar.1557 Ebenso wirkt es beschränkend, wenn im Steuerrecht Einkünfte nicht berücksichtigt werden, weil sie von einer ausländischen Gesellschaft zufließen.1558 Einen großen Komplex bilden dabei Fälle, in denen sich Staaten bei der Privati- 444 sierung öffentlicher Unternehmen gewisse Vor- und Sonderrechte einräumen, etwa durch sog „Goldene Aktien“ („golden shares“).1559 Solche Sonderrechte liegen etwa bei Genehmigungsvorbehalten seitens des Staates bei Überschreiten bestimmter Schwellenwerte von Anteilen oder Stimmrechten, beim Widerspruchsrecht gegen Entscheidungen über die Abtretung oder die Verwendung als Sicherheit der Mehrheit des Kapitals von Tochtergesellschaften,1560 bei einer höchstzulässigen ausländischen Beteiligung,1561 Begrenzungen des Stimmrechts und Festlegen einer Sperrminorität in gewisser Höhe,1562 einem Genehmigungsvorbehalt durch die nationale Verwaltung für bestimmte Beschlüsse von Handelsgesellschaften, die deren Eigentümer- oder Organisationsstruktur betreffen,1563 beim Recht zur Entsendung von Mitgliedern in den Verwaltungsrat1564 oder in den Aufsichtsrat1565 und entspr Kontrollbefugnis vor. In den vorstehenden Fällen sind die Handlungen bzw Regelungen der Gesell- 445 schaften dem Staat zurechenbar, selbst dann, wenn die Beschränkungen aus den (privatrechtlichen) Gesellschaftsverträgen resultieren. Denn auch hier ist es noch auf staatliches Handeln rückführbar.1566 Letztlich spricht aber, in Übereinstimmung mit den allgemeinen Lehren (Rn 295 ff), nichts dagegen, dass grundsätzlich auch private Akteure, etwa in Form gesellschaftsvertraglicher Regelungen, gegen die Kapitalverkehrsfreiheit verstoßen können.

_____ 1557 Vgl EuGH, verb Rs C-197/11 ua – Libert, Rn 44 ff; Rs C-567/07, Woningstichting Sint Servatius, Rn 21. 1558 EuGH, Rs C-35/98 – Verkooijen, Rn 25 ff. 1559 Vgl dazu Wagener/Eger S 346 ff; Ruge EuZW 2002, 421; Grundmann/Möslein ZGR 2003, 317; Armbrüster JuS 2003, 224; Sander EuZW 2008, 33. 1560 EuGH, Rs C-483/99 – Elf Aquitaine, Rn 42; vgl auch Rs C-503/99 – Kommission / Belgien, Rn 39; Rs C-98/01 – British Airports Authority, Rn 41; Rs C-171/08 – Kommission / Portugal, Rn 57 ff. 1561 EuGH, Rs C-367/98 – Kommission / Portugal, Rn 39. 1562 EuGH, Rs C-112/05 – VW-Gesetz, Rn 31 ff. 1563 EuGH, Rs C-463/00 – Kommission / Spanien, Rn 54. 1564 So etwa EuGH, verb Rs C-463/04 ua – Federconsumatori, Rn 18; vgl auch Rs C-543/08 – Kommission / Portugal, Rn 54 ff. 1565 EuGH, Rs C-112/05 – VW-Gesetz, Rn 57 ff. 1566 EuGH, Rs C-98/01 – British Airports Authority, Rn 48; vgl auch Rs C-171/08 – Kommission / Portugal, Rn 50 ff; Rs C-543/08 – Kommission / Portugal, Rn 48 ff; vgl auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/ Ress/Ukrow Art 63 AEUV Rn 113 f. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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3. Rechtfertigung 446 Eingriffe in die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs können gerechtfertigt

sein. Dabei unterscheiden die Bestimmungen grundsätzlich zwischen dem innergemeinschaftlichen Kapitalverkehr und dem Kapitalverkehr mit Drittstaaten. Die Rechtfertigungstatbestände lassen sich aus der bei den Mitgliedstaaten verbleibenden Steuerhoheit sowie aus dem Erfordernis erklären, kurzfristige, größere Kapitalbewegungen zu reglementieren, die ernsthafte Störungen oder schwerwiegende Spannungen auf den Devisenmärkten verursachen können (Erwägung der RL 88/361).

a) Maßnahmen innerhalb der Union 447 Als Rechtfertigungsgrund gestattet es Art 65 I lit a AEUV den Mitgliedstaaten, als Ausdruck ihrer Steuersouveränität die einschlägigen Vorschriften des nationalen Steuerrechts anzuwenden, „die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln“. Es geht hierbei um Steuern, die das Halten oder Übertragen von oder den Ertrag aus Kapital betreffen, wie etwa Steuern auf Grunderwerb, Erbschafts- oder Dividendensteuern,1567 allerdings nur solche Vorschriften, die Ende 1993 bestanden („Stillhalteklausel“). Andere Steuerarten, die nicht das Kapital direkt betreffen, sondern primär die Waren-, Dienstleistungs-, Arbeitnehmer- oder Niederlassungsfreiheit beeinträchtigen, sind unter den dortigen Maßgaben zu beurteilen. Mit der Formulierung in Art 65 I lit a AEUV lässt der Vertrag explizit eine unterschiedliche Behandlung inländischer und ausländischer Steuerpflichtiger zu; dies allerdings nur, solange diese sachlich gerechtfertigt ist (Art 65 III AEUV).1568 Im Ergebnis unterliegt eine unterschiedliche Behandlung den gleichen Restriktionen wie unter dem Anwendungsbereich der anderen Grundfreiheiten.1569 Weiterhin dürfen Maßnahmen getroffen werden, die unerlässlich sind, um Zu448 widerhandlungen gegen nationale Rechts- oder Verwaltungsvorschriften (etwa Steuerhinterziehung) zu verhindern (Art 65 I lit b AEUV). Der Vertrag nennt exemplarisch („insbesondere“) das Steuerrecht und die Aufsicht über Finanzinstitute. Darüber hinaus sind aber auch andere Maßnahmen erlaubt, „soweit sie auf die Verhinderung rechtswidriger Tätigkeiten vergleichbarer Schwere, wie der Geldwäsche, des Drogenhandels und des Terrorismus, abzielen“.1570 Auf diesen Rechtferti-

_____ 1567 Ehlers/vWilmowsky § 12 Rn 15. Vgl auch die entspr Erklärung zum Vertrag von Maastricht, ABl 1992 C 191/99. 1568 Vgl auch EuGH, Rs C-35/98 – Verkooijen, Rn 43 ff; Rs C-386/04 – Centro di Musicologia Walter Stauffer, Rn 42 ff. 1569 So auch Ehlers/vWilmowsky § 12 Rn 18; Merten/Papier/Streinz HGR VI/1 § 154 Rn 9. 1570 EuGH, verb Rs C-358/93 ua – Bordessa, Rn 21; verb Rs C-163/94 ua – Sanz de Lera, Rn 22. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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gungsgrund lassen sich etwa Anmeldeerfordernisse für den grenzüberschreitenden Verkehr größerer Bargeldsummen stützen. Das Erfordernis einer vorherigen Genehmigung ist allerdings nicht gerechtfertigt, da unverhältnismäßig.1571 Art 65 I lit b AEUV lässt Beschränkungen des Kapital- und Zahlungsverkehrs zu, 449 die aus Meldeverfahren zur Erhebung administrativer oder statistischer Information resultieren. Als eng auszulegender Ausnahmetatbestand vermag dies jedoch nicht jede Beschränkung durch Meldepflichten zu rechtfertigen. Andererseits ist er nicht auf Maßnahmen beschränkt, die der Wirksamkeit der Steueraufsicht und der Bekämpfung rechtswidriger Tätigkeiten dienen, da diese Ziele bereits von den beiden eben genannten Rechtfertigungsgründen erfasst werden.1572 Zu den statistischen Zwecken zählt etwa die Erstellung der Zahlungsbilanz.1573 Schließlich kennt der Vertrag den expliziten Rechtfertigungsgrund der öffentli- 450 chen Sicherheit und Ordnung, der im Einklang mit den anderen Grundfreiheiten auszulegen ist (Rn 349, 381, 399). Speziell können es Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung rechtfertigen, ausländische Direktinvestitionen einer Genehmigung zu unterziehen.1574 Zu den legitimen Gründen der öffentlichen Sicherheit gehören etwa die Sicherstellung der Versorgung mit bestimmten Rohstoffen,1575 die Sicherstellung der Energieversorgung1576 oder der Telekommunikation1577 oder Maßnahmen gegen Geldwäsche,1578 nicht allerdings allgemeine finanzielle Interessen eines Mitgliedstaates.1579 Auch das Einfrieren von Konten und damit die Beeinträchtigung freier Kapitalbewegungen im Rahmen von GASP-Maßnahmen kann aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gerechtfertigt sein. Die Kommission hat die von Zypern (2013)1580 und Griechenland (2015)1581 erlassenen temporären Kapitalverkehrsbeschränkungen aus Gründen der Finanzmarktstabilität und der

_____ 1571 EuGH, verb Rs C-358/93 ua – Bordessa, Rn 25, 27. 1572 Vgl in diesem Zusammenhang EuGH, verb Rs C-358/93 ua – Bordessa, Rn 19 ff. 1573 Dazu näher Ehlers/vWilmowsky § 12 Rn 29. 1574 Vgl dazu EuGH, Rs C-54/99 – Scientology, Rn 20. Im Ergebnis hat der EuGH die französische Regelung aber wegen Unbestimmtheit zurückgewiesen. Ebenso EuGH, Rs C-483/99 – Elf Aquitaine, Rn 50. S unlängst die VO 2019/452 zur Schaffung eines Rahmens für die Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen, ABl 2019 L 79I/1 sowie Brauneck EuZW 2018, 188 und Schuelken EuR 2018, 577. 1575 EuGH, Rs C-483/99 – Elf Aquitaine, Rn 43, 47. 1576 EuGH, Rs C-503/99 – Kommission / Belgien, Rn 46 ff; Rs C-543/08 – Kommission / Portugal, Rn 84. 1577 EuGH, Rs C-463/00 – Kommission / Spanien, Rn 71. Auch die spanischen Regelungen wurden wegen Unbestimmtheit als unvereinbar mit dem Unionsrecht angesehen (Rn 74 ff). Ebenso EuGH, Rs C-171/08 – Kommission / Portugal, Rn 52 ff. 1578 Ausf dazu Seyad S 168 ff. 1579 EuGH, Rs C-367/98 – Kommission / Portugal, Rn 52. 1580 S http://europa.eu/rapid/press-release_IP-13-298_en.htm. 1581 S http://europa.eu/rapid/press-release_STATEMENT-15-5271_en.htm. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

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Stabilität des Bankensektors als Angelegenheiten von überragendem öffentlichem Interesse als gerechtfertigt angesehen.1582 Schließlich bestimmt Art 65 II AEUV, dass das Kapitel über den freien Kapital451 und Zahlungsverkehr nicht die Anwendbarkeit von Beschränkungen des Niederlassungsrechts berührt, die mit den Verträgen vereinbar sind. Die dort statuierten Rechtfertigungsgründe dürften allerdings kaum über das hinausgehen, was nicht auch von einer der sonstigen Rechtfertigungen im Rahmen der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit gedeckt ist.1583 Neben den geschriebenen sind auch ungeschriebene Rechtfertigungsgründe 452 anerkannt.1584 Diese betreffen etwa Maßnahmen zur Sicherung der Geldwertstabilität, der Funktionsfähigkeit der Kapitalmärkte, des Verbraucher- oder des Umweltschutzes1585 sowie die Wirksamkeit der steuerlichen Kontrolle.1586 Im Zusammenhang mit den sog „Goldenen Aktien“ („golden shares“) können der Schutz der Arbeitnehmerinteressen oder der Minderheitsaktionäre ein legitimes Interesse darstellen.1587 Nicht als (ungeschriebener) Rechtfertigungsgrund anerkannt wurde hingegen etwa das Interesse an einem Schutz der Wettbewerbsbedingungen auf einem bestimmten Markt, da die Notwendigkeit, eine etwaige Störung des Kapitalmarkts zu verhindern, zu einem der wirtschaftlichen Gründe (Rn 308) gehört, die keine Beeinträchtigung des freien Kapitalverkehrs rechtfertigen können.1588 Beeinträchtigungen des Immobilienerwerbs, etwa durch „soziale Auflagen“, sind unter dem Erfordernis der Sozialwohnungspolitik hingegen als gerechtfertigt angesehen worden.1589 Art 345 AEUV (Eigentumsordnung) rechtfertigt für sich genommen ebenfalls keine Beeinträchtigung, die zugrunde liegenden Interessen können aber als zwingende Gründe des Allgemeinintereses berücksichtigt werden.1590

b) Maßnahmen gegenüber Drittstaaten 453 Die Rechtfertigungsgründe, die die Freiheit des Kapitalverkehrs zwischen den Mit-

gliedstaaten einschränken können, gelten a minore ad maius auch für den grenz-

_____ 1582 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ress/Ukrow Art 65 Rn 65 f; Dopsch/Wutscher EuZW 2014, 729. 1583 Haratsch/Koenig/Pechstein Rn 1093; Haferkamp S 198 ff; vgl auch EuGH, Rs C-446/04 – Test Claimants, Rn 98. 1584 Vgl auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ress/Ukrow Art 63 Rn 225 ff mwN aus der Rspr. 1585 Vgl etwa EuGH, verb Rs C-515/99 ua – Reisch, Rn 34. 1586 EuGH, Rs C-101/05 – A, Rn 54 ff. 1587 EuGH, Rs C-112/05 – VW-Gesetz, Rn 74, 77. Beide Rechtfertigungsgründe wurden vom EuGH aber wegen Unverhältnismäßigkeit zurückgewiesen. 1588 EuGH, Rs C-171/08 – Kommission / Portugal, Rn 70 f mwN. 1589 EuGH, verb Rs C-197/11 ua – Libert, Rn 69. 1590 EuGH, verb Rs C-105/12 ua – Esent, Rn 53–55; dazu Klement EuZW 2014, 57. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

VIII. Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit | 1111

überschreitenden Kapitalverkehr mit Drittstaaten.1591 Die Tragweite dieser Rechtfertigungsgründe kann im Verhältnis zu Drittstaaten allerdings weiter reichen als im innergemeinschaftlichen Verhältnis, vor allem im Stadium der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer staatlichen Maßnahme.1592 Darüber hinaus kennt der Vertrag weitere Gründe, die eine Beeinträchtigung rechtfertigen können. Zunächst sieht Art 64 I AEUV vor, dass beschränkende Vorschriften für dort ge- 454 nannte Bereiche des Kapitalverkehrs mit Drittländern, die am 31. Dezember 1993 (bzw 1999, 2002 für später beigetretene Länder) in Kraft waren, weiterhin angewandt werden können. Dies setzt voraus, dass der rechtliche Rahmen, in den sich die betreffende Beschränkung einfügt, seit diesem Datum ununterbrochen Teil der nationalen Rechtsordnung war.1593 Nach Abs 2 werden im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren entspr Liberalisierungsmaßnahmen erlassen, die die in Abs 1 genannten Restriktionen allerdings nicht aufheben können. Rückschritte in der Liberalisierung durch EU-Maßnahmen sind nur durch einstimmigen Ratsbeschluss möglich (Abs 3). Diese müssen sich gleichwohl im Rahmen völkerrechtlicher Verpflichtungen halten (Rn 268). Ausnahmsweise können auch restriktive steuerliche Maßnahmen, die von einem Mitgliedstaat allein getroffen werden, als vertragskonform angesehen werden, sofern sie durch eines der Ziele der Union gerechtfertigt und mit dem ordnungsgemäßen Funktionieren des Binnenmarkts vereinbar sind (Abs 4).1594 Daneben kann der Rat nach Art 66 AEUV Schutzmaßnahmen gegenüber Dritt- 455 ländern erlassen, wenn diese unbedingt erforderlich sind, um (drohende) schwerwiegende Störungen für das Funktionieren der Wirtschafts- und Währungsunion durch Kapitalbewegungen nach oder aus dritten Ländern zu verhindern oder zu beseitigen. Störungen können dabei in der Form einer Verknappung des Kapitalangebots, einer nachteiligen Zinsentwicklung oder erheblicher Kursschwankungen eintreten.1595 Zudem sind Schutzmaßnahmen nur unter „außergewöhnlichen Umständen“ möglich. Lediglich durch den normalen Wirtschaftszyklus bedingte Störungen reichen daher nicht aus.1596 Die Maßnahmen sind auf maximal sechs Monate zu befristen. Dabei müssen sie sich an Art 119 ff AEUV orientieren.1597 Die Zulässigkeit von Schutzmaßnahmen sollte daher in Übereinstimmung mit Art 122 II AEUV ausgelegt werden. Schutzmaßnahmen hinsichtlich ausländischer Direktinvestitio-

_____ 1591 Vgl EuGH, Rs C-101/05 – A, Rn 35; so auch Kemmerer S 261; Ehlers/vWilmowsky § 12 Rn 44. 1592 EuGH, Rs C-446/04 – Test Claimants, Rn 171; Rs C-101/05 – A, Rn 36 f; dazu Ehlers/ vWilmowsky § 12 Rn 49 f. 1593 EuGH, Rs C-446/04 – Test Claimants, Rn 192; Rs C-157/05 – Holböck, Rn 41; Rs C-101/05 – A, Rn 48 f. 1594 Dazu Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ress/Ukrow Art 65 AEUV Rn 79 ff. 1595 Honrath S 224; Kemmerer S 222. 1596 Honrath S 227; Kemmerer S 223. 1597 Vgl auch Ehlers/vWilmowsky § 12 Rn 46. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1112 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

nen können sich auch aus der gemeinsamen Handelspolitik nach Art 207 I, II AEUV ergeben.1598

c) Wirtschaftssanktionen 456 Auch außerhalb der Kernbestimmungen zur Kapitalverkehrsfreiheit sieht der AEUV

die Möglichkeit restriktiver Maßnahmen gegenüber Drittstaaten vor.1599 Diese wirken als Rechtfertigungsgründe. Nach Art 215 I AEUV erlässt der Rat mit qualifizierter Mehrheit die notwendigen Maßnahmen zur Durchführung eines GASP-Beschlusses, der die Aussetzung, Einschränkung oder vollständige Einstellung der Wirtschaftsund Finanzbeziehungen zu einem oder mehreren Drittstaaten vorsieht.1600 Das EP wird lediglich unterrichtet. Nach Maßgabe des Abs 2 können diese restriktiven Maßnahmen auch gegenüber natürlichen oder juristischen Personen, Gruppierungen oder nichtstaatlichen Einheiten erlassen werden. Nach Art 275 II AEUV ist der EuGH, der regelmäßig keine Zuständigkeit im Rahmen der GASP besitzt (Art 24 I UAbs 2 S 6 EUV),1601 zur Überprüfung einschlägiger Rechtsakte berufen. Zur Bekämpfung des Terrorismus enthält Art 75 AEUV eine weitere Regelung. 457 Sie tritt neben die allgemeine Bestimmung über „restriktive Maßnahmen“ (Art 215 AEUV), ist aber keine lex specialis.1602 Nach Maßgabe des Art 75 AEUV können zur Verwirklichung der Ziele des RFSR (Art 67 AEUV) mit Blick auf Terrorismusverhütung und -bekämpfung Verwaltungsmaßnahmen in Bezug auf Kapitalbewegungen und Zahlungen nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen werden.1603 Dazu gehört etwa das Einfrieren von Geldern, finanziellen Vermögenswerten oder wirtschaftlichen Erträgen von natürlichen oder juristischen Personen, Gruppierungen oder nichtstaatlichen Einheiten. Dabei spielt es keine Rolle, welche Staatsangehörigkeit oder Ansässigkeit der Betroffene hat. Auch diese Rechtsakte können unter den Voraussetzungen des Art 263 IV AEUV durch den EuGH überprüft werden.

4. Europäischer Finanzraum 458 Die Freiheit des Kapitalverkehrs verlangt ebenso wie der Binnenmarkt und der freie

Wirtschaftsverkehr nicht nur den Abbau von Behinderungen, sondern zugleich

_____ 1598 S auch Cremer § 22 (in diesem Band) Rn 181 ff s jüngst VO 2019/452, ABl 2019 L 79I/1, sowie Brauneck EuZW 2018, 188 und Schuelken EuR 2018, 577. 1599 Vgl dazu auch Kemmerer S 227 ff. 1600 Cremer § 22 (in diesem Band) Rn 230 ff. 1601 Cremer § 22 (in diesem Band) Rn 28, 236. 1602 EuGH, Rs 130/10 – Parlament / Rat, Rn 66. Da für beide Vorschriften ein anderes Verfahren gilt, schließen sie sich als Rechtsgrundlage gegenseitig aus (ebd, Rn 45). Vgl dazu auch Herrnfeld EuR 2013, 87. 1603 Vgl auch Streinz Rn 965. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

VIII. Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit | 1113

Maßnahmen der positiven Integration. Ein integrierter europäischer Finanzraum führt zur besseren Kapitalallokation durch grenzüberschreitende Risikodiversifizierung sowie zu einer besseren Aufnahme (geld-)politischer Impulse, birgt aber infolge der Verflechtung gleichzeitig das Risiko einer ungehinderten Ausbreitung lokaler Verwerfungen.1604 Ein wichtiger Faktor ist dabei der Abbau von Informationsasymmetrien zwischen denen, die an Kapitalgeschäften beteiligt sind. Fehlende Informationen über ausländische Märkte, verursacht insb durch unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen, führen auch hier zu einer Bevorzugung nationaler Anbieter oder Nachfrager („home bias“).1605 Die ZahlungsdienstRL 2015/23661606 enthält Regeln zur Transparenz der Ver- 459 tragsbedingungen, über die Informationspflichten für Zahlungsdienste sowie die jeweiligen Rechte und Pflichten von Zahlungsdienstnutzern und Zahlungsdienstleistern. Gleichzeitig schafft die RL den notwendigen rechtlichen Rahmen für den einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrsraum (SEPA). Ergänzt wird diese RL durch die VO 924/2009 über grenzüberschreitende Zahlungen 1607 und die VO 260/2012 zur Festlegung technischer Vorschriften.1608 Ein nicht unwesentlicher Faktor bei der Herstellung eines europäischen Finanz- 460 raumes ist die Einführung einer gemeinsamen Währung, des Euro, im Rahmen der mit dem Vertrag von Maastricht errichteten WWU.1609 Der freie Kapitalverkehr und die Währungsunion stehen dabei in einer „symbiotischen Beziehung“, da eine gemeinsame Währung einen beachtlichen Risikofaktor für den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr – das Wechselkursrisiko – eliminiert und andererseits ein europäischer Kapitalraum die Grundlage für eine Gemeinschaftswährung bildet.1610 Kapitalanbieter und -nachfrager treffen häufig nicht direkt aufeinander. Viel- 461 mehr werden Kapitalgeschäfte über sog Finanz-Intermediäre (Banken, Versicherungen und Börsen)1611 abgewickelt. Der Marktsegmentierung begegnet die Union durch eine Vereinheitlichung der rechtlichen Rahmenbedingungen. Diese Unitarisierung wirkt sich nicht nur auf die Kapitalverkehrsfreiheit aus, sondern betrifft in Form sog Finanzdienstleistungen auch den freien Dienstleistungsverkehr und die Niederlassungsfreiheit für Finanzinstitute. Die Maßnahmen auf Unionsebene stützen sich dabei im Wesentlichen auf drei Grundsätze: Teilharmonisierung, gegenseitige Anerkennung (sog „europäischer Pass“) und Sitzlandkontrolle.1612

_____ 1604 1605 1606 1607 1608 1609 1610 1611 1612

Ruffert EnzEuR 5/Ohler § 10 Rn 34. Wagener/Eger S 362 f. ABl 2015 L 337/35. ABl 2009 L 266/11. Vgl zur Vorgänger-VO 2560/2001 Hoffmann EuZW 2002, 69. ABl 2012 L 94/22. Gramlich § 15 (in diesem Band) Rn 23 ff. Vgl Oppermann/Classen/Nettesheim § 30 Rn 5. Dazu Ruffert EnzEuR 5/Ohler § 10 Rn 23 ff. Wagener/Eger S 351, 363; Ruffert EnzEuR 5/Ohler § 10 Rn 61 f.

Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

1114 | § 13 Binnenmarkt, Rechtsangleichung, Grundfreiheiten

462

Wegen ihrer Berührungspunkte mit der Kapitalverkehrsfreiheit nehmen die Finanzdienstleistungen eine besondere Stellung innerhalb der Dienstleistungsfreiheit ein. Art 58 II AEUV bestimmt, dass die Liberalisierung der mit dem Kapitalverkehr verbundenen Dienstleistungen der Banken und Versicherungen im Einklang mit der Liberalisierung des Kapitalverkehrs durchgeführt wird. Wichtige Rechtsakte in diesem Bereich sind die VO 575/2013 über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen1613 und die RL 2013/36 über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen 1614 („europäisches Kreditwesengesetz“). Darüber hinaus wurde ein umfassendes System der Finanzaufsicht aufgebaut.1615

NEUE RECHTE SEITE

_____ 1613 ABl 2013 L 176/1. 1614 ABl 2013 L 176/338. 1615 Gramlich § 15 (in diesem Band) Rn 151 ff. Hermann-Josef Blanke/Robert Böttner

§ 14 Die Wettberwerbsregeln des Unionsrechts | 1115

Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

§ 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß § 14 Die Wettberwerbsregeln des Unionsrechts https://doi.org/10.1515/9783110498349-014

Gliederungsübersicht I. Einführung (Jungheim-Hertwig) 1. Funktion der Wettbewerbsregeln im Unionsrecht a) Die Entwicklung des europäischen Wettbewerbsrechts b) Die Verzahnung von Recht und Ökonomie 2. Anwendung der Wettbewerbsregeln durch Kommission und Mitgliedstaaten a) Die Kartellverfahrensverordnung b) Die Zusammenarbeit im Bereich der Fusionskontrolle c) Die Beihilfenkontrolle der Kommission (Weiß) 3. Räumlicher Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln a) Die Zwischenstaatlichkeitsklausel b) Extraterritoriale Anwendung der Wettbewerbsregeln 4. Der Unternehmensbegriff a) Definition b) Die „wirtschaftliche Einheit“ 5. Der relevante Markt II. EU-Kartellrecht und Missbrauchsaufsicht (Jungheim-Hertwig) 1. Wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen und Verhaltensweisen a) Das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen und Verhaltensweisen aa) Normadressaten bb) Vereinbarung, Beschluss und abgestimmte Verhaltensweise cc) Wettbewerbsbeschränkung dd) Beeinträchtigung des Handels zwischen denMitgliedstaaten b) Die Freistellung vom Verbot des Art 101 I AEUV aa) Die Generalklausel des Art 101 III AEUV bb) Die Gruppenfreistellungsverordnungen 2. Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung a) Normadressaten b) Die beherrschende Stellung c) Missbräuchliche Ausnutzung d) Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten 3. Rechtsfolgen III. Die Fusionskontrolle (Jungheim-Hertwig) 1. Anwendungsbereich der Fusionskontrolle a) Die Umsatzschwellen des Art 1 Fusionskontrollverordnung b) Zusammenschlusstatbestände 2. Das Verfahren a) Anmeldepflicht b) Vollzugsverbot c) Ablauf des Verfahrens 3. Der Beurteilungsmaßstab der Kommission a) Der SIEC-Test b) Horizontale Fusionen c) Vertikale Fusionen

Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß https://doi.org/10.1515/9783110498349-014

Rn 1 1 3 7 13 13 31 36 41 41 46 49 49 54 57 66 66 68 68 70 79 100 101 102 105 116 117 118 128 144 145 152 152 154 159 169 169 171 173 179 190 198 203

1116 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

d) Konglomerate Fusionen e) Sanierungsfusionen f) Berücksichtigung von Effizienzen 4. Entscheidungsbefugnisse der Kommission a) Freigabe und Untersagung b) Auflösung eines Zusammenschlusses c) Rechtsmittel der Unternehmen IV. Art 106 AEUV (Jungheim-Hertwig) 1. Bindung der Mitgliedstaaten an die Wettbewerbsregeln a) Besondere und ausschließliche Rechte b) Öffentliche Unternehmen c) Maßnahmen im Sinne des Art 106 I AEUV 2. Art 106 II AEUV: Ausnahme für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse V. Das Beihilferegime (Weiß) 1. Begriff, Bedeutung, Rechtsgrundlagen a) Beihilfenrecht: Begriff, Bedeutung und Zielsetzung b) Rechtsgrundlagen: Primärrecht, Sekundärrecht, Leitlinien und Unionsrahmen c) Anwendungsbereich des EU-Beihilfenrechts 2. Das Verbot nationaler Beihilfen: der Beihilfenbegriff (Art 107 I AEUV) a) Begünstigung b) aus öffentlichen Mitteln c) Spezifität/Selektivität: für bestimmte Unternehmen oder Branchen d) Wettbewerbsverfälschung e) Zwischenstaatlichkeit 3. Ausnahmen vom Beihilfenverbot a) Legalausnahme nach Art 107 II AEUV b) Ermessensausnahmen nach Art 107 III AEUV aa) Zur Ermessensausübung der Kommission bb) Art 107 III lit a) AEUV: Beihilfen zur Förderung wirtschaftlich erheblich benachteiligter Gebiete cc) Art 107 III lit b) AEUV: Beihilfen zur Förderung wichtiger Vorhaben oder zur Behebung von Wirtschaftskrisen dd) Art 107 III lit c) AEUV: Beihilfen zur Förderung der Entwicklung ee) Art 107 III lit d) und lit e) AEUV c) Konkretisierungen der Ausnahmen im Sekundärrecht und im Soft Law d) Insbesondere: Daseinsvorsorge: Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse 4. Verfahrensrecht a) Beihilfeaufsichtsverfahren aa) Vorbemerkung bb) Voranmeldephase cc) Vorverfahren bei neuen oder rechtswidrigen Beihilfen dd) Vorverfahren bei bestehenden Beihilfen ee) Hauptprüfverfahren ff) Beschwerdeverfahren b) Rückforderungen

204 207 210 213 213 217 219 222 222 225 228 234 235 239 239 239 245 257 261 264 276 283 294 297 301 303 306 306 312 313 315 316 318 324 329 329 329 333 335 339 340 344 346

Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

I. Einführung | 1117

5.

Rechtsschutz im Beihilfenrecht a) Rechtsschutz gegen Entscheidungen der Kommission b) Rechtsschutz vor nationalen Gerichten

351 353 356

Spezialschriftum Birnstiel, Alexander/Bungenberg, Marc/Heinrich, Helge (Hrsg)Europäisches Beihilfenrecht, 2013; Emmerich, Volker/Lange, Knut Werner Kartellrecht, 2018; Immenga, Ulrich/Mestmäcker, ErnstJoachim (Hrsg) Wettbewerbsrecht, 2012; Langen, Eugen/Bunte, Hermann-Josef Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, 2018; Loewenheim, Ulrich/Meessen, Karl M/Riesenkampff/ Kersting, Christian/Meyer-Lindemann, Hans Jürgen Alexander Kartellrecht, 2016; Mestmäcker, ErnstJoachim/Schweitzer, Heike Europäisches Wettbewerbsrecht, 2014; Petzold, Hans Arno Beihilfenkontrolle im Europäischen Mehrebenensystem, 2. Aufl 2015; Schmidt, Ingo/Haucap, Justus Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, 2013; Schwalbe, Ulrich/Zimmer, Daniel Kartellrecht und Ökonomie, 2011; Whish, Richard/Bailey, David Competition Law, 9. Aufl, 2018. Leitentscheidungen Zum Kartellrecht und zur Fusionskontrolle EuGH: verb Rs 56, 58/64 – Grundig / Consten; Rs 56/65 – LTM / Maschinenbau Ulm; Rs 5/69 – Völk / Vervaecke; Rs 48/69 – ICI / Kommission; Rs 6/72 – Continental Can; Rs 127/73 – BRT / SABAM; verb Rs 40–48, 50, 54–56, 111, 113 und 114/73 – Suiker Unie ua; Rs 26/76 – Metro / Kommission; Rs 27/76 – United Brands / Kommission; Rs 85/76 – Hoffmann-La Roche / Kommission; Rs 22/78 – Hugin; Rs 66/86 – Ahmed Saeed Flugreisen und Silverline Reisebüro GmbH; Rs C-62/86 – AKZO; Rs C234/89 – Delimitis; Rs C-179/90 – Merci Convenzionali Porto di Genova; Rs C-41/90 – Höfner und Elser / Macrotron; verb Rs C-159/91 und C-160/91 – Poucet und Pistre; Rs C-241, 242/91 P – Magill TV Guide / ITP, BBC, RTE; Rs C-320/91 – Paul Corbeau; verb Rs C-68/94 und C-30/95 – Kali+Salz; Rs C7/95 P – Deere / Kommission; Rs T-102/96 – Gencor / Kommission; Rs C-475/99 – Ambulanz Glöckner; verb Rs C-264/01, C-306/01, C-354/01, C-355/01 – AOK Bundesverband ua; Rs C-82/01 P – Aéroports de Paris; Rs C-418/01 – IMS; Rs C-12/03 P –Tetra Laval; Rs C-205/03 P – Fenin / Kommission; verb Rs C-295/04 bis C-298/04 – Manfredi; Rs C-97/08 P – Akzo Nobel; Rs C-8/08 – T-Mobile Netherlands ua; Rs C-360/09 – Pfleiderer; Rs C-439/09 – Pierre Fabre; Rs C-52/09 – Telia Sonera; Rs C226/11 – Expedia; Rs C-413/14 P – Intel Corp.; Rs C-230/16 – Coty Germany GmbH / Parfümerie Akzente GmbH; Rs C-671/15 – Président de l’Autorité de la concurrence/APVE. Zum Beihilferecht EuGH: Rs C-39/94 – SFEI; Rs C-24/95 – Alcan; Rs C-75/97 – Maribel; Rs C-379/98 – Preussen Elektra; Rs C-280/00 – Altmark Trans; Rs C-1/09 – CELF II; Rs C-437/09 – AG2R; Rs C-124/10 P – EDF; Rs C399/10 P und C-401/10 P – Bouygues; Rs C-284/12 – Deutsche Lufthansa EuG: Rs T-196/04 – Ryanair

I. Einführung I. Einführung (Jungheim-Hertwig) 1. Funktion der Wettbewerbsregeln im Unionsrecht Die Artikel 101–109 AEUV enthalten die Wettbewerbsregeln des Vertrages. Primär- 1 rechtlich geregelt sind das Kartellverbot, der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung und das Beihilfenregime. Die Zusammenschlusskontrolle ist hingegen nur sekundärrechtlich in der Fusionskontrollverordnung verankert. Die Wettbewerbsregeln ergänzen die Grundfreiheiten. Während die Grundfreiheiten staatliche Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1118 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

Hemmnisse des Binnenmarktes abbauen und verhindern sollen, ist es die Aufgabe der Wettbewerbsregeln, dafür zu sorgen, dass nicht private Beschränkungen des Binnenmarktes an die Stelle staatlicher Handelshemmnisse treten.1 Dies wird als die integrationspolitische Funktion des europäischen Wettbewerbsrechts bezeichnet. Die Beihilfenaufsicht der Art 107 ff AEUV soll Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt durch Subventionen der Mitgliedstaaten an Unternehmen verhindern, also staatliche Interventionen in den Wettbewerbsprozess. Das Unionsrecht schützt den redlichen Wettbewerb.2 Darunter ist nach deut2 schem Verständnis der lautere und erlaubte Wettbewerb zu verstehen. Der Gerichtshof ist in seinem Urteil vom 7. Februar 20133 sogar noch weiter gegangen und hat den Schutz der Wettbewerbsregeln auf einen illegal am Markt tätigen Wettbewerber ausgedehnt. Geschützt wird durch das Wettbewerbsrecht der Union nicht nur der aktuelle, sondern auch der potentielle Wettbewerb.

a) Die Entwicklung des europäischen Wettbewerbsrechts 3 Bereits im EGKS-Vertrag von 1951 und im EWGV von 1957 waren das Kartellverbot, die Missbrauchsaufsicht und die Beihilfenkontrolle enthalten. Eine Fusionskontrolle war im EGKS-Vertrag zu finden, aber nicht in den anderen Gemeinschaftsverträgen. Die allgemeine Fusionskontrolle wurde erst erheblich später, nach mehreren gescheiterten Versuchen, im Jahr 1989 und lediglich sekundärrechtlich mit der ersten Fusionskontrollverordnung,4 die im Jahr 1990 in Kraft trat, eingeführt. Eine weitreichende Veränderung brachte das Jahr 2004 mit dem Inkrafttre4 ten der novellierten Fusionskontrollverordnung (VO 139/2004)5 und der novellierten Kartellverfahrensverordnung (VO 1/2003). Mit der VO 1/2003 wurden die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten verpflichtend in die Anwendung des europäischen Kartellverbots und der Missbrauchsaufsicht einbezogen. Zugleich fand ein Systemwechsel statt. Während zuvor Freistellungen vom Kartellverbot bei der Kommission notifiziert werden mussten, wurde das System der Legalausnahme eingeführt, welches den Unternehmen die Pflicht zur Selbsteinschätzung auferlegte. In den Anfangszeiten hatte insbesondere die integrationspolitische Funktion 5 der Wettbewerbsregeln eine herausragende Bedeutung. Die Ausgangssituation bildeten die vielen nationalen Märkte, aus denen ein gemeinsamer Binnenmarkt ge-

_____ 1 Emmerich/Lange S 12. 2 Präambel Absatz 4 AEUV. 3 EuGH, Rs C-68/12 – Protomonopolný úrad Slovenskej republiky / Slovenská sporitel’na. 4 VO 4064/89, ABl 1989 L 395/1. 5 Die Vorarbeiten zu der Revision der FKVO waren das Grünbuch der EU-Kommission über die Revision der FKVO vom 11.12.2001 und darauf aufbauend der Verordnungsvorschlag der Kommission vom 11.12.2002, KOM(2002) 711, ABl 2003 C 20/4. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

I. Einführung | 1119

schaffen werden sollte. Inzwischen sind die Allokationseffizienz und die Wohlfahrtsaspekte, die aus einem funktionierenden Wettbewerb erwachsen, in den Vordergrund gerückt. Dabei kann Wohlfahrt unter verschiedenen Gesichtspunkten, wie Gesamtwohlfahrt, Produzenten- oder Konsumentenwohlfahrt betrachtet werden. Die Kommission, die von Anfang an für die Anwendung der Wettbewerbsregeln zuständig war, setzt den Schwerpunkt dabei auf die Konsumentenwohlfahrt, allerdings wird dieser Aspekt um die Allokationseffizienz erweitert, wodurch letztlich die Gesamtwohlfahrt in den Blick genommen wird. Nach dem Vollzug des Brexit wird der Einfluss Großbritanniens als Mitstreiter 6 für das Wettbewerbsprinzip in der Union fehlen. In der Literatur wird befürchtet, dass industriepolitischen Erwägungen künftig mehr Raum in der europäischen Wettbewerbspolitik eingeräumt werden könnte.6 Perspektivisch ist zu erwarten, dass sich das europäische Wettbewerbsrecht und das UK-Wettbewerbsrecht auseinanderentwickeln werden.7

b) Die Verzahnung von Recht und Ökonomie Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts knüpfen an ökonomische Sachverhalte 7 und Begriffe an und leiten daraus Rechtsfolgen ab. Dabei wird auf die Definition des zentralen Begriffs Wettbewerb verzichtet, weshalb in der Literatur auch von einem ergebnisoffenen Wettbewerbskonzept gesprochen wird.8 Allerdings hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung durchaus prozessuale und strukturelle Voraussetzungen des Wettbewerbs bzw des Wettbewerbsprozesses herausgearbeitet.9 Leitbild ist der wirksame Wettbewerb, welcher einen effizienten Ressourceneinsatz sowie die Steigerung der Konsumentenwohlfahrt fördert. Die dem Wettbewerb zugeschriebenen positiven Mechanismen greifen nur, 8 wenn jeder Unternehmer unabhängig und rational entscheidet, das sog Selbständigkeitspostulat.10 Deswegen ist den Unternehmen „jede unmittelbare oder mittelbare Fühlungnahme“ untersagt, welche „bezweckt oder bewirkt, entweder das Marktverhalten eines gegenwärtigen oder potentiellen Mitbewerbers zu beeinflussen oder einen solchen Mitbewerber über das Marktverhalten ins Bild zu setzen, das man selbst an den Tag zu legen entschlossen ist oder in Erwägung zieht“.11 Das Selbständigkeitspostulat ist die am Wettbewerbsprozess orientierte Voraussetzung,

_____ 6 ZB Kramme/Baldus/Schmidt-Kessel/Wendland S 244. 7 So auch Kramme/Baldus/Schmidt-Kessel/Wendland S 244. 8 Zimmer WuW 2007, 1202. 9 Zimmer WuW 2007, 1202. 10 Mestmäcker/Schweitzer Kap 3 § 10 Rn 38. 11 EuGH, verb Rs 40–48, 50, 54–56, 111, 113 und 114/73 – Suiker Unie ua, Rn 173; vgl Mestmäcker/ Schweitzer Kap 3 § 10 Rn 38. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1120 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

während das Vorhandensein einer Mehrzahl voneinander unabhängiger Unternehmen zu den strukturellen Voraussetzungen des Wettbewerbs gehört.12 Weil das Wettbewerbsrecht am Wettbewerb als Prozess anknüpft, sind ökono9 mische Modelle und ökonometrische Methoden notwendig, um den Schutz des Wettbewerbs und die Eingriffe in den Wettbewerb zu rechtfertigen. Dabei kann unterschieden werden zwischen grundsätzlichen Wertungen bezüglich des Verhaltens von Unternehmen am Markt, die per se als wettbewerbsbeschränkend eingeordnet werden, und solchen Maßnahmen von Unternehmen, bei denen die Wettbewerbsbeschränkung zu klären ist. Konkret muss dann geprüft werden, ob es sich um eine Wettbewerbsbeschränkung handelt und wie schwerwiegend diese ist oder ob es beispielsweise positive Auswirkungen der Maßnahme gibt, welche die Nachteile überwiegen. Bei den Verhaltensweisen von Unternehmen, die per se als wettbewerbs10 beschränkend eingeordnet werden, handelt es sich im Bereich des Kartellverbots zB um die sog Hard-Core-Kartelle. Bei diesen Hard-Core-Kartellen wird aufgrund der wirtschaftswissenschaftlichen Erfahrung davon ausgegangen, dass sie sich wettbewerbsschädlich auf dem jeweils betroffenen Markt auswirken, indem sie zu Effizienzverlusten führen und sich letztendlich wohlfahrtsmindernd auswirken. Aus ökonomischer Sicht ist es sinnvoll, diese Verhaltensweisen zu untersagen und keine Einzelprüfung vorzunehmen, um die Ressourcen der Wettbewerbsbehörden für die Fallgestaltungen zu sparen, deren Auswirkungen auf den Wettbewerb ermittelt werden müssen. Dabei wird in Kauf genommen, dass es in Ausnahmefällen auch vorkommen kann, dass Verhaltensweisen, die unter ein Per-Se-Verbot fallen, nicht wettbewerbsschädlich sind.13 Die Fälle, in denen eine Einzelfallprüfung vorgenommen wird, sollen mit dem qualitativen und quantitativen Instrumentarium untersucht werden, welches den Stand der Wissenschaft darstellt, um die Einzelfallgerechtigkeit zu erhöhen. Mit der Überarbeitung der Kartellverfahrensverordnung und der Fusionskon11 trollverordnung hat der more economic approach Einzug in die europäische Wettbewerbspolitik genommen. Dieser dient zunächst der Verbesserung der Qualität von Einzelfallentscheidungen, indem gesicherte ökonomische Methoden zum Einsatz kommen.14 Im Schrifttum wird der more economic approach oft mit einer Neuausrichtung der Wettbewerbspolitik der Kommission, nämlich an der Konsumentenwohlfahrt, und der Gewichtsverlagerung von der juristischen Beurteilung zur An-

_____ 12 Zimmer WuW 2007, 1201 f. 13 Im europäischen Wettbewerbsrecht verbleibt Unternehmen, deren Verhalten gegen Art 101 I AEUV verstößt, die Möglichkeit, den Nachweis zu führen, dass sie die Freistellungsvoraussetzung des Art 101 III AEUV erfüllen. 14 Ewald ZWeR 2011, 13 ff. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

I. Einführung | 1121

wendung ökonometrischer Methoden gleichgesetzt.15 Dabei handelt es sich aber um unterschiedliche Gesichtspunkte.16 Die Verwendung ökonomischer Methoden ist unabhängig von der Zielsetzung der Wettbewerbspolitik und lediglich ein Instrument, um bessere Ergebnisse zu erzielen. Indes betont die Kommission seit diesen Reformen in der Ausrichtung ihrer 12 Wettbewerbspolitik immer stärker die Verbraucherinteressen, konkret die Konsumentenwohlfahrt, und die effiziente Ressourcenallokation.17 Nach deutschem Verständnis ist der Wettbewerb als Instrument zu sehen, um die übergeordneten Ziele der Konsumentenwohlfahrt und effizienten Ressourcenallokation zu erreichen. In der Mitteilung der Kommission zur Anwendung von Art 82 EGV (jetzt: Art 102 AEUV) auf Fälle von Behinderungsmissbrauch18 aus dem Jahr 2009 ist dieser Zusammenhang ebenfalls zu finden.19 Diese Ziele werden aber nur erreicht, wenn der Wettbewerb an sich geschützt wird und die übergeordneten Zielsetzungen nicht in der Gesetzesanwendung berücksichtigt werden.20 Der unverfälschte Wettbewerb soll aufgrund des bestehenden Wettbewerbsdrucks zur effizienten Ressourcenallokation und zur Steigerung der Konsumentenwohlfahrt führen. Allerdings kann eine Unternehmensstrategie, die kurzfristig zur Steigerung der Konsumentenwohlfahrt führt, zB durch niedrigere Preise eines marktbeherrschenden Unternehmens, auch zur Verdrängung von Wettbewerbern eingesetzt werden und langfristig zu höheren Preisen für die Verbraucher und folglich nicht zu einer Steigerung der Konsumentenwohlfahrt führen. Wenn die Konsumentenwohlfahrt bei der Anwendung der Wettbewerbsregeln als Maßstab herangezogen wird, stellt sich folglich die Frage, auf welchen Zeithorizont abgestellt werden soll. Das gleiche gilt für Effizienzen, die durch wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen von Unternehmen oder durch Zusammenschlüsse realisiert werden können. Deshalb ist bei der Verwendung der Leitbilder „Konsumentenwohlfahrt“ und „Allokationseffizienz“ bei der konkreten Beurteilung von Wettbewerbsbeschränkungen, dem Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung und im Rahmen der Fusionskontrolle Zurückhaltung geboten, weil diese Ziele am besten erreicht werden, wenn wirksamer Wettbewerb auf den Märkten herrscht.21

_____ 15 So Frenz WRP 2013, 428 ff. 16 Ewald ZWeR 2011, 13 ff. 17 Immenga/Mestmäcker/Zimmer § 1 Rn 16 f; krit dazu Basedow WuW 2007, 712 ff. 18 Unter der Fallgruppe Behinderungsmissbrauch werden vor allem Verhaltensweisen marktbeherrschender Unternehmen, die sich gegen Wettbewerber auf dem beherrschten Markt oder benachbarten Märkten richten, subsumiert. Vgl Immenga/Mestmäcker/Fuchs/Möschel Art 102 AEUV Rn 199. 19 ABl 2009 C 45/7, Rn 5. 20 Im Ergebnis ähnlich Basedow WuW 2007, 713 ff. 21 In diesem Sinne auch Körber WuW 2008 523. Anderer Ansicht und die Konsumentenwohlfahrt als Abwägungskriterium befürwortend von Weizsäcker WuW 2007, 1078 ff. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1122 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

2. Anwendung der Wettbewerbsregeln durch Kommission und Mitgliedstaaten a) Die Kartellverfahrensverordnung 13 Die Art 101 und 102 AEUV enthalten das materielle Recht. Die Entscheidungs- und Ermittlungsbefugnisse der Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden bei Anwendung dieser Artikel sowie die Grundsätze der Zusammenarbeit sind sekundärrechtlich in der VO 1/2003 der Kartellverfahrensverordnung festgehalten. Mit der VO 1/2003 sind neben der Kommission die nationalen Wettbewerbsbehörden zur Anwendung der Art 101 und 102 AEUV verpflichtet worden. Zur Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts bilden die Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden ein Netz der Wettbewerbsbehörden, das European Competition Network (ECN).22 Die Kommission ist für die Anwendung der Art 101 und 102 AEUV zuständig.23 14 In Kapitel III der VO 1/2003 sind die Entscheidungsbefugnisse der Kommission geregelt. Die Kommission kann auf eine Beschwerde24 hin oder von Amts wegen Zuwiderhandlungen gegen Art 101 und 102 AEUV feststellen und die beteiligten Unternehmen zur Abstellung verpflichten.25 Zur Abstellung der Zuwiderhandlung kann die Kommission den Unternehmen Abhilfemaßnahmen vorschreiben. Diese umfassen nach Art 7 I 2 VO 1/2003 alle erforderlichen Abhilfemaßnahmen verhaltensorientierter oder struktureller Art,26 die gegenüber der festgestellten Zuwiderhandlung verhältnismäßig oder für eine wirksame Abstellung erforderlich sind. Auch einstweilige Maßnahmen können angeordnet werden.27 Daneben kann die Kommission Verpflichtungszusagen der Unternehmen ent15 gegennehmen und für bindend erklären.28 Der Einsatz des Instruments Verpflichtungszusage durch die Kommission ist im Schrifttum in die Kritik geraten, weil be-

_____ 22 VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1, Erwägungsgrund 15. Dazu Hossenfelder/Lutz WuW 2003, 118 ff. 23 Art 4 VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. 24 Beschwerden können bei der Kommission von den Mitgliedstaaten und von natürlichen und juristischen Personen, die ein berechtigtes Interesse darlegen, eingereicht werden; Art 7 VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. 25 Art 7 VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. Die Kommission kann nicht nur bestehende Verstöße gegen die Art 101 und 102 AEUV feststellen, sondern auch bereits beendete Zuwiderhandlungen, wenn sie daran ein berechtigtes Interesse hat. 26 Die Anwendung struktureller Maßnahmenwird durch Art 7 I 3 VO 1/2003 eingeschränkt, in dem bestimmt wird, dass strukturelle Maßnahmen nur in Ermangelung verhaltensorientierter Maßnahmen von gleicher Wirkung festgelegt werden können. Abhilfemaßnahmen struktureller Art können weiterhin vorgeschrieben werden, wenn sie im Vergleich zu verhaltensorientierten Maßnahmen eine geringere Belastung für die beteiligten Unternehmen darstellen. Eine Änderung der Unternehmensstruktur, zB durch Veräußerung eines Unternehmensteils, ist nur dann verhältnismäßig, wenn ein erhebliches Risiko anhaltender oder wiederholter Zuwiderhandlungen durch die Struktur eines Unternehmens gegeben ist. Vgl VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1, Erwägungsgrund 12. 27 Art 8 VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. 28 Art 9 VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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fürchtet wurde, dass Unternehmen, um Entscheidungen gemäß Art 7 VO 1/2003 der Kommission nach Art 101 oder Art 102 AEUV abzuwenden, Verpflichtungszusagen anbieten, die weitreichender sind, als es eine Abhilfemaßnahme hätte sein können.29 Im Unterschied zu einer Entscheidung nach Art 7 VO 1/2003 wird bei der Entgegennahme einer Verpflichtungszusage keine abschließende Entscheidung getroffen, sondern die Kommission oder die mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden kommen nach einer vorläufigen Beurteilung zu Bedenken, die sie den Unternehmen mitteilen. Diese können dann Verpflichtungszusagen anbieten, die geeignet sind, die Bedenken auszuräumen. Um die Geeignetheit der Verpflichtungszusagen festzustellen, werden diese einem Markttest30 unterzogen. Nach erfolgreicher Beendigung eines Markttests erklärt die Kommission die Zusagen der Unternehmen für bindend. Die Entscheidung nach Art 9 VO 1/2003 besagt, dass für ein Tätigwerden der Kommission kein Anlass mehr besteht. Allerdings hat die Kommission die Möglichkeit, das Verfahren wieder aufzunehmen, wenn – sich die tatsächlichen Verhältnisse in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt geändert haben, – die beteiligten Unternehmen ihre Verpflichtungszusagen nicht einhalten oder – die Entscheidung auf unvollständigen, unrichtigen oder irreführenden Angaben der Parteien beruht.31 Aus Gründen des öffentlichen Interesses der Union im Bereich der Anwendung 16 der Wettbewerbsregeln kann die Kommission zudem die Nichtanwendbarkeit des Art 101 AEUV feststellen. Generell wird die Kommission nur noch von Amts wegen tätig, so dass kein Rechtsanspruch auf die Feststellung der Nichtanwendbarkeit besteht. Allerdings verbleibt den Unternehmen in Fällen ernsthafter Unsicherheit über die Einstufung einer Vereinbarung die Möglichkeit, mit der Bitte um informelle Beratung an die Kommission heranzutreten.32 Die Feststellung der Nichtanwendbarkeit soll vor allem bei neuen Formen von Vereinbarungen oder Verhaltensweisen Anwendung finden, deren Beurteilung durch die bisherige Rechtsprechung und Verwaltungspraxis noch nicht geklärt ist.33 Neben der Kommission sind auch die Mitgliedstaaten für die Anwendung der 17 Art 101 und 102 AEUV zuständig, wenn der zwischenstaatliche Handel betroffen ist.34 Die nationalen Wettbewerbsbehörden können ebenfalls die Abstellung von Zu-

_____ 29 Theurer S 89; Moullet ECLR 2013, 86 ff. 30 Der Markttest beinhaltet eine Befragung der betroffenen Marktteilnehmer zu den angebotenen Verpflichtungszusagen. 31 Art 9 II VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. 32 VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1, Erwägungsgrund 38. 33 VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1, Erwägungsgrund 14. 34 Art 5 VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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widerhandlungen und einstweilige Maßnahmen anordnen, Verpflichtungszusagen annehmen sowie Geldbußen, Zwangsgelder oder sonstige im innerstaatlichen Recht vorgesehene Sanktionen verhängen.35 Zudem können die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten entscheiden, dass für sie kein Anlass besteht, tätig zu werden.36 Die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten sind aber nicht befugt, negative Entscheidungen zu erlassen. Das bedeutet, dass eine nationale Wettbewerbsbehörde nicht das Fehlen eines Verstoßes gegen Art 101 oder 102 AEUV feststellen kann.37 Wenn sowohl die Kommission als auch die nationalen Wettbewerbsbehör18 den das europäische Wettbewerbsrecht anwenden, sind verschiedene Fragen zu klären. Dazu gehört die Art und Weise der Zusammenarbeit zwischen den Wettbewerbsbehörden, um eine kohärente Rechtsanwendung sicherzustellen. Des Weiteren muss im Einzelfall entschieden werden, welche Wettbewerbsbehörde „gut geeignet“ ist, einen Fall zu bearbeiten. Die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Wettbewerbsbe19 hörden der Mitgliedstaaten ist in Art 11 VO 1/2003 geregelt.38 Die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten unterrichten die Kommission, wenn sie aufgrund von Art 101 oder 102 AEUV tätig werden, und zwar vor Beginn oder unverzüglich nach Einleitung der ersten förmlichen Ermittlungshandlung39 sowie spätestens 30 Tage vor Erlass einer Entscheidung, mit der die Abstellung einer Zuwiderhandlung angeordnet wird, Verpflichtungszusagen angenommen werden oder der Rechtsvorteil einer Gruppenfreistellungsverordnung entzogen wird. Zu diesem Zweck übermitteln die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten der 20 Kommission alle notwendigen Informationen. Der Informationsaustausch ist auch zwischen den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten möglich. 40 Durch die Netzwerkbekanntmachung41 und die Gemeinsame Erklärung des Rates und der Kommission zur Arbeitsweise des Netzes der Wettbewerbsbehörden ist die Arbeitsweise des ECN konkretisiert worden. In der Gemeinsamen Erklärung wird in Randnummer 10 klargestellt, dass sämtliche gemäß Art 11 VO 1/2003 ausgetauschten Informationen allen Mitgliedern des Netzes zur Verfügung gestellt werden. Damit findet der Informationsaustausch, der in der VO 1/2003 für die Kommission und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten festgelegt ist, auf das gesamte ECN Anwendung.

_____ 35 Art 5 S 1 VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. 36 Art 5 S 1 VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. 37 EuGH, Rs C-375/09 – Tele2 Polska, Rn 19–30; EuGH, Rs C-681/11 – Schenker ua, Rn 42. 38 Jungheim EWS 2013, 305 ff. 39 Art 11 III VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. 40 Art 11 IV VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. 41 Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden, ABl C 2004 101/43. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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Die zweite Fragestellung betrifft die Fallverteilung im ECN.42 Wenn die Kom- 21 mission ein Verfahren zum Erlass einer Entscheidung einleitet, so entfällt die Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten für die Anwendung der Art 101 und 102 AEUV.43 Befassen sich die Wettbewerbsbehörden mehrerer Mitgliedstaaten aufgrund einer Beschwerde oder von Amts wegen mit derselben Vereinbarung, demselben Beschluss oder derselben Verhaltensweise, so ist die Tatsache, dass eine Behörde den Fall bereits bearbeitet, für die anderen Behörden ein hinreichender Grund ihr Verfahren auszusetzen oder die Beschwerde zurückzuweisen.44 Auch die Kommission kann aus diesem Grund eine Beschwerde zurückweisen.45 Den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten steht im Zuge der engen Zu- 22 sammenarbeit zu jedem Zeitpunkt offen, die Kommission zu konsultieren, wenn es um die Anwendung des Unionsrechts geht.46 Um die einheitliche Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts sicherzustellen, dürfen die nationalen Gerichte und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten keine Entscheidungen erlassen, die bereits ergangenen Entscheidungen der Kommission zuwiderlaufen.47 Zudem müssen die Gerichte der Mitgliedstaaten vermeiden, Entscheidungen zu erlassen, die einer Entscheidung zuwiderlaufen, welche die Kommission in einem von ihr eingeleiteten Verfahren zu erlassen beabsichtigt. Deshalb können die Gerichte der Mitgliedstaaten prüfen, ob es notwendig ist, die vor ihnen anhängigen Verfahren auszusetzen.48 Die Verwendung der zwischen Kommission und den Wettbewerbsbehörden 23 der Mitgliedstaaten ausgetauschten Informationen wird durch Art 12 VO 1/2003 eingeschränkt.49 Damit soll der Problematik Rechnung getragen werden, dass die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten nun zwar alle das gleiche materielle Wettbewerbsrecht anwenden, die zugehörigen Verfahren und auch die Verfahrensgarantien in den einzelnen Mitgliedstaaten jedoch deutlich divergieren.50 Beispielsweise werden in einigen Mitgliedstaaten51 Kartellverstöße bei natürlichen Per-

_____ 42 Zur Zusammenarbeit im ECN und den Rechten der Unternehmen vgl Jungheim EWS 2013, 305 ff. 43 Art 11 VI VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. 44 Art 13 VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. 45 Art 13 VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. 46 Art 11 V VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. 47 Art 16 VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. 48 Art 16 I VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. 49 Dazu Gussone/Michalzyk EuZW 2011, 130 ff. 50 Dazu bereits Zinsmeister/Lienemeyer WuW 2002, 331 ff. Eine Übersicht über die Ermittlungs- und Entscheidungsbefugnisse der Wettbewerbsbehörden des ECN nach dem jeweiligen nationalen Recht geben die Berichte „Investigative Powers Report“ und „Decision Making Powers Report“ aus dem Jahr 2012, die von der ECN Working Group Cooperation Issues and Due Process erarbeitet worden sind. Abrufbar auf: http://ec.europa.eu/competition/ecn/documents.html. 51 Frankreich, Irland und Vereinigtes Königreich. Nach dem endgültigen Vollzug des Brexit wird das Vereinigte Königreich nicht mehr Teil des ECN sein. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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sonen auch mit Freiheitsstrafen geahndet. Bei der Zusammenarbeit der Kommission mit den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten sind diese und ihre Bediensteten beim Austausch und der Verwendung von Informationen zur Wahrung des Berufsgeheimnisses verpflichtet.52 Der Beratende Ausschuss für Kartell- und Monopolfragen setzt sich aus Ver24 tretern der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten zusammen. Vor jeder Entscheidung hört die Kommission den Beratenden Ausschuss für Kartell- und Monopolfragen an, um sich so die Sachkenntnis der nationalen Wettbewerbsbehörden zu sichern.53 Die Kommission berücksichtigt soweit wie möglich die Stellungnahme des Ausschusses und unterrichtet diesen anschließend darüber, inwieweit die Stellungnahme in die Entscheidung der Kommission eingeflossen ist.54 Aufgabe des Beratenden Ausschusses ist es weiterhin, als Diskussionsforum für die von den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten gerade bearbeiteten Fälle zu dienen, um so zur einheitlichen Anwendung des Wettbewerbsrechts beizutragen.55 Dies kann auch auf Initiative der Kommission geschehen, wenn diese Fälle, welche durch eine nationale Wettbewerbsbehörde behandelt werden, auf die Tagesordnung des Beratenden Ausschusses setzt.56 Um zu Entscheidungen zu gelangen, muss die Kommission Ermittlungen 25 durchführen. Die entsprechenden Ermittlungsbefugnisse der Kommission sind im Kapitel V der VO 1/2003 zu finden. Dazu gehören Auskunftsverlangen gegenüber Unternehmen57 sowie Nachprüfungsbefugnisse58 der Kommission. Die Kommission wird bei ihren Nachprüfungen von den Bediensteten der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten, in deren Hoheitsgebiet die Nachprüfungen vorgenommen werden, unterstützt.59 Bei Nachprüfungen, die nicht durch die Mitwirkung der Unternehmen ermöglicht werden, hat die Kommission die im staatlichen Recht vorgesehenen Verfahrensgarantien zu beachten.60 Neben den Ermittlungsbefugnissen in konkreten Kartell- oder Missbrauchs26 verfahren verfügt die Kommission über eine Enquêtebefugnis zur Untersuchung einzelner Wirtschaftszweige und einzelner Arten von Vereinbarungen, wenn die Kommission vermutet, dass der Wettbewerb im Binnenmarkt möglicherweise einge-

_____ 52 53 54 55 56 57 58 59 60

Art 28 VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. Art 14 I VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. Art 14 V VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1, Erwägungsgrund 19. Art 14 VI VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. Art 18 VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. Art 20 II VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1; dazu Meyer/Kuhn WuW 2004, 880 ff. Art 20 V VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. EuGH, verb Rs 46/87 und 227/88 – Hoechst / Kommission, Rn 32 ff. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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schränkt oder verfälscht ist.61 Im Jahr 2017 beendete die Kommission zB die Sektoruntersuchung zum elektronischen Handel und leitete auf Grundlage dieser Erkenntnisse mehrere förmliche kartellrechtliche Prüfverfahren62 ein.63 Zur Durchsetzung ihrer Befugnisse kann die Kommission Geldbußen64 und 27 Zwangsgelder65 verhängen. Dagegen können die betroffenen Unternehmen sich vor dem Gericht und in zweiter Instanz vor dem Gerichtshof zur Wehr setzen. Die europäischen Gerichte verfügen über die Befugnis zur unbeschränkten Nachprüfung der Entscheidung der Kommission.66 Nach Art 22 VO 1/2003 darf die Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats im 28 Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts im Namen und für Rechnung der Wettbewerbsbehörde eines anderen Mitgliedstaats alle Nachprüfungen und sonstigen Maßnahmen zur Sachverhaltsaufklärung durchführen, um festzustellen, ob eine Zuwiderhandlung gegen Art 101 oder 102 AEUV vorliegt. Diese Regelung ist notwendig, weil die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten zur Anwendung der Art 101 und 102 AEUV verpflichtet sind. Der Anwendungsbereich der Art 101 und 102 AEUV ist aber nur eröffnet, wenn eine Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels vorliegt. Deshalb können die nationalen Wettbewerbsbehörden für ihre Nachprüfungen auf die Amtshilfe der Wettbewerbsbehörden der anderen Mitgliedstaaten angewiesen sein. Auch die Kommission kann die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten um die Durchführung von Nachprüfungen in deren jeweiligem Hoheitsgebiet ersuchen.67 Die Richtlinie zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten 29 („ECN+“-Richtlinie)68 ist Anfang 2019 in Kraft getreten. Die Mitgliedstaaten müssen ECN+ bis zum 4. Februar 2021 umsetzen. In Deutschland geschieht dies im Rahmen der 10. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen. ECN+ soll insb zur Vereinheitlichung der Verfahrensrechte durch ein einheitliches Mindestinstrumen-

_____ 61 Art 17 VO 1/2003. Durch die Enquêtebefugnis zur Untersuchung einzelner Wirtschaftszweige soll die Kommission die Möglichkeit haben, das Informationsdefizit auszugleichen, das dadurch entsteht, dass die Unternehmen ihre Vereinbarungen nicht mehr wie vor der Einführung des Systems der Legalausnahme mit der VO 1/2003 bei der Kommission anmelden müssen. 62 Am 18. Dezember 2018 hat die Kommission gegen das Bekleidungsunternehmen Guess eine Geldbuße in Höhe von knapp 40 Mio Euro wegen Verhinderung von Online-Werbung und OnlineVerkäufen an Verbraucher in anderen Mitgliedstaaten (sog „Geoblocking“) verhängt. Vgl Pressemitteilung der IP/18/6844. 63 KOM, Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen, Begleitunterlage zum Bericht der Kommission über die Wettbewerbspolitik 2017, COM(2018) 482, S 60 ff. 64 Art 23 VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. Siehe Rn 146. 65 Art 24 VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. Siehe Rn 147. 66 Art 31 VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. 67 Art 22 II VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. 68 RL (EU) 2019/1, ABl 2019 L 11/3. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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tarium69 und zur Wahrung der Unabhängigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden70 beitragen. Mit ECN+ wird in allen Mitgliedstaaten der europäische Unternehmensbegriff und damit die obligatorische Einführung einer verschuldensunabhängigen Konzernverbundhaftung (vgl Rn 55) gelten. Enthalten sind ua Regelungen zu den elementaren Verfahrensrechten (Recht auf Anhörung und rechtliches Gehör, Anspruch auf Mitteilung der Beschwerdepunkte, Sicherstellung einer angemessenen Verfahrensdauer), zur Notwendigkeit einer richterlichen Anordnung für Durchsuchungen und zu Kronzeugenprogrammen (vgl Rn 78). Im Falle eines harten Brexits endet die Zusammenarbeit im ECN für Großbri30 tannien umgehend.71

b) Die Zusammenarbeit im Bereich der Fusionskontrolle 31 Im Bereich der Fusionskontrolle wendet die Kommission die Fusionskontrollver-

ordnung an, während die nationalen Wettbewerbsbehörden ihr jeweiliges nationales Recht anwenden. Entscheidungen nach der FKVO trifft ausschließlich die Kommission.72 Durch Art 21 III FKVO wird klargestellt, dass die Mitgliedstaaten ihr innerstaatliches Wettbewerbsrecht nicht auf Zusammenschlüsse von gemeinschaftsweiter Bedeutung anwenden (sog „Sperrwirkung“ des Art 21 FKVO). Somit werden Zusammenschlüsse ohne gemeinschaftsweite Bedeutung nach den Maßstäben des jeweiligen nationalen Rechts beurteilt. Allerdings können die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, der Medienvielfalt, der Aufsichtsregeln und anderer berechtigter Interessen treffen, auch wenn ein Zusammenschluss gemeinschaftsweite Bedeutung hat.73 Die nationalen Wettbewerbsbehörden werden im Bereich der Fusionskontrolle 32 in zweifacher Weise eingebunden. Zum einen arbeitet die Kommission eng mit den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten zusammen. Dies beinhaltet die Übermittlung der Anmeldungen an die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten sowie die Übermittlung der wichtigsten Schriftstücke wie zB Verpflichtungszusagen der beteiligten Unternehmen.74 Zudem haben die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten das Recht zur Stellungnahme und zur Akteneinsicht.75

_____ 69 ZB sollen alle nationalen Kartellbehörden nicht nur die Befugnis haben, geschäftliche Räume zu durchsuchen und Unterlagen einzusehen, sondern auch Zugang zu elektronisch gespeicherten Daten erhalten. Außerdem sollen allen nationalen Behörden angemessene Instrumente zur Verhängung abschreckender Sanktionen zur Verfügung stehen. 70 Durch ausreichende Ausstattung mit Mitarbeitern und Ressourcen. 71 https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/eu-competition-law_en.pdf. 72 Art 21 II FKVO, ABl 2004 L 24/1. 73 Art 21 IV FKVO, ABl 2004 L 24/1. 74 Art 19 I FKVO, ABl 2004 L 24/1. 75 Art 19 II FKVO, ABl 2004 L 24/1. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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Zum anderen erfolgt eine Einbindung über den Beratenden Ausschuss für die 33 Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, der vor jeder Entscheidung der Kommission anzuhören ist.76 Dieser setzt sich aus Vertretern der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten zusammen.77 Die Anhörung erfolgt in einer gemeinsamen Sitzung, zu der die Kommission einlädt, die auch den Vorsitz führt.78 Zu den Aufgaben des Beratenden Ausschusses gehört es, zu dem Entscheidungsentwurf der Kommission eine Stellungnahme abzugeben, welcher von der Kommission soweit wie möglich berücksichtigt werden soll.79 Die Stellungnahme wird von der Kommission zusammen mit der Entscheidung veröffentlicht und dem Adressaten der Entscheidung übermittelt.80 Des Weiteren ermöglicht das Verweisungssystem, welches in den Art 981 und 34 82 22 der FKVO geregelt ist, auf Antrag,83 ein angemeldetes Zusammenschlussvorhaben von der Kommission an eine nationale Wettbewerbsbehörde84 zu verweisen bzw von mehreren nationalen Wettbewerbsbehörden85 an die Kommission zu verweisen.

_____ 76 Art 19 III FKVO, ABl 2004 L 24/1. 77 Jeder Mitgliedstaat kann einen oder zwei Vertreter für den Beratenden Ausschuss bestimmen (Art 19 IV FKVO, ABl 2004 L 24/1). 78 Art 19 V FKVO, ABl 2004 L 24/1. 79 Art 19 VI FKVO, ABl 2004 L 24/1. 80 Art 19 VII FKVO, ABl 2004 L 24/1. 81 Die sog „deutsche Klausel“ wurde auf Betreiben der Bundesrepublik Deutschland eingefügt, weil befürchtet wurde, dass Zusammenschlüsse mit gemeinschaftsweiter Bedeutung, die sich nur im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland auswirken, von der Kommission weniger streng beurteilt würden als kleinere Zusammenschlüsse durch das Bundeskartellamt; vgl Langen/Bunte/ Bardong/Käseberg/Maass Einl FKVO Rn 81. 82 Ursprünglich diente diese sog „niederländische Klausel“ dazu, es Mitgliedstaaten, die über keine eigene Zusammenschlusskontrolle verfügten, zu ermöglichen, einen Zusammenschluss durch die Kommission untersagen zu lassen; vgl Langen/Bunte/Bardong/Käseberg/Maass Einl FKVO Rn 82. 83 Durch die Reform der FKVO im Jahr 2004 wurde die Möglichkeit, dass auch die beteiligten Unternehmen eine Verweisung des Zusammenschlussvorhabens beantragen können, in Art 4 FKVO eingeführt. Vgl dazu Körber WuW 2007, 330 ff. 84 Voraussetzung ist, dass der von dem Zusammenschluss betroffene Markt alle Merkmale eines gesonderten Marktes aufweist, weshalb in Art 9 Abs VII FKVO der räumliche Referenzmarkt nach der Rspr des EuGH zum räumlich relevanten Markt definiert ist. Zudem ist notwendig, dass dieser Zusammenschluss den Wettbewerb auf diesem gesonderten Markt erheblich zu beeinträchtigen droht oder dieser gesonderte Markt keinen wesentlichen Teil des Gemeinsamen Marktes darstellt. Bsp für Verweisungsfälle sind Zusammenschlüsse im Bereich Breitbandkabelnetze. Vgl KOM, IESY Repository/ISH, Volltext recherchierbar unter: http://ec.europa.eu/competition/index_en.html; ferner KOM-Pressemeldung IP/05/177; für die Anmeldung s ABl 2004 C 321/9. 85 Dies soll der Vermeidung von Mehrfachanmeldungen dienen und die Kontrolle von Zusammenschlüssen mit nationalem Schwerpunkt durch die sachnähere nationale Wettbewerbsbehörde erlauben, auch wenn die Umsatzschwellen der FKVO erreicht werden. Im Jahr 2017 erhielt die Kommission 28 Voranmeldungen, mit denen die Unternehmen ersuchten, ein Verfahren von der Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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Im Falle eines harten Brexits endet die Zusammenarbeit mit Großbritannien in der Fusionskontrolle umgehend. Verweisungen von Großbritannien an die Kommission oder von der Kommission an Großbritannien sind dann nicht mehr möglich.86 Es kann zu parallelen Verfahren von Kommission bzw mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden und der britischen Competition & Market Authority (CMA) kommen, wenn ein Zusammenschluss sowohl Auswirkungen im gemeinsamen Markt als auch in Großbritannien hat.

c) Die Beihilfenkontrolle der Kommission (Weiß) 36 Die Kontrolle über nationale Beihilfen übt zentral die Kommission aus. Die Beihil-

fenaufsicht ist von einem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt gekennzeichnet: Nationale Beihilfen sind unzulässig (Art 107 I AEUV), es sei denn die Kommission gewährt ausnahmsweise eine Genehmigung (in Umsetzung von Art 107 II, III AEUV oder 106 II AEUV). Die Beihilfenaufsicht durch die Kommission ist einer der Bereiche des Europäischen Verwaltungsrechts, der durch unionseigene Stellen, hier die Kommission, durchgeführt wird. Allerdings sind die nationalen Stellen dabei einbezogen, weil sie die Pflicht trifft, neue nationale Beihilfen oder Beihilfenregelungen an die Kommission zu notifizieren, bis zur Entscheidung der Kommission stillzuhalten und gegebenenfalls für eine Durchsetzung von Entscheidungen der Kommission über die Rückforderung rechtswidrig gewährter Beihilfen zu sorgen. Ferner haben sie bei Prüfungen der Kommission mitzuwirken, insbesondere durch Auskünfte. Man kann daher zwei Verfahrensabschnitte und -ebenen auseinanderhalten: das Verfahren der (präventiven, dh ex ante erfolgenden, oder repressiven, dh ex post ablaufenden) Beihilfeaufsicht durch die Kommission, das in der Regel mit einer Genehmigung oder Versagung der nationalen Beihilfe oder einer Rückforderungsentscheidung abschließt, und das nationale Verfahren zur Umsetzung der Entscheidungen der Kommission. Die Beihilfenkontrolle weist aber auch dezentrale Elemente auf: Die Kommis37 sion erlässt infolge einer auf Art 109 III AEUV gestützten Ermächtigung durch den Rat87 Verordnungen nach Art 108 IV AEUV, die in allgemeiner Weise bestimmte Gruppen von Beihilfen für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklären und von der Notifizierungsverpflichtung durch die Mitgliedstaaten freistellen (sog Gruppenfrei-

_____ Kommission an einen Mitgliedstaat oder umgekehrt zu verweisen. Vgl KOM, Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen, Begleitunterlage zum Bericht der Kommission über die Wettbewerbspolitik 2017, COM(2018) 482, S 24. 86 https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/eu-competition-law_en.pdf. 87 Sog ErmächtigungsVO 2015/1588 des Rates über die Anwendung der Artikel 107 und 108 AEUV auf bestimmte Gruppen horizontaler Beihilfen, ABl 2015 L 248/1, geändert durch VO 2018/1911, ABl 2018 L 311/8. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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stellungsverordnung). Die sonach freigestellten Beihilfen werden von den nationalen Stellen ohne Beteiligung der Kommission gemäß diesen unionalen Regelungen gewährt und gegebenenfalls durch nationale Beihilferegeln näher ausgestaltet. Der Vollzug des europäischen Beihilferechts liegt insoweit in der Hand der Mitgliedstaaten, untersteht aber wiederum der Aufsicht der Kommission, die einem Mitgliedstaat bei Verstößen gegen die Gruppenfreistellungsverordnung den Vorteil der Freistellung für die Zukunft ganz oder teilweise entziehen kann.88 Es zeigt sich somit auch beim Vollzug des EU-Beihilferechts eine intensive Ko- 38 operation zwischen Kommission und Mitgliedstaaten trotz seiner im Grundsatz zentralen Verortung bei der Kommission. Ferner wirkt die Kommission auch mit den nationalen Gerichten zusammen, um deren Entscheidungsfindung in Beihilfefragen zu verbessern. Die Kommission kann auf Ersuchen der nationalen Gerichte Informationen und Einschätzungen mitteilen oder aus eigenem Antrieb als amicus curiae Stellungnahmen zu beihilferechtlichen Fragen abgeben.89 Die von der Kommission zu beachtenden Verfahrensregeln für ihre Verwal- 39 tungsverfahren sind primärrechtlich in Art 108 I–III AEUV niedergelegt und sekundärrechtlich durch die VO 2015/158990 konkretisiert, deren Vorläuferin VO 659/1999 im Wesentlichen die Praxis der Kommission und einschlägige EuGH-Judikatur kodifiziert hat. Diesen Regeln ist die verfahrensrechtlich grundlegende Unterscheidung zwischen bestehenden Beihilfen, deren Anwendung von der Kommission fortlaufend überprüft wird (repressive Beihilfenaufsicht nach Art 108 I, II AEUV und Art 21 ff VO 2015/1589), und neuen Beihilfen, die vor ihrer Gewährung präventiv geprüft werden (Art 108 III AEUV, Art 2 ff VO 2015/1589), zu entnehmen. Bestehende Beihilfen sind Beihilfen, die schon vor EU-Beitritt gewährt worden sind, oder von der Kommission genehmigte Beihilfen bzw Beihilfenregelungen (Art 1 lit b VO 2015/1589). Als neue Beihilfen gelten Einzelbeihilfen, also einmalig gewährte Anlassbeihilfen, und neue allgemeine Beihilfenregelungen der Mitgliedstaaten Die von den nationalen Behörden einzuhaltenden Verfahrensregeln sind 40 allenfalls rudimentär im EU-Recht geregelt (Notifizierungs- und Stillhaltepflicht infolge Art 108 III AEUV, Mitwirkungs- und Umsetzungspflichten nach Art 108 I, II AEUV, und diesbezügliche Vorgaben in VO 2015/1589). Insbesondere die eigentliche Rückforderung rechtswidriger Beihilfen erfolgt gemäß Art 16 III VO 2015/1589 nach den Verfahren des betreffenden Mitgliedstaats, mit Modifikationen im Interesse der

_____ 88 S Art 10 VO 651/2014 der Kommission zur Feststellung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Binnenmarkt (sog Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung), ABl 2014 L 187/1, geändert durch VO 2017/1084, ABl 2017 L 156/1. 89 Art 29 VO 2015/1589. 90 VO 2015/1589 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108AEUV, ABl 2015 L 248/9. Die zugehörige Durchführungsverordnung VO 794/2004, ABl 2004 L 140/1 wurde zuletzt geändert durch VO 2016/2105, ABl 2016 L 327/19. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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Effektivität des Unionsrechts (dazu näher unten Rn 329 ff). Für diese Verfahren existiert in Deutschland keine einschlägige Spezialgesetzgebung, auch wenn dies den Vollzug des EU-Beihilferechts verbessern könnte.91

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3. Räumlicher Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln a) Die Zwischenstaatlichkeitsklausel Das Wettbewerbsrecht der Union enthält die sog Zwischenstaatlichkeitsklausel, die den Anwendungsbereich der europäischen Wettbewerbsregeln auf zwischenstaatlich relevante Sachverhalte beschränken soll.92 Auf Sachverhalte, die den Handel zwischen den Mitgliedstaaten nicht beeinträchtigen, soll das jeweilige nationale Wettbewerbsrecht Anwendung finden. Das Tatbestandsmerkmal „Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten“ ist sowohl im Verbot wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens (Art 101 AEUV), im Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung (Art 102 AEUV) als auch im Beihilfeverbot (Art 107 AEUV) zu finden. In der Fusionskontrolle wird der zwischenstaatliche Bezug hingegen bei Erreichen der Umsatzschwellen, welche die Zusammenschlussbeteiligten erreichen müssen, damit ein Zusammenschluss anmeldepflichtig ist, angenommen. Werden diese Umsatzschwellen erreicht, wird von einer gemeinschaftsweiten93 Bedeutung des Zusammenschlusses ausgegangen. Die Zwischenstaatlichkeitsklausel der Art 101 ff AEUV umfasst den gesamten Wirtschaftsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten, weshalb unter dem Begriff des Handels nicht nur der Warenverkehr, sondern auch der Dienstleistungsverkehr zu subsumieren ist.94 Nach der Definition des Gerichtshofs kann eine Maßnahme „den Handel zwischen Mitgliedstaaten nur beeinträchtigen, wenn sich anhand einer Gesamtheit objektiver rechtlicher oder tatsächlicher Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit voraussehen lässt, dass sie unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder der Möglichkeit nach, den Handel zwischen Mitgliedstaaten in einer Weise beeinflussen kann, die der Verwirklichung der Ziele eines einheitlichen zwischenstaatlichen Marktes nachteilig sein kann“.95 Entscheidend ist also, dass vom hypothetischen

_____ 91 Ehlers/Fehling/Pünder/Kühling Bd 1 § 29 Rn 32. 92 Vgl dazu Bekanntmachung der Kommission, Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des EG-Vertrags, ABl 2004 C 101, S 81 ff; vgl Mestmäcker/Schweitzer Kap 2 § 5 Rn 13 ff. 93 Die derzeit geltende Fassung der Fusionskontrollverordnung ist seit 2004 in Kraft und verwendet noch die Begriffe „gemeinschaftsweit“ und „Gemeinsamer Markt“ und nicht die durch den Vertrag von Lissabon eingeführten Begriffe „unionsweit“ und „Binnenmarkt“. 94 Mestmäcker/Schweitzer Kap 2 § 5 Rn 11. 95 EuGH, Rs 5/69 – Völk / Vervaecke. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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Zustand des unverfälschten Wettbewerbs ausgegangen wird. Auch wenn eine Maßnahme zur Erhöhung der Handelsströme zwischen den Mitgliedstaaten führt, andere Unternehmen aber zB durch Wettbewerbsverbote in ihren Handlungsmöglichkeiten beschränkt werden, liegt eine Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels vor.96 Tendenziell führt die recht umfassende Definition des Gerichtshofs dazu, dass die Zwischenstaatlichkeit leichter zu bejahen als klar abzulehnen ist. Allerdings kommt als weiteres Kriterium hinzu, dass die Beeinflussung des zwischenstaatlichen Handels spürbar sein muss.97 Im Hugin-Urteil98 führte der Europäische Gerichtshof aus, dass eine Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels auch dann vorliege, wenn das konkrete Verhalten von Unternehmen die Wettbewerbsstrukturen im Binnenmarkt verändere.

b) Extraterritoriale Anwendung der Wettbewerbsregeln Das Wettbewerbsrecht der Union ist anwendbar, wenn sich Maßnahmen von Unter- 46 nehmen im Binnenmarkt auswirken. Dies ist einleuchtend unter dem Aspekt des Wettbewerbsschutzes, führt aber zu Problemen, wenn diese Unternehmen ihren Sitz außerhalb des Unionsgebiets haben und der Hoheitsbefugnis fremder Jurisdiktionen unterliegen. Im Völkerrecht existieren verschiedene Ansätze, um mit solchen Konfliktfällen umzugehen. Die prominentesten sind das Territorialitäts-, das Personalitäts- und das Auswirkungsprinzip in verschiedensten Ausprägungen.99 Dabei hat das Auswirkungsprinzip die größtmögliche Ausdehnung der eigenen Souveränität zur Folge, da der Anknüpfungspunkt Wirkungen im eigenen Hoheitsgebiet sind, unabhängig davon, von welchem Ort diese veranlasst sind. Gehen diese Wirkungen von Drittstaaten aus, handelt es sich folglich um eine extraterritoriale Rechtsanwendung. Die Kommission wendet das Auswirkungsprinzip an.100 Dies gilt nicht nur für das Kartellverbot und die Missbrauchsaufsicht, sondern auch für die Fusionskontrolle. Der Gerichtshof hat sich bisher nicht explizit auf das (qualifizier-

_____ 96 Vgl den Fall Consten / Grundig: Dort kam es durch die Vereinbarung zwischen Grundig und Consten zu einer Ausweitung des Handelsvolumens zwischen Frankreich und Deutschland. Aber der Vertrag zwischen Grundig und Consten hinderte alle Unternehmen außer Consten daran, Grundig-Erzeugnisse nach Frankreich einzuführen, und untersagte es andererseits der Firma Consten, solche Waren in andere Länder des Gemeinsamen Marktes wieder auszuführen (KOM, Grundig / Consten, ABl 1964 L 161/2545 (2549 f); bestätigt durch EuGH, verb Rs 56, 58/64 – Grundig / Consten: Der Umstand, dass eine Vereinbarung zu einer beträchtlichen Ausweitung des Handelsvolumens zwischen Mitgliedstaaten führe, schließe noch nicht aus, dass diese Vereinbarung den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne von Art 81 I EGV (jetzt: Art 101 I AEUV) beeinträchtigen könne. 97 Emmerich/Lange S 17. 98 EuGH, Rs 22/78 – Hugin. 99 Basedow S 12 ff; Meng S 31 ff. 100 Immenga/Mestmäcker/Rehbinder Einleitung Rn 11; Langen/Bunte/Bunte Einleitung Rn 66 ff. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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te) Auswirkungsprinzip festgelegt, das Zellstoff-Urteil101und auch die Aussagen im Intel-Urteil102 sind aber von der Tendenz her wohl in diesem Sinne auszulegen.103 Das Gericht hat die Anwendung der FKVO auf reine Auslandszusammenschlüsse bejaht.104 In der Praxis besteht vor allem das Problem der Verfahrensführung, wenn der 47 Unternehmenssitz in Drittstaaten (dh außerhalb der Union) ist. Ermittlungen, wie Auskunftsersuchen oder Nachprüfungen, müssen im Ausland vorgenommen werden. Die Zustellung und Durchsetzung von Entscheidungen sind ebenfalls im Ausland vorzunehmen. Verfügen die adressierten Unternehmen über Tochterunternehmen im Binnenmarkt, können Auskunftsersuchen und Entscheidungen diesen zugestellt werden. Für das Tätigwerden außerhalb des Unionsgebiets ist das Vorhandensein bilateraler Abkommen mit den jeweils betroffenen Staaten notwendig. Die Union hat eine Vielzahl solcher Abkommen, bspw mit den USA, getroffen, in denen auch die Amtshilfe geregelt ist. Nach Vollzug des Brexit handelt es sich bei Großbritannien um einen Drittstaat. 48 Soweit Maßnahmen eines Unternehmens aus Großbritannien sich im Binnenmarkt auswirken, sind die Wettbewerbsregeln weiter anwendbar. Für die effektive Verfahrensführung ist der Abschluss eines bilateralen Abkommens mit Großbritannien notwendig. Bei der Anwendung der Fusionskontrolle sind Umsätze von Unternehmen in Großbritannien dann den weltweiten Umsätzen und nicht mehr den europaweiten Umsätzen bzgl der Anmeldepflicht zuzurechnen.

4. Der Unternehmensbegriff a) Definition 49 Nach der Definition des Gerichtshofs ist ein Unternehmen im Sinne der Wettbewerbsregeln des Unionsrechts „jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung“.105 Als wesentliches Merkmal der unternehmerischen Tätigkeit wird das Erbringen einer wirtschaftlichen Leistung gegen Entgelt angesehen, eine Gewinnerzielungsabsicht ist hingegen nicht erforderlich.106 Im Schrifttum wird dies als funktionaler Unternehmensbegriff bezeichnet.107 Nicht nur das Angebot von Waren und Dienstleis-

_____ 101 EuGH, Rs 89/85 – Zellstoff, Rn 12 ff. 102 EuGH, Rs C-413/14 P – Intel Corpor., Rn 43 ff. 103 In diesem Sinne auch Emmerich/Lange S 16. 104 EuG, T-210/01 – General Electric / Honeywell. 105 EuGH, Rs C-41/90 – Höfner und Elser / Macrotron; verb Rs C-159/91 u C-160/91 – Poucet und Pistre; Rs C-364/92 – SAT Fluggesellschaft / Euro-Control; Rs C-244/94 – Fédération franVaise des sociétés d’assurance; Rs C-55/96 – Job Centre Coop. 106 EuGH, verb Rs 209 bis 215 und 218/78 – FEDETAB. 107 Emmerich/Lange S 20; Benicke EWS 1997, 374 ff; Mestmäcker/Schweitzer Kap 3 § 9 Rn 6. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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tungen, sondern auch die Nachfragetätigkeit wird erfasst. Der funktionale Unternehmensbegriff gilt sowohl für das europäische Kartellverbot, die Missbrauchsaufsicht als auch für die Fusionskontrolle und das Beihilferecht. Neben den klassischen Wirtschaftssubjekten, die Produkte herstellen oder vertreiben oder Dienstleistungen anbieten, erfüllen diesen funktionalen Unternehmensbegriff zB auch Angehörige der freien Berufe,108 Künstler und Erfinder,109 urheberrechtliche Verwertungsgesellschaften110 und Idealvereine,111 soweit diese wirtschaftlich tätig sind. Auch die öffentliche Hand wird als Unternehmen im Sinne des EU-Wettbewerbsrechts eingestuft, wenn sie wirtschaftlich tätig wird (dazu ausführlich: Kapitel IV.1.b). Im Fall Fenin112 hat der Gerichtshof ausgeführt, dass bei der Beurteilung des Wesens der Einkaufstätigkeit der Kauf eines Erzeugnisses nicht von dessen späterer Verwendung zu trennen sei; der wirtschaftliche oder nichtwirtschaftliche Charakter der späteren Verwendung des erworbenen Erzeugnisses bestimme den Charakter der Einkaufstätigkeit. 113 Die Beschaffungstätigkeit der öffentlichen Hand erfüllt danach nicht den Unternehmensbegriff. Im Schrifttum wird kritisiert, dass dadurch der Schutz des Nachfragewettbewerbs teilweise dem europäischen Wettbewerbsrecht entzogen wird.114 Bedarfsdeckende Tätigkeiten für den eigenen privaten Haushalt sowie die Tätigkeit im Rahmen der privaten Vermögensverwaltung115 gelten nicht als wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts.116 Arbeitnehmer fallen mangels Selbständigkeit nicht unter den Unternehmensbegriff.117 Der funktionale Unternehmensbegriff wird jeweils im Hinblick auf eine bestimmte wirtschaftliche Tätigkeit ermittelt. Dies hat zur Folge, dass bspw eine soziale Einrichtung für einen Bereich als Unternehmen angesehen wird und für einen

_____ 108 EuGH, verb Rs C-180/98 bis C-184/98 – Pavel Pavlov, Rn 77; Rs C-309/99 – Wouters; Rs C-1/12 – Ordem dos Tecnicos Oficiais de Contas; vgl Mestmäcker/Schweitzer Kap 3 § 9 Rn 33 ff. 109 KOM, AOIP / Beyrard, ABl 1976 L 6/8; KOM, RAI / UNITEL, ABl 1978 L 157/39; KOM, Vaessen / Morris, ABl 1986 L 76/59; vgl Mestmäcker/SchweitzerKap 3 § 9 Rn 37. 110 EuG, Rs T-410/08 – GEMA / Kommission. 111 Vgl Jungheim Berufsregelungen des Weltfußballverbandes S 237 mwN. 112 EuGH, Rs C-205/03 P – Fenin / Kommission. 113 EuGH, Rs C-205/03 P – Fenin / Kommission, Rn 26. 114 Vgl Mestmäcker/Schweitzer Kap 3 § 9 Rn 7; Zimmer/Paul JZ 2008, 611 (613). Demgegenüber stuft der Bundesgerichtshof die privatrechtliche Beschaffungstätigkeit der öffentlichen Hand generell als „Unternehmen“ im Sinne des deutschen Wettbewerbsrechts ein. Dadurch kommt es in diesem Bereich zu unterschiedlichen Bewertungen im deutschen und europäischen Kartellrecht. 115 Allerdings wird der Erwerb von Unternehmen bzw von Anteilen an Unternehmen von Personen, die bereits Unternehmen kontrollieren, sehr wohl von der Fusionskontrolle erfasst. 116 Mestmäcker/Schweitzer Kap 3 § 9 Rn 41 ff; Langen/Bunte/Hengst Art 101 AEUV Rn 14. 117 Mestmäcker/Schweitzer Kap 3 § 9 Rn 51; Langen/Bunte/HengstArt 101 AEUV Rn 14. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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anderen nicht. Auch ein Arbeitnehmer, der neben seinem Arbeitsverhältnis selbständig tätig ist, kann für diese Tätigkeit als Unternehmen angesehen werden.118

b) Die „wirtschaftliche Einheit“ 54 Im europäischen Kartellrecht wird das Unternehmen als wirtschaftliche Einheit

betrachtet. Dies hat zur Folge, dass Vereinbarungen zwischen verbundenen Unternehmen eines Konzerns wegen fehlender Autonomie der Tochterunternehmen nicht dem Kartellverbot des Art 101 I AEUV unterfallen.119 In der Literatur wird dies häufig als „Konzernprivileg“ bezeichnet.120 Im Einzelfall kann die Abgrenzung, ob eine wirtschaftliche Einheit oder mehrere unabhängige Unternehmen vorliegen, problematisch sein. Die andere Seite der Medaille ist aber, dass bei der Bemessung von Geldbußen 55 wegen Verstößen gegen die Art 101 und 102 AEUV auf den Umsatz der wirtschaftlichen Einheit abgestellt wird.121 Wird ein Verstoß gegen die Art 101 und/oder 102 AEUV von einem Tochterunternehmen begangen, ist als Gesamtumsatz des Unternehmens der Konzernumsatz heranzuziehen. Dieser ist in der Regel erheblich höher als der Umsatz des Tochterunternehmens. Gehört ein Tochterunternehmen zu 100% der Muttergesellschaft wird ver56 mutet, dass die Muttergesellschaft die Weisungsbefugnis über das Tochterunternehmen ausüben kann.122 Dem Unternehmen obliegt dann die Beweislast, dass die Tochtergesellschaft nicht nur auf operativer, sondern auch auf finanzieller Ebene völlig eigenständig handeln konnte.123 In den letzten Jahren schlagen Unternehmen vermehrt den Rechtsweg ein, um zu klären, ob eine wirtschaftliche Einheit angenommen werden kann. Unternehmen haben natürlich ein Interesse daran, dass zur Bemessung der Geldbuße124 nur das Tochterunternehmen, welches den Wettbewerbsverstoß begangen hat, herangezogen wird und nicht der gesamte Konzern.

_____ 118 Langen/Bunte/Hengst Art 101 AEUV Rn 14. 119 EuGH, verb Rs 32/78 und 36–82/78 – BMW-Belgium; Rs 66/86 – Ahmed Saeed Flugreisen und Silverline Reisebüro GmbH; Rs C-73/95 P – Viho. 120 Emmerich/Lange S 28. 121 EuGH, Rs C-97/08 P – Akzo Nobel, Rn 55 ff mwN; Rs C-508/11 P – Butadienkautschuk, Rn 46; Whish/Bailey S 93. 122 EuGH, Rs C-440/11 P – Stichting Administratiekantoor Portielje, Rn 40; Rs C-508/11 P – ENI, Rn 47; Rs C-97/08 P – Akzo Nobel, Rn 58 ff mwN. 123 EuGH, Rs C-97/08 P – Akzo Nobel, Rn 61 ff, Rs C-508/11 P – Butadienkautschuk, Rn 47 f; Whish/Bailey S 95 f. 124 Relevant ist dies insbesondere für die Kappungsgrenze bei 10% des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Umsatzes. Vgl Kapitel II. 3. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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5. Der relevante Markt Bei der Anwendung der Wettbewerbsregeln werden einzelne Märkte betrachtet, um festzustellen, ob eine Wettbewerbsbeschränkung vorliegt (Art 101 AEUV), eine marktbeherrschende Stellung missbraucht wird (Art 102 AEUV) oder ein Zusammenschluss zur erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs führt. Dies setzt voraus, dass diese Märkte definiert werden, um sie dann einer Analyse bezüglich des Verhaltens der Unternehmen (Art 101 und 102 AEUV) bzw im Rahmen der Fusionskontrolle einer Veränderung der Struktur dieser Märkte zu unterziehen. Die Bestimmung des relevanten Marktes durch die Kommission und den Gerichtshof erfolgt auf der Grundlage des Bedarfsmarktkonzeptes. Es wird davon ausgegangen, dass die Wettbewerbskräfte, denen die Unternehmen unterliegen, vor allem auf die Nachfragesubstituierbarkeit, die Angebotssubstituierbarkeit und den potentiellen Wettbewerb zurückgeführt werden können.125 Der Nachfragesubstituierbarkeit, also der funktionellen Austauschbarkeit des Produktes für den Abnehmer, wird die unmittelbarste und die wirksamste disziplinierende Kraft zugeschrieben, die auf den Anbieter eines Produkts wirkt, vor allem was dessen Preisentscheidung betrifft.126 Aus diesem Grund stellt das Bedarfsmarktkonzept auf die Sicht des Abnehmers ab. Der relevante Markt ist sachlich, räumlich und gegebenenfalls zeitlich abzugrenzen. Die Bestimmung des zeitlich relevanten Marktes ist nur notwendig, wenn ein Unternehmen aufgrund vorübergehender Umstände eine zeitlich befristete Machtposition erlangt, wie bspw bei Messen oder Großveranstaltungen. Der sachlich relevante Produktmarkt umfasst nach der Entscheidungspraxis der Kommission sämtliche Erzeugnisse und/oder Dienstleistungen, welche von den direkten Abnehmern hinsichtlich ihrer Eigenschaften, Preise und ihres vorgesehenen Verwendungszwecks als substituierbar angesehen werden.127 Es gehören auf der Angebotsseite solche Erzeugnisse zu demselben Markt, die sich aufgrund ihrer Merkmale zur Befriedigung eines gleich bleibenden Bedarfs besonders eignen und mit anderen Erzeugnissen nur in geringem Maße austauschbar sind.128 Abgestellt wird bei der Abnehmerseite auf die Austauschbarkeit für eine Mehrzahl aller Abnehmer.129 Bestehen technische Umstellungshindernisse oder hohe Kosten eines Produktwechsels spricht dies eher für unterschiedliche sachliche Märkte. Sowohl

_____ 125 Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft, ABl 1997 C 372/5, Rn 13. 126 Bekanntmachung Definition des relevanten Marktes, ABl 1997 C 372/5, Rn 13. 127 Bekanntmachung Definition des relevanten Marktes, ABl 1997 C 372/5, Rn 7; vgl zum Bedarfsmarktkonzept EuGH, Rs 6/72 – Europemballage u Continental / Kommission; Rs 66/86 – Ahmed Saeed Flugreisen und Silverline Reisebüro GmbH; Rs 27/76 – United Brands / Kommission. 128 EuGH, Rs C-322/81 – Michelin, Rn 37. 129 Langen/Bunte/BardongArt 2 FKVO Rn 33. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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die Kommission als auch der Gerichtshof tendieren zu einer engen Marktabgrenzung.130 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs besitzen bspw Bananen ganz spezi61 fische Eigenschaften, weshalb sie nicht durch anderes Obst zu substituieren sind, und bilden deshalb einen eigenen relevanten Markt.131 Als relevante Märkte wurden auch einzelne Vitamingruppen,132 Maschinen und Kartons für die aseptische Verpackung von Getränken,133 eigene Märkte für Luxusgüter wie Kosmetik134 und Schuhe,135 die Weiterverbreitung von Fernsehprogrammen über Kabelnetze,136 Lotsendienste in einem großen Hafen137 sowie das Befestigungssystem Hilti,138 welches von anderen Befestigungssystemen zu unterscheiden ist, eingestuft. Der räumlich relevante Markt wird als das Gebiet definiert, in dem die rele62 vanten Produkte oder Dienstleistungen angeboten werden, in dem die Wettbewerbsbedingungen hinreichend homogen sind und das sich von benachbarten Gebieten durch spürbar unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen unterscheidet.139 Dazu prüft die Kommission das Vorhandensein von Zutrittsschranken und Verbrauchergewohnheiten.140 Zudem sprechen erhebliche Unterschiede bei den Marktanteilen von Unternehmen oder nennenswerte Preisunterschiede zwischen einem Gebiet und benachbarten Gebieten für das Vorliegen unterschiedlicher räumlich relevanter Märkte.141 Bei Angebotsmärkten muss festgestellt werden, wo sich die Nachfrager eindecken können, während bei Beschaffungsmärkten die räumlichen Ausweichmöglichkeiten der Anbieter zu berücksichtigen sind.142 Der räumlich relevante Markt kann bspw weltweit, zB bei der Herstellung 63 von Flugzeugen,143 EWR-weit,144 EU-weit oder national sein. Nationale Märkte sind zB beim Vorliegen von Sprachbarrieren wie im Medienbereich145 anzunehmen. Regi-

_____ 130 Emmerich/Lange S 90. 131 EuGH, Rs 27/76 – United Brands / Kommission. 132 EuGH, Rs 85/76 – Hoffmann-La Roche / Kommission. 133 EuGH, Rs C-333/94 P – Tetra Pak II, Rn 11 f. 134 KOM, Yves Saint Laurent Parfums, ABl 1992 L 12/24; KOM, Givenchy, ABl 1992 L 236/11. 135 KOM, Charles Jourdan, ABl 1989 L 35/31. 136 KOM, MSG Media Service, ABl 1994 L 364/1, Rn 39. 137 EuGH, Rs C-179/90 – Merci Convenzionali Porto di Genova. 138 EuGH, Rs C-53/92 P – Hilti. 139 Bekanntmachung Definition des relevanten Marktes, ABl 1997 C 372/5, Rn 8; Art 9 VII FKVO, ABl 2004 L 24/1; EuGH, Rs 27/76 – United Brands / Kommission. 140 Art 9 VII FKVO, ABl 2004 L 24/1. 141 Art 9 VII FKVO, ABl 2004 L 24/1. 142 Emmerich/Lange S 56. 143 KOM, Aerospatiale / Alenia / de Havilland, ABl 1991 L 334/42. 144 Zum Europäischen Wirtschaftsraum gehören neben den EU-Mitgliedstaaten Norwegen, Liechtenstein und Island. 145 Dazu mwN Jungheim Medienordnung und Wettbewerbsrecht S 294 ff. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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onale oder lokale Märkte ergeben sich zB bei einer hohen Transportkostenempfindlichkeit von Gütern, zB Flachglas,146 oder bei Dienstleistungen gegenüber Endverbrauchern wie im Lebensmitteleinzelhandel.147 Bei der Bestimmung des relevanten Marktes wird zwar hauptsächlich auf den 64 Abnehmer abgestellt. Die anderen Wettbewerbskräfte werden aber, nachdem der relevante Markt definiert wurde, wieder berücksichtigt. Das bedeutet, dass eine vielleicht zu eng geratene Marktabgrenzung dadurch relativiert werden kann, dass der Wettbewerbsdruck durch potentielle Wettbewerber sehr groß ist.148 Zudem ist zu beachten, dass sich Marktabgrenzungen im Zeitablauf verändern können, wenn zB aufgrund technischer Entwicklungen Märkte zusammenwachsen. Von daher beinhaltet eine Marktabgrenzung immer die Betrachtung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Zur Marktabgrenzung werden auch ökonometrische Analysen zur Bestim- 65 mung der Substitutionsbeziehungen zwischen Gütern wie die Kreuzpreiselastizität, Regressionsanalysen, diversion ratio oder der SSNIP-Test herangezogen.149 Der in den 1980er Jahren in den USA entwickelte „hypothetische Monopoltest“ (SSNIPTest) geht davon aus, dass ein Markt zutreffend abgegrenzt ist, wenn ein hypothetischer Monopolist in der Lage wäre, den Marktpreis profitabel um 5%–10% anzuheben.150 Der SSNIP-Test stellt auf die Reaktionen der marginalen Abnehmer ab.151 Als Vorteil des SSNIP-Tests wird angeführt, dass dieser nicht nur die Ausweichreaktionen der Nachfrageseite, sondern auch die Umstellungsflexibilität der Angebotsseite berücksichtige. Als nicht geeignet wird der SSNIP-Test ua bei bestehender Marktbeherrschung angesehen, weil der Ausgangspreis bereits monopolistisch überhöht ist.152 II. EU-Kartellrecht und Missbrauchsaufsicht II. EU-Kartellrecht und Missbrauchsaufsicht (Jungheim-Hertwig) 1. Wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen und Verhaltensweisen Wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen von Unternehmen sind Inhalt des Art 101 66 AEUV. Dabei statuiert Absatz 1 des Art 101 AEUV ein Verbot, während Absatz 3 die Freistellung vom Verbot regelt.

_____ 146 KOM, Flachglas, ABl 1989 L 33/44 (65); KOM, BPB Industries PLC, ABl 1989 L 10/50. 147 Langen/Bunte/Bardong Art 2 FKVO Rn 92. 148 Langen/Bunte/Bardong Art 2 FKVO Rn 29. 149 I Schmidt/HaucapS 63 ff; Emmerich/Lange S 53 f; Langen/Bunte/Bardong Art 2 FKVO Rn 32 ff; Zimmer/Paul JZ 2008, 611 (614). 150 KOM, Bekanntmachung Definition des relevanten Marktes, ABl 1997 C 372/5, Rn 17 ff. 151 Zimmer/Paul JZ 2008, 611 (614); Langen/Bunte/Bardong Art 2 FKVO Rn 33. 152 Langen/Bunte/Bardong Art 2 FKVO Rn 35; I Schmidt/Haucap S 65; Zimmer/Paul JZ 2008, 611 (614 f). Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass die Wirkungen von Maßnahmen von Unternehmen auf den Wettbewerb durchaus unterschiedlich sein können. Während so genannte Hard-Core-Kartelle per se als wettbewerbsschädlich eingeordnet werden, gibt es auch Vereinbarungen zwischen Unternehmen, bei denen die positiven Effekte der Zusammenarbeit die wettbewerbsbeschränkenden Effekte überwiegen. Solche positiven Effekte der Zusammenarbeit von Unternehmen können somit wettbewerbsfördernde Wirkungen haben. Dazwischen gibt es eine Vielzahl an Vereinbarungen, bei denen im Einzelfall geklärt werden muss, ob die Voraussetzungen des Absatzes 3 des Art 101 AEUV erfüllt sind.

a) Das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen und Verhaltensweisen aa) Normadressaten 68 Adressat des Verbots wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen und Verhaltensweisen sind Unternehmen153 und Unternehmensvereinigungen. Die Ausweitung des Verbots auf Unternehmensvereinigungen dient der Verhinderung von Umgehungsstrategien. Denn sonst könnten Unternehmen die Vereinbarungen, die sie nicht direkt miteinander schließen dürfen, in Unternehmensvereinigungen treffen. Zudem werden auch Vereinigungen von Unternehmensvereinigungen von Art 101 AEUV erfasst. Es ist nicht notwendig, dass die Unternehmensvereinigung selbst ein Un69 ternehmen darstellt.154 Nimmt eine Unternehmensvereinigung aber eigene wirtschaftliche Tätigkeiten wahr und verfolgt eigene Interessen und nicht lediglich die ihrer Mitglieder, ist der Unternehmensbegriff des europäischen Wettbewerbsrechts als erfüllt anzusehen.155 Auch eine berufsständische Vertretung kann eine Unternehmensvereinigung im Sinne von Art 101 AEUV sein.156

bb) Vereinbarung, Beschluss und abgestimmte Verhaltensweise 70 Mit Hilfe der Tatbestandsmerkmale Vereinbarung, Beschluss und aufeinander abge-

stimmte Verhaltensweise, die in Art 101 I AEUV aufgeführt werden, wird versucht, möglichst umfassend alle Arten der Koordination zwischen Marktteilnehmern zu

_____ 153 DazuKapitel I.4. Der Unternehmensbegriff, Rn 49 ff. 154 Langen/Bunte/Hengst Art 101 AEUV Rn 75. 155 EuGH, Rs 90/76 – Van Ameyde / UCI. 156 EuGH, Rs C-1/12 – Portugiesische berufsständische Vertretung für geprüfte Buchhalter. So hat der Gerichtshof die berufsständische Vertretung für geprüfte Buchhalter in Portugal als Unternehmensvereinigung eingestuft. Diese ist in Portugal öffentlich-rechtlich organisiert und gesetzlich verpflichtet, ein System der obligatorischen Fortbildung für ihre Mitglieder zu errichten. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

II. EU-Kartellrecht und Missbrauchsaufsicht | 1141

erfassen. Dabei handelt es sich um Begriffe des Unionsrechts, deren Auslegung den Unionsgerichten obliegen. Unter dem Begriff „Vereinbarung“ wird eine privatrechtliche Abrede oder zumindest ein „Gentlemen’s Agreement“157 verstanden.158 Während rechtlich bindende Verträge übereinstimmende Willenserklärungen voraussetzen, sind „Gentlemen’s Agreements“159 lediglich wirtschaftlich oder moralisch bindende Abreden.160 Es genügt für das Vorliegen einer Vereinbarung, dass die beteiligten Unternehmen ihren gemeinsamen Willen zum Ausdruck gebracht haben, sich auf dem Markt in einer bestimmten Weise zu verhalten.161 Dies kann ausdrücklich oder konkludent, schriftlich oder mündlich erfolgt sein.162 Diese weite Auslegung des Begriffs Vereinbarung soll es ermöglichen, den unterschiedlichen Erscheinungsformen in den jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen Rechnung zu tragen. Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen stellen Beschlüsse von Vereinigungen dar, die einstimmig oder mit Mehrheit oder durch Organe der Vereinigung gefasst werden und die das Marktverhalten der Mitglieder regeln.163 Der Unterschied zwischen Vereinbarungen und Beschlüssen besteht darin, dass Beschlüsse auch durch einen Mehrheitsbeschluss zustande kommen können, wodurch auch Unternehmen gebunden werden können, die nicht zugestimmt haben. Der Begriff der abgestimmten Verhaltensweisen erfasst jede Form der Koordinierung zwischen Unternehmen, „die zwar noch nicht bis zum Abschluss eines Vertrages im eigentlichen Sinn gediehen ist, jedoch bewusst eine praktische Zusammenarbeit an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs treten lässt“. 164 Das Tatbestandsmerkmal der abgestimmten Verhaltensweisen verlangt nicht die Ausarbeitung eines eigentlichen Plans.165 Für das Wettbewerbsrecht der Union ist entscheidend, dass die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs gewährleistet wird, damit der Wettbewerb die ihm zugeschriebene Funktion erfüllen kann. Die Wettbewerbsmechanismen greifen nur, wenn jeder Unternehmer unabhängig und rational entscheidet, das sog Selbstän-

_____ 157 EuG, Rs T-141/89 – Tréfilunion, Rn 96 f. 158 Emmerich/Lange S 34. 159 Im Zweifelsfall kann ein „Gentlemen’s Agreement“ auch unter den Begriff der „abgestimmten Verhaltensweisen“ subsumiert werden. Dafür plädiert Lettl S 28. 160 Emmerich/Lange S 34. 161 EuG, Rs T-9/89 – Hüls / Kommission, Rn 291 mwN; vgl Mestmäcker/Schweitzer Kap 3 § 10 Rn 4. 162 Mestmäcker/Schweitzer Kap 3 § 10 Rn 4; Emmerich/Lange S 33. 163 EuGH, verb Rs 209–215 und 218/78 – FEDETAB; vgl Mestmäcker/Schweitzer Kap 3 § 10 Rn 27. 164 EuGH, st Rspr seit den sog Farben-Fällen: EuGH, Rs 48/69 – ICI, Rn 64, 67; Rs 49/69 – BASF, Rn 22; Rs 51/69 – Bayer, Rn 25; Rs 52/69 – Geigy, Rn 26; verb Rs 40–48, 50, 54–56, 111, 113 und 114/73 – Suiker Unie ua, Rn 173; verb Rs C-89, 104, 114, 116, 117, 125–129/85 – Ahlströhm Osakeyhtiö, Rn 63. 165 Mestmäcker/Schweitzer Kap 3 § 10 Rn 38. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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digkeitspostulat.166 Deswegen ist den Unternehmen „jede unmittelbare oder mittelbare Fühlungnahme“ untersagt, welche „bezweckt oder bewirkt, entweder das Marktverhalten eines gegenwärtigen oder potentiellen Mitbewerbers zu beeinflussen oder einen solchen Mitbewerber über das Marktverhalten ins Bild zu setzen, das man selbst an den Tag zu legen entschlossen ist oder in Erwägung zieht“.167 Merkmale einer abgestimmten Verhaltensweise sind folgende: 75 – Abstimmung zwischen den Unternehmen (Diese muss in keiner Art und Weise verbindlich sein, weder rechtlich, wirtschaftlich, moralisch oder gesellschaftlich. Es ist kein unmittelbarer Kontakt zwischen den Beteiligten notwendig, die Zwischenschaltung eines Dritten reicht aus.) – Reduktion des Risikos durch die Abstimmung, weil Ungewissheit über das zukünftige Verhalten der Wettbewerber verringert wird.168 76 Bei dem Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern ist folglich die Art

und Qualität der ausgetauschten Informationen ausschlaggebend, um für eine Abstimmung im Sinne des Art 101 AEUV infrage zu kommen.169 Ein solcher Informationsaustausch ist umso problematischer, je vertraulicher die Informationen sind und je stärker sie auf zukünftige Verhaltensweisen der Unternehmen ausgerichtet sind. Von den verbotenen abgestimmten Verhaltensweisen ist das erlaubte Paral77 lelverhalten 170 abzugrenzen, 171 welches in der Natur des Wettbewerbsprozesses liegt. Allerdings wertet der Gerichtshof ein Parallelverhalten als „wichtiges Indiz“ für abgestimmte Verhaltensweisen, „wenn es zu Wettbewerbsbedingungen führt, die im Hinblick auf die Art der Waren, die Bedeutung und Anzahl der beteiligten Unternehmen sowie den Umfang des in Betracht kommenden Marktes nicht den normalen Wettbewerbsbedingungen entspricht“.172 Eine abgestimmte Verhaltensweise wird angenommen, wenn das Preisniveau, welches sich durch das scheinbare Parallelverhalten bildet, höher ist als es sich normalerweise im Wettbewerb ergeben hätte. Werden Preiserhöhungen mehrerer Unternehmen auf einem Markt zur gleichen Zeit durchgeführt, kann dies auch ein Hinweis auf eine abgestimmte Verhaltensweise sein. Dies gilt nicht, wenn sich die Preiserhöhung lediglich auf geänderte

_____ 166 Mestmäcker/Schweitzer Kap 3 § 10 Rn 38. 167 EuGH, verb Rs 40–48, 50, 54–56, 111, 113 und 114/73 – Suiker Unie ua, Rn 173. 168 Mestmäcker/Schweitzer Kap 3 § 10 Rn 38 f. 169 Pischel/Hausner EuZW 2013, 498 ff. 170 Das klassische Parallelverhalten ist in oligopolistischen Märkten anzutreffen. Die Voraussetzungen eines oligopolistischen Marktes sind ua: gleiche Marktbedingungen für die Unternehmen, homogene Güter, Preistransparenz, stagnierender Markt mit einer geringen Zahl von Anbietern, hohe Fixkosten. 171 Mestmäcker/Schweitzer Kap 3 § 10 Rn 47. 172 EuGH, Rs 48/69 – ICI / Kommission; vgl Mestmäcker/Schweitzer Kap 3 § 10 Rn 47. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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Rahmenbedingungen wie bspw das In-Kraft-Treten bestimmter Steuervorschriften zurückführen lässt. Die Kommission muss für das Vorliegen einer abgestimmten Verhaltensweise aussagekräftige und übereinstimmende Beweise beibringen.173 Oft kann das Vorliegen einer abgestimmten Verhaltensweise oder auch von ge- 78 heimen Vereinbarungen oder Beschlüssen nur durch Mithilfe eines Mitglieds des Kartells aufgedeckt werden. Aus diesem Grund hat die Kommission die so genannte „Kronzeugenregelung“174 oder „Bonusregelung“ eingeführt, die Beteiligten eines Kartells Anreize zur Zusammenarbeit mit der Kommission geben will.175 Das erste Unternehmen, welches einen Bonusantrag stellt, hat die Möglichkeit auf einen Bußgelderlass, während spätere Bonusantragsteller nur noch mit einer Reduktion des Bußgeldes rechnen können. Die Höhe der Bußgeldreduktion richtet sich nach dem Zeitpunkt des Bonusantrags und dem Mehrwert der Informationen des Antragstellers. Es wird folglich ein „Windhundrennen“ in Gang gesetzt, um das Kartell zu destabilisieren. Des Weiteren werden Kooperationspflichten der Bonusantragsteller festgelegt. Auch die nationalen Wettbewerbsbehörden haben jeweils eigene Bonusprogramme. Mit dem Model Leniency Programme von 2006, welches im Jahr 2012 überarbeitet wurde,176 wurden von der Kommission und den mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden ein gemeinsamer Standard für Bonusprogramme entwickelt, an dem sich die nationalen Wettbewerbsbehörden bei der Konzeption eigener Bonusprogramme orientieren können. Mit ECN+ werden nun die Elemente des bislang unverbindlichen Model Leniency Programmes legislativ vorgegeben (vgl Rn 29). Als Ergänzung zur Bonusregelung hat die Kommission im Jahr 2017 ein neues Informationsübermittlungsportal (das sogenannte Whistleblower-Tool)177 eingeführt, über das Kartellrechtsverstöße von Einzelpersonen gemeldet werden können.178

cc) Wettbewerbsbeschränkung Art 101 AEUV erfasst sowohl horizontale Vereinbarungen179 als auch vertikale 79 Vereinbarungen. Der Begriff Kartell bezeichnet eigentlich nur Vereinbarungen, die Wettbewerber miteinander treffen, um den Wettbewerb untereinander zu verringern. Somit ist eine Gleichsetzung von Art 101 AEUV mit dem Kartellverbot zu ver-

_____ 173 EuG, Rs T-410/08 – GEMA / Kommission, Rn 74. 174 Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl 2006 2006 C 298/17. 175 Vgl dazu Albrecht WRP 2007, 417 ff; Jüntgen WuW 2007, 128 ff; Blake/Schnichels EuZW 2004, 551 ff; Polley/Seeliger EuZW 2002, 397 ff; Klees WuW 2002, 1056 ff; Soltész WuW 2005, 616 ff. 176 Vgl http://ec.europa.eu/competition/ecn/mlp_revised_2012_en.pdf. 177 Das Bundeskartellamt hat bereits im Jahr 2012 ein anonymes Hinweisgebersystem eingeführt. 178 KOM, Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen, Begleitunterlage zum Bericht der Kommission über die Wettbewerbspolitik 2017, COM(2018) 482, S 4. 179 Sowie Beschlüsse und abgestimmte Verhaltensweisen. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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kürzt, weil durch Art 101 I AEUV wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen zwischen Unternehmen der gleichen Wirtschaftsstufe sowie wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen zwischen Unternehmen unterschiedlicher Wirtschaftsstufen verboten sind. Zu den vertikalen Vereinbarungen zählen zB Ausschließlichkeitsund Vertriebsbindungen, Franchisevereinbarungen, Lizenzverträge und Preis- und Konditionenbindungsverträge. Allerdings sind vertikale Vereinbarungen aus wirtschaftswissenschaftli80 cher Sicht nicht notwendigerweise wettbewerbsschädigend. Im US-amerikanischen Kartellrecht ist dafür die „rule of reason“ geschaffen worden, wonach die positiven und die negativen Effekte einer vertikalen Vereinbarung gegeneinander abgewogen werden.180 Dabei ist notwendig, dass die Vorteile, die durch diese Vereinbarungen entstehen, auch an den Verbraucher weitergegeben werden. Ob die Figur der „rule of reason“ auch im europäischen Kartellrecht existiert, 81 ist umstritten.181 Sowohl die Kommission als auch der Gerichtshof haben den Nutzen vertikaler Vereinbarungen für die Erschließung neuer Märkte und die Förderung der Durchdringung anderer mitgliedstaatlicher Märkte früh erkannt.182 Zur Verpflichtung der Vertriebshändler in einem selektiven Vertriebssystem, nur anerkannte Groß- oder Einzelhändler für den Weiterverkauf zu beliefern, erklärte der Gerichtshof: „Jedes Absatzsystem, das auf einer Selektion der Vertriebsstellen beruht, enthält, wenn es nicht sinnlos sein soll, notwendigerweise die Verpflichtung für die zu dem Netz gehörenden Großhändler, nur anerkannte Wiederverkäufer zu beliefern. [...] Solange die im Rahmen der Überwachung übernommenen Verpflichtungen nicht über das verfolgte Ziel hinausgehen, können sie nicht schon für sich genommen eine Beschränkung des Wettbewerbs darstellen.“183 Nicht jede Vertriebsvereinbarung stellt also automatisch eine Wettbewerbsbeschränkung dar. Bei selektiven Vertriebssystemen ist zwischen dem qualitativen und dem quantitativen selektivem Vertrieb zu unterscheiden.184 Während der rein qualitative selektive Vertrieb bereits das Tatbestandsmerkmal der Wettbewerbsbeschränkung nicht erfüllt, wenn er zur Wahrung der Qualität und zur Gewährleistung des richtigen Gebrauchs der Ware erforderlich ist,185 ist dies bei quantitativen selektiven Vertriebssystemen, bei welchen qualitative mit quantitativen Elementen kombiniert sein können, anders. Qualitative selektive Vertriebssysteme zeichnen sich dadurch aus, dass für die Auswahl

_____ 180 Mestmäcker/Schweitzer Kap 3 § 8 Rn 40 ff; Langen/Bunte/Hengst Art 101 AEUV Rn 195; Whish/ Bailey S 143 f. 181 Emmerich/Lange S 50; Mestmäcker/Schweitzer Kap 3 § 8 Rn 63 ff; Langen/Bunte/Hengst Art 101 AEUV Rn 196 ff. 182 EuGH, Rs 56/65 – LTM / Maschinenbau Ulm. 183 EuGH, Rs 26/76 – Metro / Kommission, Rn 27. 184 KOM, Vertikal-LL, ABl 2010 C 130/1, Rn 174 ff. 185 KOM, Vertikal-LL, ABl 2010 C 130/1, Rn 175. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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der Händler objektive qualitative und einheitliche Kriterien zugrunde gelegt werden, welche zudem diskriminierungsfrei angewendet werden müssen. Somit wird die Anzahl der Händler durch diese Kriterien nicht unmittelbar beschränkt.186 Demgegenüber werden bei quantitativen selektiven Vertriebssystemen die Händlerzahlen unmittelbar oder ausdrücklich begrenzt, wodurch der markeninterne Wettbewerb beschränkt wird.187 Diese Wettbewerbsbeschränkung ist mit der Marktmacht des Herstellers in Bezug zu setzen.188 Diese Wertung wird im Rahmen des Art 101 III AEUV vorgenommen. Art 101 AEUV enthält somit in seiner Gesamtheit die Elemente einer „rule of reason“, allerdings auf die Absätze 1 und 3 verteilt.189 Im Rahmen des Art 101 I AEUV ist festzustellen, ob eine Vereinbarung wettbewerbsbeschränkend ist, während in Absatz 3 geprüft wird, ob diese wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung „unter angemessener Beteiligung der Verbraucher an dem entstehenden Gewinn zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts“ beiträgt.190 Entstehen durch die Vereinbarung sowohl Effizienzgewinne als auch Effizienzverluste, findet deren Gesamtsaldierung in Art 101 III AEUV statt.191 Teilweise wird in der Literatur auch eine fallbezogene Abwägung der Vor- und Nachteile einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung in Art 101 III AEUV befürwortet.192 Dogmatisch klarer ist die getrennte Prüfung in Absatz 1 und Absatz 3. Die Begriffe Verhinderung, Einschränkung und Verfälschung sollen alle Arten möglicher Wettbewerbsbeschränkungen erfassen. Unter Verhinderung wird der vollständige Wettbewerbsausschluss verstanden.193 Der Begriff Einschränkung des Wettbewerbs erfasst jede sonstige Form der Wettbewerbsbeschränkung. 194 Dem Merkmal der Verfälschung wird keine eigenständige Bedeutung zugesprochen, vielmehr wird es als Oberbegriff verstanden.195 Neben der Generalklausel des Art 101 I AEUV enthält der Absatz 1 einen nicht abschließenden Beispielkatalog. In Art 101 I lit a) bis e) AEUV werden exemplarisch wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen von Unternehmen aufgezählt. Eine klare Abgrenzung der Beispieltatbestände des Art 101 I lit a) bis e) AEUV ist nicht immer möglich, aber auch nicht erforderlich, wenn ein Sachverhalt unter mehrere

_____ 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195

KOM, Vertikal-LL, ABl 2010 C 130/1, Rn 175. KOM, Vertikal-LL, ABl 2010 C 130/1, Rn 175; vgl Beutelmann ZWeR 2013, 346 ff. KOM, Vertikal-LL, ABl 2010 C 130/1, Rn 176 ff. Leupold/Weidenbach WuW 2006, 1010. Leupold/Weidenbach WuW 2006, 1009 f. Leupold/Weidenbach WuW 2006, 1010. Emmerich/Lange S 50. Langen/Bunte/Hengst Art 101 AEUV Rn 177. Langen/Bunte/Hengst Art 101 AEUV Rn 177. Langen/Bunte/Hengst Art 101 AEUV Rn 177.

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Tatbestände des Beispielkatalogs des Art 101 I lit a) bis lit e) AEUV gleichzeitig subsumiert werden kann. Zudem verbleibt zusätzlich der Rückgriff auf die Generalklausel des Art 101 I AEUV. Aus den Beispieltatbeständen wird deutlich, dass das Wettbewerbsrecht der 86 Union den Wettbewerb zwischen Unternehmen in seiner Gesamtheit schützt. Während Art 101 I lit a) AEUV auf die Parameter Preis und Geschäftsbedingungen abstellt, werden in Art 101 I lit b) AEUV qualitative Kriterien wie die Einschränkung der technischen Entwicklung genannt. Zudem wird eine Wettbewerbsbeschränkung einerseits in der Einschränkung der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit der Beteiligten gesehen, weil damit das im Wettbewerbsprozess geforderte Selbstständigkeitspostulat verletzt wird.196 Andererseits ist die Zielsetzung des Art 101 I AEUV auch der Schutz Dritter vor Beeinträchtigungen durch Maßnahmen der beteiligten Unternehmen, welche den Handlungsspielraum der Dritten einschränken.197 Als wettbewerbsbeschränkend nennt der Beispielkatalog des Art 101 I AEUV 87 zunächst in lit a) die gemeinsame Festsetzung der An- oder Verkaufspreise oder sonstiger Geschäftsbedingungen. Erfasst werden alle Verhaltens- und Koordinierungsweisen, welche Unternehmen bei der Ausübung ihrer Preisbildungsfreiheit beschränken oder beeinflussen.198 Der Preis gilt als wichtigster Wettbewerbsparameter, weshalb Preisabsprachen zwischen Wettbewerbern zu den sog Hard-CoreKartellen zählen.199 Unter dem Begriff Preis sind sämtliche Erscheinungsformen eines Preises sowie auch Preisbestandteile zu verstehen. Daraus folgt, dass horizontale Absprachen über Brutto- 200 und Nettopreise, Rabatte, 201 Preisänderungen, Mindestpreise, Kalkulationsschemata usw darunter zu subsumieren sind.202 Auch ein Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern, zB über zukünftige Preiserhöhungen oder über die Preiskalkulation, ist nach Art 101 I lit a) AEUV verboten.203 Ebenfalls verboten ist im Vertikalverhältnis die Preisbindung der zweiten 88 Hand.204 Diese beinhaltet, dass ein Hersteller dem Händler vorschreibt, welchen Preis dieser von seinem Abnehmer fordern soll.205 Damit wird der Händler in seiner

_____ 196 Langen/Bunte/Hengst Art 101 AEUV Rn 180. 197 Langen/Bunte/Hengst Art 101 AEUV Rn 186 ff. 198 Emmerich/Lange S 59 f; Langen/Bunte/Hengst Art 101 AEUV Rn 269. 199 Emmerich/Lange S 59. 200 EuGH, Rs 311/85 – Flämische Reisebüros. 201 KOM, Rabattbeschluss der IG der deutschen Fliesenwerke, ABl 1971 L 10/15, Rn 19. 202 Langen/Bunte/Hengst Art 101 AEUV Rn 270. 203 Emmerich/Lange S 60; Langen/Bunte/Hengst Art 101 AEUV Rn 270. 204 Die Preisbindung der zweiten Hand stellt deshalb auch eine unzulässige Kernbeschränkung im Rahmen der Vertikal-GVO dar. Siehe Kapitel II.1.b) bb) Die Gruppenfreistellungsverordnungen. Allerdings kann eine Preisbindung im Einzelfall unter engen Voraussetzungen (Produktneueinführung, begrenzter Zeitraum, etc) freistellungsfähig gem Art 101 III AEUV sein. 205 Langen/Bunte/Hengst Art 101 AEUV Rn 271. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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Preissetzungsfreiheit eingeschränkt. Gibt der Hersteller allen Händlern einen Verkaufspreis vor, führt dies auf Stufe der Händler zur Ausschaltung des Preiswettbewerbs bezüglich der Produkte dieses Herstellers (Intrabrand-Wettbewerb). Neben der Koordinierung von Preisen verbietet Art 101 I lit a) AEUV auch die Verhaltenskoordinierung aller übrigen Geschäftsbedingungen.206 Nicht alle Geschäftsbedingungen entfalten spürbare wettbewerbsbeschränkende Wirkungen, weshalb das Verbot vor allem preisbeeinflussende Konditionen wie ua Zahlungsbedingunggen, Gewährleistungs- und Garantiebedingungen umfasst.207 Des Weiteren benennt Art 101 I AEUV in lit b) als wettbewerbsbeschränkend die 89 Einschränkung oder Kontrolle der Erzeugung, des Absatzes, der technischen Entwicklung oder der Investitionen. Hierdurch soll klargestellt werden, dass der Wettbewerb in all seinen Formen und nicht nur der Preiswettbewerb durch Art 101 AEUV geschützt wird. Der Verbraucher soll die Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Produkten haben. Art 101 I lit b) AEUV umfasst vor allem Quotenkartelle, Strukturkrisenkartelle und Spezialisierungskartelle.208 Unter Strukturkrisenkartellen werden umfassende Investitions-, Entwicklungs- und Produktionsbeschränkungen zum koordinierten Abbau unternehmerischer Überkapazitäten verstanden. In diesen Absprachen wird ein Verstoß gegen Art 101 I lit b) AEUV gesehen, weil die Unternehmen eigenständig entsprechende Anpassungs- und Schrumpfungsmaßnahmen vornehmen müssen (Selbständigkeitspostulat). Ferner ordnet Art 101 I AEUV in lit c) auch die Aufteilung der Märkte oder 90 Versorgungsquellen als wettbewerbsbeschränkend ein. Die Kommission beurteilt die Aufteilung der Märkte besonders rigide, weil dies dem Ziel der Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes zuwiderläuft,209 indem, nachdem die staatlichen Schranken abgebaut sind, neue Schranken durch Unternehmen aufgebaut werden. Die Marktaufteilung kann sowohl geografisch als auch kundenbezogen erfolgen.210 Weiterhin kann eine Marktaufteilung durch horizontale Vereinbarungen (Kartellvereinbarung) oder vertikale Vereinbarungen (zwischen Unternehmen verschiedener Wirtschaftsstufen) entstehen. Die Marktaufteilungen zwischen Wettbewerbern können sich auf Gebiete 91 oder Kunden beziehen. Oft sind diese Absprachen mit Quoten abgesichert, indem bestimmte Marktquoten mit Absatzzielen vorgegeben werden, die von den Kartellteilnehmern laufend kontrolliert werden, so dass eine Überschneidung mit dem Regelbeispiel des Art 101 I lit b) AEUV besteht. Auch sog „Pay-for-Delay“-Verein-

_____ 206 KOM, Cementhandelaren, ABl 1972 L 13/34, Rn 7; KOM, VIMPOLTU, ABl 1983 L 200/44, Rn 46 ff. 207 Langen/Bunte/Hengst Art 101 AEUV Rn 274. 208 Emmerich/Lange S 62. 209 Emmerich/Lange S 62. 210 Immenga/Mestmäcker/Zimmer Art 101 I AEUV Rn 244. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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barungen im Arzneimittelsektor werden von der Kommission als Marktaufteilungen eingestuft. 211 Als Submissionsabsprachen werden Marktaufteilungen bezeichnet, wenn es sich um Ausschreibungsmärkte handelt.212 Die klassische Form der vertikalen Marktaufteilung erfolgt durch die Ausgestaltung eines Vertriebssystems durch den Hersteller, indem der Hersteller durch Exportverbote zu Lasten der jeweiligen Händler versucht, Parallelimporte zwischen den Gebieten seiner Händler zu unterbinden.213 Dies führt zur Aufrechterhaltung oder Wiedererrichtung der Marktschranken zwischen den Mitgliedstaaten, also zur geografischen Marktaufteilung. Oft sind diese Absprachen mit Melde- und Nachforschungssystemen verbunden.214 Die Aufteilung der Versorgungsquellen bezieht sich auf Vereinbarungen, in denen sich Unternehmen zB verpflichten vorrangig von bestimmten Lieferanten zu beziehen.215 Wettbewerbsbeschränkend im Sinne von Art 101 I AEUV ist auch die Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber Handelspartnern, wodurch diese im Wettbewerb benachteiligt werden (lit d). Der Gerichtshof geht von einer Diskriminierung aus, wenn vergleichbare Sachverhalte („gleichwertig“) ungleich behandelt werden, ohne dass eine sachliche, also eine auf objektiven Umständen von einigem Gewicht beruhende Rechtfertigung hierfür möglich ist.216 Die Ungleichbehandlung setzt folglich vergleichbare Sachverhalte voraus, wie zB die Nichtaufnahme eines Händlers in ein qualitatives selektives Vertriebssystem, obwohl dieser die objektiven und qualitativen Kriterien erfüllt. Schließlich nennt Art 101 I AEUV in lit e) als wettbewerbsbeschränkend die an den Abschluss von Verträgen geknüpfte Bedingung, dass die Vertragspartner zusätzliche Leistungen annehmen, die weder sachlich noch nach Handelsbrauch in Beziehung zum Vertragsgegenstand stehen. Ein Koppelungsgeschäft im Sinne des Art 101 I lit e) AEUV wird angenommen, wenn Abnehmern durch den Her-

_____ 211 Dabei schließt ein Arzneimittelhersteller mit einem Generikahersteller eine Vereinbarung, in welcher sich der Generikahersteller verpflichtet, keine Generika in ein bestimmtes geographisches Gebiet zu liefern, und erhält als Gegenleistung Zahlungen des Arzneimittelherstellers. Da diese Vereinbarungen im Rahmen von Patentvergleichsvereinbarungen getroffen werden, sind sie nicht leicht als Kartellvereinbarungen zu erkennen. Die Beurteilung der Kommission wird auch vom Gericht geteilt: EuG, T-472/13 – Lundbeck A/S und Lundbeck Ltd/Kommission. 212 Vgl zB das Aufzugskartell: KOM, Aufzüge und Fahrtreppen, ABl 2008 C 75/19 (nur Zusammenfassung der Entscheidung), Original unter http://ec.europa.eu/competition/antitrust/cases/ dec_docs/38823/38823_1340_4.pdf. Bestätigt durch den Gerichtshof: EuGH, Rs C-493/11 P – United Technologies; Rs C-494/11 P – Otis Luxembourg ua; Rs C-501/11 P – Schindler Holding ua; Rs C510/11 P – Kone. 213 Emmerich/Lange S 63 f; Langen/Bunte/Hengst Art 101 AEUV Rn 282. 214 ZB KOM, Hasselblad, ABl 1982 L 161/18. 215 Langen/Bunte/Hengst Art 101 AEUV Rn 283. 216 EuGH, Rs 124–76 und 20–77 – Moulins et Huilieries, Rn 14/17. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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steller oder Lieferanten zusätzlich zu den von ihnen nachgefragten Gütern oder Dienstleistungen (koppelndes Gut) weitere, nicht gewünschte Waren oder Dienstleistungen (gekoppeltes Gut) aufgezwungen werden, indem der Bezug des gekoppelten Gutes zur Bedingung für die Abnahme des eigentlich nachgefragten Gutes gemacht wird.217 Dieser Sachverhalt ist bei vertikalen Vereinbarungen anzutreffen, zB die Koppelung des Bezugs des Riggs mit der Abnahme bestimmter SurfbrettTypen218 oder die Koppelung des Bezugs von Glas mit einer bestimmten Lieferart und die Verweigerung der Lieferung „ab Werk“.219 In der Praxis erlangen Koppelungsangebote vor allem im Rahmen des Art 102 S 2 lit d) AEUV Relevanz.220 In Art 101 I AEUV werden die Tatbestandsmerkmale „bezwecken“ und „be- 96 wirken“ alternativ genannt. Sowohl eine Wettbewerbsbeschränkung, die bezweckt wird, als auch eine Wettbewerbsbeschränkung, die nur das Resultat einer Verhaltensweise ist, also bewirkt wird, wird von Art 101 I AEUV erfasst. Wenn die Zielsetzung einer Maßnahme nicht als wettbewerbsbeschränkend eingeordnet werden kann, muss die Wirkung dieser Maßnahme anhand der Gegebenheiten auf dem relevanten Markt ermittelt werden, um ein Urteil über die Wirkung treffen zu können.221 Der Gerichtshof betont in seiner Rechtsprechung die vorrangige Prüfung des Merkmals „bezwecken“.222 Der Unterschied zwischen „bezwecken“ und „bewirken“ liege darin, dass „bestimmte Formen der Kollusion zwischen Unternehmen schon ihrer Natur nach als schädlich […]“ angesehen werden.223 Nach Ansicht des Gerichtshofs ist es ausreichend, wenn das Verhalten das Potenzial hat, Auswirkungen auf den Wettbewerb zu zeigen.224 Bei Hard-Core-Kartellen wie Preis-, Gebiets-, Kunden- oder Quotenabsprachen geht die Kommission regelmäßig davon aus, dass es sich um bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen handelt, weshalb die Prüfung der Auswirkungen dieser Wettbewerbsbeschränkungen dann nicht notwendig ist.225 Sogar ein einmaliger Austausch von Informationen zwischen Wettbewerbern kann als abgestimmte Verhaltensweise, die eine Wettbewerbsbeschränkung bezweckt, angesehen werden.226 Entscheidend ist, dass sich die wettbewerbsbeschränkende Maßnahme inner- 97 halb des Binnenmarktes auswirkt oder dieses zumindest bezweckt ist.227

_____ 217 Emmerich/Lange S 63; Langen/Bunte/Hengst Art 101 AEUV Rn 1291. 218 KOM, Windsurfing International, ABl 1983 L 229/1 (11). 219 KOM, IFTRA-Verpackungsglas, ABl 1974 L 160/1, Rn 48. 220 Vgl Kapitel II.2.c Missbräuchliche Ausnutzung. 221 Vgl González ECLR 2013, 457 ff. 222 EuGH, Rs C-8/08 – T-Mobile Netherlands ua, Rn 28. 223 EuGH, Rs C-8/08 – T-Mobile Netherlands ua, Rn 29. 224 EuGH, Rs C-8/08 – T-Mobile Netherlands ua, Rn 31. 225 Allerdings obliegt die letztendliche rechtliche Einordnung einer Maßnahme dem Gerichtshof. Vgl Whish/Bailey S 128. 226 EuGH, Rs C-8/08 – T-Mobile Netherlands ua. 227 Siehe Kapitel Extraterritoriale Anwendung der Wettbewerbsregeln, Rn 46 f. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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Für die Anwendung des Art 101 I AEUV wird nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshof eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung vorausgesetzt.228 Das Kriterium der „Spürbarkeit“ wird auch als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal bezeichnet.229 Zur Bestimmung der Spürbarkeit wird eine Gesamtschau der Marktverhältnisse vorgenommen.230 Um das Kriterium der Spürbarkeit handhabbarer zu machen, hat die Kommissi99 on die De-minimis-Bekanntmachung231veröffentlicht, in welcher Vereinbarungen von geringer Bedeutung definiert werden, von denen keine spürbare Beeinträchtigung ausgeht. Danach wird die Schwelle der Spürbarkeit erst erreicht, wenn die Vereinbarungen auf dem relevanten Markt bei horizontalen Vereinbarungen mehr als 10% des gesamten Marktes dieser Produkte oder Dienstleistungen ausmachen. Bei vertikalen Vereinbarungen liegt die Grenze bei 15% des relevanten Marktes. Ist nicht eindeutig abgrenzbar, ob es sich um eine Vereinbarung zwischen Wettbewerbern oder eine Vereinbarung zwischen Nichtwettbewerbern handelt, gilt die 10%Schwelle. Auch die sog Bündeltheorie,232 nach der mehrere gleichartige Verträge wettbewerbsrechtlich als Einheit betrachtet werden, 233 ist in der De-minimisBekanntmachung aufgegriffen worden. Wenn ein Markt mit einem Netz gleichartiger Verträge überzogen ist, so stellt zwar der einzelne Vertrag keine spürbare Handelsbeeinträchtigung dar, aber die Verträge in ihrer Summe bewirken eine Wettbewerbsbeschränkung (zB Tankstellenbelieferungsverträge, Bierlieferungsverträge). Aus diesem Grund müssen diese Verträge in ihrer Gesamtheit berücksichtigt werden. In der De-minimis-Bekanntmachung wird deshalb festgestellt, dass Wettbewerbsbeschränkungen auf einem Markt durch die kumulative Wirkung von nebeneinander bestehenden Netzen von Vereinbarungen, die ähnliche Wirkungen auf dem Markt haben, zur Folge haben, dass die Marktanteilsschwellen bei einzelnen Lieferanten oder Händlern sowohl für horizontale als auch vertikale Vereinbarungen auf 5% gesenkt werden. Die Kommission hält es für unwahrscheinlich, dass ein kumulativer Abschottungseffekt vorliegt, wenn weniger als 30% des relevanten Marktes durch solche Netze von Vereinbarungen abgedeckt werden. Des Weiteren wird angenommen, dass Vereinbarungen zwischen kleinen und mittleren Unternehmen (mit weniger als 250 Beschäftigten und höchstens 50 Mio EUR Jahres-

_____ 228 ZB EuGH, Rs 56/65 – Société Technique minière (Ltm) / Maschinenbau Ulm GmbH; Rs 40–48, 50, 54–56, 111, 113 und 114/73 – Suiker Unie ua / Kommission, Rn 196/197 f; Rs 260/82 – Nederlandse Sigarenwinkeliers Organisatie; Rs C-7/95 P – Deere / Kommission, Rn 77; Rs C-238/05 – AsnefEquifax und Administración del Estado, Rn 50; Odersky FS Ernst-Joachim Mestmäcker, 1996, S 703. 229 Immenga/Mestmäcker/Emmerich Art 101 I AEUV Rn 142. 230 Immenga/Mestmäcker/Emmerich Art 101 I AEUV Rn 145. 231 Bekanntmachung der Kommission über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die im Sinne von Art 101 I des AEUVden Wettbewerb nicht spürbar beschränken (de minimis), ABl 2014 C 291/1. 232 Odersky FS Ernst-Joachim Mestmäcker, 1996, S 703. 233 EuGH, Rs C-234/89 – Delimitis; Emmerich/Lange S 58. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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umsatz oder einer Bilanzsumme von höchstens 43 Mio EUR)234 selten geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten spürbar zu beeinträchtigen.235 Von der Deminimis-Bekanntmachung explizit ausgenommen sind sog Kernbeschränkungen. Dazu gehören ua bei horizontalen Vereinbarungen Preis-, Kunden- und Gebietsaufteilungen und bei vertikalen Vereinbarungen die Preisbindung der zweiten Hand. Maßnahmen, die eine Wettbewerbsbeschränkung bezwecken, stellen ihrer Natur nach und unabhängig von den konkreten Auswirkungen eine spürbare Beschränkung des Wettbewerbs dar.236 Die De-minimis-Bekanntmachung bindet nur die Kommission, nicht aber die Gerichte oder die nationalen Kartellbehörden,237 soll aber für diese als Leitfaden dienen, wie der EuGH in seinem Expedia-Urteil vom 13.12.2012238 nochmals klargestellt hat.

dd) Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten239 Der Gerichtshof nimmt eine spürbare Handelsbeeinträchtigung zwischen Mit- 100 gliedstaaten an, wenn ein Kartell einen gesamten mitgliedstaatlichen Markt umfasst.240 Dazu führt der Gerichtshof aus, dass ein sich auf das gesamte Gebiet eines Mitgliedstaats erstreckendes Kartell schon seinem Wesen nach die Wirkung habe, die Abschottung der Märkte auf nationaler Ebene zu verfestigen.241 Ein solches Kartell verhindere die vom Vertrag gewollte gegenseitige wirtschaftliche Durchdringung und schütze die inländische Produktion.242 Für die Beurteilung der Spürbarkeit einer Maßnahme ist auch die sog Bündeltheorie zu berücksichtigen. Allerdings in Bezug auf die Eignung zur Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels und nicht hinsichtlich der Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung, welche in der Deminimis-Bekanntmachung der Kommission behandelt wird.243

_____ 234 Anhang Art 2 Empfehlung der Kommission zur Definition von Kleinstunternehmen, kleinen und mittleren Unternehmen von 2003, ABl 2003 L 124/36. 235 De-minimis-Bekanntmachung, ABl 2014 C 291/13, Rn 4. 236 EuGH, Rs C-226/11 – Expedia, Rn 35 ff. 237 Pampel EuZW 2005, 11 ff; Pohlmann WuW 2005, 1005 ff; Andere Ansicht Schweda WuW 2004, 1133 ff. 238 EuGH, Rs C-226/11 – Expedia. 239 Siehe auch Kapitel I.3.a) Die Zwischenstaatlichkeitsklausel, Rn 41 ff. 240 EuGH, Rs 8/72 – Cementhandelaren; Rs 73/74 – Papiers peints de Belgique / Kommission; Rs 243/83 – Binon / AAP; Rs 42/84 – Remia; Rs 246/86 – Belasco. 241 EuGH, Rs 8/72 – Cementhandelaren; Rs 73/74 – Papiers peints de Belgique / Kommission; Rs 243/83 – Binon / AAP; Rs 42/84 – Remia; Rs 246/86 – Belasco. 242 EuGH, Rs 73/74 – Papiers peints de Belgique / Kommission. 243 Immenga/Mestmäcker/Zimmer Art 101 I AEUV Rn 209. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1152 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

b) Die Freistellung vom Verbot des Art 101 I AEUV 101 Nach dem Wortlaut des Art 101 III AEUV kann das Verbot des Absatzes 1 unter be-

stimmten Voraussetzungen für nicht anwendbar erklärt werden. Während im Rahmen von Art 101 I AEUV festzustellen ist, ob eine Wettbewerbsbeschränkung im Sinne des Absatzes 1 vorliegt bzw eine Maßnahme gar keine Wettbewerbsbeschränkung darstellt, sind – kraft der durch Art 1 II VO 1/2003244 angeordneten Legalausnahme – im Rahmen des Absatzes 3 Wettbewerbsbeschränkungen, welche die Freistellungsvoraussetzungen des Absatzes 3 erfüllen, freigestellt.

aa) Die Generalklausel des Art 101 III AEUV 102 Die Generalklausel des Art 101 III AEUV verlangt für die Freistellung, dass zwei posi103

tive und zwei negative Voraussetzungen kumulativ erfüllt werden. Die positiven Voraussetzungen sind: – dass die Maßnahmen zur Verbesserung der Warenerzeugung oder Warenverteilung beitragen, dh dass mit der Vereinbarung tatsächlich spürbare objektive Vorteile verbunden sind (zB Rationalisierungseffekte), die die Nachteile der Wettbewerbsbehinderung deutlich überwiegen, – oder dass die Maßnahmen zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen, – und dass die Verbraucherangemessen an dem entstehenden Gewinn beteiligt werden. Gewinn ist nicht nur finanzieller Gewinn (Preissenkung), sondern sind auch andere Verbesserungen (zB Qualitätsverbesserungen).

104 Die negativen Voraussetzungen zur Freistellung sind:

– –

dass die Beschränkungen unerlässlich sein müssen, um die positiven Voraussetzungen erreichen zu können und dass den Unternehmen keine Möglichkeiten eröffnet werden, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten.

bb) Die Gruppenfreistellungsverordnungen 105 Um die Generalklausel des Art 101 III AEUV zu konkretisieren, hat der Rat der Kommission mit der VO 19/65245 Richtlinien und Verfahrensbestimmungen gegeben, um bestimmte vertikale Bindungen freizustellen. Die VO 2821/71246 des Rates gibt der Kommission Richtlinien und Verfahrensbestimmungen für die Freistellung bestimmter horizontaler Bindungen.

_____ 244 ABl 2003 L 1/1. 245 ABl 1965 Nr 36/533. 246 ABl 1971 L 285/46. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

II. EU-Kartellrecht und Missbrauchsaufsicht | 1153

Auf der Grundlage dieser Verordnungen des Rates kann die Kommission Gruppenfreistellungsverordnungen(GVOen) erlassen, die bestimmte Vertragstypen freistellen. Nach der alten Kartellverfahrensverordnung VO 17/62247 mussten die Unternehmen ihre Vereinbarungen, zB Vertriebsverträge, bei der Kommission anmelden. Die Verträge durften erst praktiziert werden, nachdem die Kommission sie freigestellt hatte, sonst unterfielen sie dem Verbot des Art 101 I AEUV.248 Die Vielzahl dieser Notifizierungen hatte zur Folge, dass die Kommission einen Großteil ihrer Ressourcen für die Prüfung dieser Vereinbarungen einsetzen musste. Die ersten GVOen bezogen sich auf sehr konkrete Vertragstypen wie beispielsweise Bierlieferungs- und Tankstellenverträge und galten auch jeweils nur für einen bestimmten Zeitraum. Weil die Kommission immer aufgrund von Anmeldungen tätig wurde, wurde die Materie der GVOen immer unübersichtlicher.249 Durch die VO 1/2003 ist das System der Notifizierung durch das System der Legalausnahme250abgelöst worden.251 Die Kommission erlässt weiterhin GVOen, deren Anwendung durch Leitlinien erleichtert werden soll, aber die Unternehmen müssen selbst prüfen, ob ihre Vereinbarungen unter eine der GVOen zu subsumieren sind. Sollte eine Vereinbarung unter keine der bestehenden GVOen fallen, können die Unternehmen sich auch auf die Generalklausel des Art 101 III AEUV berufen.252 Daraus folgt, dass neben dem Verbot des Absatz 1 auch immer die Freistellungsvoraussetzungen des Absatzes 3 geprüft werden müssen, weil die Pflicht zur Anmeldung der Vereinbarung durch die VO 1/2003 entfallen ist. Von der Prüfungsreihenfolge her ist zunächst zu klären, ob eine der GVOen einschlägig ist. Sollte dies nicht der Fall sein, ist eine Einzelfallprüfung anhand des Art 101 III AEUV vorzunehmen. Grundsätzlich ist dabei zwischen GVOen für vertikale und horizontale Vereinbarungen sowie GVOen für bestimmte Branchen253/Bereiche zu unterscheiden. Alle GVOen haben gemeinsam, dass ihre Geltungsdauer auf einen bestimmten Zeitraum begrenzt ist. Dies soll es ermöglichen, regelmäßig zu überprüfen, inwieweit die GVOen sich bewährt haben oder aufgrund aktueller Entwicklungen modifiziert werden müssen. Bei der ersten Überarbeitung der sog Vertikal-GVO war zB die Beurteilung der Beschränkungen des Online-Handels insbesondere über Auktionsplatt-

_____ 247 ABl 1962 Nr 13/204. 248 Ex-Art 81 I EGV. 249 Emmerich/Lange S 79. 250 Kritisch dazu Pace EuZW 2004, 301 ff; Sondergutachten der Monopolkommission, Folgeprobleme der europäischen Kartellverfahrensreform, 2001, S 5 f; Heutz WuW 2004, 1255 ff. 251 Vgl Erwägungsgrund 4 VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. 252 Dazu Schumacher WuW 2005, 1222 ff. 253 In einigen Sektoren gibt es zudem jeweils besondere europäische Regulierungsrahmen, ua: Agrarwirtschaft, Verkehr und Telekommunikation. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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1154 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

formen ein großer Diskussionspunkt.254 Diese Diskussion wurde durch die Aussagen des Gerichtshofs in der Rechtssache Coty neu entfacht (siehe Rn 113).255 Für den Online-Handel spielt zudem in Ergänzung der Wettbewerbsregeln die sog „Geoblocking“-Verordnung,256 die seit dem 3. Dezember 2018 in Kraft ist, eine wichtige Rolle. Derzeit gelten folgende GVOen: 110 – für horizontale Vereinbarungen: – VO 1218/2010 (Spezialisierungsvereinbarungen),257 – VO 1217/2010 (Vereinbarungen über Forschung und Entwicklung),258 – für vertikale Vereinbarungen: – VO 330/2010 (sog Vertikal-GVO),259 – VO 461/2010 (Kfz-GVO, vertikal)260 – für einzelne Bereiche: – VO 316/2014 (Technologietransfervereinbarungen).261 111 Die Gruppenfreistellungsverordnungen sind alle ähnlich aufgebaut:

– – –





Definition des Anwendungsbereichs (Begriffsbestimmungen, Geltungsbereich). Freistellungsvoraussetzungen, Marktanteilsschwellen („safe harbour“). Aufzählung der sog Kernbeschränkungen. Zu den Kernbeschränkungen gehören die Festsetzung von Mindest- oder Festpreisen und ein absoluter Gebietsschutz. Enthält ein Vertrag eine Klausel der „schwarzen Liste“ dann ist dem gesamten Vertrag die Freistellung entzogen. Teilweise werden in dem darauf folgenden Artikel weitere Bestimmungen genannt, die nicht von der Freistellung gedeckt sind, wie zB Wettbewerbsverbote. Im Unterschied zu den Kernbeschränkungen sind nur diese Vertragsteile nicht von der Freistellung gedeckt, weshalb der übrige Vertrag gültig bleibt. Berechnung der Marktanteile und der Umsätze.

112 In der Praxis ist die Vertikal-GVO die relevanteste der GVOen, da sie alle Formen

von Vertriebsverträgen umfasst. Bei Vertikalvereinbarungen wird davon ausgegangen, dass sie die wirtschaftliche Effizienz innerhalb einer Produktions- oder Ver-

_____ 254 Diese Diskussion ist noch keineswegs beendet. Dazu Schweda/Rudowicz WRP 2013, 590 ff. 255 EuGH, Rs C-230/16 – Coty Germany GmbH / Parfümerie Akzente GmbH. 256 VO (EU) 2018/302 über Maßnahmen gegen ungerechtfertigtes Geoblocking und andere Formen der Diskriminierung der Staatsangehörigkeit, des Wohnsitzes oder des Ortes der Niederlassung des Kunden innerhalb des Binnenmarktes und zur Änderung der VO (EG) Nr. 2006/2004 und (EU) 2017/2394 sowie der RL 2009/22/EG, ABl 2018 L 60 I/1. 257 ABl 2010 L 335/43. 258 ABl 2010 L 335/36. 259 ABl 2010 L 102/1. 260 ABl 2010 L 129/52; dazu Böni WuW 2013, 479 ff. 261 ABl 2014 L 93/17. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

II. EU-Kartellrecht und Missbrauchsaufsicht | 1155

triebskette erhöhen können, weil sie Transaktions- und Distributionskosten der Beteiligten verringern und deren Umsätze und Investitionen optimieren können.262 Der Vertikal-GVO liegt die Annahme zugrunde, dass die Marktmacht der an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen dafür entscheidend ist, ob die effizienzsteigernden Auswirkungen stärker ins Gewicht fallen als etwaige wettbewerbsschädliche Wirkungen der Vereinbarungen.263 Dabei statuiert die Vertikal-GVO einen sog „safe harbour“ bei einem Marktanteil der an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen (Anbieter und Abnehmer) von 30% am relevanten Markt.264 Das bedeutet, dass die Freistellungsvoraussetzungen des Art 101 III AEUV als erfüllt angesehen werden. Allerdings nur, wenn die Vereinbarungen keine schwerwiegenden Wettbewerbsbeschränkungen enthalten.265 Liegen die Markanteile der beteiligten Unternehmen über der 30%-Schwelle, bedeutet dies, dass die Vertikal-GVO nicht anwendbar ist und eine Einzelfallprüfung nach Art 101 III AEUV vorzunehmen ist. Insbesondere bei Markenprodukten spielen selektive Vertriebssysteme eine 113 große Rolle. Sind selektive Vertriebssysteme zur Wahrung der Qualität und zur Gewährleistung des richtigen Gebrauchs der Ware erforderlich,266 liegt bereits keine Wettbewerbsbeschränkung im Sinne des Art 101 I AEUV vor, soweit die Aufnahme in das Vertriebssystem nach objektiven Kriterien diskriminierungsfrei erfolgt. Im Fall Pierre Fabre267 stufte der Gerichtshof den Schutz des Prestigecharakters von Kosmetika und Körperpflegeprodukten nicht als legitimes Ziel ein, um die Qualität und den richtigen Gebrauch der Ware zu gewährleisten, weil die Eigenschaften der Produkte den ausschließlichen Vertrieb in Apotheken und den Ausschluss des Internetvertriebs nicht objektiv rechtfertigen.268 Dabei sei der individuelle und konkrete Inhalt und das Ziel der Vertragsklauseln sowie der rechtliche und wirtschaftliche Zusammenhang zu prüfen. Der Gerichtshof sah hier eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung, weshalb im nächsten Schritt die Freistellungsvoraussetzungen des Art 101 III AEUV269 zu prüfen waren und dabei zuerst, ob die Voraussetzungen der

_____ 262 Erwägungsgrund 6 Vertikal-GVO, ABl 2010 L 102/1. 263 Erwägungsgrund 7 Vertikal-GVO, ABl 2010 L 102/1. 264 Erwägungsgrund 8 Vertikal-GVO, ABl 2010 L 102/1. 265 Erwägungsgrund 8 Vertikal-GVO, ABl 2010 L 102/1. 266 Vgl Rn 81. 267 EuGH, Rs C-439/09 – Pierre Fabre. 268 Der Hersteller verlangte in den Vertriebsverträgen, dass der Verkauf seiner Produkte ausschließlich in einem physischen Raum und in Anwesenheit eines diplomierten Pharmazeuten zu erfolgen habe. Dies führte zu einem faktischen Verbot des Verkaufs der Produkte im Internet. Das Unternehmen Pierre Fabre Dermo-Cosmétique trug vor, dass diese Beschränkung notwendig sei, um den Prestigecharakter seiner Produkte zu schützen. 269 Ob eine Freistellung nach der Generalklausel des Art 101 III AEUV in dem Fall möglich war, ließ der Gerichtshof offen, da es sich um ein Vorlageverfahren handelte, bei welchem der Gerichtshof lediglich Stellung zu den Vorlagefragen nimmt. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1156 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

Vertikal-GVO erfüllt waren. Nach Art 4 lit c Vertikal-GVO stellen Beschränkungen des aktiven oder passiven Verkaufs an Endverbraucher im Rahmen eines selektiven Vertriebssystems Kernbeschränkungen dar, welche den Entzug der Freistellung zur Folge haben. Der Gerichtshof stellte klar, dass Vertragsklauseln, die de facto den Internetvertrieb als Vertriebsform verbieten, zumindest eine Beschränkung des passiven Verkaufs an Endverbraucher bezwecken, welche über das Internet kaufen möchten und außerhalb des physischen Einzugsgebiets des betreffenden Mitglieds des selektiven Vertriebssystems ansässig sind, so dass eine Kernbeschränkung vorliege. In der Vorabentscheidung in der Rechtssache Coty270 im Jahr 2017 befasste sich der EuGH mit Plattformverboten271 von Herstellern in selektiven Vertriebssystemen. Hierbei handelt es sich nicht um den vollständigen Ausschluss des Internetvertriebs wie im Fall Pierre Fabre, sondern um Beschränkungen des Verkaufs der Vertragswaren (hier: Luxuskosmetika) über Drittplattformen wie zB Amazon.de. Der Gerichtshof entschied, dass es sich bei einem Plattformverbot weder um eine Beschränkung der Kundengruppe im Sinne von Art 4 lit b Vertikal-GVO noch um eine Beschränkung des passiven Verkaufs an Endverbraucher im Sinne von Art 4 lit c Vertikal-GVO handele. Besondere Bedeutung kommt der Rechtssache zu, weil der Gerichtshof hervorhob, dass ein selektives Vertriebssystem für Luxuswaren, welches primär der Sicherstellung des Luxusimage dieser Waren diene, mit Art 101 Abs 1 AEUV vereinbar sein könne, sofern die sogenannten „Metro-Kriterien“272 erfüllt seien. Insbesondere ordnet der Gerichtshof die Sicherstellung des Luxusimage einer Ware nun als legitimes Ziel ein. In der Literatur ist die Entscheidung auf Kritik gestoßen, weil sie zum einen als eine Abkehr von der Pierre-Fabre-Rechtsprechung gewertet wird, und der EuGH zum anderen pauschale Plattformverbote als gerechtfertigt ansieht, obwohl es als milderes Mittel möglich sei, Qualitätsanforderungen an Drittplattformen zu definieren.273 Auch der Begriff „Luxusartikel“ wirft neue Abgrenzungsprobleme auf.274 Der Trend geht zu einer einheitlichen Vertikal-GVO und zur Verringerung 114 der Ausnahmen für einzelne Sektoren, weshalb die GVO für den Versicherungssek-

_____ 270 Rs C-230/16 – Coty Germany GmbH / Parfümerie Akzente GmbH. 271 Eine Vertragsklausel, die es den autorisierten Händlern eines selektiven Vertriebssystems – in diesem Fall für Luxuswaren – verbietet, beim Verkauf der Vertragswaren im Internet nach außen erkennbar Drittplattformen einzuschalten. 272 EuGH, Rs 26/76 – Metro / Kommission, Rn 27. Die Auswahl der Wiederverkäufer muss anhand objektiver Gesichtspunkte erfolgen, die einheitlich für alle Wiederverkäufer festgelegt und ohne Diskriminierung angewendet werden, und die festgelegten Kriterien dürfen nicht über das erforderliche Maß hinausgehen. 273 Schröder WRP 2018, 272 ff; Brömmelmeyer, NZKart 2018, 62 ff. 274 Brömmelmeyer NZKart 2018, 62, 63 f. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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tor,275 die im Jahr 2017 ausgelaufen ist, nicht erneuert wurde. Grundsätzlich ist zunächst die Vertikal-GVO zu prüfen und die Branchen-GVO dann ergänzend heranzuziehen. Die Kommission und die Mitgliedstaaten haben die Möglichkeit, den Rechts- 115 vorteil einer Gruppenfreistellungsverordnung zu entziehen, wenn sie feststellen, dass eine Vereinbarung, ein Beschluss oder eine abgestimmte Verhaltensweise, für welche die Gruppenfreistellungsverordnung gilt, Wirkungen hat, die mit Art 101 III AEUV unvereinbar sind.276

2. Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung Art 102 AEUV bestimmt, dass es mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten 116 ist, eine beherrschende Stellung auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil desselben durch ein oder mehrere Unternehmen277 missbräuchlich auszunutzen, soweit dies dazu führen kann, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Art 101 und Art 102 AEUV können nebeneinander angewendet werden.278

a) Normadressaten Adressaten der Missbrauchsaufsicht sind Unternehmen279 (siehe Kapitel I.4. Der 117 Unternehmensbegriff).

b) Die beherrschende Stellung Im europäischen Wettbewerbsrecht wird von einem ergebnisoffenen Wettbewerb 118 ausgegangen und auf eine Definition des Begriffs Wettbewerb verzichtet. Dementsprechend wird auch kein Marktdesign betrieben, mit dem Ziel eine bestimmte Marktform zu erreichen. Dadurch können Unternehmen durch internes Wachstum auf Märkten auch starke Stellungen bis hin zur Marktbeherrschung erlangen, wie zB durch Produktinnovationen, für die ein Patentschutz gewährt wird. Allerdings müssen solche marktbeherrschenden Unternehmen im Rahmen der Missbrauchsaufsicht des Art 102 AEUV einen strengeren Maßstab an ihr Verhalten im Markt anlegen lassen als andere Unternehmen.

_____ 275 VO 267/2010, ABl 2010 L 83/1. 276 Art 29 VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. 277 Art 102 AEUV erfasst auch die marktbeherrschende Stellung eines Oligopols mit fehlendem Wettbewerb im Innenverhältnis. Zu den Voraussetzungen eines solchen Oligopols Kapitel III.3.a. Der SIEC-Test, Rn 193 ff. 278 Emmerich/Lange S 88; Langen/Bunte/Bulst Art 102 AEUV Rn 4. 279 Siehe Kapitel I.4. Der Unternehmensbegriff, Rn 49 ff. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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In der Rechtsprechung des Gerichtshofs wird eine beherrschende Stellung auf dem Binnenmarkt angenommen, wenn ein oder mehrere280 Unternehmen in der Lage sind, einen wirksamen Wettbewerb auf dem relevanten Markt zu verhindern.281 Die marktbeherrschende Stellung impliziert einen unkontrollierten Verhaltensspielraum, welcher es dem Unternehmen ermöglicht, sich gegenüber seinen Wettbewerbern, seinen Abnehmern und den Verbrauchern in einem nennenswerten Umfang unabhängig zu verhalten.282 Dabei ist es für die Anwendung der Missbrauchsaufsicht des Art 102 AEUV irrelevant, ob die marktbeherrschende Stellung des Unternehmens aufgrund seiner Leistungen am Markt erlangt wurde oder ob die Stellung daraus resultiert, dass das Unternehmen beispielsweise mit bestimmten Monopolrechten ausgestattet wurde. Ein Unternehmen kann keine beherrschende Stellung an sich haben, son120 dern eine beherrschende Stellung kann nur in Verbindung mit einem bestimmten Produkt oder einer bestimmten Dienstleistung für ein bestimmtes Gebiet bestehen. Aus diesem Grund muss zunächst der relevante Markt bestimmt werden, welcher den Ausgangspunkt für die Feststellung der beherrschenden Stellung bildet. Die Bestimmung des relevanten Marktes führt in der Praxis der Kommission tendenziell zu einer engen Marktabgrenzung.283 Die Kommission schließt in der Regel dann auf eine beherrschende Stellung, 121 wenn ein Unternehmen oder eine Unternehmensgruppe einen großen Teil des Angebots auf einem gegebenen Markt auf sich vereint, sofern andere für die Bewertung maßgebliche Faktoren in dieselbe Richtung deuten.284 Zu diesen anderen Faktoren gehören zB Marktzutrittsschranken, die Reaktionsfähigkeit der Kunden usw.285 Als erstes Indiz für die Marktbeherrschung werden die Marktanteile des be122 treffenden Unternehmens auf dem Markt ermittelt. Marktanteile von unter 25% begründen in der Regel keine marktbeherrschende Stellung.286 Liegen die Marktanteile eines Unternehmens zwischen 25 und 40%, müssen noch zusätzliche Faktoren hinzukommen, damit eine marktbeherrschende Stellung bejaht wird.287 Dies kann sich zB darin ausdrücken, dass der Marktanteilsabstand zu den Wettbewerbern sehr 119

_____ 280 Dies kann durch die kollektive Marktbeherrschung eines marktbeherrschenden Oligopols der Fall sein. 281 EuGH, Rs 78/70 – Deutsche Grammophon / Metro. 282 Ständige Rechtsprechung seit EuGH, Rs 85/76 – Hoffmann-La Roche / Kommission; KOM, Bekanntmachung Definition des relevanten Marktes, ABl 1997 C 372/5, Rn 10. 283 Dazu ausführlich Kapitel I.5., Rn 57 ff. 284 KOM, Bekanntmachung Definition des relevanten Marktes, ABl 1997 C 372/5, Rn 10. 285 Ebd. 286 Emmerich/Lange S 93; EuGH, Rs 75/84 – Metro I u II / Kommission. 287 KOM, 9. Bericht über die Wettbewerbspolitik (im Zusammenhang mit dem „13. Gesamtbericht über die Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaften“, 1980), Rn 22; vgl Emmerich/Lange S 93; Langen/Bunte/Bulst Art 102 AEUV Rn 75. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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groß ist und diese lediglich über geringe Marktanteile verfügen. Auch die vertikale Integration über die gesamte Wertschöpfungskette kann dazu führen, dass – wie im Fall Chiquita – eine marktbeherrschende Stellung angenommen wird.288 Liegen Marktanteile von deutlich über 40% vor, wird vor allem im Zusammenspiel mit weiteren Faktoren zumeist eine marktbeherrschende Stellung angenommen. 289 Das dauerhafte Innehaben eines besonders hohen Marktanteils (von über 50%) wird vom Gerichtshof – von außergewöhnlichen Umständen abgesehen – als Beweis für das Vorliegen einer marktbeherrschenden Stellung angesehen.290 Unternehmen in Monopol- oder Quasimonopolstellung erfüllen regelmäßig 123 den Begriff der marktbeherrschenden Stellung.291 Auch durch das Eigentum gewerblicher Schutzrechte können Monopolstellungen entstehen, wenn diese jeweils eigene relevante Märkte darstellen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann ein Unternehmen, das für einen wesentlichen Teil des Binnenmarktes mit einem gesetzlichen Monopol ausgestattet ist, als Inhaber einer beherrschenden Stellung im Sinne von Art 102 AEUV angesehen werden.292 Da Marktanteile lediglich ein Indiz für das Bestehen einer marktbeherrschen- 124 den Stellung sind, wird zusätzlich eine Marktstrukturanalyse durchgeführt, in welcher die Wettbewerbssituation auf dem jeweiligen Markt und die dort wirkenden Wettbewerbskräfte ermittelt werden. Untersucht werden ua: Markteintrittskosten; rechtliche und behördliche Eintrittsschranken (wie Zulassungen, Genehmigungen, Normen); Beschränkungen durch Patente, Lizenzen oder Know-how; Größenvorteile bei der Herstellung der Erzeugnisse; Zugang zu Lieferquellen (zB zu Rohstofflieferanten); Zugang zu den Abnehmern (zB vorhandene exklusive Vertriebsnetze); Qualitäts- und Imagevorsprung der Unternehmen; Verbindungen mit benachbarten Märkten; Dauer der Marktstellung und die Marktphase (Wachstum, Stagnation, etc).293Bei mehrseitigen Märkten, wie zB Internetplattformen, sind die direkten und indirekten Netzwerkeffekte zu berücksichtigen.294 Faktoren, die gegen eine marktbeherrschende Stellung sprechen, sind Wettbewerbsdruck durch Wettbewerber, durch potentiellen Wettbewerb sowie durch Nachfragemacht der Abnehmer.295

_____ 288 KOM, Chiquita, ABl 1976 L 95/1. 289 EuGH, Rs 322/81 – Michelin / Kommission; vgl Emmerich/Lange S 93. 290 ZB EuGH, Rs 27/76 – United Brands / Kommission; Rs C-475/10 P – AstraZeneca / Kommission, Rn 176; vgl Emmerich/Lange S 93. 291 EuGH, Rs 155/73 – Sacchi; Rs 22/78 – Hugin; Rs C-41/90 – Höfner und Elser / Macrotron. 292 EuGH, Rs C-41/90 – Höfner und Elser / Macrotron, Rn 28; Rs C-260/89 – ERT, Rn 31. 293 Immenga/Mestmäcker/Fuchs/Möschel Art 102 AEUV Rn 97 ff. 294 KOM, AT.39740 – Google Search (Shopping), Rn 158 ff; Emmerich/Lange S 235 f; Whish/Bailey S 193. 295 Mitteilung der KOM zur Anwendung des Art 82 EGV bei Behinderungsmissbrauch, ABl 2009 C 45/02, Rn 12. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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Im Rahmen der Unternehmensstrukturanalyse werden die Ressourcen, über die das Unternehmen, dessen marktbeherrschende Stellung festgestellt werden soll, verfügt, untersucht. Dazu gehören zB technologischer Vorsprung, Finanzkraft, Verflechtungen mit vor-, nachgelagerten oder eng benachbarten Märkten oder die Breite des Sortiments.296 Zudem wird eine Marktverhaltensanalyse des betreffenden Unternehmens durchgeführt, um Aussagen über dessen tatsächliches Marktverhalten für den in Rede stehenden Zeitraum treffen zu können.297 In einer Gesamtschau werden die Ergebnisse dieser Analysen gewürdigt, um festzustellen, ob das in Rede stehende Unternehmen im relevanten Markt über eine beherrschende Stellung verfügt. Eine beherrschende Stellung wurde zB angenommen für: Urheberrechtliche 126 Verwertungsgesellschaften;298 IBM bei der Herstellung von Computern;299 Michelin bei der Herstellung von Reifen;300 Hoffmann-La Roche bei der Herstellung der meisten Vitamine,301 wobei jede Vitamingruppe als eigener sachlich relevanter Markt angesehen wurde; Google auf den jeweils nationalen Märkten für allgemeine Internet-Suchdienste,302 für lizenzpflichtige Betriebssysteme für intelligente Mobilgeräte sowie für Android-App-Stores.303 Die Bestimmung des relevanten Marktes kann zu sehr engen räumlichen 127 Märkten führen.304 Die Voraussetzung der Anwendung des Art 102 AEUV ist aber der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder eines wesentlichen Teils desselben. Diese Einschränkung dient neben der Zwischenstaatlichkeitsklausel des Art 102 AEUV der Abgrenzung zum nationalen Wettbewerbsrecht. Der Gerichtshof geht in seiner Rechtsprechung davon aus, dass das Gebiet jedes größeren Mitgliedstaats grundsätzlich einen wesentlichen Teil des Binnenmarktes bildet.305 Auch bedeutende Teile der großen Mitgliedstaaten werden als wesentlicher Teil des Binnenmarktes betrachtet.306 In Einzelfällen kann 125

_____ 296 Immenga/Mestmäcker/Fuchs/Möschel Art 102 AEUV Rn 102 ff. 297 Immenga/Mestmäcker/Fuchs/Möschel Art 102 AEUV Rn 108 ff. 298 EuGH, Rs 7/82 – GVL / Kommission, Rn 42 ff. 299 KOM, 14. Bericht über die Wettbewerbspolitik (im Zusammenhang mit dem „18. Gesamtbericht über die Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaften 1984“), Rn 94. 300 EuGH, Rs 322/81 – Michelin / Kommission, Rn 29 ff. 301 EuGH, Rs 85/76 – Hoffmann-La Roche / Kommission. 302 KOM, Google Search (Shopping) Zusammenfassung der Entscheidung, ABl 2018 C-9/11, Rn 4 ff. Die Annahme eines Suchmaschinenmarktes war in der Vergangenheit durchaus umstritten, da der Verbraucher für die Nutzung einer Suchmaschine kein Entgelt entrichtet. Allerdings stellt er seine Daten zur Verfügung. Im deutschen Kartellrecht wurde deshalb mit der 9. GWB-Novelle zur Klarstellung Abs 2a in § 18 GWB eingefügt. 303 KOM, Pressemitteilung Google Android vom 18.7.2018, IP/18/4581. 304 Emmerich/Lange S 91. 305 EuGH, Rs 127/73 – BRT / SABAM u Fonior („BRT II“). 306 EuGH, verb Rs 40–48, 50, 54–56, 111, 113 u 114/73 – Suiker Unie ua / Kommission. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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auch ein bedeutender Flug- oder Seehafen einen wesentlichen Teil des Binnenmarktes ausmachen, wenn über diese Plattform ein erhebliches Handelsvolumen abgewickelt wird.307 Bei der Beurteilung der Gemeinschafts-/Unionsrelevanz werden die Struktur des betreffenden Marktes sowie die Größe und der Umfang der Produktion und des Verbrauchs auf diesem Markt betrachtet.308 Sind die nationalen Märkte noch getrennt, können sogar Anteile von unter 10% auf diesem Markt für die Annahme eines wesentlichen Teils des Binnenmarktes genügen.309

c) Missbräuchliche Ausnutzung Die Monopolstellung oder marktbeherrschende Stellung an sich ist nicht verbo- 128 ten, sondern nur ihre missbräuchliche Ausnutzung. Der Gerichtshof definiert die missbräuchliche Ausnutzung als Verhaltensweise eines Unternehmens in marktbeherrschender Stellung, durch die die Struktur eines Marktes beeinflusst werden kann, auf dem der Wettbewerb gerade wegen der Anwesenheit des fraglichen Unternehmens bereits geschwächt ist, und welche die Aufrechterhaltung des auf dem Markt noch bestehenden Wettbewerbs oder dessen Entwicklung durch die Verwendung von Mitteln behindert, die von den Mitteln eines normalen Produkt- oder Dienstleistungswettbewerbs auf der Grundlage der Leistungen der Marktbürger abweichen.310 Weiterhin stellt es für den Gerichtshof eine missbräuchliche Ausnutzung dar, wenn es die Maßnahmen des beherrschenden Unternehmens dem Abnehmer unmöglich machen oder erschweren, zwischen mehreren Bezugsquellen zu wählen und anderen Herstellern der Zugang zum Markt verwehrt wird.311 Nach der Rechtsprechung des EuGH verbietet Art 102 AEUV einem Unternehmen in beherrschender Stellung insbesondere die Anwendung von Praktiken, die für seine als ebenso effizient geltenden Wettbewerber eine Verdrängungswirkung entfalten und damit seine Stellung stärken, indem andere Mittel als diejenigen eines Leistungswettbewerbs herangezogen werden. 312 Art 102 AEUV setzt keine Identität zwischen dem beherrschten und dem vom Missbrauch betroffenen Markt voraus.313 Der Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung314 klargestellt, dass das Missbrauchsverbot sowohl auf Praktiken abzielt, durch welche die Verbraucher unmittelbar geschädigt werden, als

_____ 307 EuGH, Rs C-179/90 – Merci Convenzionali Porto di Genova, Rn 15; Rs C 18/93 – Corsica Ferries; Rs 266/96 – Corsica Ferries France, Rn 38. 308 EuGH, verb Rs 40–48, 50, 54–56, 111, 113 u 114/73 – Suiker Unie ua / Kommission. 309 Emmerich/Lange S 91. 310 EuGH, Rs 85/76 – Hoffmann-La Roche / Kommission. 311 EuGH, Rs 85/76 – Hoffmann-La Roche / Kommission. 312 EuGH, C-413/14 P – Intel, Rn 136; Rs C-209/10 – Post Danmark, Rn 25. 313 Emmerich/Lange S 97 f. 314 EuGH, Rs 6/72 – Continental Can; Rs 6 und 7/73 – Commercial Solvents; Rs 85/76 – HoffmannLa Roche / Kommission. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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auch auf Verhaltensweisen, welche sie mittelbar dadurch benachteiligen, dass sie einen Zustand wirksamen Wettbewerbs beeinträchtigen. Die missbräuchlichen Verhaltensweisen können in den Ausbeutungsmissbrauch, den Behinderungsmissbrauch und den Marktstrukturmissbrauch eingeteilt werden.315 Auch in der Missbrauchskontrolle wird die stärker ökonomisch geprägte Ausrichtung der Kommission deutlich, insbesondere im Diskussionspapier zur Anwendung von Art 82 EGV (jetzt: Art 102 AEUV) auf Behinderungsmissbräuche, welches die Kommission Ende 2005 veröffentlichte.316 Im Jahr 2009 folgte die Mitteilung der Kommission zur Anwendung von Art 82 EGV (jetzt: Art 102 AEUV) auf Fälle von Behinderungsmissbrauch.317 Zwar gibt es im Rahmen des Art 102 AEUV keine Freistellungsmöglichkeit analog zu Art 101 III AEUV, gleichwohl sollen Effizienzen der marktbeherrschenden Unternehmen bei der Beurteilung des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung berücksichtigt werden und von den Unternehmen vorgetragen werden können. Bisher wurde der Effizienzeinwand allerdings noch in keinem Fall von der Kommission als ausreichende Rechtfertigung anerkannt.318 In Art 102 II lit a) bis lit d) AEUV werden Beispiele für den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung aufgezählt (Rn 131 ff). Zunächst nennt Art 102 II in lit a) als missbräuchlich die unmittelbare oder mittelbare Erzwingung von unangemessenen Einkaufs- oder Verkaufspreisen oder sonstigen Geschäftsbedingungen.319 Durch Art 102 II lit a) AEUV werden Ausbeutungspraktiken gegenüber Abnehmern und Zulieferern erfasst.320 Für den Begriff der „Erzwingung“ reicht aus, dass das marktbeherrschende Unternehmen seine Marktmacht einsetzt. Dies wird bereits bejaht, wenn der Vertragspartner des marktbeherrschenden Unternehmens keine Alternativen zu dessen Vertragsangebot hat und die geforderten Preise unangemessen sind.321 Missbräuchlich ist ein Preis, der in keinem angemessenen Verhältnis zu dem wirtschaftlichen Wert der erbrachten Leistung steht, wofür der Nachweis erbracht werden muss.322 Im Rahmen der Preishöhenaufsicht existieren verschiedene Konzepte, um einen Preishöhenmissbrauch nachzuweisen. Dazu gehören das sachliche, räumliche und zeitliche Vergleichsmarktkonzept, der Vergleich von Preisen und Kosten sowie

_____ 315 Emmerich/Lange S 95. 316 Wirtz/Möller WuW 2006, 226. Kritisch dazu Schmidt/Voigt WuW 2006, 1097 ff; Dreher WuW 2008, 23 ff. 317 Mitteilung der KOM zur Anwendung des Art 82 EGV bei Behinderungsmissbrauch, ABl 2009 C 45/7. 318 Whish/Bailey S 218. 319 Vgl das von ICI und Solvay praktizierte Rabatt-System, KOM, Soda-Solvay, ABl 1991 L 152/21 (33, Rn 50 ff); KOM, Soda-ICI, ABl 1991 L 152/40 (50, Rn 53 ff). 320 Emmerich/Lange S 98. 321 Emmerich/Lange S 98. 322 Emmerich/Lange S 99. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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das Konzept der Gewinnspannenbegrenzung.323 Beim Vergleichsmarktkonzept kann entweder auf Preise, die das Unternehmen in beherrschender Stellung auf anderen Märkten fordert, oder auf die Preise anderer Unternehmen (auf dem gleichen oder anderen Märkten) rekurriert werden.324 Auch ein Vergleich mit Preisen bezogen auf andere Zeiträume ist möglich. Die Schwierigkeit besteht darin, dass Märkte und Unternehmen gefunden werden müssen, die hinsichtlich ihrer Strukturen vergleichbar sind. Diese Unschärfen machen es notwendig, mit Zu- oder Abschlägen bei der Anwendung des Vergleichsmarktkonzepts zu arbeiten. Beim Vergleich von Preisen und Kosten sowie beim Konzept der Gewinnspannenbegrenzung325 ergibt sich in der Praxis das Problem, dass noch direkter in die Preissetzungsfreiheit eingegriffen wird, indem bestimmt wird, wie hoch der Gewinn eines Unternehmens sein darf.326 Unter „sonstigen Geschäftsbedingungen“ sind alle Vereinbarungen zwischen 133 den Vertragsparteien zu verstehen, die den wirtschaftlichen Wert der Geschäftsbeziehungen beeinflussen, zB Zahlungs- und Lieferbedingungen, Haftungsvorschriften, Gewährleistungsregeln und Verwendungsbeschränkungen, Preisbindungsklauseln und Laufzeitverlängerungsklauseln.327 Des Weiteren bezeichnet Art 102 II AEUV in lit b) als missbräuchlich die Ein- 134 schränkung der Erzeugung, des Absatzes oder der technischen Entwicklung zum Schaden der Verbraucher.328 Missbräuchlich eingesetzte Ausschließlichkeitsbindungen fallen unter das Regelbeispiel des Art 102 II lit b) AEUV. In der Rechtssache Intel329 aus dem Jahr 2017 wiederholte der Gerichtshof, dass ein marktbeherrschendes Unternehmen, seine Stellung missbräuchlich ausnutze, wenn es Abnehmer, sei es auch auf deren Wunsch, durch die Verpflichtung oder Zusage, ihren gesamten Bedarf oder einen beträchtlichen Teil desselben ausschließlich bei ihm zu beziehen, an sich binde. Dabei käme es nicht darauf an, ob die Verpflichtung ohne Weiteres oder gegen Gewährung eines Rabatts eingegangen worden sei. Das Gleiche gelte, wenn ein solches Unternehmen, ohne die Abnehmer durch eine förm-

_____ 323 Langen/Bunte/Bulst Art 102 AEUV Rn 171 ff. 324 Langen/Bunte/Bulst Art 102 AEUV Rn 171 f. 325 EuGH, Rs 27/76 – United Brands: Im Fall United Brands wendete die Kommission das Gewinnspannenkonzept an, um einen Preishöhenmissbrauch durch das vertikal integrierte United Brands in mehreren Mitgliedstaaten nachzuweisen. Der Preishöhenmissbrauch wurde in diesem Fall vom Gerichtshof nicht bestätigt, weil die Kommission nicht die Kostenstruktur des Unternehmens analysiert habe, um das Missverhältnis zwischen den Kosten und dem Preis zu beweisen, sondern nur auf die Preisunterschiede in den Mitgliedstaaten abgestellt habe. 326 Langen/Bunte/Bulst Art 102 AEUV Rn 163. 327 Langen/Bunte/Bulst Art 102 AEUV Rn 160. 328 Der Begriff „Verbraucher“ wird in dieser Vorschrift weit ausgelegt und erfasst nicht nur Endverbraucher, sondern auch sämtliche unmittelbaren oder mittelbaren Abnehmer der betreffenden Waren oder Dienstleistungen einschließlich gewerblicher Nutzer, Weiterverarbeiter und Wiederverkäufer. 329 EuGH, Rs C-413/14P – Intel, Rn 137; Rs 85/76 – Hoffmann-La Roche, Rn 89. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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liche Verpflichtung zu binden, kraft Vereinbarung mit ihnen oder aber einseitig ein System von Treuerabatten anwende, also Nachlässe, die daran gebunden seien, dass der Abnehmer, unabhängig im Übrigen vom Umfang seiner Käufe, seinen Gesamtbedarf oder einen wesentlichen Teil hiervon ausschließlich bei dem Unternehmen in beherrschender Stellung decke. In der Intel-Entscheidung konkretisiert der Gerichtshof seine Rechtsprechung aber dahingehend, dass die Kommission verpflichtet sei, zu prüfen, wenn das betroffene Unternehmen gestützt auf Beweise geltend mache, dass sein Verhalten nicht geeignet gewesen sei, den Wettbewerb zu beschränken und insb die beanstandeten Verdrängungswirkungen zu erzeugen.330 Zudem stellt der Gerichtshof nochmals klar, dass die Kommission Effizienzvorteile eines Rabattsystems (die auch dem Verbraucher zugutekommen), welche die für den Wettbewerb nachteilige Verdrängungswirkung ausgleichen oder übertreffen, in ihrer Abwägung zu berücksichtigen habe.331 Im Fall Google Android332 hat die Kommission die Praxis von Google, einigen der größten Herstellern von Mobilgeräten sowie Betreibern von Mobilfunknetzen erhebliche finanzielle Anreize dafür zu gewähren, dass sie auf allen Android-Geräten ihres Sortiments ausschließlich die Google-Suche vorinstallieren, als missbräuchlich angesehen. Zudem hat die Kommission die Behinderung der Entwicklung und des Vertriebs konkurrierender Android-Betriebssysteme als missbräuchlich gewertet.333Die Kommission hat für diese Praktiken sowie für die missbräuchlichen Koppelungen (siehe Rn 140) im Jahr 2018 ein Bußgeld in Höhe von insgesamt 4,34 Mrd Euro verhängt. Lieferverweigerungen durch Monopolisten zum Zweck der Wettbewerbsaus135 schaltung werden ebenfalls unter Art 102 II lit b) AEUV subsumiert.334 Ein Missbrauch im Sinne des Art 102 II lit b) AEUV liegt auch vor, wenn der Inhaber eines ausschließlichen Rechts nicht in der Lage ist, die Nachfrage auf dem Markt nach

_____ 330 EuGH, Rs C-413/14P – Intel, Rn 138 f. In diesem Fall sei die Kommission nicht nur verpflichtet, das Ausmaß der beherrschenden Stellung des Unternehmens auf dem maßgeblichen Markt und den Umfang der Markterfassung durch die beanstandete Praxis sowie die Bedingungen und Modalitäten der in Rede stehenden Rabattgewährung, die Dauer und die Höhe dieser Rabatte zu prüfen, sondern sie sei außerdem verpflichtet, das Vorliegen einer eventuellen Strategie zur Verdrängung der mindestens ebenso leistungsfähigen Wettbewerber zu prüfen (vgl entsprechend EuGH, RsC-209/10 – Post Danmark Rn 29). 331 EuGH, Rs C-413/14P – Intel, Rn 140; Rs C-95/04 P – British Airways, Rn 86. 332 KOM, Pressemitteilung Google Android vom 18.7.2018, IP/18/4581. Google hat gegen diese Entscheidung geklagt. 333 Um geschützte Google-Anwendungen wie den Play Store oder die Google-Suche auf ihren Geräten vorinstallieren zu können, mussten Hersteller sich dazu verpflichten, nicht ein einziges mit einer alternativen Android-Version (sog Android-Fork) betriebenes Gerät zu entwickeln oder zu verkaufen. Ua hat die Kommission Nachweise dafür gefunden, dass das Verhalten von Google eine Reihe von großen Herstellern davon abhielt, Geräte, die mit dem Android-Fork „Fire OS“ von Amazon betrieben wurden, zu entwickeln und zu verkaufen. 334 EuGH, Rs 24/78 – Hugin / Kommission, Rn 11. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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bestimmten Leistungen zu befriedigen und gleichzeitig Wettbewerber, die diese spezielle Nachfrage bedienen könnten, vom Markt fernhält.335 In diese Richtung geht auch die Fallgruppe Geschäftsverweigerung in der Aus- 136 prägung der Essential-Facilities-Doktrin.336 Diese umfasst die Situation, dass das marktbeherrschende Unternehmen Inhaber von Netzen oder anderen Infrastruktureinrichtungen ist, zu welchen andere Unternehmen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen den Zugang benötigen, um auf dem vor- oder nachgelagerten Markt tätig werden zu können. Das marktbeherrschende Unternehmen muss gegen angemessenes Entgelt337 den Zugang gewähren, es sei denn, dass es nachweisen kann, dass die Mitbenutzung aus betriebsbedingten oder sonstigen Gründen nicht möglich oder zumutbar ist.338 Typische Fälle des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung durch Zugangsverweigerung sind Netzmonopole, wie sie bei Energieversorgungs-, Telekommunikations- und Eisenbahnunternehmen bestehen.339 Die erste Voraussetzung ist eine mangelnde Duplizierbarkeit der wesentlichen Einrichtung, dh, dass es den Wettbewerbern des marktbeherrschenden Unternehmens nicht möglich sein darf, eine vergleichbare Einrichtung selbst zu errichten.340 Außerdem muss die Gewährung des Zugangs zu der betreffenden Einrichtung objektiv notwendig sein, um einen Wettbewerb auf den vor- oder nachgelagerten Märkten zu ermöglichen. Ziel ist es, dem Wettbewerber die Tätigkeit auf einem anderen Markt als den des marktbeherrschenden Unternehmens zu ermöglichen. Die Essential-FacilitiesDoktrin bewegt sich in dem Spannungsfeld zwischen der Möglichkeit, einerseits den aktuellen Wettbewerb zu fördern, aber andererseits den Anreiz, langfristig konkurrierende Infrastrukturen aufzubauen, zu vermindern. 341 Deswegen kommt dem Merkmal der „mangelnden Duplizierbarkeit“ besondere Bedeutung zu und dieses hängt auch vom Zeithorizont ab, der für die Betrachtung herangezogen wird. Zur Fallgruppe der Geschäftsverweigerung kann auch der Missbrauch gewerb- 137 licher Schutzrechte gezählt werden. Gewerbliche Schutzrechte werden durch das

_____ 335 EuGH, Rs C-320/91 – Paul Corbeau, Rn 19; EuGH, Rs C-41/90 – Höfner und Elser / Macrotron, Rn 30. 336 Die Essential-Facilities-Doktrin entstammt dem US-amerikanischen Antitrustrecht; vgl Oechsler ZHR 2000, 480; Markert FS Ernst-Joachim Mestmäcker, 1996, S 665 ff; Montag EuZW 1997, 75; Mestmäcker/Schweitzer Kap 4 § 19 Rn 52 ff. 337 Das angemessene Entgelt muss den Opportunitätskosten des Infrastrukturinhabers entsprechen, so dass es für ihn keinen Unterschied macht, ob er das Netz selbst nutzt oder Dritten den Zugang gewährt; vgl zu den Problemen der Bestimmung dieser Opportunitätskosten van Geffen/ Theeuwes IRIS Spezial 2004 S 44 f. 338 KOM, Sea Containers / Stena Sealink, ABl 1994 L 15/8, Rn 66. 339 Vgl Oechsler ZHR 2000, 492 ff; Montag EuZW 1997, 75. 340 Vgl GA Jacobs, EuGH, Rs C-7/97 – Oscar Bronner / Mediaprint, Nr 47; vgl Markert FS ErnstJoachim Mestmäcker, 1996, 665. 341 GA Jacobs, Rs C-7/97 – Oscar Bronner / Mediaprint, Nr 57. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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Unionsrecht geschützt. Durch gewerbliche Schutzrechte, zB in Form von Patenten oder Urheberrechten, kann ein Unternehmen in einem Markt eine beherrschende Stellung einnehmen. Die bloße Ausübung der gewerblichen Schutzrechte ist erlaubt.342 Erst die missbräuchliche Ausnutzung dieser beherrschenden Stellung verstößt gegen Art 102 AEUV. In bestimmten Situationen kann sich auch der Erwerb oder die bloße Inhaberschaft von Rechten als missbräuchlich erweisen, wenn damit Ziele verfolgt werden, die der Wirtschaftsordnung unverfälschten Wettbewerbs offensichtlich widersprechen. Das Gericht führte im Urteil Tetra Pak 1 aus, dass dort, wo limitierte Schlüsseltechnologien über die Aktionsmöglichkeiten eines Unternehmens entscheiden, allein der Erwerb eines Ausschließlichkeitsrechts durch den Marktbeherrscher das Überleben aktueller Konkurrenten am Markt gefährden oder den Eintritt neuer Wettbewerb verhindern könne.343Auch die Praktiken eines Pharmakonzerns durch irreführende Angaben gegenüber Patentbehörden, durch welche der Patenschutz unrechtmäßig verlängert wurde, wurden vom Gerichtshof als missbräuchliches Verhalten gewertet.344 Der rechtswidrigen Erlangung von ergänzenden Schutzzertifikaten wurde nicht nur eine erhebliche Ausschlusswirkung nach Ablauf der Grundpatente zugesprochen, sondern es wurde auch angeführt, dass dadurch die Marktstruktur verändert und schon vor dem Patentablauf der potentielle Wettbewerb beeinträchtigt werden könne.345 Die Maßnahme des marktbeherrschenden Unternehmens, den Widerruf der Zulassung des Arzneimittels in Kapselform zu erlangen,346 um die Einführung von Generika und Paralleleinfuhren zu verzögern oder zu verhindern, wurde ebenfalls als missbräuchlich angesehen. Dabei betonte der Gerichtshof, dass die Frage der Rechtswidrigkeit eines missbräuchlichen Verhaltens im Sinne des Art 102 AEUV nichts mit der Frage zu tun habe, ob das Verhalten mit anderen Rechtsvorschriften im Einklang stehe.347 Ein Unternehmen in marktbeherrschender Stellung dürfe regulatorische Verfahren nicht in einer Weise in Anspruch nehmen, durch die der Marktzutritt für Wettbewerber vereitelt oder erschwert werde, wenn weder Gründe, die mit der Verteidigung berechtigter Interessen eines im Leistungswettbewerb stehenden Unternehmens zusammenhängen würden, noch objektive Rechtfertigungen beständen.348

_____ 342 EuGH, Rs 51/75 – EMI Records / CBS United Kingdom; Rs 102/77 – Hoffmann-La Roche / Centrafarm. 343 EuG, Rs T-51/89 – Tetra Pak I, Rn 23. 344 EuGH, Rs C-457/10 P – AstraZeneca. 345 EuGH, Rs C-457/10 P – AstraZeneca, Rn 108. 346 Durch den Widerruf der Registrierung des Arzneimittels in Kapselform konnten die Generikahersteller diese Registrierung nicht mehr nutzen, sondern diese hätten eine eigene neue Registrierung beantragen müssen, was erhebliche zeitliche und finanzielle Aufwendungen zur Folge gehabt hätte. Das marktbeherrschende Unternehmen verkaufte das Arzneimittel inzwischen in Tablettenform. 347 EuGH, Rs C-457/10 P – AstraZeneca, Rn 132. 348 EuGH, Rs C-457/10 P – AstraZeneca, Rn 134. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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Als missbräuchlich wurde in der Rechtsprechung die grundlose Verweigerung von Lizenzen angesehen,349 so dass auf Art 102 AEUV die Anordnung von Zwangslizenzen350 gestützt wurde, wenn folgende Kriterien kumulativ351 erfüllt waren: 1. Die Lizenz ist unentbehrlich, um ein neues Produkt anzubieten. 2. Die Weigerung verhindert das Auftreten eines neuen Produktes, welches das Unternehmen in marktbeherrschender Stellung nicht selbst anbietet und für welches eine Nachfrage besteht. 3. Die Weigerung ist nicht gerechtfertigt. 4. Das Unternehmen in marktbeherrschender Stellung behält sich durch sein Verhalten einen abgeleiteten Markt (den Markt für das neue Produkt) vor. Für die Erteilung der Lizenz ist eine angemessene Vergütung zu entrichten. Im Verfahren Microsoft haben die Kommission und das Gericht die Rechtspre- 138 chungspraxis der Sachen Magill TV und IMS-Health352 weitergeführt, indem Microsoft mit einer Interoperabilitätsverfügung verpflichtet wurde, die Schnittstellenprotokolle der Windows-Betriebssysteme zur Verfügung zu stellen.353 Anderen Unternehmen sollte damit ermöglicht werden, neue Produkte zu entwickeln, die mit dem Windows-Betriebssystem vollständig kompatibel sind. Dabei wurde die Dogmatik, die in der Rechtsprechung für die Erteilung von Zwangslizenzen entwickelt wurde, herangezogen, obwohl es sich bei den Schnittstelleninformationen teilweise nicht um Urheberrechte oder Patentrechte, sondern um Geschäftsgeheimnisse handelte. Von Microsoft wurde vorgebracht, ausreichende Informationen bereitzustellen, und eine vollständige Kompatibilität wurde als nicht notwendig erachtet. Im Schrifttum wird kritisiert, dass die Microsoft-Entscheidung noch stärker in das Verhältnis von Vertragsfreiheit, Eigentum und Immaterialgüterrechten marktbeherrschender Unternehmen eingreift.354 Der Missbrauch gewerblicher Schutzrechte kann auch als Facette der Essential-Facilities-Doktrin gesehen werden. Insofern wird der Inhaber von gewerblichen Schutzrechten wie der Inhaber einer Infrastruktureinrichtung behandelt. Ferner nennt Art 102 II AEUV in lit c) die Anwendung unterschiedlicher Be- 139 dingungen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber Handelspartnern, wodurch diese im Wettbewerb benachteiligt werden. Marktbeherrschende Unternehmen unterliegen der Missbrauchsaufsicht, weshalb an ihr Verhalten ein anderer Maßstab als bei nicht marktbeherrschenden Unternehmen angelegt wird. Durch das Diskriminierungsverbot des Art 102 II lit c) AEUV müssen marktbeherrschende

_____ 349 EuGH, Rs C-418/01 – IMS Health; dazu Wielsch, EuZW 2005, 391 ff; Casper ZHR 2002, 685 ff. 350 EuGH, Rs C-241, 242/91 P – Magill TV Guide / ITP, BBC, RTE, Rn 24 ff.; EuGH, Rs C-418/01 – IMS Health. 351 EuGH, Rs C-418/01 – IMS Health. 352 EuGH, Rs C-418/01. 353 EuG, Rs T-201/04 – Microsoft / Kommission; KOM, Microsoft, ABl 2007 L 32/33. 354 Körber WuW 2007, 1213 f. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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Unternehmen eine sachliche Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung von Handelspartnern, Abnehmern oder Lieferanten haben.355 Bsp sind Gebühren für Startund Landedienstleistungen an Flughäfen, wenn ein Rabattsystem zu einer Differenzierung der Gebühren je nach Herkunft des Fluges faktisch zu einer Begünstigung inländischer Anbieter führt.356 Im Fall United Brands357 (Chiquita-Bananen) lag eine diskriminierende Preispolitik vor, durch die Reifereien und Vertriebshändler von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedliche Preise für Lieferungen von im wesentlichen gleichen Mengen Bananen derselben Sorte berechnet wurden. Dies führte zu einer Abriegelung der nationalen Märkte mit künstlich unterschiedlichem Preisniveau, wodurch bestimmte Vertriebshändler/Reifereien im Wettbewerb benachteiligt wurden.358 Schließlich bezeichnet Art 102 II AEUV in lit d) als missbräuchlich die an den 140 Abschluss von Verträgen geknüpfte Bedingung, dass die Vertragspartner zusätzliche Leistungen annehmen, die weder sachlich noch nach Handelsbrauch in Beziehung zum Vertragsgegenstand stehen. Unter Art 102 II lit d) AEUV werden die so genannten Koppelungsgeschäfte subsumiert. Diese Verhaltensweise zielt gleichzeitig auf die Ausbeutung der Handelspartner als auch auf die Behinderung der Wettbewerber ab. Den Kunden werden Leistungen aufgezwungen, die sie normalerweise nicht oder von anderen Unternehmen beziehen würden, und gleichzeitig werden diese Kunden den Wettbewerbern des marktbeherrschenden Unternehmens als Nachfrager entzogen.359 Ein missbräuchliches Koppelungsgeschäft im Sinne des Art 102 II AEUV ist beim Vorliegen der folgenden vier Kriterien anzunehmen: 1. Es handelt sich beim Koppelungsprodukt und dem daran gekoppelten Produkt um zwei gesonderte Produkte. 2. Das betreffende Unternehmen verfügt auf dem Markt für das Koppelungsprodukt über eine marktbeherrschende Stellung. 3. Das marktbeherrschende Unternehmen gibt den Verbrauchern nicht die Möglichkeit, das Koppelungsprodukt ohne das gekoppelte Produkt zu beziehen. 4. Durch die fragliche Praxis wird der Wettbewerb eingeschränkt. Zudem ist zu berücksichtigen, ob das Koppelungsgeschäft objektiv gerechtfertigt ist. Beispiele für eine missbräuchliche Koppelung sind: die Kopplung des Vertriebs von patentierten Bolzenschussgeräten an die Abnahme von Kartuschen und Bolzen durch das marktbeherrschende Unternehmen Hilti,360 Koppelung des Windows Betriebssystems für Client-Server mit dem Medienabspielprogramm Windows Media Player durch Micro-

_____ 355 356 357 358 359 360

KOM, ABl 2000 L 208/36, Rn 50. KOM, ABl 2000 L 208/36, Rn 40 ff. EuGH, Rs 27/76 – United Brands. EuGH, Rs 27/76 – United Brands, Rn 233. Immenga/Mestmäcker/Fuchs/Möschel Art 102 AEUV Rn 274. KOM, Eurofix-Bauco / Hilti, ABl 1988 L 65/19 (35 ff); EuGH, Rs C-53/92 P – Hilti. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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soft,361 Koppelung der für Android Mobilgeräte unverzichtbaren App Google Play Store mit der App Google-Suche und dem Browser Google Chrome durch Google.362 Die Generalklausel des Art 102 I AEUV dient als Auffangtatbestand für alle 141 Fälle missbräuchlicher Ausnutzung einer beherrschenden Stellung, welche sich nicht unter den Beispielkatalog des Satzes 2 subsumieren lassen. Oft besteht der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung in mehreren Verhaltensweisen eines marktbeherrschenden Unternehmens, welche unter mehrere Beispiele des Katalogs subsumiert werden können. Letztendlich ist es nicht entscheidend, eine Verhaltensweise eindeutig zuzuordnen, weil immer der Rückgriff auf die Generalklausel des Art 102 I AEUV verbleibt und der Beispielkatalog vor allem eine Hilfestellung bieten soll. So führte der Gerichtshof in seiner Entscheidung Tomra363 aus, dass ein Rabattsystem, welches darauf abzielte, die Kunden eines marktbeherrschenden Unternehmens vom Bezug bei Wettbewerbern abzuhalten, ein Verstoß gegen Art 102 AEUV darstellt. Die Verwirklichung eines Beispielstatbestandes des Art 102 II AEUV sei hierfür nicht erforderlich.364 Mit der Generalklausel des Art 102 I AEUV kann ua die Fallgruppe der Kampf- 142 preisunterbietung (Predatory Pricing)365 erfasst werden. Die Schwierigkeit bei der Fallgruppe der Kampfpreisunterbietung liegt in der Abgrenzung zwischen zulässigem Preiswettbewerb und missbräuchlichen Verdrängungspreisen.366 Der Gerichtshof geht davon aus, dass Preise unter den durchschnittlichen variablen Kosten stets missbräuchlich seien, weil die Verdrängungsabsicht unterstellt werden könne. Es sei kein anderes wirtschaftliches Ziel denkbar, weil jede hergestellte und verkaufte Einheit Verlust bringe.367 Im Fall Post Danmark368ging es um die Fragestellung, ob ein Missbrauch angenommen werden kann, wenn dem Marktbeherrscher die Absicht, Wettbewerber planmäßig zu verdrängen, nicht nachgewiesen werden kann und die Preise des Marktbeherrschers zwar unter den durchschnittlichen Gesamtkosten, aber über den durchschnittlichen variablen Kosten liegen. Der Gerichtshof führte dazu aus, dass auch bei fehlender Verdrängungsabsicht ein Missbrauch vorliegen könne, wenn die Preissetzung zu wettbewerbsbeschränkenden Auswirkungen führe. Dem Marktbeherrscher stände in diesem Fall aber die Möglichkeit offen, Effizienzvorteile nachzuweisen. Wenn diese die negativen Auswirkungen auf dem Markt auf- oder überwiegen würden, läge kein Missbrauch vor.

_____ 361 362 363 364 365 366 367 368

EuG, Rs T-201/04 – Microsoft / Kommission; KOM, Microsoft, ABl 2007 L 32/33. KOM, Pressemitteilung Google Android vom 18.7.2018, IP/18/4581. EuGH, Rs C-549/10 P – Tomra ua / Kommission, Rn 72. EuGH, Rs C-549/10 P – Tomra ua / Kommission, Rn 69. Die Kampfpreisunterbietung wird teilweise auch unter Art 102 II lit a) AEUV subsumiert. Kritisch zur Kontrolle des Preishöhenmissbrauchs Kuhn WuW 2006, 578 ff. EuGH, Rs C-62/86 – AKZO, Rn 71; so auch EuGH, Rs C-333/94 P – Tetra Pak II, Rn 41. EuGH, Rs C-209/10 – Post Danmark / Konkurrencerådet.

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Auch für die Preis-Kosten-Schere (Margin Squeeze) kann auf die Generalklausel des Art 102 I AEUV rekurriert werden. Die Preis-Kosten-Schere369 stellt einen Behinderungsmissbrauch370 dar. Die typische Konstellation beinhaltet, dass der Marktbeherrscher zusätzlich auf einem nachgelagerten Markt tätig ist.371 Die Wettbewerber auf diesem nachgelagerten Markt sind auf die Vorleistungen des Marktbeherrschers angewiesen. Fordert er von seinen Wettbewerbern für diese Vorleistungen einen Preis, der dem Preis, den er von seinen Kunden auf dem nachgelagerten Markt verlangt, entspricht oder sogar übersteigt, dann liegt eine Preis-KostenSchere vor. Der Wettbewerber auf dem nachgelagerten Markt kann nicht in den Preiswettbewerb zum Marktbeherrscher auf dem nachgelagerten Markt treten, weil seine Einkaufspreise bereits den Endpreisen der Abnehmer auf diesem entsprechen oder diese sogar übersteigen.372

d) Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten 144 Wie bei Art 101 AEUV ist für die Anwendung des Art 102 AEUV die Beeinträchtigung

des Handels zwischen den Mitgliedstaaten Voraussetzung.373 Im Rahmen des Art 102 AEUV muss die Maßnahme des marktbeherrschenden Unternehmens zumindest die Struktur des Wettbewerbs auf einem wesentlichen Teil des Binnenmarktes betreffen. 374 So sind ua diskriminierende Verhaltensweisen von Unternehmen in marktbeherrschender Stellung geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, wenn sie Infrastruktureinrichtungen berühren, über die Beförderungen zwischen Mitgliedstaaten durchführt werden, wie zB Häfen.375

3. Rechtsfolgen 145 Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die

gegen Art 101 I AEUV verstoßen, sind verboten und gemäß Art 101 II AEUV nichtig.376 Somit wird dadurch ausdrücklich die zivilrechtliche Rechtsfolge geregelt, eine

_____ 369 Dazu Frenz NZKart 2013, 60 ff. 370 Unter der Fallgruppe Behinderungsmissbrauch werden vor allem Verhaltensweisen marktbeherrschender Unternehmen, die sich gegen Wettbewerber auf dem beherrschten Markt oder benachbarten Märkten richten, subsumiert. Vgl Immenga/Mestmäcker/Fuchs/Möschel Art 102 AEUV Rn 199. 371 EuGH, Rs C-280/08 P – DTAG. 372 EuGH, Rs C-52/09 – Telia Sonera. 373 Siehe auch Kapitel I.3.a) Die Zwischenstaatlichkeitsklausel, Rn 41 ff. 374 Immenga/Mestmäcker/Fuchs/Möschel Art 102 AEUV Rn 23. 375 EuGH, Rs C-179/90 – Merci Convenzionali Porto di Genova, Rn 15; Immenga/Mestmäcker/ Fuchs/Möschel Art 102 AEUV Rn 24. 376 Art 1 I VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

II. EU-Kartellrecht und Missbrauchsaufsicht | 1171

Besonderheit im Primärrecht der Union. Die Verbote der Art 101 und 102 AEUV gelten unmittelbar und bedürfen keiner vorherigen Entscheidung. Die Kommission kann nach Art 7 I VO 1/2003 die Zuwiderhandlung gegen Art 101 AEUV und/oder Art 102 AEUV feststellen und das oder die Unternehmen zur Abstellung verpflichten. Weiterhin kann die Kommission gegen Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen, die vorsätzlich oder fahrlässig gegen Art 101 AEUV und/oder Art 102 AEUV verstoßen, Geldbußen verhängen.377 Die Geldbuße darf 10% des jeweiligen im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes des Unternehmens nicht übersteigen.378 Diese 10%-Schwelle ist als Kappungsgrenze zu verstehen. Die Kommission muss bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße sowohl die Schwere der Zuwiderhandlung als auch deren Dauer berücksichtigen.379 In den Bußgeldleitlinien vom 28. Juni 2006 hat die Kommission ihren weiten Ermessensspielraum nach Art 23 III VO 1/2003 konkretisiert,380 deren Rechtmäßigkeit vom Gericht bestätigt wurde.381 Um die Abstellung der Zuwiderhandlung zu erzwingen, kann die Kommission Zwangsgelder verhängen.382 Diese Zwangsgelder können bis zu einem Höchstbetrag von 5% des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten durchschnittlichen Tagesumsatzes für jeden Tag des Verzugs von dem in der Entscheidung der Kommission bestimmten Zeitpunkt festgesetzt werden. Die zivilrechtlichen Ansprüche Dritter (Schadensersatz und Unterlassung) können nach nationalem Recht vor den Gerichten der Mitgliedstaaten geltend gemacht werden.383 Dabei darf nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das nationale Verfahrensrecht gemäß dem „Effektivitätsgrundsatz“ nicht so ausgestaltet sein, dass es die Durchsetzung privater Schadensersatzansprüche einschränkt oder verhindert.384 Beschlüsse, Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen, die unter eine der Gruppenfreistellungsverordnungen oder unter die Generalklausel des Art 101 III AEUV fallen, sind zivilrechtlich gültig. Weil durch die Umstellung vom Anmeldesystem zum System der Legalausnahme keine Anmeldung einer Vereinbarung, eines Beschlusses oder einer abgestimmter Verhaltensweise mehr notwendig

_____ 377 Art 23 II lit a) VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. 378 Kritisch dazu Soltész/Steinle/Bielesz EuZW 2003, 202 ff; Hellmann WuW 2002, 944 ff. 379 Art 23 III VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1; vgl auch Leitlinien der Kommission für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, ABl 2006 C 210/2. 380 Engelsing WuW 2007, 470 ff; Connor ECLR 2013, 58 ff. 381 EuG, Rs T-400/09 – Ecka Granulate / Kommission. 382 Art 24 I VO 1/2003, ABl 2003 L 1/1. 383 Im deutschen Recht auf der Grundlage des § 33a GWB. Die Höhe des Schadensersatzes richtet sich nach den §§ 249 bis 252 BGB. 384 EuGH, Rs C-453/99 – Courage; verb Rs C-295/04 bis C-298/04 – Manfredi; Rs C-360/09 – Pfleiderer. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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1172 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

ist,385 müssen die Unternehmen selbst prüfen, ob sie die Voraussetzungen einer der Gruppenfreistellungsverordnungen oder der Generalklausel des Art 101 III AEUV erfüllen. Allerdings obliegt den Unternehmen dafür gemäß Art 2 VO 1/2003 auch die Beweislast. Während Art 101 II AEUV die Nichtigkeit von wettbewerbsbeschränkenden 150 Maßnahmen regelt, ist dies bei Art 102 AEUV nicht der Fall. Der Grund ist darin zu sehen, dass es sich beim Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung oft um einseitige Handlungen von Unternehmen handelt. Die zivilrechtlichen Folgen des Verstoßes gegen Art 102 AEUV richten sich nach dem jeweiligen nationalen Recht. In Deutschland können Schadensersatz- und Unterlassungsansprüche gegen Art 101 und 102 AEUV auf der Grundlage der §§ 33 und 33a des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) geltend gemacht werden. Die Nichtigkeit von gegen Art 102 AEUV verstoßenden Rechtsgeschäften richtet sich nach § 134 und § 139 BGB. Mit der Kartellschadensersatz-Richtlinie386 aus dem Jahr 2014387soll die priva151 te Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen bei Verstößen gegen das europäische Kartellrecht als zweite Säule neben dem öffentlich-rechtlichen Sanktionssystem weiter gestärkt werden. Die Richtlinie regelt ua das Recht auf vollständigen Schadensersatz, die Offenlegung von Beweismitteln, die Bindungswirkung nationaler Entscheidungen, die Verjährung, die gesamtschuldnerische Haftung, die Abwälzung des Preisaufschlags und die Ermittlung des Schadensumfangs.388 III. Die Fusionskontrolle III. Die Fusionskontrolle (Jungheim-Hertwig) 1. Anwendungsbereich der Fusionskontrolle 152 Der Anwendungsbereich der europäischen Fusionskontrollverordnung ist eröffnet,

wenn die am Zusammenschluss Beteiligten die Umsatzschwellen des Art 1 der FKVO erreichen und ein Zusammenschlusstatbestand im Sinne des Art 3 FKVO vorliegt. Dies löst die Anmeldepflicht eines Zusammenschlussvorhabens aus, sagt aber 153 noch nichts über die materielle Beurteilung des Zusammenschlusses aus.

_____ 385 Einschränkend ist zu bemerken, dass bereits durch die Einführung der Vertikal-GVO 2790/99 eine Einzelanmeldung überflüssig war, wenn diese unter Voraussetzungen der Vertikal-GVO fiel. 386 Richtlinie 2014/104/EU, ABl 2014 L 349/1. 387 Die Mitgliedstaaten mussten die Richtlinie bis zum 27. Dezember 2016 in nationales Recht umsetzen. In Deutschland wurde die Richtlinie mit der 9. GWB-Novelle umgesetzt. 388 Whish/Bailey S 311 ff. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

III. Die Fusionskontrolle | 1173

a) Die Umsatzschwellen des Art 1 Fusionskontrollverordnung Ein Zusammenschlussvorhaben hat gemäß Art 1 II FKVO „gemeinschaftsweite 154 Bedeutung“, wenn die beteiligten Unternehmen folgende Umsätze389 erzielen: a) ein weltweiter Gesamtumsatz aller beteiligten Unternehmen zusammen von mehr als 5 Mrd EUR und b) ein gemeinschaftsweiter Gesamtumsatz von mindestens zwei beteiligten Unternehmen von jeweils mehr als 250 Mio EUR; dies gilt nicht, wenn die beteiligten Unternehmen jeweils mehr als zwei Drittel ihres gemeinschaftsweiten Gesamtumsatzes in ein und demselben Mitgliedstaat erzielen. Die Ausnahme der 2/3-Klausel dient dazu, dass Zusammenschlüsse, die sich haupt- 155 sächlich in dem Gebiet eines Mitgliedstaates auswirken, auch in diesem Mitgliedstaat nach dem jeweiligen nationalen Recht geprüft werden können. Nach Art 1 III FKVO kann auch ein Zusammenschluss, der die Umsatzschwellen 156 des Absatz 2 nicht erreicht, gemeinschaftsweite Bedeutung haben. Es handelt sich dabei um den Sonderfall der so genannten „Drei-Länder-Fusion“. Durch diese Regelung, die 1997 in die erste FKVO 4064/89 eingefügt wurde,390 sollen mehrere parallele Verfahren in den Mitgliedstaaten verhindert werden, weshalb diese Fälle den nationalen Behörden entzogen werden, um ein europäisches Verfahren durchzuführen. Danach hat ein Zusammenschluss auch dann gemeinschaftsweite Bedeu- 157 tung, wenn a) der weltweite Gesamtumsatz aller beteiligten Unternehmen zusammen mehr als 2,5 Mrd EUR beträgt, b) der Gesamtumsatz aller beteiligten Unternehmen in mindestens drei Mitgliedstaaten jeweils 100 Mio EUR übersteigt, c) in jedem von mindestens drei von Buchstabe b) erfassten Mitgliedstaaten der Gesamtumsatz von mindestens zwei beteiligten Unternehmen mehr als 25 Mio EUR beträgt und d) der gemeinschaftsweite Gesamtumsatz von mindestens zwei beteiligten Unternehmen jeweils 100 Mio EUR übersteigt. Auch nach Absatz 3 wird keine gemeinschaftsweite Bedeutung angenommen, 158 wenn die beteiligten Unternehmen jeweils mehr als zwei Drittel ihres gemeinschaftsweiten Umsatzes in ein und demselben Mitgliedstaat erzielen.

_____ 389 Die Vorgaben für die Berechnung der Umsätze der Unternehmen sind in Art 5 FKVO, ABl 2004 L 24/1, zu finden; vgl Mitteilung der KOM zu Zuständigkeitsfragen gem der FKVO, ABl 2009 C 43/10 (44 ff). 390 ABl 1997 L 180/1. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1174 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

b) Zusammenschlusstatbestände 159 Beteiligte eines Zusammenschlusses sind grundsätzlich Unternehmen, aber auch

Personen „die bereits mindestens ein Unternehmen kontrollieren“.391 Ein Zusammenschluss392 liegt vor, wenn eine „dauerhafte Veränderung der Kontrolle“ stattfindet.393 In Art 3 der FKVO werden folgende Zusammenschlusstatbestände genannt: 160 – Fusion, – Kontrollerwerb, – Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens. 161 Die Fusion beinhaltet die Verschmelzung von zwei oder mehr bisher voneinander

unabhängigen Unternehmen oder Unternehmensteilen.394 Der Kontrollerwerb ist eine Generalklausel, die eine Vielzahl von Möglichkei162 ten, Kontrolle über ein anderes Unternehmen zu erlangen, erfasst. Dazu gehören der Erwerb von Anteilsrechten oder Vermögenswerten. Dies kann durch Vertrag oder in sonstiger Weise geschehen. Die Kontrolle kann sich dabei auf die Gesamtheit oder über Teile eines oder mehrerer anderer Unternehmen erstrecken.395 Der Begriff der Kontrolle wird in Art 3 II FKVO konkretisiert. Diese wird durch 163 Rechte, Verträge oder andere Mittel begründet, die einzeln oder zusammen unter Berücksichtigung aller tatsächlichen oder rechtlichen Umstände die Möglichkeit gewähren, einen bestimmenden Einfluss auf die Tätigkeit eines Unternehmens auszuüben. Als Beispiel werden Eigentums- oder Nutzungsrechte an der Gesamtheit oder an Teilen des Vermögens des Unternehmens sowie Rechte oder Verträge, die einen bestimmenden Einfluss auf die Zusammensetzung, die Beratungen oder Beschlüsse der Organe des Unternehmens gewähren, genannt. Eine Sonderstellung nimmt die sog „Bankenklausel“ des Art 3 V FKVO ein, 164 die bestimmt, dass durch den vorübergehenden Erwerb von Unternehmensanteilen durch Kreditinstitute, Finanzinstitute und Versicherungsgesellschaften zum Zweck der Weiterveräußerung kein Zusammenschluss im Sinne der FKVO bewirkt wird. Voraussetzung ist, dass die Kreditinstitute die mit den Anteilen verbundenen Stimmrechte nicht ausüben, außer um die Veräußerung der Gesamtheit oder von Teilen des Unternehmens oder seiner Vermögenswerte oder die Veräußerung der Anteile vorzubereiten (zB Börsengang). Weiterhin muss die Veräußerung innerhalb eines Jahres nach Erwerb der Anteile erfolgen, es sei denn, die Institute beantragen

_____ 391 Art 3 I lit b) FKVO, ABl 2004 L 24/1. 392 Vgl auch Mitteilung der KOM zu Zuständigkeitsfragen gem der FKVO, ABl 2009 C 43/10 (13 ff). 393 Art 3 I FKVO, ABl 2004 L 24/1. 394 Art 3 I lit a) FKVO, ABl 2004 L 24/1. Die Fusion von Unternehmensteilen ist durch die VO 139/2004, ABl 2004 L 24/1, neu eingefügt worden. 395 Art 3 I lit b) FKVO, ABl 2004 L 24/1. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

III. Die Fusionskontrolle | 1175

bei der Kommission eine Fristverlängerung. Der Erwerb von Unternehmensanteilen durch Private Equity-Unternehmen unterfällt nicht der Bankenklausel. Auch die Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens (GU)396 stellt einen Zusammenschluss dar, wenn dieses auf Dauer alle Funktionen einer selbständigen wirtschaftlichen Einheit erfüllt.397 Dies wird als Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmen bezeichnet. Gemeinschaftsunternehmen können durch die gemeinsame Neugründung eines Unternehmens, durch den gemeinsamen Erwerb eines Unternehmens oder durch die Abgabe einer Beteiligung an ein anderes Unternehmen entstehen. Die Voraussetzung für die Einstufung als Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmen im Sinne des Art 3 IV FKVO ist, dass die Kontrolle gemeinsam ausgeübt wird.398 Dies wird angenommen, wenn die Mutterunternehmen bei allen wichtigen Entscheidungen, die das GU betreffen, Übereinstimmung erzielen müssen.399 Dabei kommt es nicht darauf an, ob dies auf gleichen Stimmrechten, der Besetzung von Entscheidungsgremien oder auf Vetorechten beruht.400 Zudem muss das Unternehmen auf Dauer alle Funktionen einer wirtschaftlichen Einheit erfüllen, was bedeutet, dass das Unternehmen über ausreichende Ressourcen (finanzielle Mittel, Personal, materielle und immaterielle Vermögenswerte) für eine eigenständige Marktpräsenz verfügen muss. Die Tätigkeit des GU muss mehr umfassen als eine spezifische Funktion für die Mutterunternehmen, insbesondere muss das GU über einen eigenständigen Marktzugang verfügen. Kunden des GU dürfen – außer in der Anlaufphase – nicht ausschließlich die Mutterunternehmen sein, damit ein GU als Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmen angesehen wird.401 Die Änderung der Tätigkeit eines Vollfunktions-GU, wie zB die Ausweitung des Tätigkeitsbereichs, wird ebenfalls als Zusammenschluss angesehen und kann eine erneute Anmeldepflicht auslösen.402 Nur Vollfunktions-GUs fallen in den Anwendungsbereich der FKVO, so dass bei den vielfältigen Formen von Gemeinschaftsunternehmen eine Abgrenzung zwischen Vollfunktions-GU und sonstigen GU und Allianzen, welche nach Art 101 AEUV zu beurteilen sind, vorzunehmen ist.403 Es ist auch möglich, dass die Gründung eines Vollfunktions-GU zu einer Koordinierung des Verhaltens der Mutterun-

_____ 396 Nicht zu verwechseln mit „Gemeinsamen Unternehmen“ gem Art 45 ff EAGV. 397 Art 3 IV FKVO, ABl 2004 L 24/1. 398 Mitteilung der KOM zu Zuständigkeitsfragen gem der FKVO, ABl 2009 C 43/10 (26). 399 Mitteilung der KOM zu Zuständigkeitsfragen gem der FKVO, ABl 2009 C 43/10 (26). 400 Mitteilung der KOM zu Zuständigkeitsfragen gem der FKVO, ABl 2009 C 43/10 (26 ff). 401 Mitteilung der KOM zu Zuständigkeitsfragen gem der FKVO, ABl 2009 C 43/10 (33 ff). 402 Mitteilung der KOM zu Zuständigkeitsfragen gem der FKVO, ABl 2009 C 43/10 (36). 403 Eine Definition versucht die Abgrenzung durch die Unterscheidung in konzentrative und kooperative Gemeinschaftsunternehmen, wobei letztere nach dem Kartellrecht zu behandeln sind; vgl auch Pohlmann WuW 2003, 473 ff. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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ternehmen führt, so dass neben der Fusionskontrolle auch das Kartellverbot einschlägig ist. Die FKVO regelt dies, indem sie in Art 2 IV FKVO bestimmt, dass in einem solchen Fall im Rahmen des Fusionskontrollverfahrens auch eine Prüfung des Art 101 AEUV vorgenommen wird.404 Bei dieser Beurteilung wird insbesondere berücksichtigt, ob die Mutterunternehmen auf dem Markt des Vollfunktions-GU oder auf einem diesem vor- oder nachgelagerten Markt oder auf einem benachbarten oder eng mit ihm verknüpften Markt tätig sind und ob den Mutterunternehmen dadurch die Möglichkeit eröffnet wird, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren und Dienstleistungen den Wettbewerb auszuschalten.405

2. Das Verfahren a) Anmeldepflicht 169 Es handelt sich um eine präventive Kontrolle, weil alle Zusammenschlüsse im Sinne der FKVO vor ihrem Vollzug bei der Kommission anzumelden sind.406 Zuständig für diese Prüfung ist ausschließlich die Kommission, deren Entscheidungen der Nachprüfung durch das Gericht und in zweiter Instanz dem Gerichtshof unterliegen.407 Ein Zusammenschluss muss nach Vertragsabschluss, Veröffentlichung eines 170 Übernahmeangebots oder Erwerb einer die Kontrolle begründenden Beteiligung angemeldet werden.408 Durch die VO 139/2004 ist in Art 4 I 2 FKVO die Möglichkeit geschaffen worden, auch einen beabsichtigten Zusammenschluss anzumelden. Die zur Anmeldung Verpflichteten nennt Art 4 III FKVO. Dies sind die Beteiligten eines Zusammenschlusses oder derjenige oder das Unternehmen, welches die Kontrolle über ein anderes Unternehmen oder Teile eines anderen Unternehmens erwirbt.409

b) Vollzugsverbot 171 Gemäß Art 7 I FKVO besteht ein Vollzugsverbot für den Zusammenschluss, solange

das Verfahren läuft. Würden Zusammenschlüsse bereits bei Anmeldung vollzogen werden, würde sich das Problem der Entflechtung im Falle einer Untersagung stellen. Eine Ausnahme vom Vollzugsverbot besteht für den Erwerb von Wertpapieren oder einem öffentlichen Übernahmeangebot, sofern:

_____ 404 405 406 407 408 409

Dazu Schroeder WuW 2004, 893 ff. Art 2 V FKVO, ABl 2004 L 24/1. Art 4 I FKVO, ABl 2004 L 24/1. Art 21 II FKVO, ABl 2004 L 24/1. Art 4 I FKVO, ABl 2004 L 24/1. Vgl auch Mitteilung der KOM zu Zuständigkeitsfragen gem der FKVO, ABl 2009 C 43/10. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

III. Die Fusionskontrolle | 1177

– –

der Zusammenschluss gemäß Art 4 FKVO unverzüglich bei der Kommission angemeldet wird und der Erwerber die mit den Anteilen verbundenen Stimmrechte nicht ausübt oder nur zur Erhaltung des vollen Wertes seiner Investition aufgrund einer von der Kommission nach Absatz 3 erteilten Freistellung.410

Im Jahr 2012 bestätigte der Gerichtshof411 eine Entscheidung der Kommission, mit 172 der diese ein Bußgeld in Höhe von 20 Mio EUR wegen des Verstoßes gegen das Vollzugsverbot verhängt hatte.

c) Ablauf des Verfahrens Das Verfahren gliedert sich in die sog Phase-I- und Phase-II-Prüfung. Für die Pha- 173 se-I-Prüfung der Anmeldung hat die Kommission gemäß Art 10 I FKVO 25 Arbeitstage Zeit.412 In der Phase-I-Prüfung der Anmeldung entscheidet die Kommission, ob das 174 Zusammenschlussvorhaben in den Anwendungsbereich der FKVO fällt. Ist dies nicht der Fall, stellt die Kommission dies durch Entscheidung fest und das nationale Recht der betroffenen Mitgliedstaaten kann angewandt werden.413Zur Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung wurde daneben im Jahr 2013 das vereinfachte Verfahren mit dem vereinfachten Formblatt CO für unproblematische Fälle eingeführt.414 Handelt es sich um einen Zusammenschluss von gemeinschaftsweiter Bedeutung, dient die Phase-I-Prüfung dazu, die problematischen und die unproblematischen Fälle zu identifizieren. Bei letzteren handelt es sich um Zusammenschlüsse, die keinen Anlass zu ernsthaften Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt geben.415 Diese erklärt die Kommission für vereinbar mit dem Gemeinsamen Markt.416 Allerdings besteht auch die Möglichkeit diese Freigabeentscheidung nach Art 6 I lit b) FKVO mit Auflagen und Bedingungen zu verknüpfen. Ein von der Kommission freigegebener Zusammenschluss kann nicht mehr von einer nationalen Wettbewerbsbehörde nach nationalem Recht untersagt werden. Stellt die Kommission im Rahmen der Phase-I-Prüfung fest, dass der angemeldete

_____ 410 Art 7 II FKVO, ABl 2004 L 24/1. 411 EuG, Rs T-332/09 – Electrabel. 412 Die Frist beträgt 35 Arbeitstage, wenn der Kommission ein Antrag eines Mitgliedstaats gemäß Art 9 II zugeht oder wenn die beteiligten Unternehmen anbieten, Verpflichtungen einzugehen (Art 10 I 3 FKVO). 413 Art 6 I lit a) FKVO, ABl 2004 L 24/1. 414 VO (EU) Nr 1269/2013, ABl L 336/18. 415 Art 6 I lit b) FKVO, ABl 2004 L 24/1. 416 Vgl, zu den Begründungsanforderungen an eine Freigabe in der ersten Phase, EuG, Rs T405/08 – Billa / Adeg. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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Zusammenschluss als problematisch anzusehen ist, trifft sie die Entscheidung die Phase-II-Prüfung einzuleiten.417 Für die Phase II-Prüfung hat die Kommission 90 Arbeitstage Zeit bzw 105 Arbeitstage, wenn die Unternehmen anbieten, Verpflichtungen einzugehen.418 Lässt die Kommission die Frist verstreichen, gilt der Zusammenschluss nach Art 10 VI FKVO als für vereinbar mit dem Gemeinsamen Markt erklärt. Damit die Kommission in die Lage versetzt wird, die Vereinbarkeit eines Zusammenschlusses mit dem Gemeinsamen Markt zu prüfen, benötigt sie umfassende Informationen419 ua von den Beteiligten420 eines Zusammenschlusses.421 In der Praxis gibt es aufgrund des engen Fristenregimes in der Regel bereits vor der Anmeldung eines Zusammenschlussvorhabens Kontakte mit der Kommission und diese beginnt dann auch vor der Anmeldung mit den Marktermittlungen. Unrichtige oder irreführende Auskünfte können mit einem Bußgeld geahndet werden.422 Die Kommission verhängte bspw im Jahr 2017 eine Geldbuße in Höhe von 110 Mio Euro gegen Facebook wegen irreführender Angaben im Rahmen der Prüfung der Übernahme von WhatsApp durch Facebook.423 Des Weiteren hat die Kommission die Befugnis zur Erfüllung ihrer Aufgabe im Rahmen der FKVO bei Unternehmen und Unternehmensvereinigungen alle erforderlichen Nachprüfungen424 vorzunehmen. Neben den Zusammenschlussbeteiligten können auch Informationen von anderen Marktbeteiligten, wie Wettbewerbern, Lieferanten oder Abnehmern, eingeholt werden.425 Zudem können natürliche oder juristische Personen, die ein hinreichendes Interesse darlegen, und insbesondere Mitglieder der Leitungsorgane der beteiligten Unternehmen oder rechtlich anerkannte Vertreter der Arbeitnehmer dieser Unternehmen einen Antrag auf Anhörung stellen, dem stattzugeben ist.426 Den

_____ 417 Art 6 I lit c) FKVO, ABl 2004 L 24/1. 418 Art 10 III FKVO, ABl 2004 L 24/1; diese Verpflichtungen, in denen die Unternehmen anbieten, den Zusammenschluss in einer mit dem Gemeinsamen Markt zu vereinbarenden Weise zu gestalten, müssen 55 Arbeitstage nach Einleitung des Verfahrens unterbreitet werden, damit die Verfahrensfrist auf 105 Arbeitstage erhöht werden kann (Art 10 III FKVO). 419 Entweder durch ein einfaches Auskunftsverlangen oder durch Entscheidung, dass alle erforderlichen Auskünfte erteilt werden. Art 11 FKVO, ABl 2004 L 24/1. 420 Personen, Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen. 421 Art 11 FKVO, ABl 2004 L 24/1. 422 Art 14 I lit b) und c) FKVO, ABl 2004 L 24/1. 423 KOM, Facebook / WhatsApp, ABl 2017 C286/6. 424 Art und Umfang der Nachprüfungen und deren Voraussetzungen sind in Art 13 FKVO geregelt. Die Informationen, welche die Kommission während des Verfahrens erhält, werden durch das Berufsgeheimnis des Art 17 FKVO geschützt. 425 Art 18 IV FKVO, ABl 2004 L 24/1. 426 Art 18 IV FKVO, ABl 2004 L 24/1. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

III. Die Fusionskontrolle | 1179

am Zusammenschluss beteiligten Unternehmen steht ein Stellungnahmerecht während des gesamten Verfahrens zu.427

3. Der Beurteilungsmaßstab der Kommission Bei Betrachtung der Kommissionspraxis im Fusionsbereich kann festgestellt wer- 179 den, dass der überwiegende Teil der Fusionen in der Phase-I-Prüfung freigegeben wird. Auch von den Fällen, bei denen das Hauptprüfverfahren eingeleitet wird, werden nur sehr wenige untersagt, öfter anzutreffen ist die Freigabe mit Bedingungen und Auflagen. Im Jahr 2017 wurde in sieben von 380 angemeldeten Zusammenschlussvorhaben die Phase-II-Prüfung eingeleitet;428 es gab 18 Zusammenschlüsse, die mit Auflagen genehmigt wurden (in Phase-I und Phase-II), zwei Vorhaben wurden von den Anmeldern aufgegeben und zwei Vorhaben429 wurden von der Kommission untersagt.430 73% der Anmeldungen wurden im sog vereinfachten Verfahren bearbeitet.431 Daraus darf nicht geschlossen werden, dass es sich bei der Fusionskontrolle um 180 einen „zahnlosen Tiger“ handelt, sondern dies ist auf die Abschreckungswirkung, die von der Fusionskontrolle ausgeht, zurückzuführen. So handelt es sich bei den anmeldepflichtigen Zusammenschlüssen um Großprojekte, die anwaltlich begleitet werden. Zu den Aufgaben der anwaltlichen Betreuung gehört auch der Hinweis auf die Notwendigkeit der Freigabe eines Zusammenschlusses durch die Kommission und die möglichen Probleme im konkreten Fall. Dies führt durchaus dazu, dass von bestimmten Vorhaben Abstand genommen wird, auch wenn bei rein wirtschaftlicher Betrachtung aus Unternehmenssicht Synergieeffekte erwartet werden. Gleichwohl halten es manche Unternehmen für einfacher, eine Fusionsfreigabe von der Kommission als bspw vom Bundeskartellamt zu erhalten. Ausgangspunkt der Beurteilung eines Zusammenschlusses ist aus ökonomi- 181 scher Sicht die Frage, ob durch einen Zusammenschluss Marktmacht entsteht.432 Dabei wird Marktmacht als die Möglichkeit angesehen, den Preis oberhalb der Grenzkosten zu setzen.

_____ 427 Art 18 I FKVO, ABl 2004 L 24/1. 428 KOM, Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen, Begleitunterlage zum Bericht der Kommission über die Wettbewerbspolitik 2017, COM(2018) 482, S 24. 429 KOM, Deutsche Börse / London Stock Exchange Group, ABl 2017 C 240/7; KOM, HeidelbergCement / Schwenk / Cemex Hungary / Cemex Croatia, ABl 2017 C 440/14. 430 KOM, Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen, Begleitunterlage zum Bericht der Kommission über die Wettbewerbspolitik 2017, COM(2018) 482, S 25. 431 KOM, Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen, Begleitunterlage zum Bericht der Kommission über die Wettbewerbspolitik 2017, COM(2018) 482, S 24. 432 Als ökonomische Maßeinheit dafür kann der Lerner-Index herangezogen werden; I Schmidt/ Haucap S 100 f. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1180 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

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Der Beurteilungsmaßstab der Kommission, nämlich ob ein Zusammenschluss im Gemeinsamen Markt oder in einem wesentlichen Teil desselben zu einer erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs führt, insbesondere durch Begründung oder Verstärkung einer beherrschenden Stellung, ist in Art 2 III FKVO zu finden. Ist dies der Fall, muss die Kommission den Zusammenschluss für nicht vereinbar mit dem Gemeinsamen Markt erklären. Es handelt sich dabei um eine Prognoseentscheidung. Die wichtigste Form einer solchen Schädigung des Wettbewerbs ist die Begründung oder Verstärkung einer beherrschenden Stellung. Die beherrschende Stellung wird definiert als: „die wirtschaftliche Machtstellung eines oder mehrerer Unternehmen […], die diese in die Lage versetzt, die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs auf dem relevanten Markt zu verhindern, indem sie ihnen die Möglichkeit verschafft, sich ihren Konkurrenten, ihren Kunden und letztlich den Verbrauchern gegenüber in nennenswertem Umfang unabhängig zu verhalten.“433

183 Die Kriterien, welche die Kommission bei der Prüfung des Zusammenschlusses zu

berücksichtigen hat, werden in Art 2 I FKVO konkretisiert. Zum einen handelt es sich um „die Notwendigkeit, im Gemeinsamen Markt wirksamen Wettbewerb aufrechtzuerhalten und zu entwickeln, insbesondere im Hinblick auf die Struktur aller betroffenen Märkte und den tatsächlichen oder potentiellen Wettbewerb durch innerhalb oder außerhalb der Gemeinschaft ansässige Unternehmen.“434 Zum anderen sind dies auch „die Marktstellung sowie die wirtschaftliche 185 Macht und die Finanzkraft der beteiligten Unternehmen, die Wahlmöglichkeiten der Lieferanten und Abnehmer, ihren Zugang zu den Beschaffungs- und Absatzmärkten, rechtliche oder tatsächliche Marktzutrittsschranken, die Entwicklung des Angebots und der Nachfrage bei den jeweiligen Erzeugnissen und Dienstleistungen, die Interessen der Zwischen- und Endverbraucher sowie die Entwicklung des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts, sofern diese dem Verbraucher dient und den Wettbewerb nicht behindert.“435 Zuerst werden von der Kommission die von dem Zusammenschlussvorhaben 186 betroffenen sachlich und räumlich relevanten Märkte abgegrenzt. Anschließend unterzieht die Kommission den Zusammenschluss einer wettbewerblichen Würdigung.436 Durch die Marktabgrenzung versucht die Kommission systematisch zu ermitteln, welchem unmittelbaren Wettbewerbsdruck das fusionierte Unternehmen

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_____ 433 434 435 436

EuGH, Rs T-102/96 – Gencor / Kommission, Rn 200. Art 2 I lit a FKVO, ABl 2004 L 24/1. Art 2 I lit b FKVO, ABl 2004 L 24/1. LL horizontale Zusammenschlüsse, ABl 2004 C 31/5 (6). Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

III. Die Fusionskontrolle | 1181

ausgesetzt ist.437 Die Kommission berücksichtigt sowohl die wettbewerbswidrigen Folgen eines Zusammenschlusses als auch die relevanten Ausgleichsfaktoren wie zB die Nachfragemacht, die Höhe der Zutrittsschranken und mögliche von den Parteien vorgebrachte Effizienzvorteile.438 Bei ihrer Wettbewerbsanalyse legt die Kommission die gegenwärtigen Markt- 187 anteile zugrunde. Es können aber zu erwartende zukünftige Entwicklungen einbezogen werden,439 wie zB geplante Markteintritte von anderen Unternehmen,440 also potentieller Wettbewerb. Der Prognosezeitraum beträgt dabei in der Regel zwei bis fünf Jahre. Zusammenschlüsse kommen in unterschiedlicher Form mit jeweils anderen 188 Folgen für den Wettbewerb vor. Grundsätzlich werden horizontale, vertikale und konglomerate Zusammenschlüsse unterschieden, auf die unten jeweils noch ausführlicher eingegangen wird. Die Kommission hat, um ihre Entscheidungspraxis im Rahmen der Fusions- 189 kontrollverordnung transparenter zu machen, Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse und nicht-horizontaler Zusammenschlüsse herausgegeben. Insgesamt greift die Kommission bei der Prüfung von Zusammenschlussvorhaben neben den qualitativen empirischen Untersuchungen441 immer stärker auch auf quantitative empirische Untersuchungen zurück, die auf etablierten Wettbewerbsmodellen beruhen, was als „enhanced economic approach“, „more economic approach“ oder als „Ökonomisierung“ der europäischen Fusionskontrolle bezeichnet wird.442 Zu diesen quantitativ ökonometrischen Analysen gehören bspw Kundenwechselanalysen, Bieteranalysen, Simulationsmodelle443 und der UPP-Test.444 Bei der Entscheidung, welche Analysen in welchen Fällen einzusetzen sind, ist auf die Relevanz der Information, die Datenverfügbarkeit und das Kosten-Nutzen-Verhältnis abzustellen.

_____ 437 LL horizontale Zusammenschlüsse, ABl 2004 C 31/5 (6). 438 LL horizontale Zusammenschlüsse, ABl 2004 C 31/5 (6). 439 LL horizontale Zusammenschlüsse, ABl 2004 C 31/5 (6). 440 KOM, Varta / Bosch, ABl 1991 L 320/26 (32, Rn 50). 441 Dies umfasst zB Befragungen der Marktteilnehmer. Natürlich werden neben rein qualitativen Fragen auch immer quantitative Fragen zu Umsätzen, Kapazitäten etc gestellt, so dass der Übergang von qualitativen zu quantitativen Methoden als fließend anzusehen ist. 442 Vgl Hofer/Williams/Wu WuW 2005, 155 ff; Biro/Parker/Etten/Riechmann WuW 2004, 1267 ff; kritisch dazu Christiansen WuW 2005, 285 ff. 443 Diese wurden von der Kommission zB angewandt in den Fällen KOM, Honeywell / Novar, ABl 2005 C 104/20; KOM, Unilever / Sara Lee, ABl 2012 C 23/30; KOM, TomTom / Tele Atlas, ABl 2008 C 237/8; KOM, Lagardère / Natexis / VuP, ABl 2004 L 125/54. 444 Upward Pricing Pressure; zB im Fall KOM, Hutchinson 3G Austria / Orange Austria, ABl 2013 C 224/12; zum UPP vgl Zimmer WuW 2013, 928, 934 ff. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1182 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

a) Der SIEC-Test 190 Der SIEC-Test (significant impediment to effective competition) steht für die erheb-

liche Behinderung wirksamen Wettbewerbs. Im Vorfeld der Überarbeitung der Fusionskontrollverordnung, die zeitgleich mit der Kartellverfahrensverordnung am 1. Mai 2004 in Kraft trat, wurde diskutiert, ob eine Angleichung an den ua in den USA445 angewandten SLC-Test (substantial lessening of competition) in der europäischen Fusionskontrolle vorgenommen oder der bis dahin angewendete Marktbeherrschungstest446 beibehalten werden solle.447 Befürworter des SLC-Tests hatten ua auf die Vorteile weltweit einheitlicher Bewertungsmaßstäbe448 hingewiesen.449 Letztendlich wurde mit dem SIEC-Test ein Mittelweg eingeschlagen und der Marktbeherrschungstest wurde als Regelbeispiel übernommen. Die Notwendigkeit der Einführung eines neuen Beurteilungsmaßstabes in 191 der europäischen Fusionskontrolle wurde von der Kommission gesehen, nachdem im Jahr 2002 drei Untersagungsentscheidungen der Kommission in den Fällen Airtours,450 Schneider/ Electric451 und Tetra Laval/Sidel452 vom Gericht aufgehoben worden waren. Durch den Maßstab der erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs wird 192 die Untersagung von Fällen, die zu keiner Entstehung oder Verstärkung einer

_____ 445 Der SLC-Test wird auch in Kanada, Australien, Neuseeland, Irland und Großbritannien angewandt. 446 Nach der FKVO vom 21. Dezember 1989 war ein Zusammenschluss zu untersagen, wenn durch diesen eine marktbeherrschende Stellung begründet oder verstärkt wurde. 447 Vgl dazu Alfter WuW 2003, 20 ff; Burgstaller WuW 2003, 726 ff; BKartA, Das Untersagungskriterium in der Fusionskontrolle – Marktbeherrschung versus Substantial Lessenig of Competition?, Diskussionspapier für die Sitzung des Arbeitskreises Kartellrecht am 8. und 9. Oktober 2001; Position des Bundeskartellamtes zum Grünbuch der Kommission zur Revision der Verordnung Nr 4064/89 des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, S 17 ff; Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen der Kommission, KOM(2002) 711, S 11 ff; Voigt/Schmidt WuW 2003, 897 ff; Hirsbrunner EuZW 2002, 459 f. 448 Der SLC-Test untersucht, ob eine Fusion zur wesentlichen Reduzierung des Wettbewerbs führt, während der Marktbeherrschungstest prüft, ob ein Zusammenschluss zur Begründung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung führt. Der Marktbeherrschungstest ist ein Ex-postTest und der SLC-Test ein Ex-ante-Test. 449 Unterschiedliche Beurteilung der Zusammenschlüsse gab es zB im Fall KOM, General Electric / Honeywell, ABl 2004 L 48/1. Die Europäische Kommission untersagte den Zusammenschluss. Im Gegensatz dazu gab das US-Department of Justice den Zusammenschluss unter geringfügigen Zusagen der beteiligten Unternehmen frei. Das US-Department of Justice kritisierte an der Entscheidung der Kommission, dass diese die Effizienzgewinne des Zusammenschlusses nicht berücksichtigt habe; vgl dazu Hirsbrunner EuZW 2002, 453. 450 EuG, Rs T-342/99 – Airtours / Kommission. 451 EuG, Rs T-310/01 – Schneider Electric / Kommission. 452 EuG, verb Rs T-5/02 und T-80/02 – Tetra Laval / Kommission. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

III. Die Fusionskontrolle | 1183

marktbeherrschenden Stellung führen, ermöglicht. Insbesondere zwei Konstellationen sind dabei hervorzuheben: Die erste Konstellation betrifft Fälle einer erheblichen Behinderung wirksa- 193 men Wettbewerbs durch ein Oligopol. In Erwägungsgrund 25 der FKVO wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese Konstellation erfasst werden soll, nachdem die Rechtsprechung der Praxis der Kommission, die VO 4064/89 (FKVO-alt) auch auf Zusammenschlüsse, die eine marktbeherrschende Stellung oder eine Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung durch ein Oligopol begründen,453 anzuwenden, nicht ausreichend gefolgt ist.454 Bei einem klassischen Oligopol beruht der fehlende Wettbewerb zwischen den Mitgliedern des Oligopols nicht auf Vereinbarungen (explizite Kollusion), sondern auf der so genannten impliziten Kollusion.455 Dazu müssen folgende Voraussetzungen kumulativ vorliegen: – Transparenz: In der beherrschenden Gruppe muss jeder das Verhalten des anderen erkennen können.456 – Gruppenzwang: Jedes Mitglied muss einen Anreiz haben, einheitliches Verhalten an die Stelle von Wettbewerb zu setzen.457 Es muss Abschreckungsmittel458 geben, durch die jedes Mitglied von Alleingängen abgehalten wird. – Unangreifbarkeit: Wettbewerber oder Verbraucher dürfen keine Möglichkeit haben, dem einheitlichen Verhalten entgegenzuwirken.459 Durch eine Fusion kann ein Oligopol auf einem Markt entstehen oder ein bestehendes Oligopol durch den Wegfall eines Wettbewerbers zusätzlich verengt werden. Zu prüfen ist jeweils, ob Preiseffekte im Sinne von Preissteigerungen und 194 Anreize zur Mengenreduktion aufgrund einer Fusion zu erwarten sind. Unproblematisch ist es, wenn die Wettbewerber der Zusammenschlussbeteiligten über ausreichende freie und kostengünstige Kapazitäten verfügen, welche mögliche Men-

_____ 453 Die kollektive Marktbeherrschung durch ein Oligopol ist gegeben, wenn sich mehrere Unternehmen in ihrer Gesamtheit wie ein einziger marktbeherrschender Anbieter verhalten können. Entscheidend ist, dass zwischen den Oligopolunternehmen im Innenverhältnis kein Wettbewerb herrscht und das Oligopol insgesamt im Verhältnis zu den übrigen Wettbewerbern (Außenverhältnis) marktbeherrschend ist; vgl LL horizontale Zusammenschlüsse, ABl 2004 C 31/5; Burgstaller WuW 2003, 732. 454 Dem Marktbeherrschungstest wurden für diese Fälle Lücken und Mängel vorgeworfen, während der SLC-Test diese Konstellationen abdeckt; vgl Böge WuW2004, 143; Käseberg WuW 2005, 1003. 455 Burgstaller WuW 2003, 733; Biro/Parker/Etten/Riechmann WuW 2004, 1267. 456 EuG, Rs T-342/99 – Airtours / Kommission, Rn 62. 457 EuG, Rs T-342/99 – Airtours / Kommission, Rn 62; Biro/Parker/Etten/Riechmann WuW 2004, 1268. 458 EuG, Rs T-342/99 – Airtours / Kommission, Rn 193–195; Biro/Parker/Etten/Riechmann WuW 2004, 1268. 459 EuG, Rs T-342/99 – Airtours / Kommission, Rn 62. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1184 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

genreduktion der Zusammenschlussbeteiligten ausgleichen. Anders sieht es aus, wenn dies nicht der Fall ist. Ergibt die Analyse, dass nach einer Fusion der nicht marktbeherrschenden Nr 1 im Markt mit der Nr 4 im Markt die Wettbewerber über kaum freie Kapazitäten oder nur Kapazitäten minderer Qualität verfügen, ist von einer Mengenreduktion der Zusammenschlussbeteiligten nach der Fusion auszugehen, die zu Preiseffekten im Gesamtmarkt führt.460 Der SIEC-Test soll sog Gap-Fälle461 erfassen, wie eine 3-zu-2-Fusion ohne Betei195 ligung des Marktbeherrschers. Problematisch ist ein solcher Zusammenschluss insbesondere, wenn dadurch ein „Maverick“ entfällt. Als „Maverick“ wird ein Wettbewerber bezeichnet, der in der Vergangenheit mehrfach durch Wettbewerbsvorstöße, zB durch niedrige Preise, aufgefallen ist. Wird dieser „Maverick“ übernommen, entfällt der von ihm ausgehende Wettbewerbsdruck, auch wenn die neu entstehende Einheit über keine marktbeherrschende Stellung verfügt. Die zweite Konstellation (vgl Rn 192) betrifft die Beurteilung von Zusammen196 schlüssen anhand des Konzepts der wettbewerblichen Nähe (closest competitor). Dieses wird ebenfalls bei Oligopolmärkten angewandt, aber insbesondere auch, um die Auswirkungen eines Zusammenschlusses auf Anbieter von differenzierten Produkten festzustellen. Dies können bspw Konsumgüter sein, die sich bezüglich der Produkteigenschaften unterscheiden. Bei einer engen Marktabgrenzung würden diese Anbieter unter Umständen nicht zum gleichen relevanten Markt gezählt werden, sondern als potentieller Wettbewerb betrachtet werden. Bei einer sehr weiten Marktabgrenzung könnte eine solche Fusion auf den ersten Blick hingegen unproblematisch erscheinen. Bei dem Konzept der wettbewerblichen Nähe wird losgelöst von der klassischen Marktabgrenzung geprüft, ob der Zusammenschluss zum Wegfall der Rivalität als Antriebsmotor des Wettbewerbs führt. Dabei müssen verschiedene Schadenstheorien bezüglich der Auswirkungen des Zusammenschlusses geprüft werden. Die wettbewerbliche Nähe kann zB durch Kundenwechselanalysen ermittelt werden. Bei Ausschreibungsmärkten können Bieteranalysen durchgeführt werden.462 Ergibt die Auswertung der Ausschreibungsdaten der Vergangenheit, dass die zwei besten Angebote in vielen Fällen von den Zusammenschlussbeteiligten stammen, führt die Fusion zum Wegfall dieses Wettbewerbs.463

_____ 460 KOM, Outokumpu / Inoxum, ABl 2013 C 312/11. 461 Mit Gap-Fällen sind Konstellationen gemeint, welche von dem reinen Marktbeherrschungstest nicht ausreichend erfasst werden konnten. Diese vermeintlichen „Lücken“ sollen nun vom SIECTest vollumfänglich erfasst werden. 462 Langen/Bunte/BardongArt 2 FKVO Rn 150. 463 KOM, UTC / Goodrich, ABl 2012 C 96/1. Unproblematisch sind hingegen Konstellationen, bei denen sich die Zusammenschlussbeteiligten nur bei wenigen Ausschreibungen begegnen und das zweitbeste Angebot immer von einem unbeteiligten Dritten stammt; vgl KOM, Syniverse / BSG, ABl 2008 C 101/25; KOM, Western Digital Ireland / Viviti Technologies, ABl 2013 C 241/11. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

III. Die Fusionskontrolle | 1185

In letzter Zeit prüft die Kommission – neben den Auswirkungen eines Zusam- 197 menschlusses auf Preise, Qualität und Auswahl – verstärkt auch, ob ein Zusammenschlussvorhaben geeignet ist, die Innovationstätigkeit464 erheblich zu behindern,465 wie zB in den sog Agrochemie-Fällen.466 Dabei bezieht sich der Innovationswettbewerb nicht nur auf die jeweils sachlich relevanten Märkte, sondern ist auch als übergeordnete Kategorie zu verstehen. Ansatzpunkt für die Beurteilung der Kommission sind die vorhandenen F&E-Kapazitäten und die Auswirkungen des jeweiligen Zusammenschlusses auf diese.467

b) Horizontale Fusionen Zusammenschlüsse von Unternehmen auf dem gleichen Markt werden als hori- 198 zontale Zusammenschlüsse bezeichnet. Durch einen solchen Zusammenschluss verändern sich die Marktverhältnisse unmittelbar, da die Marktanteile des einen Unternehmens künftig dem anderen Unternehmen zuzurechnen sind. Deshalb geht die größte Gefahr für den Wettbewerb auf einem Markt von solchen horizontalen Zusammenschlüssen aus, weil der Wettbewerb durch den Zusammenschluss der miteinander im Wettbewerb stehenden Unternehmen verringert wird. In der Regel geht die Kommission davon aus, dass der gemeinsame Marktanteil 199 der Beteiligten die Summe ihrer Marktanteile vor dem Zusammenschluss ist.468 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Gerichts können sehr hohe Marktanteile von 50% oder mehr für sich allein ein Nachweis für das Vorhandensein einer marktbeherrschenden Stellung sein.469 Auch wenn der Marktanteil der an dem Zusammenschluss Beteiligten unter 50% liegt, können Wettbewerbsbedenken aufgrund anderer Faktoren wie zB die Stärke und Anzahl der Wettbewerber, das Vorhandensein von Kapazitätsengpässen oder das Ausmaß, in dem die Produkte der Unternehmen nahe Substitute sind, bestehen.470 Die Kommission sieht einen Marktanteil der beteiligten Unternehmen von nicht mehr als 25% als Anhaltspunkt dafür,

_____ 464 Die Innovationstätigkeit bezieht sich auf die Investitionen der Unternehmen in Forschung und Entwicklung. 465 KOM, Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen, Begleitunterlage zum Bericht der Kommission über die Wettbewerbspolitik 2017, COM(2018) 482, S 25 f. 466 KOM, Bayer / Monsanto, M.8084; KOM, Dow / DuPont, M.7932; KOM, ChemChina / Syngenta, ABl 2017 C 186/8. 467 Vgl Wirtz/Schulz NZKart 2019, 20 ff. 468 LL horizontale Zusammenschlüsse, ABl 2004 C 31/5; Langen/Bunte/Bardong Art 2 FKVO Rn 159 f. 469 EuGH, Rs 85/76 – Hoffmann-La-Roche / Kommission, Rn 41; Rs C-62/86 – Akzo, Rn 60; EuG, Rs T-221/95 – Endemol / Kommission, Rn 134; Rs T-102/96 – Gencor / Kommission, Rn 205; Rs T-30/89 – Hilti, Rn 91 f. 470 LL horizontale Zusammenschlüsse, ABl 2004 C 31/5 (7). Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1186 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

dass der Zusammenschluss nicht zur erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs führt.471 Die Marktanteile werden in Beziehung zu den voraussichtlichen Marktbe200 dingungen gesetzt.472 So wird untersucht, ob es sich um einen dynamischen Markt oder einen Markt mit festgefahrenen Strukturen handelt. Auch der Konzentrationsgrad eines Marktes gibt Auskunft über die vorliegende Wettbewerbssituation.473 Die Kommission ist der Ansicht, dass horizontale Zusammenschlüsse den wirk201 samen Wettbewerb sowohl durch nicht koordinierte als auch durch koordinierte Wirkungen erheblich behindern können. Es muss ein Vergleich der zu erwartenden Entwicklung mit und ohne Fusion vorgenommen werden. Die nicht koordinierte Wirkung474 ist der Verlust des Wettbewerbs zwischen 202 den fusionierenden Unternehmen und somit deren erhöhte Marktmacht.475 Zu den Faktoren, die für diese Vermutung sprechen, gehören: – hohe Marktanteile der fusionierenden Unternehmen; – die fusionierenden Unternehmen sind nahe Wettbewerber; – nur begrenzte Möglichkeiten der Abnehmer, auf andere Anbieter auszuweichen; – die Erhöhung des Angebots durch die Wettbewerber bei Preiserhöhungen ist unwahrscheinlich; – die Fähigkeit des fusionierten Unternehmens, die Wettbewerber am Wachstum zu hindern.476

_____ 471 LL horizontale Zusammenschlüsse, ABl 2004 C 31/5 (7); Langen/Bunte/Bardong Art 2 FKVO Rn 156 ff. 472 LL horizontale Zusammenschlüsse, ABl 2004 C 31/5 (6). 473 Der Konzentrationsgrad eines Marktes wird mit dem Herfindahl-Hirschmann-Index (HHI) ermittelt. Der HHI wird durch die Summe des Quadrats der jeweiligen Marktanteile sämtlicher Unternehmen in einem Markt errechnet. Der Index gewichtet Unternehmen mit größeren Marktanteilen dadurch stärker. Die absolute Höhe des HHI liefert eine Aussage über den Wettbewerbsdruck in dem betreffenden Markt nach dem Zusammenschluss, während die Veränderung im Index (vor und nach dem Zusammenschluss), der sog Delta-Wert, Hinweise über die durch den Zusammenschluss unmittelbar herbeigeführten Änderungen in der Konzentration gibt. Für die Kommission stellen sich in der Regel keine horizontalen Wettbewerbsbedenken in einem Markt, dessen HHI nach dem Zusammenschluss unterhalb von 1000 liegt. Je höher der HHI-Wert, desto geringer muss der DeltaWert sein, damit keine Bedenken bestehen, zB liegt der HHI nach dem Zusammenschluss zwischen 1000 und 2000 und der Delta-Wert unter 150. Allerdings kann der Konzentrationsgrad nur als Hinweis für fehlende Wettbewerbsbedenken dienen und begründet für sich allein keine Vermutung für das Vorhandensein oder die Abwesenheit solcher Bedenken; vgl dazu LL horizontale Zusammenschlüsse, ABl 2004 C 31/5 (6). 474 In der Ökonomie werden diese auch als unilaterale Effekte bezeichnet. Durch die neue Situation am Markt müssen die Anbieter ein neues Markt-Gleichgewicht finden. 475 LL horizontale Zusammenschlüsse, ABl 2004 C 31/5 (7); vgl Hofer/Williams/Wu WuW 2005, 155 (157 f); Biro/Parker/Etten/Riechmann WuW 2004, 1267 ff. 476 LL horizontale Zusammenschlüsse, ABl 2004 C 31/5 (8). Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

III. Die Fusionskontrolle | 1187

Die koordinierten Wirkungen betreffen die Oligopolsituationen, die bereits beim SIEC-Test erläutert wurden.

c) Vertikale Fusionen Bei vertikalen Zusammenschlüssen findet ein Zusammenschluss mit Unternehmen 203 der vor- oder nachgelagerten Wirtschaftsstufe statt.477 In diesen Fällen ist die Beurteilung der Auswirkungen des Zusammenschlusses auf den Wettbewerb schwieriger. So kann ein Unternehmen seine Bezugsmöglichkeiten verbessern, indem es sich mit Lieferanten zusammenschließt (Rückwärtsintegration), oder seine Absatzmöglichkeiten durch eine Vorwärtsintegration mit Unternehmen der Vertriebsstufe sichern. Die Kommission muss basierend auf einer Marktanalyse prüfen, welche Auswirkungen der Zusammenschluss auf die betroffenen Märkte hat. Auch bei nicht-horizontalen Fusionen, vertikal und konglomerat, geht die Kommission davon aus, dass wirksamer Wettbewerb hauptsächlich durch nicht koordinierte und koordinierte Wirkungen erheblich behindert werden kann.478 Bei nichthorizontalen Fusionen, bei denen die neue Einheit nach der Fusion in jedem der betroffenen Märkte Marktanteile unter 30% hat und der HH-Index479 unterhalb von 2000 liegt, hat die Kommission in der Regel keine Wettbewerbsbedenken.480 Kritisch betrachtet die Kommission Abschottungseffekte vertikaler Fusionen, wenn dadurch der Zugang tatsächlicher oder potentieller Wettbewerber zu Produktionsmitteln oder Märkten behindert oder unmöglich gemacht und dadurch die Konkurrenzfähigkeit dieser Unternehmen eingeschränkt wird.481 Diese gehören zu den nicht koordinierten Wirkungen.482 Eine derartige Abschottung wird als wettbewerbswidrig angesehen, wenn sie die fusionierenden Unternehmen in die Lage versetzt, gegenüber den Verbrauchern die Preise zu erhöhen.483 Die Kommission unterscheidet die Abschottung von den Einsatzmitteln („input foreclosure“) und die Abschottung von den

_____ 477 LL nichthorizontale Zusammenschlüsse, ABl 2008 C 265/6, Rn 4; Satzky WuW 2006, 872. 478 LL nichthorizontaler Zusammenschlüsse, Rn 17. Denzel/Hermann WuW 2007, 567. 479 Der HHI wird durch die Summe des Quadrats der jeweiligen Marktanteile sämtlicher Unternehmen in einem Markt errechnet. Der Index gewichtet Unternehmen mit größeren Marktanteilen dadurch stärker. Die absolute Höhe des HHI liefert eine Aussage über den Wettbewerbsdruck in dem betreffenden Markt; vgl LL horizontale Zusammenschlüsse, ABl 2004 C 31/5 (6). 480 LL nichthorizontaler Zusammenschlüsse, ABl 2008 C 265/6, Rn 25; vgl Denzel/Hermann WuW 2007, 568 (577). 481 LL nichthorizontale Zusammenschlüsse, ABl 2008 C 265/6, Rn 29; Satzky WuW 2006, 872; von Bonin WuW 2006, 468. Vgl zB KOM, Google / Motorola Mobility, ABl 2012 C 75/1 (Volltext des Beschlusses recherchierbar unter: http://ec.europa.eu/competition/index_en.html). 482 LL nichthorizontale Zusammenschlüsse, ABl 2008 C 265/6, Rn 18; Denzel/Hermann WuW 2007, 567. 483 LL nichthorizontale Zusammenschlüsse, ABl 2008 C 265/6, Rn 29. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1188 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

Kunden („customer foreclosure“).484 Die Abschottung von Einsatzmitteln liegt vor, wenn die Fusion bewirkt, dass die Kosten der nachgeordneten Wettbewerber erhöht werden, indem ihr Zugang zu wichtigen Einsatzmitteln beschränkt wird.485 Die Abschottung von den Kunden besteht darin, dass die Fusion geeignet ist, die vorgelagerten Wettbewerber durch die Beschränkung des Zugangs zu einem ausreichenden Kundenstamm abzuschotten.486 Bei der Ermittlung der Wahrscheinlichkeit einer wettbewerbswidrigen Abschottung untersucht die Kommission, ob das fusionierte Unternehmen erstens die Möglichkeit der Abschottung hätte, ob es zweitens einen Anreiz dazu hätte und drittens, ob eine Abschottungsstrategie spürbare nachteilige Auswirkungen auf den nachgeordneten Wettbewerb hätte.487 Die koordinierten Wirkungen können bei Änderungen der Wettbewerbsstruktur auftreten und haben die gleichen Folgen wie koordinierte Wirkungen bei horizontalen Zusammenschlüssen.488 Die koordinierten Wirkungen führen meist dazu, dass die Preise oberhalb der Höhe gehalten werden, die sich bei ungehindertem Wettbewerb ergeben würde.489 Weiterhin können die koordinierten Wirkungen auf eine Beschränkung der Produktion oder eine Aufteilung der Märkte nach räumlichen Gebieten oder Kundenmerkmalen abzielen.490 Vertikale Zusammenschlüsse sind problematisch, wenn es um sog bottle-neck-Situationen und um die Verknüpfung verschiedener marktmächtiger Stellungen geht.491 Solche Konstellationen sind häufig im Medien-492 und IT-Bereich und im Bereich leitungsgebundener Energien anzutreffen.493

d) Konglomerate Fusionen 204 Bei konglomeraten Fusionen fällt kein Wettbewerber weg, weshalb sich die Marktanteile auf den einzelnen Märkten zunächst nicht verändern.494 Als konglomerate Zusammenschlüsse gelten solche Fusionen, bei denen zwischen den Zusam-

_____ 484 LL nichthorizontale Zusammenschlüsse, ABl 2008 C 265/6, Rn 30; vgl Denzel/Hermann WuW 2007, 569. 485 LL nichthorizontale Zusammenschlüsse, ABl 2008 C 265/6, Rn 30. 486 LL nichthorizontale Zusammenschlüsse, ABl 2008 C 265/6, Rn 30. 487 LL nichthorizontale Zusammenschlüsse, ABl 2008 C 265/6, Rn 32; vgl Denzel/Hermann WuW 2007, 569 ff. 488 LL nichthorizontale Zusammenschlüsse, ABl 2008 C 265/6, Rn 19. 489 Alfter WuW 2003, 21 f. 490 LL horizontale Zusammenschlüsse, ABl 2004 C 31/5 (9). 491 Langen/Bunte/Bardong Art 2 FKVO Rn 322. 492 Jungheim Medienordnung S 294 ff. 493 Langen/Bunte/Bardong Art 2 FKVO Rn 322. 494 BKartA, Konglomerate Zusammenschlüsse in der Fusionskontrolle, 2006, S 1; Nothhelfer EuZW 2007, 332. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

III. Die Fusionskontrolle | 1189

menschlussbeteiligten keine horizontalen Überlappungen oder Vertikalverhältnisse in den sachlich relevanten Märkten bestehen.495 Zwischen den Produkten der sich zusammenschließenden Unternehmen können jedoch Komplementär- oder Substitutionsbeziehungen vorliegen.496 Die Wirkung konglomerater Zusammenschlüsse reicht von der bloßen Verstärkung finanzieller Ressourcen über Markterweiterungsfusionen497 bis zum so genannten „Leveraging“ durch Paketangebote.498 Sind bei konglomeraten Zusammenschlüssen benachbarte Märkte betroffen, 205 ist zu prüfen, ob durch das Vorhaben potentieller Wettbewerb entfällt.499 Dies kann zB der Fall sein, wenn die Zusammenschlussbeteiligten das gleiche Produkt auf benachbarten räumlichen Märkten500 anbieten oder wenn der gleiche räumliche Markt betroffen ist und die betroffenen Produkte zwar nicht zum gleichen sachlich relevanten Markt zählen, aber nahe Substitute501 darstellen. Marktdiversifikationszusammenschlüsse, die sogenannten „Pure Conglomerates“,502 bei welchen nur die Ressourcen vergrößert und die Finanzkraft der beteiligten Unternehmen erhöht werden, werden von der Kommission als die unbedenklichste Form der Konglomeratfusion eingestuft.503 Die Hauptbedenken der Kommission bei konglomeraten Fusionen betreffen die Abschottung.504 Durch die Zusammenführung von Produkten in verwandten Märkten505 erlangt die fusionierte Einheit die Fähigkeit und den Anreiz, unter Ausnutzung ihrer starken Marktstellung in einem Markt durch Binden

_____ 495 LL nichthorizontale Zusammenschlüsse, ABl 2008 C 265/6, Rn 5; BKartA, Konglomerate Zusammenschlüsse in der Fusionskontrolle, S 2; Nothhelfer EuZW 2007, 332. 496 BKartA, Konglomerate Zusammenschlüsse in der Fusionskontrolle, S 2; LL nichthorizontale Zusammenschlüsse, ABl 2008 C 265/6, Rn 91. 497 I Schmidt/HaucapS 183 f.; Satzky WuW 2006, 872. 498 von Bonin WuW 2006, 470. 499 Nothhelfer EuZW 2007, 333. 500 Sog Markterweiterungszusammenschlüsse, vgl I Schmidt/HaucapS 183 f.; Satzky WuW 2006, 872. 501 Sog Produkterweiterungszusammenschlüsse, vgl I Schmidt/Haucap S 183 f; Satzky WuW 2006, 872. 502 I Schmidt/Haucap S 385; Satzky WuW 2006, 872. 503 Nothhelfer EuZW 2007, 333. 504 LL nichthorizontale Zusammenschlüsse, ABl 2008 C 265/6, Rn 93. 505 Vgl KOM, Tetra Laval / Sidel, ABl 2004 L 43/13.Die Kommission nahm in diesem Fall an, dass Tetra die bestehende marktbeherrschende Stellung auf dem Markt für Kartonverpackungen als Hebel für einen Ausbau der bereits führenden Position Sidels im Bereich der PET-Verpackungssysteme, insbesondere bei Streckblasmaschinen, zu einer beherrschenden Stellung nutzen könnte. Ein „Leveraging“ hielt die Kommission für möglich, da Tetra ein unausweichlicher Lieferant der Industrie sei und die Kunden für beide Systeme (PET und Kartonverpackung) größtenteils identisch, und Wettbewerber nicht in der Lage seien, eine etwaige Hebelwirkung wirksam zu beantworten. Es würden auch entsprechende Anreize für Tetra/Sidel bestehen, da nicht nur die Position von Sidel ausgebaut, sondern auch etwaige Verluste für Tetra durch einen Wechsel von Karton zu PET aufgefangen werden könnten. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1190 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

(„Tying“) oder Koppeln („Bundling“) oder andere ausschließende Praktiken eine Hebelwirkung („Leveraging“) in einem anderen Markt auszuüben.506 Die Kommission führt in ihren Leitlinien zu nichthorizontalen Zusammenschlüssen aus, dass Bindung507 und Kopplung508 weit verbreitete Praktiken seien, die sich häufig nicht nachteilig auf den Wettbewerb auswirken würden.509 Unter bestimmten Umständen könne Binden und Koppeln jedoch die Wettbewerbsfähigkeit oder den Wettbewerbsanreiz für bestehende oder potentielle Wettbewerber schwächen, wodurch sich der Wettbewerbsdruck auf die fusionierte Einheit mindern könne, was ihr Preiserhöhungen ermöglichen könne.510 Zur Ermittlung der Wahrscheinlichkeit eines solchen Szenarios untersucht die Kommission, ob die fusionierte Einheit die Fähigkeit hätte, ihre Wettbewerber abzuschotten, ob sie hierfür einen wirtschaftlichen Anreiz hätte und ob eine Abschottungsstrategie spürbare schädigende Auswirkungen auf den Wettbewerb hätte und damit den Verbrauchern Schaden zufügen würde.511 In ihren Leitlinien legt die Kommission dar, dass der Anreiz von Kunden, die Palette der betreffenden Produkte bei ein- und demselben Anbieter zu beziehen und dadurch Transaktionskosten einzusparen, sowie die Tatsache, dass die fusionierte Einheit eine breites Produktportfolio anbiete, als solches nicht zu Wettbewerbsbedenken führe.512 Kopplungsstrategien können eingesetzt werden, um Markteintrittsbarrieren aufzubauen oder zu erhöhen, zB gegenüber Unternehmen, welche nur mit einem Produkt in den Markt eintreten wollen.513 Die Bündelungspraktiken können auch genutzt werden, um bestehende Wettbewerber vom Markt zu verdrängen.514

_____ 506 LL nichthorizontale Zusammenschlüsse, ABl 2008 C 265/6, Rn 93; vgl Denzel/Hermann WuW 2007, 572; Nothhelfer EuZW 2007, 333. 507 Bei der Kopplung kann zwischen der reinen und der gemischten Kopplung unterschieden werden. Im Falle der reinen Kopplung werden die Produkte ausschließlich gemeinsam in einem festgelegten Verhältnis zueinander verkauft. Im Falle der gemischten Kopplung werden die Produkte auch getrennt voneinander angeboten, aber die Summe der Einzelpreise ist höher als der Paketpreis; vgl LL nichthorizontale Zusammenschlüsse, ABl 2008 C 265/6, Rn 96; Nothhelfer EuZW 2007, 333. 508 „Bindung“ bezieht sich in der Regel auf Fälle, in denen der Lieferant den Kauf eines Produkts (des bindenden Produkts) nur unter der Bedingung durchführt, dass ein anderes, unterschiedliches Produkt (das gebundene Produkt) ebenfalls beim Lieferanten oder bei einem von ihm bestimmten Unternehmen gekauft wird. Vgl LL nichthorizontale Zusammenschlüsse, ABl 2008 C 265/6, Rn 24. 509 LL nichthorizontale Zusammenschlüsse, ABl 2008 C 265/6, Rn 93. 510 LL nichthorizontale Zusammenschlüsse, ABl 2008 C 265/6, Rn 93. 511 LL nichthorizontale Zusammenschlüsse, ABl 2008 C 265/6, Rn 94; vgl Denzel/Hermann WuW 2007, 572; Nothhelfer EuZW 2007, 336. 512 LL nichthorizontale Zusammenschlüsse, ABl 2008 C 265/6, Rn 104; Denzel/Hermann, WuW 2007, 573. 513 Nothhelfer EuZW 2007, 334. 514 Nothhelfer EuZW 2007, 334. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

III. Die Fusionskontrolle | 1191

In dem Urteil im Fall Tetra Laval stellte das Gericht515 hohe Anforderungen an 206 die Prüfung der Wirkungen konglomerater Zusammenschlüsse durch die Kommission.516 So müsse die Untersagung auf einer fundierten ökonomischen Analyse basieren und es sei im Rahmen der fusionskontrollrechtlichen Prüfung nachzuweisen, dass ein wettbewerbswidriges Verhalten unter Berücksichtigung des Missbrauchsverbots sowie aller ökonomischen Anreize wahrscheinlich ist und tatsächlich zu einer Beeinträchtigung des Wettbewerbs führen wird.517 Der Kommission wurde also aufgegeben, das Abschreckungspotenzial der Ex-post-Kontrolle durch die europäischen Wettbewerbsregeln in Rechnung zu stellen, wenn die Gefahr eines Zusammenschlusses erst von den Verhaltensweisen der Unternehmen nach der Fusion ausgeht und nicht von Änderungen der Marktstruktur.518 Die strengen Maßstäbe des Gerichts hat der Gerichtshof nicht übernommen. Es würde dem Präventionszweck der FKVO zuwiderlaufen, wenn von der Kommission verlangt würde, bei jedem geplanten Zusammenschluss zu prüfen, in welchem Umfang die Anreize für wettbewerbswidrige Verhaltensweisen aufgrund der Rechtswidrigkeit der fraglichen Verhaltensweisen, der Wahrscheinlichkeit ihrer Entdeckung, ihrer Verfolgung durch die zuständigen Behörden und möglicher finanzieller Sanktionen verringert oder sogar beseitigt würden, führt der Gerichtshof aus.519 Folglich wäre im Stadium der Beurteilung des geplanten Zusammenschlusses eine Analyse, welche darauf abziele, die wahrscheinliche Existenz einer Zuwiderhandlung gegen Art 102 AEUV zu belegen und sich zu vergewissern, dass sie in mehreren Rechtsordnungen mit einer Sanktion belegt würde, zu spekulativ und würde es der Kommission nicht erlauben, ihre Beurteilung auf alle relevanten Tatsachen zu stützen, um zu prüfen, ob sich die Schilderung eines Szenarios wie beispielsweise der Ausübung einer Hebelwirkung erhärte.520

e) Sanierungsfusionen Die Sanierungsfusion („failing company defense“) stellt einen Sonderfall dar, der 207 nicht explizit in der FKVO geregelt ist. Auch ein an sich problematisches Zusammenschlussvorhaben kann von der Kommission für vereinbar mit dem Gemeinsa-

_____ 515 Vgl Feddersen WuW 2003, 18 ff. 516 von Bonin WuW 2006, 476; Satzky WuW 2006, 877; vgl Frenz WuW 2007, 138 ff; Frenz legt anhand des Impala-Urteils des EuG vom 13.7.2006 dar, dass diese hohen Anforderungen an die Kommission auch bei der Freigabe eines Zusammenschlusses gelten, so dass nun Waffengleichheit zwischen den Antragstellern und der Konkurrenz hergestellt sei. 517 Feddersen WuW 2003, 18 ff; von Bonin WuW 2006, 475 f; Satzky WuW 2006, 877; Nothhelfer EuZW 2007, 335. 518 Nothhelfer EuZW 2007, 334. 519 EuGH, Rs C-12/03 P – Tetra Laval, Rn 75. 520 EuGH, Rs C-12/03 P – Tetra Laval, Rn 77. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1192 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

men Markt erklärt werden, wenn eines der beteiligten Unternehmen ohne den Zusammenschluss aus dem Markt ausscheiden würde. Entscheidend ist, dass sich die Wettbewerbsstruktur des Marktes ohne den Zusammenschluss zumindest im gleichen Maße verschlechtern würde.521 Somit ist die Fusion nicht kausal für die Verschlechterung der Marktverhältnisse. Diese fehlende Kausalität muss von den Zusammenschlussbeteiligten nachgewiesen werden.522 Weitere Voraussetzungen sind: 208 – Das sanierungsbedürftige Unternehmen wäre aufgrund seiner finanziellen Schwierigkeiten gezwungen, in naher Zukunft aus dem Markt auszuscheiden, falls es nicht durch ein anderes Unternehmen übernommen würde;523 – zu dem angemeldeten Zusammenschluss gibt es keine weniger wettbewerbsschädliche Verkaufsalternative;524 – die Vermögenswerte des gescheiterten Unternehmens würden ohne den Zusammenschluss zwangsläufig vom Markt genommen werden.525 209 Im Fall Kali+Salz526 wurde dies bejaht, weil der Marktanteil des sanierungsbedürfti-

gen Unternehmens auch ohne den Zusammenschluss dem erwerbenden Unternehmen zugefallen wäre. Auf dem deutschen Markt waren nur diese beiden Anbieter vorhanden. Im Jahr 2013 hat die Kommission sogar eine „failing division defense“ im Fall Nynas/Shell/Harburg Refinery527 freigegeben, obwohl es auf den betroffenen EWR-weiten Märkten zu Marktanteilen von teils über 70% in bereits hoch konzentrierten Märkten kam. Dabei wäre nur ein Unternehmensteil, nämlich eine Raffinerie, und nicht das gesamte Unternehmen aus dem Markt ausgeschieden.

f) Berücksichtigung von Effizienzen 210 Die Kommission soll bei der Beurteilung der Auswirkungen von Zusammenschlüs-

sen auch begründete und wahrscheinliche Effizienzvorteile berücksichtigen, welche von den beteiligten Unternehmen dargelegt werden.528 Es wird davon ausgegangen, dass solche Effizienzvorteile die Auswirkungen des Zusammenschlusses auf den Wettbewerb, insbesondere den möglichen Schaden für die Verbraucher, ausgleichen können. Wenn dies der Fall ist, wird durch den betreffenden Zusam-

_____ 521 EuGH, verb Rs C-68/94 und C-30/95 – Kali+Salz, Rn 114; KOM, BASF / Pantochim / Eurodiol, ABl 2002 L 132/45, Rn 157–160. 522 Vgl LL horizontale Zusammenschlüsse, ABl 2004 C 31/5 (14). 523 Mestmäcker/Schweitzer Kap 6 § 36 Rn 200. 524 Mestmäcker/Schweitzer Kap 6 § 36 Rn 200. 525 Vgl LL horizontale Zusammenschlüsse, ABl 2004 C 31/5 (14). 526 EuGH, verb Rs C-68/94 und C-30/95 – Kali+Salz. 527 KOM, Nynas / Shell / Harburg Refinery, ABl 2013 C 106/2. 528 Erwägungsgrund Nr 29 der FKVO. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

III. Die Fusionskontrolle | 1193

menschluss der wirksame Wettbewerb im Gemeinsamen Markt oder in einem wesentlichen Teil desselben nicht behindert und der Zusammenschluss ist freizugeben. Diese Effizienzgewinne können insbesondere Skalenerträge (Economies of Scale), die verbesserte Integration von Produktionsprozessen, Spezialisierung, niedrigere Transportkosten oder generelle Einsparungen im administrativen Bereich sein und sind von den am Zusammenschluss beteiligten Unternehmen darzulegen.529 Als problematisch ist anzusehen, dass die Prognose, dass ein Zusammenschluss 211 zur erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs führt, letztlich die Marktmacht, über die ein Unternehmen nach dem Zusammenschluss verfügt, beschreibt. Diese Marktmacht gibt dem Unternehmen einen nicht kontrollierten Verhaltensspielraum, weshalb es fraglich ist, ob erzielte Effizienzvorteile an den Verbraucher weitergegeben werden.530 Die ausdrückliche Erwähnung der Effizienzgewinne in den Erwägungsgründen zur FKVO ist darauf zurückzuführen, dass die Berücksichtigung von Effizienzgewinnen bei der Anwendung des „SLC-Tests“ im US-amerikanischen Recht vorgesehen ist, und klargestellt werden sollte, dass diese auch in die Beurteilung im Rahmen der FKVO einfließen. Sowohl im US-amerikanischen Recht als auch im europäischen Recht dürfen die Effizienzgewinne nur positiv bewertet werden, wenn sichergestellt ist, dass diese auch an die Verbraucher weitergegeben werden.531 Als schwierig wird beispielsweise die Abgrenzung betrachtet, in welchen Fällen eine Weitergabe von Effizienzvorteilen vorliegt, und wann es sich um Preissenkungen handelt, die auf eine strategische Marktverdrängung von Konkurrenten gerichtet sind.532 Zudem ist zu berücksichtigen, dass in der Praxis die von den Zusammenschlussbeteiligten angestrebten Synergieeffekte einer Fusion häufig nicht erzielt werden. In ihrer Praxis würdigte die Kommission Effizienzvorteile anfangs eher zu- 212 rückhaltend und allgemein, inzwischen aber erheblich konkreter. Im Verfahren UPS/TNT Express533 stellte die Kommission auf etlichen betroffenen Märkten Effizienzen fest, insbesondere bezifferte sie diese und wog sie gegen die zu erwartenden quantifizierten Preiseffekte (in Form von Preiserhöhungen) ab.534 Dies reichte aber nicht aus, um die erwarteten Wettbewerbsprobleme auszuräumen, so dass zusätzlich Zusagen der Zusammenschlussbeteiligten notwendig waren. Allerdings kamen

_____ 529 Burgstaller WuW 2003, 729; Langen/Bunte/Bardong Art 2 FKVO Rn 252 ff. 530 Position des BKartA zum Grünbuch der Kommission zur Revision der FKVO, S 19; Burgstaller WuW 2003, 734. 531 Burgstaller WuW 2003, 734; Position des BKartA zum Grünbuch der Kommission zur Revision der FKVO, S 19 f. 532 von Bonin WuW 2006, 472. 533 KOM, UPS / TNT Express, ABl 2012 C 226/3. 534 Langeheine/vKoppenfels ZWeR 2013, 299 (302 f). Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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die zusätzlich von den beteiligten Unternehmen angebotenen Zusagen nicht zustande, weshalb der Zusammenschluss letztlich untersagt wurde.

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4. Entscheidungsbefugnisse der Kommission a) Freigabe und Untersagung Ein Zusammenschluss wird durch die Entscheidung der Kommission, die den Zusammenschluss für vereinbar mit dem Gemeinsamen Markt erklärt, freigegeben.535 Eine Freigabe kann mit Bedingungen und Auflagen verbunden werden.536 Diese sollen in erster Linie struktureller Natur sein. Verhaltensauflagen sind möglich, wenn sie ebenso wirksam wie strukturelle Maßnahmen sind und wirksam kontrolliert werden können.537 Die Freigabeentscheidung der Kommission erstreckt sich auch auf die Einschränkungen, die mit der Durchführung des Zusammenschlusses unmittelbar verbunden und notwendig sind.538 Diese Regelung dient dazu, dass Nebenabreden, die für den Zusammenschluss erforderlich sind, zB bei der Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens, im Rahmen des Fusionsverfahrens auch nach Art 101 AEUV geprüft werden. Werden diese Nebenabreden genehmigt, sind sie freigestellt. Die Untersagung eines Zusammenschlusses beinhaltet, dass dieser für nicht vereinbar mit dem Gemeinsamen Markt erklärt wird und nicht vollzogen werden darf. Die Kommission veröffentlicht ihre Entscheidung unter Angabe der Beteiligten und des wesentlichen Inhalts der Entscheidung zusammen mit der Stellungnahme des Beratenden Ausschusses im Amtsblatt der Europäischen Union.539 Dabei muss die Kommission die Geschäftsgeheimnisse der beteiligten Unternehmen schützen.540

b) Auflösung eines Zusammenschlusses 217 Nach Art 8 IV FKVO kann die Kommission einen bereits vollzogenen Zusammenschluss wieder auflösen, wenn dieser für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt worden ist oder der Zusammenschluss unter Verstoß gegen die auferlegten Bedingungen vollzogen wurde. Die Kommission kann den Unternehmen

_____ 535 Art 8 II 1 FKVO, ABl 2004 L 24/1. 536 Art 8 II 2 FKVO, ABl 2004 L 24/1. 537 KOM, Mitteilung über zulässige Abhilfemaßnahmen, ABl 2008 C 267/1, Rn 15 ff. 538 Art 8 II 3 FKVO, ABl 2004 L 24/1; vgl Bekanntmachung der Kommission über Einschränkungen des Wettbewerbs, die mit der Durchführung von Unternehmenszusammenschlüssen unmittelbar verbunden und für diese notwendig sind, ABl 2005 C 56/24. 539 Art 20 I und II FKVO, ABl 2004 L 24/1. 540 Art 20 II FKVO, ABl 2004 L 24/1. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

III. Die Fusionskontrolle | 1195

aufgeben, den Zusammenschluss rückgängig zu machen. Sollte dies nicht möglich sein, kann die Kommission jede andere geeignete Maßnahme treffen, um diesen Zustand soweit wie möglich wiederherzustellen.541 Zur Absicherung der Umsetzung der von der Kommission angeordneten Maßnahmen kann die Kommission Zwangsgelder bis zu einem Höchstbetrag von 5% des durchschnittlichen täglichen Gesamtumsatzes der beteiligten Unternehmen542 für jeden Arbeitstag des Verzugs verhängen.543 Zudem kann die Kommission gegen die beteiligten Unternehmen Geldbußen in Höhe von bis zu 10% des von den beteiligten Unternehmen erzielten Gesamtumsatzes festsetzen, wenn die Unternehmen vorsätzlich oder fahrlässig den von der Kommission angeordneten Maßnahmen nicht nachkommen.544 In der Regel wird von der Kommission versucht, eine einvernehmliche Lösung mit den beteiligten Unternehmen zu finden. Sowohl die Entscheidung einen vollzogenen Zusammenschluss wieder aufzulö- 218 sen als auch die Festsetzung von Bußgeldern und Zwangsgeldern hat die Kommission zusammen mit der Stellungnahme des Beratenden Ausschusses im Amtsblatt zu veröffentlichen.545

c) Rechtsmittel der Unternehmen Die beteiligten Unternehmen können gegen die Untersagung des Zusammen- 219 schlusses oder die mit einer Freigabe verbundenen Bedingungen und Auflagen das Gericht und als zweite Instanz den Gerichtshof anrufen.546 Das europäische Recht ermöglicht auch Dritten, insbesondere Wettbewerbern 220 der beteiligten Unternehmen, gegen die Nichtuntersagung eines Zusammenschlusses zu klagen.547 Dritte, die ein berechtigtes Interesse darlegen können, sind beispielsweise Unternehmen, die bereits das Recht zur Anhörung nach Art 18 IV FKVO hatten. Wird eine Entscheidung der Kommission durch Urteil des Gerichts bzw des Ge- 221 richtshofs ganz oder teilweise für nichtig erklärt, so wird der Zusammenschluss von der Kommission erneut geprüft.548 Bei der erneuten Prüfung werden die aktuellen Marktverhältnisse berücksichtigt und die beteiligten Unternehmen müssen bei

_____ 541 Art 8 IV lit b) FKVO, ABl 2004 L 24/1. 542 Gemeint sind immer die Personen, Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen, die die Kontrolle erwerben. 543 Art 15 I lit d) FKVO, ABl 2004 L 24/1. 544 Art 14 II lit c) FKVO, ABl 2004 L 24/1. 545 Art 20 I FKVO, ABl 2004 L 24/1. 546 Art 263 IV AEUV. 547 Art 263 IV AEUV. 548 Art 10 V FKVO, ABl 2004 L 24/1. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1196 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

Veränderungen der Marktverhältnisse eine neue Anmeldung vorlegen oder die alte Anmeldung ergänzen.549 IV. Art 106 AEUV IV. Art 106 AEUV (Jungheim-Hertwig) 1. Bindung der Mitgliedstaaten an die Wettbewerbsregeln 222 Art 106 I AEUV richtet sich im Gegensatz zu den Art 101 und 102 AEUV, bei welchen

die Unternehmen Normadressaten sind, an die Mitgliedstaaten.550 Die Schwierigkeit, den Binnenmarkt vor Verfälschungen zu schützen, resultiert nicht nur aus den Handlungen privater Unternehmen, sondern auch daraus, dass die Mitgliedstaaten sich in vielfältiger Weise mit öffentlichen Unternehmen am Wettbewerb beteiligen.551 Dabei handelt es sich um gewachsene Strukturen, die zudem zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten divergieren, weil in jedem Mitgliedstaat die Aufgaben des Staates unterschiedlich definiert sind. Durch die Liberalisierung in vielen ehemals öffentlichen Sektoren, wie der Telekommunikation, der Energieversorgung, der Post, sind inzwischen viele ehemalige Staatsunternehmen oder Verwaltungsbereiche in den Wettbewerb überführt worden. Dies ist auch auf den Zwang durch das europäische Wettbewerbsrecht zurückzuführen. Art 106 I AEUV verpflichtet die Mitgliedstaaten in Bezug auf öffentliche Unter223 nehmen und auf Unternehmen, denen sie besondere oder ausschließliche Rechte gewähren, keine dem Vertrag, insbesondere dessen Art 18 und 101 bis 109 AEUV, widersprechenden Maßnahmen zu treffen oder beizubehalten. Durch diese Bestimmung sollen gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Unternehmen, egal ob private, öffentliche oder gemischt-wirtschaftliche, egal ob sie besondere Funktionen und Aufgaben wahrnehmen und dafür besondere oder ausschließliche Rechte erhalten oder nicht, hergestellt werden, um den Wettbewerb im Binnenmarkt vor Verfälschungen zu schützen, also ein „level playing field“ geschaffen werden. Private Unternehmen stehen im Wettbewerb mit öffentlichen Unternehmen oder Unternehmen, die über besondere oder ausschließliche Rechte verfügen. Den Mitgliedstaaten bleibt es überlassen, ob sie mit öffentlichen Unternehmen am Wettbewerb teilnehmen und ob sie Unternehmen besondere oder ausschließliche Rechte gewähren. Allerdings sind die Mitgliedstaaten dabei an die Wettbewerbsregeln wie auch an alle anderen Regeln des Unionsrechts gebunden; auch ist eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit unzulässig. Öffentliche Unternehmen haben daher, zumal sie dem Staat zuzurechnen sind, das Diskriminierungsverbot des

_____ 549 Art 10 V 3 FKVO, ABl 2004 L 24/1. 550 Immenga/Mestmäcker/Mestmäcker/Schweitzer Einl Art 106 AEUV Rn 55. 551 Vgl Jennert WuW 2004, 37 ff. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

IV. Art 106 AEUV | 1197

Art 18 AEUV und die Regeln des freien Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehrs usw zu achten.552 Art 106 I AEUV ist indes eine bloße Verweisungsnorm. Denn Absatz 1 enthält 224 selbst keine speziellen materiellen Pflichten für die Mitgliedstaaten, sondern verweist auf die sich aus anderen Regeln ergebenden Verpflichtungen, so dass Art 106 I AEUV in Verbindung mit den jeweiligen Regelungen, zB Art 102 AEUV oder 107 AEUV, angewendet werden muss.

a) Besondere und ausschließliche Rechte Unter besonderen Rechten sind solche Rechte zu verstehen, die ein Mitgliedstaat 225 einer begrenzten Zahl von Unternehmen vorbehält, sofern der Mitgliedstaat ohne objektive Kriterien die Zahl auf zwei oder mehrere Unternehmen begrenzt, oder diese nach anderen als leistungsbezogenen Kriterien bestimmt. Als besonderes Recht ist auch die Einräumung von Vorteilen anzusehen, die andere Unternehmen der gleichen Branche wesentlich beeinträchtigen können.553 Die Gewährung von besonderen Rechten führt in der Regel zu Oligopolsituationen auf dem betroffenen Markt. Ausschließliche Rechte liegen vor, wenn ein Mitgliedstaat die Leistung eines 226 Dienstes oder einer Tätigkeit in einem bestimmten Gebiet einem einzigen Unternehmen vorbehält.554 Ausschließliche Rechte können auch an mehrere Unternehmen für unterschiedliche Gebiete vergeben werden. Beispiele für ausschließliche Rechte sind die ausschließliche Befugnis zur Beförderung und zur Verteilung von Postsendungen, ein Monopol für die Arbeitsvermittlung und ein Monopol für den Bestattungsdienst. Durch die Gewährung ausschließlicher Rechte werden in der Regel Monopolstellungen geschaffen, weshalb insbesondere die Vereinbarkeit mit Art 102 AEUV in diesem Zusammenhang relevant ist. Unternehmen, die besondere oder ausschließliche Rechte erhalten, werden die- 227 se regelmäßig deshalb gewährt, weil sie kraft öffentlicher Zuschreibung besondere Aufgaben im Interesse des Gemeinwohls erfüllen. Für Unternehmen, die somit mit einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind, gelten noch die speziellen Regeln des Art 106 II AEUV (dazu Rn 236 ff).

b) Öffentliche Unternehmen Auf den ersten Blick erscheint die Regelung des Art 106 I AEUV klar und eindeu- 228 tig. Wird der Staat über öffentliche Unternehmen auf dem Markt tätig, ist er an die Wettbewerbsregeln gebunden. Gleichwohl ist die Einordnung einer Tätigkeit als

_____ 552 Vgl zur Stellung öffentlicher Unternehmen im Unionsrecht Weiß EuR 2005, 165. 553 Art 2 lit g) Transparenz-RL 2006/111, ABl 2006 L 318/17. 554 Art 2 lit f) Transparenz-RL 2006/111, ABl 2006 L 318/17. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1198 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von der Rechtsform. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist ein Unternehmen gerade „jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung.“555 Zwar bietet die Transparenzrichtlinie556 in Art 2 lit b) UAbs 1 eine Definition des 229 Begriffs „öffentliches Unternehmen“, nämlich: „jedes Unternehmen, auf das die öffentliche Hand auf Grund Eigentums, finanzieller Beteiligung, Satzung oder sonstiger Bestimmungen, die die Tätigkeit des Unternehmens regeln, unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluss ausüben kann.“ Die öffentliche Hand ist der Staat sowie andere Gebietskörperschaften.557 Nach Art 2 lit b) UAbs 2 der Transparenzrichtlinie wird ein beherrschender Einfluss vermutet, wenn die öffentliche Hand unmittelbar oder mittelbar die Mehrheit des Kapitals des Unternehmens besitzt, über die Mehrheit der Stimmrechte verfügt oder mehr als die Hälfte der Mitglieder des Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgans des Unternehmens bestellen kann. Aber der weite, funktionale Unternehmensbegriff des Gerichtshofs erfasst neben öffentlichen Unternehmen teilweise sogar Verwaltungen558 der Mitgliedstaaten.559 Eine klare Abgrenzung von wirtschaftlicher und hoheitlicher Tätigkeit des Staates ist überaus schwierig. Deshalb ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs in diesem Bereich sehr kasuistisch. Als wirtschaftliche Tätigkeit hat der Gerichtshof ua eingestuft: Bestattungsdienste,560 Arbeitsvermittlung,561 Vertrieb von Tabakwaren,562 Leistungen auf dem Markt für Krankentransporte, einschließlich des durch Behörden durchgeführten Rettungsdienstes,563 und Flughafendienstleistungen.564

_____ 555 EuGH, st Rspr seit EuGH, Rs C-41/90 – Höfner und Elser / Macrotron. 556 RL 2006/111, ABl 2006 L 318/17. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass die Begriffsbestimmung der Transparenzrichtlinie keine allgemein für Art 106 AEUV geltende Definition ist, sondern nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen und für die Zwecke der RL gilt und nur einen Teilaspekt der Zielsetzung von Art 106 I AEUV betrifft; vgl EuGH, Rs 188–190/80 – Transparenzrichtlinie, Rn 24. 557 In Deutschland: Bund, Länder und Gemeinden. 558 EuGH, Rs C-41/90 – Höfner und Elser / Macrotron. Die Arbeitsvermittlung war in Deutschland der Bundesanstalt für Arbeit, einem Teil der öffentlichen Verwaltung, vorbehalten. Durch das Urteil des Gerichtshofs wurde die Vermittlung von Führungskräften als wirtschaftliche Tätigkeit eingestuft und dem Wettbewerbsrecht unterstellt. Argumentiert wurde, dass die Vermittlungstätigkeit nicht notwendigerweise von öffentlichen Einrichtungen betrieben werden müsse und auch nicht immer betrieben worden sei. Zudem wurde die Lage in anderen Mitgliedstaaten herangezogen. 559 Dazu Lange WuW 2002, 953 ff. 560 EuGH, Rs 30/87 – Bodson, Rn 16 ff. 561 EuGH, Rs C-41/90 – Höfner und Elser / Macrotron, Rn 22 f; auch für die italienische Arbeitsvermittlung: EuGH, Rs C-55/96 – Job Centre II, Rn 25; Rs C-258/98 – Carra, Rn 13. 562 KOM, AAMS, ABl 1998 L 252/47, Rn 21. 563 EuGH, Rs C-475/99 – Ambulanz Glöckner, Rn 20 ff. 564 EuGH, Rs C-82/01 P – Aéroports de Paris, Rn 78 ff. Der Aéroports de Paris war hingegen in Frankreich höchstrichterlich als öffentliche Einrichtung mit hoheitlichen Aufgaben eingestuft worden. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

IV. Art 106 AEUV | 1199

Keine wirtschaftliche Tätigkeit liegt nach der Rechtsprechung vor, wenn die Einrichtung Tätigkeiten ausübt, die „typischerweise“ hoheitlicher Natur sind oder eine im Allgemeininteresse liegende Aufgabe erfüllt, die zu den wesentlichen Staatsaufgaben gehört.565 Dazu zählt zB der Bereich der Gefahrenabwehr, wie die Überwachung des nationalen Luftraums,566 Polizei und Militär.567 Die Schwierigkeit dieser Definition besteht darin, dass es innerhalb der Mitgliedstaaten unterschiedliche Traditionen und folglich unterschiedliche öffentliche Aufgaben gibt.568 Zudem ist auch eine Definition der Kernaufgaben des Staates nicht möglich. Deshalb fließt in die Beurteilung des EuGH auch ein, was nach den jeweiligen Traditionen der Mitgliedstaaten zu deren wesentlichen Staatsaufgaben gehört.569 Als weitere Kriterien, um eine wirtschaftliche Tätigkeit auszuschließen, zieht der Gerichtshof bei Einrichtungen der sozialen Sicherheit heran, dass diese solidarischen Zwecken dienen (zB öffentlich rechtliche Sozialversicherungssysteme mit Zwangsmitgliedschaft),570 zudem auf dem Grundsatz der Solidarität beruhen und keine Gewinnerzielungsabsicht vorliegt.571 Insgesamt kann aus der Rechtsprechung abgeleitet werden, dass eine wirtschaftliche Tätigkeit immer dann vermutet werden kann, wenn sie ohne weiteres privatisiert oder einem potentiellen Wettbewerb zwischen mehreren Teilnehmern ausgesetzt werden kann (hypothetischer Wettbewerbstest).572 Als Indiz kann weiterhin herangezogen werden, ob die Tätigkeit in anderen Mitgliedstaaten von Wirt-

_____ 565 Emmerich/Lange S 25; Kling NZKart 2017, 611 (613). 566 EuGH, Rs 364/92 – SAT Fluggesellschaft „Eurocontrol“, Rn 30. 567 Kling NZKart 2017, 611 (615 f). 568 Kling NZKart 2017, 611 (613). 569 Emmerich/Lange S 25. 570 Eine wirtschaftliche Tätigkeit liegt aber bei einem freiwilligen Versicherungssystem vor, das nach dem Kapitalisierungsprinzip arbeitet.EuGH, Rs C-244/94 – Féderation francaise des sociétés d’assurances FFSA, Rn 17 ff. 571 EuGH, verb Rs C-159/91 und C-160/91 – Poucet und Pistre, Rn 18 f; Rs C-218/00 – INAIL, Rn 45.Die italienische staatliche Unfallversicherungsanstalt wurde auf Grund der Solidarität zwischen unterschiedlich hoch entlohnten Arbeitnehmern und staatlicher Aufsicht nicht als Unternehmen eingestuft. EuGH, verb Rs C-264/01, C-306/01, C-354/01, C-355/01 – AOK Bundesverband ua.Zusammenschlüsse von Krankenkassen wie der AOK-Bundesverband, der BKK, der Bundesverband der Innungskrankenkassen usw sind nach der Rechtsprechung des EuGH keine Unternehmen, wenn sie Festbeträge festsetzen, bis zu deren Erreichen die Krankenkassen die Kosten von Arzneimitteln übernehmen. Der Gerichtshof kam hier zu einem anderen Ergebnis als der GA Jacobs, der in seinen Schlussanträgen die Krankenkassen und ihre Verbände eindeutig als Unternehmen einstufte. GA Jacobs, verb Rs C-264/01, C-306/01, C-354/01, C-355/01 – AOK Bundesverband ua, Nr 25 ff; kritisch zu diesem Urteil Gassner WuW 2004, 1028 ff. 572 Immenga/Mestmäcker/Mestmäcker/Schweitzer Art 106 I AEUV Rn 9; Kling NZKart 2017, 611 (612). Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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schaftsunternehmen ausgeübt wird.573 Erfolgt die Finanzierung über Gebühren574 oder Beiträge, spricht dies für eine Qualifizierung als Unternehmen. Die fehlende Äquivalenz zwischen der Leistung und den Gebühren oder Beiträgen sowie eine überwiegende Finanzierung aus Steuern sind hingegen als Indiz für eine hoheitliche Tätigkeit zu werten.575 Problematisch ist, dass der Gerichtshof zur Einordnung der Tätigkeiten als unternehmerisch sowohl auf die Art der Finanzierung als auch auf Rechtsform und die Gewinnerzielungsabsicht rekurriert, obwohl diese Kriterien bei der Einstufung als Unternehmen nach der üblichen Definition des Gerichtshofs keine Rolle spielen.

c) Maßnahmen im Sinne des Art 106 I AEUV 234 Unter Maßnahmen im Sinne des Art 106 I AEUV wird jedes rechtliche oder tatsächliche Einwirken eines Mitgliedstaates auf die genannten Unternehmen verstanden, das zu einem dem Vertrag widersprechenden Verhalten des Unternehmens für den Mitgliedstaat selbst führt oder führen kann.576 Dabei ist der Rechtscharakter der Maßnahme unerheblich.577 Somit darf die Ausgestaltung des Monopols oder der ausschließlichen Rechte durch die Mitgliedstaaten nicht dazu führen, dass die bloße Ausübung der dem Unternehmen übertragenen Rechte einen Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln darstellt.578

2. Art 106 II AEUV: Ausnahme für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse 235 Art 106 II AEUV bestätigt zunächst die Regelung des Art 106 I AEUV, wonach für alle Unternehmen die gleichen Regeln gelten, fügt aber eine Ausnahmeregelung an, 579 weil für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse580 betraut sind oder den Charakter eines Finanzmono-

_____ 573 Kling NZKart 2017, 611 (612). 574 Allerdings hat der EuGH bereits mehrfach die Gebühreneinziehung nicht als wirtschaftliche Tätigkeit eingeordnet, wenn diese von der hoheitlichen Aufgabe nicht zu trennen war. Vgl EuGH, Rs C-138/11 – Compass Datenbank, Rn 33; Rs 364/92 – SAT Fluggesellschaft „Eurocontrol“, Rn 28. Dazu Kling NZKart 2017, 611 (616). 575 Immenga/Mestmäcker/Mestmäcker/Schweitzer Art 106 I AEUV Rn 19. 576 Immenga/Mestmäcker/Mestmäcker/Schweitzer Art 106 I AEUV Rn 91. 577 Immenga/Mestmäcker/Mestmäcker/Schweitzer Art 106 I AEUV Rn 92. 578 EuGH, Rs C-41/90 – Höfner und Elser / Macrotron, Rn 27; Rs C-179/90 – Merci Convenzionali Porto di Genova, Rn 17. 579 Vgl Koenig/Kühling ZHR 2002, 656 ff; Blankart WuW 2002, 340 ff. 580 In diesem Zusammenhang sind auch das Protokoll Nr 26 über Dienste von allgemeinem Interesse, Art 14 AEUV und Art 36 GRCh zu berücksichtigen. Zur Bedeutung von Art 106 II AEUV im Beihilfenrecht s unten Rn 324 ff. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

IV. Art 106 AEUV | 1201

pols581 haben, zwar die Vorschriften des Vertrages und insbesondere die Wettbewerbsregeln gelten, allerdings nur soweit die Anwendung dieser Vorschriften nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert. Als Einschränkung dieser Ausnahme verlangt Art 106 II 2 AEUV, dass die Entwicklung des Handelsverkehrs nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt werden darf, das dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderläuft. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist Art 106 II AEUV eine Ausnahme- 236 bestimmung, die zunächst einmal restriktiv auszulegen ist. 582 Adressaten des Art 106 II AEUV sind sowohl die Mitgliedstaaten als auch die betrauten Unternehmen.583 Eine Maßnahme muss alle nachstehend genannten Bedingungen kumulativ er- 237 füllen, wenn sie in den Genuss der Ausnahmeregelung des Art 106 II AEUV kommen soll: Erstens muss die betreffende Dienstleistung eine Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse und von dem Mitgliedstaat klar als solche definiert sein (Definition).584 Wie nun Art 1 des Protokolls Nr 26 über Dienste von allgemeinem Interesse in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkennt („der weite Ermessenspielraum“), fällt diese Definition indes weitgehend in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten,585 die auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene entscheiden können, welche Dienste in welcher Weise den Nutzern auf eine bedarfsgerechte Weise zur Verfügung zu stellen sind. Diese Zuständigkeit ist allerdings unter Berücksichtigung des unionsrechtlichen Begriffsrahmens, der durch die Terminologie der „Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ gesetzt wird, wahrzunehmen.586 Zweitens muss das Unternehmen ausdrücklich von dem Mitgliedstaat mit der Ausführung der Dienstleistung beauftragt worden sein (Betrauung);587 der Betrauungsakt hat die Aufgabe näher zu bestimmen und sie dem Unternehmen zuzuweisen. Drittens muss die Anwendung der Wettbewerbsregeln des Vertrags die Erfüllung der dem Unternehmen übertragenen besonderen Aufgaben verhindern (wobei in der Rechtsprechung eine Behinderung genügt; s Rn 238), und die Freistellung von diesen Regeln darf die Entwicklung des Handelsverkehrs nicht in einem Maße beeinträchtigen, das dem Interesse der Union zuwiderläuft (Verhältnismäßigkeitskriterium). Der Begriff der „Beeinträchtigung der

_____ 581 Dies sind Unternehmen, denen vom Staat eine Monopolstellung eingeräumt wurde mit dem Zweck, dem öffentlichen Haushalt eine besondere Einnahmequelle zu sichern (Bsp Branntweinmonopol). 582 EuGH, Rs 127/73 – BRT / SABAM (BRT II). 583 Immenga/Mestmäcker/Mestmäcker/Schweitzer Art 106 AEUV Rn 49. 584 Langen/Bunte/Stadler Art 106 AEUV Rn 55. 585 Immenga/Mestmäcker/Mestmäcker/Schweitzer Art 106 II AEUV Rn 84. 586 Langen/Bunte/Stadler Art 106 AEUV Rn 47. 587 Langen/Bunte/Stadler Art 106 AEUV Rn 54. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1202 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

Entwicklung des Handelsverkehrs“ ist nicht mit der Zwischenstaatlichkeitsklausel gleichzusetzen, sondern verlangt eine wesentliche Beeinträchtigung.588 Der Gerichtshof hält Abweichungen vom Vertrag im Sinne des Art 106 II 238 AEUV für erforderlich, „sofern die Erfüllung der [dem Unternehmen] übertragenen besonderen Aufgaben nur durch die Einräumung [besonderer oder ausschließlicher] Rechte gesichert werden kann“.589 Das Ziel der Maßnahme muss also in der Erfüllung der speziellen Gemeinwohlfunktion590 bestehen, weshalb die Verhältnismäßigkeitsprüfung 591 sowohl markt- als auch aufgabenbezogen durchgeführt werden muss.592 Die Beweislast trägt der Mitgliedstaat, der sich auf die Ausnahme beruft.593 Der Bundesgerichtshof594 spricht dem nationalen Gesetzgeber einen großzügigen Einschätzungsspielraum bei der Frage zu, ob die Anwendung der Wettbewerbsregeln die Aufgaben eines mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betrauten Unternehmen gefährdet.595 Der durch Art. 106 Abs 2 AEUV eröffnete Prüfungsumfang der mitgliedstaatlichen Gerichte gegenüber Maßnahmen des nationalen Gesetzgebers sei angesichts dieses Entscheidungsspielraums und erheblicher Prognoseunsicherheiten auf eine Kontrolle offenkundiger Fehler beschränkt.596 In der Rechtssache Paul Corbeau597 entschied der Gerichtshof, dass auch eine Quersubventionierung von Dienstleistungen verhältnismäßig ist, wenn diese für die flächendeckende Versorgung mit bestimmten Dienstleistungen notwendig ist. Nicht gerechtfertigt ist nach Ansicht des Gerichtshofs der Ausschluss des Wettbewerbs dann, wenn es sich um spezifische, von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse trennbare Dienstleistungen handelt,598 die besonderen Bedürfnissen von Wirtschaftsunternehmen entsprechen und von dem Unternehmen mit ausschließlichen Rechten nicht angeboten werden. Dabei berücksichtigt der Gerichtshof auch,

_____ 588 Langen/Bunte/Stadler Art 106 AEUV Rn 71. 589 EuGH, Rs C-340/99 – TNT Traco, Rn 52; Rs C-209/98 – Entreprenorforeningens Affalds / Miljøsektion (FFAD), Rn 74; Rs C-320/91 – Paul Corbeau, Rn 14. 590 Vgl dazu Art 14 AEUV (Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse). 591 Vgl auch Mitteilung der Kommission zu Leistungen der Daseinsvorsorge, KOM(2000) 580, ABl 2001 C 17/4, Rn 23. 592 Immenga/Mestmäcker/Mestmäcker/Schweitzer Art 106 AEUV II Rn 104 f. 593 Langen/Bunte/Stadler Art 106 AEUV Rn 64. 594 BGH vom 6.10.2015, Zentrales Verhandlungsmandat, NZKart 2016, 78 (81 f), Rn 44 ff. 595 Langen/Bunte/Stadler Art 106 AEUV Rn 64. 596 BGH vom 6.10.2015, Zentrales Verhandlungsmandat, NZKart 2016, 78 (81 f), Rn 44 ff. 597 EuGH, Rs C-320/91, Rn 17 ff. Eine Organisation wie die Régie des Postes, der das ausschließliche Recht übertragen ist, Postsendungen zu sammeln, zu befördern und zu verteilen, müsse die Möglichkeit eines Ausgleichs zwischen den rentablen und den weniger rentablen Tätigkeiten haben, um ihre Dienstleistungen unter wirtschaftlich ausgewogenen Bedingungen sicherzustellen. Deshalb sei eine Einschränkung des Wettbewerbs von Seiten einzelner Unternehmen in wirtschaftlich rentablen Bereichen gerechtfertigt. 598 Vgl auch EuGH, Rs C-18/88 – RTT / GB-Inno-BM, Rn 16 ff. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

V. Das Beihilferegime | 1203

ob die abtrennbare Dienstleistung das wirtschaftliche Gleichgewicht der vom Inhaber des ausschließlichen Rechts übernommenen Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse in Frage stellt. Die Grenze der Ausnahme des Art 106 II AEUV bildet das Interesse der Union.599 V. Das Beihilferegime V. Das Beihilferegime (Weiß) 1. Begriff, Bedeutung, Rechtsgrundlagen a) Beihilfenrecht: Begriff, Bedeutung und Zielsetzung Das EU-Beihilfenrecht in Art 107–109 AEUV ist Teil des EU- Wettbewerbsrechts, 239 weil es um die Abwehr von Gefahren für den fairen Wettbewerb im Binnenmarkt geht. Dabei werden im Unterschied zum Kartell- und Fusionskontrollrecht Gefährdungen erfasst, die nicht von privaten Akteuren ausgehen, sondern – wie bei Grundfreiheiten – von den Mitgliedstaaten, die Subventionen an Unternehmen gewähren und so die Gleichheit der Wettbewerbsbedingungenverzerren, zu denen Unternehmen auf einem nationalen Markt und im Binnenmarkt konkurrieren. Die Beihilferegeln wenden sich gegen Wettbewerbsbeeinträchtigungen durch vor allem fiskalisches Verhalten. Dabei geht es um das Verhalten der gesamten öffentlichen Hand in den Mitgliedstaaten, also Bund, Länder, Gemeinden und andere staatliche Einrichtungen in welcher Rechtsform auch immer. Die öffentliche Hand soll sich in jeder Betätigungsweise Wettbewerbsverzerrungen enthalten. Solche können eintreten, wenn die öffentliche Hand sich nicht am Wettbewerb beteiligt, sondern hoheitlich auftritt und Unternehmen Subventionen und Begünstigungen gewährt, aber auch, wenn die öffentliche Hand als Unternehmer auftritt, sich bei ihrer wirtschaftlichen Betätigung aber nicht wettbewerbskonform verhält, sei es dass sie Unternehmen Begünstigungen einräumt, sei es dass die öffentlichen Träger ihre Unternehmen selbst auf nicht markt-konforme Weise behandeln und stützen. In Bezug auf letzteres findet das Beihilferecht Anwendung, um die staatliche wirtschaftliche Betätigung im Hinblick auf die Beziehungen zwischen öffentlicher Hand als Unternehmensträger und dem öffentlichen Unternehmen selbst zu kontrollieren (zu dem dabei eingesetzten private investor test unten Rn 271 ff). Da es um einseitige Wettbewerbsverzerrungen geht, erfasst das Beihilfenrecht 240 nicht die Gewährung von Subventionen durch die EU selbst, da diese nicht das Risiko einer Bevorzugung von Unternehmen eines Mitgliedstaats begründen, sondern aus gemeineuropäischer Perspektive unter Verfolgung gemeinsamer Ziele gewährt werden. Der Zugang zu EU-Subventionen zur Förderung von Forschungsvorhaben, regionalen Strukturen oder der Landwirtschaft oder im Rahmen des Ko-

_____ 599 Langen/Bunte/Stadler Art 106 AEUV Rn 70; Immenga/Mestmäcker/Mestmäcker/Schweitzer Art 106 II AEUV Rn 132; Kling NZKart 2017, 611 (618). Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1204 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

häsionsfonds nach Art 177 AEUV ist dann auch unabhängig von nationalen Umständen. Die EU ist bei der Gewährung ihrer Subventionen daher nicht an Art 107 AEUV gebunden, allerdings an das generelle Ziel der Vermeidung von Wettbewerbsverfälschung.600 Das Beihilferecht verankert ein grundsätzliches Verbot nationaler Beihilfen, 241 da ihre Begünstigungswirkung zugunsten einzelner Unternehmen oder Branchen dem Ziel eines einheitlichen Binnenmarktes nach Art 3 III EUV zuwiderläuft. Das Verbot vermeidet auch Fehlallokationen und Wohlstandsverluste infolge verschwendeter Beihilfen. Daher wird das Beihilferecht von der Kommission als wichtiger Baustein der Strategie Europa 2020 des Europäischen Rates aus 2010 angesehen, die EU zu einem auf Wissen und Innovation beruhenden Wirtschaftsraum zu gestalten. Das führte im Interesse besserer Rechtsanwendung, effizienterer Verfahren und schnellerer Entscheidungen, vereinfachter Regeln und besser Ausrichtung nationaler Beihilfen zu einer Reform des sekundärrechtlichen EU-Beihilferechts mit dem Aktionsplan Staatliche Beihilfen (State Aid Action Plan, 2005–-2009)601 und dann mit dem SAM (State Aid Modernisation) Programm aus 2012.602Letzteres wurde durch das Auslaufen sekundärrechtlicher Beihilfeninstrumente und das Bemühen ausgelöst, beihilferechtliche Konsequenzen aus der Finanzkrise zu ziehen und zu ihrer Lösung beizutragen. Die Reformen zielen auf die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und Innovativität der Industrie, weswegen sich nationale Beihilfen auf Forschungs-, Entwicklungs- und Investitionsprojekte, gezieltere Regionalbeihilfen, Förderung der Umweltverträglichkeit und des Umweltschutzes, Bereitstellung von Risikokapital und modernisierte Infrastrukturen fokussieren sollten. Nationale Beihilfen sollen Marktversagen bewältigen und an gemeinsamen Zielen ausgerichtet sein. Die Kommission verfolgt dadurch gewisse industriepolitische Ziele, in Ausschöpfung des ihr in Art 107 III AEUV gewährten Spielraums. Unbeschadet dieser restriktiven Tendenz sind nationale Subventionen weiter242 hin ein wichtiger Bestandteil nationaler Politik, da die Staaten durch Mittelvergabe gezielt unternehmerisches Verhalten lenken wollen. Mitgliedstaaten verfolgen daher struktur-, regional-, umwelt- und kulturpolitische Ziele und die Überwindung von Krisen auch mit Mitteln der Subventionsvergabe. Beihilfen können die Funktion marktwirtschaftlicher Lenkungsmechanismen verbessern, indem sie Marktversagen kompensieren oder erhöhte Marktzutrittsbarrieren überwinden helfen. Subventionen sind daher nicht grundsätzlich von Übel. Das findet sich auch 243 in Art 107 AEUV, der zahlreiche Ausnahmen vom Beihilfenverbot enthält. Wegen ihrer positiven Effekte besteht im EU-Beihilferecht ein Verbot mit Ausnahmevorbehalt. Die Ausnahmen sind als Legal- und Ermessensausnahmen in Art 107 II, III

_____ 600 Streinz/Kühling Art 107 AEUV Rn 19. 601 KOM(2005) 107; dazu Jaeger EuZW 2010, 47. 602 Vgl die Mitteilung der Kommission „Modernisierung des EU-Beihilfenrechts“, COM(2012) 209. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

V. Das Beihilferegime | 1205

AEUV festgelegt, die teilweise sehr ausdehnbare Rechtfertigungsgründe vorsehen. Die Anwendung des EU-Beihilfenrechts wird daher von der Kommission gemäß Art 108 AEUV kontrolliert. Integrationstheoretisch lässt sich das rechtfertigen. Im Primärrecht ist das Ziel 244 eines freien, unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt (s Art 119 und 120 AEUV, Protokoll Nr 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb) verankert, aber die Ausgangsbedingungen in den Mitgliedstaaten sind unterschiedlich. Daher zielt die EU auf eine ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens und fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt in der EU (Kohäsion, Art 174 AEUV). Diese Ziele stehen in einem gewissen Konflikt zum unverfälschten Wettbewerb. Aus gutem Grund sieht Art 107 II, III AEUV Ausnahmen vom Beihilfenverbotzugunsten der Förderungbenachteiligter Gebiete oder zur Behebung beträchtlicher Störungen im Wirtschaftsleben vor. Die dabei verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe geben der Kommission Spielräume, die sie zur Formulierung industriepolitischer Ansätze nutzt603 und die nur beschränkt justiziabel sind (Rn 253). Auch weitet die Kommission ihre Beihilfenkontrolle auf Bereiche aus, die bisher weitgehend rein nationale Zuständigkeit waren, wie etwa die nationale Infrastrukturerrichtung oder die Steuerpolitik. Die Unbestimmtheit, zumindest Dehnbarkeit grundlegender Konzepte wie der Beihilfenbegrifflichkeit oder des Unternehmensbegriffs erlaubt der Kommission Ausweitungen, denen die Rechtsprechung durchaus entgegenwirkt durch einschränkende Auslegungen etwa der Tatbestandsmerkmale der Begünstigung und der Staatlichkeit der Mittel.604

b) Rechtsgrundlagen: Primärrecht, Sekundärrecht, Leitlinien und Unionsrahmen Die Regelungen des EU-Beihilferechts sindverstreut über Primär- und Sekundär- 245 recht und auch soft law. Primärrechtlich enthält Art 107 AEUV das materielle Recht zum Beihilfeverbot 246 und seinen Ausnahmen. Art 107 II AEUV legt Legalausnahmen fest. Sie sind gleichwohl nicht unmittelbar anwendbar, sondern unterliegen dem Unionsvollzug durch die Kommission genauso wie die Ermessensausnahmen in Art 107 III AEUV, die der Kommission die Befugnis zuweisen, Beihilfen für mit dem Binnenmarkt vereinbar zu erklären. Art 108 I–III AEUV enthält das zugehörige Verfahrensrecht, das in der VO 247 2015/1589 konkretisiert wird (dazu Rn 39, Rn 329 ff).

_____ 603 Diese Ausweitungen sind umstritten. Für ein strukturpolitisches Mandat der Kommission vdGroeben/Schwarze/Mederer vor Art 107 AEUV Rn 4; dagegen Koenig/Kuehling/Ritter Rn 11. 604 Etwa EuGH, Rs C-379/98 – Preussen Elektra; Rs C-280/00 – Altmark Trans; Rs C-524/14 P – Lübeck, Rn 53 ff; Rs.C-405/16 P – EEG 2012, Rn 70 ff; T-98/16 ua – Banca Popolare, Rn 138 ff. Zu Ausuferungen der die Kommissionspraxis einschränkenden Rechtsprechung Bartosch NJW 2002, 3588. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1206 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

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Art 109 AEUV schließlich enthält die Ermächtigung an den Rat zur Durchführungsrechtsetzung. Der Rat kann nicht nur Verfahrensvorschriften erlassen (VO 2015/1589), sondern in Ermächtigungsverordnungen (VO2015/1588) auch Arten von Beihilfen bestimmen, die die Kommission durch Verordnungen gemäß Art 108 IV AEUV von der Notifizierungspflicht des Art 108 III AEUV freistellen darf (Rn 37). Dort werden nähere materiell-rechtliche Anforderungen festgelegt, die bestimmte Beihilfen von der präventiven Beihilfenkontrolle der Kommission ausnehmen. Das Beihilferecht der Art 107 ff AEUV gilt grundsätzlich für den gesamten Waren-, Dienstleistungs- und Niederlassungsverkehr. Sonderregeln existieren mit Art 42 AEUV für die Landwirtschaft, Art 50 II lit h) AEUV für die Ansiedlung und Art 93 AEUV für den Verkehr. Art 106 II AEUV lässt für Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse eine Abweichung vom Wettbewerbsrecht zu, wenn dies für die Aufgabenerfüllung notwendig ist. Infolge der Konsolidierung und Modernisierung des EU-Beihilfenrechts in den 1990er Jahrenbestehen seither eine Fülle von sekundärrechtlichen Normen, die durch die Reformen seit 2005 (Rn 241) weiterentwickelt wurden. Derzeit sind die Novellierungen weitgehend abgeschlossen (Rn 255). Neben der Ermächtigungsverordnung 2015/1588 und der Verfahrensverordnung 2015/1589 des Rates hat die Kommission in Nutzung der Ratsermächtigung Gruppenfreistellungsverordnungen erlassen über minimale Beihilfen (Deminimis-VO 1407/2013605), die Beihilfen bis zu 200.000 EUR binnen 3 Steuerjahren mangels Beeinträchtigung des Wettbewerbs für vertragskonform erklären, und in Form einer Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung 651/2014606, die für bestimmte Gruppen wie Ausbildungsbeihilfen, Beihilfen an kleine und mittlere Unternehmen (KMU), Beschäftigungsbeihilfen und Umweltschutzbeihilfen allgemein die Vereinbarkeit mit dem EU-Beihilfenrecht nach näheren Bedingungen vorsehen.607 Die dort näher geregelten Beihilfen unterliegen nicht der präventiven Aufsicht der Kommission, also der Notifizierungs- und Genehmigungspflichtigkeit gemäß Art 108 III AEUV. Die ex-ante-Kontrolle der Kommission ist im Anwendungsbereich der Gruppenfreistellungsverordnungen auf eine ex-post-Kontrolle reduziert. Weitere beihilferechtlich relevante Sekundärrechtsakte ergingen im Rahmen des Almunia-Pakets608 zu den Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse mit einer eigenen De-minimis-Verordnung 360/2012,609 die Zahlun-

_____ 605 VO 1407/2013, ABl 2013 L 352/1. Für den Agrarsektor VO 1408/2013, ABl 2013 L 352/9. 606 VO 651/2014, ABl 2014 L 187/1, zuletzt geändert durch VO 2017/1084, ABl 2017 L 156/1. 607 Als weitere GVO wurde die VO 702/2014 zur Feststellung der Vereinbarkeit bestimmter Arten von Beihilfen im Agrar- und Forstsektor und in ländlichen Gebieten mit dem Binnenmarkt, ABl 2014 L 193/1, erlassen. 608 Vgl Rn 327. 609 VO 360/2012, ABl 2012 L 114/8, zuletzt geändert durch VO 2018/1923, ABl 2018 L 313/2. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

V. Das Beihilferegime | 1207

gen bis 500.000 EUR in drei Jahren an Unternehmen, die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erbringen, als beihilfefrei erklärt, und dem auf Art 106 III AEUV gestützten Freistellungsbeschluss (Beschluss der Kommission über die Anwendung von Art 106 II AEUV auf staatliche Beihilfen in Form von Ausgleichsleistungen zugunsten bestimmter Unternehmen, die mit der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind610). Der Beschluss erklärt Beihilfen in Form von Ausgleichsleistungen, die Unternehmen für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erhalten, unter bestimmten Bedingungen für mit dem Binnenmarkt vereinbar. Sie sind von einer Notifizierung an die Kommission freigestellt (näher Rn 327). Neben diesen sekundärrechtlichen Instrumenten steuert die Kommission die 253 Beihilfevergabe durch weitere Instrumente wie Mitteilungen, Leitlinien und Unionsrahmen, die formal idR unverbindlich sind, wegen ihrer praktischen Wirksamkeit aber dem soft law zugerechnet werden können. Sie entfalten regelmäßig keine rechtliche Bindung außer einer rechtlichen Selbstverpflichtung der Kommission infolge Vertrauensschutz und Gleichbehandlung.611 Diese Texte enthalten für die Anwendungspraxis wertvolle Konkretisierungen der rechtlichen Maßstäbe durch die Kommission (etwa hinsichtlich des Beihilfetatbestands) oder geben Auskunft über die Ermessensausübung der Kommission im Rahmen der Ausnahmen nach Art 107 III AEUV. Der EuGH räumt bei Art 107 II, III AEUV der Kommission einen weiten Spielraum ein und nimmt seine Kontrolldichte bei der Beurteilung wirtschaftlich komplexer Sachverhalte traditionell zurück. Er beschränkt sich auf die Prüfung, ob die Verfahrensregeln und Begründungsanforderungen eingehalten sind, ob der Sachverhalt zutreffend ermittelt ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Würdigung des Sachverhalts oder ein Ermessensmissbrauch vorliegt. Insbesondere ersetzt das Gericht die wirtschaftliche Beurteilung der Kommission nicht durch seine eigene.612 Eine inhaltliche Systematisierung der soft-law-Instrumente zeigt, dass Mit- 254 teilungen der Kommission sich auf den Grundtatbestand des Art 107 I AEUV, insbesondere auf den Beihilfebegriff beziehen und die Entscheidungstätigkeit von Kommission und EuGH hierzu zusammenfassen. Leitlinien und Unionsrahmen geben demgegenüber die Politik der Kommission bei ihrer Ermessensausübung wieder, wobei Leitlinien sich in der Regel nicht auf bestehende Beihilfenregelungen beziehen, sondern künftige Kommissionpraxis formulieren. Unionsrahmen beziehen sich in der Regel auf bestehende als auch auf neue Beihilfen und zielen auf eine Anpassung bestehender Beihilferegelungen der Mitgliedstaaten in einem bestimmten Bereich. Die Kommission schlägt in den Unionsrahmen sog zweckdienliche Maßnah-

_____ 610 Beschluss 2012/21, ABl 2012 L 7/3. 611 Näher vGraevenitz EuZW 2013, 169. 612 EuG, Rs T-296/97 – Alitalia, Rn 105; Rs T-196/04 – Ryanair, Rn 104. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1208 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

men iSv Art 108 I 2 AEUV iVmArt 22 VO 2015/1589 vor.613 Die Unionsrahmen werden dann insoweit durch Zustimmung der Mitgliedstaaten nach Art 23 VO 2015/1589 verbindlich. Die Leitlinien, Mitteilungen und Unionsrahmen befassen sich mit branchen255 spezifischen, sektorellen Fragen oder sind vertikal angelegt. Die Leitlinien und Unionsrahmen können unterteilt werden in Vorschriften zu horizontalen (auf ein bestimmtes Förderziel ausgerichtete) Beihilfen, regionalen oder zu bestimmten Wirtschaftszweigen ergangenen, sektoralen Beihilfen. So gibt es einen Unionsrahmen für staatliche Beihilfen in Form von Ausgleichsleistungen für die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen,614 einen für staatliche Beihilfen zur Förderung von Forschung, Entwicklung und Innovation 615 und Leitlinien für Regionalbeihilfen 2014–2020.616 Ferner befassen sich Mitteilungen, Bekanntmachungen und Leitlinien mit allgemeinen oder speziellen beihilferechtlichen Fragen wie dem Begriff der Beihilfe, 617 kurzfristigen Exportkreditversicherungen, 618 Gewährung von Risikokapital,619Umweltbeihilfen,620 staatlichen Bürgschaften,621 Beihilfen für die Ausbildung und Beschäftigung benachteiligter Arbeitnehmer622 oder der Filmwirtschaft623 und dem Rundfunk.624 Weitere Leitlinien bestehen für Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten,625 zu Beihilfen für Flughäfen und Luftverkehrsgesellschaften,626 sowiefür den schnellen Breitbandausbau.627 Die beihilferechtlichen Rechtsinstrumente sind auf der Website der Generaldirektion Wettbewerb der Kommission zu finden.628 Soft law war ein wesentliches Instrument zur Bewältigung der Finanzkrise und 256 der realwirtschaftlichen Folgen ab 2008, die sich mit der Rekapitalisierung und Umstrukturierung von Banken und der bilanziellen Behandlung wertgeminderter Aktiva im Licht des Beihilfenrechts befassten.629

_____ 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629

Bartosch Art 107 III AEUV Rn 2, S 159. ABl 2012 C 8/15. ABl 2014 C 198/1. ABl 2013 C 209/1. ABl 2016 C 262/1. ABl 2012C 392/1. ABl 2014 C 19/4. ABl 2014/C 200/1. ABl 2008 C 155/10. ABl 2009 C 188/1 und 6. ABl 2013 C 332/1. ABl 2009 C 257/1. ABl 2014 C 249/1. ABl 2014/C 99/3. ABl 2013 C 25/1. Vgl http://ec.europa.eu/competition/state_aid/legislation/legislation.html. Diese finden sich unter http://ec.europa.eu/competition/state_aid/legislation/temporary.html. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

V. Das Beihilferegime | 1209

c) Anwendungsbereich des EU-Beihilfenrechts Der räumliche Anwendungsbereich des EU-Beihilfenrechts erstreckt sich auf die Mitgliedstaaten (Art 52 EUV) und die überseeischen Gebiete (Art 355 AEUV). Das EWR-Abkommen enthält vergleichbare Regelungen. Die EFTA-Überwachungsbehörde übernimmt für die EFTA-Staaten die beihilferechtliche Aufsichtsfunktion in enger Kooperation mit der Kommission. Exterritoriale Wirkung entfalten Art 107 f AEUV durch ihre Geltung für Beihilfen zur Finanzierung von Vorhaben von Unternehmen in Drittstaaten, sofern dadurch der Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigt wird. Das Beihilferecht gilt in sachlicher Hinsicht für alle wirtschaftlichen Tätigkeiten von Unternehmen und Wirtschaftszweigen in der EU, auch für öffentliche Unternehmen. Für die Produktion und Erzeugung landwirtschaftlicher Erzeugnisse gelten die Wettbewerbsregeln des AEUV einschließlich des Beihilfenrechts nur insoweit, als der Rat dies gesondert beschließt (Art 42 AEUV). Insoweit sehen die Gemeinsamen Marktordnungen nach Art 43 AEUV grundsätzlich die Anwendung von Art 107 ff AEUV vor.630 Art 93 AEUV gewährt eine Legalausnahme zu Gunsten von Beihilfen im Verkehr. Ihr kommt aber infolge der VO 1370/2007631 keine Bedeutung mehr zu, da damit abschließend geklärt wurde, wann Verkehrsbeihilfen gewährt werden können.632

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2. Das Verbot nationaler Beihilfen: der Beihilfenbegriff (Art 107 I AEUV) Art 107 I enthält das grundsätzliche Verbot nationaler Beihilfen. Obschon das 261 EU-Recht anders als das WTO-Recht keine Definition der Beihilfe enthält, sind die konkreten Tatbestandsmerkmale in Art 107 I AEUV niedergelegt: Es muss sich um eine Begünstigung handeln, die aus staatlichen Mitteln gewährt wird, zugunsten bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige (Spezifität/Selektivität) erfolgt, den Wettbewerb zu verfälschen droht und den zwischenstaatlichen Handel beeinträchtigt. Diese Tatbestandsmerkmale sind kumulativ. 262 Vorweg ist festzuhalten, dass dieAuslegung dieser Tatbestandsmerkmale in- 263 folge des Ziels, Wettbewerbsverfälschungen im Binnenmarkt zu vermeiden, im Ansatz eher weit ist,633 vor allem im Hinblick auf die ökonomischen Wirkungen von Begünstigungen; das fordert auch die effektive Wirksamkeit des EU-Rechts, hier in

_____ 630 Hierzu vgl auch VO 1184/2006, ABl 2006 L 214/7. 631 VO 1370/2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße, ABl 2007 L 315/1. 632 Birnstiel/Bungenberg/Heinrich/Knauff S 1170; Ruthig/Storr Rn 945. 633 So die hM, vgl Birnstiel/Bungenberg/Heinrich/Bungenberg S 104. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1210 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

Gestalt des grundsätzlichen Verbotes von Beihilfen. Motive, Ziele und Beweggründe für Beihilfen spielen erst auf der Ebene der Ausnahmen (Art 107 II, III, 106 II AEUV) eine Rolle. Der Beihilfebegriff ist objektiv; er bestimmt sich nur danach, ob eine staatliche Maßnahme einem oder mehreren Unternehmen einen Vorteil verschafft.634

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a) Begünstigung Zentraler Begriffsbaustein ist die Begünstigung.635Entsprechend des Ziels des EUWettbewerbsrechts, einheitliche Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt zu ermöglichen, sind einseitige, nicht allen Unternehmen zugutekommende Besserstellungen „gleich welcher Art“ geeignet, den Wettbewerb zu verfälschen, weil bestimmte Unternehmen einen Vorteil erlangen, den andere nicht haben. Der EuGH stellt auf die Begünstigungswirkung ab: Beihilfe ist demnach jede staatliche Maßnahme gleich welcher Art (so auch der Wortlaut von Art 107 I AEUV), die die Belastung verringert, die ein Unternehmen unter marktkonformen Umständen bei einem staatlich nicht beeinflussten Wettbewerb zu tragen hat.636 Die Begünstigungswirkung kann sich auf verschiedene Weise ergeben: durch eine positive Zahlung oder Vergünstigung, oder durch Verzicht oder Unterlassen, die anderen auferlegten Belastungen einzufordern. Entscheidend ist, dass einem Unternehmen ein Vorteil zukommt. Üblicherweise wird für das Vorliegen einer Begünstigung auch darauf abgestellt, ob eine Leistung ohne marktangemessene Gegenleistung erfolgte. Die Vorteilswirkung ergibt sich aus der Besserstellung infolge des Wertunterschieds. Daher sind alle Umstände einer Leistungsbeziehung einzubeziehen, was eine umfassende Analyse der Beziehungen zwischen Leistungsgeber und -empfänger verlangt, die nicht durchweg vorgenommen wird. Der EuGH hat etwa das Vorliegen einer Begünstigung durch Erlass von Sozialabgaben genügen lassen, ohne zu berücksichtigen, dass Unternehmen dafür Zusagen übernommen haben.637 Die Bestimmung einer Begünstigung anhand der Differenz zwischen Leistung und Gegenleistung setzt das Vorliegen einer Leistung voraus. Als Leistung ist jeder geldwerte Vorteil zu verstehen, unabhängig von Form und Art der Zuführung (direkte Geldgabe, Belastungsminderung). Ein Vorteil kann auch in Sondertarifen oder im Vergleich zum Markt zinsgünstigen Darlehen liegen; der Vorteil ist dann der niedrigere Zins.

_____ 634 EuG, verb Rs T-228/99 und 233/99 – West LB, Rn 180. 635 Ehlers/Fehling/Pünder/Kühling Bd 1 § 29 Rn 34. 636 EuGH, Rs C-39/94 – SFEI ua / La Poste ua, Rn 58; Rs C-251/97 – Frankreich / Kommission, Rn 35. 637 EuGH, Rs C-251/97 – Frankreich / Kommission, Rn 38 ff. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

V. Das Beihilferegime | 1211

Vorteile, die nur mittelbar bei Unternehmen ankommen, sind auch erfasst, etwa die staatliche Unterstützung von Verbrauchern zum Erwerb bestimmter Produkte, wie eine Steuervergünstigung für Beteiligungen an Unternehmen in einer bestimmten Region. Dadurch wird diesen Unternehmen die Eigenkapitalbeschaffung erleichtert.638 Fraglich ist, ob auch nicht-finanzielle, aber geldwerte Vorteile eine Begünstigung sind. So könnte man die Entlastung eines Unternehmens von der Befolgung rechtlicher Anforderungen wie Umweltschutzstandards als Begünstigung ansehen. Denn die Erleichterung allgemeiner Standards kann dazu führen, dass das Unternehmen sich Umweltschutzinvestitionen erspart.639 Sodann ist zu prüfen, ob eine Gegenleistung des Begünstigten vorliegt, und ob sieangemessen ist. Eine Vorteilswirkung kann sich durch einen vergünstigen Verkaufspreis einstellen. Die Beurteilung der Angemessenheit bestimmt sich nach Marktbedingungen. Daher kann die Angemessenheit leicht ermittelt werden, wenn für die Leistung transparente Märkte bestehen. Andernfalls ist auf die Einhaltung objektiver formaler Verfahren zu achten:640 Wurde ein Wertgutachten eingeholt? Wurde die Gegenleistung in einer transparenten öffentlichen Ausschreibung bestimmt? Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Gegenleistung spielt zunehmend der Vergleich mit dem Verhalten eines Privatunternehmers eine Rolle. Der market economy investor/private investor test vergleicht das Verhalten mit einem privaten Investor. Dieser Test wurde zuerst im Rahmen der staatlichen wirtschaftlichen Betätigung eingesetzt, um sicherzustellen, dass der Staat seine Unternehmen nicht durch Kapitalzufuhren begünstigt, die rein private Unternehmen nie erhalten hätten. Denn dann erhielten staatliche Unternehmen einen Vorteil in Höhe der Eigenoder Fremdkapitalzufuhr, den sie unter normalen Bedingungen nicht oder nicht zu denselben Bedingungen erhalten hätten. Bei staatlichen Eigenkapitalbeteiligungen, Kapitalzufuhren oder Darlehen und Zahlungserleichterungen an öffentliche Unternehmen ist daher zu fragen, ob ein Privatinvestor in derselben Situation sich zu den gleichen Bedingungen verhalten hätte. Falls nicht, wurde einVorteilgewährt. Entscheidend ist die ex ante Perspektive, also die Prognose eines Investors zum Zeitpunkt seiner Entscheidung.641 Dabei wird dem Vergleich ein mittel- bis langfristig renditeorientierter Investor zugrunde gelegt. Der Test führt zu einem Perspektiv-

_____ 638 EuGH, Rs C-156/98 – Deutschland / Kommission; Rs C-164/15 P – Kommission/Aer Lingus und Ryanair. 639 Allerdings ist in diesen Fällen durchaus zweifelhaft, ob die Begünstigung aus staatlichen Mitteln kommt, Birnstiel/Bungenberg/Heinrich/Pache/Pieber S 124. 640 Ehlers/Fehling/Pünder/Kühling Bd 1 § 29 Rn 35. 641 EuGH, Rs C-482/99 – Stardust Marine, Rn 71; zu offenen Rechtsfragen in der Anwendung des Tests s Jennert/Huhn BRZ 2014, 63. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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1212 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

wechsel, weil es nicht mehr um die Feststellung eines Vorteils beim Empfänger, sondern um die Bewertung des Verhaltens des Beihilfegebers geht. Bei komplizierten Transaktionen erweist sich die Bewertung des Verhaltens als komplex, weswegen sich die Bekanntmachung zum Beihilfebegriff dem „marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten“ widmet.“642 Der private investor test wurde zunächst nur auf das erwerbswirtschaftliche 272 Verhalten der öffentlichen Hand angewendet, also auf die Fälle, in denen die öffentliche Hand mit einer Ertragsperspektive handelt, und nicht auf hoheitliches Handeln. Für letzteres ist ein Markt nicht vorhanden, etwa bei Vorteilen in der Steuererhebung. In jüngeren Entscheidungen hat der EuGH der Kommission aufgegeben, das Parteivorbringen ökonomisch rationalen Verhaltens beim teilweisen Verzicht auf Steuerforderungen zur Insolvenzvermeidung zu prüfen und dabei die mögliche Dauer eines Insolvenzverfahrens einzustellen; Beihilfe ist nur dann gegeben, wenn ein privater Gläubiger offenkundig eine vergleichbare Erleichterung nicht gewährt hätte.643 Das Gleiche gilt bei der Veräußerung von Unternehmen durch den Staat: Der private investor test hat auch hier Anwendung zu finden.644 Der private investor test gilt schließlich auch, wo der Staat einem Unternehmen, an dem er beteiligt ist, einen Vorteil nicht durch eine Kapitalmaßnahme, sondern durch steuerliche Vergünstigungen gewährt.645 Diese Ausweitung des private investor tests belegt, dass es für den Beihilfebegriff auf das wirtschaftliche Ergebnis ankommt (daher der neue Begriff „Grundsatz des privaten Wirtschaftsteilnehmers“646), schafft aber die Problematik, dass die Motivation der öffentlichen Hand schon bei der Frage nach der Tatbestandlichkeit einer Beihilfe relevant wird. Eine weitere Problematik besteht mit der Frage, welche Gegenleistungen zu 273 berücksichtigen sind. Die Erreichung allgemeiner struktur-, wirtschafts- oder beschäftigungspolitischer Ziele durch Beihilfen wie Erhalt von Arbeitsplätzen und damit geringere Inanspruchnahme von Sozialleistungen ist nach der bisherigen Praxis nicht berücksichtigungsfähig, weil das für einen Privatinvestor keine Rolle spielt.647 Anders sieht es bei individuellen Leistungen des Unternehmens aus. Für die Bestimmung der Angemessenheit von Gegenleistungen für finanziel274 le Zuführungen an Unternehmen, die gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen, dh

_____ 642 ABl 2016 C 262/1, Rn 73 ff. 643 EuGH, Rs C-73/11 P – Frucona Košice, Rn 72–90. 644 Vgl EuG, verb Rs T-268/08 und T-281/08 – Bank Burgenland; bestätigt in EuGH, verb Rs C214/12 P, C-215/12 P und 223/12 P – Land Burgenland ua / Kommission, Rn 94–99, 114. 645 EuGH, Rs C-124/10 P – EDF, Rn 76 ff. 646 EuGH, Rs C-579/16 P – FIH Holding, Rn 45, 52. 647 Der private Investor entscheidet sich für das höchste verlässliche Kaufangebot, unabhängig von Motiven des Käufers, EuGH, verb Rs C-214/12 P, C-215/12 P und 223/12 P – Land Burgenland ua / Kommission, Rn 99, 114. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

V. Das Beihilferegime | 1213

Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erbringen,648 hat der EuGH in seiner Altmark-Trans-Entscheidung Leitlinien festgelegt. Unternehmen, die im Allgemeininteresse bestimmte Aufgaben wahrnehmen, erhalten dafür konkrete Vorgaben, etwa die Verpflichtung, Telekommunikationsdienste in guter Qualität überall und an jeden zu erbringen (Universaldienstverpflichtung), oder im öffentlichen Nahverkehr eine bestimmte Taktfrequenz einzuhalten. Dafür erhalten die Unternehmen Zuwendungen der öffentlichen Hand, die die Kosten ausgleichen sollen. Die Zuwendungen sind dann keine Begünstigungen, wenn vier Kriterien kumulativ erfüllt sind: Erstens muss ein expliziter Betrauungsakt vorliegen, der das Unternehmen mit einer Dienstleistung im allgemeinen Interesse beauftragt und klar definierte Gemeinwohlpflichten festlegt. Zweitens müssen die Parameter zur Berechnung der Gegenleistung zuvor objektiv und transparent festgelegt sein. Drittens darf der Ausgleich nur die Nettomehrkosten für die Erfüllung der Gemeinwohlpflichten abdecken (keine Überkompensation). Nettomehrkosten sind die Kosten der Leistungsbereitstellung abzüglich der Einnahmen dadurch und abzüglich sonstiger Vorteile, die mit der Leistung einhergehen (Skalenvorteile, positiver branding-Effekt), aber zuzüglich eines angemessenen Gewinns.649 Viertens muss der Kostenmaßstab ein durchschnittliches, gut geführtes Unternehmen sein, wenn die Kompensationszahlung nicht durch öffentliche Ausschreibung ermittelt wird. Es ist daher ein objektiver Kostenmaßstab anzulegen; es geht nicht um die tatsächlichen Kosten gerade des jeweiligen Unternehmens.650 Dies ist zutreffend, da es im Beihilferecht um den Vergleich zu den marktüblichen Bedingungen geht. Der EuGH zieht damit Kriterien aus Art 106 II AEUV bereits in den Tatbestand der Beihilfe hinein.651 Sind die Kriterien erfüllt, liegt begrifflich mangels Begünstigung keine Bei- 275 hilfe vor. Die Beihilfenaufsicht greift nicht. Das ist der Vorteil der Tatbestandslösung des EuGH. Hätte der EuGH es bei der Rechtfertigungslösung belassen (die die Zuwendungen als Beihilfe ansehen würde, aber ihre Rechtfertigung über Art 106 II AEUV ermöglicht), wäre stets die Kommission anzurufen und ihre Entscheidung abzuwarten.

_____ 648 Mit gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen sind Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne von Art 106 II AEUV gemeint, EuG, Rs T-289/03 – BUPA, Rn 161 f. 649 EuGH, Rs C-280/00 – Altmark Trans, Rn 93, 95. 650 Zu allen vier Kriterien s EuGH, Rs C-280/00 – Altmark Trans, Rn 89 ff, 95;Rs C-446/14 P – Tierkörperbeseitigung. Die Entscheidung EuG, Rs T-289/03 – BUPA wurde als eine gewisse Flexibilisierung der Altmark-Trans-Kriterien gesehen, Birnstiel/Bungenberg/Heinrich/Kleine/Sühnel S 151; Sauter CMLRev 2009, 269 (281 ff). Für die Praxis ist die Flexibilisierung durch den Freistellungsbeschluss des Almunia-Pakets entscheidend (Rn 327). 651 Art 106 II bleibt aber eine eigenständige Ausnahme, für deren Anwendung das 2. und 4. Altmark-Kriterium nicht gelten dürfte, vgl EuGH, Rs C-66/16 P – País Vasco, Rn 44 ff. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1214 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

b) aus öffentlichen Mitteln 276 Die Begünstigung muss staatlich sein oder aus staatlichen Mitteln gewährt werden.

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Das Beihilferecht gilt für Begünstigungen aus allen öffentlichen Mitteln; kommunale oder regionale Mittel oder Mittel anderer staatlicher Einrichtungen sind umfasst. Die Unterscheidung zwischen „staatlich“ und „aus staatlichen Mitteln“ belegt, dass die Begünstigung entweder unmittelbar von der öffentlichen Hand kommt, oder aber mittelbar, das heißt durch Zwischenschaltung einer privaten, nichtöffentlichen Einrichtung gleich welcher Art. Die Begünstigung wird auch in letzterem Fall aus staatlichen Mitteln gewährt, wenn sie in einer Belastung öffentlicher Haushalte mündet oder die dafür verwendeten Mittel unter staatlicher Kontrolle und beständiger öffentlicher Verfügung stehen und das der öffentlichen Hand zurechenbar ist. Diese weiten Formulierungen stellen sicher, dass das Verbot staatlicher Beihilfen nicht durch geschickte Gestaltungen der öffentlichen Mittelverwendung, etwa durch Ausgründungen und Verselbständigungen staatlicher Mittel bei parastaatlichen Einrichtungen, umgangen werden. Kernpunkt dieses Tatbestandsmerkmals ist die Notwendigkeit, dass öffentliche Mittel fließen oder auf solche verzichtet wird. Die Begünstigung muss sich als Kehrseite in einer Belastung öffentlicher Haushalte niederschlagen,652 wobei auch eine potentielle Belastung durch ein hinreichend konkretes, haushaltsbelastendes Risiko, wie bei staatlichen Bürgschaften, ausreicht.653 Begünstigungen, die vom Staat auf anderem Weg, etwa durch Erleichterungen bei allgemeinverbindlichen Grenzwerten oder durch gesetzliche Mindestpreisvorgaben für bestimmte Unternehmen, verursacht werden, aber nicht zu öffentlichen Haushaltsbelastungen oder einem Einnahmenverzicht führen, sind nicht aus staatlichen Mitteln gewährt und stellen keine Beihilfe dar. Die Freistellung von Umweltschutzstandards kann sich aber in von der öffentlichen Hand zu tragenden Folgen niederschlagen, so dass zumindest ein Belastungsrisiko entsteht. Diese Lesart der Praxis war nicht zwingend, da der Wortlaut auf „staatliche“ Begünstigungen oder auf „aus staatlichen Mitteln“ gewährte Begünstigungen abstellt und daher gerade nicht die Alternative unmittelbar oder mittelbar aus staatlichen Mitteln formuliert.654 Der Wortlaut lässt die Deutung zu, wonach die Begünstigung entweder staatlich begründet sein muss oder aber staatlich finanziert. Für

_____ 652 Dazu EuGH, Rs C-379/98 – Preussen Elektra, Rn 58 ff. Es könnte indes ein bevorzugter Zugang zu öffentlichen Ressourcen (Straßennutzung) genügen, EuGH, Rs C-518/13 – Eventech. 653 EuGH, verb Rs C-399/10 P und C-401/10 P – Bouygues, Rn 105–107. Zum Nachweis der Begünstigung durch die Kommission EuGH, Rs C-438/16 P – IFP, Rn 149 ff. 654 So aber EuGH, Rs C-379/98 – Preussen Elektra, Rn 58; EuG, Rs T-139/09 – Frankreich / Kommission, Rn 59. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

V. Das Beihilferegime | 1215

ersteres würde genügen, dass die Begünstigung aus einer staatlichen Entscheidung zulasten der Finanzen Dritter folgt. Diesen Weg – der von anderen Sprachfassungen abgedeckt wäre (im Englischen: „any aid granted by a Member State or through State resources in any form whatsoever“) – ist der EuGH bislang nicht gegangen, wohl um eine weitere Ausweitung des Anwendungsbereichs der Beihilfenkontrolle zu vermeiden. Der EuGH begründet sein Abstellen auf öffentliche Haushaltsbelastung auch mit Art 108 AEUV. Es seien „nur solche Vorteile, die unmittelbar oder mittelbar aus staatlichen Mitteln gewährt werden oder eine zusätzliche Belastung für den Staat darstellen, als Beihilfen […] anzusehen.“Aus diesem Wortlaut und Verfahrensregeln nach Art 108 AEUV „geht hervor, dass die in anderer Weise als aus staatlichen Mitteln gewährten Vorteile nicht vom Anwendungsbereich … erfasst werden.“655 In jüngerer Zeit schien das Kriterium der Zurechenbarkeit einer Förderung an den Staat bedeutsamer zu werden als die Frage nach der unmittelbaren oder mittelbaren Staatlichkeit der Mittel; zuletzt hat der EuGH wieder betont, dass Vergünstigungen nur dann Beihilfe sind, wenn sie zum einen aus staatlichen Mitteln gewährt werden und zum anderen dem Staat auch zurechenbar sind656 (näher sogleich). Der Zusammenhang zwischen Begünstigung und Haushaltsbelastung muss 281 nicht so eng sein, dass das Belastungsrisiko dem Vorteil entspricht, „noch dass diesem Vorteil eine solche Verringerung oder ein solches Risiko gegenübersteht, noch dass er von gleicher Art wie die Bindung staatlicher Mittel ist, denen er entspringt“.657 Begünstigungen aus öffentlichen Mitteln liegen schließlich auch vor, wenn es 282 sich um dem Staat zurechenbare Mittel handelt. Öffentliche Mittel sind auch gegeben, wenn die Zuwendung von vom Staat getrennten privaten Einrichtungen oder öffentlichen Fonds vergeben wird, die infolge staatlicher Regelung über Mittel verfügen, etwa durch parafiskalische Abgaben oder Zwangsbeiträge. Das ist etwa der Fall, wenn der Staat Sozialabgaben für die heimische Textilindustrie senkt, die dann ausgeglichen werden durch einen Fonds, der sich aus staatlichen Mitteln speist658 oder wenn der Staat einen Fonds einrichtet, zu dem alle Nahrungsmittelbetriebe Zwangsbeiträge leisten, der aber sein Geld gemäß gesetzlicher Aufgabenstellung für Marketingmaßnahmen zugunsten der deutschen Landwirtschaft ausgibt.659 Die Zurechenbarkeit dieser Zuwendungsvergabe an den Staat liegt in dem Einfluss begründet, den der Staat auf die Mittelverwendung hat.660 Staatliche Mittel sind

_____ 655 EuGH, verb Rs C-399/10 P und C-401/10 P – Bouygues, Rn 99. 656 EuGH, Rs C-405/16 P – EEG 2012, Rn 48. 657 EuGH, verb Rs C-399/10 P und C-401/10 P – Bouygues, Rn 110. 658 EuGH, Rs 173/73 – Italien / Kommission, Rn 33/35. 659 EuGH, Rs 78/76 – Steinike & Weinlig, Rn 20 ff; zu dieser Einordnung EuGH, Rs C-345/02 – Pearle, Rn 38. 660 EuGH, Rs C-83/98P – Ladbroke Racing, Rn 47 ff. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1216 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

„sämtliche Geldmittel […], die die öffentlichen Stellen […] zur Unterstützung von Wirtschaftsteilnehmern verwenden können, ohne dass es darauf ankommt, dass diese Mittel dauerhaft zum Vermögen dieser öffentlichen Stellen gehören. Auch wenn die […] Beträge nicht dauerhaft im Besitz der öffentlichen Stellen sind, genügt daher der Umstand, dass sie unter ständiger öffentlicher Kontrolle und somit den zuständigen nationalen Stellen zur Verfügung stehen, um als staatliche Mittel“ zu gelten.661 Eine für eine Zurechnung hinreichende staatliche Beeinflussung liegt schon bei einem hoheitlichen Gründungsakt, insbesondere bei einer hoheitlichen Aufgabenfestlegung vor. Es kommt „auf den Umfang der Beteiligung der öffentlichen Stellen bei der Festlegung der betreffenden Maßnahmen und ihrer Finanzierungsmodalitäten an.“662Die unter Anlegung dieser Anforderungen vom EuG bejahte staatliche Zurechenbarkeit der zur Förderung erneuerbarer Energien eingerichteten Zahlungsströme der EEG-Umlage663 wurde allerdings vom EuGH im Rechtsmittelverfahren jüngst zurückgewiesen; der EuGH hob hevor, dass die Mittel für die EEG-Förderung nicht unterständiger staatlicher Kontrolle liegen und den öffentlichen Stellen zur Verfügung stehen, weil die Energieversorger nicht gesetzlich verpflichtet sind, die Beiträge auf den Letztverbraucher abzuwälzen.664 Auch genügt eine bloß theoretische Steuerungsmöglichkeit durch die öffentliche Hand nicht für eine Zurechnung. Die öffentliche Hand muss von ihren Beeinflussungsmöglichkeiten tatsächlich Gebrauch machen. Die individuelle Zuwendungsaktion muss der öffentlichen Hand zurechenbar sein. Diese Zurechenbarkeit wird gegebenenfalls anhand eines Bündels von Indizien geprüft, die auf die Eingliederung in die Strukturen öffentlicher Verwaltung abstellen, auf das Vorliegen marktüblicher Tätigkeiten und die Intensität behördlicher Aufsicht. An Zurechenbarkeit fehlt es daher, wenn ein Geschäftsführer eines öffentlichen Unternehmens eigenmächtig und verheimlichend eine Bürgschaft übernimmt.665 Ebensowenig zurechenbar ist eine autonom, ohne staatliche Beeinflussung initiierte Werbekampagne eines Berufsverbands für seine Mitglieder, die vollständig aus zweckgebundenen Beiträgen der Mitglieder finanziert wird.666

_____ 661 EuG, Rs T-139/09 – Frankreich / Kommission, Rn 60, 80. 662 EuG, Rs T-139/09 – Frankreich / Kommission, Rn 63; im konkreten Fall waren die Mittel, obschon freiwillig von den Obstproduzenten gegeben und nicht zwangsweise eingezogen, infolge der staatlichen Bestimmung ihrer Verwendung staatliche Mittel, vgl ebd Rn 84–88. 663 So noch EuG, Rs T-47/15 – EEG 2012, Rn 111 ff. Die Entscheidungen zu Ökostromförderungen werden teilweise als Abweichung zu EuGH – Preussen Elektra (Rn 244, Fn 604) gesehen, Burgi/ Wolff EuZW 2014, 647; Streinz/Koenig/Förtsch, Art 107 AEUV Rn 66 f. 664 EuGH, Rs C-405/16 P – EEG 2012, Rn 70, 72, 76, 80. 665 Näher EuGH, Rs C-482/99 – Stardust Marine, Rn 46 ff; Rs C-242/13 – Commerz Nederland; Rs C472/15 P – SACE. 666 EuGH, Rs C-345/02 – Pearle, Rn 36 f. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

V. Das Beihilferegime | 1217

c) Spezifität/Selektivität: für bestimmte Unternehmen oder Branchen Hinter der Spezifität stehen zwei getrennte Tatbestandsmerkmale: Die Begünstigung muss bestimmten Unternehmen oder Wirtschafts-/Produktionszweigen zugute kommen. Die Begünstigung mussUnternehmen oder Wirtschaftszweigen zugute kommen. Der Unternehmensbegriff des Beihilferechts ist systematisch geboten derselbe wie im EU-Kartellrecht. Art 101 f AEUV als auch Art 107 AEUV stehen im Kapitel zur EU-Wettbewerbspolitik. Es geht daher wie im Kartellrecht um eine funktionale Begrifflichkeit. Unternehmen ist jede wirtschaftlich tätige Einheit, die am Markt als Anbieter und Nachfrager auftritt (Rn 49 ff). Der Begriff des Produktionszweigs meint eineganze Branche der Wirtschaft, etwa alle Gewerbezweige oder die freien Berufe. Produktionszweig im weiten Sinne sind nicht nur das produzierende Gewerbe, sondern auch reine Dienstleistungsoder Handelsunternehmen. Als zweite Voraussetzung muss die Begünstigung bestimmten Unternehmen oder Wirtschaftszweigen zugutekommen. Die Beschränkung der Zuwendung auf bestimmte Unternehmen bedingt ihre Begünstigungswirkung und damit ihren wettbewerbsverzerrenden Effekt. Die staatliche Maßnahme führt dazu, bestimmte Zweige der Wirtschaft gegenüber anderen, die sich im Hinblick auf das mit der Maßnahme verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Lage befinden, zu bevorzugen. Im Kern geht es um ein Diskriminierungsverbot. Daher sind allgemeine Wirtschaftsförderungsmaßnahmen keine Beihilfen, weil und soweit sie allen Unternehmen und Branchen in gleicher Weise zugutekommen. Von einer allgemeinen Steuersenkung oder dem Ausbau von Infrastrukturen profitieren alle; kein Unternehmen hat einen spezifischen Vorteil. Anders ist es, wenn eine der Form nach allgemeine Steuersenkung oder eine Infrastrukturmaßnahme nur bestimmten Unternehmen zugutekommt.667 Zwar führt eine allgemeine Steuersenkung zu einer Veränderung der Wettbewerbsverhältnisse im Binnenmarkt, weil die nationalen Unternehmen im Vergleich zu Konkurrenten aus anderen Mitgliedstaaten einen Vorteil erhalten, doch infolge der EU-Niederlassungsfreiheit können die Wettbewerber sich die niedrigeren Steuern zunutze machen. Das Merkmal der Selektivität hat eine materielle und eine territoriale Dimension. Das Beihilfeverbot wendet sich gegen Vorteile an spezifische Unternehmen im Gegensatz zu vergleichbaren Unternehmen; es wendet sich aber auch gegen Zuwendungen für Unternehmen in einer bestimmten Region.

_____ 667 Zur Abgrenzung allgemeiner von spezifischen Infrastrukturen die Kommissionsentscheidung zu Beihilfen zugunsten von Seilbahnbetreibern, ABl 2003 L 183/19, Tz 20 ff. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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1218 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

Bei der materiellen Dimension der Spezifität ist die Abgrenzung allgemeiner von spezifischen Regelungen nicht immer einfach. Eine allgemein formulierte Zuwendung kann dennoch bestimmte Unternehmen bevorzugen, so wenn nach der Konzeption der Regelung oder ihrer Anwendung doch wieder nur bestimmte Unternehmen gegenüber anderen, die sich in vergleichbarer tatsächlicher und rechtlicher Lage befinden, bevorteilt werden. Das kann dadurch geschehen, dass die Ermessensausübung stets nur zugunsten bestimmter Unternehmen erfolgt. Diese Vorgabe stellt Anforderungen an die Gestaltung von Steuersystemen. 291 Ausnahmen von Steuerbelastungensind dann Beihilfen, wenn sie eine Abweichung von den allgemein zur Anwendung kommenden Regeln darstellen und nicht durch Wesen, Struktur und inneren Aufbau des Steuersystems oder ihr Ziel gerechtfertigt sind.668 Die Beihilfeprüfung untersucht daher zunächst, ob bestimmte Unternehmen im Rahmen einer allgemeinen Regelung gegenüber anderen, die sich in vergleichbarer tatsächlicher und rechtlicher Lage befinden, ungleich behandelt werden. Für diesen Schritt ist die Referenzregel zu identifizieren und dann das Vorliegen einer Ungleichbehandlung dadurch zu prüfen, ob die Abweichung Unternehmen trifft, die sich in vergleichbarer Lage befinden. Sodann ist zu analysieren, ob die Ungleichbehandlung durch Logik und inneren Aufbau der Regelung gerechtfertigt ist.669 Die Beweislast dafür, dass sich eine Steuerausnahme durch Natur und inneren Aufbau rechtfertigt, trägt der Mitgliedstaat.670 Im Einzelfall kann bereits eine Steuersystematik in sich diskriminierend angelegt sein, weil die allgemeinen Besteuerungskriterien so angelegt sind, dass bestimmte Unternehmen von vornherein wenig Steuern zahlen.671 Die territoriale Dimension der Selektivität bedeutet, dass eine Regel selektiv 292 und daher unzulässig ist, wenn sie nur für einen Teil des nationalen Territoriums gilt. Die territoriale Selektivität steht in einem Spannungsverhältnis zur innerstaatlichen Kompetenzverteilung, die bspw regional spezifische Regeln zulässt, etwa bei regionaler Steuerhoheit. Eine Beihilfe kann dann nur gegeben sein, wenn die Steuerregeln einer Region in sich zwischen bestimmten Unternehmen unterscheiden. Eine Selektivität ist nicht gegeben, wenn in Regionen besondere Steuerregeln im Rahmen ihrer territorialen Steuerhoheit bestehen; das territorial begrenzte, regionale Steuersystem ist dann das normale, und insoweit wird das Vorliegen abweichender Bevorzugungen untersucht. Problematisch wird die Bewertung bei einem Nebeneinander von zentral293 staatlicher und regionaler Steuerhoheit. Eine Beihilfe ist dann nicht gegeben, wenn eine Region autonom ist in institutioneller Hinsicht (dh die Region genießt

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_____ 668 669 670 671

Vgl etwa EuGH, Rs C-75/97 – Maribel, Rn 32 ff. Bartosch Art 107 I AEUV Rn 106, S 108; EuG, Rs T-314/15–Griechenland/Kommission, Rn 52 ff. Vgl EuGH, verb Rs C-106/09 P und C-107/09 P – Kommission/Gibraltar, Rn 146 f. EuGH, verb Rs C-106/09 P und C-107/09 P – Kommission/Gibraltar, Rn 88 ff. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

V. Das Beihilferegime | 1219

eine politisch eigene Stellung), in verfahrensmäßiger Hinsicht und in wirtschaftlicher Hinsicht (dh eine begünstigende Regel führt zu Steuerausfällen für die Region; die Region muss die wirtschaftlichen Folgen selbst tragen und darf nicht quersubventioniert oder von der Zentralregierung subventioniert sein).672

d) Wettbewerbsverfälschung Die Begünstigung muss den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen. 294 Eine zumindest drohende Wettbewerbsverfälschung liegt vor, wenn die Begünstigung in ein tatsächliches oder auch nur potentiell bestehendes Wettbewerbsverhältnis zwischen Unternehmen aktuell oder potentiell eingreift und damit die Ergebnisse des Wettbewerbsprozesses verändern kann. Die Wettbewerbsverfälschung ändert die Marktbedingungen der Wettbewerber. Da eine Zuwendung bereits den Marktzutritt anderer berührt, ist auch auf bloße potentielle Wettbewerbsverhältnisse abzustellen. Typischerweise ist eine drohende Wettbewerbsverfälschung bereits durch den 295 Begünstigungseffekt dargetan. Nach dem Grundsatz der weiten, effektivitätsorientierten Auslegung verfälscht jede spezifische Begünstigung den Wettbewerb. Allerdings kann eine Wettbewerbsverfälschung ausnahmsweise fehlen; davon wird dann ausgegangen, wenn die Zuwendung nicht spürbar ist, weil sie unterhalb der Deminimis-Schwelle673 liegt. Eine besondere, qualifizierte Spürbarkeit ist für das Vorliegen einer Wettbewerbsverfälschung nicht gefordert; eine geringe Verfälschung genügt.674 In der Praxis hat die Kommission dem Aspekt der Wettbewerbsverfälschung mit der verstärkten Ausrichtung der Beihilfenkontrolle an ökonomischen Kriterien zunächst mehr Gewicht beigelegt.675 Eine explizite Begründung der Wettbewerbsverfälschung legt eine präzise 296 Marktabgrenzung nahe, um die Veränderung der Wettbewerbsverhältnisse auf dem Markt darzulegen. Gefordert wird das von der Judikatur nicht.676

_____ 672 BartoschArt 107 I AEUV Rn 112, S 113. 673 Nach der De-minimis-Verordnung 1407/2013, ABl 2013 L 352/1, sind Beihilfen von max 200.000 EUR binnen drei Steuerjahren keine Beihilfe, wobei offen bleibt, ob dies an der fehlenden Wettbewerbsverfälschung oder der fehlenden Zwischenstaatlichkeit liegt, vgl Erwgr 3. 674 EuG, Rs T-55/00 – CETM, Rn 92. 675 BartoschArt 107 I AEUV Rn 155 f, S 142. Kritisch zur Beschränkung ökonomischer Analysen auf die Rechtfertigungsebene Streinz/Koenig/Förtsch, Art 107 AEUV Rn 106. 676 Bartosch ebd. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1220 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

e) Zwischenstaatlichkeit 297 Das letzte Tatbestandserfordernis verlangt, dass sich die Wettbewerbsverfälschung

auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten auswirkt. Das sichert das für die Anwendung des EU-Rechts erforderliche grenzüberschreitende Element. Es belegt die unionsrechtliche Relevanz des Sachverhalts.677Die Zwischenstaatlichkeit bestimmt den Anwendungsbereich des EU-Beihilfenrechts zur Abgrenzung von rein innerstaatlichen Fällen. Wegen der weiten Sichtweise und der zunehmenden Verflechtung der in298 nergemeinschaftlichen Handelsströme wird man immer seltener davon ausgehen können, dass einzelne Beihilfen selbst auf regionaler Ebene den Handel nicht beeinträchtigen. Die Zwischenstaatlichkeit begrenzt die Anwendung daher kaum noch. Der Wortlaut verlangt eine Beeinträchtigung. Die Rechtsprechung lässt – wie 299 bei der Wettbewerbsverfälschung – eine potentielle Beeinträchtigung genügen.678 Die Zwischenstaatlichkeit fehlt bei rein lokalen Betätigungen, etwa Leis300 tungsangebote ohne überregionale Ausstrahlung wie ein Freizeitbad einer kleinen Kommune mit einem Einzugsbereich von nur 50 km, oder Kulturangebote in einer bloß regionalen Sprache.679 Die Entscheidungspraxis versuchte zuletzt, dem mehr Klarheit zu geben.680 Zu beachten ist, dass für die reine Lokalität nicht nur die Nutzerebene, sondern auch die Betreiberebene zu beachten ist. Rein lokale Leistungen können auch grenzüberschreitend tätige Unternehmen erbringen, so dass deren Begünstigung doch grenzüberschreitende Effekte hat.

3. Ausnahmen vom Beihilfenverbot 301 Das Beihilfeverbot nach Art 107 I AEUV unterliegt den Ausnahmen nach Art 107 II,

III AEUV. Als weitere Ausnahmenorm ist Art 106 II AEUV anzusehen, der Abweichungen vom Wettbewerbsrecht zugunsten von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zulässt (Rn 235 ff). Art 107 II AEUV gewährt von Gesetzes wegen Ausnahmen, so dass die Kom302 mission keinen Entscheidungsspielraum auf der Rechtsfolgenseite hat, sondern einen Beurteilungsspielraum, während die Ausnahmen nach Art 107 III AEUV Gegenstand von Ermessen der Kommission sind. Auch nach Art 107 II AEUV zulässige

_____ 677 Birnstiel/Bungenberg/Heinrich/Bungenberg S 106. 678 Petzold S 34 f. 679 Ehlers/Fehling/Pünder/Kühling § 29 Rn 40, Fn 169. Vgl die Entscheidung zu Freizeitbad Dorsten, http://ec.europa.eu/competition/state_aid/cases/137009/137009_1153410_12_2.pdf. 680 Mitteilung zum Beihilfebegriff, Rn 196 f und Beschlüsse vom 21.9.2016, hierzu Pressemitteilung IP/16/3141. Dazu Traupel/Byczynski, in Weiß (Hrsg.), Kommunales EU-Beihilfenrecht, 2018, 53 (55 f). Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

V. Das Beihilferegime | 1221

Beihilfen sind der Kommission nach Art 108 III AEUV zu notifizieren; die Legalausnahme befreit nicht von der Beihilfenaufsicht der Kommission.681

a) Legalausnahme nach Art 107 II AEUV Die Legalausnahmen des Art 107 II AEUV haben keine große praktische Bedeu- 303 tung. Sie lassen Zuwendungen zu, die dem Ausgleich von Schäden und Benachteiligungen infolge besonderer sozialer Umstände (lit a] sozial motivierte Beihilfen an Endverbraucher) oder außergewöhnlicher Schadensereignisse dienen. Die sozialen Beihilfen nach lit a) sind mittelbar Unternehmen begünstigende Zuwendungen. Eine einseitige Begünstigung zugunsten nur inländischer Unternehmen ist unzulässig. Beihilfen nach Art 107 II lit b) AEUV bei außergewöhnlichen Ereignissen oder 304 Naturkatastrophen wie etwa Krieg, innere Unruhen oder Umweltkatastrophen dürfen nur den Schaden ausgleichen, nicht aber der Restrukturierung der Gebiete dienen. Art 107 II lit c) AEUV dient dem Ausgleich der durch die deutsche Teilung verur- 305 sachten Nachteile. Die Ausnahme ist eng auszulegen und darf nicht genutzt werden, um wirtschaftliche Rückstände infolge der jahrzehntelangen sozialistischen Misswirtschaft auszugleichen. Die Judikatur fordert eine direkte Kausalität zwischen den Nachteilen und der ehemaligen Demarkation. Die Beihilfen dienen etwa der Wiederherstellung der durchtrennten Infrastruktur und Überwindung von Mobilitätshürden. Seit der Wiedervereinigung wird diese Ausnahme für Beihilfen im Beitrittsgebiet genutzt. Die Aufhebung der Deutschlandklausel ist seit 1.12.2014 möglich.

b) Ermessensausnahmen nach Art 107 III AEUV aa) Zur Ermessensausübung der Kommission Die Kommission hat die Grundlagen für ihre Ermessensausübung im Rahmen 306 von Art 107 III AEUV in Leitlinien und Unionsrahmen, die zulässige Beihilfekategorien und Förderintensitäten angeben, niedergelegt oder durch spezifisches Sekundärrecht, die Gruppenfreistellungsverordnungen (Rn 251), konkretisiert. Bei ihrer Ermessensausübung hat die Kommission zu prüfen, ob die Beihilfe einem der Ziele nach Art 107 III AEUV dient und ob sie dafür notwendig ist. Seit der stärker ökonomischen Ausrichtung der Beihilfekontrolle mit dem Ak- 307 tionsplan staatliche Beihilfen (Rn 241), sog more economic approach, kommt dabei auch der Abwägung zwischen positiven Wirkungen der Beihilfe und ihren Wettbewerbsverfälschungen für die Beurteilung wichtige Bedeutung zu. Die Genehmigung von Beihilfen erfordert danach im ersten Schritt die Klärung, ob die Beihilfe einem Ziel von gemeinsamem Interesse dient. Zweitens ist ein Marktversagen

_____ 681 So auch Calliess/Ruffert/Cremer Art 107 AEUV Rn 40; Birnstiel/Bungenberg/Heinrich/Penner S 378. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1222 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

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festzustellen, dem die Beihilfe im Interesse eines Ziels nach Art 107 III AEUV begegnet (Anreizeffekt). Sodann sind die Angemessenheit der Beihilfe dafür und ihre Auswirkungen auf den Wettbewerb zu klären, ehe eine Gesamtabwägung erfolgt. Nur wenn letztere überwiegend positive Wirkungen zeigt, kann die Beihilfe genehmigt werden.682 Der more economic approach ist oft kritisiert worden, nicht zuletzt wegen der unzureichenden normativen Fundierung.683 Positiv ist die Konkretisierung des wenig konkreten Wortlauts des Art 107 III AEUV, der das Ermessen der Kommission kaum leitet. Der EuGH nimmt umgekehrt in Respektierung des Ermessens der Kommission seine Kontrollintensität zurück. Er beschränkt sich auf die Überprüfung des Verfahrens, der Schlüssigkeit der Begründung, der richtigen Ermittlung des Sachverhalts und des Fehlens offensichtlicher Beurteilungsfehler. Der EuGH verlangt aber, dass die Kommission ihre Beurteilung auf eine umfassende Beachtung aller Gegebenheiten stützt, die sie gegebenenfalls durch Einleitung eines Hauptprüfverfahrens nach Art 108 II AEUV zu erheben hat. Je offener ein in Art 107 III AEUV verwendeter Begriff, umso umfangreicher sind die Aspekte, die die Kommission bei ihrer Abwägung zu berücksichtigen hat.684 Grundlegend für die Kommission ist die Differenzierung zwischen Betriebsbeihilfen, also Zuwendungen zur Deckung laufender Verluste und Investitionsbeihilfen. Da erstere nur laufende Defizite decken, aber keine spezifischen Projekte stützen, sind sie grundsätzlich rechtswidrig, da ohne Bezug zu den Zielen der Ausnahmetatbestände; Ausnahmen gibt es zur Finanzierung der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse nach Art 106 II AEUV (Rn 324 ff; allgemein Rn 235 ff). Wie erwähnt (Rn 251), hat die Kommission ihre Ermessensausübung in den Gruppenfreistellungsverordnungen für bestimmte Beihilfentypen, mit denen sie hinreichende Erfahrungen sammeln konnte, abstrakt niedergelegt. Das entlastet die Kommission, weil die dort allgemein genehmigten Beihilfentypen nicht mehr ihrer präventiven Kontrolle unterliegen, sondern von den nationalen Behörden direkt gewährt werden dürfen. Das beschleunigt auch die Verfahren. Die nationalen Behörden können Zweifelsfälle aber weiterhin anmelden, die sich infolge von Unklarheiten mancher Formulierung einstellen. Die Letztentscheidung über die Rechtmäßigkeit einer nationalen Beihilferegelung liegt weiter bei der Kommission. Erfüllt eine von der Gruppenfreistellung erfasste Beihilfenart deren Voraussetzungen nicht, bedeutet das nicht stets, dass die Beihilfe nicht doch nach Einzelanmeldung genehmigt werden könnte. Die Verordnung gibt aber ein starkes Indiz für Rechtswidrigkeit

_____ 682 Zu diesem balancing test kritisch Jungheim BRZ 2010, 123 ff. 683 Vgl etwa Oberender/Bartosch S 67 ff; Birnstiel/Bungenberg/Heinrich/Behrens S 85–100; Ruthig/Storr Rn 949. 684 Calliess/Ruffert/Cremer Art 107 AEUV Rn 49. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

V. Das Beihilferegime | 1223

bb) Art 107 III lit a) AEUV: Beihilfen zur Förderung wirtschaftlich erheblich benachteiligter Gebiete Beihilfen nach lit a) dienen der wirtschaftlichen Entwicklung von Gebieten mit Un- 312 terbeschäftigung und niedrigem Lebensstandard. Das bezieht sich auf Gebiete, in denen die wirtschaftliche Lage im Vergleich zum EU-Durchschnitt äußerst ungünstig ist, weil das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt maximal 75% des EU-Schnitts beträgt.685 In Abgrenzung zu lit c) ist eine erhebliche Unterentwicklung nötig. Daher können bei Förderungen nach lit a) größere Wettbewerbsverzerrungen hingenommen werden. Durch Art. 349 AEUV werden explizit Gebiete in äußerster Randlage erfasst.

cc) Art 107 III lit b) AEUV: Beihilfen zur Förderung wichtiger Vorhaben oder zur Behebung von Wirtschaftskrisen Art 107 III lit b) AEUV enthält zwei Alternativen. Die erste bezieht sich auf Förde- 313 rung von Vorhaben im gemeinsamen europäischen Interesse, etwa dem gemeinsamen Umweltschutz, der Energieeinsparung oder der Entwicklung von Innovationen. Die zweite Alternative lässt Beihilfen zur Behebung schwerwiegender Stö- 314 rungen der gesamten Wirtschaft, jedenfalls mehrerer Regionen oder Wirtschaftszweige, zu. Verzögerungen notwendigen Strukturwandels dürfen darüber nicht gefördert werden, sondern nur grundsätzlich lebensfähige Unternehmen, die infolge allgemeiner Störungen in erhebliche Schwierigkeiten gerieten. Diese Alternative wurde von der Kommission zunächst nur selten angewendet, wurde aberab 2008 Grundlage für die Überwindung der Finanz- und damit einhergehenden Wirtschaftskrise. Darauf wurden zahlreiche vorübergehende Kriseninstrumente gestützt,686 von denen die bankenbezogenen Instrumente noch in Kraft sind (Rn 256).

dd) Art 107 III lit c) AEUV: Beihilfen zur Förderung der Entwicklung Art 107 III lit c) AEUV ist die am häufigsten angewandte Ausnahme. Sie dient der 315 Förderung von bestimmten Wirtschaftssektoren oder Regionen, wobei bezüglich des Entwicklungsbedarfs von Regionen bei lit c) im Gegensatz zu lit a) die Abweichung vom nationalen Durchschnitt zählt; für die Regionalförderung seit 2014 wurde der rein nationale Vergleich aufgeweicht (dazu Rn 321). Beihilfen nach lit c) lassen Maßnahmen zur Gestaltung von Strukturwandel, zur Unterstützung europäischer Industrien auf den Weltmärkten oder zur Förderung von Infrastrukturen zu.

_____ 685 S die Regionalbeihilfeleitlinien 2014–2020, ABl 2013 C 209/1, Tz 150. 686 Dazu Fehling EuR 2010, 598; Ruthig/Storr Rn 960 f. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1224 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

Die Kommission stützt auch horizontale Beihilfen zur Förderung des Umweltschutzes oder der Forschung und Innovation auf lit c).

ee) Art 107 III lit d) und lit e) AEUV 316 Art 107 III lit d) AEUV wurde durch den Vertrag von Maastricht eingefügt zur beihil-

ferechtlichen Begleitung der Bewahrung der Kultur und nationalen Vielfalt gemäß Art 167 AEUV. Art 107 III lit e) AEUV ist eine Auffangklausel, nach der der Rat weitere Aus317 nahmen begründen kann. Davon ist für Beihilfen zum Schiffsbau und zum Steinkohlebergbau Gebrauch gemacht worden.

c) Konkretisierungen der Ausnahmen im Sekundärrecht und in Soft Law 318 Die primärrechtlichen Ausnahmen werden in Gruppenfreistellungsverordnungen

und in Leitlinien und Unionsrahmen konkretisiert, die Regelungen zu horizontalen, regionalen und sektoralen Beihilfen enthalten. Die horizontalen Regelungen dienen der Verfolgung bestimmter von Regionen und Branchen unabhängiger Ziele und der Bewältigung spezifischer Problemlagen, die sich in allen Regionen und Branchen stellen, wie die Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen, von Umweltschutzinvestitionen, von Innovationen, der Beschäftigung benachteiligter Arbeitnehmer oder lokale Infrastrukturen. Diese Ausnahmen werden häufig auf Art 107 III lit c) AEUV gestützt. Die Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung 651/2014regelt für die kla319 ren Fälle die maßgeblichen Kriterien für die Freistellung (Beihilfen an KMU, Umweltschutzbeihilfen, Risikokapitalbeihilfen, Beihilfen für Forschung, Entwicklung und Innovation, für Ausbildung und Beschäftigung von Arbeitnehmern, für Häfen sowie Breitbandinfrastrukturen). Insbesondere werden darin Obergrenzen festgelegt, Art 4 VO 651/2014. Soweit Beihilfen diese Schwellenwerte überschreiten, bedarf es der Notifizierung. Die von der Kommission dann bei ihrer Vereinbarkeitsprüfung zugrunde gelegten Kriterien sind in soft law Instrumenten (etwa dem Unionsrahmen für Forschung, Entwicklung und Innovation, oder den Leitlinien für Rettungs- und Umstrukturierungsbeihilfen687) festgelegt. Wenn somit Beihilfen für Forschung, Entwicklung und Innovation die Schwellenwerte des Art 4 I lit i) AGVO überschreiten, dann greift die eingehendere Prüfung nach dem Unionsrahmen ein (s Ziffer 1.2. des Unionsrahmens688). Eine weitere Gruppe von Regelungen legen die Details für Beihilfen zur För320 derung unterentwickelter Regionen nach Art 107 III lit a) und c) AEUV fest. Regiona-

_____ 687 Dazu näher etwa Ruthig/Storr Rn 958. 688 ABl 2014 C 198/1. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

V. Das Beihilferegime | 1225

le Beihilfen sind wegen des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts für die EU freigestellt. Die EU fördert die harmonische Entwicklung in den Mitgliedstaaten, um die Unterschiede im Entwicklungsstand der Regionen zu verringern und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete, insbesondere des ländlichen Raumes, abzubauen (Art 174 AEUV). Daher sind Regionalbeihilfen im gemeinsamen Interesse, die Investitionen und Arbeitsplätze fördern. Für die Regionalförderung erstellen Kommission und jeder Mitgliedstaat ge- 321 meinsam eine Fördergebietskarte, die die Gebiete und die einschlägigen Maximalsätze der Beihilfen enthält. Die Fördergebietskarte ist eine zweckdienliche Maßnahme iSv Art 108 I 2 AEUV. Für die Festlegung der Fördergebietskarten macht die Kommission Vorgaben. Zunächst legt sie den EU-weiten Fördergebietsplafond fest, dh welcher maximale Anteil an der Gesamtbevölkerung in der EU in Fördergebieten leben darf. Dieser Gesamtplafond wurde für die Regionalförderung seit 2014 auf 47% festgelegt. Darin sind sowohl die A-Fördergebiete nach Art 107 III lit a) AEUV enthalten, in denen – bezogen auf die NUTS 2 Ebene, also auf Ebene der Regionen – das Pro-Kopf-BIP max 75% des EU-Durchschnitts beträgt, als auch die C-Fördergebiete gemäß Art 107 III lit c) AEUV, die sich künftig aus prädefinierten Gebieten (nämlich den ehemaligen A-Fördergebieten nach den alten Regionalleitlinien und Gebieten geringer Bevölkerungsdichte) und nicht-prädefinierten Gebieten zusammensetzen. Letztere werden von der Kommission nach einer im Anhang II der Regionalleitlinien 2014–2020 festgelegten Methode bestimmt. Diese Methode bezieht nicht mehr nur einen nationalen Vergleich ein, sondern auch EU-Durchschnitte. Sodann legt die Kommission neben den A-Fördergebieten noch für jeden Mitgliedstaat den Anteil fest, den die Einwohner von C-Fördergebieten gemessen an der Gesamtbevölkerung haben dürfen. Jeder Mitgliedstaat bestimmt dann konkret die Gebiete. Abschließend wird die nationale Fördergebietskarte von der Kommission genehmigt. A-Fördergebiete gibt es in Deutschland seit 1.7.2014 unter den neuen Regional- 322 leitlinien nicht mehr, aber C-Fördergebiete mit einem Gesamtbevölkerungsanteil von 25,85% statt zuvor annähernd 30%. Die Beihilfeintensität in C-Fördergebieten liegt bei 10 oder 15% für Großunternehmen und 20 bis 35% für KMU. Großunternehmen werden bei neuen wirtschaftlichen Tätigkeiten gefördert, während KMU Beihilfen für alle Erstinvestitionen erhalten. Sektorale Regelungen schließlich dienen der Förderung bestimmter Wirt- 323 schaftszweige, etwa zur Begleitung von Veränderungs- und Verdrängungsprozessen in bestimmten Branchen.

d) Insbesondere: Daseinsvorsorge: Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse Unternehmen, die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse 324 erbringen, unterliegen gemäß Art 106 II AEUV dem Beihilfenrecht nur insoweit, Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1226 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

als dessen Anwendung die Erfüllung der den Unternehmen übertragenen besonderen Aufgaben rechtlich oder tatsächlich nicht verhindert. Demnach kann die Gewährung von Ausgleichszahlungen als Betriebsbeihilfen für solche Unternehmen gerechtfertigt werden. Art 106 II ermöglicht damit die Freistellung bestimmter wirtschaftlicher Betätigungen von Wettbewerbsregeln infolge außerökonomischer Ziele, etwa einer flächendeckenden, zuverlässigen Versorgung. Der EuGH hat indes durch seine Altmark-Trans-Judikatur (Rn 274) festgelegt, 325 wann staatliche Zahlungen für Gemeinwohldienste schon begrifflich keine Beihilfen darstellen. Diese Kriterien lösten Folgeprobleme aus, weil ihre rechtssichere Beachtung nicht einfach war. Werden die Kriterien nur unzureichend erfüllt, liegt eine notifizierungspflichtige Beihilfe vor. Dies führt zu Verzögerungen, auch wenn die Beihilfe von der Kommission gemäß Art 106 II AEUV genehmigt wird. Die Kommission hat sich daher um weitere Bereinigung der Rechtslage hinsicht326 lich der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DawI) bemüht. Als DawI ist eine marktbezogene Tätigkeit zu sehen, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht und daher von den Mitgliedstaaten mit besonderen Rechten und Pflichten verbunden wird. Welche Leistungen als DawI gelten, bestimmen die Mitgliedstaaten, die insofern einen gewissen Spielraum haben (Art 1 Protokoll Nr 26 über Dienste von allgemeinem Interesse), der von Kommission und EuGH auf offensichtliche Fehleinschätzung kontrolliert wird.689 Die Kommission hat zur Stärkung der Rechtssicherheit im Bereich DawI das 327 Almunia-Paket angenommen, das durch einen Freistellungsbeschluss allgemein die Erbringung von DawI vom Beihilferecht und damit auch von der Anmeldepflicht nach Art 108 III AEUV freistellt,690 ferner eine eigene De-minimis-Verordnung 360/2012691 und einenUnionsrahmen für staatliche Beihilfen in Form von Ausgleichsleistungen für die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen enthält,692 der die Anforderungen an die Genehmigung von Beihilfen, die nicht unter den Beschluss fallen, festlegt. Dazu gehört auch eine Mitteilung über die Anwendung der Beihilfevorschriften der EU auf Ausgleichsleistungen für die Erbringung von DawI.693

_____ 689 Allerdings nimmt die Kritik an der dabei angelegten (zu hohen) Kontrollintensität zu, vgl EuGH, Rs C-446/14 P – Tierkörperbeseitigung, Rn 41 ff. 690 Beschluss über die Anwendung von Artikel 106 II AEUV auf staatliche Beihilfen in Form von Ausgleichsleistungen zugunsten bestimmter Unternehmen, die mit der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind, ABl 2012 L 7/3. 691 VO 360/2012 über die Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf De-minimis-Beihilfen an Unternehmen, die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erbringen, ABl 2012 L 114/8. Dadurch wird die De-minimisSchwelle auf 500.000 EUR in drei Steuerjahren angehoben. 692 Mitteilung der Kommission, ABl 2012 C 8/15. 693 Mitteilung der Kommission, ABl 2012 C 8/4. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

V. Das Beihilferegime | 1227

Gemäß Freistellungsbeschluss sind finanzielle Zuwendungen der öffentlichen 328 Hand von bis zu 15 Mio EUR jährlich an Unternehmen, die DawI erbringen, erlaubt. Die Freistellung gilt bei sozialen Dienstleistungen,694 für Krankenhäuser695 und sozialen Wohnungsbau sogar unbeschränkt, dh ohne Deckelung auf einen bestimmten maximalen Betrag und auch ohne Festlegung auf einen bestimmten Maximalumsatz. Nötig ist, die im Allgemeininteresse übertragenen Aufgaben möglichst exakt nach Art und Umfang in einem sog Betrauungsakt festzuschreiben, für den es keinen Formzwang gibt und der auch aus einer allgemeinen Rechtsvorschrift, die die besondere Aufgabe definiert, bestehen kann.696 Die Beschreibung der Parameter ist Grundlage für die Berechnung der dem Unternehmen dafür entstehenden Kosten. Nur diese Kosten dürfen ausgeglichen werden. Das Verbot der Überkompensation gilt auch hier. Die Kontrolle auf Vorliegen einer Überkompensation erfolgt aber nur alle drei Jahre. Der zentrale Unterschied zwischen dem Freistellungsbeschluss und den Altmark-Trans-Kriterien ist die Berechnung der zulässigen Ausgleichszahlung anhand der konkret dem Unternehmen entstehenden Kosten, während der EuGH auf die Kosten eines durchschnittlich gut geführten Unternehmens abstellt. Kritisch zu sehen ist die Begrenzung der Freistellung auf Betrauungsakte für maximal 10 Jahre, von der indes abgewichen wird, wenn erhebliche Investitionen des Dienstleisters eine längere Abschreibungsphase erfordern (Art 2 II Freistellungsbeschluss).

4. Verfahrensrecht a) Beihilfeaufsichtsverfahren aa) Vorbemerkung Im Beihilferecht gibt es verschiedene Vollzugsebenen. Die Beihilfeaufsicht liegt al- 329 lein bei der Kommission; nur sie genehmigt oder versagt nationale Einzelbeihilfen oder Beihilfenregelungen, die bei ihr angemeldet wurden oder hätten angemeldet werden müssen, und gibt gegebenenfalls dem Mitgliedstaat die Rückforderung von rechtswidrigen Einzelbeihilfen auf. Sind Einzelbeihilfen oder Beihilfenregelungen von der Notifizierung nach Art 108 III AEUV freigestellt, liegt der Vollzug bei den Mitgliedstaaten. Sie entscheiden dann über die Gewährung von Beihilfen anhand

_____ 694 Darunter werden Leistungen „zur Deckung des sozialen Bedarfs im Hinblick auf Gesundheitsdienste und Langzeitpflege, Kinderbetreuung, den Zugang zum und die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt, den sozialen Wohnungsbau sowie die Betreuung und soziale Einbindung sozial schwacher Bevölkerungsgruppen“ gefasst. Das ist kritikwürdig, da es sich dabei nicht durchweg um marktbezogene Leistungen handeln und auch die Zwischenstaatlichkeit fehlen dürfte, so dass Zuwendungen schon begrifflich keine Beihilfe sind. 695 Dazu BGH, NJW 2016, 3176. 696 Vgl EuGH, Rs C-437/09 – AG2R, Rn 73 f; EuG, Rs T-289/03 – BUPA, Rn 182 f; Burgi EuZW 2017, 90. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1228 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

nationaler Programme, die dem EU-Beihilferecht entsprechen müssen. Ferner setzen die nationalen Behörden die Entscheidungen der Kommission um, indem sie genehmigte Beihilfen gewähren oder Rückforderungsentscheidungen vollziehen. Vorliegend wird nur auf die zentrale Beihilfeaufsicht durch die Kommission 330 eingegangen. Das nationale Verfahren in Deutschland wird unter b) nur hinsichtlich der Umsetzung der Rückforderungsentscheidung dargestellt. Hinsichtlich des Beihilfeaufsichtsverfahrens durch die Kommission ist zu diffe331 renzieren zwischen neuen Beihilfen und bestehenden Beihilfen (auch Altbeihilfen genannt), vgl Art 1 lit b) und c) VerfVO 2015/1589.697 Für neue Beihilfen beginnt das Verfahren mit der Notifizierung nach Art 108 III AEUV; für bestehende Beihilfen gilt gemäß Art 108 I AEUV eine fortlaufende Überwachung, die gegebenenfalls in ein förmliches Prüfverfahren nach Art 108 II AEUV mündet. Das Verfahrensrecht ist in der VerfVO 2015/1589 enthalten. Die Verfahrensre332 geln wurden vor einigen Jahren modifiziert, um die Qualität der Beschwerden zu verbessern, die Zusammenarbeit mit nationalen Gerichten zu stärken (Rn 361 f) und der Kommission mehr Ermittlungsbefugnisse, insbesondere das Instrument der Sektorenuntersuchung zu gewähren. Eine gewisse Straffung der Verfahrensabläufe in ihrer praktischen Handhabung erfolgte für einfache Fälle durch die Mitteilung über ein vereinfachtes Verfahren und durch einen Verhaltenskodex (sog Vereinfachungspaket), beides mit dem Ziel, die Zusammenarbeit zwischen Kommission und Mitgliedstaaten und insbesondere die Qualität der nationalen Anmeldungen zu verbessern.698

bb) Voranmeldephase 333 Der Verhaltenskodex sieht insbesondere eine Voranmeldephase mit Vorabkontak-

ten zwischen Mitgliedstaat und Kommission unter Einbeziehung des Beihilfeempfängers vor, in deren Rahmen die nationale Behörde einen ersten Anmeldeentwurf vor der eigentlichen Anmeldung einreicht. Das erlaubt der Kommission eine informelle Prüfung und ermöglicht ihr, die für eine ordnungsgemäße Anmeldung noch notwendigen Informationen zu ermitteln. Dazu finden — idR per E-Mail, Telefon oder Telefonkonferenz — informelle Vorabkontakte statt, durch die der Prozess beschleunigt werden soll. Kommission und Mitgliedstaat können sich dabei über den Verfahrensablauf verständigen. Die Voranmeldephase soll nicht länger als sechs Monate in Anspruch nehmen und in einer vollständigen Anmeldung enden.699

_____ 697 VO 2015/1589, ABl 2015 L 248/9. 698 Der Verhaltenskodex für die Durchführung von Beihilfeverfahren wurde kürzlich unter Eingliederung der Mitteilung über das vereinfachte Verfahren (ABl 2009 C 136/3) novelliert, ABl 2018 C 253/14. Dazu Rn 334. 699 Ziffer 3.3 Verhaltenskodex. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

V. Das Beihilferegime | 1229

Das vereinfachte Verfahren setzt gleichfalls auf Vorabkontakte und will einfa- 334 che Routinefälle, die unter die Grundprüfung eines bestehenden Unionsrahmens oder einer Leitlinie fallen oder zu denen es eine gefestigte Entscheidungspraxis der Kommission (dh drei Kommissionsbeschlüsse zu vergleichbarem Sachverhalt in den letzten 10 Jahren) gibt, in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten binnen 25 Arbeitstagen nach vollständiger Anmeldung zu einer abgekürzten positiven Entscheidung führen.700Das vereinfachte Verfahren beginnt wieder mit einer Voranmeldephase. Nach der Veröffentlichung der Anmeldung auf der Kommissionswebsite haben Beteiligte binnen zehn Arbeitstagen die Möglichkeit, Stellung zu nehmen und Umstände anzugeben, die eine eingehendere Untersuchung fordern.

cc) Vorverfahren bei neuen oder rechtswidrigen Beihilfen Eine neue Beihilfe, das heißt eine neu zu gewährende Einzelbeihilfe oder eine neue 335 oder umgestaltete nationale Beihilfenregelung, ist zu allererst gemäß Art 108 III AEUV bei der Kommission anzumelden (s auch Art 2 VerfVO 2015/1589). Ohne Genehmigung durch die Kommission darf die neue Beihilfe nicht gewährt oder eingeführt werden. Dieses in Art 108 III 3 AEUV und Art 3 VerfVO 2015/1589 festgelegte Durchführungsverbot gilt unmittelbar und ermöglicht daher Wettbewerbern, gegen Beihilfen, die unter Missachtung dieses Verbots dennoch eingeführt wurden, gerichtlich vorzugehen (dazu Rn 357). Neue Beihilfen, die unter Verletzung des Verbots oder gar ohne Anmeldung eingeführt oder gewährt wurden, sind als rechtswidrige Beihilfen (vgl Art 1 lit f VerfVO 2015/1589) nach Art 12 ff VerfVO 2015/1589 zu behandeln, insbesondere zurückzufordern (Art 16 VerfVO). Eine vorläufige Rückforderung oder Aussetzung bis Abschluss des Verfahrens kann die Kommission allein wegen Verstoß gegen das Durchführungsverbot nur bei Dringlichkeit und erheblichen, nicht wiedergutzumachenden Schäden für die Wettbewerber (Art 13 II VerfVO 2015/1589) anordnen; der nationale Richter hat aus Art 108 III 3 AEUV weitergehende Möglichkeiten, weil er schon wegen der unterbliebenen Anmeldung – unbeschadet der materiellen Rechtmäßigkeit der Beihilfe – die Rückforderung anordnen darf (dazu Rn 357).701 Zeigt sich bei der kursorischen Vorprüfung nach Anmeldung, dass Zweifel an 336 der Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Wettbewerbsrecht bestehen, muss die Kommission das im Hauptprüfverfahren (Art 108 III 2 iVm Art 108 II AEUV) näher untersuchen. Das Vorverfahren wird von der Kommission eingeleitet entweder nach An- 337 meldung (Art 4 VerfVO 2015/1589; die anmeldende nationale Behörde muss das

_____ 700 Verhaltenskodex, Rn 37 ff. 701 EuGH, verb Rs C-261/01 und C-262/01 – van Calster, Rn 76. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1230 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

Formblatt nach Anhang I DurchführungsVO702nehmen), aufgrund einer Beschwerde oder auch von Amts wegen infolge anderweitig erlangter Informationen (Art 12 I, Art 15 I 1 VerfVO 2015/1589). Das Verfahren richtet sich stets gegen den betroffenen Mitgliedstaat; Beihilfeempfänger oder Beschwerdeführer werden beteiligt. Das Vorverfahren endet, gegebenenfalls nach Auskunftsersuchen an den Mit338 gliedstaat gemäß Art 5 VerfVO 2015/1589,703 binnen zwei Monaten nach Eingang der vollständigen Anmeldung mit einem Beschluss. Dieser stellt fest, dass keine Beihilfe vorliegt, oder dass die Kommission keine Einwände erhebt, oder er eröffnet das förmliche Prüfverfahren (Hauptprüfverfahren, Art 4 II–V VerfVO 2015/1589). Eine Genehmigungsfiktion greift ein, wenn die Kommission binnen der zwei Monate keinen Beschluss erlässt. Der Mitgliedstaat informiert dann die Kommission über die Absicht, die Beihilfe zu gewähren; die Kommission hat dann noch 15 Arbeitstage Zeit, doch einen der vorgenannten Beschlüsse zu treffen (Art 4 VI VerfVO 2015/1589); das muss die nationale Behörde noch abwarten.

dd) Vorverfahren bei bestehenden Beihilfen 339 Bestehende Beihilfen unterliegen der fortlaufenden Prüfung gemäß Art 108 I

AEUV iVm Art 21–23 VerfVO 2015/1589. Ist die Kommission nach einer vorläufigen Prüfung der Meinung, dass eine bestehende Regelung nicht (mehr) mit EU-Recht vereinbar ist, erhält der Mitgliedstaat die Möglichkeit zur Stellungnahme, Art 21 II VerfVO 2015/1589. Aufgrund der Stellungnahme wird die Kommission in eine nähere Prüfung eintreten.

ee) Hauptprüfverfahren 340 Das Hauptprüfverfahren beginnt mit dem Eröffnungsbeschluss der Kommission,

Art 6 VerfVO 2015/1589.704 Das Prüfverfahren dient der detaillierten Prüfung der Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem EU-Wettbewerbsrecht, wenn in der Beurteilung, ob eine Beihilfe vorliegt oder ob sie mit EU-Recht vereinbar ist, ernstliche Schwierigkeiten bestehen. Es soll nicht länger als 18 Monate dauern, Art 9 VI VerfVO 2015/1589. Bei rechtswidrigen Beihilfen gibt es keine Frist, Art 15 II VerfVO 659/1999. Um der häufigen Fristüberschreitung abzuhelfen, bemüht sich die Kommission, die abschließende Entscheidung spätestens sechs Monate nach Übermittlung der letzten

_____ 702 VO 794/2004, ABl 2004 L 140/1, zuletzt geändert durch VO 2016/2105, ABl 2016 L 327/19. 703 Nach dem Verhaltenskodex, Rn 29, „reicht [in der Regel] ein einziges umfassendes Auskunftsersuchen aus“, schließlich ist durch die Vorabkontakte sichergestellt, dass vollständige Anmeldungen vorliegen. Auskunftsersuchen werden idR binnen vier Wochen nach Anmeldung übermittelt. 704 Zu den Rechtswirkungen von Eröffnungsbeschlüssen und dem Rechtschutz Weiß ZWeR 2015, 364. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

V. Das Beihilferegime | 1231

Informationen durch den Mitgliedstaat oder nach ergebnislosem Ablauf der letzten Frist zu erlassen.705 Das Verfahren läuft im Wesentlichen zwischen Kommission und Mitglied- 341 staat, der angehört wird. Andere Beteiligte (Unternehmen, deren Interessen berührt werden, insbesondere Beihilfenempfänger und Wettbewerber, vgl Art 1 lit h) VerfVO 2015/1589) werden zu Stellungnahmen aufgefordert. Seit 2013 hat die Kommission auch ein – gegenüber Unternehmen sogar bußgeldbewehrtes – Auskunftsrecht, Art 7, 8 VerfVO 2015/1589, gegen andere Mitgliedstaaten, Unternehmen oder den Beihilfeempfänger, um alle für die umfassende Würdigung erforderlichen Angaben zu erhalten. Das Hauptprüfverfahren endet mit einer Genehmigung („Positivbeschluss“), 342 gegebenenfalls mit Auflagen, oder einem Verbot („Negativbeschluss“) und, falls die Beihilfe schon vollzogen wurde, einem Rückforderungsbeschluss nach Art 16 VerfVO 2015/1589 (zehn Jahre nach Gewährung der Beihilfe ist eine Rückforderung nicht mehr möglich, Art 17). Es kann auch festgestellt werden, dass eine Beihilfe gar nicht vorliegt (Art 9 II–V VerfVO 2015/1589). Die Beschlüsse der Kommission müssen nach Art 296 AEUV begründet sein. Bei bestehenden Beihilfen findet eine die Hauptprüfung nur statt, wenn der 343 Mitgliedstaat mit von der Kommission vorschlagenen zweckdienlichen Maßnahmen, Art 22 VerfVO 2015/1589, nicht einverstanden ist, Art 23 II VerfVO. Eine Rückforderung ist nicht möglich.

ff) Beschwerdeverfahren Die Kommission musste früher jede Information über eine rechtswidrige Beihilfe 344 von Amts wegen prüfen. Das hat zu einer Überschwemmung mit häufig wenig substantiierten Beschwerden geführt. Daher führte der Rat 2013 einen Filter für Beschwerden ein, um ihre Qualität zu verbessern und der Kommission zu erlauben, haltlose Eingaben zügig zu erledigen. Art 12 I VerfVO 2015/1589 gewährt der Kommission nun in der Behandlung von Informationen ein Ermessen. Eingaben an die Kommission führen nicht mehr zwangsläufig zu Untersuchungen.706 Eingaben über angeblich rechtswidrige Beihilfen werden nur dann als Be- 345 schwerden behandelt und müssen von der Kommission ohne ungebührliche Verzögerung (die Kommission setzt sich zwölf Monate707) geprüft werden, Art 12 I UAbs 2 VerfVO 2015/1589, wenn ein spezielles Beschwerdeformular ordnungsgemäß ausgefüllt und die obligatorischen Auskünfte gemacht wurden, Art 24 II VO 2015/1589. Ist das nicht der Fall, fordert die Kommission den Petenten auf, dazu

_____ 705 Verhaltenskodex, ABl 2018 C 253/14, Rn 65. 706 Erwgr 32 der VO 2015/1589, ABl 2015 L 248/9. 707 Verhaltenskodex, Rn 74. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1232 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

Stellung zu nehmen. Erfolgt die Stellungnahme nicht oder nicht fristgemäß, gilt die Eingabe als zurückgezogen, Art 24 II UAbs 2.

b) Rückforderungen 346 Ein Negativbeschluss ist bei (materiell) rechtswidrig gewährten Beihilfen mit ei-

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nem Rückforderungsbeschluss verbunden, derdem Mitgliedstaat auferlegt, alle notwendigen Maßnahmen zur Rückforderung der Beihilfe plus Zinsen zu ergreifen, Art 16 II VerfVO 2015/1589. Der Rückforderungsbeschluss unterbleibt, wenn er Grundrechte oder allgemeine Grundsätze des Unionsrechts wie Vertrauensschutz verletzte oder die Rückforderung nach zehn Jahren verjährt ist, Art 17. Die Rückforderung erfolgt nach allgemeinen Grundsätzen mangels einschlägigen Unionsrechts nach den nationalen Verfahrensregeln, Art 16 III 1 VerfVO 2015/1589, außer dadurch würde die wirksame Vollstreckung der Rückforderung verhindert. Die Mitgliedstaaten müssen alle in der nationalen Rechtsordnung verfügbaren Maßnahmen unter Einschluss vorläufiger ergreifen, Art 16 III 2 VerfVO 2015/1589, und so die tatsächliche und sofortige Durchführung der Rückforderung ermöglichen.708 Das nationale Recht ist so anzuwenden, dass es die sofortige und vollständige tatsächliche Rückforderung sichert. Die Loyalitätsverpflichtung aus Art 4 III EUV gebietet beiVollzug von Unionsrecht durch Anwendung nationaler Regeln, diese so anzuwenden wie in rein nationalen Fällen auch (Äquivalenzgebot). Die effektive Wirksamkeit des EU-Rechtsfordert, dass seine Befolgung nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird (Effektivitätsgebot).709 Der effektiven Umsetzung entgegenstehende nationale Regeln sind daher beim Vollzug des Unionsrechts nicht oder allenfalls modifiziert anzuwenden. Aufschiebenden Wirkungen von Rechtsbehelfen der Beihilfeempfänger gegen die Rückforderung muss der Mitgliedstaat mit einer Sofortvollzugsanordnung begegnen.710 Welchen Weg die Rückforderung nach deutschem Recht nimmt, hängt von der Ausgangssituation ab. Wurde die Beihilfe durch Verwaltungsakt gewährt, ist er zuerst zurückzunehmen. Die Rückforderung bestimmt sich dann nach einschlägigen öffentlich-rechtlichen Regeln.711 Wurde die Beihilfe durch öffentlich-rechtlichen Vertrag bewilligt, ist er wegen Verletzung des Durchführungsverbotsnach Art 108 III AEUV gemäß § 59 I

_____ 708 Sog Rückforderungsmitteilung der Kommission, ABl 2007 C 272/4, Tz 22. Zur Unmöglichkeit der Rückforderung aufgrund drohender Liquidation des Beihilfeempfängers und hierdurch hervorgerufener sozialer Unruhen EuGH, Rs C-63/14– Frankreich / Kommission. 709 EuGH, Rs C-368/04 – Transalpine Ölleitung in Österreich, Rn 45. 710 Vgl EuGH, Rs C-232/05 – Scott, Rn 42 ff. 711 Zur Modifizierung von § 48 VwVfG EuGH, Rs C-24/95 – Alcan, Rn 25 ff. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

V. Das Beihilferegime | 1233

VwVfG iVm § 134 BGB nichtig, wie auch zivilrechtliche Verträge.712 Die Rückforderung ergibt sich– bei einem nichtigen öffentlich-rechtlichen Vertrag – aus einem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch (er ist vor den Verwaltungsgerichten durch allgemeine Leistungsklage durchzusetzen713) oder – bei einem nichtigen zivilrechtlichen Vertrag – nach § 812 BGB im Zivilrechtsweg. Dagegen kann nicht geltend gemacht werden, die Rückforderung durch einen Verwaltungsakt sei auch dann möglich (was zweifelhaft ist im Hinblick auf die Rechtsgrundlage für einen solchen Verwaltungsakt) und sogar unionsrechtlich vom Effektivitätsgebot geboten, da ein Verwaltungsakt für sofort vollziehbar erklärt werden könne.714Vor den Zivilgerichten ist gleichfalls die vorläufige Durchsetzung von Rechtsansprüchen möglich und dann auch nötig.

5. Rechtsschutz im Beihilfenrecht Da der Vollzug des EU-Beihilfenrechts auf nationaler (Umsetzung von Kommissi- 351 onsbeschlüssen) und auf supranationaler Ebene (Beihilfeaufsicht durch die Kommission) erfolgt, ist Rechtsschutz im EU-Beihilferecht ein Thema für EuGH als auch die nationalen Gerichte. Der Rechtsschutz gegen Kommissionsbeschlüsse führt zum EuGH bzw dem Gericht, der Rechtsschutz gegen nationale Vollzugsentscheidungen vor nationale Zivil- oder Verwaltungsgerichte.715 Die Aufgabenverteilung zwischen den Ebenen ist im Grundsatz folgende: Wäh- 352 rend der EuGH die Kommission kontrolliert, deren Aufgabe es ist, die Vereinbarkeit von Beihilfen mit dem EU-Wettbewerbsrecht zu prüfen, ist es Aufgabe der nationalen Gerichte, die Rechte der einzelnen zu wahren und für die Respektierung des Durchführungsverbots nach Art 108 III AEUV im Interesse von Wettbewerbern zu sorgen.

a) Rechtsschutz gegen Entscheidungen der Kommission Die prozessualen Konstellationen des Rechtsschutzes vor dem EuGH können ver- 353 schieden sein. Klassisch ist der Rechtsschutz gegen die Beschlüsse der Kommission über die Versagung einer Beihilfe und ihre Rückforderung. Dagegen kann der Mitgliedstaat als Adressat oder der Beihilfeempfänger durch Nichtigkeitsklage nach Art 263 AEUV vorgehen, die in erster Instanz zum Gericht führt, Art 256 AEUV. Der Beihilfeempfänger ist von der Entscheidung unmittelbar und individuell betroffen iSv Art 263 IV AEUV.

_____ 712 BGH, I ZR 136/09, BGHZ 188, 326 – Flughafen Hahn, EuZW 2011, 440 (444, Rn 40). 713 Ehlers/Fehling/Pünder/Kühling Bd 1 § 29 Rn 59. 714 Dazu näher Ehlers/Fehling/Pünder/Kühling Bd 1 § 29 Rn 72 f; Ehlers DVBl 2014,1 (9 f); Weiß ZHR 2016, 80 (120 ff). 715 Eingehend hierzu Weiß ZHR 2016, 80 ff. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1234 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

Gegen eine Genehmigung der Beihilfe kann ein Wettbewerber Rechtsschutz suchen. Die Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage nach Art 263 AEUV begegnet den Zulässigkeitshürden aus Art 263 IV AEUV, da die unmittelbare und individuelle Betroffenheit nicht schon dadurch vorliegt, dass die Wettbewerbssituation durch die Beihilfe beeinträchtigt ist. Im Sinne der Plaumann-Formel716 individualisiert und damit individuell betroffen sind Unternehmen, die am Beihilfeaufsichtsverfahren, das zu dem Beschluss geführt hat, beteiligt waren, sofern ihre Marktstellung durch die streitige Beihilfespürbar beeinträchtigt wird, was näher darzulegen ist.717 Eine andere Konstellation ist die Klage von Beschwerdeführern gegen einen 355 Kommissionsbeschluss über ihreBeschwerde oder gegen die Untätigkeit der Kommission insoweit. Klageart dafür ist eine Nichtigkeitsklage, Art 263 AEUV, oder eine Untätigkeitsklage, Art 265 AEUV.

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b) Rechtsschutz vor nationalen Gerichten 356 Nationale Gerichte gewähren Rechtsschutz gegen nationale Umsetzungsakte. Typi-

sche Konstellation ist der Rechtsschutz des Beihilfeempfängers gegen eine Rückforderung. Relevant ist nationaler Rechtsschutz auch für die Wettbewerberwegen des 357 Durchführungsverbots nach Art 108 III AEUV. Bei Verletzung des Durchführungsverbots tritt mit der Gewährung der Beihilfe eine Wettbewerbsverzerrung ein, obschon keine endgültige Beurteilung ihrer Rechtskonformität vorliegt. Der Beihilfeempfänger erhält dann – selbst wenn nachträglich die Kommission die materielle Rechtmäßigkeit der Beihilfe bestätigt –dadurch einen ungesetzlichen Vorteil, dass er die Zuwendung schon vor Abschluss der Prüfung hat. Daher gibt das Durchführungsverbot dem Wettbewerber eine starke Rechtsstellung, die die nationalen Gerichte wie ein subjektives Recht beachten und durchsetzen müssen.718 Der drittschützende Charakter des Durchführungsverbots ist anerkannt.719 Eine Verletzung des Art 108 III AEUV führt daher dazu, dass der Wettbewerber die Auszahlung der jedenfalls formell rechtswidrigen Beihilfe verhindern und ihre Rückzahlung durchsetzen kann. Dies gilt selbst, wenn die Kommission positive Entscheidungen getrof-

_____ 716 Eine Person ist individuell im Sinne von Art 263 IV AEUV betroffen, wenn ein Rechtsakt sie wegen bestimmter besonderer Eigenschaften oder aufgrund von Umständen betrifft, die sie aus dem Kreis aller übrigen Personen herausheben und sie in ähnlicher Weise individualisieren wie einen Adressaten, EuGH, Rs 25/62 – Plaumann / Kommission, Slg 1963, 213 (238); Rs C-263/02 P – JégoQuéré, Rn 45. 717 EuGH, Rs C-367/04 – Deutsche Post, Rn 38; s Pechstein S 240; Haratsch/Koenig/Pechstein S 237; Weiß ZHR 2016, 80 (102). 718 Vgl insoweit EuGH, Rs C-39/94 – SFEI, Rn 44 f. 719 BGH, I ZR 136/09, BGHZ 188, 326 – Flughafen Hahn; BVerwG, 3 C 44/09 – Tierkörperbeseitigungsanstalt, EuZW 2011, 269; dazu Martin-Ehlers EuZW 2011, 583. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

V. Das Beihilferegime | 1235

fen hat, die allerdings vom EuGH für nichtig erklärt wurden.720 Das nationale Gericht muss solche Maßnahmen ergreifen, wenn „die Voraussetzungen [dafür] erfüllt sind, dh, wenn die Qualifizierung als staatliche Beihilfe nicht zweifelhaft ist, wenn die Durchführung der Beihilfe unmittelbar bevorsteht oder die Beihilfe durchgeführt wurde und wenn keine außergewöhnlichen Umstände, die eine Rückforderung unangemessen erscheinen lassen, [gegeben] sind. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, muss das nationale Gericht den Antrag zurückweisen. Wenn [es] über den Antrag entscheidet, kann es entweder die Rückzahlung der Beihilfen nebst Zinsen anordnen oder aber […] die Einzahlung der Beträge auf ein Sperrkonto anordnen, damit der Empfänger nicht weiter über sie verfügen kann, unbeschadet der Zahlung von Zinsen für den Zeitraum zwischen der vorzeitigen Durchführung der Beihilfe und ihrer Einzahlung auf dieses Sperrkonto“.721 Eine Aussetzung des nationalen Verfahrens bis zum Ergehen einer Kommissions- oder EuGH-Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Beihilfe ist daher auch unvereinbar mit der Verpflichtung aus Art 108 III AEUV.722 Ergeht ein Positivbeschluss der Kommission, bleibt immer noch, dass das Un- 358 ternehmen die Beihilfe verfrüht erhielt. Nach EU-Recht muss das nationale Gericht dem Beihilfeempfänger bei einer Genehmigung durch die Kommission nur aufgeben, für die Dauer der Rechtswidrigkeit Zinsen zu zahlen. Dem nationalen Recht bleibt die Möglichkeit überlassen, auch die Rückforderung der Beihilfe durchzusetzen.723 Der Wettbewerber kann auch den Zuwendungsverwaltungsakt anfechten. 359 Das subjektive Recht dafür gibt Art 108 III AEUV. Das BVerwG will die Rückforderung von der vorherigen Beseitigung des Zuwendungsverwaltungsakts abhängig machen, so dass ein Wettbewerber einen ihm aus Art 108 III AEUV zustehenden Rückforderungsanspruch erst nach erfolgreicher Anfechtung der Gewährung geltend machen könne.724Sehr zweifelhaft ist, ob sich dies mit der EuGH-Judikatur verträgt, weil das die Durchsetzung des Durchführungsverbots durch eine weitere Klageerhebung erschwert.725 Außerdem kann der Wettbewerber gestützt auf eine Amtspflichtverletzung nach 360 § 839 BGB iVm Art 34 GG oder auf § 823 II BGB iVm dem unionsrechtlichen Staats-

_____ 720 Vgl EuGH, Rs C-1/09 – CELF II, Rn 53 f. 721 EuGH, Rs C-1/09 – CELF II, Rn 36 f. Darin liegt kein Widerspruch zum Lufthansa/Hahn Urteil (Rn 362), vgl Weiß ZWeR 2015, 364 (376). 722 EuGH, Rs C-1/09 – CELF II, Rn 32; BGH, 3 ZB 3/12, NVwZ-RR 2012, 960 (961). 723 EuGH, Rs C‑199/06 – CELF I; EuGH, Rs C-284/12 – Deutsche Lufthansa, Rn 43 ff; BGH, 3 ZB 3/12, NVwZ-RR 2012, 960 (962 f). 724 So BVerwG, 3 C 44/09 – Tierkörperbeseitigungsanstalt, EuZW 2011, 269 (270 f); EuZW 2013, 274 (277, Rn 34). 725 Zu Recht kritisch daher Martin-Ehlers EuZW 2011, 583 (590); von Donat EuZW 2011, 274 (274). Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

1236 | § 14 Die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts

haftungsanspruch Schadensersatz vom Beihilfegewährer, unter Umständen auch vom Beihilfeempfänger, verlangen, falls durch eine formell rechtswidrige Beihilfenzahlung ein Schaden beim Wettbewerber eingetreten ist.726 Damit nationale Gerichte leichter über das Vorliegen der Voraussetzungen für 361 Rechtsschutz befinden können, können sie, wenn etwa Zweifel an der Qualifizierung einer Maßnahme als Beihilfe bestehen, mit der Kommission Verbindung aufnehmen und entweder Informationen oder Stellungnahmen der Kommission hierzu verlangen. Darauf muss die Kommission wegen des Loyalitätsgebots nach Art 4 III EUV sobald wie möglich antworten.727 Die Kommission will Informationen binnen eines Monats, Stellungnahmen binnen vier Monaten abgeben.728 Die Zusammenarbeit zwischen nationalen Gerichten und Kommission ist rechtlich in Art 29 VerfVO fixiert, der nicht nur das Informations- und Stellungnahmeersuchen verankert, sondern die Kommission auch berechtigt, als amicus curiae aus eigener Initiative Stellungnahmen zu übermitteln, mit Erlaubnis des Gerichts auch mündlich. Diese Möglichkeit ist beschränkt auf Fälle, in denen die kohärente Anwendung des Art 107 I und 108 AEUV das erfordert. Das Gericht kann ersucht werden, der Kommission alle notwendigen Schriftstücke zu übermitteln. Dabei tut sich die Frage auf, welche Bedeutung Kommissionsbeurteilungen für 362 die nationale Entscheidungsfindung haben, insbesondere im Hinblick auf Beschlüsse der Kommission, das förmliche Prüfverfahren nach Art 108 II AEUV einzuleiten.729 Ein nationales Gericht, das von einem Wettbewerber zur Rücknahme wegen Verletzung des Art 108 III AEUV angerufen wird, ist aufgrund Art 4 III EUV verpflichtet, wirksame Maßnahmen zu ergreifen. Hat die Kommission vorläufig eine nationale Maßnahme als Beihilfe beurteilt, kann sich das Gericht nicht darüber hinwegsetzen. Das Gericht hat alle „allgemeinen oder besonderen Vorkehrungen zu treffen, die geeignet sind, die Erfüllung der sich aus den Verträgen ergebenden oder aus den Handlungen der Organe folgenden Verpflichtungen zu garantieren und vom Erlass jedweder Maßnahme abzusehen, die das Risiko in sich birgt, die Verwirklichung der Ziele der Union zu gefährden […].“730 Diese Verpflichtung erstreckt sich auf alle nationalen Organe, auch auf die Gerichte. „Daraus folgt, dass eine Entscheidung über die Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens die Gerichte des Mitgliedstaats bindet, an den sie gerichtet ist, und dass diese Gerichte, wenn sie

_____ 726 EuGH, Rs C-39/94 – SFEI, Rn 74 f; sEhlers DVBl 2014, 1 (12). 727 EuGH, Rs C-39/94 – SFEI, Rn 50. 728 Bekanntmachung der Kommission über die Durchsetzung des Beihilfenrechts durch die einzelstaatlichen Gerichte, ABl 2009 C 85/1, Rn 84, 94. 729 Zu Rechtswirkung von Eröffnungsbeschlüssen und Rechtsschutz Weiß ZHR 2016, 80 (116 ff); Weiß ZWeR 2015, 364 (372 ff). 730 GA Mengozzi in seinen Schlussanträgen vom 27.6.2013, Rs C-284/12 – Deutsche Lufthansa, Nr 40; EuG, Rs T-251/13 – Nijmegen, Rn 32. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

V. Das Beihilferegime | 1237

über Maßnahmen zu entscheiden haben, die […] Gegenstand einer zukünftigen Entscheidung der Kommission [sind], vermeiden müssen, endgültige Anordnungen zu treffen, die mit dieser unvereinbar sein können.“731 Zwar sind die Wertungen der Kommission im Eröffnungsbeschluss nur vorläufig, gleichwohl hat der Beschluss rechtliche Wirkungen zur Sicherung der effektiven Wirksamkeit des Durchführungsverbots aus Art 108 III AEUV.732 Das nationale Gericht hat daher entweder die Vollziehung der Beihilfe auszusetzen und der begehrten Rückforderung stattzugeben. Oder es trifft einstweilige Maßnahmen, um zum einen die Interessen der beteiligten Parteien und zum anderen die praktische Wirksamkeit des Eröffnungsbeschlusses der Kommission zu wahren.733 Zweifelt das Gericht an der Einschätzung der Kommission, kann es die Kommission um Erläuterung bitten oder kann bzw muss auch den EuGH durch ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art 267 AEUV befassen.734

_____ 731 So GA Mengozzi in seinen Schlussanträgen vom 27.6.2013, Rs C-284/12 – Deutsche Lufthansa, Nr 40. 732 EuGH, Rs C-284/12 – Deutsche Lufthansa, Rn 37. Anders als der GA spricht der EuGH nicht explizit von einer Bindungswirkung. 733 EuGH, Rs C-284/12 – Deutsche Lufthansa, Rn 43. Existenz und Umfang einer sich hieraus ergebenden Bindungswirkung der Kommissionsbeurteilung im Eröffnungsbeschluss sind streitig; vgl Karpenstein/Dorn EuZW 2017, 337; Weiß ZWeR 2015, 364 (374 ff). Der BGH hat eine solche formal, jedoch mit Vorbehalten, anerkannt; BGH, I ZR 91/15, Rn 41; dazu Martin-Ehlers EuZW 2017, 312. S aber BVerwG, 10 C 3/15, EuZW 2017, 355. Dazu zuletzt vGraevenitz S 221 ff. 734 EuGH, Rs C-284/12 – Deutsche Lufthansa, Rn 44. Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

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Stephanie Jungheim-Hertwig/Wolfgang Weiß

§ 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union | 1239

Ludwig Gramlich

§ 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union Ludwig Gramlich § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union https://doi.org/10.1515/9783110498349-015

Gliederungsübersicht I. Einleitung: Wirtschafts- und Währungspolitik in der Krise? II. Grundlagen 1. Begriffe/Definitionen 2. Abgrenzungen und Verknüpfungen a) Europäische (unionale) und nationale (mitgliedstaatliche) Wirtschaftsverfassung(en) b) Internationale, europäische (supranationale) und nationale (deutsche) Wirtschafts- und Währungsordnung(en) c) Wirtschafts- und Währungspolitik der Union und nationale Wirtschafts- und Währungspolitiken der EU-Mitgliedstaaten III. Entwicklungsetappen der Wirtschafts- und Währungsintegration in Europa 1. Von den Römischen Verträgen bis zum Maastricht-Vertrag 2. Von Maastricht bis zur Errichtung der Währungsunion und des ESZB 3. Über Amsterdam, Nizza und Lissabon-Vertrag bis zu Reaktionen auf die Finanz-/ Staatsschuldenkrise IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 1. Rechtsrahmen der EU-„Wirtschafts“- und „Währungsverfassung“ a) EUV b) AEUV und Protokolle c) Sonstige primärrechtliche Regelungen mit Bezug auf Wirtschafts- und Währungspolitik 2. „Wirtschaftspolitik“ der EU a) Institutionen und Instrumente der Wirtschaftspolitik: Primärrechtlicher Rahmen b) Wesentliche EU-Rechtsakte zur Wirtschafts- einschl Haushalts-/Fiskalpolitik c) Rechtsakte im Umfeld/außerhalb des Unionsrechts ieS 3. „Währungspolitik“ a) Dualität des primärrechtlichen Rahmens: Teilnehmer an der Währungsunion (Eurosystem) und andere EU-Staaten (Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung) b) Institutionen und Aufgaben der einheitlichen (gemeinsamen) Währungspolitik aa) ESZB, EZB, Nationale Zentralbanken bb) EZB-Organisation cc) Kern-Aufgaben dd) Geld- und währungspolitische Rechtsetzung ee) Euro-Geldzeichen c) Einzelne währungspolitische Instrumente im ESZB d) Sonstige wichtige Aufgaben des ESZB aa) Zahlungs- und Verrechnungswesen bb) Gewährleistung von Finanzstabilität cc) ESZB und EU-Finanzaufsicht e) Währungs- und Haushalts-/Fiskalpolitik f) Unabhängigkeit und Legitimation der Zentralbanken im ESZB

Ludwig Gramlich https://doi.org/10.1515/9783110498349-015

Rn 1 5 5 9 9 11 14 15 15 23 27 31 31 31 33 44 53 54 83 91 95 95 106 106 107 114 119 125 132 144 144 150 151 154 155

1240 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

4.

V.

Rechtsschutz gegen Maßnahmen der EU-Wirtschafts- und Währungspolitik a) Grundlagen und Grenzen gerichtlicher Kontrolle b) Gerichtliche Kontrolle der (EU-)Wirtschaftspolitik c) Gerichtliche Kontrolle der (EU-)Währungspolitik 5. Binnen- und Außenwirtschafts-/Währungsaußenpolitik in der EU a) Unionsebene b) Mitgliedstaatliche Ebene 6. Internationale/globale Einbettung der Wirtschafts- und Währungspolitik a) Wirtschaftspolitik b) Währungspolitik allgemein c) Währungsreserven d) Wirtschafts- und Währungspolitik im Europäischen Wirtschaftsraum e) Spezielle Beziehungen im Bereich von Wirtschaft und Währung zu Drittstaaten Perspektiven

162 162 165 166 171 171 174 176 176 177 182 184 185 188

Spezialschrifttum Blanke, Hermann-Josef The European Economic and Monetary Union – between vulnerability and reform, Int J Public Law and Policy 1 (2011), 402–433; Blanke, Hermann-Josef/Mangiameli, Stelio (Hrsg) The Treaty on European Union (TEU), 2013; Gaitanides, Charlotte Das Recht der Europäischen Zentralbank, 2005; Gramlich, Ludwig Grundrechtsschutz gegenüber Zentralbanken, am Beispiel der Europäischen Zentralbank und der Deutschen Bundesbank, GS Dieter Blumenwitz, 2008, 1001– 1025; Häde, Ulrich Art 88 (Drittbearbeitung Dez 2012) in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz; Hahn, Hugo J Elemente einer neuen Weltwährungsordnung, in: Wilhelm A. Kewenig (Hrsg.) Völkerrecht und internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit, 1978 215 – 248; Hahn, Hugo J. Währungsrecht, 1. Auflage 1990; Hahn, Hugo J/Häde, Ulrich Währungsrecht, 2. Auflage 2010; Hartmann, Uwe Europäische Union und die Budgetautonomie der deutschen Länder, 1994; Herrmann, Christoph Währungshoheit, Währungsverfassung und subjektive Rechte, 2010; Herrmann, Christoph Europäisches Währungsrecht – Textausgabe, 2013; Herrmann, Christoph Europäische Wirtschafts- und Währungsunion in: Ehlers/Fehling/Pünder Bd 1 § 10; Hilpold, Peter Eine neue europäische Finanzarchitektur – Der Umbau der Wirtschafts- und Währungsunion als Reaktion auf die Finanzkrise in: Hilpold, Peter/Steinmair, Walter (Hrsg) Neue europäische Finanzarchitektur – Die Reform der WWU, 2013, 3–82; Jahn, Uwe/Schmitt, Christian/Geier, Bernd (Hrsg) Handbuch Bankensanierung und -abwicklung, 2016; Kaufhold, Ann-Katrin Instrumente und gerichtliche Kontrolle der Finanzaufsicht, Die Verwaltung 49 (2016) 339–368; Kokkola, Tom (Hrsg) ECB – The Payment System, 2010; Krägenau, Henry/Wetter, Wolfgang Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, 1993; Lackhoff, Klaus Single Supervisory Mechanism, 2017; Manger-Nestler, Cornelia Par(s) inter pares – Die Deutsche Bundesbank als nationale Zentralbank im Europäischen System der Zentralbanken, 2008; Möllers, Thomas/Zeitler, Franz-Christoph (Hrsg) Europa als Rechtsgemeinschaft – Währungsunion und Schuldenkrise, 2013; Proctor, Charles Mann on the Legal Aspect of Money, 6. Auflage 2005; Remsperger, Hermann Zentralbankpolitik: Überforderung statt Langeweile?, 2013. Leitentscheidungen EuGH, Rs 10/73 – REWE; Rs C-11/00 – Kommission / EZB; Rs C-220/03 – EZB / Deutschland; Rs C27/04 – Kommission /Rat; Rs C-359/05 – Estager AG; Rs C-62/11 – Feyerbacher; Rs C-370/12 – Pringle; Rs C-209/13 – Vereinigtes Königreich / Rat; Rs C-62/14 – Gauweiler ua; Rs C-17/16 – Oussama El Dakkak; Rs C-493/17 – Weiss ua (zu PSPP); Rs C-238/18 R – EZB / Lettland; Rs C-202/18, 238/18 – Rimsevics, EZB / Lettland. EuG, Rs T-333/99 – X / EZB; Rs T-3/00 – Pitsiorlas; Rs C-301/02 P – Tralli / EZB; Rs T-541/10 – ADEDY; Rs T-496/11 – UK/EZB; Rs T-224/12 – Accorinti ua; Rs T-79/13 – Accorinti ua; Rs T-590/10 – Thesing, Bloomberg Finance LP / EZB; Rs T-251/15 – Espirito Santo Fi-

Ludwig Gramlich

I. Einleitung: Wirtschafts- und Währungspolitik in der Krise? | 1241

nancial (Portugal); Rs T-122/15 – L-Bank; Rs T-712/15 und T-62/16 – Crédit Mutual Arkéa; Rs T-486/18 – OCU; Rs T-514/18 – Del Valle Ruiz ua; Rs T-599/18 – Aeris Invest; Rs T-564/18 – Bernis ua; Rs T576/18 und T-577/18 – Crédit Agricole; Rs T-584/18 – Urkselhosprom PCF; Rs T-733/16 – Banque Postale; Rs T-768/16 – BNP; Rs T-680/13 und T-786/14 – Chrysostomides. GöD, Rs F-15/05 – Andres / EZB; Rs F-6/08 – Blais / EZB. BVerfG: BVerfGE 89, 155 – Maastricht; BVerfGE 123, 267 – Lissabon; BVerfGE 125, 385 – Griechenland; BVerfGE 126, 286 – Honeywell; BVerfGE 129, 124 – EuroRettungsschirm; BVerfGE 131, 157 – Euro-Plus-Pakt / ESM; BVerfG, NVwZ 2013, 858 – Zypernhilfe; BVerfGE 132, 195 – ESM 1; BVerfGE 134, 366 – OMT 1; BVerfGE 135, 317 – ESM 2; BVerfGE 142, 123 – OMT 2; BVerfGE 146, 216 – PSPP; BVerfG, 2 BvR 1685/14, 2631/14 – Europäische Bankenunion.

I. Einleitung: Wirtschafts- und Währungspolitik in der Krise? I. Einleitung: Wirtschafts- und Währungspolitik in der Krise? Bereits der Dritte Teil des EWG-Vertrags vom 25.3.19571 enthielt in seinem Titel II 1 (direkt nach den „gemeinsamen Regeln“ zur „Politik der Gemeinschaft“) einschlägige Vorschriften, freilich allein zur „Wirtschaftspolitik“, dh zur „Konjunkturpolitik“ (Art 103) sowie zur „Zahlungsbilanz (Art 104 ff) und zur „Handelspolitik“ (Art 110 ff). Zwischenzeitlich haben sich System und Inhalt der entsprechenden Bestimmungen – nunmehr im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)2 – nicht unwesentlich geändert: Zwar bleibt es bei der Einordnung der „Wirtschafts- und Währungspolitik“ im dritten Teil, bei den „internen Politiken und Maßnahmen der (Europäischen) Union“. Jedoch bezieht sich seit 1. Dezember 2009 der betr Titel VIII – obgleich weiter im Anschluss an „gemeinsame Regeln betreffend Wettbewerb“ ua3 – auf beide Bereiche, „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“. Zudem steht jetzt am Anfang ein Grundsatz-Artikel zur „europäischen Wirtschaftsverfassung“ (Art 119 AEUV).4 Diesem folgen allgemeine Vorschriften zur „Wirtschaftspolitik“, ein ebenso allgemein, dh für EU und ihre Mitgliedstaaten insgesamt geltendes Kapitel zur „Währungspolitik“ und generelle „institutionelle Bestimmungen“. Vor diversen „Übergangsvorschriften“ – auch in Bezug auf Zahlungsbilanzprobleme (Art 143, 144 AEUV) – trifft Kap 4 schließlich „besondere Bestimmungen für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist“. Um „Konjunkturpolitik“ geht es – nicht ausschließlich – in Art 121 AEUV; (Gemeinsame) „Handelspolitik“ hingegen ist heute im fünften Teil verankert (Art 206, 207 AEUV), in unmittelbarem Anschluss an die „allgemeinen Bestimmungen über das auswärtige Handeln der Union“ (Art 205 AEUV), flankiert und abgerundet von mehreren weiteren Titeln (III–VII) zur auswärtigen (Wirtschafts-)Politik.5 Über die „Brücke“

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BGBl 1957 II 753/766. ABl 2012 C 326/47. Vgl dazu näher Jungheim-Hertwig/Weiß § 14 (in diesem Band). Unten, Rn 8 f, 33 f. Unten, Rn 12 f, 44, 50 f.

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1242 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

des Art 205 AEUV sind hierfür die Ziele und allgemeinen Regeln der Art 21 ff EUV6 maßgeblich; wirtschaftsrelevant ist dabei insbesondere Art 21 II 2 lit d–f EUV.7 Ein Blick auf die Verbandskompetenz der Union zeigt, dass deren ausschließli2 che Zuständigkeit nach Art 3 I AEUV insoweit nur die „Währungspolitik für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist“, umfasst (lit c). Lediglich für diese engere Gruppe („Eurozone“) bestehen zudem besondere Regeln für die Wirtschaftspolitik. Generell hingegen gilt hierfür – vorbehaltlich von Schnittstellen mit in Art 4 oder 6 AEUV genannten wirtschaftsnahen oder -relevanten Bereichen – nach wie vor lediglich das Gebot der Koordinierung der mitgliedsstaatlichen Binnen-Wirtschaftspolitiken (in Abgrenzung zur Gemeinsamen Handelspolitik gegenüber Drittländern, Art 3 I lit e AEUV). Der Rat der EU (Art 237 ff AEUV) hat nur eine Befugnis, „Maßnahmen“8 zum Zweck der Koordinierung zu treffen und dabei „insbesondere“ über „Grundzüge“ dieser Politik zu beschließen (Art 5 I AEUV). Wesentliche oder gar grundlegende Änderungen gegenüber der bereits durch 3 den Maastricht-Vertrag 9 herbeigeführten Neuordnung dieser Politiken bzw der einschlägigen Regelungen hat der Lissabon-Vertrag nicht bewirkt. Die Ende 2007 erst an ihrem Anfang stehende Finanz-/Schuldenkrise hat in ihrem Fortgang bisher nur punktuell förmliche Änderungen des primären Unionsrechts veranlasst. Lediglich an Art 136 AEUV wurde 2012/2013 ein neuer, dritter Absatz angefügt,10 der die Mitgliedstaaten der Eurozone ermächtigt, einen Stabilitätsmechanismus einzurichten, „der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des EuroWährungs-gebiets insgesamt zu wahren“ (S 1), und durch den „strenge Auflagen“ für Finanzhilfen im Rahmen dieses Mechanismus vorgeschrieben werden (S 2).11 Ein unterbliebener Wandel der (unions)rechtlichen Vorgaben ist allerdings 4 nicht ohne weiteres gleichzusetzen mit Kontinuität in der Anwendungs-Praxis. So scheint sich insbesondere das Verständnis maßgeblicher Akteure auf Unions- wie auf mitgliedsstaatlicher Ebene bei der Auslegung zentraler Vorschriften durchaus (stärker bzw neu) am Ziel der Überwindung der Krise auszurichten. Solche Modifizierungen zeigen sich sowohl in Rechtsetzungs- als auch in sonstigen Rechtsakten und Maßnahmen, die nach Zahl und Inhalt zunehmend stärker bisher eingeschlagene, vertraute Pfade verlassen mögen. In einer sich auch auf Rechtsstaatlichkeit

_____ 6 ABl 2012 C 326/1. 7 Vgl hierzu Blanke/Mangiameli/Oeter Art 21 EUV Rn 33 ff; Pechstein/Nowak/Häde/Heintschel v Heinegg Art 21 EUV Rn 29. 8 Zum Verhältnis zu „Rechtsakten“ vgl näher Magiera § 7 (in diesem Band). 9 ABl 1992 C 191/1. 10 Beschluss 2011/199 des Europäischen Rates v 25.3.2011 zur Änderung des Art 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, ABl 2011 L 91/1. 11 Unten, Rn 78 ff. Ludwig Gramlich

II. Grundlagen | 1243

gründenden Union (Art 2 S 1 EUV12) kann letztlich nur eine zentrale Institution wie der EuGH einer die Grenzen des (geschriebenen wie ungeschriebenen) Unionsrechts sprengenden Praxis (anderer EU-Organe oder -Einrichtungen, aber auch der Mitgliedstaaten) wirksam entgegentreten – und muss dies tun, wenn er seiner zentralen Aufgabe nach Art 19 I UAbs 1 S 2 EUV („Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“)13 gerecht werden will. II. Grundlagen II. Grundlagen 1. Begriffe/Definitionen „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ („economic“ bzw „monetary policy“) sind 5 systematisch Teil einzelner „Politiken“ („policies“) der EU, letztere auch in Bezug auf „external action“.14 Auch für diese Themenbereiche sind damit sowohl die Kompetenzabgrenzung zwischen unionaler und mitgliedsstaatlicher Ebene als auch die konkreten Organzuständigkeiten im Rahmen der Union (vor allem bei der Rechtsetzung) maßgeblich. Während bei der „Wirtschaftspolitik“ zahlreiche spezielle Regelungen sachlich vorrangig sind, weil und soweit sie wirtschaftliche oder doch wirtschaftsrelevante Probleme behandeln (von „Landwirtschaft und Fischerei“, Art 38 ff AEUV,15 bis hin zu „Energie“, Art 194 AEUV ),16 bilden „Geld“- bzw „Währungspolitik“17 ein zwar (im Wesentlichen)18 auf zwei formal getrennte Regelwerke (AEUV und ESZB-Satzung)19 verteiltes, aber thematisch eingegrenztes Set von Vorschriften für das Geld- und Währungswesen in der EU. Legaldefinitionen der zentralen Kategorien – Wirtschaft bzw Geld oder Währung – sind im primären Unionsrecht nicht enthalten. Deshalb muss insofern auf deren allgemein anerkanntes Verständnis sowie auf systematisch-teleologische Erwägungen zurückgegriffen werden.20

_____ 12 Vgl Blanke/Mangiameli/Mangiameli Art 2 EUV Rn 28 ff; dies/Oeter Art 21 EUV Rn 15; Pechstein/Nowak/Häde/Terhechte Art 2 EUV Rn 20. 13 Vgl dazu näher Schroeder § 8 (in diesem Band); s etwa Möllers/Zeitler/Streinz S 21 (39 ff); Blanke/Mangiameli/Arnull Art 19 EUV Rn 14 f.; Pechstein/Nowak/Häde/Pechstein/Kubicki Art 19 EUV Rn 11 ff. 14 Oben, Rn 1; unten, Rn 171 ff. 15 Vgl dazu näher Härtel § 6 (in diesem Band). 16 Vgl näher Gramlich European Yearbook of International Economic Law 2012, 371 (387 ff). 17 In anderen Vertragssprachen (insb englisch/französisch) wird ein und dasselbe Wort verwendet: „monetary policy“ bzw „politique monétaire“. 18 Zu den (neben dem die ESZB-Satzung enthaltenden) weiteren Protokollen unten, Rn 43. 19 Protokoll (Nr 4) über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank, ABl 1992 C 191/1 (68), zuletzt geändert durch Protokoll (Nr 3), ABl 2012 C 326/1 (210). 20 Vgl zu Auslegungsfragen näher Gruber § 11 (in diesem Band). Ludwig Gramlich

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„Wirtschaft“ als Gegenstand einer „Politik“ (der EU wie ihrer Mitgliedstaaten) umfasst alle generell gegen Entgelt angebotenen oder erbrachten, allgemein erlaubten, gewinnorientierten Aktivitäten von Einzelpersonen wie von Unternehmen (unabhängig von ihrer Rechtsform); einbezogen sind (ausweislich mehrerer Bestimmungen des AEUV wie Art 54 II, 106 I) auch „öffentliche“ Unternehmen („public undertakings“), die regelmäßig nicht anders als private Marktteilnehmer behandelt werden.21 „Geld“ sind nicht nur die in einem spezifischen Verfahren durch staatliche Stel7 len (oder beim Euro durch die Europäische Zentralbank [EZB]) begebenen Geldzeichen (Bargeld, also Banknoten, Scheidemünzen), sondern auch alle anderen gängigen, für die Verwendung des Publikums verfügbaren, nicht nur die „gesetzlichen“ Zahlungsmittel, dh auch Schecks oder diverse Karten mit Zahlungsfunktion.22 Neben seiner Zahlungs-/Tauschfunktion – als Gegenleistung etwa für Warenlieferungen oder das Erbringen von Dienstleistungen – dient Geld zudem der Wertaufbewahrung und (nicht zuletzt durch die Stückelung von Bargeld mit Prägung oder Aufdruck von verschiedenen Nennwerten) als Rechen-/Rechnungseinheit.23 „Währung“ als umfassenderer Begriff bezeichnet die Geldordnung bzw 8 -„verfassung“ eines Staates oder Staatenverbundes (wie der EU)24: Durch organisatorische, prozedurale und inhaltliche Regelungen soll die jeweilige Währung, insbesondere der (reale) Geldwert gesichert werden. Dieser bezieht sich zum einen auf den Binnenwert, dh die Kaufkraft des Geldes innerhalb eines Währungsraums; die Sicherung erfolgt hier durch Maßnahmen zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung von Preisstabilität, dh sowohl ein Vermeiden von (spürbarer) Inflation als auch die Korrektur einer Deflation.25 Zweite Säule der Währungssicherung ist die Bewahrung des Außenwerts (Verhältnis der eigenen Währung zu den Währungen anderer Staaten); die Stabilität zeigt sich hier an möglichst geringen (im Gegensatz zu „erratischen“ oder „volatilen“) Schwankungen der jeweiligen Wechselkurse. Gleich dreimal in zwei aufeinander folgenden Vorschriften (Art 119, 120 AEUV) werden sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten bei der Durchführung ihrer Wirtschafts- und Währungspolitik(en) auf den Grundsatz einer „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ („principle of an open market economy with free competition“) verpflichtet. Der Inhalt dieses Prinzips lässt sich freilich wiederum nur anhand einer Gesamtschau des Primärrechts näher konkretisieren,26 und es be-

_____ 21 Zu Art 123 AEUV s unten, Rn 65, 68. 22 Vgl Hahn/Häde § 3 Rn 11 ff; Herrmann Währungshoheit S 59 ff. 23 Vgl Hahn/Häde § 1 Rn 34 ff; Herrmann Währungshoheit S 68 ff. 24 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 115; Hahn/Häde § 2 Rn 2; Herrmann Währungshoheit S 73 f. 25 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 116. 26 Vgl zu wesentlichen Aspekten näher Sommermann EuR § 3 und Blanke/Böttner § 13 (in diesem Band); zum Prinzip näher Siekmann/Siekmann Art 119 AEUV Rn 31 ff, 87 ff. Ludwig Gramlich

II. Grundlagen | 1245

trifft (einzig) die Art und Weise politischen Handelns, bildet also nicht selbst eine (zusätzliche, generelle) Ermächtigungsgrundlage.

2. Abgrenzungen und Verknüpfungen a) Europäische (unionale) und nationale (mitgliedstaatliche) Wirtschaftsverfassung(en) Bis heute zieht Art 345 AEUV (ursprünglich Art 222 EWGV) der Wirtschaftspolitik der 9 EU Grenzen insbesondere bezüglich ihrer Breite und Tiefe, indem dort festgehalten ist, die Eigentumsordnung („system for property ownership“) in den Mitgliedstaaten bleibe unberührt.27 Die nationalen Verfassungen der EU-Länder weisen im Hinblick auf den Rahmen und die Ausgestaltungen der je eigenen (internen) Wirtschaftsordnung ein weites Spektrum von Vorgaben unterschiedlicher Art und Intensität auf – durchaus vergleichbar mit den einschlägigen Vorschriften der Verfassungen der deutschen Bundesländer, vor allem der älteren.28 Jedoch ist seit Inkrafttreten des Maastricht-Vertrags für alle EU-Staaten kraft Gemeinschafts-, jetzt Unionsrechts die Ausrichtung am marktwirtschaftlichen Prinzip maßgeblich. Dies gilt auch für Deutschland, dessen Bundesverfassung (GG) zwar vor allem durch (Freiheits-)-Grundrechte auch wirtschaftspolitisch lenkende oder steuernde Maßnahmen begrenzt, hierfür jedoch kaum konkretere positive Ziele (oder gar Instrumente) vorgibt.29 Von der Beachtung unmittelbar anwendbarer Grundfreiheiten abgesehen, ergeben sich andererseits aus EU-Recht kaum bedeutsame Einschränkungen für die nationale Wirtschaftsgesetzgebung. Die wesentliche Ausnahme hiervon ist die Fiskalpolitik bzw die unionsrechtlich gebotene „Haushaltsdisziplin“.30 Die wohl stärkste Beeinflussung nationaler Wirtschaftspolitik seitens des Uni- 10 onsrechts erfolgt im Bereich des Wettbewerbs- und Beihilferechts, zumal hier auch der Vollzug weithin in den Händen von EU-Organen, vor allem der Kommission, liegt. Die ebenfalls allgemeinen „Wettbewerbsregeln“ (Art 101 ff AEUV) gelten allerdings neben – und unabhängig von – den Vorschriften zur „Wirtschaftspolitik“.31

b) Internationale, europäische (supranationale) und nationale (deutsche) Wirtschafts- und Währungsordnung(en) Während im Bereich der Wirtschaft das Unionsrecht (nur) eine deutliche Abstufung 11 zwischen „Binnenmarkt“ – (Art 26 II AEUV) – und (ökonomischen) Beziehungen zu

_____ 27 28 29 30 31

S unten, Rn 48. Vgl etwa Ehlers/Fehling/Pünder/Durner Bd 1 § 11 Rn 39 ff. Vgl Ehlers/Fehling/Pünder/Durner Bd 1 § 11 Rn 1 ff; Jungbluth EuR 2010, 471 ff. S näher unten, Rn 69 ff. Dazu näher Jungheim-Hertwig/Weiß § 14 (in diesem Band).

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1246 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

Gebieten bzw Akteuren außerhalb des Unionsgebiets (Art 52 II EUV, Art 355 AEUV)32 vornimmt, sich daher die Vorschriften zur „Wirtschaftspolitik“ auf den Binnenraum konzentrieren, wird bei der „Währungspolitik“ in einer differenzierteren Weise unterschieden. Ein Kern von Regelungen gilt nur für diejenigen EU-Mitgliedstaaten, die den Euro 1999 als einheitliche Währung (anstelle der bisherigen eigenen nationalen Währung) eingeführt haben bzw dem Eurosystem hernach beigetreten sind.33 Bei den restlichen EU-Ländern ist zwischen (Vorschriften für) bestimmte(n) Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung und den übrigen zu trennen.34 Im Verhältnis nach außen (zu Nicht-EU-Staaten) bleibt die Wechselkurspolitik bei allen Unionsmitgliedern, deren Währung noch nicht der Euro ist, prinzipiell nationale Angelegenheit. Jedoch gelten hier teilweise früher begründete sekundärrechtliche Bindungen weiter,35 die wiederum mit IWF-Recht kompatibel sein müssen.36 Das Außen-Wirtschaftsrecht der EU wird wesentlich bestimmt durch die Mit12 gliedschaft der Union (als einziger Internationalen Organisation) in der Welthandelsorganisation (WTO)37 und die daraus resultierenden (Rechtsetzungs-)Pflichten.38 Hingegen sieht das Übereinkommen über den Internationalen Währungsfonds (IWF)39 bis dato lediglich einen Beitritt von Staaten vor; es statuiert daher völkervertragliche Bindungen nur für die dem IWF angehörenden Unionsländer,40 nicht unmittelbar für die EU selbst, ebenso wenig wie der Union umgekehrt Rechte aus diesem Übereinkommen erwachsen. Gleichwohl hat die Errichtung der (Endstufe der) Europäischen Währungsunion eine Vielzahl von Fragen im Dreiecksverhältnis von IWF, EU und EU-Mitgliedern, die sämtlich zugleich Parteien des IWF-Übereinkommens sind, hervorgerufen, die bisher (teils) nicht endgültig gelöst sind.41 Außen-Wirtschafts- und Außen-Währungspolitik werden auf Unionsebene/-im 13 EU-Recht deutlich voneinander (und auch von interner Wirtschafts- oder Währungspolitik) geschieden. Schon auf nationaler Ebene (von EU-Mitgliedstaaten) wird „Wechselkurspolitik“ von jeher auch als (außen)politische Angelegenheit begriffen und der nationalen Zentralbank insoweit allenfalls eine beratende Funktion

_____ 32 Vgl dazu bereits Niedobitek § 1 (in diesem Band). 33 S unten, Rn 102. 34 S unten, Rn 37, 41, 124. 35 S unten, Rn 185f. 36 Maßstab hierfür ist vor allem Art IV des IWF-Übereinkommens (idF v 30.4.1976, BGBl 1978 II 13 [15]). 37 Vgl Art XI (1) des Errichtungsübereinkommens (WTOÜ), BGBl 1994 II 1625; s Krajewski Rn 221 f. 38 Vgl dazu Art XVI (4) WTO-Übereinkommen; Ehlers/Fehling/Pünder/Tietje/Finke Bd 1 § 4 Rn 41 ff; Krajewski Rn 217, 292. 39 Ursprünglich v 2.7.1944, BGBl 1952 II 638. 40 Alle bis dato (vor einem Ausscheiden des UK) 28 EU-Staaten sind IWF-Mitglieder; https:// www.imf.org/external/np/sec/memdir/memdate.htm; Krajewski Rn 800. 41 S dazu näher unten, Rn 172, 182. Ludwig Gramlich

III. Entwicklungsetappen der Wirtschafts- und Währungsintegration in Europa | 1247

zugebilligt.42 Insofern gab es – und gibt es auch für Teilnehmer am Eurosystem – kein Monopol oder eine Prärogative der EZB in diesem Bereich.43 In anderen EUStaaten ist es eine Frage des nationalen Verfassungsrechts, ob und wieweit auch die Rolle der Regierung bei der Gestaltung der Währungsaußenpolitik konkreter (parlaments)gesetzlicher Ermächtigung oder Regelung bedarf. In Deutschland hingegen ist allenfalls problematisch, ob durch förmliches Bundesgesetz (Art 73 I Nr 4, 71 GG) festgelegt werden muss, welches Regierungsmitglied an Ratsentscheidungen nach Art 219 AEUV mitwirken darf (bzw muss).44

c) Wirtschafts- und Währungspolitik der Union und nationale Wirtschafts- und Währungspolitiken der EU-Mitgliedstaaten Unionsrecht ist nur begrenzt relevant für die (Binnen-)Wirtschaftspolitik aller EU- 14 Staaten und für die (Binnen- und Außen-)Währungspolitik derjenigen EU-Mitglieder, deren Währung (noch) nicht der Euro ist. Im Gegensatz dazu wird das Währungsrecht aller Teilnehmer des Eurosystems durch primäres und sekundäres EU-Recht geprägt; nationales Recht bleibt nur noch ergänzend anwendbar. Sein Erlass ist andererseits aber weiterhin notwendig, wenn einzelne Aspekte (wie konkrete Zentralbankorganisation oder Münzausgabe) innerstaatlicher Regelung vorbehalten werden.45 III. Entwicklungsetappen der Wirtschafts- und Währungsintegration in Europa III. Entwicklungsetappen der Wirtschafts- und Währungsintegration in Europa 1. Von den Römischen Verträgen bis zum Maastricht-Vertrag Schon die ursprüngliche Bezeichnung der EWG als „Wirtschaftsgemeinschaft“ 15 manifestiert deren anfängliche, primäre Zielsetzung, die bereits in der Präambel des EWGV als Sicherung des wirtschaftlichen (und sozialen) Fortschritts der (Mitglieds-)Länder, Gewährleistung einer beständigen Wirtschaftsausweitung und Förderung der harmonischen Entwicklung der Volkswirtschaften gekennzeichnet wurde. Allerdings sollten durch diesen „Zusammenschluss der Wirtschaftskräfte“ auch, ja vor allem „Frieden und Freiheit“ gewahrt und gefestigt werden.46 Die meisten Kernaspekte finden sich bis heute nunmehr im Vorspruch zum AEUV. Im EWG-Vertragstext selbst wurde an prominenter Stelle (Art 2) die „Aufgabe“ 16 der Gemeinschaft dahin gehend umschrieben, „durch die Errichtung eines Ge-

_____ 42 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 686; Hahn/Häde § 24 Rn 6; ferner Proctor Rn 31.19 ff. 43 S dazu näher unten, Rn 17 2 f. 44 Bzw ob hier Art 65 GG als Rechtsgrundlage ausreicht. Relevante Regeln finden sich jedenfalls weder im IntVG noch im EUZBBG. 45 S unten, Rn 125, 143, 177. 46 S dazu näher Sommermann § 3 (in diesem Band). Ludwig Gramlich

1248 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

meinsamen Marktes“ (Art 8)47 „und die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens …, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung, eine größere Stabilität, eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung und engere Beziehungen zwischen den Staaten zu fördern, die in dieser Gemeinschaft zusammengeschlossen sind“. Speziell für die (mitgliedstaatliche) Wirtschaftspolitik wurde die Anwendung von Verfahren, welche deren Koordinierung und „die Behebung von Störungen im Gleichgewicht ihrer Zahlungsbilanzen ermöglichen“, als „Tätigkeit“ der Gemeinschaft klassifiziert (Art 3 lit g EWGV). Art 6 EWGV erlegte einerseits den Mitgliedstaaten eine enge Zusammenarbeit mit den Gemeinschaftsorganen (Art 5 I EWGV) bei der Koordinierung der Wirtschaftspolitik auf, „soweit dies zur Erreichung der Ziele“ des EWGV „erforderlich“ ist (Art 6 I EWGV); umgekehrt hatten diese Organe darauf zu achten, „die innere und äußere finanzielle Stabilität der Mitgliedstaaten nicht zu gefährden“ (Art 6 II EWGV). Bereits 1958 beschloss der Ministerrat (nach Art 105 II und 153 EWGV) die Er17 richtung eines Währungsausschusses und dessen Statuten.48 Gestützt auf Art 105 I 1 und Art 145 Spstr 1 EWGV erging 1964 eine Ratsentscheidung zur Zusammenarbeit zwischen den Zentralbanken der EWG-Mitgliedstaaten; Konsultationen zu grundsätzlichem und regelmäßigem Informationsaustausch über wesentliche Fragen sollten in einem speziellen Ausschuss der Präsidenten (bzw „Gouverneure“) der Zentralbanken erfolgen.49 Gleichzeitig wurde die Kompetenz des Währungsausschusses auf das Feld des internationalen Währungssystems ausgedehnt.50 Eine Entschließung des Rates und der mitgliedsstaatlichen Regierungen vom 18 März 1971 zu einem Projekt, in drei Schritten eine Wirtschafts- und Währungsunion zu verwirklichen,51 das auf unter Leitung von R Barre bzw P Werner erarbeiteten Konzeptionen beruhte, scheiterte, primär wohl wegen der weltweit spürbaren „Dollar-Krise“, zumal diese mit einem temporären rechtlichen Schwebezustand im IWF verbunden war, der erst am 1.4.1978 mit Inkrafttreten der Zweiten Satzungsnovelle52 sein Ende fand. Im Europa der Sechs bzw (ab 1973) der Neun53 kam es daher lediglich zur Errich19 tung des Europäischen Wechselkursverbundes, der auf ein Abkommen der Zentralbanken der EWG-Mitglieder zurückging.54 In diesem Rahmen sollten sich die

_____ 47 S dazu näher Blanke/Böttner § 13 (in diesem Band). 48 ABl 1958 17/390. 49 ABl 1964 L 77 (1206); dazu BK/Häde Art 88 GG Rn 292; Hahn/Häde § 13 Rn 6. 50 ABl 1964 L 77 (1207). 51 ABl 1971 C 28/1; dazu Everling NJW 1971, 1481 ff; BK/Häde Art 88 GG Rn 294. 52 2. Änderung des IWF-Übereinkommens v 30.4.1976; dazu Hahn S 215 ff. 53 Zum Beitritt Dänemarks, Irlands und des Vereinigten Königreichs s näher Lehner § 2 (in diesem Band). 54 Vgl Bundesbank, Monatsbericht 1/1976, 23 ff; Herrmann Währungshoheit, S 206 f. Ludwig Gramlich

III. Entwicklungsetappen der Wirtschafts- und Währungsintegration in Europa | 1249

Wechselkurse der beteiligten Währungen sowohl gegeneinander („Schlange“) als auch gegenüber dem US-Dollar („Tunnel“) nicht mehr als 2,25% nach unten oder oben ändern können. Eine institutionelle Verankerung erfolgte zunächst nur durch den 1973 geschaffenen Europäischen Fonds für währungspolitische Zusammenarbeit (EFWZ),55 dessen Verwaltungsrat personengleich mit den Mitgliedern des Ausschusses der Zentralbankpräsidenten war. Der EFWZ bildete den technischen Rahmen des Wechselkursverbundes, indem er die aus Interventionen der Zentralbanken in Gemeinschaftswährungen entstandenen Salden verbuchte, die nach Umrechnung in eine Europäische Währungs-Rechnungseinheit (EWRE) über ihn verrechnet wurden. 1978/79 kam es dann auf deutsch-französische Initiative hin zur Errichtung des 20 Europäischen Währungssystems (EWS).56 Zu seinen wesentlichen Bestandteilen zählte neben dem Wechselkursmechanismus, in dem jeder teilnehmenden Währung nun ein Leitkurs in ECU (European Currency Unit)57 zugeordnet wurde (WKM I), auch ein Kreditmechanismus. Dieser eröffnete den beteiligten Zentralbanken Zugang zu Mitteln, um durch Interventionen die Einhaltung der Bandbreiten zu verteidigen, innerhalb derer der Wechselkurs einer Währung im Verhältnis zu jeder der anderen Währungen schwanken durfte. Die Rechtsgrundlagen des EWS waren zahlreich und vielfältig.58 Einige Elemente wie das Abkommen zwischen den Zentralbanken vom 13.3.197959 sind eher völker- als unionsrechtlicher Natur. Unter der Überschrift „Währungspolitische Befugnisse“ wurde durch Art 20 21 der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA)60 in Teil 3, Titel II als einzige Vorschrift eines neuen ersten Kapitels Art 102a in den EWGV eingefügt, betitelt „Zusammenarbeit in der Wirtschafts- und Währungspolitik“ (in Klammern gefolgt von „Wirtschafts- und Währungsunion“). Abs 1 erneuerte und vertiefte die Verpflichtung, indem diese (jetzt) auch bezogen wurde auf „Erfahrungen“, die „bei der Zusammenarbeit“ im Rahmen des EWS und „bei der Entwicklung der ECU gesammelt worden sind“ (S 2). Dass damit eine (zusätzliche) Absicherung des Status Quo bezweckt war, zeigt der folgende Satzteil, demzufolge die Mitgliedstaaten „die bestehenden Zuständigkeiten respektieren“ wollten. Einer weiteren (diffusen) Entwicklung setzte Art 102a II S 1 Grenzen; institutionelle Veränderungen „im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik“ sollten künftig ausschließlich nach Maßgabe

_____ 55 VO 907/73, ABl 1973 L 89/2; dazu Louis CDE 1973, 258 ff. 56 Vgl Münch RIW 1982, 653 (654 ff); BK/Häde Art 88 GG Rn 295 f, 298 ff; Hahn/Häde § 13 Rn 10 ff; Gramlich ua/Gleske S 99 ff. 57 Vgl Herrmann Währungshoheit, S 208 f. 58 Zusammenstellung bei Krägenau/Wetter S 12 ff. 59 Text in Krägenau/Wetter S 124 ff. 60 ABl 1987 L 169/1. Ludwig Gramlich

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von Art 236 EWGV, dh nur durch förmliche Vertragsänderung (heute Art 48 AEUV) und damit nicht mehr auf der Basis von Art 235 EWGV (der Vorgängerregelung zu Art 352 AEUV) erfolgen.61 1988 – im zeitlichen Kontext zu Finanzmarktreformen62 – beauftragte der Euro22 päische Rat eine Expertengruppe unter Leitung des damaligen Kommissionspräsidenten J Delors damit, einen konkreten Plan zur Verwirklichung der Wirtschaftsund Währungsunion (WWU) auszuarbeiten.63 Die Umsetzung des 1989 vorgelegten Berichts,64 der teils an die 20 Jahre früher geleisteten Vorarbeiten anknüpfte, wurde zügig in Angriff genommen: Bereits zum 1.7.1990 erfolgte der Eintritt in die „erste Stufe“; die hier im Mittelpunkt stehende, schrittweise weiter verstärkte Konvergenz der mitgliedstaatlichen Wirtschafts- und Haushaltspolitiken erfolgte mittels Einrichtung einer periodisch erfolgenden multilateralen Überwachung durch den Rat.65 Eine Regierungskonferenz, welche die für die Realisierung der beiden weiteren Stufen erforderlichen Vertragsänderungen erarbeiten sollte, nahm ihre Verhandlungen im Dezember 1990 auf, parallel zu einer weiteren betr die Schaffung einer Politischen Union. Die Dokumente über die Ergebnisse wurden nach Billigung durch die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten im Februar 1992 unterzeichnet; der Maastricht-Vertrag – dessen Kern der Vertrag über die Europäische Union (EUV)66 bildete – trat wegen Verzögerungen im Ratifizierungsverfahren erst (verspätet) am 1.11.1993 in Kraft. Zwei Monate später war schon der Beginn der „zweiten Stufe“ terminiert worden. Das BVerfG hat seinerzeit die deutsche Zustimmung zu Erweiterungen der E(W)G-Kompetenzen und der Einbeziehung der Währungspolitik als von der nationalen Ermächtigungsgrundlage (Art 23 I GG)67 noch gedeckt angesehen.68

2. Von Maastricht bis zur Errichtung der Währungsunion und des ESZB 23 Der Vertrag über die Europäische Union formulierte als (neues) Ziel der Union die

„Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion, die auf längere Sicht auch eine einheitliche Währung nach Maßgabe dieses Vertrags umfasst“ (Art B I Spstr 1).

_____ 61 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 297, 298; Herrmann Währungshoheit, S 208. 62 Insb Basel I („Internationale Konvergenz der Eigenkapitalmessung und Eigenkapitalanforderungen“), Juli 1988 (www.bis.org/publ/bcbs04ade.pdf); 2. Bankrechtskoordinierungs- (1989/646) und Eigenmittelrichtlinie (1989/299), ABl 1989 L 386/1 bzw L 124/16. 63 Text der Schlussfolgerungen v 27./28.6.1988 in Krägenau/Wetter S 140. 64 Text in Krägenau/Wetter S 146 ff. 65 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 302; Herrmann Währungshoheit, S 212; Hartmann S 35 f. 66 Vgl ex-Art A–F, ferner ex-Art J–S EUV. 67 In der Fassung des Gesetzes v 21.12.1992, BGBl 1992 I 2086. 68 BVerfG, 2 BvR 2134, 2159/92 – Maastricht, BVerfGE 89, 155 (188 ff). Ludwig Gramlich

III. Entwicklungsetappen der Wirtschafts- und Währungsintegration in Europa | 1251

Art 3a des durch Art G EUV geänderten (bisherigen) EWG-Vertrags präzisierte diese auch in Art 2 erwähnte Tätigkeit bzw Aufgabe dahingehend: „(1) Die Tätigkeit der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft im Sinne des Artikels 2 umfasst nach Maßgabe dieses Vertrags und der darin vorgesehenen Zeitfolge die Einführung einer Wirtschaftspolitik, die auf einer engen Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, dem Binnenmarkt und der Festlegung gemeinsamer Ziele beruht und dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist. (2) Parallel dazu umfasst diese Tätigkeit nach Maßgabe dieses Vertrags und der darin vorgesehenen Zeitfolge und Verfahren die unwiderrufliche Festlegung der Wechselkurse im Hinblick auf die Einführung einer einheitlichen Währung, der ECU, sowie die Festlegung und Durchführung einer einheitlichen Geld- sowie Wechselkurspolitik, die beide vorrangig das Ziel der Preisstabilität verfolgen und unbeschadet dieses Zieles die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft unter Beachtung des Grundsatzes einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb unterstützen sollen. (3) Diese Tätigkeit der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft setzt die Einhaltung der folgenden richtungweisenden Grundsätze voraus: stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz“.

Titel VI (statt bisher Titel II) des dritten Teils lautete nun „Die Wirtschafts- und 24 Währungspolitik“ (Art 102a–109m EGV) und umfasste vier Kapitel: Wirtschafts-, Währungspolitik, Institutionelle und Übergangsbestimmungen. In den Abschnitt über den Gerichtshof wurde auch die Europäische Zentralbank (sowohl auf Kläger- als auch auf Beklagtenseite) einbezogen;69 diese selbst hatte bereits in Teil I („Grundsätze“) in Art 4a EGV als zusammen mit dem Europäischen System der Zentralbanken (ESZB) zu schaffende „Einrichtung“ ihren Platz erhalten. Als Protokolle und damit als ein integraler Bestandteil des EGV wurden schließlich Vorschriften über die Satzungen des ESZB und der EZB70 sowie des Europäischen Währungsinstitutes (EWI)71 erlassen. Art 109e I EGV bekräftigte den Beginn der zweiten Stufe der WWU zum 1.1.1994, 25 Abs 2 präzisierte die mitgliedstaatlichen Verpflichtungen vor, Abs 3–5 diejenigen ab diesem Datum. Art 109f I UAbs 1 EGV legte fest, dass ein Währungsinstitut (das EWI) mit Rechtspersönlichkeit errichtet werde und seine Tätigkeit aufnehme, das an die Stelle des Ausschusses der Zentralbankpräsidenten und des EFWZ trat (Art 109f I UAbs 4, II Spstr 5 EGV). Neben der Fortführung bereits vorhandener Aufgaben (wie der Überwachung des Funktionierens des EWS) wurde das EWI auch mit zahlreichen Maßnahmen zur Vorbereitung der dritten Stufe betraut (Art 109f III

_____ 69 Dazu näher unten, Rn 167 ff. 70 S bereits oben, Rn 5. 71 ABl 1992 C 191/1 (79); vgl auch unten, Rn 95, 108; BK/Häde Art 88 GG Rn 567; Manger-Nestler S 124 ff. Ludwig Gramlich

1252 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

EGV). Wesentlich war (und bleibt) Art 109g EGV: Nach dessen Abs 1 wird die Anfang 1994 bestehende Zusammensetzung des ECU-Währungskorbes72 nicht geändert und Abs 2 zufolge der Wert des ECU mit Beginn der dritten Stufe (im Verfahren nach Art 109l h EGV) unwiderruflich festgesetzt. Im Hinblick auf die ursprüngliche politische Absicht, die Endstufe der WWU 26 bereits Anfang 1997 zu erreichen, sollte das EWI bis dahin in regulatorischer, organisatorischer und logistischer Hinsicht den Rahmen festlegen (Art 109f III S 2 EGV).73

3. Über Amsterdam, Nizza und Lissabon-Vertrag bis zu Reaktionen auf die Finanz-/Staatsschuldenkrise 27 Der Vertrag von Amsterdam74 brachte im Hinblick auf Wirtschafts- und Währungspolitik nur redaktionelle Änderungen (in Art 109e/neu Art 116 EGV und Art 109f/neu Art 117 EGV) sowie und vor allem eine bereinigte Nummerierung. Der Nizza-Vertrag75 bewirkte ebenfalls lediglich geringe Modifizierungen der Art 100 I, II (= Art 103a I, II), 111 IV (= Art 109 IV) und 123 IV EGV (= Art 109l IV EGV).76 Seit dem Vertrag von Lissabon finden sich Regeln zur EZB auch im Vertrag 28 über die (neue) Europäische Union (EUV).77 Außer der geänderten Einordnung als „Organ“78 der Union (in Art 13 I EUV) wird jedoch für das Weitere auf die Bestimmungen des Vertrags über die Arbeitsweise der EU verwiesen (Art 13 III EUV). Dort wurden zwar etliche Umstellungen von Regelungen vorgenommen (zB Art 4 EGV zu Art 119 AEUV, Art 111 – außer Abs 4 – EGV zu Art 219 AEUV, Art 112, 113 EGV zu Art 283, 284 AEUV) und überholte Vorschriften ganz oder teilweise aufgehoben (Art 116, 117, 118, 121, 124 EGV). Insgesamt wurde jedoch wenig Neues normiert (Art 136, 137, 139 und Art 282 AEUV, ferner einige Protokolle).79 Später kam noch Art 136 III AEUV hinzu.80 Weitaus gravierendere Entwicklungen fanden seit 1996/97 im Sekundärrecht 29 der EG/EU statt: Bereits im Dezember 1995 hatte sich der Europäische Rat auf den Namen „Euro“ (anstelle des „Platzhalters“ ECU) für die einheitliche Währung

_____ 72 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 299; Proctor Rn 28.05. 73 Vgl hierzu näher die auf der EZB-Website verfügbaren Jahresberichte des EWI. 74 ABl 1997 C 340/1. 75 ABl 2001 C 80/1. 76 In Klammern jeweils die Maastricht-Fassung. 77 ABl 2007 C 307/1. 78 Krit zu dieser Zuordnung Gramlich/Manger-Nestler EuZW 2005, 193; s a Blanke/Mangiameli/ Chevallier-Govers Art 13 EUV Rn 63. 79 S oben, Rn 24 und unten, Rn 43. 80 S schon oben, Rn 3; ferner unten, Rn 42, 78. Ludwig Gramlich

III. Entwicklungsetappen der Wirtschafts- und Währungsintegration in Europa | 1253

verständigt,81 was jedoch erst 1998 durch Verordnung in (sekundäres) Gemeinschaftsrecht umgesetzt wurde.82 Um frühzeitig Rechtssicherheit (und Kontinuität für Geldverbindlichkeiten) für die (erstmalige) Euro-Einführung zu schaffen, erging eine Rats-Verordnung für diesen Kontext bereits Mitte 1997.83 Die eigentliche Einführungsverordnung vom Mai 199884 ordnete die Ersetzung der nationalen Währungen der (zunächst 11) Teilnehmerstaaten durch den Euro (unterteilt in 100 Cent) an. Für eine dreijährige Übergangsphase bis Ende 2001 galt ansonsten das je nationale Währungsrecht weiter; der Euro war nur im unbaren Zahlungsverkehr einsetzbar, die bisherigen nationalen Banknoten und Münzen blieben vorerst als gesetzliches Zahlungsmittel im jeweiligen Land in Umlauf.85 Euro-Bargeld wurde dann ab 1.1.2002 ausgegeben. Der vorgegebene Zeitraum von 6 Monaten für die vollständige Einführung der neuen einheitlichen Währung – einschließlich der Ersetzung der Landeswährungen durch den Euro und der Außerkurssetzung der auf diese Währungen lautenden Geldzeichen – wurde in den Teilnehmerstaaten der Währungsunion in der Regel deutlich unterschritten.86 Die 2007 in den USA einsetzende Bankenkrise griff bald auch auf Europa und 30 nicht zuletzt auf die EU über.87 Nachdem zunächst diverse Rechtsetzungsaktivitäten und andere Schutz- bzw Gegenmaßnahmen auf dem Finanzsektor erfolgt waren, entwickelte sich in der Folge, im Frühjahr 2010, vor allem im Euro-Währungsraum eine Staatsschuldenkrise, beginnend mit der krisenhaften Zuspitzung der Situation in Griechenland.88 Zahlreiche Lösungs- bzw Rettungsversuche auf Unions- wie auf internationaler Ebene (dh im Kontext der G2089 und des IWF90) folgten. Ihnen liegt (zumindest bei den Teilnehmern an der Wirtschafts- und Währungsunion) die Überlegung zugrunde, dass eine stärkere und effektivere wirtschafts-, vor allem fiskalpolitische Koordinierung (sowie zusätzliche Steuerungsmöglichkeiten seitens der Union/-auf EU-Ebene) erforderlich seien. Hierbei sei eine Gratwanderung nötig, die einerseits nicht eine (Bundes-)Staatlichkeit der Europäischen Union herbeiführt, zum andern aber künftigen Krisen wirksam vorbeugt und ein Funktionieren der

_____ 81 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 307 ff; s a Siebelt/Häde NJW 1992, 10 ff; Siebelt JuS 1996, 6 ff. 82 VO 974/98, ABl 1998 L 139/1. 83 VO 1103/97, ABl 1997 L 162/1; näher unten, Rn 103 f. 84 VO 974/98; ergänzt durch VO 975/98, ABl 1998 L 139/6; s auch unten, Rn 104. 85 BK/Häde Art 88 GG Rn 545; s a Schorkopf NJW 2001, 3734 (3736 ff); Kilb EuZW 2002, 5 ff. 86 Vgl nur EZB, Jahresbericht 2002, 140 ff; Bundesbank, Jahresbericht 2001, 12 ff. 87 Vgl etwa Möllers/Zeitler/Siekmann S 101 (102 ff); Calliess VVdStRL 2012, 113 (115 ff); BK/Häde Art 88 GG Rn 436 ff. 88 Vgl die Sachverhaltsdarstellungen in BVerfG, 2 BvR 987/10 – Griechenland I, BVerfGE 125, 385 ff, und BVerfG, 2 BvR 987, 1485, 1099/10 – Euro-Rettungsschirm, BVerfGE 129, 124 (127 ff). 89 S unten, Rn 176. 90 Zum Verhältnis von EU und IWF bereits oben, Rn 12; näher dazu unten, Rn 177 f. Ludwig Gramlich

1254 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

(Wirtschafts- und) Währungsunion als „Stabilitätsgemeinschaft“ dauerhaft sichert.91 IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 1. Rechtsrahmen der EU-„Wirtschafts“- und „Währungsverfassung“ a) EUV 31 Ziel der seit Dezember 2009 mit eigener Rechtspersönlichkeit (Art 1 III S 2 EUV) ausgestatteten Europäischen Union ist es, den Frieden, die (grundlegenden) Werte (Art 2 EUV) und das „Wohlergehen ihrer Völker“ zu fördern (Art 3 I EUV).92 In Art 3 II EUV wird dann zunächst der auch wirtschaftsrelevante „freie Personenverkehr“ im „Binnenmarkt“ genannt, dieser selbst (Art 26, 27 AEUV) zu Beginn von Abs 3.93 Im selben Unterabsatz (Art 3 I UAbs 1 EUV) finden sich in der Folge die drei Pfeiler der „nachhaltigen Entwicklung“: Ökonomie („ausgewogenes Wirtschaftswachstum“ und „Preisstabilität“, Art 127 I AEUV), Soziales („in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“ mit dem Ziel der „Vollbeschäftigung“ [Art 145 ff, 147 AEUV] und des „sozialen Fortschritts“ [Art 9, 151 ff AEUV]) sowie Ökologie („hohe“ Umweltqualität [Art 11, 191 ff AEUV]). Zudem wird die Förderung des „wissenschaftlichen und technischen Fortschritts“ (Art 179 ff AEUV) als Basis eines (qualitativen) wirtschaftlich-gesellschaftlichen Wachstums vorgegeben. Die im zweiten und dritten Unterabsatz aufgelisteten, primär sozialen Zielsetzungen weisen erhebliche Schnittmengen mit der Wirtschaftspolitik auf, wie dies die „Kohärenz“-Regeln (Art 174 ff AEUV) auch explizit zum Ausdruck bringen.94 Sprachlich übereinstimmend mit der Regelung zum Binnenmarkt ist in Art 3 IV EUV von der „Errichtung“ einer „Wirtschafts- und Währungsunion“ die Rede, „deren Währung der Euro ist“; wie dort zielt diese Formulierung auf Erhalt und Verbesserung des bereits Vorhandenen ab. Schließlich enthält auch die Vorschrift über die Beziehungen der EU (Art 3 V EUV) zur „übrigen Welt“ (nicht nur zu dritten Staaten) ausdrücklich wirtschaftlich-soziale Vorgaben, wie „freien und gerechten Handel“, „Beseitigung der Armut“ und allgemein die Unterstützung einer „globalen nachhaltigen Entwicklung“. Die Betonung des Schutzes der Menschenrechte (Art 2, 3 V

_____ 91 Zu Perspektiven s unten, Rn 188 ff; zu einer Theorie „optimaler Währungsräume“ bereits Mundell AmEcRev 1961, 657 ff; ferner Blanke Int J Public Law and Policy 1 (2011), 402 (423 f); Hilpold/ Steinmair/Hilpold S 11. 92 Dazu Neuss/Niedobitek/Novotný/Rosůlek/Niedobitek S 205 ff; Blanke/Mangiameli/Sommermann Art 3 EUV Rn 20 ff.; Pechstein/Nowak/Häde/Müller-Graff Art 3 EUV Rn 5 f, 22 f. 93 Vgl dazu näher Blanke/Böttner § 13 (in diesem Band); zur Verknüpfung auch Blanke/Mangiameli/Sommermann Art 3 EUV Rn 31 f.; Pechstein/Nowak/Häde/Müller-Graff Art 3 EUV Rn 1, 3. 94 Dazu im Einzelnen Rossi § 16 (in diesem Band); s a Blanke/Mangiameli/Sommermann Art 3 EUV Rn 41 ff; Pechstein/Nowak/Häde/Müller-Graff Art 3 EUV Rn 36, 39 f, Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1255

sowie bes Art 6 EUV und die Grundrechte-Charta)95 geht weit über die Gewährleistung wirtschaftlicher Grundrechte hinaus, schließt diese (vor allem in Art 15–17 der Charta)96 aber durchaus mit ein. Für Wirtschafts- wie für Währungspolitik bedeutsam ist ferner die Zuständigkeitsverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten (Art 4, 5 EUV),97 wenngleich in unterschiedlicher Weise: Für letztere begründet Art 3 I lit c AEUV eine ausschließliche Unions(verbands)kompetenz, freilich beschränkt auf „Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist“ und im Hinblick auf Art 3 II EUV nicht ohne weiteres auch für Währungsaußen-/Wechselkurspolitik. Für diese (nicht alle EU-Länder umfassende) Gruppe sieht Art 5 I UAbs 2 AEUV zudem „besondere Regelungen“ bezüglich der Wirtschaftspolitik vor, ohne dies aber näher zu spezifizieren oder einen weiteren Fall ausschließlicher oder zumindest geteilter (Art 4 AEUV) Zuständigkeit zu begründen. Vielmehr bleibt es auch insoweit bei der vertikalen Aufgabenteilung nach Art 5 I UAbs 1 AEUV. Damit wird bereits bei Politikgestaltung und Rechtsetzung auf dem Gebiet der Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken das beide Seiten verpflichtende Loyalitätsgebot aus Art 4 III EUV98 wichtig. Den „institutionellen Rahmen“, der nicht nur bezweckt, den Werten (Art 2 32 EUV) der Union Geltung zu verschaffen und ihre Ziele (Art 3 EUV) zu verfolgen, sondern auch „die Kohärenz, Effizienz und Kontinuität ihrer Politik und ihrer Maßnahmen sicherzustellen“ (Art 13 I UAbs 1 EUV),99 bilden (primär) sieben „Organe“ („institutions“), zu denen explizit und anders als vor Lissabon auch die Europäische Zentralbank zählt. Dass sie dabei nur an vorletzter Stelle genannt wird und detailliertere Bestimmungen zur EZB wie zu dem noch hinter ihr aufgeführten Rechnungshof erst und allein im AEUV getroffen sind (Art 13 III EUV), hat wohl weniger rechtliche Relevanz als der systematische Aspekt, dass für beide als „Organe“ die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit mit allen anderen besteht (Art 13 II S 2 EUV).100 Daraus folgt ein zumindest potenzieller Konflikt, ist doch sowohl der EZB selbst, den nationalen Zentralbanken im ESZB sowie den Mitgliedern von deren Beschlussgremien als auch den Mitgliedern des Rechnungshofes Unabhängigkeit allen anderen „Stellen“ gegenüber eingeräumt (Art 130 bzw Art 286 III, IV AEUV).101

_____ 95 ABl 2000 C 364/1; geänderte Fassung in ABl 2007 C 303/1. 96 Dazu näher Kugelmann § 4 (in diesem Band). 97 Vgl näher Härtel § 6 (in diesem Band). 98 Dazu auch Rn 32; beim ESM-Vertrag ist dieses Gebot nach Ansicht des Pringle-Urteils nicht berührt bzw nicht verletzt (EuGH, Rs C-370/12, Rn 148 ff). 99 Vgl Blanke/Mangiameli/Chevallier-Govers Art 13 EUV Rn 11 ff, 15 ff; Pechstein/Nowak/Häde/ Nowak Art 13 EUV Rn 6. 100 Vgl Siekmann/Becker Art 282 AEUV Rn 76 f; Blanke/Mangiameli/Chevallier-Govers Art 13 EUV Rn 41 ff, insb Rn 44; Pechstein/Nowak/Häde/Nowak Art 13 EUV Rn 17. 101 Zur EZB s näher unten, Rn 155 ff. Ludwig Gramlich

1256 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

Zur Wahrung ihrer Rechte gibt beiden EU-Organen Art 263 III AEUV das Mittel der Nichtigkeitsklage zum EuGH an die Hand.102

b) AEUV und Protokolle 33 Art 119 AEUV greift für die Union wie für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen die in

Art 3 EUV (im Rahmen der Ziele der Union) genannten Tätigkeiten auf und konkretisiert diese. Dabei ähneln die in Abs 3 als „richtungsweisend“ bezeichneten vier „Grundsätze“ („guiding principles“) teilweise stark den Elementen des in § 1 S 2 StWG103 normierten „magischen Vierecks“: „[S]tabile Preise“ entspricht „Stabilität des Preisniveaus“, „tragfähige Zahlungsbilanz“104 ist wohl nur eine andere Formulierung für „außenwirtschaftliches Gleichgewicht“. Nicht eigens in Art 119 III AEUV erwähnt, aber bereits in Art 3 III UAbs 1 EUV der Sache nach angesprochen werden ein „hoher Beschäftigungsstand“ und ein „stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum“. Ausdrücklich hingegen werden als weitere Grundsätze „gesunde öffentliche Finanzen“ (nicht nur auf Unionsebene, dort nach Maßgabe der Art 310 ff AEUV105) sowie „monetäre Rahmenbedingungen“ postuliert, für deren Qualität der auch hierauf bezogene Maßstab („gesund“, „sound“) jedoch wenig aussagekräftig ist.106 Eine wesentliche Präzisierung dieser „Wirtschaftsverfassung“ in puncto Wirt34 schaftspolitik ergibt sich aus Art 119 I AEUV nicht. Vielmehr werden nur die gebotene enge Koordinierung der mitgliedstaatlichen Wirtschaftspolitik(en), der Bezug zum Binnenmarkt und – wie auch in Abs 2 – das Prinzip einer „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ („open market economy with free competition“) aufgegriffen.107 Hinzu kommt die Festlegung gemeinsamer (wirtschaftspolitischer) Ziele, ohne aber hierfür Zuständigkeiten oder Verfahren zu konkretisieren. Vergleichsweise präziser werden in Abs 2 die einheitliche Währung (Euro) sowie die Festlegung und Durchführung einer „einheitlichen Geld- und Wechselkurspolitik“ (als die zwei Seiten der Währungspolitik) benannt. Abhängig ist beides (anders als bei Abs 1) von dafür primärrechtlich vorgesehenen Verfahren. Währungsinnen- und Währungsaußenpolitik werden dazu angehalten, „vorrangig“ das Ziel der Preisstabilität („price stability“) zu verfolgen. Modifiziert bzw abgestuft wird schließlich auch das Loyalitätsge-

_____ 102 S unten, Rn 167. 103 Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, BGBl 1967 I 582; vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 270, 322. 104 Zu diesem Kriterium („sustainable“) s Siekmann/Siekmann Art 119 AEUV Rn 62 f.; Pechstein/ Nowak/Häde/Herrmann Art 119 AEUV Rn 63. 105 Vgl dazu näher Storr § 9 (in diesem Band). 106 Vgl Siekmann/Siekmann Art 119 AEUV Rn 58 f.; Pechstein/Nowak/Häde/Herrmann Art 119 AEUV Rn 50, 57. 107 S dazu bereits oben, Rn 8; s auch unten, Rn 54. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1257

bot, wenn die Unterstützung der „allgemeinen“ Wirtschaftspolitik „in“ der Union nur „unbeschadet“ des Preisstabilitätsziels eingreift. Diese Vor-/Nachrangigkeit wird speziell für das ESZB in Art 127 I AEUV bekräftigt;108 auch die Bindung an den „Grundsatz der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ und die in Art 119 III AEUV genannten Prinzipien werden dort erneuert. Die in Art 120 ff AEUV näher vorgeformte „allgemeine“ Wirtschaftspolitik109 35 ist bereits kompetenziell von anderem, auf spezielle Wirtschaftsbereiche zielenden oder nur wirtschaftsrelevantem Handeln mit divergierender Hauptzielrichtung zu unterscheiden, auch im Verhältnis zur „übrigen Welt“, wie vor allem die Beispiele der „Zollunion“ und der „Gemeinsamen Handelspolitik“ als ausschließliche Unionskompetenzen zeigen (Art 3 I lits a, e AEUV).110 So gelten besondere Zuständigkeiten für den Binnenmarkt generell (Art 4 II lit a AEUV) bzw für darauf bezogene, für dessen Funktionieren erforderliche Wettbewerbsregeln (Art 3 I lit b AEUV). Weitere „wirtschaftliche“ geteilte Zuständigkeiten hat die Union gem Art 4 II lits c, d, g–i AEUV für Kohäsion (Art 174 ff AEUV), Landwirtschaft und Fischerei (Art 38 ff AEUV), Verkehr (Art 90 ff AEUV), transeuropäische Netze (Art 170 ff AEUV) und Energie (Art 194 AEUV). Bei den „Maßnahmen mit europäischer Zielsetzung“ ist vor allem das Thema „Industrie“ (Art 173 AEUV) zu nennen (Art 6 S 2 lit b AEUV). Wenn für den verbleibenden (großen) Bereich die allgemeine Vorgabe, Wirt- 36 schaftspolitik sei eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse und werde von den Mitgliedstaaten lediglich im EU-Rahmen koordiniert, seit 1958 fast unverändert geblieben ist (heute: Art 5 I, 121 I AEUV), darf dieser Umstand freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Art, Ausmaß und Grad der Koordinierung erheblich gewandelt haben, ohne dass es aber zu einer echten Kompetenzverschiebung auf die Unionsebene gekommen ist. Das relevante Primärrecht widmet sich im relevanten Kapitel zumeist finanz- bzw fiskalpolitischen Fragen, die allerdings direkt auch Grenzen einer aktiven (mitgliedstaatlichen) Wirtschaftspolitik abstecken. Insbesondere erfolgt dies in den Bestimmungen zur „Haushaltsdisziplin“ (Art 126 AEUV), aber auch die Verbote und Beschränkungen einer staatlichen Verschuldung nach Art 123–125.111 Wirtschaftspolitische Gestaltungsmöglichkeiten einzelner EU-Staaten können schließlich auch durch Unionsmaßnahmen zur Behebung wirtschaftlicher Probleme beibehalten bzw wieder eröffnet werden, dies auf der Grundlage von Art 122 I oder II AEUV. Bei Zielen und Aufgaben für die Währungspolitik trennt der AEUV klar zwi- 37 schen ESZB und dessen Teilnehmern sowie „Mitgliedstaaten mit Ausnahmerege-

_____ 108 S näher unten, Rn 114 f. 109 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 317, 368; Siekmann/Ohler Art 121 AEUV Rn 8 f; Pechstein/Nowak/ Häde/Häde Art 3 AEUV Rn 10. 110 Dazu allgemein Härtel § 6 (in diesem Band). 111 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 379; Hartmann S 51 f; s näher unten, Rn 65 ff. Ludwig Gramlich

1258 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

lung“ (Art 139 I AEUV). Für letztere finden nicht nur die allein für das ESZB geltenden Vorgaben aus Abs 1, 2, 3 und 5 des Art 127 AEUV keine Anwendung (Art 139 II lit c AEUV), sondern ebenso wenig die Vorschrift zur Wechselkurspolitik (Art 219 AEUV; s Art 139 II lit g AEUV). Insoweit handelt es sich hier „nur“ um eine „Angelegenheit von gemeinsamem Interesse“ (Art 142 S 1 AEUV), und ein strikter Schutz des bei der Zusammenarbeit im Rahmen des Wechselkursverbunds Erreichten besteht nicht (Art 142 S 2 AEUV). Im Übrigen bleibt bei diesen Noch-Nicht-Euro-Staaten („pre-ins“) Währungs(innen)politik in nationaler Zuständigkeit (Art 282 IV S 2 AEUV), und Beschränkungen (auch für die Wirtschafts- und Haushaltspolitik) ergeben sich allein über Art 140 AEUV. Freilich besteht für alle Mitgliedstaaten die Anpassungspflicht an EU-Recht nach Art 131 AEUV. Haupt- und Nebenziele sowie hierfür maßgebliche Rahmenbedingungen für 38 das ESZB, dh EZB sowie nationale Zentralbanken, normiert Art 127 I AEUV; die Aufgaben werden „grundlegend“ in Abs 2 (iVm Abs 3) und zudem (ergänzend) in Abs 5 umschrieben, während Abs 4 Mitwirkungsbefugnisse im Verhältnis zu anderen Stellen von Union und (allen) Mitgliedstaaten festlegt.112 Zur Geld-, dh der Währungsinnenpolitik der Union (genauer: des Eurosystems) finden sich differenzierende Vorschriften vor allem im ESZB-Protokoll (Art 17 ff); bei „Devisen“-, dh Fremdwährungsgeschäften 113 wird ein Einklang mit der Währungsaußenpolitik („exchange-rate policy“, Art 219 AEUV) verlangt; sachlich damit zusammen hängt auch die (durch Art 127 III AEUV relativierte) Haltung und Verwaltung der mitgliedsstaatlichen Währungsreserven. Dem üblichen Typus von Zentralbankaufgaben entspricht schließlich auch der vierte Spiegelstrich in Art 127 II AEUV, nämlich das Mandat, „das reibungslose Funktionieren der Zahlungssysteme“ (durch Regelungen und andere Maßnahmen) „zu fördern“.114 In Bezug auf materielle Vorgaben bleibt das Kapitel zur „Währungspolitik“ 39 recht kursorisch: Art 128 AEUV befasst sich im Wesentlichen nur mit der Kompetenzverteilung zwischen EZB bzw anderen EU-Organen und Mitgliedstaaten (bzw NZBen) des Eurosystems (Art 139 II lit d AEUV) in Bezug auf die Ausgabe von Euro-Bargeld, also Banknoten (Art 128 I AEUV) und Münzen (Art 128 II AEUV). Die Struktur des ESZB – unter der Leitung der beiden regulären Beschlussorgane Rat („Governing Council“) und Direktorium („Executive Board“) der EZB (Art 129 I AEUV) – ergibt sich (gem Art 129 II AEUV) vor allem aus der Satzung, aber auch aus den relevanten institutionellen Bestimmungen des sechsten Teils (Art 282, 283 AEUV). Sofern und solange es Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung gibt, existiert neben Direktorium (aus Präsidenten und Vizepräsidenten der EZB sowie vier weiteren Mitgliedern, Art 283 II AEUV)

_____ 112 Vgl Hahn/Häde § 17 Rn 75 ff. 113 BK/Häde Art 88 GG Rn 661; Siekmann/Waldhoff Art 127 AEUV Rn 47; Pechstein/Nowak/Häde/Manger-Nestler Art 127 AEUV Rn 45. 114 S näher unten, Rn 115, 144 ff. Ludwig Gramlich

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und Rat (dem neben den Direktoriumsmitgliedern alle Präsidenten der nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten angehören, deren Währung der Euro ist, Art 283 I AEUV) der in Art 44 der Satzung näher bezeichnete Erweiterte Rat („General Council“) der EZB als drittes Beschlussorgan (Art 141 I AEUV). Zahlreiche Bestimmungen der ESZB-Satzung können im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art 289 I, 294 AEUV) durch das Europäische Parlament und den Rat geändert werden (Art 129 III AEUV); der Rat allein kann gewisse Ausführungsbestimmungen zur Satzung treffen (Art 129 IV AEUV). Auch dabei darf jedoch die in Art 130 (und 282 III) AEUV (sowie Art 7 der Satzung) verbürgte Unabhängigkeit von EZB wie der nationalen Zentralbanken nicht verkürzt oder sonst beeinflusst werden.115 Für Wirtschafts- und Währungspolitik bedeutsam ist eine weitere Institution, der Wirtschafts- und Finanzausschuss, mit dem Ziel, „die Koordinierung der Politiken (aller) Mitgliedstaaten in dem für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Umfang zu fördern“ (Art 134 I AEUV). In Bezug auf Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung obliegt dem Gremium zudem eine Beobachtungs- und Berichterstattungspflicht vor allem zu deren „Währungsund Finanzlage“ (Art 134 V AEUV). Nur für das Eurosystem maßgeblich sind die beiden Vorschriften zu Rechtsakten: Parlament und Rat erlassen (im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren)116 alle Maßnahmen, „die für die Verwendung des Euro als einheitliche Währung erforderlich sind“ (Art 133 S 1 AEUV); die EZB ist vorher anzuhören (S 2). Zur Art der Rechtsakte verlautet in Art 133 AEUV nichts, so dass für die Wahl der Handlungsform Art 296 I 1 AEUV bedeutsam ist.117 Davon explizit unterschieden werden die Befugnisse der EZB (dh nach Art 12.1. UAbs 1 ESZB-Satzung ihres Rates), einzelne Rechtsetzungsmaßnahmen zur Erfüllung der Aufgaben des ESZB zu treffen. Hierzu zählen Verordnungen („regulations“ iSv Art 288 II), sowohl kraft eigener Kompetenz als auch nach Ermächtigung durch einen Rechtsakt des Rates nach Art 129 IV AEUV (Art 132 I 1 Spstr 1 AEUV), Beschlüsse („decisions“ gem Art 288 IV AEUV) und schließlich (unverbindliche, aber nicht rechtlich unerhebliche, „hortatorische“) Empfehlungen („recommendations“ iSv Art 288 V AEUV) oder Stellungnahmen („opinions“ iSv Art 288 V AEUV; vgl Art 132 I Spstr 2, 3 AEUV). Für alle Rechtsakte ist eine Begründung nach Art 296 II AEUV erforderlich, auch die letztgenannten (iSv Art 288 V AEUV) können (über die allgemeine Veröffentlichungspflicht nach Art 297 AEUV hinaus) nach Art 132 II AEUV publiziert werden – regelmäßig, aber nicht zwingend im EU-Amtsblatt.118 Wie sonst nur bei Urteilen der EU-Gerichte gegenüber säumigen Mitgliedstaaten vorgesehen (s Art 260 II AEUV), steht der EZB nach Art 132 III AEUV eine Befugnis zu, gegen Unternehmen, die in verbindlichen Rechtsakten getroffenen Anordnungen nicht nachkommen, Geldbußen („fines“) oder Zwangsgelder

_____ 115 116 117 118

Dazu allgemein unten, Rn 155 ff. Vgl dazu näher Magiera § 7 (in diesem Band). Dazu Magiera § 7 (in diesem Band). Vgl näher Magiera § 7 (in diesem Band).

Ludwig Gramlich

1260 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

(„penalty payments“) zu verhängen, innerhalb eines seitens des Rates nach Art 129 IV AEUV abgesteckten normativen Rahmens. Soweit es sich um Rechtsakte des (Europäischen Parlaments und des) Rates handelt, sieht Art 135 AEUV (insoweit als lex specialis gegenüber Art 241 AEUV)119 vor, dieses EU-Organ – aber auch ein einzelner Mitgliedstaat – könne die Kommission „ersuchen“, je nach Zweckmäßigkeit einen Vorschlag oder eine Empfehlung zu unterbreiten (S 1). Im Hinblick auf Währungsfragen bezieht sich diese Regelung allerdings nur auf die Währungsaußenpolitik (Art 138, 219 AEUV) sowie auf die Bestimmungen über die Konvergenz als Voraussetzungen für die Aufhebung der Ausnahmeregelung (Art 140 AEUV). Auch soweit die EZB nicht selbst Rechtsakte erlässt (einschließlich von Leitli40 nien [„guidelines“] und Beschlüssen nach Art 12.1 I 1 S 1 ESZB-Satzung),120 wird sie maßgeblich am Zustandekommen von (Unions- wie mitgliedsstaatlichen) Vorschriften in ihrem gesamten Zuständigkeitsbereich beteiligt (Art 127 IV, 282 V AEUV), sei es in Form einer obligatorischen Anhörung („consultation“), sei es durch (Initiativ)Stellungnahmen. Die gebotene enge Kooperation zwischen den EU-Organen bei Wirtschafts- und Währungspolitik zeigt sich auch in Teilnahme- und Berichtskompetenzen nach Art 284 AEUV. Im Verhältnis zum Rechnungshof bzw bei der Rechnungsprüfung (Art 287 AEUV) gelten keine primärrechtlichen Besonderheiten, Art 27.2 ESZB-Satzung beschränkt aber den Prüfungsumfang auf die „Effizienz der Verwaltung der EZB“.121 Nur für die Teilnehmerstaaten des Eurosystems normiert das Unionsrecht 41 auch (in Art 137 AEUV sowie Protokoll Nr 14]122 Näheres zu Tagungen der EuroGruppe, einem speziellen Gremium von Ministern von Staaten, deren Währung der Euro ist. Eine generelle Zielsetzung („reibungsloses Funktionieren der Wirtschaftsund Währungsunion“), aber einen deutlichen Fokus auf Wirtschaftspolitik hat schließlich Art 136 AEUV. 123 Bezogen auf „Koordinierung“ (Art 121 AEUV) und „Haushaltsdisziplin“ (Art 126 AEUV), kann der Rat nur für die Mitgliedstaaten ohne Ausnahmeregelung mit qualifizierter Mehrheit (gem Art 238 III lit a AEUV) eine vertiefte Zusammenarbeit festlegen; hier ruht das Stimmrecht der Ratsmitglieder aus den restlichen EU-Staaten (Art 139 II lits a, b, IV).124

_____ 119 Siekmann/Becker Art 135 AEUV Rn 2; Pechstein/Nowak/Häde/Manger-Nestler Art 135 AEUV Rn 6 f. 120 Hierzu näher unten, Rn 119, 133 f. 121 Vgl zB Bericht des Europäischen Rechnungshofs über die Prüfung des Risikomanagements der EZB zusammen mit deren Antworten, https://www.ecb.europa.eu/ecb/pdf/orga/ecareport2010de. pdf. 122 ABl 2012 C 326/283; dazu BK/Häde Art 88 GG Rn 594, 595. 123 Vgl zur Genehmigung eines makroökonomischen Anpassungsprogramms für Griechenland Rats-Beschl (EU) 2016/544, ABl 2016 L 91/27. 124 Vgl näher Häde JZ 2011, 333 ff. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1261

2011 wurde Art 136 AEUV um einen weiteren, dritten Absatz ergänzt, dem zufol- 42 ge Teilnehmerstaaten des Eurosystems einen Stabilitätsmechanismus einrichten können, der aktiviert wird, wenn es zur Wahrung der Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt unabdingbar ist (S 1).125 Als Bestandteil „der Verträge“ anzusehen sind auch Protokolle (Art 51 EUV).126 43 Neben dem bereits in Maastricht beschlossenen Protokoll über die Satzung des ESZB und der EZB (Protokoll Nr 4) sind insofern weiterhin auch als Teil des Lissabonner Vertrags in Kraft die Protokolle über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit (zu Art 126 AEUV; Protokoll Nr 12),127 über die Konvergenzkriterien (zu Art 140 I AEUV; Protokoll Nr 13),128 betreffend das Vereinigte Königreich (Protokoll Nr 15) und Dänemark (Protokolle Nr 16, 17) – einen Sonderstatus verbürgend129 – und bezüglich Frankreich im Hinblick auf einige überseeische Gebiete (Nr 18).130 2007 kam lediglich das Protokoll (Nr 14) betreffend die Euro-Gruppe neu hinzu.131

c) Sonstige primärrechtliche Regelungen mit Bezug auf Wirtschafts- und Währungspolitik Nachbarschaftspolitik gem Art 8 EUV zielt auf die Schaffung eines „Raums des 44 Wohlstands“ ab (Art 8 I EUV); Mittel hierzu sind spezielle völkerrechtliche Übereinkünfte mit den betreffenden Staaten.132 Art 10–12 EUV konsolidieren eine Beteiligung von Unionsbürgern (unmittelbar wie über ihre direkt in das Europäische Parlament gewählten „Vertreter“) sowie der nationalen Parlamente (durch frühzeitige Einbindung in das Gesetzgebungsverfahren der Union) an jeder Unionspolitik und bringen hierdurch stärker als vor 2009 „demokratische Grundsätze“ zum Ausdruck.133 Solange es im Verlauf der Verwirklichung einer Wirtschafts- und Währungsunion noch Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung bzw explizite Ausnahmen gibt, lässt sich das Verhalten der Teilnehmer des engeren Kreises auch der Sache

_____ 125 Dazu bereits Häde JZ 2011, 333 (339); Kube WM 2013, 57 (60); oben, Rn 3, 28, unten, Rn 67, 78. 126 Vgl Blanke/Mangiameli/Denza Art 51 EUV Rn 2 ff. 127 ABl 2012 C 326/279; ursprünglich ABl 1992 C 191/84. 128 ABl 2012 C 326/281; ursprünglich ABl 1992 C 191/85. 129 ABl 2012 C 326/284; ursprünglich ABl 1992 C 191/87, 89; dazu BK/Häde Art 88 GG Rn 357 ff; zum Vereinigten Königreich auch Proctor Rn 31.30 ff. 130 ABl 2012 C 326/289; ursprünglich ABl 1992 C 191/90. 131 Oben, Rn 41. 132 Näher dazu unten, Cremer § 22 (in diesem Band); vgl zB Beschl (EU) 2018/947 über eine weitere Makrofinanzhilfe für die Ukraine, ABl 2018 L 171/11; Ex-ante evaluation statement, SWD(2018) 66; zu „technischer Hilfe“ seitens der EZB s ECB, Monthly Bulletin 7/2008, 93 ff. 133 Vgl Calliess/Ruffert/Ruffert Art 10 EUV Rn 1 ff; Pechstein/Nowak/Häde/Heselhaus Art 10 AEUV Rn 12 ff. Ludwig Gramlich

1262 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

nach als Fall einer „verstärkten Zusammenarbeit“ iSv Art 20 EUV (und Art 326 ff AEUV)134 werten. Während bei den „allgemein geltenden Bestimmungen“ in Titel II des Ersten 45 Teils des AEUV das „Kohärenzprinzip“ nicht ausdrücklich oder besonders auf einen ökonomischen oder monetären Kontext verweist, werden die Erfordernisse „im Zusammenhang mit der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus“ in der Vorschrift über „sozialen Schutz“ speziell (und an erster Stelle) genannt.135 Der Stellenwert der „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“136 sowie ihre Verknüpfung mit dem Ziel der Kohärenz wird in Art 14 AEUV betont, allerdings unbeschadet der (beschränkten) Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten (Art 4 EUV), der generellen Beihilfeaufsicht (Art 93, 107 AEUV) und der grundsätzlichen Gleichbehandlung von privaten und öffentlichen Unternehmen (Art 106 AEUV).137 Art 14 AEUV präzisiert überdies das Zusammenwirken von supranationaler und nationaler Ebene auf diesem Gebiet.138 Relevant für Wirtschafts- und Währungspolitik sind auch das (im Verhältnis zu 46 einzelnen Grundfreiheiten nachrangige) allgemeine Diskriminierungsverbot (Art 18 AEUV) sowie das mit der Unionsbürgerschaft (Art 20 AEUV) verbundene Recht auf Freizügigkeit (Art 21 AEUV).139 Gerade diesbezüglich enthalten freilich das Ziel der Verwirklichung eines Binnenmarktes (iSv Art 26 II AEUV) und die diesen konstituierenden wirtschaftlichen Grundfreiheiten eine für ihren weiten Anwendungsbereich speziellere Regelung. Nicht zuletzt kann hierbei auch durch Erlass von vorübergehenden Ausnahmeregelungen dem „unterschiedlichen Entwicklungsstand“ einiger mitgliedstaatlicher Volkswirtschaften Rechnung getragen werden (Art 27 AEUV).140 Freier Personenverkehr im Binnenmarkt, dh Freizügigkeit von Arbeitnehmern 47 (außerhalb der „öffentlichen Verwaltung“, Art 45 IV AEUV)141 wie von Unterneh-

_____ 134 Vgl dazu näher Obwexer § 10 (in diesem Band); Blanke/Mangiameli/Blanke Art 20 EUV Rn 26 ff; als weiteres Bsp der Plan einer „Finanztransaktionssteuer“, KOM(2011) 594 und COM(2013) 71; dazu Möslein JZ 2012, 243 (244 f); EuGH, Rs C-209/13 – Vereinigtes Königreich / Rat (betr Art 327, 332 AEUV). 135 Vgl dazu näher Davy § 18 (in diesem Band). 136 Dazu näher Jungheim-Hertwig/Weiß § 14 (in diesem Band); s a Calliess/Ruffert/Jung Art 14 AEUV Rn 12 f; Pechstein/Nowak/Häde/Krajewski Art 14 AEUV Rn 8, 29 ff. 137 Vgl Calliess/Ruffert/Jung Art 14 AEUV Rn 24; Art 106 AEUV Rn 33 ff. 138 Vgl Callies/Ruffert/Jung Art 14 AEUV Rn 19 f, 22; Pechstein/Nowak/Häde/Krajewski Art 14 AEUV Rn 47 f. 139 Vgl dazu näher Hilpold § 12 (in diesem Band); ferner Walter VVdStRL 2013, 7 (12 ff); Gärditz, VVdStRL 2013, 51 (149 ff); vBogdandy/Bast/Kadelbach S 611 ff. 140 Zur geringen Relevanz Calliess/Ruffert/Kahl Art 27 AEUV Rn 6 f; Pechstein/Nowak/Häde/Terhechte Art 27 AEUV Rn 14. 141 Dazu näher Calliess/Ruffert/Brechmann Art 45 AEUV Rn 103 ff; Pechstein/Nowak/Häde/Kocher Art 45 EUV Rn 65 ff. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1263

mern („Niederlassungsfreiheit“), aber auch grenzüberschreitend möglichst ungehindert zu gewährleistende Erbringung und Nutzung von Dienstleistungen bilden dabei nicht nur eine effektive Sperre für (alte wie neue) mitgliedstaatliche Beschränkungen, sondern verpflichten auch die zuständigen EU-Organe (im Rahmen der Subsidiarität und der begrenzten Einzelkompetenzen, Art 5 EUV) dazu, Maßnahmen zur Beseitigung von (einer freien wirtschaftlichen Entfaltung im Wege stehenden) Hürden zu treffen.142 Das Gebrauchmachen von Befugnissen nach Art 50, 53, 59 oder 62 AEUV ist daher ebenfalls Teil der Wirtschaftspolitik der Union wie die (längst vollendete) Beseitigung von Zöllen zwischen Mitgliedstaaten (durch Errichtung einer Zollunion, Art 28, 30 AEUV).143 Bei Kapital- und Zahlungsverkehr wird Freiheit von Diskriminierungen und Beschränkungen seit 1994 auch Drittstaaten gegenüber gewährleistet (Art 63 AEUV);144 in Bezug auf bestimmte Kapitalbewegungen kommen insoweit allerdings Rechtsetzungsmaßnahmen auf Unionsebene (auch restriktiver Natur) in Betracht (Art 64 II, III AEUV). Zudem ermächtigt Art 66 AEUV den Rat, auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung der EZB befristete Schutzmaßnahmen gegenüber dritten Ländern zu treffen, falls Kapitalverkehr nach oder aus diesen „unter außergewöhnlichen Umständen das Funktionieren der Wirtschafts- und Währungsunion schwerwiegend stören oder zu stören drohen“.145 Speziell gemünzt auf die Verhütung und Bekämpfung von Terrorismus und damit verbundener Aktivitäten – und zur Verwirklichung der Ziele eines „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (Art 67 AEUV)146 – sollen Parlament und Rat nach Art 75 AEUV einen Rahmen für Verwaltungsmaßnahmen in Bezug auf Kapitalbewegungen und Zahlungen schaffen (Art 75 I AEUV) und der Rat dann konkrete Umsetzungsmaßnahmen treffen (Art 75 II AEUV). Die Ausgestaltung solch‘ restriktiver Maßnahmen gleicht dabei denen bei der Durchführung von Wirtschaftsembargos nach Art 215 AEUV.147 Wirtschafts- und Währungspolitik der Union müssen die Vorgabe des Art 345 48 AEUV beachten, wonach die europäischen Verträge „die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt lassen“.148 Soweit Unionskompetenzen bestehen, ziehen wirtschaftliche Freiheits-Grundrechte (wie Berufs-, Unter-

_____ 142 Vgl näher Blanke/Böttner § 13 (in diesem Band). 143 Vgl nur Ehlers/Fehling/Pünder/Stoll Bd 1 § 5 Rn 11, 21; Krajewski Rn 978 ff. 144 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 318; zur Verknüpfung auch Herrmann Europäische Währungsunion Rn 15; ders Währungshoheit S 368 ff. 145 Vgl nur Pechstein/Nowak/Häde/Gramlich Art 66 AEUV Rn 3 ff; Herrmann Währungshoheit S 375 ff. 146 Vgl dazu näher Pache § 21 (in diesem Band). 147 Vgl Calliess/Ruffert/Cremer Art 215 AEUV Rn 10 ff, 18 ff; Calliess/Ruffert/Bröhmer, Art 75 AEUV Rn 1 ff; ferner Herrmann Währungshoheit S 377 f; Pechstein/Nowak/Häde/Müller-Graff Art 75 AEUV Rn 2 ff. 148 S bereits oben, Rn 9. Ludwig Gramlich

1264 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

nehmer-, Eigentumsfreiheit) und grundrechtliche Diskriminierungsverbote auf diese gestützten Rechtsakten ebenfalls (äußerste) Grenzen.149 Titel VII des dritten AEUV-Teils, die „gemeinsamen Regeln betreffend Wettbe49 werb, Steuerfragen und Angleichung der Rechtsvorschriften“, prägt insoweit die allgemeine Wirtschaftspolitik, als das Ziel der Aufrechterhaltung – oder auch, durch Beseitigung von Monopol- und Sonderrechten (im Rahmen von Art 106 AEUV),150 erst der Schaffung – eines unverzerrten, funktionsfähigen Wettbewerbs nicht nur für einzelne Branchen oder Tätigkeiten von zentraler Bedeutung ist. Zudem bildet die Rechtsangleichungs-Kompetenz im Hinblick auf die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes (Art 114 AEUV) – trotz der thematischen Einschränkungen in Abs 2 (und der insoweit erforderlichen Ergänzung durch Art 115 AEUV, wo jedoch ein Einstimmigkeitserfordernis im Rat gilt) – einen Kern wirtschaftspolitischer Rechtsetzung der Union und gibt hierfür generell ein „hohes Schutzniveau“ (in Bezug auf Gesundheit, Sicherheit, Umwelt-, Verbraucherschutz) vor (Art 114 III AEUV).151 Aus dem gestuften räumlichen Geltungsbereich der Verträge (nach Art 52 II 50 EUV, 355 AEUV) resultiert ein speziell für Wirtschafts- und Währungsangelegenheiten wichtiger dritter Bereich zwischen Innen- und Außenpolitik. Er umfasst nicht nur ein besonderes Assoziierungssystem (Art 198–204 AEUV) für einige außereuropäische Territorien (Art 349, 355 I AEUV) sowie bestimmte überseeische Länder und Hoheitsgebiete einiger EU-Staaten (Art 355 II iVm Anhang II zum AEUV),152 sondern auch Modifizierungen für weitere staatsrechtlich zu diesen gehörende Gebiete (Art 355 IV, V).153 Umgekehrt werden (obgleich nicht über Art 355 III AEUV154) auch europäische Kleinstaaten einbezogen, die keine Unionsmitglieder sind.155 Insoweit sind dann die Vorschriften des fünften Teil des AEUV über das „auswärtige Handeln“ der Union nicht anwendbar, auch soweit sie im Verhältnis zu Entwicklungs- oder anderen Drittländern wirtschaftliche und finanzielle Aspekte einbeziehen (Art 208 ff, 212 f AEUV).156 Ebenso wenig geht es hier um Gemeinsame Handelspolitik (Art 206 f AEUV), die seit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags auch

_____ 149 Dazu näher Kugelmann § 4 (in diesem Band). 150 S schon oben, Rn 45; zum (davon als Spezialregelung nicht erfassten) Bargeldausgabemonopol des ESZB s unten, Rn 125 ff. 151 Vgl dazu näher Blanke/Böttner § 13 (in diesem Band). 152 Vgl Siekmann/Siekmann Einf Rn 53 f; Pechstein/Nowak/Häde/Nowak Art 355 AEUV Rn 4 ff. 153 Dazu bereits Niedobitek § 1 (in diesem Band). 154 Vgl Calliess/Ruffert/Schmalenbach Art 355 AEUV Rn 11; zu Gibraltar ebd, Rn 10; Pechstein/ Nowak/Häde/Nowak Art 355 AEUV Rn 8. 155 Zum Währungsbezug s unten, Rn 185. 156 Als Bsp s Beschl 778/2013, ABl EU 2013 L 218/15, (EU) 2018/598, ABl 2018 L 103/8 (Makrofinanzhilfen für Georgien). Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1265

ausländische Direktinvestitionen umfasst,157 oder um („normale“) Assoziierungsabkommen (Art 217 AEUV), die regelmäßig auch ökonomische, weniger hingegen Währungsfragen beinhalten.158 Nur bei „echten“ internationalen Wirtschafts- oder Währungsbeziehungen 51 gilt für das (völker)vertragliche Handeln der Union – gegenüber Drittstaaten wie anderen Völkerrechtssubjekten, vor allem „international financial institutions“159 – das Regime der Art 216, 218 und (speziell für Wechselkurspolitik) Art 219 EUV. Allgemein bedeutsam für wirtschaftliche (einschließlich monetärer) Beziehungen zu Drittstaaten und zu einschlägigen Internationalen Organisationen – auch und gerade unterhalb einer förmlichen Mitgliedschaft (wie bei der WTO)160 bzw ohne eine solche – sind die Kompetenznormen der Art 220, 221 AEUV; neben der Kommission agiert hier der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik (Art 18 EUV).161 Im Hinblick auf eine Erstellung von Statistiken der EU, wenn dies für die 52 Durchführung ihrer Tätigkeiten notwendig ist, stellt Art 338 I AEUV, der insoweit eine allgemeine Regelung trifft, ausdrücklich einen Vorbehalt zugunsten von Maßnahmen (im Rahmen des Eurosystems) nach Art 5 ESZB-Satzung162 auf.

2. „Wirtschaftspolitik“ der EU „Wirtschaftspolitik“ wird in Art 119 I AEUV (auch) als Tätigkeit der Union selbst 53 gekennzeichnet und dabei an denselben „Grundsätzen“ (Art 119 I, III AEUV) und „Zielen“ (Art 3 EUV, Art 120 S 2 AEUV) ausgerichtet wie die der Mitgliedstaaten. Im Sinne von Titel VIII (Kap 1) beschränkt sich eine Einflussnahme seitens der Union bzw von deren Organen freilich auf Empfehlung von „Grundzügen“ und „multilaterale Überwachung“ im Hinblick darauf, ob diese Vorgaben (auch bzw primär) von jedem Mitgliedsland eingehalten werden (Art 121 II, III–VI AEUV). Nur rudimentär skizziert wird hingegen die Erstellung von Grundzügen für die Unionspolitik selbst und vor allem deren Beaufsichtigung (Art 121 III U Abs 1 AEUV).163

_____ 157 Vgl Calliess/Ruffert/Hahn Art 207 AEUV Rn 18 ff; Pechstein/Nowak/Häde/Bungenberg Art 207 AEUV Rn 22 ff. 158 Zum „auswärtigen Handeln“ der Union allgemein Cremer § 22 (in diesem Band). 159 S unten, Rn 177 ff. 160 S bereits oben, Rn 12. 161 Zu diesem bereits Niedobitek § 1 (in diesem Band).; ferner Blanke/Mangiameli/Gianfrancesco Art 18 EUV Rn 13 ff. 162 S dazu auch unten, Rn 117, 160. 163 Zum „wirtschaftspolitischen Rahmen der WWU“ s EZB, Monatsbericht 11/2001, 59 ff. Ludwig Gramlich

1266 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

a) Institutionen und Instrumente der Wirtschaftspolitik: Primärrechtlicher Rahmen 54 Die bei Entwurf, Ausgestaltung und Durchführung einer unionalen Wirtschaftspoli-

tik (vorrangig) beteiligten Stellen – Kommission, Rat, Europäischer Rat und Europäisches Parlament – unterliegen relativ wenigen und zudem recht unbestimmten „positiven“ Vorgaben aus EUV bzw AEUV; der eher generelle Rahmen ermöglicht daher eine Vielzahl politisch für sinnvoll und realisierbar erachteter Handlungsalternativen bzw Maßnahmen. Die Zielsetzung der Errichtung und Vervollständigung eines Binnenmarktes kommt sowohl in Art 119 I AEUV als auch in Art 3 III UAbs 1 S 1 EUV zum Ausdruck. Art 3 III UAbs 1 S 2 EUV spricht allgemein von einer „in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft“ („highly competitive social market economy“), während Art 119 I AEUV auch die EU-Wirtschaftspolitik auf den „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ verpflichtet – was in Art 120 S 2 AEUV noch einmal aufgegriffen wird. Systematisch mag dies als bereichsspezifische (modifizierende) Konkretisierung gewertet werden.164 Als „Voraussetzung“ auch unionaler Wirtschaftspolitik nennt schließlich Art 119 III AEUV einschlägige „Grundsätze“ – zum einen „gesunde öffentliche Finanzen“, zum anderen eine „dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz“; diese werden ebenfalls erneut in Art 120 S 2 adressiert. Die Förderung eines „effizienten Einsatzes der Ressourcen“ („efficient allocation of resources“) schließlich wird (im deutschen Text von Art 120 S 2 AEUV sprachlich wenig klar)165 mit der „marktwirtschaftlichen Ausrichtung“ verbunden, bildet aber in diesem Kontext eine eigenständige weitere (weiche) Vorgabe. Die Legitimität sowohl einer unionalen Wirtschaftspolitik im engeren Sinne als 55 auch der auf mitgliedstaatliche Politiken bezogenen Einwirkung (als einer Form von europäischer „economic governance“) resultiert daher aus einem ausgewogenen Verfahren des Zusammenwirkens maßgeblicher EU-Institutionen. Dabei werden (nur) im Rahmen des Art 126 AEUV – also bei der „Haushaltsdisziplin“ („budgetary discipline“) – zudem Wirtschafts- und Finanzausschuss und EZB beratend einbezogen. Auffällig ist hierbei die bescheidene Rolle des Parlaments;166 zur Mitentscheidung ist es nur bei der (durch Erlass von Verordnungen erfolgenden) fakultativen Präzisierung des „Verfahrens der multilateralen Überwachung“ – „multilateral surveillance“ – berufen (Art 121 VI iVm III, IV AEUV). Angesichts der primärrechtlich inhaltlich kaum näher bestimmten Vorgaben ist deren Einhaltung durch die

_____ 164 S schon oben, Rn 34, sowie Siekmann/Ohler Art 120 AEUV Rn 15 ff; Blanke/Mangiameli/ Sommermann Art 3 EUV Rn 34 f; Pechstein/Nowak/Häde/Herrmann/Rosenfeldt Art 120 AEUV Rn 1, 4 ff. 165 Auch im Englischen ist die Verknüpfung nicht eindeutig beschreibend oder normativ; zur kaum hinreichenden Bestimmtheit der Vorschrift Siekmann/Ohler Art 120 AEUV Rn 19; Pechstein/Nowak/Häde/Herrmann/Rosenfeldt Art 120 AEUV Rn 13. 166 Vgl Siekmann/Gaitanides Art 126 AEUV Rn 96; Herrmann Europäische Währungsunion Rn 26. Ludwig Gramlich

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beteiligten Organe allenfalls bei offensichtlicher Verletzung justitiabel; eine Einschränkung bzw Zurückhaltung bei der Rechtskontrolle wird also dem EuGH bereits wegen des fehlenden eindeutigen Maßstabs aufgegeben.167 Alle EU-Mitgliedstaaten sind bis auf Weiteres nach Art 121 I AEUV „Herren“ der 56 je eigenen Wirtschaftspolitik; seit den Anfängen (1958) ist ihnen lediglich aufgegeben, diese als Angelegenheit von „gemeinsamem Interesse“ zu betrachten, also die (aktuellen) nationalen Wirtschaftspolitiken der je anderen Mitgliedsländer zur Kenntnis zu nehmen und deren Aus-/Einwirkungen aufeinander zu bedenken. Insoweit bleibt diese Vorschrift sogar hinter der inhaltlichen Bindung bei der Wechselkurspolitik von Nicht-Euro-Staaten aus Art 142 S 2 AEUV zurück.168 Andererseits sind alle EU-Mitgliedstaaten zu einer Koordinierung ihrer Wirtschaftspolitik(en) „nach Maßgabe des Artikels 120“ angehalten; (erst) daraus folgt dann eine (schwache) primärrechtliche „marktwirtschaftliche Ausrichtung“ bei der Meinungsbildung „im Rat“. Mit dem Maastricht-Vertrag wurden dem damaligen Art 103 EGV weitere Absät- 57 ze angefügt; danach werden auf Gemeinschafts-/Unionsebene „Grundzüge“ erstellt (im Zusammenwirken von Kommission, Europäischem Rat und Rat) und wird deren Einhaltung durch die Mitgliedstaaten multilateral (durch Rat und Kommission) überwacht (Abs 2–4).169 Diese „broad guidelines“ werden in einer (nicht verbindlichen) Rats-Empfehlung dargelegt;170 der Beschluss hierzu bedarf weiterhin einer qualifizierten Mehrheit (wie schon nach Art 103 II UAbs 3 EGV). Auf ein Fehlverhalten kann der Rat (auf Empfehlung der Kommission hin) gegenüber dem betreffenden Mitgliedstaat reagieren, jedoch nur wieder durch unverbindliche Rechtsakte; ein wesentliches Druckmittel (wegen der damit verbundenen „Prangerwirkung“)171 ist daher die nach Art 121 IV UAbs 1 S 3 AEUV mögliche Veröffentlichung solcher „zweiter“ Empfehlungen. Der Beschluss hierüber erfolgt ohne den Ratsvertreter des hierdurch adressierten Mitgliedstaats und bedarf einer qualifizierten Mehrheit der übrigen Ratsmitglieder (nach Art 121 IV UAbs 3, 238 III lit a AEUV). Neu ist die Befugnis der Kommission zu einer „Verwarnung“ („warning“), deren Missachtung jedoch rechtlich folgenlos bleibt.172 „Multilaterale Überwachung“ ist primär Sache des Rates; sie bezieht sich 58 nicht nur auf die Vereinbarkeit der nationalen Wirtschaftspolitik mit den „Grundzü-

_____ 167 Vgl Siekmann/Gaitanides Art 126 AEUV Rn 19. 168 Vgl unten, Rn 175. 169 Zur Mitwirkung des WSA nach Art 304 AEUV als Bsp Stellungnahme, ABl 2013 C 133/44. 170 Vgl zB Rats-Empfehlung v 9.7.2013, ABl 2013 C 217/97; Vorschlag der Kommission v 22.11.2017, COM(2017) 770 final. 171 So BK/Häde Art 88 GG Rn 378. 172 Vgl Siekmann/Ohler Art 121 AEUV Rn 21; Pechstein/Nowak/Häde/Herrmann/Rosenfeldt Art 121 AEUV Rn 41. Ludwig Gramlich

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gen“ nach Art 121 II AEUV, sondern auch auf die „wirtschaftliche Entwicklung“ seit der letzten Überprüfung. Überdies wird die wirtschaftliche Entwicklung „in der Union“ selbst überwacht (Art 121 III UAbs 1 AEUV). Basis hierfür ist die Verpflichtung jedes Mitgliedslandes, der Kommission Angaben zu „wichtigen einzelstaatlichen Maßnahmen auf dem Gebiet [seiner] Wirtschaftspolitik“ zu machen. Weitere Angaben sind nur dann der Kommission zu übermitteln, wenn ein Staat das selbst für erforderlich hält (UAbs 2), etwa für eine günstigere „Gesamtbewertung“ („overall assessment“) seitens des Rates. Maßnahmen nach Art 121 IV AEUV setzen nicht notwendig mitgliedsstaatliches Fehlverhalten voraus, sondern kommen auch in Betracht, wenn nationale Wirtschaftspolitik (unabhängig davon) „das ordnungsgemäße Funktionieren der Wirtschafts- und Währungsunion zu gefährden droht“, also in einem frühen, aber der Sache nach bereits kritischen Zeitpunkt. Eine Berichtspflicht hinsichtlich der „Ergebnisse“ der multilateralen Überwachung (dh Feststellungen wie darauf gestützte Maßnahmen) trifft auch den Präsidenten des Rates sowie allgemein die Kommission; einzig jener kann aber vor den zuständigen Ausschuss des Parlaments zitiert werden (und muss dort Rede und Antwort stehen),173 jedoch nur dann, wenn der Rat seine (Zweit-)Empfehlungen publiziert hat (Art 121 V AEUV). Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ist das Europäische Parlament ermächtigt, zusammen mit dem Rat im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Einzelheiten des Verfahrens der multilateralen Überwachung – nicht auch der Formulierung von „Grundsätzen“ (Art 121 II AEUV) – durch Verordnung festzulegen (Art 121 VI iVm Art 288 II AEUV). Zuvor war dies allein Angelegenheit des Rates; dieses Organ machte von seiner Befugnis (gem ex-Art 103 V EGV) auch schon ab 1997 Gebrauch.174 Für Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung (Art 141 I AEUV) gilt Art 121 II nicht, soweit es um die Annahme der das Euro-Währungsgebiet generell betreffenden Teile der „Grundzüge“ geht (Art 141 II S 1 lit a AEUV). Zudem ruht deren Stimmrecht im Rat auch bei Empfehlungen an Mitgliedstaaten des Eurosystems im Rahmen der multilateralen Überwachung, einschließlich solcher zu „Stabilitätsprogrammen und Verwarnungen“ (Art 141 IV S 1 lit a iVm Art 121 IV AEUV). Art 123–125 und 126 AEUV sind Ausdruck des engen Zusammenhangs zwischen Geld-/Währungs- und Finanz-/Wirtschaftspolitik nicht nur in der „Eurozone“, sondern in der gesamten Union (s Art 139 II AEUV). Prägnant hat die EZB bereits Anfang 2003 formuliert:

_____ 173 Vgl Siekmann/Ohler Art 121 AEUV Rn 24; Pechstein/Nowak/Häde/Herrmann/Rosenfeldt Art 121 AEUV Rn 45. 174 Vgl Siekmann/Ohler Art 121 AEUV Rn 25. Ludwig Gramlich

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„Sowohl die Geld- als auch die Finanzpolitik wirken sich auf zentrale gesamtwirtschaftliche Variablen aus, wodurch es bei der Verfolgung der jeweiligen politischen Ziele zu Wechselwirkungen kommt. Die Finanzpolitik auf der einen Seite beeinflusst die Ressourcenverteilung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor sowie innerhalb des privaten Sektors. Zudem schlägt sie sich in den Anreizen zu konsumieren, zu sparen und zu investieren und damit im Produktionspotenzial sowie im Konjunkturzyklus nieder. Auf diesem Weg kann die Finanzpolitik Einfluss auf Preisentwicklung, Realzinsen und Risikoprämien ausüben. All diese Faktoren müssen von einer auf Preisstabilität ausgerichteten Geldpolitik in systematischer Form berücksichtigt werden. Das bestehende geldpolitische Regime auf der anderen Seite ist eine fundamentale Bestimmungsgröße der kurzfristigen Zinssätze, der Inflationserwartungen sowie der Prämie, die in den langfristigen Zinssätzen als Ausgleich für das Risiko schwankender Inflation enthalten ist. Darüber hinaus kann die Geldpolitik vorübergehend Auswirkungen auf die realwirtschaftliche Aktivität und somit indirekt auf die kurzfristige Entwicklung der staatlichen Einnahmen und Ausgaben haben. Die Geldpolitik übt also in unterschiedlicher Weise Einfluss auf das gesamtwirtschaftliche Umfeld aus, in dem auch andere politische Akteure tätig sind“.175

Seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts kam es hier „zu einem allmählichen Paradigmenwechsel bei gleichzeitiger Wiederbelebung der Lehrsätze der klassischen Wirtschaftstheorie. Das neue Paradigma stellt die Erwartungsbildung der Wirtschaftsakteure in den Mittelpunkt der Analyse und geht von der zentralen Annahme aus, dass diese ihr Verhalten im Zeitablauf anhand ihrer Erwartungen über die zukünftige Wirtschaftsentwicklung – darunter auch zukünftige wirtschaftspolitische Maßnahmen – optimieren“.176

Aus dem Blickwinkel dieses neuen Paradigmas, so die EZB, liege „die beste Lösung hinsichtlich der optimalen Ausgestaltung der Wirtschaftspolitik in der Einführung eines Systems […], das den verschiedenen politischen Entscheidungsträgern Aufgaben und Zielsetzungen eindeutig und widerspruchsfrei zuweist, regelgebundene und transparente Rahmensetzungen und Verfahren gewährleistet sowie der Geld- und Finanzpolitik beständige Handlungsrichtlinien liefert, während gleichzeitig eine Kurzfristorientierung vermieden wird. In einem solchen System wird bei angemessener Gestaltung und Anwendung quasi systeminhärent dafür gesorgt, dass die Reaktionen von Geld- und Finanzpolitik auf Veränderungen des wirtschaftlichen Umfelds konsistent sind und zu einem optimalen gesamtwirtschaftlichen Ergebnis beitragen. Damit erübrigt sich im Allgemeinen jede weitere Maßnahmenkoordination im politischen Tagesgeschäft. Unter diesen Bedingungen gibt es einen zusätzlichen Nutzen aus einer Abstimmung der Politikreaktionen auf Schocks nur dann, wenn die den einzelnen politischen Handlungsträgern zugewiesenen Ziele unzureichend aufeinander abgestimmt und nicht miteinander verträglich sind. Sollte dieser Fall eintreten, dann wäre eine explizite Zielanpassung angezeigt, nicht aber eine gemeinsame und koordinierte Antwort auf Schocks; diese würde lediglich zu einer Vermischung der Politikfelder und einer Verwischung der Verantwortlichkeiten der jeweiligen politischen Akteure führen und dadurch Fehlanreize verstärken“.177

_____ 175 EZB, Monatsbericht 2/2003 (verfügbar auf der Website der Deutschen Bundesbank, https:// www.bundesbank.de), 41 f. 176 EZB, Monatsbericht 2/2003, 42. 177 EZB, Monatsbericht 2/2003, 42 f. Ludwig Gramlich

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65 Ein wesentlicher Aspekt der Finanzpolitik (auf der Einnahmeseite) ist die Begrün-

dung von (monetären) Verbindlichkeiten durch jedwede Einrichtung des „öffentlichen Sektors“,178 auf mitgliedstaatlicher wie auf Unionsebene. Die (formal freiwillige, auf Vertragsschluss beruhende) Aufnahme von Krediten bei der EZB wie bei den nationalen Zentralbanken (der eigenen wie jedes anderen Mitgliedstaates) wird potenziellen Schuldnern untersagt. Dass sich dieses Verbot auch an die möglichen Kreditgeber richtet, verdeutlicht Art 123 I AEUV am Satzende: Weder EZB noch die nationale Zentralbank eines EU-Mitgliedstaates dürfen „Schuldtitel“ („debt instruments“), dh (in Papier oder elektronischer Form) „verbriefte“, eine Geld-Verbindlichkeit manifestierende Dokumente unmittelbar von Einrichtungen des öffentlichen Sektors erwerben, weil dies regelmäßig mit einer Kreditierung als Grundgeschäft verbunden ist.179 Im Rahmen ihrer währungspolitischen Aufgaben ist jedoch ein Erwerb von Schuldinstrumenten sowohl durch Mitglieder des ESZB als auch durch andere nationale Zentralbanken zulässig. Art 123 II AEUV bringt – im Einklang mit der allgemeinen Vorschrift in Art 106 I AEUV180 – eine Klarstellung dahingehend, dass „Kreditinstitute“,181 deren Eigentümer oder Träger andere Stellen des öffentlichen Sektors sind, im Hinblick auf ihre (gleich gerichteten) Aktivitäten wie private Institute zu behandeln sind. Wenn und soweit diese als taugliche Geschäfts-/Vertragspartner der EZB oder (wie als Regel auch im Eurosystem) einer nationalen Zentralbank agieren (dürfen), kommt die Nutzung von insoweit zugelassenen Kreditfazilitäten auch für öffentliche Banken in Betracht und wird nicht vom Verbot des Art 123 I AEUV erfasst.182 Ebenfalls ohne Weiteres verboten sind nach Art 124 AEUV jegliche „Maßnah66 men“ (Rechtsvorschriften wie Einzelakte, des EU- wie eines mitgliedstaatlichen Rechts), die Einrichtungen des öffentlichen Sektors (in derselben Abgrenzung wie in Art 123 I AEUV) einen gegenüber anderen Zugangsbegehrenden bevorrechtigten Zugang zu jeglichen „Finanz“-, dh nicht nur „Kreditinstituten“ schaffen (sollen). Eine Einschränkung der Verbotsadressaten wie in Art 123 II AEUV ist hier nicht vorgesehen. Sie könnte auch nicht auf Grund von Art 125 II AEUV erfolgen, da es hier nicht um Definitionen für die Anwendung der Verbote, sondern der Sache nach um eine Änderung des Geltungsbereichs von Art 124 AEUV geht. Eine Privilegierung kann die Form sowohl eines ausschließlichen als auch eines günstigeren Zu-

_____ 178 Zur Definition unten, Rn 66 ff. 179 BK/Häde Art 88 GG Rn 380; Siekmann/Kämmerer Art 123 AEUV Rn 4; Pechstein/Nowak/Häde/ Herrmann/Dornacher Art 123 AEUV Rn 13. 180 Vgl oben, Rn 45. 181 Deren Definition ist letztlich (wie in Art 127 V, VI AEUV) am (älteren, bereits seit 1977 geltenden) Sekundärrecht der Bankrechts-Koordinierung ausgerichtet; s Art 1 Spstr 1 der RL 77/780, ABl 1977 L 322/30. 182 Vgl Siekmann/Kämmerer Art 123 AEUV Rn 12, 40; Pechstein/Nowak/Häde/Herrmann/Dornacher Art 123 AEUV Rn 31 ff. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1271

gangs annehmen. Dabei umfasst die zweite Variante Aspekte des Vertragsschlusses, aber auch der Dauer oder des Inhalts („Vertragsbedingungen“).183 Die Ermächtigung an den Rat (in ex-Art 104a II EGV/ex-Art 102 EGV), im Verfahren der Zusammenarbeit mit dem Parlament (nach ex-Art 189c EGV/ex-Art 252 II EGV) Begriffsbestimmungen für die Anwendung des Verbots zu normieren, ist weggefallen. Die 1993 erfolgten Definitionen184 (von „Maßnahmen, die einen bevorrechtigten Zugang schaffen“, „aufsichtsrechtlichen Gründen“, „öffentlichen Unternehmen“ und „Finanzinstituten“ bzw Ausnahmen hiervon) bleiben aber weiterhin bedeutsam.185 Strukturell anders konzipiert ist Art 125 AEUV. Die dort in Abs 1 normierten Haf- 67 tungsausschlüsse haben diverse Gemeinsamkeiten: Zunächst gelten sie nicht, wenn und soweit (in rechtlich zulässiger Weise) „gegenseitige finanzielle Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens“ („mutual financial guarantees for the joint execution of a specific project“) begründet werden – sei es zwischen mehreren Mitgliedstaaten, sei es zwischen Mitgliedsländern und der Union.186 Weiter werden sowohl das Eingehen direkter (Geld-)Verbindlichkeiten („liability“) als auch ein „Eintreten“ für fremde Verbindlichkeiten („[to] assume the commitments“) erfasst, sei dies in Form eines Schuldbeitritts oder einer Schuldübernahme. Schließlich deckt sich auch der Kreis der jeweiligen Schuldner; er erstreckt sich auf den gesamten (mitgliedsstaatlichen) öffentlichen Sektor. Einbezogen werden nicht nur die verschiedenen Ebenen der Staatsverwaltung (unabhängig von ihrer Verselbstständigung nach innerstaatlichem Recht), sondern alle anderen „Einrichtungen“ des „öffentlichen Rechts“ (ungeachtet ihrer Rechtsform) und grundsätzlich187 auch von einem Mitgliedstaat kontrollierte „öffentliche Unternehmen“, selbst wenn diese privatrechtsförmig organisiert sind. Der einzige, wesentliche Unterschied zwischen S 1 und S 2 liegt in der Person des Begünstigten: Im ersten Satz ist dies die „Union“ im (vertikalen) Verhältnis jedem Mitgliedstaat gegenüber, im zweiten jedes EU-Mitgliedsland in der (horizontalen) Beziehung zu jedem anderen. Während der staatliche „öffentliche Sektor“ näher abgegrenzt wird und über die unmittelbare Staatsverwaltung hinaus reicht,188 fehlt eine derartige

_____ 183 Vgl Siekmann/Kämmerer Art 124 AEUV Rn 16, 26; Pechstein/Nowak/Häde/Herrmann/Dornacher Art 124 AEUV Rn 6 ff. 184 VO 3604/93, ABl 1993 L 332/4. 185 Auch indem sie, wie vor allem Art 4 VO 3604/93, die Anknüpfung an (andere) sekundärrechtliche Legaldefinitionen klarstellen; s Pechstein/Nowak/Häde/Herrmann/Dornacher Art 124 AEUV 6, 9, 13 ff. 186 Vgl Siekmann/Ohler Art 125 AEUV Rn 16; Pechstein/Nowak/Häde/Herrmann/Dausinger Art 125 AEUV Rn 6. 187 Vorbehaltlich des 123 II AEUV; dazu oben, Rn 65. 188 Vgl Siekmann/Ohler Art 125 AEUV Rn 10; Pechstein/Nowak/Häde/Herrmann/Dausinger Art 125 AEUV Rn 6. Ludwig Gramlich

1272 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

Klärung bei der Union selbst. Völker- und unionsrechtlich ist hierunter die Rechtsnachfolgerin der Europäischen Gemeinschaft zu verstehen (Art 1 III EUV, Art 335 AEUV);189 demgegenüber besitzen sowohl EZB (nach Art 282 III AEUV) als auch Europäische Investitionsbank (Art 308 I AEUV) „eigene Rechtspersönlichkeit“. Nicht ausdrücklich geregelt ist, ob Art 125 I AEUV jegliche (ursprüngliche oder spätere, gänzliche oder partielle) Begründung einer (finanziellen) Verbindlichkeit betrifft oder nur eine vom Gläubiger freiwillig, dh in der Regel vertraglich eingegangene.190 Art 125 II AEUV misst allerdings Art 123, 124 und 125 (I) gleichermaßen Verbotscharakter bei. Soweit sich daher nicht aus den beiden erstgenannten Vorschriften (sowie aus Art 136 III AEUV) bereichsspezifische, begrenzte Ausnahmen für im jeweiligen Kontext (vertraglich) begründete Verbindlichkeiten ergeben,191 kann Art 125 I nur als striktes „no bail out“ verstanden werden.192 Auch insoweit hat der Rat bereits 1993 per Verordnung193 Definitionen für die 68 Anwendung („application“) der Verbote nach Art 123, 124 und 125 AEUV (seinerzeit: Art 104, 104b EGV) getroffen, nämlich zu „Überziehungs“- („overdraft facility“) und „anderen „Kreditfazilitäten“, „Schuldtiteln“, „öffentlichem Sektor“ und (erneut und sachlich mit dem parallelen Rechtsakt übereinstimmend) zu „öffentlichen Unternehmen“. Erst im Sekundärrecht wird klargestellt, dass EZB wie nationale Zentralbanken sowohl bei Art 123 als auch bei Art 125 I AEUV weder als Organe, Einrichtungen oder sonstige Stellen der EU noch als solche eines Mitgliedstaates anzusehen sind.194 Die umfangreiche Regelung des Art 126 AEUV (mit 14 Absätzen) befasst sich mit 69 der Einhaltung von „Haushaltsdisziplin“ durch alle EU-Staaten (außer dem Vereinigten Königreich), 195 dh der Beachtung des in Abs 1 statuierten Verbots von „übermäßigen öffentlichen Defiziten“ („excessive government deficits“), und Maßnahmen von EU-Organen im Falle von Verstößen. Konkretisiert und teils verschärft werden diese primärrechtlichen Bestimmungen durch den (überwiegend ebenfalls normativen) „Stabilitäts- und Wachstumspakt“.196

_____ 189 Vgl Blanke/Mangiameli/Blanke Art 1 EUV Rn 75 ff. 190 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 385; Siekmann/Ohler Art 125 AEUV Rn 9; Pechstein/Nowak/Häde/ Herrmann/Dausinger Art 125 AEUV Rn 13. 191 Für Art 122 AEUV (ex-Art 100 EGV) s Erklärung (Nr 6) zu Art 100 zur Schlussakte von Nizza, ABl 2001 C 80/70 (78); krit Pechstein/Nowak/Häde/Herrmann/Dausinger Art 125 AEUV Rn 17. 192 Vgl Hentschelmann EuR 2011, 282 (289 ff); Pechstein/Nowak/Häde/Herrmann/Dausinger Art 125 AEUV Rn 13; aber auch Siekmann/Ohler Art 125 AEUV Rn 13 f. 193 VO 3603/93, ABl 1993 L 332/1. 194 Art 8 II VO 3603/93; ebenso Art 1 I Spstr 1 VO 3604/93. 195 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 390; Siekmann/Gaitanides Art 126 AEUV Rn 4. 196 S dazu unten, Rn 84 ff; ferner Hilpold/Steinmair/Hilpold S 27 ff; Überblick zu europäischen Fiskalregeln in Deutsche Bundesbank Monatsbericht Juni 2017, 29 ff; zu Reformüberlegungen Deutsche Bundesbank Monatsbericht April 2019,79 ff. Ludwig Gramlich

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Hüter der Haushaltsdisziplin ist (wie auch sonst im Hinblick auf die Wah- 70 rung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten nach Art 17 I EUV197) die Kommission. Die Kontrolle der „Entwicklung der Haushaltslage“ und der „Höhe des öffentlichen Schuldenstandes“ („stock of government debt“) erfolgt allerdings gem Art 126 II S 1 AEUV einerseits nur eingeschränkt, nämlich im Hinblick auf die Feststellung „schwerwiegender Fehler“ („gross errors“). Andererseits stehen im Mittelpunkt der Prüfung insbesondere zwei Kriterien: öffentliches Defizit („government deficit“) und öffentlicher Schuldenstand („government debt“). Das Protokoll (Nr 12) über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit (gem Art 126 XIV UAbs 1 AEUV),198 auf das Art 126 II S 3 AEUV Bezug nimmt, präzisiert Referenzwerte für beide Merkmale. Sie betragen 3 Prozent für das Verhältnis zwischen geplantem oder tatsächlichem öffentlichen Defizit199 bzw 60 Prozent für das Verhältnis zwischen öffentlichem Schuldenstand 200 und jeweils dem Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen (Art 1 des Protokolls). Nach Art 126 II S 2 AEUV erfahren beide Referenzwerte gewisse Einschränkungen, dh ihr Überschreiten ist hinnehmbar, wenn (beim Defizit) entweder das Verhältnis „erheblich und laufend zurückgegangen“ ist und einen Wert „in der Nähe“ des Referenzwerts („reference value“) erreicht hat oder dieser „nur ausnahmsweise und vorübergehend“ missachtet wird und das Verhältnis in seiner Nähe bleibt. Beim Schuldenstand wird vorausgesetzt, dass das relevante Verhältnis „hinreichend rückläufig ist und sich rasch genug201 dem Referenzwert nähert“.202 Das nächste Stadium der Überwachung („monitoring“) wird erreicht, wenn 71 entweder ein Mitgliedstaat unter diesen (relativierten) Bedingungen keines oder nur eines der Merkmale erfüllt oder die Kommission zur Auffassung gelangt, trotz Einhaltung der Kriterien bestehe die Gefahr („risk“) eines übermäßigen Defizits, dh einer Verletzung von Art 126 I AEUV (s Art 126 III UAbs 1 S 1, UAbs 2). In beiden Fällen erstellt die Kommission einen Bericht, der weitere Wirtschaftsdaten berücksichtigt, nämlich ob das öffentliche Defizit „die öffentlichen Ausgaben für Investitionen 203 übertrifft“, der darüber hinaus „alle sonstigen einschlägigen Faktoren“ einbezieht, „einschließlich der mittelfristigen Wirtschafts- und Haushaltslage des Mitgliedstaats“ (Art 126 III UAbs 1 S 2 AEUV).204

_____ 197 Vgl Blanke/Mangiameli/Gianfrancesco Art 17 EUV Rn 17 ff; Pechstein/Nowak/Häde/Haratsch Art. 17 EUV Rn 5 ff. 198 S bereits oben, Rn 43. 199 Die Definition von „öffentlich“ findet sich in Art 2 Spstr 1, die von „Defizit“ in Art 2 Spstr 2 des Protokolls. 200 Definiert in Art 2 Spstr 4 des Protokolls. 201 Im Englischen hingegen „at a satisfactory pace“. 202 Vgl Siekmann/Gaitanides Art 126 AEUV Rn 84 ff. 203 Diese werden definiert in Art 2 Spstr 3 des Protokolls. 204 Als Bsp s Bericht zu Belgien, COM(2018) 429 final. Ludwig Gramlich

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Eine verbindliche Feststellung, ob in einem EU-Mitgliedsland ein übermäßiges Defizit besteht, trifft erst der Rat auf Vorschlag der Kommission. Zuvor ist dem Wirtschafts- und Finanzausschuss Gelegenheit zur Stellungnahme zum Kommissionsbericht zu geben (Art 126 IV AEUV) und ist auch der betreffende Mitgliedstaat zu informieren (Art 126 V AEUV), der Bemerkungen („observations“) zum Vorgang machen kann. Der Rat beschließt „nach Prüfung der Gesamtlage“ („after an overall assessment“), gem Art 126 VI AEUV,205 und macht damit den Weg für Sanktionen frei. Auf Empfehlung der Kommission richtet er zunächst seinerseits umgehend „Empfehlungen“ (iSv Art 288 V AEUV) an den Mitgliedstaat „mit dem Ziel, dieser Lage innerhalb einer bestimmten Frist abzuhelfen“ (Art 126 VII S 1 AEUV).206 Bleibt eine angemessene Reaktion aus, so kann – erst dann (Art 126 VII S 2) – die Empfehlung auch veröffentlicht werden (Art 126 VIII AEUV).207 Nur Teilnehmern der Währungsunion gegenüber ist ein (bei weiterer Untätigkeit des betroffenen Staates vorgesehener) Ratsbeschluss dahin gehend zulässig, innerhalb einer bestimmten Frist seien „Maßnahmen für den nach Auffassung des Rates zur Sanierung erforderlichen Defizitabbau zu treffen“ (Art 126 IX Satz UAbs 1 AEUV), und kann in diesem „Verzugs“-Fall der Mitgliedstaat ersucht werden, nach einem konkreten Zeitplan Berichte vorzulegen, um seine „Anpassungsmaßnahmen“ („adjustment efforts“) überprüfen zu können (UAbs 2).208 Ab wirksamer Inverzugsetzung – und bis zu Änderungs-/Aufhebungsakten des 73 Rates (Art 126 XII S 1 AEUV)209 – greift das (gegenständlich und zeitlich) abgestufte Instrumentarium des Art 126 XI AEUV. Das Spektrum reicht von einem Verlangen, vor der Begebung von Schuldverschreibungen und anderen Wertpapieren („bonds and securities“) zusätzliche Angaben zu veröffentlichen, über ein Ansinnen („invite“) an die EIB (Art 308, 309 AEUV), ihre „Darlehenspolitik“ („lending policy“) dem betr Mitgliedstaat gegenüber zu überprüfen („reconsider“), und der Aufforderung an diesen, eine unverzinsliche Einlage („non-interest-bearing deposit“) in angemessener Höhe bei der Union zu hinterlegen, bis zur Verhängung von „Geldbußen“ („fines“), ebenfalls „of an appropriate size“. Im Vordergrund steht eindeutig die Präventivwirkung,210 da zusätzliche finanzielle Nachteile kaum einen gangbaren Weg zurück zu solidem Haushaltsverhalten eröffnen können. 72

_____ 205 Ohne den Vertreter des betr Mitgliedslandes, Art 126 XIII UAbs 2 AEUV, mit qualifizierter Mehrheit der übrigen Ratsmitglieder nach Art 238 III lit a), s Art 126 XIII UAbs 3 AEUV. 206 Als Bsp s Rats-Empfehlung betr Malta, ABl 2013 C 180/1; ferner Kommissions-Empfehlung in Bezug auf Frankreich, COM(2013) 384. 207 Maßnahmen nach Art 126 VIII, IX, XI, XII AEUV erfolgen jeweils auf Empfehlung der Kommission, Art 126 XIII UAbs 1; s zB zu Art 126 VIII AEUV Rats-Beschluss betr Belgien, ABl 2013 L 190/84. 208 ZB Rats-Beschl betr Belgien, ABl 2013 L 190/87; dazu COM(2013) 381, 382; Rats-Beschl betr Griechenland, ABl 2013 L 4/40; ferner EuGH, Rs C-27/04 – Kommission / Rat. 209 Als Bsp s Rats-Beschluss betr Italien, ABl 2013 L 173/41. 210 BK/Häde Art 88 GG Rn 395; Hartmann S 76 f; Siekmann/Gaitanides Art 126 AEUV Rn 131. Ludwig Gramlich

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Art 122 AEUV enthält zwei weniger nach ihrem Tatbestand als nach der Rechts- 74 folge deutlich zu unterscheidende Vorschriften für Not- oder Krisenfälle, die durch den Umstand „gravierender Schwierigkeiten“ („severe difficulties“) in (mindestens) einem Mitgliedstaat miteinander verknüpft sind. Sie sind für alle EULänder anwendbar, während sich die ebenfalls, freilich nur bei ZahlungsbilanzSchwierigkeiten relevanten Art 143, 144 AEUV allein auf Mitgliedstaaten beziehen, für die (noch) eine Ausnahmeregelung gilt.211 Art 122 I AEUV hat eine Vorläufernorm in Art 103 II–IV EWGV: Für den Bereich „Konjunkturpolitik“ war der Rat ermächtigt, einstimmig über „die der Lage entsprechenden Maßnahmen“ zu entscheiden und mit qualifizierter Mehrheit gegebenenfalls erforderliche Durchführungs-Richtlinien zu erlassen; gem Art 103 IV EWGV galt dieses Verfahren auch, falls „Schwierigkeiten in der Versorgung mit bestimmten Waren“ auftreten. Als einziges, wichtiges Beispiel wird heute hierfür der „Energie-Bereich“ genannt.212 Schon 1957 galt, der Rat entscheide auf Vorschlag der Kommission „unbeschadet der sonstigen in diesem Vertrag vorgesehenen Verfahren“ (Art 103 II EWGV). Die Klärung, dass „gravierende“ Probleme vorliegen müssen und die (Schutz-)Maßnahmen „der Wirtschaftslage angemessen“ („appropriate to the economic situation“) sein sollten, erfolgte 1993 (Art 103a I EGV); seit dem Vertrag von Nizza wurde in Art 100 I (und II) EG nur noch eine qualifizierte Mehrheit im Rat verlangt. Die blumige Ergänzung in Art 122 AEUV, dass Beschlüsse „im Geiste der Solidarität“ („in a spirit of solidarity“) zwischen den Mitgliedstaaten getroffen würden, greift (wenig systematisch) Ziele der Union aus Art 3 EUV auf.213 Die Vorschrift ist grundsätzlich subsidiär (auch gegenüber Abs 2 oder Kompetenzen der EZB), jedoch bei hoher Dringlichkeit als Basis für temporäre, konkrete Maßnahmen anwendbar.214 Der Vorgänger des Art 122 II AEUV, Art 103a II EGV, eingefügt durch den Maast- 75 richt-Vertrag, galt erst ab Beginn der dritten Stufe der Währungsunion (Art 109e III UAbs 2 EGV). Diesbezüglich wurde seither lediglich das Erfordernis unterschiedlicher Mehrheiten zwischen beiden Arten von „außergewöhnlichen“ („exceptional“) Ereignissen beseitigt; nunmehr gilt stets qualifizierte Mehrheit (Art 16 III EUV).215 Das Parlament wird lediglich (im Nachhinein) informiert, aber nicht an der Beschlussfassung beteiligt (Art 122 II S 2 AEUV). Spätestens seit Ausbruch der Finanz-/Schuldenkrise ist die Auslegung der Tat- 76 bestandsmerkmale von Art 122 II S 1 AEUV heftig umstritten, weniger was den

_____ 211 Als Bsp Rats-Beschl 2013/531/EU, 2013/532/EU, ABl 2013 L 286/1, 4 (Rumänien). 212 Vgl Siekmann/Kämmerer Art 122 AEUV Rn 1, 17. 213 Vgl Siekmann/Kämmerer Art 122 AEUV Rn 7, 9 f; Blanke/Mangiameli/Sommermann Art 3 EUV Rn 41. 214 Vgl Siekmann/Kämmerer Art 122 AEUV Rn 14, 21; Pechstein/Nowak/Häde/Herrmann/ Dausinger Art 122 AEUV Rn 5, 8 f. 215 Näher dazu Blanke/Mangiameli/Edjaharian Art 16 EUV Rn 86 ff; Pechstein/Nowak/Häde/ Herrmann/Dausinger Art 122 AEUV Rn 14, 25. Ludwig Gramlich

1276 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

„kritischen“ Zeitpunkt angeht, ab dem ein Beistand zulässig ist bzw wird, als was unter Ereignissen zu verstehen sei, die sich der „Kontrolle“ des (Hilfe suchenden) Mitgliedslandes „entziehen“ („beyond its control“).216 Der Wortlaut der Vorschrift fordert insoweit weder ein Fehlverhalten noch (bzw zusätzlich) Vorwerfbarkeit. Für sich betrachtet ist etwa die Verfehlung der Defizitkriterien in Art 126 II AEUV kein außergewöhnliches Ereignis. Letztlich allein entscheidend für die Zulässigkeit eines Beistands ist die Kausalität zwischen Ursachen, die nicht zwingend exogener Art sein müssen, und daraus resultierenden Schwierigkeiten. Erklärung Nr 6 der Vertragskonferenz von Nizza217 zielt primär auf die Rechtsfol77 genseite des (heutigen) Art 122 II AEUV ab, wenn dort darauf „hingewiesen“ (also nicht gefordert) wird, „dass die mit dem Verbot („no bail-out“) […] zu vereinbarenden Beschlüsse über einen finanziellen Beistand […] mit der Finanziellen Vorausschau 2000–2006 und insbesondere mit Nummer 11 der Interinstitutionellen Vereinbarung vom 6. Mai 1999 zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission über die Haushaltsdisziplin und die Verbesserung des Haushaltsverfahrens218 sowie mit den entsprechenden Bestimmungen der künftigen interinstitutionellen Vereinbarungen und finanziellen Vorausschauen im Einklang stehen müssen“. Art 122 II AEUV betrifft lediglich „finanziellen“ Beistand („financial assistance“) durch die Union, dh eine Unterstützung in jeder geeigneten Form; damit werden (Finanz-) Hilfen anderer Einrichtungen, insbesondere des IWF, nicht ausgeschlossen.219 Die Vorschrift wird durch an Mitgliedstaaten (nach Art 124, 125 AEUV) bzw an das ESZB (gem Art 123) gerichtete Verbote flankiert, enthält aber in ihrem Anwendungsbereich kein explizites Verbot von Beistandsleistungen anderer Mitgliedsländer. Auf Art 122 II AEUV gestützt ist die Rats-Verordnung zur Einführung eines euro78 päischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM);220 die als Annex hierzu konzipierte Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) wurde hingegen auf der Grundlage einer intergouvernementalen Vereinbarung als Aktiengesellschaft luxemburgischen Rechts errichtet.221 Zunächst außerhalb des institutionellen Rah-

_____ 216 Vgl Hentschelmann EuR 2011, 282 (298 ff); Siekmann/Kämmerer Art 122 AEUV Rn 25 ff; Pechstein/Nowak/Häde/Herrmann/Dausinger Art 122 AEUV Rn 17 ff, 26 ff. 217 S oben, Rn 67. 218 ABl 1999 C 172/1. 219 Vgl Siekmann/Kämmerer Art 122 AEUV Rn 19, 40; Pechstein/Nowak/Häde/Herrmann/Dausinger Art 122 AEUV Rn 23. 220 VO 407/2010, ABl 2010 L 118/1; dazu Hilpold/Steinmair/Hilpold S 33 ff; Möllers/Zeitler/ Siekmann S 101 (114 ff); Herrmann EuZW 2010, 413 ff; Knopp NJW 2010, 1777 ff; Kube/Reimer NJW 2010, 1911 ff; Schröder DÖV 2011, 61 ff; Häde ZG 2011, 1 ff und EuR 2010, 854 ff; Polzin DÖV 2011, 209 ff; Sonder DVBl 2011, 1274 ff; BVerfG, 2 BvR 987, 1485, 1099/10 – Euro-Rettungsschirm, BVerfGE 129, 124 ff; hierzu Kerber EuZW 2011, 927 f; Nettesheim NJW 2012, 1409 (1410 ff). 221 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 445; Hentschelmann EuR 2011, 282 (302, 306); Pilz/Dittmann DÖV 2011, 438 (438 f); Wieland NVwZ 2011, 340 (341); Blanke Int J Public Law and Policy 1 (2011), 402 Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1277

mens des Unionsrechts schlossen die Mitgliedstaaten der Eurozone im Februar 2012 den Vertrag zur Errichtung des Europäischen Finanzstabilitätsmechanismus (ESM).222 Art 136 III AEUV stellte insoweit lediglich im Nachhinein klar, dass diese neue, strukturell weithin dem IWF nachgebildete Internationale Organisation (neben der EU) auf (mitglied)staatlichen Rechtsgrundlagen beruht. Dazu zählt in Deutschland auch Art 23 GG.223 Zweck des ESM, der die EFSF ablöste, ist es nach Art 3 des Gründungsvertrags (ESMV), „Finanzmittel zu mobilisieren und ESMMitgliedern,224 die schwerwiegende Finanzierungsprobleme haben oder denen solche Probleme drohen, unter strikten, dem gewählten Finanzhilfeinstrument angemessenen Auflagen eine Stabilitätshilfe bereitzustellen, wenn diese zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt und seiner Mitgliedstaaten unabdingbar ist“ (S 1).225 Hierzu wird der ESM nach Art 3 S 2 ermächtigt, „Mittel aufzunehmen, indem er Finanzinstrumente begibt oder mit ESM-Mitgliedern, Finanzinstituten oder sonstigen Dritten finanzielle oder sonstige Vereinbarungen oder Übereinkünfte schließt“; Näheres zu Hilfsinstrumenten regeln Art 13, 14 – 18/20 ESMV, zu „Anleiheoperationen“ Art 21.226 Anders als die EFSF verfügt der ESM über ein genehmigtes Stammkapital (in Höhe von 700 Mio Euro), davon 620 Mio (nur) auf Abruf.227 Sein Gouverneursrat (Art 5) kann nach Art 10 I (S 2) ESMV beschließen, das ge- 79 nehmigte Stammkapital und (als Konsequenz) auch Art 8 und Anhang II (Höhe der Zeichnungen der einzelnen ESM-Mitglieder) zu ändern; nach S 3 tritt ein derartiger Beschluss nur/erst in Kraft, wenn alle ESM-Parteien dem „Verwahrer“ (Art 46 ESMV) den Abschluss ihrer jeweiligen nationalen Verfahren notifiziert haben. Der Gouverneursrat entscheidet aufgrund „gegenseitigen Einvernehmens“ (Art 4 III, 5 VI lit d ESMV), auch bei Dringlichkeit mit einer qualifizierten Mehrheit von 85 Prozent der abgegebenen Stimmen (Art 4 IV UAbs 1 S 2 iVm II S 2 und VII). Bis auf weiteres kommt daher dem deutschen Vertreter ein Vetorecht zu (im Hinblick auf einen Beitrag von 27,1464%, Anhang I zum ESMV). Die maßgeblichen innerstaatlichen Regeln fordern insoweit zudem für „Erhöhungen“ des genehmigten Stammkapitals

_____ (405 f); Statuten idF v 6.12.2011 unter: http://www.efsf.europa.eu/attachments/efsf_articles_of_ incorporation_en.pdf. 222 Dazu Bark/Gilles EuZW 2013, 367 ff; Blanke Int J Public Law and Policy 1 (2011), 402 (419 ff); Hilpold/Steinmair/Hilpold S 62 ff; Pechstein/Nowak/Häde/Herrmann/Dausinger Art 136 AEUV Rn 15; s bereits Rn 42. 223 BK/Häde Art 88 GG Rn 461. 224 Vgl Art 1 II, ferner Art 2 ESMV. 225 S als Bsp die „Fälle“ Zypern, BT-Drs 17/13060, und Griechenland, BT-Drs 18/5590. 226 Zur Frage, ob dies auch eine Refinanzierung des ESM bei der EZB erlaubt, abl Kube WM 2013, 57 ff. 227 Vgl Siekmann/Kämmerer Art 122 AEUV Rn 60; BT-Drs 17/9040. Ludwig Gramlich

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eine bundesgesetzliche Ermächtigung zur Bereitstellung weiteren Kapitals,228 und nach § 4 I S 2 Nr 3 des ESM-Finanzierungsgesetzes229 ist die – eine Plenarentscheidung des Bundestags auslösende – „haushaltspolitische Gesamtverantwortung“ stets betroffen bei Beschlüssen zu „Veränderungen“ des genehmigten Stammkapitals (und des maximalen Darlehensvolumens). Ohne einen das jeweilige Verhalten explizit gestattenden Beschluss des Parlaments darf in solchem Falle der deutsche Vertreter der geplanten Maßnahme weder zustimmen noch sich der Stimme enthalten (§ 4 II).230 Im Nachgang zur BVerfG-Entscheidung vom 12.9.2012231 gaben – als Vorausset80 zung für die deutsche Ratifizierung des ESMV232 – die anderen ESM-Mitglieder und Zypern „als wesentliche Grundlage für die Zustimmung der vertragschließenden Staaten, […] gebunden zu sein“, zudem eine „gemeinsame Erklärung“ ab, die die Bundesrepublik bei Hinterlegung ihrer Ratifikationsurkunde (s Art 47, 48 ESMV) einseitig bestätigte und wiederholte:233 Art 8 V ESMV „begrenzt sämtliche Zahlungsverpflichtungen der ESM-Mitglieder aus dem Vertrag in dem Sinne, dass keine Vorschrift des Vertrags so ausgelegt werden kann, dass sie ohne vorherige Zustimmung des Vertreters des Mitglieds und Berücksichtigung der nationalen Verfahren zu einer Zahlungsverpflichtung führt, die den Anteil am genehmigten Stammkapital des jeweiligen ESM-Mitglieds gemäß der Festlegung in Anhang II des Vertrags übersteigt“. Ferner stehen Geheimhaltungs- bzw Vertraulichkeitsregeln in Art 32 V, 34 und 35 I ESMV „der umfassenden Unterrichtung der nationalen Parlamente gemäß den nationalen Vorschriften nicht entgegen“. Der Entscheidung des BVerfG zum ESMV in der Hauptsache234 ging eine Abtren81 nung einzelner Anträge voraus. Im Hinblick vor allem auf den Beschluss des EZBRates über „Technical features of Outright Monetary Transactions“235 setzte das BVerfG das Verfahren aus und legte dem EuGH die Frage vor, ob dieser Rechtsakt mit Art 119 und Art 127 Abs 1 und 2 AEUV sowie mit Art 17 bis 24 des ESZB-SatzungsProtokolls, ferner mit Art 123 AEUV, dem „Verbot monetärer Haushaltsfinanzie-

_____ 228 Art 2 I VertragsG, BGBl 2012 II 981; zur Begründung s BR-Drs 165/12, 1 (6). 229 BGBl 2012 I 1918. 230 Beim Beschl des BVerfG, 2 BvQ 17/13, NVwZ 2013, 858 – Zypernhilfe, ging es hingegen um den Antrag auf einstweilige Anordnung, mit der dem Bundestag untersagt werden sollte, eine vom Bundesminister der Finanzen nachgesuchte Zustimmung zu konkreten Maßnahmen nach § 4 I Nr 1, 2 ESMFinG bzw § 3 I des Stabilisierungsmechanismusgesetzes (BGBl 2012 I 627 idF des Gesetzes v 23.5.2012, BGBl 2012 I 1166) zu erteilen. 231 BVerfG, 2 BvR 1390/12 ua, BVerfGE 132, 195 ff – ESM 1. 232 BGBl 2012 I 983; als Bsp für Inkrafttreten für andere Vertragsstaaten, BGBl 2012 II 1336 (Estland). 233 S BGBl 2012 II 1086 f; BK/Häde Art 88 GG Rn 478. 234 BVerfG, 2 BvR 1390/12 ua – ESM 2, BVerfGE 135, 317 ff. 235 Dazu unten, Rn 141. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1279

rung“, vereinbar sei.236 Nachdem der EuGH keine generellen Bedenken erhob,237 wies das BVerfG die Anträge ab, unterstrich aber, eine Beteiligung der Bundesbank an einem OMT-Programm dürfe nur erfolgen, wenn und soweit die vom Gerichtshof aufgestellten Maßgaben erfüllt würden.238 Die weiteren Anträge wies das BVerfG teils als unzulässig, teils als unbegründet zurück: Nach den anzulegenden verfassungsrechtlichen Maßstäben sei das Gesetz zum Beschluss des Europäischen Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des Art 136 AEUV239 unbedenklich; der Gesetzgeber müsse allerdings durchgehend sicherstellen, dass die Bundesrepublik Deutschland Kapitalabrufen nach Art 9 ESMV, gegebenenfalls iVm Art 25 ESMV, fristgerecht und vollständig nachkommen könne. Soweit sie im vorliegenden Verfahren zulässigerweise gerügt seien, erachtete das Gericht auch die Vorschriften über die Einbindung des Deutschen Bundestages in die ESM-Entscheidungsprozesse, wie sie sich aus dem Vertrags- und dem ESM-Finanzierungsgesetz240 ergeben, für verfassungskonform, desgleichen schließlich das Gesetz zu dem Vertrag vom 2. März 2012241 über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion242. Anknüpfend an den Bericht der fünf Präsidenten vom Juni 2015243 hat die Kom- 82 mission Ende 2017 vorgeschlagen, durch auf Art 352 EUV gestützte Ratsverordnung einen Europäischen Währungsfonds (EWF) zu errichten, um den ESM, dessen finanzielle und institutionelle Strukturen im Wesentlichen beibehalten werden sollen, in das Unionsrecht einzubinden244. Der EWF soll auch die gemeinsame Letztsicherung für den Gemeinsamen Abwicklungsfonds (SRF) als eine der Säulen der „Bankenunion“245 übernehmen. Im Dezember 2018 kam es vorerst nur zu einer Verständigung über den „back stop“ und verstärkter Verwendung von „collective action clauses“ bei der Begebung von Staatsanleihen.246

_____ 236 BVerfG, 2 BvR 2728/13 ua – OMT 1, BVerfGE 134, 366 ff; dazu Ruffert JuS 2014, 373 ff; Mayer EuR 2014, 473 ff. 237 Rs C-62/14 – Gauweiler ua. 238 BVerfG, 2 BvR 2728/13 ua – OMT 2, BVerfGE 142, 123 ff. 239 S bereits oben, Rn 42, 78. 240 S oben, Rn 79. 241 Dazu unten, Rn 92 f. 242 BVerfG, 2 BvR 1390/12 ua – ESM 2, BVerfGE 135, 317 ff; dazu Manger-Nestler/Böttner NJ 2014, 202 ff; generell bereits Möllers/Zeitler/Huber S 229 (230 ff); Möllers/Zeitler/Häde S 245 (251 ff). 243 Juncker ua Die Wirtschafts- und Währungsunion vollenden, https://ec.europa.eu/commission/ sites/beta-political/files/5-presidents-report_de_0.pdf; s a unten, Rn 190. 244 COM(2017) 827, mit Satzung im Anhang; dazu etwa Europäischer Rechnungshof, Stellungnahme Nr 2/2018; Manger-Nestler/Böttner ZaöRV 2019, 43 ff. 245 Vgl dazu unten, Rn 152 ff. 246 Vgl Erklärung v 14.12.2018 (EURO 503/18), auf Grundlage des Eurogroup Report, dazu Pressemitteilung des Rats 738/18 v 4.12.2018; zu „Ansatzpunkten zur Bewältigung von Staatsschuldenkrisen im Euro-Raum“ bereits Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Juli 2016, 43 ff. Ludwig Gramlich

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b) Wesentliche EU-Rechtsakte zur Wirtschafts- einschl Haushalts-/Fiskalpolitik 83 Im Dezember 1997 fasste der Europäische Rat eine Entschließung247 über die wirt-

schaftspolitische Koordinierung in der dritten Stufe der WWU248 und zu Art 109, 109b EGV, dh zur „Anwendung der Bestimmungen des Vertrags über die Wechselkurspolitik sowie den Standpunkt und die Vertretung der Gemeinschaft im Rahmen der Außenbeziehungen (Artikel 109 des Vertrags)“ (Abschn II; heute: Art 219 AEUV) sowie über den – in Art 109b EGV thematisierten – „Dialog zwischen dem Rat und der EZB“ (Abschn III, nunmehr: Art 284 AEUV). Eine zentrale Feststellung besagte, in dem Maße, wie die Entwicklung der einzelnen Volkswirtschaften Auswirkungen auf die künftige Inflationsrate im Euro-Währungsgebiet habe, beeinflusse sie auch die „Bedingungen der Geldpolitik“ in diesem Gebiet. Dies sei „der wesentliche Grund dafür, dass die Einführung einer gemeinsamen Währung eine genauere Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebietes auf Gemeinschaftsebene erforderlich macht“ (Abschn I Ziff 1 S 5, 6). Hervorgehoben wurde zudem die zentrale Rolle des ECOFIN-Rates (Abschn I Ziff 5, 6).249 Den Maastrichter Regelungen zur „Haushaltsdisziplin“ wurde vor allem von 84 deutscher Seite attestiert, ihnen eigne ein erhebliches Verzögerungs- oder gar Verhinderungspotenzial, vom (zweifelhaften) politischen Willen zur Verhängung von Sanktionen ganz abgesehen.250 Letztlich verständigte sich der Europäische Rat daher im Juni 1997 zusätzlich auf einen „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ (SWP), bestehend aus einer (rechtlich nicht bindenden) „Entschließung“ („resolution“) dieses Gremiums251 sowie zwei vom ECOFIN-Rat erlassenen Verordnungen. Die Entschließung gibt den (drei) Partnern, die den Pakt umsetzen – Mitgliedstaaten, Kommission, Rat –, „feste politische Leitlinien“ an die Hand (Abschn IV, S 2). So verpflichten sich alle EU-Länder (an erster Stelle), „das in ihren Stabilitäts- oder Konvergenzprogrammen festgelegte mittelfristige Haushaltsziel eines nahezu ausgeglichenen oder einen Überschuss aufweisenden Haushalts einzuhalten“. Die beiden EU-Organe erklären sich zu „strikter und fristgerechter Umsetzung“ von EGV/AEUV und SWP bereit; zu diesem Zweck werden ihnen in ex-Art 104c EGV (jetzt: Art 126 AEUV) eröffnete Entscheidungs- bzw Ermessensspielräume eingeschränkt und wird das einzuschlagende Verfahren präzisiert.252

_____ 247 ABl 1998 C 35/1; auch in Herrmann Europäisches Währungsrecht, S 266 ff. 248 Abschn I des Rechtsakts. 249 S auch Erklärung Nr 30 zum Lissabon-Vertrag, ABl 2012 C 326/349. 250 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 397, 398. 251 ABl 1997 C 236/1; auch in Herrmann Europäisches Währungsrecht, S 272 ff; zu einem Fazit nach 10 Jahren ECB, Monthly Bulletin 10/2008, 53 ff; zur Genese Häde JZ 1997, 269 ff und EuZW 1996, 138 ff; erste Bewertung bei Hahn JZ 1997, 1133 ff. 252 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 399; Siekmann/Gaitanides Art 126 AEUV Rn 8 f; Pechstein/Nowak/ Häde/Herrmann Art 126 AEUV Rn 2. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1281

Verordnung 1466/97253 bildet die „präventive“ Komponente des SWP. Sie legt 85 Regeln für den Inhalt, die Vorlage und die Prüfung von „Stabilitätsprogrammen“ (von Teilnehmern des Eurosystems, Art 3 ff iVm Art 2 lit a)254 bzw „Konvergenzprogrammen“ (der Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung, Art 7 ff iVm Art 2 lit b) und für die Beobachtung von deren Umsetzung im Rahmen der Überwachung durch Rat und Kommission fest, installiert also ein „Frühwarnsystem“.255 Damit wird bezweckt (nach Art 1 I), „das Entstehen übermäßiger öffentlicher Defizite bereits in einem frühen Stadium zu verhindern, die Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitik zu fördern und dadurch die Erreichung der Ziele der Union für Wachstum und Beschäftigung zu fördern“. Nach kleineren Änderungen 2005 – insbesondere Einführung differenzierter länderspezifischer Haushaltsziele (Art 2a)256 – wurden 2011 wesentliche Ergänzungen bzw Modifizierungen vorgenommen:257 Eingefügt wurden ein „Europäisches Semester für die wirtschaftspolitische Koordinierung“ (Abschn 1-A) mit „umfassender Einbindung“ des Europäischen Parlaments, vor allem in Bezug auf den neuen „Wirtschaftlichen Dialog“ (Abschn 1Aa),258 das „Prinzip der Unabhängigkeit der statistischen Stellen“ (Abschn 3A), Regeln zu Überwachungsmissionen der Kommission (Art 11) sowie erweiterte Berichts(veröffentlichungs)-pflichten (Art 12, 12a). 2015 errichtete die Kommission einen 5-köpfigen unabhängigen beratenden European Fiscal Board im Hinblick auf ihre Aufgaben nach Art 121, 122 und 136 AEUV.259 Die Novellierung dieser wie auch der zweiten Verordnung260 erfolgte im Kontext 86 eines Regelungspaketes („six pack“).261 Letztere262 legte – als „korrektive“ bzw „repressive“ Komponente des SWP – nähere Bestimmungen zur „Beschleunigung“ (Art 3 ff) und „Klärung“ (Art 9 ff) des Verfahrens bei einem „übermäßigen“ Defizit fest; damit wird das Ziel verfolgt, solche Mängel „möglichst zu vermeiden und gegebenenfalls auftretende Defizite unverzüglich zu korrigieren“ (Art 1 I). 2011 wurde insbesondere die Regelung über Sanktionen (Art 6 ff, 11 ff) geändert: „In

_____ 253 ABl 1997 L 209/1. Als Bsp Rats-Beschl (EU) 2018/2020 betr Rumänien, ABl 2018 L 323/16. 254 Als Bsp Rats-Empfehlung betr Deutschland, ABl 2013 C 217/33. 255 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 400; Siekmann/Gaitanides Art 126 AEUV Rn 10 f. 256 VO 1056/2005, ABl 2005 L 174/5; dazu Siekmann/Gaitanides Art 126 AEUV Rn 22 ff. 257 Durch VO 1175/2011, ABl 2011 L 306/12. 258 Art 2a neu; entsprechend auch in Abschn 1a VO 1467/97 eingefügt. Als Bsp für einen „erläutern-den Vermerk“ des Rates s ABl 2013 C 217/100. Hierzu auch Hilpold/Steinmair/Hilpold S 55 f. 259 Beschl (EU) 2015/1937, ABl 2015 L 282/37; 2017 wurde der erste Jahresbericht dieses Gremiums publiziert, https://ec.europa.eu/info/publications/2017-annual-report-european-fiscal-board_en. 260 VO 1467/97, ABl 1997 L 209/6. 261 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 480 ff; EZB, Monatsbericht 2/2013, 81 ff; Blanke Int J Public Law and Policy 1 (2011), 402 (409 ff); Hilpold/Steinmair/Hilpold S 42 ff; Calliess DÖV 2013, 785 (787); Pechstein/Nowak/Häde/Herrmann Art 126 AEUV Rn 7. 262 VO 1177/2011, ABl 2011 L 306/33. Ludwig Gramlich

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der Regel“ wird eine Geldbuße verhängt, die durch andere in Art 126 XI AEUV vorgesehene Maßnahmen „ergänzt“ werden kann (Art 11); Zusammensetzung und Obergrenze der Buße präzisiert Art 12.263 Gem Art 16 werden Geldbußen als „sonstige Einnahmen“ iSv Art 311 AEUV qualifiziert und der EFSF (bzw nunmehr dem ESM) zugewiesen.264 Teils nur auf Art 121 VI (so VO 1176/2011),265 teils auch auf Art 136 AEUV basie87 rend (VO 1174/2011),266 befassen sich zwei weitere Rechtsakte des „six pack“, erlassen vom Europäischen Parlament und vom Rat, mit einer Intensivierung der wirtschaftspolitischen Koordinierung mittels „Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte“ bzw „Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euro-Währungsgebiet“. Jener behandelt zum einen das „Erkennen“ von „Ungleichgewichten“ (Art 3 ff iVm Art 2 I) einschl von Präventionsmaßnahmen (Art 6),267 sodann das Verfahren bei einem „übermäßigen“ Ungleichgewicht (Art 7 ff iVm Art 2 II). Dabei erscheint zweifelhaft, ob die Kontrolle von „Korrekturmaßnahmen“ durch den Rat (nach Art 10) den Rahmen des Art 121 (IV) AEUV noch wahrt. Verordnung 1174/2011 sieht, anknüpfend an einen Ratsbeschluss gem Art 10 IV der Komplementär-VO 1176/2011, als Sanktion zunächst die Auferlegung einer verzinslichen Einlage vor, bei anhaltendem Fehlverhalten eine jährliche Geldbuße (Art 3); Einnahmen hieraus sollen wieder dem ESM zufließen (Art 4). „Außergewöhnliche Umstände“ (Art 2 II) können zu einer Verringerung der Sanktion führen (Art 3 VI). Art 136 AEUV dürfte nach den dort statuierten Tatbestandsvoraussetzungen kaum eine tragfähige Grundlage für dieses sekundärrechtliche „Sanktionssystem“ abgeben.268 Die aufgrund von Art 126 XIV UAbs 3 AEUV ergangene Rats-Richtlinie 2011/85269 88 legte (so Art 1) detaillierte Vorschriften dazu fest, welchen Anforderungen die „haushaltspolitischen Rahmen“ der Mitgliedstaaten genügen müssen; gemeint ist damit „die Gesamtheit der Regelungen, Verfahren und Institutionen, die die Grundlage für die Durchführung der Haushaltspolitik des Staates bilden“ (Art 2 II). Außer Systemen des öffentlichen Rechnungswesens und der statistischen Berichterstattung (Art 3), Vorschriften und Verfahren zur Erstellung von Prognosen für die Haushaltsplanung (Art 4), einem mittelfristigen, mindestens dreijährigen Haus-

_____ 263 Als Bsp Rats-Beschl (EU) 2017/2350, 2017/2351, ABl 2016 L 336/24, 27 (Portugal, Spanien, jeweils Absehen von Geldbuße); zur vorausgehenden In-Verzug-Setzung Rats-Beschl (EU) 2017/984, ABl 2017 L 148/38. 264 S bereits oben, Rn 78 f; ferner unten, Rn 90, 93. 265 ABl 2011 L 306/25. 266 ABl 2011 L 306/8. 267 Als Bsp Rats-Empfehlung, ABl 2013 C 217/97. Zum jüngsten „Warnmechanismus“-Bericht für 2019 der Kommission s COM(2018) 758. 268 BK/Häde Art 88 GG Rn 494; s a Pechstein/Nowak/Häde/Herrmann Art 126 AEUV Rn 10. 269 ABl 2011 L 306/41. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1283

haltsrahmen (Art 9 ff) sowie Bestimmungen zur Transparenz der öffentlichen Finanzen (Art 12 ff) verlangt Art 5 der Richtlinie von jedem Mitgliedstaat (außer dem Vereinigten Königreich, Art 8) die Aufstellung „numerischer Haushaltsregeln“ (mit in Art 6 näher statuierten Angaben) im Rahmen der jährlichen Haushaltsgesetze (Art 7). Die Regeln sollen „wirksam“ zur Einhaltung der jeweiligen mitgliedsstaatlichen haushaltspolitischen Verpflichtungen aus dem AEUV beitragen, und dies „über einen Zeithorizont von mehreren Jahren durch den Staat als Ganzes“, und insbesondere der Beachtung der beiden Referenzwerte (für Finanzierungsdefizit bzw Schuldenstand) sowie der „Einführung eines mehrjährigen Finanzplanungshorizonts“ dienen. Letztlich werden hierdurch Vorgaben aus dem Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit weiter konkretisiert.270 Gestützt auf Art 136 iVm Art 121 VI AEUV, normierte schließlich die von Parla- 89 ment und Rat erlassene Verordnung 1173/2011271 ein „Sanktionssystem zur besseren Durchsetzung der präventiven und der korrektiven Komponente“ des SWP (s Art 2 Ziff 1, 2) im Euro-Währungsgebiet bzw für die Euro-Länder (Art 1). Jeweils auf Ratsbeschlüsse (nach Art 6 II der novellierten VO 1466/97 bzw Art 126 VI, XI AEUV) bezogen, sind verzinsliche (Art 4) wie unverzinsliche (Art 5)272 Einlagen und auch Geldbußen (Art 6) vorgesehen. Eine weitere „Verwaltungsmaßnahme“ (Art 9), bei der Einnahmen hieraus ebenfalls an den ESM fließen (Art 10), ist die „wirksame, abschreckende“, gleichwohl „verhältnismäßige“ und in ihrer Höhe begrenzte Geldbuße, die der Rat auf Empfehlung der Kommission gegen einen Mitgliedstaat verhängen kann, der relevante Daten über Defizite und Schulden „absichtlich oder auf Grund schwerwiegender Nachlässigkeit falsch darstellt“ (Art 8). Die bereits zuvor geäußerte Kritik mangelnder Vereinbarkeit mit primärem Unionsrecht gilt auch und gerade hier.273 Im Frühjahr 2013 wurden zwei weitere Rechtsakte des Parlaments und des Rates 90 verabschiedet („two pack“).274 Verordnung 473/2013275 enthält Bestimmungen, mit denen „die Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten im Euro-Währungsgebiet verstärkt überwacht und sichergestellt werden soll, dass die nationalen Haushaltspläne mit den wirtschaftspolitischen Leitlinien vereinbar sind, die im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und des Europäischen Semesters für die wirtschaftspolitische Koordinierung veröffentlicht wurden“ (Art 1 I). Art 1 II gebietet dabei strikte Beachtung sowohl von Art 152 AEUV (Rolle der Sozialpartner, Sozialer

_____ 270 S bereits oben, Rn 70 f; BK/Häde Art 88 GG Rn 495, 500. 271 ABl 2011 L 306/1. 272 Zu deren Rückerstattung im Falle von Beschlüssen nach Art 126 XII AEUV s Art 7 VO 1173/ 2011. 273 BK/Häde Art 88 GG Rn 512 ff. 274 Vgl Stöbener EuZW 2013, 526; Calliess DÖV 2013, 785 (787). 275 ABl 2013 L 140/11. Ludwig Gramlich

1284 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

Dialog)276 als auch von Art 28 der Grundrechte-Charta (Recht auf Kollektivverhandlungen und -maßnahmen);277 gem Art 2 III bleibt zudem Art 9 AEUV (sozialer Schutz als Querschnittsklausel)278 unberührt. Die Verordnung fordert Kohärenz der mitgliedstaatlichen Haushaltsverfahren mit dem Rahmen zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik (Art 3), gibt einen Zeitplan für die Haushaltsaufstellung vor (Art 4) und verlangt von den Mitgliedstaaten die Schaffung „unabhängiger Einrichtungen“ zur Überwachung der Einhaltung der Haushaltsregeln (Art 5 iVm Art 2 I lit a). Ferner werden präzisiert Regeln zur „Überwachung und Bewertung der Übersichten über die Haushaltsplanung der Mitgliedstaaten“ (Art 6 ff)279 sowie zur „Gewährleistung der Korrektur übermäßiger Defizite“ (Art 9 ff). Diese in Kap IV und V normierten Vorschriften finden keine Anwendung auf Mitgliedstaaten des Eurosystems, die „Gegenstand eines makroökonomischen Anpassungsprogramms“280 sind (Art 13). Damit wird eine Verbindung zur zweiten Verordnung (Nr 472/2013) hergestellt, die den „Ausbau der wirtschafts- und haushaltspolitischen Überwachung“ (s Art 2, 3) sowie eine „verstärkte wirtschaftspolitische Koordinierung“ (Art 1 II)281 bei solchen Euro-Staaten (Art 1 III) vorsieht, die entweder „von gravierenden Schwierigkeiten in Bezug auf ihre finanzielle Stabilität oder die Tragfähigkeit ihrer öffentlichen Finanzen betroffen oder bedroht sind, die zu möglichen nachteiligen Ansteckungseffekten auf andere Mitgliedstaaten im Euro-Währungsgebiet führen“, oder von einem oder mehreren anderen EU-Staaten oder Drittländern, von dem ESFM,282 der EFSF, dem ESM oder einer anderen einschlägigen internationalen Finanzinstitution (wie dem IWF)283 Finanzhilfe ersuchen oder diese (auch schon vor dem 1.6.2013; s Art 16)284 erhalten (Art 1 I). Der Rechtsakt bezieht auch die Betroffenen selbst förmlich mit ein, nämlich Sozialpartner und zivilgesellschaftliche Organisationen (etwa Art 8 iVm Art 7). Auferlegt werden des Weiteren

_____ 276 Vgl (in anderem Kontext) Siekmann/Sprung Art 46 Satzung Rn 41. 277 Ebenso Art 1 IV VO 472/2013, ABl 2013 L 140/1; dazu allgem Calliess/Ruffert/Krebber Art 152 AEUV Rn 3 ff. 278 Vgl Calliess/Ruffert/Krebber Art 9 AEUV Rn 1 ff; Pechstein/Nowak/Häde/Kocher Art 9 AEUV Rn 1 ff. 279 Dazu (gestützt auf Art 6 V) Kommissions-Mitteilung COM(2014) 675 („harmonisierter Rahmen für die Übersichten über die Haushaltsplanung und die Berichte über die Emission von Schuldtiteln im Euro-Währungsgebiet“). 280 Dazu Art 7 VO 472/2013, ABl 2013 L 140/1. 281 Mit zahlreichen Berichtspflichten, Genehmigungserfordernissen, Kontrollen, s Art 4 ff VO 472/2013. 282 Vgl oben, Rn 78. 283 Zu dessen einschlägigen Aktivitäten auch Deutsche Bundesbank, Monatsbericht 9/2012, 63 (64 ff). 284 Als Bsp Durchführungsbeschlüsse des Rates über einen finanziellen Beistand der Union für Portugal, 2011/344, ABl 2011 L 159/88, und 2013/323, ABl 2013 L 175/47. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1285

Maßnahmen zur „Absicherung“ – genauer: „Steigerung“ – der Staatseinnahmen durch größere Effizienz und Effektivität der Kapazitäten zur Steuererhebung sowie bei Bekämpfung von Steuerbetrug oder -hinterziehung (Art 9).285

c) Rechtsakte im Umfeld/außerhalb des Unionsrechts ieS Als „Euro-Plus-Pakt“ (zunächst: „Pakt für den Euro“) bezeichnet wird ein als An- 91 hang zu Schlussfolgerungen des Europäischen Rates v 24./25.3.2011286 angenommenes, im Juni 2011 von den Mitgliedstaaten des Eurosystems sowie sechs weiteren EUStaaten akzeptiertes Dokument.287 Der „Pakt“ zielt darauf ab, „die wirtschaftliche Säule der Währungsunion zu stärken, eine neue Qualität der wirtschaftspolitischen Koordinierung im Euro-Währungsgebiet zu erreichen, die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern und dadurch einen höheren Grad an Konvergenz zu erreichen“. Er legt seinen „Schwerpunkt vor allem auf die Bereiche […], die in die einzelstaatliche Zuständigkeit fallen“, formuliert je vier Leitlinien und Ziele, stellt aber auch klar: „Die Wahl der konkreten politischen Maßnahmen, die für die Erreichung der gemeinsamen Ziele zu treffen sind, verbleibt in der Verantwortung jedes einzelnen Landes, wobei jedoch dem nachstehend aufgeführten Bündel möglicher Maßnahmen besondere Beachtung geschenkt wird“. Im Wesentlichen handelt es sich um freiwillige Selbstverpflichtungen auf intergouvernementaler Basis;288 wegen ihres engen sachlichen und zeitlichen Kontextes zu unionsrechtlichen Maßnahmen werden sie aber (aus deutscher Sicht) ebenfalls dem Anwendungsbereich des Art 23 GG zugeordnet.289 Eine „echte“ völkerrechtliche Übereinkunft ist hingegen der „Vertrag über Sta- 92 bilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion“ (VSKS), den im März 2012 25 der damals 27 EU-Staaten abgeschlossen haben;290 ferngeblieben ist neben dem Vereinigten Königreich auch Tschechien.291 Mit diesem „Fiskalvertrag“ kommen die Vertragsparteien „als Mitgliedstaaten der EU“ überein, „die wirtschaftliche Säule der Wirtschafts- und Währungsunion durch Verabschiedung einer Reihe von Vorschriften zu stärken, die die Haushaltsdisziplin durch einen fiskalpolitischen Pakt fördern“ (Art 3 ff), „die Koordinierung ihrer

_____ 285 Hierzu auch den Aktionsplan der Kommission, COM(2012) 722. 286 EUCO/10/1/11. 287 Text in Herrmann Europäisches Währungsrecht, S 373 ff. 288 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 519; Hilpold/Steinmair/Hilpold S 56 f. 289 BVerfG, 2 BvE 4/11 – Euro-Plus-Pakt / ESM, BVerfGE 131, 157 ff, Rn 99 ff; dazu Manger-Nestler NJ 2012, 156 ff. 290 BGBl 2012 II 1008, ber BGBl 2013 II 1454; Text auch in Herrmann Europäisches Währungsrecht, S 358 ff. 291 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 522; zum Anwendungsbereich Art 1 II, 14, 15 VSKS. Ludwig Gramlich

1286 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

Wirtschaftspolitiken verstärken“ (Art 9 ff) „und die Steuerung des Euro-Währungsgebiets verbessern“ (Art 12 f) sollen, um dadurch zur Erreichung der Ziele der EU für „nachhaltiges Wachstum, Beschäftigung, Wettbewerbsfähigkeit und sozialen Zusammenhalt“ beizutragen (Art 1 I). Art 2 VSKS strebt Kohärenz zum und Vereinbarkeit mit Unionsrecht ieS an, Art 16 stellte eine Überführung in den EU-Rechtsrahmen in Aussicht292. Art 3 II VSKS als zentrale Vorschrift des eigentlichen „Fiskalpakts“ verpflichtet zu verfassungsrechtlicher Verankerung der in Abs 1 normierten „Schuldenbremse“ im nationalen Recht der Vertragsparteien, wie dies in Deutschland bereits (zuvor) durch Art 109 III und 115 GG erfolgt ist.293 Art 8 VSKS begründet insoweit einen Schiedsvertrag iSv Art 273 AEUV;294 der EuGH ist dabei nicht nur zur Klärung berufen, ob ein Vertragsstaat den Pflichten aus Art 3 II nachgekommen ist, sondern kann bei Verstößen auch einen Pauschalbetrag oder ein Zwangsgeld verhängen. Der „Fiskalvertrag“ ist mehrfach mit dem ESM verzahnt: Einerseits sind nach 93 Art 8 II VSKS verhängte Geld-Sanktionen an diese Einrichtung zu entrichten (S 3), wenn die fehlsame Vertragspartei ein Euro-Land ist; andererseits ergänzen sich (nach Erwägungsgrund 5 zum ESMV) beide Verträge „bei der Verstärkung der haushaltspolitischen Verantwortlichkeit und der Solidarität“ innerhalb der WWU. Auch sei „anerkannt und vereinbart, dass die Gewährung von Finanzhilfe im Rahmen neuer Programme durch den ESM ab dem 1.3.2013 von der Ratifizierung des VSKS durch das betr EU-Mitglied abhängt, und nach Ablauf der in Art 3 II VSKS genannten Frist von der Erfüllung der (dort) genannten Pflichten“.295 Das BVerfG296 erachtete die wesentlichen Inhalte des Fiskalvertrags für mit ver94 fassungs- und unionsrechtlichen Vorgaben vereinbar. Der (kündbare) Vertrag räume EU-Organen (auch durch Art 3 II) keine Befugnisse ein, welche die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestags berührten; überdies könne der EuGH die „Anwendung der Korrekturmechanismen“ nicht kontrollieren.

_____ 292 BK/Häde Art 88 GG Rn 540; Cromme DÖV 2013, 594 (597). 293 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 527; Siekmann/Gaitanides Art 126 AEUV Rn 171 f; Calliess VVdStRL 2012, 113 (166 ff); Bundesbank, Monatsbericht 10/2011, 15 ff; ferner Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags, BGBl 2013 I 2398; dazu BT-Drs 17/10976, 17/11011, 17/12058, 17/12222, BRDrs 71/13(B), BT-Drs 17/12424. 294 Vgl Siekmann/Gaitanides Art 126 AEUV Rn 182; s dazu auch unten, Rn 169. 295 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 539 iVm Rn 464 ff; Hilpold/Steinmair/Hilpold S 57 ff; Möllers/ Zeitler/Ohler S 277 (289 f). 296 BVerfG, 2 BvR 1390/12 ua – OMT, BVerfGE 135, 317 ff, Rn 243 ff (Bezug nehmend auf BVerfGE 132, 195 [278 ff]; s a oben, Rn 91. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1287

3. „Währungspolitik“ a) Dualität des primärrechtlichen Rahmens: Teilnehmer an der Währungsunion (Eurosystem) und andere EU-Staaten (Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung) Die „Währungspolitik“ wird in Kap VIII des dritten Teils des AEUV differenziert 95 ausgestaltet: Außer dem auf das Europäische System der Zentralbanken ausgerichteten Kern (Kap 2) und auch (teils) hierfür relevanten „institutionellen Bestimmungen“ (Kap 3) erfolgt eine Zweiteilung zwischen „besonderen Bestimmungen für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist“ (Kap 4), und „Übergangsbestimmungen“ für Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung (s Art 139 I AEUV) in Kap 5. Bei letzteren ergibt sich aus zwei Protokollen (Nr 15, 16),297 dass anders als bei den übrigen EU-Staaten für Dänemark und das Vereinigte Königreich eine Mitwirkung an der dritten Stufe der (Wirtschafts- und) Währungsunion, insbesondere eine Konvergenzprüfung nach Art 140 AEUV, nicht ohne diesbezüglichen Antrag zustande kommt. Die Unterscheidung zwischen „ins“ und „outs“ (bzw „pre-ins“) zeigt sich auch im ESZB-Satzungs-Protokoll.298 Anknüpfend an Art 141 I AEUV wird für den Zeitraum, in dem es Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung gibt, als drittes Beschlussorgan der EZB (neben Rat und Direktorium) ein Erweiterter Rat errichtet, dem als Mitglieder neben Präsident und Vizepräsident der EZB die Präsidenten aller nationalen Zentralbanken299 angehören (Art 44.2. ESZB-Satzung). Dieses Gremium führt im Wesentlichen die Aufgaben des EWI fort (Art 46.1., 43 ESZB-Satzung, Art 141 II AEUV).300 Die Trennung zwischen „Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist“ (Art 139 96 II UAbs 2 AEUV), und solchen, „für die eine Ausnahmeregelung gilt“ (Art 139 I AEUV), betrifft nicht nur Währungs- einschl Wechselkurspolitik (s Art 139 II UAbs 1 lits c–j, III AEUV iVm Art 42–47, 50 ESZB-Satzung), sondern auch gewisse Maßnahmen („measures“) der allgemeinen Wirtschaftspolitik (Art 139 II UAbs 1 lits a, b, IV UAbs 1 AEUV). Insoweit ruht dann das Stimmrecht der (Vertreter der) Mitgliedstaaten bei entsprechenden Entscheidungen des Rates. Am Übergang zwischen Ausnahme und Teilnahme steht die Konvergenzprü- 97 fung nach Art 140 AEUV (ursprünglich: Art 109j EGV), in die auch der Wirtschaftsund Finanzausschuss (nach Art 134 II UAbs 1 Spstr 3 AEUV) einbezogen ist. Eine Mitwirkung an der Endstufe setzt voraus, dass ein Mitgliedstaat – für den noch eine Ausnahmeregelung gilt – seinen Verpflichtungen bei der Verwirklichung der (Wirtschafts- und) Währungsunion nachgekommen ist (Art 140 I UAbs 1 S 1 AEUV). Dazu zählt vor allem die Anpassung des innerstaatlichen Rechts speziell im Hinblick auf das nach Art 130 AEUV gebotene Maß an Unabhängigkeit der nationalen

_____ 297 298 299 300

S schon oben, Rn 43. Art 42 ff. Auch die des Vereinigten Königreichs (s Ziff 7 des Protokolls Nr 15) und Dänemarks. S dazu bereits oben, Rn 24, 26.

Ludwig Gramlich

1288 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

Zentralbank301 und allgemein (nach Art 131 AEUV) an das relevante EU-Primärrecht („Verträge“)302 einschließlich der ESZB-Satzung als dessen Teil (Art 140 I UAbs 1 S 2 AEUV). Maßstab für das Erreichen eines „hohen Grades“ an „dauerhafter Konver98 genz“ („high degree of sustainable convergence“) sind vier in Art 140 I UAbs 1 S 3 AEUV umschriebene und in einem Protokoll (Nr 13)303 (in Art 1–4) auch hinsichtlich der erforderlichen Dauer präzisierte Kriterien: – eine anhaltende (hohe) Preisstabilität und eine während des letzten Jahres vor der Prüfung gemessene durchschnittliche Inflationsrate, die um nicht mehr als 1½ Prozentpunkte über der Inflationsrate jener – höchstens drei – Mitgliedstaaten liegt, die auf dem Gebiet der Preisstabilität das beste Ergebnis aufweisen;304 – eine auf Dauer tragbare Finanzlage der „öffentlichen Hand“ („government“), welche daraus ersichtlich wird, dass zum Zeitpunkt der Prüfung kein Ratsbeschluss nach Art 126 VI AEUV dahingehend vorliegt, in dem betreffenden Mitgliedstaat bestehe ein übermäßiges Defizit; – die Einhaltung der im Rahmen des Wechselkursmechanismus des EWS (WKM II)305 vorgesehenen normalen Bandbreiten („fluctuation margins“) zumindest in den letzten zwei Jahren vor der Prüfung ohne starke Spannungen (oder gar einer Abwertung [„devaluation“] des bilateralen Leitkurses der eigenen Währung gegenüber dem Euro innerhalb dieses Zeitraums); – Konvergenz der Zinssätze306 als Ausdruck der Dauerhaftigkeit der von dem jeweiligen Mitgliedstaat mit Ausnahmeregelung erreichten Konvergenz und seiner Teilnahme am WKM. Im Verlauf von einem Jahr vor der Prüfung darf also der durchschnittliche langfristige Nominalzinssatz in einem Mitgliedstaat um nicht mehr als 2 Prozentpunkte über dem entsprechenden Satz in jenen – höchstens drei – Mitgliedsländern liegt, die auf dem Gebiet der Preisstabilität das beste Resultat erzielt haben. Die in Art 6 des Protokolls vorgesehene Ersetzung von dessen Bestimmungen 99 durch einen einstimmig zu fassenden Ratsbeschluss (auf Vorschlag der Kommission und unter Beteiligung von Parlament, EZB sowie Wirtschafts- und Finanzausschuss) hat bisher nicht stattgefunden. Die von der Kommission und der EZB in längstens zweijährigem Rhythmus dem 100 Rat vorzulegenden Konvergenzberichte müssen schließlich auch die Ergebnisse

_____ 301 Vgl näher unten, Rn 155 ff. 302 Vgl Siekmann/Steven Art 131 AEUV Rn 13; Pechstein/Nowak/Häde/Manger-Nestler Art 131 AEUV Rn 1. 303 ABl 1992 C 191/1(85) idF des Protokolls v 13.12.2007, ABl 2007 C 306/1 (165). 304 Zur Messung der Inflation s Art 1 S 2 des Protokolls Nr 13. 305 Dazu unten, Rn 183. 306 Zur Messung der Zinssätze s Art 4 S 2 des Protokolls Nr 13. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1289

bei der Entwicklung der Märkte, den Stand und die Entwicklung der Leistungsbilanzen („balances of payment on current account“), die Entwicklung bei den Lohnstückkosten und andere Preisindizes einbeziehen und „berücksichtigen“ (Art 140 I UAbs 2 S 2 AEUV).307 Mit dem Lissabon-Vertrag wurden die Verfahrensregelungen in Art 140 AEUV 101 (im Vergleich zu Art 109j EWGV, Art 121 EGV) nicht unwesentlich modifiziert. So kann die Erstellung von Konvergenzberichten auch durch den Antrag eines „NochNicht-Euro-Landes“ veranlasst werden.308 Des Weiteren wird nicht länger davon gesprochen, dass die Teilnahme-Entscheidung (bzw diejenige zur Aufhebung der Ausnahmeregelung) „auf der Grundlage“ resp „unter gebührender Berücksichtigung“ der Konvergenzberichte getroffen wird; auch obliegt die zentrale (Aufnahme-)Entscheidung nicht mehr dem Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs bzw dem Europäischen Rat (Art 15 EUV309). Ähnlich wie bisher bleibt die (neue) Formulierung in Art 140 Abs 2 UAbs 1 AEUV – „[…] welche Mitgliedstaaten […] die auf den Kriterien des Absatz 1 beruhenden Voraussetzungen erfüllen“ („[…] which Member States […] fulfil the necessary conditions on the basis of the criteria set out in para 1“) – eher unscharf und lässt sowohl der auch hier (vorbehaltlich von Art 135 AEUV) allein vorschlagsberechtigten Kommission als auch dem nunmehr letztentscheidenden Rat einen Bewertungs- und Entscheidungsspielraum.310 Eine strikte Pflicht zur Teilnahme an der Währungsunion ist also auch für andere Mitgliedstaaten (mit Ausnahmeregelung) als Dänemark und das Vereinigte Königreich nicht normiert. Unabhängig davon darf sich die Feststellung nicht nur auf eine Erfüllung der vier Konvergenzkriterien beschränken. Der Ratsbeschluss nach Art 140 II UAbs 1 AEUV erfolgt (wie generell) mit qualifizierter Mehrheit (der Vertreter) aller EU-Staaten; Grundlage hierfür ist eine (binnen 6 Monaten nach Eingang des Kommissionsvorschlags beim Rat abzugebende) Empfehlung der qualifizierten Mehrheit (hier: nach Art 238 III lit a) der Mitgliedsländer, deren Währung der Euro ist (Art 140 II UAbs 2, 3 AEUV). Zusammen mit oder auch nach Aufhebung der Ausnahmeregelung legt ebenfalls der Rat gem Art 140 III AEUV (auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung der EZB, s Art 43 Abs 2, 46.3. ESZB-Satzung) alle zur Einführung des Euro als einheitliche Währung in dem betreffenden Mitgliedstaat erforderlichen Maßnahmen fest, insbesondere den Kurs, zu dem dessen (bisherige) nationale Währung durch den Euro ersetzt wird. Anschließend ist es Sache des EZB-Rats, Maßnahmen zum Umtausch nationaler Banknoten zu treffen (Art 49 ESZB-Satzung). Voraussetzung dafür ist ein einstim-

_____ 307 308 309 310

S als Bsp European Commission, Convergence Report, May 2018, 1 ff, 25 ff. Zum Bsp Lettland s EZB, Konvergenzbericht Juni 2013. Vgl Blanke/Mangiameli/Edjaharian Art 15 EUV Rn 10 ff, 31 ff. BK/Häde Art 88 GG Rn 344; ähnlich Siekmann/Herrmann/Steven Art 140 AEUV Rn 6.

Ludwig Gramlich

1290 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

miger Beschluss der aktuellen Euro-Mitgliedstaaten und des künftigen Teilnehmerlandes an der Währungsunion (Art 140 III AEUV).311 Am 1.1.1999 begann die dritte und letzte Stufe der WWU mit der unwiderruf102 lichen Festlegung der Wechselkurse der Währungen der elf von Anfang an teilnehmenden Mitgliedstaaten sowie der Einführung des Euro als einheitliche Währung.312 Zuvor hatte der Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs im Mai 1998 bestätigt, dass insgesamt 11 der damals 15 EU-Mitgliedstaaten – Belgien, Deutschland, Irland, Spanien, Frankreich, Italien, Luxembourg, die Niederlande, Österreich, Portugal und Finnland – die Kriterien für die Einführung der einheitlichen Währung erfüllten.313 Griechenland trat dem Euro-Währungsgebiet am 1. Januar 2001 bei.314 Anfang 2007 wurde Slowenien zum 13. Mitgliedstaat des Euroraums, Anfang 2008 traten Zypern und Malta, ein Jahr später die Slowakei und am 1. Januar 2011 Estland dem Eurogebiet bei.315 18. Teilnehmer ist ab Anfang 2014 Lettland, ein Jahr später folgte Litauen.316 Die Einführung des Euro als einheitliche Währung („single currency“) wird im 103 AEUV als gegeben behandelt: Art 133 behandelt lediglich dessen/deren „Verwendung“ („use“) und verpflichtet Parlament und Rat zum Erlass aller erforderlichen Maßnahmen im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren. Dabei ist die EZB anzuhören. Dies dient außer der Einbeziehung von spezifischem Sachverstand auch der Wahrung von deren Befugnissen, vor allem der in Art 128 I AEUV und Art 16 ESZBSatzung normierten Kompetenz zur Genehmigung der Ausgabe von EuroBanknoten. Für Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung finden diese Vorschriften keine Anwendung (Art 139 II UAbs 1 Spstr d, f AEUV). Bedeutsam bleiben die bereits früher erfolgten Festlegungen, die Zusammensetzung des ECU-Währungskorbes317 werde (ab Inkrafttreten der zweiten Stufe, also ab 1.1.1994) nicht mehr geändert, und mit Beginn der Endstufe (Anfang 1999) werde der Wert der „ECU“ (seither: Euro) nach ex-Art 109l IV EGV/Art 123 IV EGV unwiderruflich festgesetzt.318

_____ 311 BK/Häde Art 88 GG Rn 564, 565; s zu Lettland Rats-VO 678/2013, ABl 2013 L 195/2; zu Litauen EZB, Pressemitteilung v 1.1.2015. 312 Vgl Siekmann/Siekmann Einf Rn 36 ff. 313 Entscheidung 98/317, ABl 1998 L 139/30. 314 Vgl dazu EZB, Monatsbericht 1/2011, 39 ff. 315 Vgl Siekmann/Siekmann Einf Rn 52. 316 Zu Lettland s Rats-Beschluss 2013/387/EU, ABl 2013 L 195/24; ferner Konvergenzbericht 2013, COM(2013) 341, Kommissionsvorschlag COM(2013) 345; 13. Bericht über die praktischen Vorbereitungen für die künftige Erweiterung des Euroraums, COM(2013) 855; zur Herstellung des Einvernehmens von Bundestag und Bundesregierung s BT-Drs 17/13887. Zu Litauen Rats-Beschl 2014/ 509/EU, ABl 2014 L 228/29. 317 Zu diesem Konstrukt vgl Hahn/Häde § 4 Rn 14, § 13 Rn 15. 318 S schon oben, Rn 25. Ludwig Gramlich

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Dies erfolgte durch die (bei Zuwachs der Teilnehmer jeweils nachjustierte)319 104 Rats-Verordnung Nr 2866/98 320 auf der Grundlage der (2.) Euro-EinführungsVerordnung Nr 974/98;321 Art 1 bestimmte dabei den Umrechnungskurs zwischen Euro und DM auf 1,95583. Die Angabe von sechs signifikanten Stellen ergibt sich aus Art 4 I der 1. Euro-Einführungs-Verordnung Nr 1103/97).322 Art 3 dieses Rechtsaktes stellt klar, dass die Einführung des Euro vorbehaltlich abweichender Vereinbarungen der daran Beteiligten weder „eine Veränderung von Bestimmungen in Rechtsinstrumenten oder eine Schuldbefreiung“ bewirkt noch „die Nichterfüllung rechtlicher Verpflichtungen“ rechtfertigt noch „einer Partei das Recht“ gibt, „ein Rechtsinstrument einseitig zu ändern oder zu beenden“.323 Eine Rückkehr der EU-Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, zu eigenen 105 (alten oder neuen) nationalen Währungen sehen aktuell weder AEUV noch EUV vor; die spezifischen Regelungen zur Teilnahme an der Währungsunion legen im Umkehrschluss nahe, ein solches Verhalten (etwa als „Grexit“324) sei ebenso wie ein Ausschluss unzulässig (bzw ein derartiger „Rückschritt“ wurde schlicht für undenkbar erachtet).325 Bei einem (in Art 50 EUV explizit ermöglichten) Ausscheiden aus der EU326 würde dieser Akt allerdings auch – vorbehaltlich abweichender Regelungen im Austrittsabkommen – die Kompetenzen im Bereich von (Wirtschaftsund) Währungspolitik betreffen und damit den Verzicht auf die bisherige einheitliche Währung einschließen.

b) Institutionen und Aufgaben der einheitlichen (gemeinsamen) Währungspolitik aa) ESZB, EZB, Nationale Zentralbanken Die mit eigener Rechtspersönlichkeit (auf internationaler wie innerstaatlich- 106 er Ebene, Art 9.1. ESZB-Satzung) und den für intergouvernementale Einrichtungen üblichen Vorrechten und Befreiungen („privileges and immunities“)327 ausgestattete Europäische Zentralbank (s Art 282 III S 1 AEUV) mit Sitz in Frank-

_____ 319 ZB durch VO 870/2013, ABl 2013 L 243/1; VO 851/2014, ABl 2014 L 233/21. 320 ABl 1998 L 359/1; vgl Proctor Rn 29.29 ff. 321 Art 3 iVm Art 1 lit c) VO 974/98; dazu näher Proctor Rn 29.10 ff; ferner EuGH, Rs C-359/05 – Estager SA. 322 S oben, Rn 29. 323 Vgl Hahn/Häde § 14 Rn 32; Proctor Rn 29.08 f. 324 Vgl https://de.wikipedia.org/wiki/Grexit. 325 BK/Häde Art 88 GG Rn 698 ff; Siekmann/Siekmann Einf Rn 48 ff; aber auch Möllers/Zeitler/ Möllers S 1 (12 f). 326 Vgl dazu näher Lehner § 2 (in diesem Band). 327 Art 39 ESZB-Satzung iVm Art 343 (S 2) AEUV, Protokoll über Vorrechte und Befreiungen der EU, ABl 2007 C 306/163; EuGH, Rs C-62/11 – Feyerbacher. Ludwig Gramlich

1292 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

furt/M328 und die nationalen Zentralbanken aller (Ende 2018 noch 28329) EU-Staaten bilden das ESZB; hingegen besteht das „Eurosystem“ nur aus EZB und denjenigen EU-Mitgliedsländern, deren Währung der Euro ist (Art 282 I iVm Art 139 II UAbs 2 AEUV; Art 1 S 1 ESZB-Satzung). Das ESZB wird von den (zwei bzw drei)330 Beschlussorganen der EZB geleitet (Art 129 I, 282 II S 1 AEUV, Art 8 ESZB-Satzung).

bb) EZB-Organisation 107 Da der Beschluss über eine Verwirklichung der Endstufe der (Wirtschafts- und) Währungsunion bis Ende 1996 nicht zustande gekommen war,331 trat die bereits im Maastricht-Vertrag vorgesehene (zweitbeste) Variante in Kraft: Gem ex-Art 109j IV EGV (später ex-Art 121 IV EGV) war Beginn der 1.1.1999, und mindestens ein halbes Jahr vor diesem Datum hatte der Rat (der Staats- und Regierungschefs) zu „bestätigen“, welche Mitgliedstaaten die Voraussetzungen zur Einführung einer einheitlichen Währung erfüll(t)en.332 Ex-Art 109l EGV (später ex-Art 123 EGV) schrieb dem Rat (in Abs 1) vor, unmittelbar nach dem 1.7.1998 die in ex-Art 106 VI EGV (exArt 107 VI EGV) genannten Bestimmungen zu verabschieden, dh insbesondere in Be-zug auf beratende Funktionen der EZB (Art 4 ESZB-Satzung), Pflichten bei deren statistischen Erhebungen (Art 5.4.), Grundregeln für Mindestreserven (Art 19.2.) und Anwendungsbereich sonstiger „geldpolitischer Instrumente“ (Art 20), Grenzen und Bedingungen für Kapitalerhöhungen (Art 28.1.), Einzahlung weiterer Währungsreserven (Art 30.4.) sowie Geldbußen/Strafgelder gegenüber Unternehmen bei Nichteinhaltung von verbindlichen EZB-Rechtsakten (Art 34.3.).333 Aktuell kann sich der Rat insoweit auf Art 129 IV AEUV, Art 41 ESZB-Satzung stützen; er beschließt entweder auf Vorschlag der Kommission nach Anhörung von Parlament und EZB oder auf Empfehlung der EZB nach Beteiligung der beiden anderen EU-Organe. Nach Art 50 ESZB-Satzung aF334 hatten die Regierungen der Mitgliedstaaten, 108 für die keine Ausnahmeregelung galt, den Präsidenten, den Vizepräsidenten und (mindestens zwei) weitere Mitglieder des EZB-Direktoriums zu ernennen.335 Direkt nach diesem Beschluss wurden ESZB und EZB errichtet und von diesen „Vor-

_____ 328 Vgl (Sitz-)Abkommen v 18.9.1998 zwischen Deutschland und der EZB, BGBl 1998 II 2996; dazu EuGH, Rs C-220/03 – EZB/Deutschland. 329 Zum „Brexit“ nach Art 50 EUV jüngst EuGH, Rs C-621/18 – Wightman ua. 330 S oben, Rn 39. 331 Vgl Hahn/Häde § 14 Rn 7 f. 332 S Entscheidung v 3.5.1998, ABl 1998 L 139/30. 333 Vgl Siekmann/Ohler/Schmidt-Wenzel Art 132 AEUV Rn 89. 334 Zur Änderung und Neunummerierung (früher: Art 53 der Satzung) s Siekmann/Sprung Art 50 Satzung Rn 2. 335 Vgl Beschl 98/345, ABl 1998 L 154/33. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1293

kehrungen für die Aufnahme ihrer vollen Tätigkeit“ getroffen;336 ihre Befugnisse wurden allerdings erst ab 1.1.1999 umfassend wirksam. Unmittelbar nach Errichtung der EZB übernahm diese die Aufgaben des (während der zweiten Stufe amtierenden) EWI (s ex-Art 109f EGV, später ex-Art 117 EGV), auch und gerade im Hinblick auf Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung (Art 141 II AEUV, Art 43 S 1 ESZBSatzung). Das EWI wurde sodann nach Maßgabe seiner Satzung (Protokoll Nr 4 zum EGV) liquidiert (s Art 23).337 Die Verwirklichung der Währungsunion wurde komplettiert durch die Um- 109 setzung der Vorgaben aus ex-Art 109l IV EGV (später ex-Art 123 IV 4 EGV): „Am ersten Tag der dritten Stufe nimmt der Rat aufgrund eines einstimmigen Beschlusses der Mitgliedstaaten (ohne) Ausnahmeregelung […] auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung der EZB die Umrechnungskurse, auf die ihre Währungen unwiderruflich festgelegt werden, sowie die unwiderruflichen festen Kurse, zu denen diese Währungen durch die ECU ersetzt werden, an und wird die ECU zu einer eigenständigen Währung. Diese Maßnahme als solche ändert nicht den Außenwert der ECU“.338 Im gleichen Verfahren, aber mit qualifizierter Mehrheit (von zwei Dritteln der gewogenen Stimmen) der Vertreter der Euro-Teilnehmerländer traf der Rat dann „alle sonstigen Maßnahmen, die für die rasche Einführung der ECU als einheitlicher Währung dieser Mitgliedstaaten erforderlich sind“.339 EZB und ESZB – also der institutionelle Rahmen, der neben jener die Zentralbanken aller EUMitgliedstaaten umfasst – wurden am 1.6.1998 errichtet.340 Der EZB-Rat besteht nach Art 283 I AEUV, Art 10.1. ESZB-Satzung aus den (6) 110 Mitgliedern des Direktoriums sowie (ab 2015) 19 Präsidenten der Nationalen Zentralbanken der Teilnehmerländer des Euroraums; die komplementäre Regelung für Deutschland (Präsident der Bundesbank) ist in § 7 II (iVm § 3 S 1) BBankG341 enthalten. Seitdem mit dem Beitritt der Slowakei 2009 mehr als 15 nationale Zentralbankgouverneure im EZB-Rat vertreten sind, greifen die Vorschriften über Verteilung (in 2 bzw 3 Gruppen) und Rotation dieser Stimmrechte ein. Größere Staaten werden besser behandelt, auch sie haben aber keinen ständigen Sitz im Hauptorgan (vgl Art 10.2. iVm 12.1. ESZB-Satzung).342 Im Übrigen gilt als Regel: ein Mitglied, eine Stimme; Stimmenwägungen (nur bei den Zentralbankpräsidenten) gibt es lediglich bei einzelnen Fragen, etwa der Kapitalerhöhung (Art 10.3. iVm Art 28

_____ 336 Vgl Siekmann/Becker Art 282 AEUV Rn 13. 337 Vgl Siekmann/Sprung Art 43 Satzung Rn 1. 338 Zur Kontinuität s Hahn/Häde § 14 Rn 22. 339 Vgl Hahn/Häde § 14 Rn 24 f. 340 Hahn/Häde § 14 Rn 12. 341 Gesetz über die Deutsche Bundesbank BGBl 1957 I 745, zuletzt geändert durch Gesetz v 4.7.2013, BGBl 2013 I 1981. 342 Anders als im IWF; s Art XII (3) b) IWFÜ; dazu Hahn/Häde § 28 Rn 47; Ehlers/Fehling/Pünder/ Oeter § 3 Rn 30. Ludwig Gramlich

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ESZB-Satzung).343 Außer in Sitzungen (mit regelmäßig persönlicher Präsenz) kann auch per Telekonferenz abgestimmt werden, mit einem normalen Quorum von zwei Dritteln der Stimmberechtigten und mit (mangels abweichender Regelungen) einfacher Mehrheit. Alle Mitglieder des Direktoriums, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats 111 des Euroraums (Art 139 II lit h AEUV) und „in Währungs- oder Bankfragen anerkannte und erfahrenen Persönlichkeiten“ („recognized standing and professional experience in monetary or banking matters“)344 sein müssen, werden für eine Amtsperiode von acht Jahren vom Europäischen Rat gewählt. Dieser handelt auf Empfehlung des Rates, der wiederum Parlament und EZB-Rat anzuhören hat (Art 283 II AEUV,345 Art 11.2. und 11.7. ESZB-Satzung). Von wenigen Fällen (Art 10.3. S 2, 11.3. S 2 ESZB-Satzung) abgesehen, haben Direktoriumsmitglieder nicht nur in diesem für „laufende Geschäfte“ („current business“) der EZB (Art 11.6. ESZB-Satzung) zuständigen Gremium, sondern auch im EZB-Rat (einfaches) Stimmrecht. Ein Quorum ist in der ESZB-Satzung nicht normiert;346 wie im EZB-Rat wird im Normalfall mit einfacher Mehrheit beschlossen, bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Präsidenten den Ausschlag (Art 11.5., 10.2. UAbs 4 ESZB-Satzung). Nur für Direktoriumsmitglieder ist (auf Antrag des EZB-Rates oder des Direktoriums selbst)347 eine Amtsenthebung vorgesehen, wenn die betr Person die Voraussetzungen für die Ausführung ihres Amtes nicht mehr erfüllt oder eine „schwere Verfehlung“ („serious misconduct“) begangen hat (Art 11.4. ESZB-Satzung); zuständig hierfür ist allein der Europäische Gerichtshof.348 Das nationale deutsche Recht enthält für den Bundesbank-Präsidenten (oder andere Vorstandsmitglieder) bislang keine dieser ähnliche, ausdrückliche Regelung. Eine analoge Anwendung der (rein prozeduralen) Regelung des § 7 IV BBankG wäre aber mit dem Gesetzesvorbehalt nach Art 12, 33 V GG kaum vereinbar,349 ebenso wenig eine Bezugnahme allein auf Art 14.2. II S 1 ESZBSatzung, solange das innerstaatliche Recht nicht entsprechend angepasst worden ist.350 2018 ist erstmals ein mögliches Fehlverhalten zum Gegenstand gerichtlicher Verfahren auf Unionsebene geworden.351

_____ 343 Zur in 5-jährigem Abstand stattfindenden Anpassung des Kapitalschlüssels (Art 29 ESZB-Satzung) zum 1.1.2019 s EZB, Pressemitteilung v 3.12.2018. 344 Vgl Siekmann/Steven Art 283 AEUV Rn 9. 345 Zur Bedeutung von Art 139 II UAbs 1 lit h AEUV s Siekmann/Herrmann Art 139 AEUV Rn 13, 16. 346 Wohl aber in der GO nach Art 12.3. ESZB-Satzung im Hinblick auf Abstimmungsmodalitäten (Art 11.5. S 4); Text in Herrmann Europäisches Währungsrecht, S 198 ff. 347 Ohne Mitwirkung des Betroffenen; s Art 7.3. GO sowie Siekmann/Steven Art 11 Satzung Rn 11. 348 Letztlich eine Parallele zu Art 270 AEUV; vgl Siekmann/Steven Art 11 Satzung Rn 15. 349 Eingehend dazu Hahn/Häde § 12 Rn 51 ff. 350 Zum Verstoß gegen die Anpassungspflicht nach Art 131 AEUV auch Hahn/Häde § 20 Rn 103; anders Siekmann/Steven Art 14 Satzung Rn 25. 351 Rs C-238/18 – EZB / Lettland (einstweilige Anordnung nach Art 279 AEUV); s a unten, Rn 157. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1295

Bis auf Weiteres drittes Beschlussorgan der EZB ist der Erweiterte Rat (Art 141 112 AEUV), bestehend aus Präsident und Vizepräsident der EZB sowie den Präsidenten aller nationalen Zentralbanken der EU-Staaten (Art 44.2. S 1, 42.4. ESZB-Satzung); die weiteren Mitglieder des Direktoriums haben ein Teilnahme- (und Mitberatungs-), aber kein Stimmrecht (Art 44.2. S 2 ESZB-Satzung).352 Für das Zusammenwirken zwischen EZB-Organen (idR dem EZB-Rat) und 113 anderen Stellen der EU greifen institutionelle und kompetenzielle Regeln ineinander: Nach Art 127 IV, 282 V AEUV, Art 4 ESZB-Satzung ist die EZB zu allen Vorschlägen für EU-Rechtsakte (Art 288 AEUV) in ihrem Zuständigkeitsbereich anzuhören,353 darüber hinaus für denselben Bereich auch von nationalen Behörden aller EU-Staaten (Art 139 II UAbs 1 lit c AEUV).354 Reziprok zu dieser Einbindung ist die EZB befugt, von sich aus gegenüber sämtlichen zuständigen Stellen von Union wie von Mitgliedstaaten „Stellungnahmen“ zu Fragen abzugeben, die in ihre (sachliche) Kompetenz fallen. Für Interorganbeziehungen ergibt sich aus Art 284 AEUV: Der Präsident des Rates (Art 16 IX EUV)355 und ein Mitglied der Kommission (nicht notwendig oder regelmäßig deren Präsident) 356 sind berechtigt, an den EZBRatssitzunigen teilzunehmen, mit Rede-, aber ohne Stimmrecht (Art 284 I UAbs 1 AEUV). Jener hat überdies ein Recht, Anträge zu stellen (Art 284 I UAbs 2 AEUV). Umgekehrt muss der Präsident des EZB-Rats zur Teilnahme an Tagungen des Rates eingeladen werden, wenn dort „Fragen im Zusammenhang mit den Zielen und Aufgaben des ESZB erörtert“ werden (Art 284 II AEUV). Im Verhältnis zum Europäischen Parlament sieht Art 284 III UAbs 2 AEUV vor, dass alle Mitglieder des EZBDirektoriums vor den zuständigen Ausschüssen des Parlaments357 auftreten dürfen (auf eigene Initiative) oder müssen (auf Ersuchen des Parlamentsplenums). Das Parlament kann ferner eine „allgemeine Aussprache“ („general debate“) über den EZB-Jahresbericht (über die „Tätigkeit des ESZB“ und die „[Geld- und] Währungspolitik“ im vergangenen wie im laufenden Jahr)358 durchführen. Der Bericht ist der Kommission und dem Europäischen Rat (nur) zu „unterbreiten“ („address“), dem Rat und dem Parlament hingegen vom EZB-Präsidenten „vorzulegen“ („present“), dh persönlich zu präsentieren bzw zu erläutern (Art 284 III UAbs 1 AEUV, Art 15.3. ESZB-Satzung).359

_____ 352 Vgl Siekmann/Sprung Art 44 Satzung Rn 52. 353 Vgl näher Häde GS Dieter Blumenwitz, 2008, S 1027 ff. 354 Vgl insb Rats-Entsch, ABl 1998 L 189/42; zur Festlegung von Bedingungen und Grenzen durch den Rat nach Art 129 IV AEUV, Art 41 ESZB-Satzung s Siekmann/Becker Art 129 AEUV Rn 75 ff. 355 Vgl Blanke/Mangiameli/Edjaharian Art 16 EUV Rn 69 ff. 356 Vgl Siekmann/Becker Art 284 AEUV Rn 13. 357 Dh vor allem der Ausschuss für Wirtschaft und Währung; s Siekmann/Becker Art 284 AEUV Rn 34. 358 Vgl Siekmann/Becker Art 284 AEUV Rn 32. 359 Vgl Hahn/Häde § 21 Rn 20, 29; Pechstein/Nowak/Häde/Manger-Nestler Art 284 AEUV Rn 17. Ludwig Gramlich

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cc) Kern-Aufgaben 114 Vorrangiges, aber nicht einziges Ziel des ESZB ist es, die „Preisstabilität“360 zu

gewährleisten; soweit insofern Kompetenzen (der EZB) bestehen, gilt dies auch für die Wechselkurspolitik (Art 219 AEUV).361 Während Art 127 I S 1 AEUV das Gebot (im Hinblick auf Art 139 II UAbs 1 lit c AEUV) nur auf das Eurosystem bezieht, enthält Art 282 II S 2 keine entsprechende Einschränkung.362 Eindeutig auf die gesamte Union ausgerichtet ist das zweite, im Einklang mit dem primären zu verfolgende Ziel, die „allgemeine Wirtschaftspolitik“ („general economic policies“) in der Union zu unterstützen, um zur Verwirklichung zu deren (in Art 3 EUV niedergelegten) Zielen beizutragen (Art 127 I S 2, Art 282 II S 3 AEUV). Schließlich bekräftigen Art 127 I S 3 AEUV und Art 2 S 3 ESZB-Satzung die Bindung auch des ESZB an die „Wirtschaftsverfassung“ der Union.363 „Grundlegende“ eigene Aufgaben („basic tasks“) des ESZB werden in Art 127 I 115 AEUV und Art 3.1., 3.2. ESZB-Satzung aufgelistet, einzelne Aspekte hiervon dann in weiteren Regelungen konkretisiert; diese betreffen durchweg nur EU-Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist (Art 139 II UAbs 1 lits c, d, e AEUV). An erster Stelle stehen dabei Festlegung und Ausführung der „Geldpolitik“ („mone-tary policy“) der Union (Spstr 1); Teil derselben sind die Zuständigkeiten im Hinblick auf Euro-Bargeld (Art 282 III S 1 AEUV), vor allem Banknoten (Art 128 I AEUV), aber auch Münzen (Art 128 II S 2 AEUV). Bezüglich Währungsaußenpolitik sieht Art 127 II Spstr 2 AEUV dagegen lediglich vor, „Devisen“-, dh Fremdwährungsgeschäfte („foreign-exchange operations“)364 im Einklang mit den Regeln zur Wechselkurspolitik (Art 219 AEUV) „durchzuführen“. Im Zusammenhang damit steht die weitere Aufgabe (Art 127 II Spstr 3 AEUV), alle offiziellen Währungsreserven („official foreign reserves“) der Mitgliedstaaten des Eurosystems zu halten und zu verwalten (nach Maßgabe von Art 30, 31 ESZB-Satzung);365 die (Regierungen der) Mitgliedstaaten bleiben jedoch befugt, über Arbeitsguthaben („working balances“) in NichtEuro-Währung zu verfügen (Art 127 III AEUV, Art 3.2. ESZB-Satzung). Nur mittelbar zur „Währungspolitik“ zählt der Auftrag, das reibungslose Funktionieren der (unbaren oder auch elektronischen) Zahlungssysteme („smooth operation of payment systems“) zwischen Gläubigern und Schuldnern (sowie Systembetreibern) zu „för-

_____ 360 Die EZB nimmt als Zielgröße eine Inflationsrate nahe, aber unter 2% auf mittlere Sicht an; s EZB, Monatsbericht 6/2003, 87; Siekmann/Siekmann Art 119 AEUV Rn 49. 361 Vgl nur Herrmann EuZW 2011, 201. 362 Art 2 S 1 ESZB-Satzung nimmt auf beide Vorschriften Bezug, die Vorschrift sei aber lediglich deklaratorisch; so Siekmann/Waldhoff Art 2 Satzung Rn 1. 363 S oben, Rn 1, 34. 364 Zur (Selbst-)Bindung an einen internationalen Verhaltenskodex (FX Global Code) s EZB, Pressemitteilung v 26.7.2017. 365 S unten, Rn 182; BK/Häde Art 88 GG Rn 662; Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Januar 2003, 15 ff. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1297

dern“; ohne diese Infrastruktur-Aufgabe wäre freilich eine wirksame Einflussnahme auf das Währungswesen kaum möglich bzw unvollständig.366 Auch sprachlich knüpft an Art 127 II Spstr 4 AEUV die in Art 127 V AEUV nor- 116 mierte (nur unterstützende) Aufgabe des ESZB an, zur „reibungslosen“ Durchführung der in diesem Absatz genannten „Maßnahmen“ der zuständigen Behörden beizutragen. Das Mandat der EZB bezieht und beschränkt sich hier sachlich einerseits auf eine Aufsicht über „Kredit“-, nicht auch über andere „Finanzinstitute“,367 umfasst zum anderen aber (ohne Nennung spezieller Adressaten) andere Maßnahmen auf dem Gebiet der „Stabilität des Finanzsystems“ („stability of the financial system“) allgemein (Art 127 V AEUV, Art 3.3 ESZB-Satzung).368 Komplettiert wird dies durch Kooperationsbestimmungen in Art 25.1. ESZB-Satzung. In ihrem Zuständigkeitsbereich obliegen der EZB – nicht dem ESZB als Ganzem 117 – zudem umfassende Beratungsaufgaben – stets Angelegenheit ihres Rates369 – und stehen ihr Anhörungsrechte zu (zB Art 133 S 2, 138 I S 2, II S 2 AEUV). Bei der Wahrnehmung aller Aufgaben ermächtigt und verpflichtet Art 5 ESZB-Satzung die EZB (und ergänzend auch die NZBen) zur Erhebung aller erforderlichen statistischen Daten.370 Schließlich ermöglichen Art 127 VI AEUV und Art 25.2. ESZB-Satzung eine bri- 118 sante Aufgabenerweiterung,371 allerdings nur bei Einhaltung strikter prozeduraler Vorgaben (besonderes Gesetzgebungsverfahren iSv Art 289 II AEUV; Rechtsform Verordnung nach Art 288 II; einstimmiger Ratsbeschluss, s Art 238 IV; vorherige Anhörung von Parlament und EZB[-Rat]): Der EZB dürfen „besondere Aufgaben“ – dh nur bestimmte einzelne Bereiche372 – „im Zusammenhang mit der Aufsicht“ über „Finanzinstitute“373 übertragen werden; ausdrücklich ausgenommen hiervon ist die Beaufsichtigung von „Versicherungsunternehmen“.374 Die Rechtsetzung ist

_____ 366 Vgl Siekmann/Waldhoff Art 127 AEUV Rn 57. 367 Zur fehlenden Legaldefinition im Primärrecht Siekmann/Waldhoff Art 127 AEUV Rn 73. Vor allem zu statistischen Zwecken werden „monetäre Finanzinstitute“ in Art 1 Spstr 1 der EZB-VO 1071/2013 näher eingegrenzt, ABl 2013 L 297/1. 368 Vgl Siekmann/Waldhoff Art 127 AEUV Rn 75 iVm 65; Pechstein/Nowak/Häde/Manger-Nestler Art 127 AEUV Rn 49, 58. 369 Art 12.4. iVm Art 4 ESZB-Satzung; BK/Häde Art 88 GG Rn 666 ff. 370 S bereits oben, Rn 52; dazu VO 2533/98, ABl 1998 L 318/8; geändert durch VO 951/2009, ABl 2009 L 269/1; ausführlich Siekmann/Muscheler-Lorange Art 5 Satzung Rn 2 ff. 371 S dazu unten, Rn 151 ff. 372 So etwa Seidel integration 2010, 334 (348); Siekmann/Waldhoff Art 127 AEUV Rn 72. 373 Zur Abgrenzung oben, Rn 116; anders die auf ex-Art 104a EGV (jetzt: Art 125 II iVm 124 AEUV) gestützte VO 3604/93, ABl 1993 L 332/4, die in Art 4 I Spstr 2 auch Versicherungsunternehmen einbezieht. 374 Ähnlich wie bei „Kreditinstituten“ kann hier zur Definition an das ältere Sekundärrecht angeknüpft werden (Art 1 lit a der Richtlinien 92/49 bzw 92/96); wie hier Siekmann/Waldhoff Art 127 AEUV Rn 73. Ludwig Gramlich

1298 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

dabei nicht auf die Euro-Staaten beschränkt (s Art 139 II UAbs 1 lit c AEUV). Auch insoweit können allerdings gewisse prozedurale und organisatorische (Harmonisierungs- wie Vereinheitlichungs-)Maßnahmen auf die generelle Rechtsetzungskompetenz zur Verwirklichung des Binnenmarktes (Art 114 AEUV) gestützt werden (was bereits Ende 2010 erfolgt ist);375 für ein solches Vorgehen gelten jedoch andere Regeln, Vorgaben und Grenzen.376

dd) Geld- und währungspolitische Rechtsetzung 119 Instrumente der Geld- und Währungspolitik werden nicht im AEUV selbst (mit Aus-

nahme von Art 128), sondern „nur“ in der ESZB-Satzung normiert, die ihrerseits in wichtigen Teilen durch Europäisches Parlament und Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren modifiziert werden kann (Art 129 III AEUV)377. Art 132 und 133 AEUV beinhalten aber in Bezug auf die Mitglieder des Eurosystems (s Art 139 II UAbs 1 lits e, f AEUV) zumindest Kompetenzen zur Sekundärrechtsetzung: Rechtsakte („legal acts“)378 betreffend Maßnahmen, die für die Verwendung des Euro als einheitliche Währung erforderlich sind, treffen Parlament und Rat im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art 133 S 1 AEUV). Auch die EZB selbst ist befugt, Rechtsakte zur Erfüllung der dem ESZB zugewiesenen Aufgaben zu erlassen (Art 132 AEUV, Art 34 ESZB-Satzung). In bestimmten Fällen darf sie als Verordnungsgeber tätig werden (Art 132 I Spstr 1 AEUV), allgemein darf sie Beschlüsse (iSv Art 288 IV AEUV) fassen oder (unverbindliche) „Empfehlungen“ oder „Stellungnahmen“ abgeben (Art 132 I Spstr 2, 3 AEUV) und sie (im elektronischen Amtsblatt)379 veröffentlichen (Art 132 II AEUV). Nicht in Betracht kommen jedoch Richtlinien („directives“) nach Art 288 III AEUV. 380 Hingegen sieht Art 12.1. UAbs 1 ESZB-Satzung „Leitlinien“ („guidelines“) vor, mittels welcher der EZB-Rat bindende Vorgaben für die Geldpolitik seitens des EZB-Direktoriums macht.381 Das zweite Beschlussorgan wiederum kann in diesem Rahmen den nationalen Zentralbanken alle erforderlichen „Weisungen“ („instructions“) erteilen (Art 12.1. UAbs 2 S 2 ESZB-Satzung).

_____ 375 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 672; Rötting/Lang EuZW 2012, 8 (9). 376 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 673. 377 IVm Art 40 ESZB-Satzung; vgl BK/Häde Rn 643, Siekmann/Becker Art 129 AEUV Rn 68 ff. 378 Vgl Siekmann/Becker Art 133 AEUV Rn 1 ff; Gaitanides S 173 ff. 379 Zur elektronischen Ausgabe s VO 216/2013, ABl 2013 L 69/1. 380 BK/Häde Art 88 GG Rn 678; Siekmann/Ohler/Schmidt-Wenzel Art 132 AEUV Rn 16; Pechstein/ Nowak/Häde/Manger-Nestler Art 132 AEUV Rn 4. 381 BK/Häde Art 88 GG Rn 679; Siekmann/Ohler/Schmidt-Wenzel Art 132 AEUV Rn 57 ff; MangerNestler S 207 ff; s zu geldpolitischen Instrumenten und Verfahren zuletzt Leitlinie EZB/2014/60 (unten, Rn 134 ff); ferner etwa zu statistischen Berichtsanforderungen im Bereich der Außenwirtschaft EZB/2018/19, ABl 2018 L 209/2, zum Datenregister über Institute und verbundene Unternehmen EZB/2018/16, ABl 2018 L 154/3. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1299

Gem Art 9.2. ESZB-Satzung stellt die EZB sicher, dass ihre Aufgaben im Eurosys- 120 tem „entweder durch ihre eigene Tätigkeit […] oder durch die nationalen Zentralbanken“ erfüllt werden. Im Verhältnis der beiden regulären Beschlussorgane nimmt der EZB-Rat die Hauptrolle ein. Gem Art 12.1. UAbs 1 ESZB-Satzung obliegt ihm der Erlass aller Leitlinien und Beschlüsse, „die notwendig sind, um die Erfüllung der dem ESZB […] übertragenen Aufgaben zu gewährleisten“; er „legt die Geldpolitik der Union fest“ – ausgenommen für Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung (Art 42.1. ESZB-Satzung) –, „gegebenenfalls einschließlich von Beschlüssen in Bezug auf geldpolitische Zwischenziele, Leitzinssätze und die Bereitstellung von Zentralbankgeld im ESZB“. Das Direktorium seinerseits ist zuständig für die Ausführung der Geldpolitik „gemäß den Leitlinien und Beschlüssen des EZB-Rates“ (Art 12.1. UAbs 2 ESZB-Satzung); eine Entsprechung findet dies in der Kompetenz zur „Vorbereitung der Sitzungen des EZB-Rates“ (Art 12.2. iVm Art 10 ESZBSatzung). Weitere („bestimmte“ und damit begrenzte) Befugnisse kann ihm der EZB-Rat per Beschluss übertragen.382 AEUV und ESZB-Satzung werden ergänzt durch vom EZB-Rat nach Art 12.3. bzw 121 Art 46.4. dieser Satzung erlassene Geschäftsordnungen für die Europäische Zentralbank383 bzw deren Erweiterten Rat.384 Neben detaillierten Verfahrensvorschriften (auch zur Verabschiedung von „Rechtsinstrumenten“)385 sind dort ferner (ua) organisatorische Bestimmungen386, Regelungen zum Personal387 sowie zu Geheimhaltung bzw Informationszugang388 enthalten. Bereits Art 12.1. UAbs 3 ESZB-Satzung sieht vor, die EZB nehme zur Durchfüh- 122 rung von Geschäften im Aufgabenkreis des ESZB die NZBen in Anspruch, „soweit dies möglich und sachgerecht erscheint“; diesbezüglich unterstehen diese Einrichtungen Weisungen des Direktoriums (Art 12.1. UAbs 2 S 2 ESZB-Satzung). Auch kann und muss der EZB-Rat alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die Einhaltung der EZB-Vorgaben sicherzustellen, und hat hierzu ein umfassendes Informationsrecht den NZBen gegenüber.389 Unionsrechtlich wird die Rolle der nationalen Zent-

_____ 382 Vgl Siekmann/Ohler/Schmidt-Wenzel Art 132 AEUV Rn 76. 383 Beschl EZB/2004/2, ABl 2004 L 80/33, ber ABl 2009 L 19/39, idF des Beschl EZB/2016/1717, ABl 2016 L 258/17. 384 Beschl EZB/2004/12, ABl 2004 L 230/61; Text auch in Herrmann Europäisches Währungsrecht, S 208 ff. 385 S Art 17, 17a (GO-EZB) bzw Art 9 (GO-Erweiterter Rat). 386 Zu Ausschüssen etc s Art 9, 9a, 9b (GO-EZB), Art 6 ff (GO-Erweiterter Rat). 387 Art 11, 20 (GO-EZB); vgl zum „Arbeitsrecht“ der EZB etwa Feyerbacher ZESAR 2006, 11 ff. 388 Art 23, 23a (GO-EZB) bzw Art 10 (Erweiterter Rat); zum mit der allgemeinen VO 45/2001, ABl 2001 L 8/1 (abgelöst zum 11.12.2018 durch VO [EU] 2018/1725) weithin übereinstimmenden Beschl EZB/2004/3, ABl 2004 L 80/42 s Gramlich/Manger-Nestler/Orantek FG Hugo J Hahn, 2007, S 21 (34 ff); ferner Beschl EZB/2015/16, ABl 2015 L 128/27; allgem Bretthauer DÖV 2013, 677 ff. 389 Vgl Siekmann/Steven Art 14 Satzung Rn 35 f, 40 f. Ludwig Gramlich

1300 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

ralbanken allein durch Art 14.3. ESZB-Satzung geprägt, indem diese als „integraler Bestandteil des ESZB“ gekennzeichnet werden und ihnen auferlegt wird, „gemäß den Leitlinien und Weisungen der EZB“ (des Rates wie des Direktoriums) zu handeln. Ähnlich wie bei der EZB (nach Art 127 V, VI AEUV)390 erlaubt es Art 14.4. ESZB123 Satzung auch den NZBen, außer ihren Kern- noch weitere, nicht zentralbanktypische Aufgaben wahrzunehmen391 – diese sind dann keine Angelegenheiten des ESZB, sondern werden von den nationalen Stellen „in eigener Verantwortung und auf eigene Rechnung“ wahrgenommen. Da anders als im AEUV keine Eingrenzung dieser Aufgaben (nach Art oder Gegenstand) erfolgt, bedarf es einer Kontrolle, ob keine Unvereinbarkeit mit Zielen und Aufgaben des ESZB vorliegt oder eintritt. Diese erfolgt durch den EZB-Rat, der einen Verstoß freilich nur mit qualifizierter Mehrheit (zwei Drittel) der abgegebenen Stimmen feststellen kann. In Bezug auf die beiden Gruppen von EU-Staaten – Mitglieder des Eurosystems 124 und Länder mit Ausnahmeregelung – stellt Art 282 IV S 2 AEUV klar, dass letztere (und deren Zentralbanken) ihre Zuständigkeiten im Währungsbereich behalten (ebenso Art 42.2. ESZB-Satzung). Für Wirtschafts- wie für Währungsaußenpolitik unterstreicht Art 219 V AEUV auch für die Euro-Staaten (s Art 139 II UAbs 1 lit g AEUV) das Recht, „in internationalen Gremien Verhandlungen zu führen und internationale Vereinbarungen zu treffen“ („negotiate in international bodies and conclude international agreements“), soweit keine Unionszuständigkeit bzw Unionsvereinbarungen über die Wirtschafts- und Währungsunion bestehen.

ee) Euro-Geldzeichen 125 Den „Termin der Bargeldumstellung“ auf in Euro als Währungseinheit denominierte Geldzeichen (vgl Art 2 iVm Art 1 lit e VO 974/98) legt (nunmehr)392 Art 1a VO 974/98393 zusammen mit einem Anhang fest. Ab 1.1.2002 (oder einem späteren Datum) wurden seitens der EZB wie der Nationalen Zentralbanken im ESZB auf Euro lautende Banknoten (als unbeschränkt gesetzliche Zahlungsmittel) in den am Eurosystem teilnehmenden Mitgliedstaaten in Umlauf gesetzt (Art 10 VO 974/98), nachdem ihre Produktion (durch unterschiedliche Stellen)394 bereits früher erfolgt war; zudem muss

_____ 390 S oben, Rn 116, 118. 391 Vgl Siekmann/Steven Art 14 Satzung Rn 46 ff. Für die Zuweisung ist nach nationalem Recht ggf der Gesetzgeber zuständig, zu Deutschland s unten, Rn 175; BK/Häde Art 88 GG Rn 130, 628. 392 Zur relevanten Novellierung s Rats-VO 2169/2005, ABl 2005 L 346/1. 393 Vgl bereits oben, Rn 29, 104. 394 Dazu Siekmann/Freimuth Art 128 AEUV Rn 72 ff; s a Beschl EZB/2013/54, ABl 2013 L 57/29, über Zulassungsverfahren für Hersteller von für die Sicherheit des Euro bedeutsamen Materialien und Euro-Materialien; EZB/2012/8 über Zulassungsverfahren für die Herstellung von Euro-Banknoten in den Bereichen Umwelt sowie Gesundheit und Sicherheit, ABl 2012 L 126/14; ferner EuG, Rs T-553/11 – European Dynamics Luxembourg, Rn 122 ff. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1301

seither dauerhaft auch für ausreichend „Ersatz“ für vernichtete oder beschädigte Geldzeichen gesorgt werden.395 Ab dem gleichen Datum erfolgt die Ausgabe (und das Inverkehrbringen) von Euro- oder Cent-Münzen durch die Teilnehmerstaaten der Währungsunion; deren Eigenschaft als gesetzliches Zahlungsmittel ist allerdings (auf 50 Stück pro Zahlung) beschränkt (Art 11 S 3 VO 974/98).396 Nach Art 12 der Verordnung ist es ebenfalls Sache der Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass es „angemessene Sanktionen für Nachahmungen und Fälschungen“ von Euro-Banknoten und -Münzen gibt; in Deutschland wurde dies zum einen straf- (in §§ 146 ff StGB)397 bzw ordnungswidrigkeitenrechtlich (§ 12 iVm § 11 MünzG), zum andern verwaltungsrechtlich implementiert (§§ 36–37a BBankG, §§ 8, 10 MünzG). Noch auf Art 123 IV S 3 EGV gestützt war die ab Anfang 2002 geltende Rats- 126 Verordnung „zur Festlegung von zum Schutz des Euro gegen Geldfälschung erforderlichen Maßnahmen“,398 die sich auf Euro-Noten und -Münzen bezieht und einen ausdrücklichen Vorbehalt zugunsten mitgliedsstaatlichen Strafrechts enthält (Art 1 III). Sie trifft Regelungen zu „technischen und statistischen Daten“, „Zusammenarbeit und Amtshilfe“, erfasst außer gefälschten (s Art 1 II, 2) auch „nicht zugelassene Banknoten“ (Art 11) und hält in Art 6 unter Sanktionsandrohung Kreditinstitute und andere Einrichtungen (etwa Wechselstuben) dazu an, erkennbare Fälschungen aus dem Verkehr zu ziehen und diese unverzüglich den zuständigen nationalen Behörden zu übergeben.399 Ein im Jahr 2000 anlässlich der Euro-Einführung ergangener, komplementärer Rahmenbeschluss des Rates400 wurde durch eine Richtlinie ersetzt, die auch auf eine Harmonisierung des Strafrechts bei Geldfälschung abzielt.401 Dem Schutz des Euro dienen ferner einige Beschlüsse und Empfehlungen der EZB402 sowie Abkommen derselben mit EUROPOL und INTERPOL.403

_____ 395 Zur Beschaffung s Leitlinie EZB/2014/44, ABl 2015 L 47/29; allgem Beschl EZB/2007/05, ABl 2007 L 184/34, idF des Beschl EZB/2016/17, ABl 2016 L 159/21. 396 Vgl Siekmann/Freimuth Art 128 AEUV Rn 96, 102 f; ergänzend § 3 Abs 1 iVm § 2 (Abs 2) MünzG (BGBl 1999 I 2402, zuletzt geändert durch Gesetz v 22.12.2011, BGBl 2011 I 2959). 397 S ferner § 35 BBankG; Hahn/Häde § 23 Rn 97 f. 398 Rats-VO 1338/2001, ABl 2001 181/6, erstreckt auf Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung durch VO 1339/2001, ABl 2001 L 181/11; zu beiden EZB-Stellungnahme CON/00/20, ABl 2001 C 19/18; vgl Siekmann/Freimuth Art 128 AEUV Rn 134 ff. 399 S ergänzend VO (EG) 2182/2004, ABl 2004 L 373/1 über Medaillen und Münzstücke mit ähnlichen Merkmalen wie Euro-Münzen, geändert durch VO (EG) 46/2009, ABl 2009 L 17/5; vgl Siekmann/Freimuth Art 128 AEUV Rn 159; Gramlich FS Fritz Helmedag, 2018, 97 (102 ff). 400 2000/383/JI, ABl 2000 L 140/1; ähnlich in Bezug auf „unbare Zahlungsmittel“ Rahmenbeschl 2001/413/JI, ABl 2001 L 149/1. 401 2014/62/EU, ABl 2014 L 151/1. 402 Vgl etwa Leitlinien EZB/2013/11, ABl 2013 L 113/43; Beschl EZB/2003/5, ABl 2003 L 78/20, EZB/2013/10, ABl 2013 L 118/37. 403 Vgl zB Kooperationsabkommen EZB / Interpol, ABl 2004 C 134/6; Abkommen mit Europol, ABl 2015 C 123/1. Ludwig Gramlich

1302 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

Zur Gewährleistung wirksamer und einheitlicher Echtheitsprüfungen von Euro-Münzen im gesamten Euro-Währungsgebiet haben Parlament und Rat 2010 verbindliche Vorschriften für die Anwendung einheitlicher Verfahren zu solchen Prüfungen und für die Anwendung von Mechanismen für die Kontrolle dieser Verfahren durch die nationalen Behörden erlassen;404 eine 2005 publizierte Kommissions-Empfehlung405 war nicht generell befolgt worden. Früher von nationalen Zentralbanken oder anderen Stellen ausgegebene, gene128 rell (nach Auf- bzw Verruf) ungültig gewordene Noten oder Münzen in Landeswährung werden „gemäß den Gesetzen oder Gepflogenheiten der teilnehmenden Mitgliedstaaten“ weiterhin (ggf ohne zeitliche Befristung)406 zum Umrechnungskurs in die neue Währungseinheit umgetauscht (Art 16 VO 974/98). Stückelung, Merkmale und Reproduktion sowie Umtausch und Einzug von 129 Euro-Banknoten legt der EZB-Rat durch Beschluss fest, der anlässlich der (sukzessive erfolgenden) Einführung neuer Serien von Scheinen mit verbesserten Sicherheitsmerkmalen, beginnend mit der Zirkulation neuer 5-Euro-Scheine ab 2.5.2013, neugefasst wurde.407 Hingegen ergeben sich Vorgaben für Stückelung408 und technische Vorgaben von (für den Umlauf bestimmten) Euro-Münzen aus einer Ratsverordnung.409 Um einheitliche Regeln auch für die nationale(n) Seite(n) dieser Münzen410 zu schaffen, wurde der Inhalt einer Kommissions-Empfehlung hierzu411 2012 in den verbindlichen Rechtsakt (VO 975/98412) einbezogen (Art 1a–1j).413 Jährlich im Voraus genehmigt der EZB-Rat den Umfang der Ausgabe von Mün130 zen für jeden einzelnen Euro-Staat aufgrund von Schätzungen des jeweiligen Mitgliedslandes.414 Der Effizienz der Ausgabe und der Einziehung von Bargeld sowie 127

_____ 404 VO 1210/2010, ABl 2010 L 339/1; dazu auch EuG, Rs T-149/11; EuGH, Rs C-682/11 P – GS / Parlament und Rat; zur Echtheitsprüfung bei Banknoten Beschl EZB/2010/14, ABl 2010 L 267/1, geändert durch Beschl EZB 2012/19, ABl 2012 L 253/19. 405 2005/504, ABl 2005 L 184/60. 406 Zu einzelnen Regelungen https://www.ecb.europa.eu/euro/exchange/html/index.de.html. 407 ABl 2013 L 118/37; zur Ausgabe etwa Beschl EZB/2010/29, ABl 2010 L 35/26; EZB/2014/49, ABl 2015 L 50/42; vgl auch ECB, Monthly Bulletin 10/2007, 101 ff. 408 Vgl auch Kommissionsüberlegungen zu einer Ausgabe von 1- und 2-Euro-Cent-Münzen, COM(2013) 281. 409 Ursprünglich VO 975/98 (oben, Rn 29); Neufassung VO (EU) 729/2014, ABl 2014 L 194/1. Zum urheberrechtlichen Schutz des Münzbilds der gemeinsamen Seite s Kommissionsmitteilung, KOM(2001) 600, ABl 2001 C 318/3; Hahn/Häde § 23 Rn 101 ff. 410 S zB Bek über neue nationale Seite von Euro-Umlaufmünzen, ABl 2018 C 133/21. 411 2009/23, ABl 2009 L 9/52. 412 ABl 1998 L 139/6. 413 VO (EU) 566/2012, ABl 2012 L 169/8; ferner zur Vereinheitlichung der Ausgabevorschriften VO (EU) 651/2012, ABl 2012 L201/135; zum Verfahrensrahmen Beschl EZB/2015/43, ABl 2015 L 328/123. 414 Vgl zB Beschl EZB/2017/40, ABl 2017 L 344/61; Siekmann/Freimuth Art 128 AEUV Rn 90; zur Münzgeldentwicklung auch Bundesbank, Monatsbericht 1/2013, 29 ff. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1303

dem funktionierenden Kreislauf von Geldzeichen im Euro-Währungsgebiet dient eine Leitlinie415 über den Datenaustausch zwischen NZBen für „Bargelddienstleistungen“ (s Art 2 iVm Art 1). Primär auf Art 133 AEUV gestützt ist die Regelung über gewerbsmäßigen 131 Straßentransport von Euro-Bargeld zwischen Mitgliedstaaten des Euroraums.416 Um eine hierfür nach Art 4 der relevanten Verordnung nötige Erlaubnis auch in Bezug auf EU-Mitgliedsländer zu ermöglichen, deren Beitritt zum Euro-Währungsgebiet aufgrund eines Ratsbeschlusses nach Art 140 II AEUV417 erst bevorsteht, hat der Rat einen ergänzenden, erweiternden Rechtsakt auf der Basis von Art 352 AEUV erlassen.418

c) Einzelne währungspolitische Instrumente im ESZB Anders als im deutschen Recht (vor und nach der Teilnahme am Eurosystem, s § 14 132 BBankG)419 zählt das Unionsrecht die Ausgabe (und Einziehung als konträren Akt)420 von Euro-Banknoten, zudem auch die Emission von Hartgeld in der einheitlichen Währung nicht zu den geld-/währungspolitischen Aufgaben und Befugnissen; vielmehr wird diese Tätigkeit in Art 16 ESZB-Satzung (bezogen auf Art 128 I AEUV) dem Kapitel über die ESZB-„Organisation“ zugeschlagen. Erst und nur Art 17–24 ESZB-Satzung befassen sich speziell mit „währungspolitischen Aufgaben und Operationen“, ohne aber eine klare Unterscheidung zwischen beiden vorzunehmen. Klassische Zentralbank-Instrumente werden vor allem in Art 18 und 19 ESZBSatzung normiert, Erweiterungen bzw Neuerungen ermöglicht Art 20;421 angeknüpft wird hier an Art 127 II 2 Spstr 1 AEUV. Hingegen befassen sich Art 17 allgemein und Art 21, 23,422 24 ESZB-Satzung im Hinblick auf spezifische Partner mit Aspekten der Umsetzung („Operationen“), und Art 22 behandelt „Verrechnungs- und Zahlungssysteme“, bezieht sich also auf Art 127 II Spstr 4 AEUV.423

_____ 415 EZB/2012/16, ABl 2012 L 245/3. 416 VO 1214/2011, ABl 2011 L 316/1; vgl Siekmann/Herrmann/Steven Art 140 AEUV Rn 90; zu unterscheiden von Anmeldepflichten für Barmittel bei der Verbringung in die und aus der Union (nach VO [EG] 1889/2005, ersetzt durch VO [EU] 2018/1672, ABl L 284/6); dazu EuGH, Rs. C-17/16 – Oussama El Dakkak. 417 Zur Wirkung vgl Siekmann/Herrmann/Steven Art 140 AEUV Rn 69 ff. 418 VO 55/2013, ABl 2013 L 21/1. 419 Zur alten Rechtslage Hahn § 19 Rn 5 ff. 420 Vgl Hahn/Häde § 23 Rn 43. 421 Dazu Gaitanides S 131 ff; Siekmann/Keller Art 20 Satzung Rn 6 ff; Pechstein/Nowak/Häde/ Manger-Nestler Art 127 AEUV Rn 17 ff. 422 Bezogen auf Art 127 II Spstr 2 AEUV; s Siekmann/Waldhoff Art 127 AEUV Rn 47; Manger-Nestler S 258 ff; Pechstein/Nowak/Häde/Manger-Nestler Art 127 AEUV Rn 25 ff; dazu unten, Rn 172 f. 423 Vgl bereits oben, Rn 115, ferner unten, Rn 144 ff. Zur begrenzten Reichweite von Art 22 s EuG, Rs T-496/11 – UK/EZB; Empfehlung der EZB zur Änderung dieser Vorschrift, ABl 2017 C 212/14. Ludwig Gramlich

1304 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

Ausgestaltet wird das währungspolitische Instrumentarium zum einen durch verbindliche Rechtsakte (nur) des Rates, deren Rechtsgrundlage Art 133 AEUV und Art 19.2., 20 S 2 ESZB-Satzung424 bilden; auch der EZB-Rat ist seinerseits nach Art 132 I Spstr 1 AEUV und Art 22 ESZB-Satzung zur Verordnungsgebung ermächtigt. Ein Ineinandergreifen bzw Zusammenwirken von Minister- und EZB-Rats-Rechtsakten erfolgte insbesondere bei den Bestimmungen zur Mindestreserve425 sowie zur Verhängung von Sanktionen.426 In Bezug auf „monetary policy instruments and procedures“427 allgemein hält 134 hingegen einzig Art 18.2. ESZB-Satzung die EZB – dh deren Rat (Art 12.1 UAbs 1 S 2 ESZB-Satzung) – dazu an, „allgemeine Grundsätze“ sowohl für ihre eigenen „Offenmarkt“- (Art 18.1. Spstr 1 ESZB-Satzung) und „Kreditgeschäfte“ (Art 18.1. Spstr 2 ESZB-Satzung) als auch für die entsprechenden Operationen der NZBen aufzustellen, einschließlich solcher „für die Bekanntmachung der Bedingungen, zu denen sie bereit sind, derartige Geschäfte abzuschließen“. Diese Konkretisierung erfolgt in keinem verbindlichen bzw „normalen“ Rechtsakt (iSv Art 288 AEUV), sondern in einer bereits mehrfach novellierten „Leitlinie“ (iSv Art 12.1. UAbs 1 S 1 ESZB-Satzung) 428 über „geldpolitische Instrumente und Verfahren des Eurosystems“,429 die an alle teilnehmenden Zentralbanken (EZB wie NZBen) adressiert ist.430 Im Anhang (I) zu diesem Rechtsakt kennzeichnet eine „Einleitung“ näher seine 135 Bedeutung als „Handlungsrahmen“, den das Eurosystem für die einheitliche Geldpolitik im Euro-Währungsgebiet gewählt habe. „Das Dokument, das Bestandteil des rechtlichen Rahmens für die geldpolitischen Instrumente und Verfahren des Eurosystems ist, soll in Form ‚Allgemeiner Regelungen‘ für die geldpolitischen Instrumente und Verfahren des Eurosystems insbesondere dazu dienen, den Geschäftspartnern die Informationen zu liefern, die sie hinsichtlich des geldpolitischen Handlungsrahmens des Eurosystems benötigen. Die ‚Allgemeinen Regelungen‘ begründen weder Rechte noch Pflichten der Geschäftspartner. Das Rechtsverhält133

_____ 424 Zum Verfahren s Art 41 ESZB-Satzung. 425 Rats-VO 2531/98, ABl 1998 L 318/1; VO 1745/2003, ABl 2003 L 250/10; dazu BK/Häde Art 88 GG Rn 647; Siekmann/Waldhoff Art 127 AEUV Rn 38. 426 Rats-VO 2532/98, ABl 1998 L 318/4; VO EZB/1999/4, ABl 1999 L 264/21; Beschl EZB/2010/10, ABl 2010 L 226/48, EZB/2017/5, ABl 2017 L 77/1; s Pechstein/Nowak/Häde/Manger-Nestler Art 132 AEUV Rn 17; im Hinblick auf die Bankenaufsicht Zagouras WM 2017, 558 ff. 427 Vgl EZB, Die Geldpolitik der EZB, 3. Auflage 2011, S 55 ff; speziell zum Sanktionsrecht auch Gaitanides S 180 ff. 428 Dazu bereits oben, Rn 119; ursprüngliche Fassung EZB/2000/7, ABl 2000 L 310/1. 429 Leitlinie EZB/2011/14, ABl 2011 L 331/1, geändert durch Leitlinie EZB/2014/10, ABl 2014 L 166/33; ferner Leitlinie (über die Umsetzung des geldpolitischen Handlungsrahmens des Eurosystems) EZB/2014/60, ABl 2015 L 91/3; geändert durch Leitlinie EZB/2018/3, ABl 2018 L 95/23. 430 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 644, Siekmann/Waldhoff Art 127 AEUV Rn 39; Pechstein/Nowak/ Häde/Manger-Nestler Art 132 AEUV Rn 11 ff. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1305

nis zwischen dem Eurosystem und seinen Geschäftspartnern wird in entsprechenden vertraglichen oder öffentlich-rechtlichen Regelungen niedergelegt“. Kap 1 des Anhangs der Leitlinie431 gibt einen Überblick über den geldpoliti- 136 schen Handlungsrahmen des Eurosystems (insb Ziele, Instrumente, taugliche Geschäftspartner, „notenbankfähige“ Sicherheiten) und weist auf jederzeit mögliche Änderungen hin. In Kap 2 werden die Zulassungskriterien für Geschäftspartner, die an geldpolitischen Operationen des Eurosystems teilnehmen, erläutert, und Kriterien für Sanktionen bei Nichterfüllung von Verpflichtungen genannt. Kap 3 beschreibt „Offenmarktgeschäfte“ (befristete Transaktionen, endgültige Verkäufe bzw Käufe, Emission von EZB-Schuldverschreibungen, Devisenswapgeschäfte, Hereinnahme von Termineinlagen). Die EZB unterscheidet hier vier Kategorien: Hauptund längerfristige Refinanzierungsgeschäfte (HRG bzw LRG),432 Feinsteuerungsoperationen,433 allesamt befristet, sowie strukturelle Operationen.434 In Kap 4 werden die den Geschäftspartnern zur Verfügung stehenden „ständigen Fazilitäten“ vorgestellt (Spitzenrefinanzierungs-, Einlagefazilität). Kap 5 spezifiziert die Verfahren für die Durchführung der geldpolitischen Geschäfte (Tenderverfahren, Verfahren bei bilateralen Geschäften, Abwicklungsverfahren). In Kap 6 werden die Zulassungskriterien für notenbankfähige Sicherheiten bei geldpolitischen Geschäften definiert (allgemeine Merkmale, Rahmenwerk für Bonitätsbewertungen im Eurosystem, Maßnahmen zur Risikokontrolle, Grundsätze für die Bewertung von Sicherheiten, grenzüberschreitende Nutzung von Sicherheiten, Annahme von nicht auf Euro lautenden Sicherheiten in Notfällen).435 In Kap 7 wird, den in Art 19 ESZBSatzung und mehreren Sekundärrechtsakten abgesteckten rechtlichen Rahmen konkretisierend,436 das Mindestreservesystem des Eurosystems dargestellt (reservepflichtige Institute, Festlegung der Mindestreserven und deren Haltung, Meldung, Anerkennung und Überprüfung der Mindestreservebasis, Folgen der Nichteinhaltung der Reservepflicht). Einige Anlagen zu Anhang I der Leitlinie enthalten Beispiele für geldpolitische 137 Operationen und Verfahren (1), ein Glossar (2) – von „Abschlusstag“ („trade date“) bis „Zinstender“ („variable trade tender“) –, Kriterien für die Auswahl der Geschäftspartner für Devisenmarktinterventionen und Devisenswapgeschäfte für geldpolitische Zwecke (3), eine Darstellung des Berichtsrahmens für die Geld- und

_____ 431 Oben, Rn 134 f. 432 S etwa Beschl EZB/2016/10, ABl 2016 L 132/107. 433 Vgl ECB, Monthly Bulletin 11/2006, 83 ff. 434 EZB, Die Geldpolitik der EZB, 2011, 103. 435 Vgl auch – zu Gemeinsamkeiten mit und Unterschieden zu dem „collateral framework“ des (US) Federal Reserve System (Fed) und der Bank of Japan – ECB, Monthly Bulletin 10/2007, 85 ff. 436 S oben, Rn 132. Ludwig Gramlich

1306 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

Bankenstatistiken der EZB (4),437 eine Auflistung der Websites des Eurosystems (5), eine Beschreibung der gegenüber Geschäftspartnern im Falle der Nichterfüllung von Verpflichtungen anzuwendenden Verfahren und (finanziellen und sonstigen) Sanktionen (6), weitere rechtliche Anforderungen zur Bestellung eines wirksamen Sicherungsrechts an Kreditforderungen, die beim Eurosystem als Sicherheiten verwendet werden (7), sowie „Meldepflichten für Daten auf Einzelkreditebene bei asset-backed securities“438 (8). Eine weitere, spezifische „Leitlinie“ betrifft zusätzliche zeitlich befriste138 te Maßnahmen hinsichtlich der Refinanzierungsgeschäfte des Eurosystems und der Notenbankfähigkeit von Sicherheiten.439 Auf dieser Basis ergingen etwa Beschlüsse des EZB-Rates zur temporären Aussetzung der Mindestanforderungen für Bonitätsschwellenwerte für von Zypern begebene bzw garantierte marktfähige Schuldtitel.440 Der Kreis der Geschäftspartner des ESZB wird bereits in Kap 4 der ESZB139 Satzung denkbar weit gezogen; er bezieht nicht nur Kreditinstitute und andere (private) „Marktteilnehmer“ ein, sondern auch „öffentliche Stellen“ (mit Besonderheiten im Hinblick auf Art 123 AEUV)441 und umfasst auch Operationen mit Unternehmen oder Einrichtungen (einschl Zentralbanken) in Drittstaaten, diesen selbst und einschlägig tätigen Internationalen Organisationen (s Art 23 ESZB-Satzung). Nur als „ultima ratio“ ist das Instrument der Mindestreserve konzipiert;442 die140 ses einzige Zwangsmittel der EZB ermöglicht dieser, von allen in den Mitgliedstaaten des Eurosystems niedergelassenen Kreditinstituten das Halten von (gering verzinslichen) Mindesteinlagen auf Konten der EZB oder der NZBen zu fordern (Kontrahierungszwang). Der EZB-Rat hat das jeweilige Soll durch einen verbindlichen Rechtsakt im Hinblick auf Reserve-Pflichtige, -Basis und -Sätze weiter präzisiert (Art 19.1. S 1, 2 ESZB-Satzung).443 Die Durchsetzung der Reservepflicht wird durch Androhung und Verhängung von „Strafzinsen“ oder vergleichbar drakonischen Sanktionen gesichert (Art 19.1. S 3 ESZB-Satzung).

_____ 437 Detaillierte Erläuterungen hierzu bei Siekmann/Muscheler-Lorange Art 5 Satzung Rn 1 ff. 438 Eingefügt durch Leitlinie EZB/2012/25, ABl 2012 L 348/30. 439 Vgl zur Konsolidierung im Hinblick auf Leitlinie EZB/2014/60 Beschl EZB/2015/9, ABl 2015 L 91/1. 440 EZB/2016/5, ABl 2016 L 79/41; ferner Aufhebungsbeschl EZB/2013/5, ABl 2013 95/21. Eine Nichtigkeitsklage gegen den Beschl EZB/2012/153, ABl 2012 C 243/19 betr Griechenland wurde als unzulässig abgewiesen (EuG, Rs T-224/12 – Accorinti ua); auch eine Klage auf Schadensersatz blieb erfolglos (EuG, Rs T-79/13 – Accorinti ua). 441 S oben, Rn 65. 442 S oben, Rn 136. 443 Vgl VO 1745/2003 (EZB/2003/9), ABl 2003 L 250/10, letzte Änderung durch VO 2016/1705 (EZB/2016/26), ABl 2016 L 257/10. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1307

Um den Transmissionsmechanismus der Währungspolitik (allgemein in Bezug 141 auf die Entwicklung der Volkswirtschaft und speziell auf die des Preisniveaus)444 sicherzustellen, entwickelte der EZB-Rat ab Herbst 2008 verschiedene „nonstandard measures“,445 dh andere als die (weiterhin in Gebrauch bleibenden) konventionellen Maßnahmen, die nur ausnahmsweise und vorübergehend eingesetzt werden (sollen). Dazu zählen etwa „outright purchases“, also ein direkter Ankauf (statt ein bloßes Verlangen/Akzeptieren als Sicherheit [„collateral“]) von bestimmten verbrieften Verbindlichkeiten, wie zunächst beim „Securities Markets Programme“ (SMP) zwischen 2010 und 2012446 und seither als „outright monetary transactions“ (OMTs);447 diese müssen stets im Sinne einer strikten und effektiven „Konditionalität“ mit einem EFSF/ESM-Programm verbunden sein.448 Die seit Mitte 2013 vom EZB-Rat formulierte „forward guidance“ (dh Erwartung, dass die wesentlichen EZB-Zinssätze für einen längeren Zeitraum auf derzeitigem oder niedrigerem Niveau verharren)449 ist hingegen nur eine (nicht rechtsverbindliche) Form der Kommunikation, die den Marktteilnehmern bzw dem Publikum verdeutlichen soll, wie sich, abhängig von der Bewertung der Wirtschaftsentwicklung, die künftige währungspolitische Ausrichtung gestalten werde. Im Rahmen eines „quantitative easing“450 werden seit Anfang 2015 diverse An- 142 leiheankauf-Programme („asset purchase programmes“) durchgeführt,451 die der EZB-Rat im Dezember 2018 nicht mehr verlängerte; freilich sollen die Tilgungsbeträge der in diesem Rahmen erworbenen Wertpapiere noch für längere Zeit vollumfänglich wieder angelegt werden, „um günstige Liquiditätsbedingungen und eine umfangreiche geldpolitische Akkommodierung aufrechtzuerhalten“.452 Das für die Bundesbank als Nationale Zentralbank komplementär maßgebliche 143 BBankG hat die Trennung von „währungspolitischen Befugnissen“ und „Ge-

_____ 444 Vgl ECB, Monthly Bulletin 7/2000, 43 ff und 5/2010, 85 ff. 445 Vgl ECB, Monthly Bulletin 10/2010, 59 ff; Cour-Thimann/Winkler The ECB’s non-standard monetary policy measures, 2013, http://www.ecb.europa.eu/pub/pdf/scpwps/ecbwp1528.pdf. 446 Vgl Beschl EZB/2009/16, ABl 2009 L 175/18 und EZB/2011/17, ABl 2011 L 297/70 betr Programme „zum Ankauf gedeckter Schuldverschreibungen“; krit Möllers/Zeitler/Sester S 175 (183 ff). 447 Vgl Remsperger S 4 f; Pechstein/Nowak/Häde/Manger-Nestler Art 127 AEUV Rn 37 ff. Zu erfolglosen Verfassungsrechtsbehelfen in Deutschland BVerfG, 2 BvR 2728/13 ua – OMT-Programm, BVerfGE 142, 123 ff. 448 Als Bsp s Master Agreement zwischen EFSF und Griechenland (idF v Dez 2012), http:// www.efsf.europa.eu/attachments/efsf_greece_fafa.pdf. 449 Vgl ECB Monthly Bulletin April 2014, 65 ff. 450 Vgl Pechstein/Nowak/Häde/Herrmann/Dornacher Art. 123 AEUV Rn 27. 451 Vgl Pechstein/Nowak/Häde/Manger-Nestler Art 127 AEUV Rn 40; s etwa Beschl EZB/2016/16, ABl 2016 L 157/28; Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Januar 2017, 13 ff; ECB, The transmission of the ECB’s recent non-standard monetary policy measures, ECB Economic Bulletin 7/2015, 1 ff. 452 EZB, Pressemitteilung (Geldpolitische Beschlüsse) v 13.12.2018. Ludwig Gramlich

1308 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

schäftskreis“ beibehalten: Jene betreffen nur noch Notenausgabe und -einziehung453 sowie statistische Erhebungen (§ 18 BBankG, in Abrundung von Art 5 ESZBSatzung und einer spezifischen Rats-Verordnung)454. Bei (privatrechtlichen) Geschäften unterscheiden §§ 19 ff BBankG zwischen solchen mit „Kreditinstituten“ (iSv § 1 I KWG)455 und anderen Marktteilnehmern (§ 19), mit (deutschen) öffentlichen Verwaltungen (§ 20) und mit „jedermann“, dh mit allen (dazu geeigneten und gewillten) natürlichen und juristischen Personen im In- und Ausland (§ 21). Offenmarkt- und Kreditgeschäfte sind nur im Rahmen von § 19 Nr 1 BBankG vorgesehen, Kreditfazilitäten für „öffentliche Verwaltungen“ allein im engen unionsrechtlichen Rahmen erlaubt (was § 20 S 1 Halbs 2 BBankG ermöglicht).456 Zulässige „andere Geschäfte“ (nach § 25 BBankG) richten sich ebenfalls eng an den Vorgaben von Art 24 ESZB-Satzung aus (für den „eigenen Betrieb“, für „Betriebsangehörige“). Durchgeführt werden alle Transaktionen im Rahmen der verschiedenen Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) der Deutschen Bundesbank.457

d) Sonstige wichtige Aufgaben des ESZB aa) Zahlungs- und Verrechnungswesen 144 Wie jedes Währungsgebiet, benötigt auch die Eurozone eine „financial market infrastructure“, um einen sicheren und effizienten Umgang mit Zahlungen („payments“) und Finanzinstrumenten („financial instruments“) zu ermöglichen. Eine besondere Verantwortung hat das ESZB für Ausgabe und Verwendung von Bargeld, speziell von Banknoten; 458 im Hinblick auf die verschiedenen im bargeldlosen („cashless“) Zahlungsverkehr zur Erfüllung von Geldschulden eingesetzten Zahlungsinstrumente („payment instruments“) nehmen EZB und NZBen eine grundsätzlich neutrale Haltung ein, auch bezüglich der rasch zunehmenden elektronischen bzw IT-gestützten Verfahren. Bisher liegt hier ein Schwerpunkt beim Großbetragszahlungsverkehr („large145 value payment systems“): In diesem zeitkritischen, für das gesamte Zahlungssystem wesentlichen Bereich existieren das von dem ESZB geschaffene und betriebene

_____ 453 Für Münzen ist das MünzG einschlägig; oben, Rn 125 ff; Hahn/Häde § 23 Rn 4 f. 454 VO 2533/98, ABl 1998 L 318/8, geändert durch VO (EU) 2015/1373, ABl 2015 L 64/6; dazu Hahn/ Häde § 17 Rn 122. 455 Kreditwesengesetz idF der Bek v 9.9.1998, BGBl 1998 I 2776, zuletzt geändert durch Gesetz v 10.7.2018 BGBl 2018 I 1102. 456 Vgl Siekmann/Kämmerer Art 123 AEUV Rn 11; zu Art 4 VO 3603/93 s ebd, Rn 16; Pechstein/ Nowak/Häde/Herrmann/Dornacher Art 123 AEUV Rn 34. 457 Deutsche Bundesbank, Bankrechtliche Regelungen 5 (Stand 30.11.2018). 458 Vgl oben, Rn 129 f; Kokkola S 174 f. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1309

TARGET2-System,459 ferner der damit verknüpfte, private EURO1 Service von EBA CLEARING460 sowie das Continuous Linked Settlement (CLS) System für Devisentransaktionen, bei dem die EZB mit der CLS Group zusammenarbeitet.461 2018 eingeführt wurde der TARGET Instant Payment Settlement (TIPS)-Dienst, der die Verrechnung solcher Aufträge in Zentralbankgeld mit Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit an jedem Kalendertag und mit (nahezu) sofortiger Verarbeitung über TIPSGeldkonten ermöglicht.462 Bei der Hereinnahme von Sicherheiten („collateral“) für Kredite, die nur von 146 der je heimatlichen NZB vergeben werden, sieht das Correspondent Central Banking Model (CCBM)463 vor, dass hierbei auch in anderen Staaten des Eurosystems emittierte oder verwahrte, in einer Liste aufgeführte „eligible assets“464 eingesetzt werden dürfen. Für die Übertragung von „collaterals“ bestehen in jedem Land „securities settlement systems“ (SSS) – in Deutschland Clearstream Banking AG465 –, die uni- oder bilateral miteinander verknüpft sind.466 Seit 2014 bestehen Alternativen in Form von „CCBM with links“ und „triparty CCBM“.467 Ein weiterer Dienst des ESZB, TARGET2-Securities (T2S), basierend auf diversen Rechtsakten, insbesondere einer „Leitlinie“ des EZB-Rates,468 und technischen Vorschriften,469 bietet als technische Plattform eine „grundlegende, neutrale und grenzenlose europaweite Zahlungsund Wertpapierabwicklung in Zentralbankgeld“ an, so dass CSDs („central securities depositories“, Zentralverwahrer) 470 „ihre Kunden mit harmonisierten und

_____ 459 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 665; Kokkola S 245 ff; Pechstein/Nowak/Häde/Manger-Nestler Art 127 AEUV Rn 34; zum Verhältnis zu „monetary policy operations“ s ECB, Monthly Bulletin 5/2013, 103 ff, ferner ECB Monthly Bulletin 11/2008, 99 ff. Zu Leitlinien über die Bedingungen von TARGET2-EZB s Beschl EZB/2007/7, ABl 2007 L 237/71, zuletzt geändert durch Beschl EZB/2018/24 ABl 2018 L 280/1, über ein transeuropäisches automatisiertes Echtzeit-Brutto-Express-Zahlungsverkehrssystem (TARGET2) (Neufassung), Beschl EZB/2012/27, ABl 2012 L 30/1, zuletzt geändert durch Beschl EZB/2018/24, ABl 2018 L 280/1. 460 Vgl Kokkola S 180 ff; ferner https://www.ebaclearing.eu/services/euro1/overview. 461 Vgl Kokkola S 183 ff; ferner https://www.cls-group.com. 462 Beschl EZB/2018/20, ABl 2018 L 280/40. 463 Vgl EZB, Das Korrespondenzzentralbank-Modell (CCBM), Januar 2011; ferner Kokkola S 259 ff. 464 Zur Einführung vgl ECB, Monthly Bulletin 5/2006, 75 ff; die Kriterien ergeben sich aus der Leitlinie EZB/2014/60, ABl 2015 L 91/3. 465 Vgl http://www.clearstream.com/clearstream-en; aktuelle Liste unter: https://www.ecb. europa.eu/paym/coll/coll/eligiblesss/html/index.en.html. 466 Vgl Kokkola S 205 ff. 467 Vgl Kokkola S 263 ff; ECB, Correspondent Banking Model (CCBM) – Procedures for Eurosystem counterparties, Jan 2016; Bindseil ua The Eurosystem, collateral framework explained, ECB Occational Paper No 189, May 2017; Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 2018, 43 ff. 468 EZB/2012/3, ABl 2012 L 215/19. 469 Vgl auch Kokkola S 265 ff; Pechstein/Nowak/Häde/Manger-Nestler Art 127 AEUV Rn 35. 470 Vgl VO (EU) 909/2014, ABl 2014 L 257/1, idF der VO (EU) 2016/1033, ABl EU L 175/1; zur Definition „Zentralverwahrer“ s Art 2 I Nr 1 iVm Nr 10; ferner ECB, Framework for the assessment of securiLudwig Gramlich

1310 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

standardisierten Wertpapierabwicklungsdienstleistungen nach dem Grundsatz ‚Lieferung gegen Zahlung‘ in einem integrierten technischen Umfeld mit grenzüberschreitenden Kooperationsmöglichkeiten versorgen können“ (s Erwägungsgrund 2 und Art 1 I der Leitlinie 2012). Auch hier gilt das Prinzip, dass alle Gegenparteien („counterparties“) bei Zentralbankgeschäften gleich behandelt werden.471 Die neueste Weiterentwicklung der Marktinfrastruktur ist TARGET Instant Payment Settlement (TIPS).472 Für Euro-Massenzahlungssysteme („retail payment systems“) steht im Vor147 dergrund die Beteiligung des Eurosystems (als Beobachter)473 an der Schaffung eines einheitlichen Europäischen Zahlungsverkehrsraums/Single European Payment Area (SEPA), maßgeblich getragen von dem (privaten) European Payments Council (EPC)474, wobei die EZB über ein Euro Retail Payments Board (ERPB) mitwirkt.475 wird. Den rechtlichen Rahmen für Überweisungen und Lastschriften in Euro gibt eine auf Art 114 AEUV gestützte Verordnung von Europäischem Parlament und Rat von 2012476 vor; sie knüpft an die (1.) Zahlungsdienste-Richtlinie („payment services directive“, PSD1) von 2007477 sowie eine Verordnung über grenzüberschreitende Zahlungen in der Gemeinschaft/Union von 2009478 an. Die EZB beschreibt die Funktion des ESZB insoweit als dreigestaltig: 148 „Um seinen rechtlichen und gesetzlichen Auftrag im Bereich des Zahlungsverkehrs zu erfüllen, agiert das Eurosystem […] als Betreiber, Aufseher und Katalysator. Als Betreiber stellt das Eurosystem Einrichtungen für die Abwicklung von Euro-Zahlungen in Zentralbankgeld und für die grenzüberschreitende Lieferung von Sicherheiten bei geldpolitischen Geschäften und Innertageskrediten des Eurosystems zur Verfügung. Als Aufseher überwacht das Eurosystem die Zahlungs-, Wertpapierclearing- und Wertpapierabwicklungssysteme im Euro-Zahlungsverkehr, beurteilt deren Sicherheit und Effizienz und veranlasst gegebenenfalls Änderungen. Die Aufsichtsfunktion des Eurosystems erstreckt sich auch auf Zahlungsinstrumente (einschließlich Zahlkarten), da diese ein integraler Bestandteil des Zahlungssystems sind. Als Katalysator strebt das Eurosystem die Verbesserung der Effizienz und Sicherheit sämtlicher Marktvorkehrungen für Zahlungen, Clearing und Abwicklung an. Dabei fördert das Eurosystem die Entwicklung eines effizienten und integrierten

_____ ties settlement systems and links to determine their eligibility for use in Eurosystem credit operations, Jan 2014. 471 Vgl Kokkola S 309 ff; Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Dez 2017, 69 (74 ff). 472 Vgl Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Dez 2017, 69 (81 ff). 473 Vgl https://www.ecb.europa.eu/paym/retpaym/paymint/html/index.en.html. 474 Vgl https://www.europeanpaymentscouncil.eu/; s a Kokkola S 187 ff. 475 Vgl https://www.ecb.europa.eu/paym/retpaym/shared/pdf/ERPB_mandate.pdf; ferner zB https://www.ecb.europa.eu/paym/retpaym/shared/pdf/ERPB_annual_report_2017-18.pdf. 476 VO 260/2012, ABl 2012 L 94/22; VO 248/2014, ABl 2014 L 84/1; s a bereits EZB, Der einheitliche Euro-Zahlungsverkehrsraum (SEPA), Juli 2009. 477 2007/64, ABl 2007 L 319/1; abgelöst durch RL (EU) 2015/2366, ABl 2015 L 337/35 (PSD2). 478 VO 924/2009, ABl 2009 L 266/11; zum Änderungsvorschlag vom 28.3.2018 s COM(2018) 163. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1311

Marktes für Massenzahlungen in Europa in den Bereichen Überweisungen, Lastschriften und Kartenzahlungen“.479

Letztlich sind hier auch „Dienstleistungen des Eurosystems im Bereich der Verwal- 149 tung von Währungsreserven“ (Eurosystem Reserve Management Services [ERMS]) einzuordnen, die von den einzelnen NZBen in unterschiedlichem Umfang480 in Bezug auf in Euro denominierte Werte für Zentralbanken und Währungsbehörden außerhalb des ESZB er-bracht werden.481

bb) Gewährleistung von Finanzstabilität Die Überwachung der Infrastruktur der Finanzmärkte zählt zugleich zu den 150 Aufgaben des ESZB im Bereich der Finanzstabilität nach Art 127 II, IV, V, 282 V AEUV und Art 3.1., 3.3., 4, 22 und 25.1. ESZB-Satzung.482 In regelmäßigen Abständen publiziert die EZB ihre Erkenntnisse in „financial stability reviews“483 sowie über die Entwicklung der „finanziellen Integration“ in Europa.484 Bereits seit Errichtung des Eurosystems fand eine Zusammenarbeit mit (Banken-)Aufsichtsbehörden im Ausschuss für Bankenaufsicht (European Banking Committee, EBC) statt.485 Anfang 2011 wurde nach institutionellen Änderungen im Zusammenhang mit der Schaffung des Europäischen Ausschusses für Systemrisiken (European Systemic Risk Board, ESRB) mit maßgeblicher Beteiligung der EZB486 ein Ausschuss für Finanzstabilität (Financial Stability Committee, FSC) eingerichtet, zur Unterstützung der EZBBeschlussorgane auf diesem Gebiet487; eine Novellierung auch dieser Rechtsakte ist im Frühjahr 2019 abgeschlossen worden.488 Schließlich wird die EZB hier auch (aus

_____ 479 Dh SEPA; vgl EZB, Monatsbericht 1/2012, 81 (82); so auch Kokkola S 243 ff, 271 ff, 291 ff. 480 Vgl https://www.ecb.europa.eu/paym/erms/html/index.en.html. 481 Vgl Leitlinien EZB/2006/4, ABl 2006 L 107/54, EZB/2009/11, ABl L 139/14, EZB/2013/14, ABl 2013 L 138/19; Neufassung EZB/2018/14, ABl 2018 L 136/81; Depenheuer/Kahl/Guericke/Kleine, S 203 ff. 482 Krit zu diesem schwer mess- und bestimmbaren Begriff Remsperger S 13 ff; Pechstein/Nowak/ Häde/Manger-Nestler Art 127 AEUV Rn 53, 58; s ferner Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 2013, 41 (43 ff), auch zur (erweiterten) eigenen Rolle aufgrund des Gesetzes zur Überwachung der Finanzstabilität (BGBl 2012 I 2369). 483 Zweimal jährlich, alle Ausgaben verfügbar unter: https://www.ecb.europa.eu/pub/fsr/html/ index.en.html. 484 ECB, Financial Integration in Europe (zuletzt Mai 2018). 485 Vgl EZB, Monatsbericht 4/2000, 68 ff; Siekmann/Waldhoff Art 127 AEUV Rn 70. 486 Art 4 ff VO 1092/2010, ABl 2010 L 331/1; unten, Rn 151. 487 Vgl ECB, Annual Report 2011, S 157; https://www.ecb.europa.eu/ecb/tasks/stability/framewo rk/html/index.en.html. 488 EU-Kommission, Fact Sheet, 1.4.2019, http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-19-1928_en. htm. Ludwig Gramlich

1312 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

eigener Initiative oder bei Konsultationen) im Rahmen von nationalen wie EURechtsetzungsvorhaben beratend tätig.489

cc) ESZB und EU-Finanzaufsicht 151 Wegen ihres Fachwissens im Bereich der „Makroaufsicht“ über das Finanzsystem

ist die EZB wesentliches Mitglied im Europäischen Ausschuss für Systemrisiken (ESRB).490 Sie stellt das Sekretariat des ESRB;491 ihr Präsident und Vizepräsident sind (wie auch die Präsidenten der nationalen Zentralbanken) stimmberechtigt im Hauptorgan Verwaltungsrat vertreten.492 Hingegen bestand lange Zeit keine direkte, die allgemeine Verknüpfung unter dem Dach des Europäischen Systems der Finanzaufsicht (European System of Financial Supervision, ESFS) vertiefende institutionelle Einbindung der EZB in die europäische Bankenaufsicht, für die seit Anfang 2011 ein organisatorischer Kern in Gestalt der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde (European Banking Authority, EBA) geschaffen wurde.493 Hier sind jedoch seit 2013 bedeutsame Änderungen erfolgt, die (rechtlich nicht 152 ganz präzise) als Errichtung einer „Bankenunion“ bezeichnet werden. Im Mittelpunkt dieser Reform im Sinne stärker Einschaltung von EU-Institutionen494 steht (als erste“ von drei „Säulen“) ein im Verordnungswege geschaffener einheitlicher Aufsichtsmechanismus (Single Supervisory Mechanism, SSM),495 flankiert von einem einheitlichen Mechanismus zur Bankenabwicklung (Single Resolution Mechanism,

_____ 489 Vgl Pechstein/Nowak/Häde/Manger-Nestler Art 127 AEUV Rn 51; etwa Stellungnahme CON/2012/55 zum Entwurf des deutschen Finanzstabilitätsgesetzes, http://www.ecb.europa.eu/ecb/ legal/pdf/en_con_2012_55_f_sign.pdf. 490 Vgl Gluch ua, Central bank involvement in macro-prudential oversight, ECB Legal Working Paper No 14, Jan 2013; als Bsp für Aktionen des ESRB s Empfehlung(en) zu Zwischenzielen und Instrumenten für makroprudenzielle Maßnahmen ABl 2013 C 170/1. 491 Art 4 IV VO 1092/2010, ABl 2010 L 331/1. 492 Art 6 I (a), (b) iVm Art 4 I, II VO 1092/2010, ABl 2010 L 331/1. 493 VO 1093/2010, ABl 2010 L 331/12; zum ESFS s Art 2 dieser VO; vgl allgem Kämmerer NVwZ 2011, 1281 ff; Michel DÖV 2011, 728 ff; Lehmann/Manger-Nestler EuZW 2010, 87 ff; vgl ferner Häde EuR 2011, 662 ff; Hilpold/Steinmair/Hilpold S 71 ff; Bundesbank, Monatsbericht 9/2011, 83 (89 ff); Kaufhold S 341 ff; Augsberg Die Verwaltung 49 (2016) 369 (390 ff); zum Rechtsschutz Manger-Nestler Kreditwesen 10/2012, 38 ff; Kaufhold S 360 ff; zur Verlagerung des Sitzes nach Paris VO (EU) 2018/1717, ABl 2018 L 291/1. 494 Zur „roadmap“ s Mitteilung COM(2012) 510; dazu Schneider EuZW 2012, 721 f und EuZW 2013, 452 ff; Kämmerer NVwZ 2013, 830 ff; Geber EuZW 2013, 298 ff. 495 Vgl Jahn/Schmitt/Geier/Geier S 28 ff; VO (EU) 1024/2013, ABl 2013 L 287/63; ferner interinstitutionelle Vereinbarung zwischen Parlament und EZB betr demokratische Rechenschaftspflicht und Kontrolle (2013/694/EU), ABl 2013 L 320/1; zum materiellen Recht insbes VO 575/2013, ABl 2013 L 176/1 (Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen), ber ABl 2013 L 321/6, und RL 2013/36, ABl 2013 L 176/338 (Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen). Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1313

SRM) sowie einem Einlagensicherungssystem auf Unionsebene (European Deposit Insurance Scheme, EDIS). Für den SSM wurde 2013 durch einen neuen496 und einen Änderungsrechtsakt497 die rechtliche Basis gelegt, im folgenden Jahr dann der SRM als Rechtsrahmen für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen verabschiedet.498 Letztlich soll ein einheitliches (materielles) Regelwerk („single rulebook“)499 geschaffen werden, zu dem auch eine gemeinsame Einlagensicherung (EDIS) gehört500; bislang kamen aber nur Richtlinien zur Harmonisierung nationaler Systeme zustande.501 Die Verordnungen des Parlaments und des Rates räumen unter Anpassung, 153 aber Beibehaltung der bisherigen Aufsichtsbehörde EBA der EZB eine führende Rolle bei der Bankenaufsicht ein. Art 1 (S 1) der auf Art 127 VI AEUV gestützten SSM-VO besagt insoweit: „Durch diese Verordnung werden der EZB mit voller Rücksichtnahme auf und unter Wahrung der Sorgfaltspflicht für die Einheit und Integrität des Binnenmarkts auf der Grundlage der Gleichbehandlung der Kreditinstitute mit dem Ziel, Aufsichtsarbitrage zu verhindern, besondere Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute übertragen, um einen Beitrag zur Sicherheit und Solidität von Kreditinstituten sowie zur Stabilität des Finanzsystems in der Union und jedem einzelnen Mitgliedstaat zu leisten“. Zweifelhaft bleibt jedoch zum einen, ob insgesamt betrachtet lediglich einzelne spezielle Aufgaben auf die Unionsebene übertragen worden sind,502 und zum anderen, ob trotz der explizit auch hierfür (in Art 19 SSM-VO) postulierten „Unabhängigkeit“503 die konkrete Ausgestaltung als funktionsfähige und hinreichende klare Trennung zwischen währungspolitischen und Aufsichtsbefugnissen gelten kann.504 In den ersten Ent-

_____ 496 VO (EU) 1024/2013. 497 VO (EU) 1022/2013, ABl 2013 L 287/5; dazu Lehmann/Manger-Nestler, ZBB 2014, 2 ff; Schuster, Neumann, Gurlit, Schneider EuZW 2014, 3 ff, 9 ff, 14 ff, 18 ff. 498 VO (EU) 806/2014, ABl 2014 L 225/1; RL 2014/59/EU, ABl 2014 L 173/190, idF der RL (EU) 2017/2399, ABl L 2017 345/96. 499 Vgl Lefterov The Single Rulebook: legal issues and relevance in the SSM context, ECB Legal Working Paper No 15, Okt 2015. 500 Vgl COM(2015) 586 final; https://ec.europa.eu/info/publications/commission-proposal-euro pean-deposit-insurance-scheme-edis_en; Camassi ua Completing the Banking Union with a European Deposit Insurance Scheme: who is afraid of cross-subsidization?, ECB Occasional Paper No 208, April 2018. 501 RL 2014/49/EU, ABl 2014 L 173/149; dazu DGSD-Umsetzungsgesetz v 28.5.2015, BGBl I 786. 502 Manger-Nestler S 266; Calliess DÖV 2013, 785 (794); jüngst BVerfG, 2 BvR 1685/14, 2631/14 – Europäische Bankenunion, Rn 159 ff. 503 Anders als bei Währungspolitik (s Rn 155 ff) steht hier die Unabhängigkeit von (privaten) Marktteilnehmern im Vordergrund; s Gramlich/Manger-Nestler SZIER 2012, 201 (238); anders Forkel ZRP 2011, 100 ff.; nunmehr BVerfG, 2 BvR 1685/14, 2631/14 – Europäische Bankenunion, Rn 128 ff. 504 Vgl Pechstein/Nowak/Häde/Manger-Nestler Art 127 AEUV Rn 55; näher Gren, The Eurosystem and the Single Supervisory Mechanism, ECB Legal Working Paper No 17, Juli 2018. Ludwig Gramlich

1314 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

scheidungen zu aufsichtlichen Maßnahmen der EZB hat das EuG insoweit keine Bedenken geäußert, sondern eher die dominante Position der Zentralbank auch den nationalen Aufsichtsbehörden gegenüber explizit hervorgehoben.505 Diskussionswürdig ist zudem, ob auch in diesem (erweiterten) Aufgabenbereich das gleiche Spektrum an Rechtsakten verfügbar ist wie im Rahmen der Geld- und Währungspolitik.506

e) Währungs- und Haushalts-/Fiskalpolitik 154 Dass die EZB betreibe (über ihr „Mandat“ hinaus) Wirtschafts- und speziell Fiskal-

politik betreibe, wird immer wieder kritisiert.507 Die relevanten primärrechtlichen Regelungen (im Hinblick auf Konvergenzanforderungen nach Art 140 AEUV sowie insbesondere die korrektiven Möglichkeiten gem Art 122 ff AEUV)508 sind im Verlauf von Banken- und Staatsschuldenkrise unter (Aufweichungs-)Druck geraten. Auch diverse „nicht konventionelle Maßnahmen“ bis hin zu OMT 509 und APP510 oder TLTROs511 können aber auf währungspolitische (Motive und) Kompetenzen gestützt werden; der EuGH hat insoweit die vom BVerfG mehrfach erhobenen Bedenken, die bis hin zum Vorwurf eines Handelns „ultra vires“ reichen,512 nicht geteilt.513 Die nicht unwichtige, aber letztlich nur als Mitwirkung ausgestaltete Rolle der EZB im ESMVertrag ist ebenfalls schwerlich als (unzulässige) Ausstattung mit fiskalpolitischen Entscheidungsrechten zu verstehen,514 im SSM wurde bewusst eine spezifische organisatorische Konstruktion („firewall“) gewählt, und im SRM sind der EZB gerade

_____ 505 EuG, Rs T-122/15 – L-Bank (dazu N Ipsen/Röh WM 2017, 2228 ff); Rs T 712/15 und T-62/16 – Crédit Mutual Arkéa. 506 Vgl etwa Beschl EZB/2014/3, ABl 2014 L 69/107 (Bestimmung der Kreditinstitute, die umfassender Bewertung unterliegen); VO EZB/2014/26, ABl 2014 L 179/72 (Errichtung einer Schlichtungsstelle, Festlegung ihrer Geschäftsordnung); Empfehlung (EZB/2015/2), ABl 2015 C 51/1 (Politik bezgl Dividendenausschüttung); Leitlinie (EZB/2016/38), ABl 2016 L 306/37 (Anerkennung institutsbezogener Sicherungssysteme für Aufsichtszwecke). 507 Vgl Matthes/Demary Wirtschaftsdienst 2013, 607 ff; EZB, Monatsbericht 7/2012, 53 ff. 508 Vgl oben, Rn 65 ff. 509 Vgl oben, Rn 141. 510 Vgl oben, Rn 142. 511 Zu „targeted longer-term refinancing operations vgl https://www.ecb.europa.eu/mopo/ implement/omo/tltro/html/index.en.html; s a Alvarez ua The use of the Eurosystem’s monetary instruments and operational framework since 2012, ECB Occasional Paper No 188, May 2017. 512 Vgl BVerfG, 2 BvR 859/15 ua – PSPP, BVerfGE 146, 216 ff; dazu Ruffert JuS 2017, 1229 ff; unten, Rn 162. 513 EuGH, Rs C-62/14 – Gauweiler ua; dazu Ohler NVwZ 2015, 1001 ff; Klement JZ 2015, 754 ff; Manger-Nestler/Böttner NJ 2015, 422 ff; zuletzt Rs C-493/17 – Weiss ua (zu PSPP); dazu Ruffert JuS 2019, 181 ff. 514 Vgl insb Art 4 III, 5 III, 6 II, 13, 14 V ESMV. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1315

keine Befugnisse zugewiesen worden, vielmehr wurde ein eigenes Gremium (der Single Resolution Board [SRB]) geschaffen.515 Am ehesten problematisch erscheint die Gewährung von „Sofort-Liquiditätshilfe“ („emergency liquidity assistance“ [ELA])516 durch Nationale Zentralbanken, auch wenn es sich hier an sich um ein typisches Verhalten von Zentralbanken als „lender of last resort“ handeln mag. Insoweit ist eine strikte Handhabung der Kontrolle (nach Art 14.4. ESZB-Satzung) solcher Kredite durch den EZB-Rat geboten.

f) Unabhängigkeit und Legitimation der Zentralbanken im ESZB Eine mehr oder weniger dem politischen Willensbildungsprozess entzogene, allein 155 aufgrund fachlicher Expertise handelnde Zentralbank ist ein Postulat, das zahlreiche Nationalökonomen zur Voraussetzung „guter“ Währungspolitik erheben; diese Auffassung wird zudem durch diverse empirische Studien bestärkt.517 Insbesondere in Deutschland kommen prägende geschichtliche Erfahrungen aus zwei Hyperinflationen hinzu, die wesentlich dazu geführt haben, im Vorfeld der Errichtung einer europäischen Währungsunion die Forderung nach „Unabhängigkeit“ einer Europäischen Zentralbank als Bedingung für eine deutsche Mitwirkung an jener Einrichtung in Art 88 S 2 GG aufzunehmen.518 Art 130 AEUV (= ex-Art 108 EGV) garantiert primärrechtlich (und bekräftigt durch Art 7 ESZB-Satzung am Anfang des Organisations-Kapitels) die „institutionelle“ bzw materielle Unabhängigkeit des ESZB519 – der EZB wie der NZBen – sowohl gegenüber Organen, Einrichtungen oder anderen (auch erst neu geschaffenen)520 Stellen der Union als auch jedweden mit Hoheitsgewalt ausgestatteten Stellen der Mitgliedstaaten (nicht nur solcher des Eurosystems) und auch noch „anderen“ Stellen, etwa von/in Drittstaaten.521 In seiner Eigenschaft als Mitglied des EZB-Rates unterliegt der Präsident der Bundesbank auch keinen Weisungen des „eigenen“ Vorstands (§ 7 BBankG).522

_____ 515 Vgl Art 1 II SRM-VO; zur Einbindung der EZB vor allem Art 8 I, V, 10 I, 11 I, IV, V, 16 I, III; Pechstein/Nowak/Häde/Manger-Nestler Art 127 AEUV Rn 57; dazu Jahn/Schmitt/Geier/Manger-Nestler S 236 ff; zur Entscheidungspraxis Skauradszun/Beermann WM 2018, 1041 ff; zum Verfahren vor dem Beschwerdeausschuss nach Art 85 SRM-VO Skaraudszun WM 2017, 1041 ff, 1085 ff; zu Klagen etwa EuG, Rs T-486/18 – OCU. 516 Vgl bereits ECB, Financial Stability Review 12/2006, S 171 f; krit Remsperger S 6 f. 517 Vgl etwa Zeitler GS Dieter Blumenwitz, S 981 (997 ff). 518 Vgl Manger-Nestler S 116 ff. 519 BK/Häde Art 88 GG Rn 591; Manger-Nestler S 164 ff; Gaitanides S 45 ff; Pechstein/Nowak/ Häde/Manger-Nestler Art 130 AEUV Rn 6 ff. 520 BK/Häde Art 88 GG Rn 593; Pechstein/Nowak/Häde/Manger-Nestler Art 130 AEUV Rn 12 f. 521 BK/Häde Art 88 GG Rn 597. 522 BK/Häde Art 88 GG Rn 598; Siekmann/Steven Art 14 Satzung Rn 6; Pechstein/Nowak/Häde/ Manger-Nestler Art 130 AEUV Rn 16. Ludwig Gramlich

1316 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

Dem an EZB und NZBen gerichteten Verbot aus Art 130 S 1 AEUV entspricht der als Gebot formulierte S 2, der demselben Kreis von „Stellen“ schon jeden Versuch einer Beeinflussung der Mitglieder der Beschlussorgane untersagt. 523 § 12 I S 1 BBankG ist demgegenüber enger, weil er sich nur auf „Befugnisse nach diesem Gesetz“ und „Weisungen“ allein „der Bundesregierung“ bezieht; der Anpassungspflicht aus Art 131 AEUV dürfte damit kaum hinreichend genügt sein.524 Funktionelle Unabhängigkeit folgt aus dem in Art 127 I AEUV statuierten Pri157 mat des Ziels Preisstabilität, welches auch (ebenso wie, jedoch wieder mit anderem Tonfall, § 12 I S 2 BBankG)525 die grundsätzliche Pflicht zur Unterstützung der allgemeinen Wirtschaftspolitik begrenzt;526 diesem Zweck dienen zudem die Kooperationsregeln des § 13 BBankG. Personelle Unabhängigkeit der Mitglieder der Beschlussorgane (bei den NZBen explizit nur der Präsidenten) soll sichergestellt werden durch über reguläre Parlamentsperioden hinausreichende, vor dem EuGH einklagbare (Mindest-)Amtszeiten der Organ-Mitglieder (Art 282 II AEUV, Art 14.2 ESZB-Satzung)527 sowie (insoweit nur für das Direktorium) durch den Ausschluss der Wiederernennung. Für dessen Mitglieder ist als Grundsatz hauptamtliche und ausschließliche Tätigkeit für die EZB normiert (Art 11.1 ESZB-Satzung), einschließlich der Zahlung eines angemessenen Gehalts.528 Finanzielle Unabhängigkeit der EZB gewährleisten schließlich die Vorschriften über das Kapital (und die NZBen als alleinige Eigner),529 die spezielle Art der Rechnungsprüfung (Art 27 ESZB-Satzung) sowie generell Art 282 III S 3 AEUV (betr „Verwaltung ihrer Mittel“).530 Für die Bundesbank wie für andere NZBen ist dies nicht unionsrechtlich normiert und im BBankG allenfalls partiell (in § 26 II) behandelt. Unabhängigkeit nach EU-Recht gilt freilich weder im Bereich eigener Aufgaben einer NZB (nach Art 14.4. ESZB-Satzung) noch generell für Zentralbanken der Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung (Art 42.2. ESZB-Satzung).531

156

_____ 523 BK/Häde Art 88 GG Rn 592; Pechstein/Nowak/Häde/Manger-Nestler Art 130 AEUV Rn 17; ähnlich Gaitanides S 74. 524 Hierzu auch oben, Rn 111; s ferner Häde FG Hugo J Hahn, 2007, S 51 (67 ff). 525 Vgl Manger-Nestler S 41 f, 164. 526 BK/Häde Art 88 GG Rn 600; Gaitanides S 74 ff; Pechstein/Nowak/Häde/Manger-Nestler Art 130 AEUV Rn 9 ff. 527 Vgl Siekmann/Steven Art 14 Satzung Rn 10 ff; Gaitanides S 197; Pechstein/Nowak/Häde/ Manger-Nestler Art 130 AEUV Rn 20 f, 23; s den Fall des lettischen Zentralbankpräsidenten (EZB, Pressemitteilung v 6.4.2018), EuGH, Rs. C-202/18 und 238/18 – Rimsevics, EZB/Lettland. 528 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 601 ff; Manger-Nestler S 163 f; Siekmann/Steven Art 11 Satzung Rn 3, 8, 10. 529 Vgl Art 28 ESZB-Satzung; BK/Häde Art 88 GG Rn 609; Manger-Nestler S 166; eingehend Gaitanides S 55 ff. 530 Vgl Pechstein/Nowak/Häde/Manger-Nestler Art 130 AEUV Rn 25 f. 531 Pechstein/Nowak/Häde/Manger-Nestler Art 130 AEUV Rn 4, 11. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1317

Demokratische Legitimation und Unabhängigkeit gouvernementaler Einrich- 158 tungen (wie des Eurosystems) sind nicht per se unvereinbar: Auf EU-Ebene lassen sich insoweit keine konkreten Rechtsfolgen aus Art 10 I AEUV ableiten.532 Gegenüber dem Europäischen Parlament bestehen Rechenschaftspflichten (Art 284 III AEUV). Hingegen ist dieses EU-Organ vor der Bestellung von Direktoriumsmitgliedern – und auch nur dieser – lediglich anzuhören (Art 283 II UAbs 2 AEUV). Schließlich bezieht sich die (materielle) Unabhängigkeit auf ein einziges (vorrangiges) Ziel, nämlich Preisstabilität, dessen Einhaltung zudem (eingeschränkt) justiziabel ist,533 und findet darin ihre Rechtfertigung. Im Kontext des nationalen (deutschen) Verfassungsrechts hat das BVerfG Art 88 S 2 GG als eine mit Art 79 III GG vereinbare Modifikation des Staatsstrukturprinzips Demokratie (Art 20 II GG) angesehen – freilich lange bevor die Währungsunion in ihre Endstufe eintrat.534 Auch wenn Transparenz bzw „Offenheit“ (Art 15 I AEUV) für demokratische 159 Herrschaft typisch ist, so schafft sie zwar größere Akzeptanz, nicht aber auch Legitimation. Speziell der ansonsten auf Unionsebene subjektiv-rechtlich verbürgte Informationszugang wird (auch) für die EZB auf „Verwaltungsaufgaben“ beschränkt. Die insoweit zu den allgemein geltenden Regelungen535 weithin parallelen Durchführungsbestimmungen erstrecken das Recht zwar auf alle „Dokumente“ (Art 3 lit a des relevanten Beschlusses),536 enthalten aber eine breite Ausnahme (Art 4). Das EuG hat Ende 2012 eine hierauf gestützte Verweigerung der Informationspreisgabe gebilligt, ohne auch Art 42 GRCh zu prüfen.537 „Accountability“ der Öffentlichkeit gegenüber erkennt das Eurosystem bereits seit langem an;538 ob dies auch zu einer zeitnahen (partiellen) Publikation von Sitzungsprotokollen – über lediglich allgemeine Informationen zu Verlauf und Ergebnis von Debatten in Pressekonferenzen hinaus539 – führen wird, ist ungewiss. Der besseren und breiteren Information des interessierten Publikums dient 160 schließlich die Veröffentlichung einer Vielzahl von statistischen Daten auf den

_____ 532 BK/Häde Art 88 GG Rn 616; Pechstein/Nowak/Häde/Manger-Nestler Art 130 AEUV Rn 27; ausführlich Gaitanides S 199 ff. 533 BK/Häde Art 88 GG Rn 617 iVm Rn 620; Gaitanides S 248; Siekmann/Herrmann Art 35 Satzung Rn 2; Pechstein/Nowak/Häde/Manger-Nestler Art 130 AEUV Rn 29 ff. 534 BVerfG, 2 BvR 2134, 2159/92 – Maastricht, BVerfGE 89, 155 (208 f). 535 VO 1049/2001, ABl 2001 L 154/43. 536 EZB/2004/3, ABl 2004 L 80/42, geändert durch Beschl EZB/2015/1, ABl 2015 L 84/64. 537 Rs T-590/10 – Thesing, Bloomberg Finance LP/EZB; ein Rechtsmittel blieb erfolglos (Rs C-28/ 13 P): Rs T-251/15 – Espirito Santo Financial (Portugal), Rechtsmittel anhängig als Rs C-442/18 P (ABl 2018 C 445/2); Rs T-116/17 – Spiegel Verlag Rudolf Augstein ua; s bereits EuG, Rs T-3/00 – Pitsiorlas. 538 Vgl ECB, Monthly Bulletin 11/2002, 45 ff; ECB Economic Bulletin 5/2018, 47 ff; https://www. ecb.europa.eu/ecb/orga/accountability/html/index.de.html. 539 Vgl bereits Manger-Nestler S 273 f. Ludwig Gramlich

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Websites von EZB und NZBen; Zugang und Wiederverwendung auch zu kommerziellen Zwecken sind grundsätzlich frei.540 Aspekte moderner „public corporate governance“ finden sich vor allem in 161 Ethik-Rahmenregeln für die EZB-Beschäftigten,541 einem „Verhaltenskodex“ für Mitglieder des EZB-Rates (und zusätzlich für solche des Direktoriums),542 Vorschriften zu „fraud prevention“543 und spezifischen Datenschutzbestimmungen.544

4. Rechtsschutz gegen Maßnahmen der EU-Wirtschafts- und Währungspolitik a) Grundlagen und Grenzen gerichtlicher Kontrolle 162 Eine gerichtliche Kontrolle einschließlich Korrektur von Rechtsakten oder anderen Maßnahmen im Bereich der Wirtschafts- oder Währungspolitik kann auf Unionswie auf nationaler Ebene stattfinden; stellt sich im letztgenannten Fall eine Frage nach der Auslegung von EU-Recht, kann bzw muss diese vorab vom EuGH geklärt werden (Art 267 AEUV).545 Maßgeblich für den je zielführenden Rechtsschutz ist der Urheber der angegriffenen (oder auch erst begehrten) Maßnahme: Handelt es sich dabei um ein (ggf mit anderen Stellen zusammenwirkendes) EU-Organ, kommen hiergegen Rechtsbehelfe vor mitgliedsstaatlichen Gerichten von vornherein nicht in Betracht. Allein in dem (eher theoretischen) Fall, dass Organe oder andere Stellen der Union jenseits der Verbandskompetenz – „ultra vires“ – tätig würden,546 könnte (und dürfte) ein nationales Gericht befinden. Hieraus, so das BVerfG, ergebe sich (im Hinblick auf die Nichteinhaltung der Grenzen des jeweiligen innerstaatlichen komplementären „Integrationshebels“, in Deutschland Art 23 I iVm 79 III GG)547 keine rechtliche Geltung oder Bindung für den jeweiligen Mitgliedstaat und auch für dessen Bürger bzw Einwohner. Handeln hingegen nationale Stellen, wenn auch auf der Basis bzw in Umsetzung oder Durchführung EU-rechtlicher Regelungen, so bleiben dies (mehr oder weniger strikt unionsrechtlich determinierte) innerstaatli-

_____ 540 Zur „re-use policy“ der EZB betr Statistiken s https://www.ecb.europa.eu/stats/ecb_statistics/ governance_and_quality_framework/html/usage_policy.en.html. 541 „Ethik-Rahmen“, ABl 2015 C 204/3, geändert ABl 2016 C 31/3; zur Errichtung eines Ethik-Ausschusses s Beschl EZB/2014/59, ABl 2015 L 70/58. 542 ABl 2002 C 123/9 und ABl 2007 C 10/6; in Bezug auf das Direktorium s ABl 2010 C 104/8; für die Mitglieder des EZB-Aufsichtsgremiums ABl 2015 C 93/2; dazu Siekmann/Steven Art 14 Satzung Rn 18 ff. 543 Beschl EZB/2016/3, ABl 2004 L 79/34; vgl Siekmann/Siekmann Art 130 AEUV Rn 136 ff. 544 Beschl EZB/2007/1, ABl 2007 L 116/64, als Durchführungsvorschrift zur VO 45/2001, ABl 2001 L 8/1; zur Überleitung auf die neue Rechtslage nach der VO (EZB) 2018/1725, ABl 2018 L 295/39, s Art 99 dieses Rechtsakts. 545 Vgl dazu Möllers/Zeitler/Streinz S 21 (28, 39 ff). 546 Vgl BVerfG, 2 BvR 2661/06 – Honeywell, BVerfGE 126, 286 (302 ff). 547 Vgl schon BVerfG, 2 BvR 687/85 – Kloppenburg, BVerfGE 75, 223 (235, 242); BVerfG, 2 BvE 2, 5/08, 2 BvR 1010, 1022, 1259/08, 182/09 – Lissabon, BVerfGE 123, 267 (353 f). Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1319

che Maßnahmen. Daher ist hier – in Deutschland nach Art 19 IV GG grundsätzlich gegenüber Legislative wie Exekutive548 – zunächst (nur) eine Überprüfung am Maßstab höherrangigen nationalen Rechts durch die je innerstaatliche Judikative ermöglicht. Meist wird es sich dabei um allgemeine oder auch spezielle Verwaltungsgerichte handeln, wenn und weil Gegenstand der Kontrolle ein (nationaler) Hoheitsakt ist.549 Einen speziellen Fall bildet das ESZB: Das Eurosystem als solches ist ein Ge- 163 schöpf des Unionsrechts; seine dezentralen Teile, die nationalen Zentralbanken, aber sind und bleiben Einrichtungen mitgliedstaatlichen Rechts,550 trotz hierfür geltender EU-rechtlicher Regelungen, Vorgaben und Bindungen. Soweit sie selbst daher in Ausübung währungspolitischer Kompetenzen gegenüber Finanzinstituten oder anderen Personen/Unternehmen außenwirksam tätig werden, ist hiergegen innerstaatlicher Rechtsschutz eröffnet;551 das Gleiche gilt, wenn diese Einrichtungen auf der Basis von Art 14.4. ESZB-Satzung außerhalb des Bereichs der Währungspolitik agieren.552 Art 271 lit d AEUV, Art 35.6. ESZB-Satzung betreffen allein das (Innen-)Verhältnis zwischen zentraler und dezentraler Ebene des ESZB; hier nimmt der EZB-Rat die (Wächter-)Rolle ein, die ansonsten der Kommission im Verhältnis zu EU-Mitgliedstaaten zukommt, auch nötigenfalls als auf Einhaltung der primärrechtlichen Pflichten durch eine nationale Zentralbank klagende Partei.553 Diese ihrerseits hat nur diejenigen Rechtsschutzmöglichkeiten, die auch anderen juristischen Personen offenstehen.554 Um Aufgaben bei der Bankenaufsicht inhaltlich und institutionell von der 164 geldpolitischen Tätigkeit zu trennen, wurde ein separates Gremium (supervisory board) als internes Organ der EZB eingerichtet; die in diesem mitwirkenden EZB-Vertreter dürfen keine währungspolitischen Funktionen ausüben.555 Eine Beschlussvorlage des board gilt als angenommen, wenn ihr der EZB-Rat nicht widerspricht. 556 Als systeminterne Kontrollinstanz überprüft ein „administrative board of review“ die formelle und materielle Rechtmäßigkeit der Beschlüsse des

_____ 548 Parlamentsgesetzen gegenüber ist hingegen primär Art 93 I Nr 4a GG relevant. 549 § 40 I VwGO bzw § 33 FGG, § 51 SGG; vgl Manger-Nestler S 284, 315 ff. 550 BK/Häde Art 88 GG Rn 625 ff. 551 Vgl näher Gramlich S 1006 ff. 552 BK/Häde Art 88 GG Rn 629, 684. 553 BK/Häde Art 88 GG Rn 627; Siekmann/Herrmann Art 35 Satzung Rn 19; Pechstein/Nowak/ Häde/Sademach/Häde Art 271 Rn 22, 24 f. 554 BK/Häde Art 88 GG Rn 681; wohl auch Siekmann/Herrmann Art 35 Satzung Rn 4. 555 Lackhoff S 60 ff; Pechstein/Nowak/Häde/Manger-Nestler Art 283 AEUV Rn 35; zur Ernennung von EZB-Vertretern Beschl EZB/2014/14, ABl 2014 L 196/38; zur Verfahrensordnung ABl 2014 L 182/56 und ABl 2015 L 68/88; zum Verhaltenskodex ABl 2015 C 93/2. 556 Lackhoff S 86 ff. Ludwig Gramlich

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EZB-Rats. 557 Jedoch kommen (danach) auch reguläre Klagen betroffener Personen/Unternehmen vor dem EuG in Betracht.558

b) Gerichtliche Kontrolle der (EU-)Wirtschaftspolitik 165 Nach außen rechtswirksame Handlungen anderer EU-Organe auf dem Gebiet der

Wirtschaftspolitik können Gegenstand einer Nichtigkeits-, pflichtwidrige Unterlassungen Objekt einer Untätigkeitsklage sein. Sofern nicht privilegierte Kläger agieccccren, muss bei anderen Personen als den Adressaten eines Rechtsakts für die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs eine unmittelbare und individuelle Betroffenheit gegeben sein (s Art 263 II–IV AEUV).559 Eine richterliche Nachprüfung auf in Art 263 II AEUV genannte Mängel hin ist vor allem bei Verordnungen nach Art 121 VI, 125 II, 126 XIV AEUV möglich, aber auch bei Beschlüssen (nach Art 122 II oder Art 126 XI, XII AEUV), hingegen nicht bei „Empfehlungen“ nach Art 126 VII AEUV, da diesen auch bei Veröffentlichung eine Rechtsverbindlichkeit fehlt (Art 288 V AEUV).560

c) Gerichtliche Kontrolle der (EU-)Währungspolitik 166 Auf dem Gebiet der Währungspolitik gilt für Verordnungen und andere rechtsver-

bindliche Maßnahmen von EU-Organen – auch solchen der EZB – nichts Anderes als bei der Wirtschaftspolitik;561 dies betrifft insbesondere Rechtsakte nach Art 133, 129 III, IV, 127 VI und 128 II S 2 AEUV, ferner für „Beschlüsse“ (Art 288 IV AEUV) gem Art 140 II, III, 143 II, III, 144 III AEUV. Speziell die EZB kann Klägerin wie Beklagte sowohl von Nichtigkeitsklagen 167 nach Art 263 I, III AEUV als auch von Untätigkeitsklagen nach Art 265 I AEUV sein.562 Für einzelne Unionsbürger oder -Unternehmen wird außerhalb des Bereichs der Bankenaufsicht563 freilich kaum einmal unmittelbare und individuelle Betrof-

_____ 557 Lackhoff S 237 ff; Kaufhold S 361 f; zur Errichtung Beschl EZB/2014/16, ABl 2014 L 175/47. Als Bsp Rs T-514/18 – Del Valle Ruiz ua, T-599/18 – Aeris Invest. 558 Lackhoff S 251 ff; unten, Rn 167 f. 559 S etwa EuG, Rs C-541/10 – ADEDY. 560 Pechstein/Nowak/Häde/Pechstein/Görlitz Art 263 AEUV Rn 40, 51. 561 Oben, Rn 165. 562 BK/Häde Art 88 GG Rn 680, 684; Siekmann/Herrmann Art 35 Satzung Rn 8 ff, 11, 20; Pechstein/ Nowak/Häde/Pechstein Art 265 AEUV Rn 18 f; s schon EuGH, Rs C-11/00 – Kommission und EP / EZB. 563 S bereits oben, Rn 152 f, 164; als Bsp EuG, Rs T-564/18 – Bernis ua; Rs T-576/18 und Rs T-577/18 – Crédit Agricole; Rs T-584/18 – Urkselhosprom PCF; Rs T-733/16 – Banque Postale; Rs T-768/16 – BNP Paribas; zur (Verneinung einer) Haftung für Maßnahmen im Bankensektor EuG, Rs T-680/13 und Rs T-786/14 – Chrysostomides. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1321

fenheit durch ESZB-Handeln vorliegen.564 In Bezug auf Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der EZB (als Organ der Union) kann ferner ein Vorabentscheidungsverfahren durchgeführt werden (s Art 267 I lit b AEUV). Der Gerichtshof ist schließlich zuständig in Streitsachen über die Erfüllung der sich aus dem Primärrecht ergebenden Verpflichtungen durch die NZBen (Art 271 lit d AEUV). Der EZB-Rat hat insoweit die gleiche Stelle den Nationalen Zentralbanken gegenüber wie sonst die Kommission (nach Art 258 AEUV) gegenüber den Mitgliedstaaten (s Art 35.6. ESZBSatzung). Wie in Art 260 I AEUV wird auch eigens festgelegt, dass die fehlsame NZB alle aus dem Urteil des EuGH resultierenden Maßnahmen ergreifen muss.565 Art 35.1. ESZB-Satzung bekräftigt, dass „Handlungen und Unterlassungen“ 168 („acts or omissions“) der EZB der „Überprüfung und Auslegung“ („review or interpretation“) durch den EuGH unterliegen – und dies (nur) „in den Fällen und unter den Bedingungen, die in den Verträgen vorgesehen sind“ (S 1); dieselbe Voraussetzung normiert S 2 für die Klageberechtigung der EZB.566 Zuständig für den Beschluss zu einer Klageerhebung ist nach Art 35.5. EZB-Satzung der EZB-Rat. Vertragliche und deliktische Haftung der EZB bestimmen sich nach Art 340 169 III (als Ausnahme von II) AEUV und Art 35.3. S 1 ESZB-Satzung; auch darüber befindet der EuGH.567 Die Haftung von NZBen richtet sich nach dem jeweiligen innerstaatlichen Recht (Art 35.3. S 2 ESZB-Satzung). Insoweit gehören Streitigkeiten auch vor die nationale (Zivil-)Gerichtsbarkeit.568 Auf europäischer Ebene auszutragen sind hingegen Streitigkeiten dienstrechtlicher Art (mit) der EZB (Art 270 AEUV)569 und solche aufgrund einer mit ihr oder für ihre Rechnung abgeschlossenen vertraglichen Schiedsklausel (Art 272 AEUV, Art 35.4. ESZB-Satzung).570 Je nach (Klageart und) Verfahrensbeteiligten sind auf Unionsebene entweder 170 der Europäische Gerichtshof (auch als Rechtsmittelgericht),571 das Gericht572 oder das Gericht für den öffentlichen Dienst der EU573 zuständig.

_____ 564 Außer in Personalangelegenheiten; s etwa EuGH, Rs C-301/02 P – Tralli; unten, Rn 170. 565 Vgl Pechstein/Nowak/Häde/Sademach/Häde Art 271 AEUV Rn 30. 566 Vgl Siekmann/Herrmann Art 35 Satzung Rn 3, 20 f. 567 Vgl Siekmann/Herrmann Art 35 Satzung Rn 15 f; Pechstein/Nowak/Häde/Terhechte Art 340 AEUV Rn 8, 63; zur Haftung bei Durchführung von nationalen Vorschriften Varentsov DÖV 2017, 53 ff. 568 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 685. 569 Vgl Art 36.2. ESZB-Satzung; Siekmann/Siekmann Art 36 Satzung Rn 36 ff; Gramlich S 1014; Pechstein/Nowak/Häde/Seyr Art 270 AEUV Rn 23; als Bsp Rs T-484/18 – XB/EZB. 570 S bereits oben, Rn 92; Siekmann/Herrmann Art 35 Satzung Rn 12; Pechstein/Nowak/Häde/ Pechstein Art 272 AEUV Rn 7. 571 Vgl Gramlich S 1013 f; Siekmann/Siekmann Art 36 Satzung Rn 37. 572 S etwa oben, Rn 164, 167; ferner EuG, Rs T-333/99 – X / EZB. 573 S etwa GöD, Rs F-15/05 – Andres / EZB; Rs F-6/08 – Blais / EZB. Ludwig Gramlich

1322 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

5. Binnen- und Außenwirtschafts-/Währungsaußenpolitik in der EU a) Unionsebene 171 Im Verhältnis zu dritten Staaten und anderen Subjekten des Völkerrechts (wie vor allem intergouvernementalen Wirtschafts- oder Finanzorganisationen) tritt die Europäische Union zwar als Einheit bzw eigene Rechtsperson auf, verfügt aber im Unterschied zu Staaten (mangels Souveränität) nicht über eine umfassende Verbandskompetenz.574 Ihr Zuständigkeitsspektrum bleibt hier nach wie vor weit hinter dem im Innern (dem „Binnenmarkt“ bzw der „Währungsunion“) erreichten Stand von Vereinheitlichung oder doch Harmonisierung zurück. Daran hat sich durch die Neugestaltung der Vorschriften zum „auswärtigen Handeln“ der Union – autonom wie im Wege von Vertragsschlüssen – durch den Lissabon-Vertrag zwar quantitativ, nicht aber auch qualitativ etwas verändert.575 Allgemein gilt hier weiterhin die Unterscheidung von expliziten wirtschafts172 spezifischen und -relevanten Kompetenzen, die nur oder – wie meist – auch die EU-Außenbeziehungen umfassen, und weiteren punktuellen Befugnissen auf Unionsebene, bei denen entweder und zuerst das vom EuGH entwickelte Konstrukt einer Parallelität von nach innen und nach außen gerichteten Zuständigkeiten einschlägig ist576 oder – und dann subsidiär bzw danach – die Kompetenzergänzungsklausel des Art 352 AEUV. Nur für die Wirtschaftspolitik, aber auch für deren externe Komponente deckt hier die (gegenüber auf spezielle Branchen oder Tätigkeiten bezogenen Politiken nachrangige) Gemeinsame Handelspolitik ein weites Spektrum ab, umfasst jedoch nicht auch monetäre Problemstellungen.577 Dies wird durch die Systematik des AEUV verdeutlicht, der zufolge eine spezifische Regelung zum auswärtigen Handeln (Art 219 AEUV) sowohl vertragliche als auch autonome Währungsaußenpolitik erfasst (Abs 1–3) und zudem im Hinblick auf ESZB-Teilnehmer einerseits, Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung andererseits unionale und nationale (Verbands-)Kompetenzen trennt (Abs 4). Die Differenzierung hindert aber weder EU noch Mitgliedsländer daran, im Verhältnis zu Drittstaaten oder anderen Völkerrechtssubjekten ökonomische und monetäre Fragen gemeinsam im Rahmen eines einzigen (ggf „gemischten“) Abkommens zu behandeln.578 Verrechnungsund Zahlungssysteme auch im Verkehr mit dritten Ländern fallen nach Art 22 ESZB-Satzung in den Aufgabenkreis des Eurosystems; Art 23 ermächtigt EZB und NZBen sowohl, „mit Zentralbanken und Finanzinstituten in dritten Ländern und,

_____ 574 Vgl dazu näher Niedobitek § 1 und Härtel § 6 (beide in diesem Band). 575 Oben, Rn 28. 576 Vgl Calliess/Ruffert/Hahn Art 207 AEUV Rn 65; Ehlers/Fehling/Pünder/Tietje/Finke Bd 1 § 4 Rn 40; Pechstein/Nowak/Häde/Bungenberg Art 207 AEUV Rn 312. 577 Vgl Calliess/Ruffert/Hahn Art 207 AEUV Rn 7, 43, 46; ferner Weiß EuR 2002, 166 (177 ff). 578 Vgl Calliess/Ruffert/Hahn Art 207 AEUV Rn 67; Pechstein/Nowak/Häde/Bungenberg Art 207 AEUV Rn 167 ff. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1323

soweit zweckdienlich, mit internationalen Organisationen Beziehungen aufzunehmen“579 (ähnlich wie Art 220 I AEUV), als auch dazu, „alle Arten von Bankgeschäften, einschließlich der Aufnahme und Gewährung von Krediten, im Verkehr mit dritten Ländern sowie internationalen Organisationen zu tätigen“ (Art 23 Spstr 1, 4 ESZB-Satzung). Beim Erlass von (wirtschaftlich-finanziellen) Sanktionen wird das ESZB nicht einbezogen, wohl aber ist die EZB anzuhören, wenn Schutzmaßnahmen im Bereich des Kapitalverkehrs nach Art 66 AEUV getroffen werden sollen.580 Preisstabilität gilt auch als Ziel für die Wechselkurspolitik (Art 119 II, 219 II 173 S 2 AEUV).581 Zumindest formal und prozedural besteht hier eine dominante Stellung des (ECOFIN-)Rates582 und eine eher schwache der Kommission. Vor allem bei heute regelmäßig nicht existierenden (globalen oder regionalen) Wechselkurssystemen nach Art 219 I AEUV583 kommen (unverbindliche) „allgemeine Orientierungen“ nach Art 219 II AEUV gleichwohl nur ausnahmsweise in Betracht.584 In der Sache hat die EZB daher auch nach außen gewichtige (Mitwirkungs-)Befugnisse. Die Durchführung der Wechselkurspolitik über Devisengeschäfte, dh An- und Verkauf von Fremdwährungen, ist ohnehin ausschließlich Angelegenheit des ESZB (Art 127 II Spstr 2 AEUV).585

b) Mitgliedstaatliche Ebene Die (allgemeinen) Wirtschaftspolitiken sowohl der Teilnehmer der (Wirtschafts- 174 und) Währungsunion als auch und in noch größerem Maß (s Art 139 II UAbs 1 lits a, b AEUV) der anderen EU-Mitgliedstaaten werden, wiewohl primär nationale Angelegenheiten, schon durch Art 119, 120 ff AEUV unionsrechtlich ausgerichtet und zugleich begrenzt. Insofern hat die Kommission zunehmend nicht nur faktisch, sondern auch aufgrund der Art und Vielzahl ihrer Kompetenzen die Rolle einer EU„Wirtschaftsregierung“ inne, ohne dass sie jedoch alle Funktionen einer zentralen Leitung in einem föderalen Gemeinwesen wahrnehmen darf. Soweit aber keine Unionsrechtsakte bestehen (oder völkerrechtliche Bindungen eingegangen wurden),

_____ 579 Vgl Gaitanides S 148 f; Siekmann/Keller Art 23 Satzung Rn 28 ff. 580 Vgl oben, Rn 47; BK/Häde Art 88 GG Rn 687; Pechstein/Nowak/Häde/Gramlich Art 66 AEUV Rn 13. 581 S oben, Rn 34. 582 Vgl Hahn/Häde § 22 Rn 18 f, 30. 583 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 687; Hahn/Häde § 28 Rn 12 ff, 25 ff; Siekmann/Kadelbach Art 219 AEUV Rn 15 ff; Gaitanides S 141 ff; Malanczuk ZaöRV 1999, 93 (97 f). 584 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 688 f; Entschließung des Europäischen Rates, ABl 1998 C 35/1 (Ziff 8); Siekmann/Kadelbach Art 219 AEUV Rn 40 ff; Pechstein/Nowak/Häde/Gramlich Art 219 AEUV Rn 12 f. 585 S oben, Rn 38, 115. Ludwig Gramlich

1324 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

ergeben sich breite wirtschaftspolitische Kompetenzen der nationalen (Bundes-)Regierungen, ggf auch einzelner Ressorts (wie Wirtschafts- oder Finanzministerien) aus dem jeweiligen Verfassungsrecht, und diese können ebenfalls aufgrund innerstaatlichen (Verfassungs-)Rechts durch Parlamentsgesetze detaillierter ausgeprägt werden. Das betrifft das Verhältnis zu anderen EU-Staaten grundsätzlich nicht anders als das zu Drittländern oder sonstigen Völkerrechtssubjekten. Auch wo Unionsorgane etwa bei der Haushaltsdisziplin konkrete Vorgaben machen,586 ist die Anpassung hieran (durch Rechtsetzung und/oder -anwendung) Aufgabe nationaler Stellen. Erhebliche Spielräume für autonome nationale Politik in Währungsangele175 genheiten verbleiben denjenigen EU-Staaten, deren Währung noch nicht der Euro ist. Nach Maßgabe von Art 143 III und Art 144 III AEUV sind ihnen (temporäre) „Schutzmaßnahmen“ möglich, 587 nach Art 142 (S 1) AEUV ist bei ihnen auch „Wechselkurspolitik“ lediglich eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse, und bei deren Durchführung gelten weit weniger (strikte) Vorgaben (nach S 2) als generell bei der ebenso gekennzeichneten allgemeinen Wirtschaftspolitik.588 Für die Gruppe der „pre-ins“ resultieren allerdings Anpassungspflichten für die nationale Gesetzgebung aus Art 131 und 130 AEUV.589 Insoweit bestehen keine größeren Unterschiede zu Euro-Ländern, denn auch dort bleibt nationales Währungs-, insbesondere Zentralbankrecht nötig bzw in Kraft: Teils ist Rechtsetzung nötig, um Unionsrecht auszufüllen, wie bei der Münz- (und auch der Noten)ausgabe,590 teils müssen organisatorische, prozedurale und – soweit EU-rechtlich ermöglicht (zB in Art 128 II S 1 AEUV) – auch materielle Regelungen zu (nationalen) Zentralbanken und/oder anderen nationalen Akteuren der Währungspolitik getroffen werden. So beruhen „andere“ Aufgaben der Bundesbank als NZB im ESZB auf mehreren speziellen Bundesgesetzen,591 können aber auch im Hinblick auf geldnahe Aspekte Fragestellungen (etwa zu Medaillen) auftreten (und werden dann im MünzG miterfasst)592. Gerichtlicher Rechtsschutz ist in solchem Kontext in erster Linie vor nationalen (Verwaltungs-)Gerichten eröffnet.593

_____ 586 S oben, Rn 84 ff. 587 Vgl Siekmann/Herrmann Art 143, 144 AEUV Rn 35 ff; Pechstein/Nowak/Häde/Gramlich Art 143 AEUV Rn 28 ff, Art 114 AEUV Rn 10 ff. 588 Insofern noch bedeutsam (zu Art 107 EWGV) EuGH, Rs 10/73 – REWE, Rn 26; ähnlich Siekmann/Herrmann Art 142 AEUV Rn 14 f; Pechstein/Nowak/Häde/Gramlich Art 142 AEUV Rn 7 ff. 589 Insoweit greift Art 139 II AEUV nicht ein; vgl am Bsp Ungarns Häde EuZW 2005, 679 ff. 590 S oben, Rn 129 f. 591 Überblick bei Hahn/Häde § 12 Rn 76 ff; s a §§ 10, 13 II Nr 1, 23 I, II AWG 2013; §§ 64 ff der Außenwirtschaftsverordnung (AWV) 2013. 592 Vgl §§ 10–12 MünzG. 593 Oben, Rn 162. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1325

6. Internationale/globale Einbettung der Wirtschafts- und Währungspolitik a) Wirtschaftspolitik Ihre in Art 3 V EUV formulierten Ziele für Auswärtige Politik verfolgt die EU durch 176 „zweckdienliche“ Zusammenarbeit (in der Regel ohne institutionelle Vertiefung – ausgenommen die WTO) mit der UNO (bzw deren Organen),594 den fachlich relevanten UN-Sonderorganisationen wie der UNESCO, der FAO oder der ILO, der OECD und anderen intergouvernementalen Organisationen (Art 220 I AEUV). Dies erfasst vor allem regionale und subregionale Institutionen wie die Afrikanische Union, ASEAN, Mercosur, die Andengemeinschaft oder den Golfkooperationsrat. Aktiv arbeitet die Union auch in Foren wie den G7/G8 oder G 20595 mit. Die jeweilige Vertretung nehmen Delegationen unter Leitung des Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik wahr (Art 221 AEUV iVm Art 18 EUV).596

b) Währungspolitik allgemein Speziell das Verhältnis des ESZB zu thematisch verwandten internationalen 177 Organisationen, Gremien oder Foren ist weder umfassend noch eindeutig geregelt.597 Zwar ermächtigt Art 138 II S 1 AEUV den Rat der EU dazu, geeignete Maßnahmen zu treffen mit dem Ziel, „eine einheitliche Vertretung bei den internationalen Einrichtungen und Konferenzen im Finanzbereich sicherzustellen“.598 Nur unbeschadet dieser Vorschrift – die ohne ein komplementäres Verhalten des jeweiligen Gegenübers bedeutungslos bleibt599 – legt Art 6.1. ESZB-Satzung fest, dass die EZB (deren Rat, Art 12.5.) im Bereich der internationalen Zusammenarbeit entscheidet, wie das Eurosystem vertreten wird, wenn es um diesem übertragene Aufgaben geht. Auch Art 6.2. ESZB-Satzung ist (wie Art 138 AEUV) eine zwar notwendige, aber allein nicht hinreichende Bedingung für die „Beteiligung“ (als Mitglied oder in anderer Form) der EZB an „internationalen Währungseinrichtungen“ – und, bei deren Zustimmung, auch der NZBen. § 4 BBankG erwähnt diesbezüglich die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ)600 – in der die EZB Mitglied

_____ 594 Zur rechtlich prekären Situation bei (wirtschaftlichen) Sanktionen des UN-Sicherheitsrats vgl Calliess/Ruffert/Cremer Art 215 AEUV Rn 28; Pechstein/Nowak/Häde/Schöbener Art 215 AEUV Rn 34 ff. 595 Vgl etwa Nasra/Lesage et al The EU in the G8 system; Assessing EU Member States’ Involvement, RSCAS 2009/45; Blaurock JZ 2012, 226 (228). 596 Vgl dazu näher Cremer § 22 (in diesem Band). 597 Vgl bereits EZB, Monatsbericht 1/2001, 63 ff; Hahn/Häde § 24 Rn 18 ff. 598 Vgl dazu BK/Häde Art 88 GG Rn 692, 694; Siekmann/Kadelbach Art 138 AEUV Rn 35 ff; unten, Rn 178 f. 599 Und an dem es nach wie vor meist fehlt; vgl Manger-Nestler S 271. 600 Zu dieser (strukturell) atypischen Organisation Hahn/Häde § 29 Rn 6 ff; Krajewski Rn 865 ff; www.bis.org. Ludwig Gramlich

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ist601 – und fordert zudem eine Genehmigung der Bundesregierung bei Beteiligungen an anderen Einrichtungen nicht nur der Währungspolitik, sondern auch im sonstigen Aufgabenfeld der deutschen Zentralbank.602 Solange nur Staaten Mitglieder des IWF sein (und werden) können, kommt 178 insoweit allenfalls die Festlegung eines gemeinsamen Standpunktes (aller Mitgliedstaaten) durch den Rat nach Art 138 I AEUV in Betracht.603 Bis auf weiteres bleibt der EZB nur der Status eines Beobachters („observer“).604 Die Staatsschuldenkrise hat freilich gezeigt, dass gleichwohl eine vertragliche Kooperation von EZB, EU (Kommission) und IWF stattfinden kann („Troika“ bzw „Institutionen“)605. Einen Bezug zum IWF – zu dessen Reservepositionen und Sonderziehungsrechten („special drawing rights“, SDR)606 – stellt auch die Bestimmung für Währungsreserven der EZB her (Art 30.1., 30.4. ESZB-Satzung).607 Vertreten ist die EZB zudem im Financial Stability Board (FSB)608 und in zahlrei179 chen weiteren Gremien (meist im Umfeld der BIZ angesiedelt)609 innerhalb der etwa seit der Jahrtausendwende Konturen annehmenden „globalen Finanzarchitektur“.610 Mit Zentralbanken von EU-Beitrittskandidaten, aber auch von diversen Dritt180 staaten, etwa Schwellenländern wie China, wird, oft auf der Basis von Memoranda

_____ 601 EZB, Monatsbericht 1/2001, 63 (74, 83); ferner Manger-Nestler S 272 f; Siekmann/Kadelbach Art 138 AEUV Rn 30 f; Pechstein/Nowak/Häde/Starski Art 138 AEUV Rn 33. 602 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 117; Manger-Nestler S 270. 603 Allerdings wegen Art 139 II UAbs 1 lit i, j AEUV beschränkt auf die Teilnehmerländer des Eurosystems; vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 694, 696, ua zu Ziff 10 der Entschließung des Europäischen Rats, ABl 1998 C 35/1; Pechstein/Nowak/Häde/Starski Art 138 AEUV Rn 31 f. 604 BK/Häde Art 88 GG Rn 697; Manger-Nestler S 271; Weiß EuR 2002, 165 (166); EZB, Monatsbericht 1/2001, 63 (67 ff); ECB, Monthly Bulletin 5/2011, 87 (89 ff); zu einem „Euro-Sitz“ s Pechstein/ Nowak/Häde/Starski Art 138 AEUV Rn 44 f; COM(2015) 603; dazu EZB-Stellungnahme, ABl 2016 C 216/1. 605 Vgl etwa Art 5 V, 13 VII ESMV; Ziff 2 (1) (a) EFSF-Rahmenvertrag, http://www.efsf.europa.eu/ attachments/20111019_efsf_framework_agreement_en.pdf; s schon Weiß EuR 2002, 166 (186 f). 606 Vgl Fact Sheet: Special Drawing Rights (SDRs), 19.4.2018, https://www.imf.org/en/About/ Factsheets/Sheets/2016/08/01/14/51/Special-Drawing-Right-SDR; Hahn/Häde § 28 Rn 53 ff; Proctor Rn 33.05 ff. 607 S schon oben, Rn 115; ferner unten, Rn 182 f. 608 Vgl Blaurock JZ 2012, 226 (228 f); ECB, Monthly Bulletin 5/2011, 87 (93); Pechstein/Nowak/ Häde/Starski Art 138 AEUV Rn 33; s bereits EZB, Monatsbericht 1/2001, 63 (72 f), zum damaligen Financial Stability Forum (FSF). 609 Überblick unter https://www.ecb.europa.eu/ecb/tasks/international/institutions/html/index. de.html; zur BIZ oben, Rn 177; zu deren „Trabanten“ im Bereich „monetary financial stability“ s https://www.bis.org/stability.htm; s a ECB, Monthly Bulletin 5/2011, 87 (93 f). 610 Vgl Blaurock JZ 2012, 226 (233 f); Ohler DVBl 2011, 1061 (1065); Pechstein/Nowak/Häde/Starski Art 138 AEUV Rn 35 f. Ludwig Gramlich

IV. Status Quo der „Wirtschafts“- und „Währungspolitik“ in der EU der 28 | 1327

of Understanding (MoU), bilaterale „technische“ Zusammenarbeit gepflegt611. Auch darüber hinaus knüpft die Kooperation mit anderen Zentralbanken an langjährige Erfahrungen in Unterstützung, Beratung, Training, Schulung etc an.612 Der Euro wird als zweitwichtigste „internationale“ Währung nach dem US- 181 Dollar auch außerhalb der Eurozone bzw des EU-Territoriums von Personen oder Unternehmen aus dritten Ländern (als Buch- wie als Bargeld) zu Zahlungs- und Finanzmarkttransaktionen verwendet, überdies teils von Staaten als Reserve- oder Ankerwährung eingesetzt.613 Die EZB überwacht diese Entwicklung und berichtet regelmäßig über die „international role of the Euro“,614 fördert aber weder, noch beschränkt sie diese.615

c) Währungsreserven Das Halten und Verwalten von Währungsreserven („foreign reserves“) ist nicht 182 ausschließlich Sache der EZB (Art 30 ESZB-Satzung). Die nicht von den Mitgliedstaaten des Eurosystems auf die EZB übertragenen Reserven616 verbleiben in der Zuständigkeit der NZBen (Art 31.1. ESZB-Satzung), die jedoch durch Vorgaben des EZB-Rates (gem Art 31.2., 31.3.) begrenzt wird.617 Zweck der Währungsreserven ist es sicherzustellen, dass genügend liquide Mittel vorhanden sind, um bei Bedarf Devisengeschäfte tätigen zu können. Die EZB legt bisher ihre Reserven in US-Dollar, japanischen Yen, chinesischen Renminbi, Gold und SDR an618 und verwaltet diese anhand der Kriterien Liquidität, Sicherheit und Rentabilität nach Maßgabe der Erkenntnisse des Risikomanagements.619 Dabei berücksichtigt sie einschlägige Leitlinien des IWF620 sowie das zwischen Zentralbanken geschlossene Goldabkommen.621 Zwischen der EZB und anderen wichtigen Zentralbanken (der USA, Japans, der Schweiz, Kanadas und des Vereinigten Königreichs) bestehen bilaterale befriste-

_____ 611 Vgl etwa EZB, Pressemitteilung v 19.3.2018 (betr South African Reserve Bank). 612 Vgl ECB, Bulletin 7/2008, 93 ff. 613 Vgl Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Juli /2012, 15 ff. 614 Vgl ECB, The International Role of the Euro, (zuletzt) Juli 2017; ferner 10th Anniversary Monthly Bulletin 2008, 96 ff. 615 So Draghi in ECB (ebd) S 3. 616 Vgl dazu Leitlinie EZB/2000/15, ABl 2000 L 336/114; in Depenheuer/Kahl/Guericke/Kleine, S 208. 617 Vgl etwa Leitlinien EZB/2008/5, ABl 2008 L 192/63; EZB/2013/45, ABl 2014 L 62/23; BK/Häde Art 88 GG Rn 663. 618 Vgl etwa EZB, Jahresbericht 2017, A 7 ff, 38; Deutsche Bundesbank, Geschäftsbericht 2017, 40. 619 Zu „Mindeststandards“ hierfür Leitlinie EZB/2002/6, ABl 2002 L 270/14; ersetzt durch das Eurosystem Ethics Framework vom März 2015 (oben, Rn 161). 620 Vgl Revised Guidelines for Foreign Exchange Reserve Management, 22.7.2014. 621 Vgl Gramlich WM 2005, 1201 ff; Depenheuer/Kahl/Guericke/Kleine, S 211. Ludwig Gramlich

1328 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

te Liquiditäts-Swap-Vereinbarungen, damit in allen beteiligten Währungsräumen ausreichend Liquidität in allen Währungen bereitgestellt werden kann, falls die Marktbedingungen dies erfordern.622 Devisenmarktinterventionen („foreign exchange interventions“) sind Teil der 183 Devisengeschäfte und können (im Rahmen von Art 127 und 219 AEUV) entweder einseitig oder konzertiert mit anderen und entweder zentralisiert (von der EZB selbst) oder dezentralisiert (durch die NZBen für die EZB) erfolgen. Ein Anwendungsbereich hierfür ist der seit 1999 bestehende Wechselkursmechanismus II (WKM II),623 an dem Dänemark und früher Lettland (bis Ende 2013) sowie Litauen624 teilnehmen.625

d) Wirtschafts- und Währungspolitik im Europäischen Wirtschaftsraum 184 Im Verhältnis der EU und ihren Mitgliedsländern und den drei weiteren EWR-

Teilnehmerstaaten enthält Teil III des EWR-Abkommens626 (über „Freizügigkeit, freie[n] Dienstleistungs- und Kapitalverkehr“) auch ein Kapitel (5) mit einer einzigen Vorschrift (Art 46) zu wirtschafts- und währungspolitischer Zusammenarbeit. Diese erschöpft sich in einem (unverbindlichen) „Meinungs- und Informationsaustausch“ über die Durchführung dieses multilateralen Vertrags und die „Auswirkungen der Integration [s Art 1 des Abkommens] auf die Wirtschaftstätigkeiten und die Wirtschafts- und Währungspolitik“; Gegenstand der Erörterungen können zudem „makroökonomische [...] Gegebenheiten, Politiken und Aussichten“ sein. Bei (mutmaßlich anhaltenden) ernstlichen wirtschaftlichen (oder gesellschaftlichen oder ökologischen) Schwierigkeiten ist jede EWR-Vertragspartei zu (sachlich und zeitlich begrenzten) „Schutzmaßnahmen“ gegenüber allen anderen EWR-Staaten, jedes (andere) EWR-Land seinerseits zu „Ausgleichsmaßnahmen“ befugt (Art 112, 114 des Abkommens); beide erfolgen unter Kontrolle durch den Gemeinsamen EWRAusschuss (Art 113 iVm Art 92 ff).

_____ 622 Vgl EZB, Jahresbericht 2017, A 44; zur „Entfristung“ EZB Pressemitteilung v 31.10.2013. 623 Abkommen v 16.3.2006 zwischen der EZB und den NZBen der Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung, ABl 2006 C 73/21 (auch in Herrmann Europäisches Währungsrecht, S 165 ff); vgl Siekmann/Herrmann Art 142 AEUV Rn 21 ff; Siekmann/Sprung Art 43 Satzung Rn 21 ff; Herrmann Europäische Währungsunion Rn 37; zum Beitritt der kroatischen Zentralbank zum 1.7.2013 s ABl 2013 C 187/1. 624 Als Konsequenz des Beitritts zum Eurosystem (oben, Rn 102); zur Änderung des Abkommens anlässlich der Euro-Einführung in Estland s ABl 2011 C 5/3, betr Lettland ABl 2014 C 17/1, betr Litauen ABl 2015 C 64/1. 625 Vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 362 ff. 626 BGBl 1993 II 267; Anpassungsprotokoll BGBl 1993 II 1294. Ludwig Gramlich

V. Perspektiven | 1329

e) Spezielle Beziehungen im Bereich von Wirtschaft und Währung zu Drittstaaten Die von EU-Territorium umschlossenen Kleinstaaten Andorra, Monaco, San Marino 185 und der Vatikan standen in einer Währungsunion mit den Ländern Spanien (Andorra), Frankreich (Andorra, Monaco) und Italien (San Marino, Vatikan). Ende 1998 (bzw 2004 bezüglich Andorras)627 traf der Rat Beschlüsse, wonach jeweils bilateral in einer Vereinbarung mit Frankreich oder Italien (bzw Spanien) festgelegt werden kann, dass die andere Partei den Euro als amtliche Währung verwendet;628 Konvergenzkriterien sind dabei nicht vorgegeben. Zugleich wurde ein Höchstbetrag für die vom jeweiligen Kleinstaat selbst auszugebenden Euro-Münzen fixiert. Solche Vereinbarungen bestehen mit allen vier Kleinstaaten.629 Frankreich hat ferner vor Einführung des Euro mit der Union Économique et 186 Monétaire Ouest-Africane, der Communauté Économique et Monétaire de l’Afrique Centrale und den Komoren Vereinbarungen getroffen, welche die Konvertibilität des CFA-Franc und des Komoren-Franc in französische Franc zu einer festen Parität garantierten; eine noch auf ex-Art 109 III EGV gestützte Ratsentscheidung630 über Wechselkursfragen gewährleistet, dass auch nach Einführung des Euro Frankreich diese Vereinbarungen „in alleiniger Verantwortung“ fortführen und ggf (unwesentlich) ändern kann. Ähnliches gilt für Portugal im Verhältnis zur Republik Kap Verde.631 Montenegro und die Republik Kosovo verwenden den Euro als Zahlungsmit- 187 tel („Euroisierung“),632 ohne einer Währungsunion (mit der EU) anzugehören oder die damit verbundenen Kriterien zu erfüllen. Daher steht beiden Nachfolgestaaten (Ex-)Jugoslawiens nicht das Recht zu, eigene Euro- bzw Cent-Münzen zu prägen. V. Perspektiven V. Perspektiven Eine hochrangige politische Gruppe (van Rompuy, Barroso, Juncker, Draghi) präsen- 188 tierte dem Europäischen Rat Ende 2012 einen Bericht zu einem „spezifischen Fahr-

_____ 627 Beschl 2004/548, ABl 2004 L 244/47; ergänzend Vereinbarung mit EU v 30.6.2011, ABl C 369/1, zuletzt geändert durch Beschl der Kommission (EU) 2018/493, ABl 2018 L 81/45. 628 Zum Bsp Rats-Entscheidung 1999/96, ABl 1999 L 30, 31 (Monaco), 1999/97, ABl 1999 L 30, 33 (San Marino); Vereinbarungen hierzu: ABl 2002 L 142/59 und bzw ABl 2001 C 201/1 und 2017 L 19/71. 629 Etwa mit dem Staat Vatikanstadt (v 17.12.2009), ABl 2010 C 28/13, ABl 2014 C 73/29, ABl 2017 L 19/64; mit Monaco, ABl 2012 C 23/13; vgl Siekmann/Freimuth Art 128 AEUV Rn 127 f. 630 98/683, ABl 1998 L 320/58; s a Siekmann/Kadelbach Art 219 AEUV Rn 62 f; ferner Rats-Beschl 2011/433/EU und Vereinbarung v 12.7.2011, ABl 2011 L 189/1, 3 (Saint-Barthélemy). 631 Entscheidung 98/744, ABl 1998 L 358/111; vgl BK/Häde Art 88 GG Rn 691; Pechstein/Nowak/ Häde/Gramlich Art 219 AEUV Rn 17. 632 Vgl Siekmann/Freimuth Art 128 AEUV Rn 120 f; Siekmann/Kadelbach Art 219 AEUV Rn 65; ähnlich früher die DM in (Ex-)Jugoslawien; s BayVGH, 10 B 11.480, BayVBl 2012, 429 (431); dazu Söllner DVBl 2012, 655 ff. Ludwig Gramlich

1330 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

plan mit Terminvorgaben für die Verwirklichung einer echten Wirtschafts- und Währungsunion“.633 Im Verlauf eines dreistufigen Prozesses sollte 2013 eine „Sicherung der fiskalischen Nachhaltigkeit und Kappen der Verbindung zwischen Banken und Staaten“ erfolgen, sodann die „Vollendung des integrierten Finanzrahmens und (eine) Förderung solider strukturpolitischer Maßnahmen“, endlich (nach 2014) die „Stärkung der Widerstandsfähigkeit der WWU durch Schaffung einer Schockabfederungsfunktion auf zentraler Ebene“.634 In einem von der Politik in Auftrag gegebenen Gutachten zur „Überwindung der 189 Eurokrise und Stabilisierungsoptionen der Wirtschaftspolitik“635 fasste Welfens seine Erkenntnisse in 12 Punkte einer „neuen Konzeption für eine nachhaltig stabile Euro-Währungsunion“. Ein ähnlich weitreichendes Konzept für eine „vertiefte und echte“ Wirtschafts- und Währungsunion präsentierte Ende November 2012 die Kommission, als „Auftakt für eine europäische Diskussion“.636 Das EU-Organ stellte Schritte und Maßnahmen dar, die kurz-, mittel- und langfristig notwendig seien, von verstärkter politischer Koordination über Fiskalkapazität bis zu mehr gemeinsamen Entscheidungen über öffentliche Einnahmen, Ausgaben und Schulden.637 Einige der angesprochenen Instrumente könnten im Rahmen der bestehenden Verträge verabschiedet werden, andere erforderten Änderungen der Verträge und neue Befugnisse für die Union. Jene könnten kurzfristig in Angriff genommen und sollten spätestens mittelfristig abgeschlossen, die letztgenannten hingegen nur mittelfristig eingeleitet und erst langfristig umgesetzt werden. Das Konzept bilde eine Einheit, in der jede Phase auf der vorhergehenden aufbaut. Im Frühjahr 2017 vorgestellte Perspektiven einer Vertiefung, anknüpfend an 190 den Fünf-Präsidenten-Bericht vom Juni 2015,638 zielten auf Maßnahmen in drei Bereichen: Vollendung einer echten „Finanzunion“, stärker integrierte Wirtschaftsund Fiskalunion, Verankerung demokratischer Rechenschaftspflicht und Stärkung der Institutionen des Euroraums.639 Einen „Fahrplan“ für „weitere Schritte“ publizierte die Kommission gegen Jahresende.640 Schließlich skizzierte dieses Organ die Notwendigkeit einer stärkeren „internationalen Rolle“ des Euro.641

_____ 633 „Auf dem Weg zu einer echten Wirtschafts- und Währungsunion“, http://www.consilium. europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/ec/134206.pdf. 634 Vgl den „Überblick über den Ablaufplan“ und die Anlage. 635 Europäisches Institut für Internationale Wirtschaftsbeziehungen, Januar 2013; vgl bereits Jahresgutachten des Sachverständigenrats 2011/12. Verantwortung für Europa wahrnehmen. 636 COM(2012) 777; zur „Stärkung der sozialen Dimension“ s COM(2013) 690. 637 Vgl dazu auch die Bilanz nach 10 Jahren, KOM(2008) 238. 638 Oben, Rn 82. 639 Reflexionspapier zur Wirtschafts- und Währungsunion (v 31.5.2017), COM(2017) 291; krit das Jahresgutachten 2017/18 des Sachverständigenrats, BT-Drs 19/80, S 39 ff. 640 COM(2017) 821. 641 COM(2018) 796. Ludwig Gramlich

V. Perspektiven | 1331

Ob, wann und wie die EU, vor allem die Kommission ihre Konzepte durchsetzen 191 kann, ist offen. Das grundsätzliche Dilemma zwischen intendierter fortschreitender vertiefter Integration und notwendiger (stärkerer bzw besserer) demokratischer Legitimation des Unionshandelns, das insbesondere bei der erneut aufgekommenen Diskussion über eine „Wirtschaftsregierung und einen echten europäischen Haushalt sichtbar wird,642 stellt das (politische) Projekt Europäische Union auf eine harte Probe, muss aber gelöst werden, wenn Europa nicht scheitern soll.

_____ 642 Vgl etwa Bundesfinanzminister Scholz, https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/ DE/Reden/2018/2018-11-28-Europarede-HU-Berlin.html. Ludwig Gramlich

1332 | § 15 Die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union

Ludwig Gramlich

§ 16 Die Kohäsionspolitik der Union | 1333

Matthias Rossi

§ 16 Die Kohäsionspolitik der Union § 16 Die Kohäsionspolitik der Union Matthias Rossi § 16 Die Kohäsionspolitik der Union https://doi.org/10.1515/9783110498349-016

Gliederungsübersicht I. Allgemeines zur Kohäsionspolitik 1. Begriff der Kohäsionspolitik 2. Entwicklung der Kohäsionspolitik a) Gründungsverträge b) Landwirtschaftsfonds c) Regionalfonds d) Einheitliche Europäische Akte e) Vertrag von Maastricht f) Reform von 1999 g) Vertrag von Lissabon h) Ausblick 3. Funktionen der Kohäsionspolitik a) Entwicklungsfunktion b) Sozialpolitische Funktion c) Finanzausgleichsfunktion d) Machtpolitische Funktion e) Einflusssichernde Funktion f) Kohäsionspolitik als Wachstumsinstrument 4. Kohäsionspolitik und Solidarität II. Das Recht der Kohäsionspolitik 1. Rechtliche Grundlagen im Überblick a) Primärrecht aa) Kohäsion als Ziel, Kohäsionspolitik als Querschnittsaufgabe bb) Strukturpolitische Generalklausel cc) Mitwirkung der Mitgliedstaaten dd) Ermächtigungen für Strukturfonds und Durchführungsverordnungen b) Sekundärrecht aa) Allgemeine Verordnung bb) Fondsspezifische Verordnungen cc) Durchführungsverordnungen dd) Mehrjähriger Finanzrahmen und Haushaltspläne c) Soft Law d) Nationales Recht 2. Charakter des Rechts der Kohäsionspolitik a) Mehrebenenbinnenrecht b) Leistungsverwaltungsrecht c) Planungsrecht d) Verwaltungskooperationsrecht e) Verfahrensrecht f) Kohäsionspolitik als Meta-Governance-Instrument 3. Grundbegriffe der Kohäsionspolitik 4. Grundsätze der Kohäsionspolitik a) Grundsatz der Konzentration

Matthias Rossi https://doi.org/10.1515/9783110498349-016

Rn 1 1 4 5 6 8 10 12 14 18 20 22 23 26 28 29 30 32 33 36 37 38 38 40 44 48 49 55 58 60 61 63 66 67 68 69 70 72 73 74 75 77 79

1334 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

III.

IV.

V. VI. VII.

b) Grundsatz der Programmplanung c) Grundsatz der Partnerschaft d) Grundsatz der Zusätzlichkeit e) Grundsatz der Wirtschaftlichkeit Verfahren der Kohäsionspolitik 1. Politische und finanzielle Vorentscheidungen a) Mittelfristige politische Zielsetzungen b) Mittelfristige finanzielle Rahmenbedingungen c) Haushaltsplan 2. Planungsphase 3. Vollzugsphase 4. Kontrollphase Die fünf Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESI) 1. Europäischer Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) a) Rechtsgrundlage und Überblick b) EFRE-Verordnung aa) Allgemeiner Teil bb) Besonderer Teil cc) Schlussbestimmungen c) Würdigung 2. Europäischer Sozialfonds (ESF) a) Rechtsgrundlage und Überblick b) Sekundärrechtliche Ausgestaltung c) Umsetzung d) Würdigung 3. Der Kohäsionsfonds (KF) a) Rechtsgrundlage und Überblick b) Förderung durch den Kohäsionsfonds 4. Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raumes (ELER) 5. Europäischer Meeres- und Fischereifonds (EMFF) Weitere Fonds und Unterstützungsprogramme Flankierung der Kohäsionspolitik durch die EIB Kohäsionspolitik und Beihilfenaufsicht

83 85 87 88 89 90 91 93 99 102 107 109 113 114 114 117 119 124 126 127 129 129 132 135 139 140 140 142 145 149 153 155 160

Spezialschrifttum Bachtler, John/Berkowitz, Peter/Hardy, Sally/Muravska, Tatjana EU Cohesion Policy, 2016; Bachtler, John/Mendez, Carlos/Wishlade, Fiona EU Cohesion Policy and European Integration: The dynamics of EU budget and regional policy reforms, 2013; Battis, Ulrich/Kersten, Jens Europäische Politik des territorialen Zusammenhalts. Europäischer Rechtsrahmen und nationale Umsetzung, 2008; Becker, Peter Die europäische Kohäsionspolitik und ihre Modernisierung, SWP-Studie, 2009; Dörr, Julian Die Europäische Kohäsionspolitik, 2017; Busch, Berthold Kohäsionspolitik in der Europäischen Union, IW-Analysen No 121, 2018; Heinemann, Friedrich/Hagen, Tobias/Mohl, Philipp/Osterloh, Steffen/Sellenthin, Marc O Die Zukunft der EU-Strukturpolitik, 2010; Kaßmann, Anna F Beitragsgerechtigkeit bei der Finanzierung der Europäischen Union, 2012; Löwe, Andreas Die künftige Kohäsionspolitik der EU 2014–2020 im Lichte des Subsidiaritätsprinzips, 2012; Mögele, Rudolf Die Durchführung der EU-Förderpolitiken durch die Mitgliedstaaten im Spannungsfeld europäischen Verwaltungs- und Haushaltsrechts – ein Werkstattbericht aus der Praxis der europäischen Mehrebenenverwaltung, EuR 2016, 490 ff.

Matthias Rossi

I. Allgemeines zur Kohäsionspolitik | 1335

I. Allgemeines zur Kohäsionspolitik I. Allgemeines zur Kohäsionspolitik 1. Begriff der Kohäsionspolitik Der Begriff der Kohäsionspolitik beschreibt die Politikbereiche der Europäischen 1 Union zur Förderung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts. Bei streng an den vertraglichen Begrifflichkeiten ausgerichtetem Sprachge- 2 brauch ist ein solch weites Verständnis von Kohäsionspolitik freilich unzutreffend. Denn Art 3 III 3 UAbs 3 EUV spricht vom „wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt“, und diese Begrifflichkeit verwendet sowohl der gesamte Titel XVIII im Dritten Teil des AEUV als insbesondere auch die „strukturpolitische Generalklausel“ des Art 174 I AEUV. Für die Politik zur Förderung des „wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts“ hat sich in Deutschland deshalb zunächst der Begriff der Strukturpolitik – oder differenzierter im Plural: Strukturpolitiken – durchgesetzt. Dieser Oberbegriff trug dem Umstand Rechnung, dass der Begriff der Kohäsion nur in Bezug auf den Kohäsionsfonds von Art 177 II AEUV verwendet wird. Der Kohäsionsfonds ist streng genommen aber auf die finanzielle Förderung von Vorhaben in den Bereichen Umwelt und transeuropäische Netze auf dem Gebiet der Verkehrsinfrastruktur beschränkt. Doch von dieser inhaltlichen Beschränkung hat sich der Begriff der Kohäsionspolitik unter dem Einfluss der englischen (cohesion) und französischen (cohésion) Begrifflichkeiten zum Synonym für Strukturpolitik gewandelt und diesen aus dem Sprachgebrauch weitgehend verdrängt. Er ist jedoch alles andere als scharf. Begriffliche Abgrenzungen – etwa zur Re- 3 gionalpolitik, die zT synonym, zT auch enger verstanden wird – sind angesichts der politisch gewollten und auch schon weitgehend verwirklichten Kohärenz der nur normativ trennbaren Politikbereiche kaum leistbar. Zudem hängt seine Bedeutung mehr als die anderer Begriffe von zahlreichen Vorverständnissen ab, die in den einzelnen Staaten ebenso wie in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen deutlich voneinander abweichen können. Kohäsionspolitik mag marktunterstützend oder marktintervenierend empfunden werden, mag effektivitätssteigernd oder doch nur gleichmacherisch wahrgenommen werden, mag als mikroökonomisches Initiativbündel oder als makroökonomisches Instrument eingestuft werden.1 Welche politischen Maßnahmen und Zielsetzungen entsprechend solch unterschiedlicher Vorverständnisse begrifflich unter die Kohäsionspolitik fallen sollen und welche nicht, steht nicht eindeutig fest. Die Kohäsionspolitik lässt sich angesichts dieses Befunds nicht simplifizierend definieren, sondern in ihrer Komplexität nur beschreiben. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei ihrer Entwicklung zu.

_____ 1 Vgl zum Ganzen Bachtler/Mendez/Wishlade S 11. Matthias Rossi

1336 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

2. Entwicklung der Kohäsionspolitik 4 Die Entwicklung der Kohäsionspolitik ist von ständigen Reformen und von Neu-

ordnungen gekennzeichnet. Keine Förderperiode vergeht, ohne dass nicht Modifikationen für die nächste vorgenommen werden.2 Dieser Umstand mag dem planenden Charakter der Kohäsionspolitik entsprechen, dem irrige Annahmen immanent sind. So verwundert mitunter der Optimismus, mit dem trotz ex-post erkannter Fehlentwicklungen stets auf die Effizienz künftiger kohäsionspolitischer Maßnahmen vertraut wird. Die permanenten Reformen und Reförmchen der Kohäsionspolitik spiegeln sich vor allem in den jeweiligen mehrjährigen Finanzrahmen sowie in den sekundärrechtlichen Fondsverordnungen, weniger hingegen in der Entwicklung des Primärrechts wider. Gleichwohl indiziert die Genese der primärrechtlichen Grundlagen die zunehmende Bedeutung der Kohäsionspolitik für die Europäische Integration.

a) Gründungsverträge 5 Der EWGV enthielt keine expliziten rechtlichen Grundlagen für eine Kohäsionspolitik. Immerhin drückten die Mitgliedstaaten in der Präambel aber das Bestreben aus, „ihre Volkswirtschaften zu einigen und deren harmonische Entwicklung zu fördern, indem sie den Abstand zwischen einzelnen Gebieten und den Rückstand weniger begünstigter Gebiete verringern.“ Darüber hinaus sah Art 123 EWGV schon einen Europäischen Sozialfonds (ESF) vor, dessen Mittel zur Förderung der räumlichen und beruflichen Freizügigkeit der Arbeitskräfte gedacht waren und dementsprechend zur Umschulung und zur Umsiedlung von Arbeitslosen verwendet wurden. Ebenso erlaubte Art 40 IV EWGV die Errichtung eines oder mehrerer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft.

b) Landwirtschaftsfonds 6 Ein solcher Europäischer Ausgleichs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft

(EAGFL) wurde 1962 eingerichtet.3 Er war ein wichtiges Instrument zur Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU-Mitgliedstaaten, diente aber nicht primär zur Förderung landwirtschaftlicher Umstrukturierungen (Abteilung „Ausgleich“), sondern vor allem auch zur „Marktstützung“ (Abteilung „Garantie“) – ein euphemistischer Begriff für einen planwirtschaftlichen Eingriff in den Weltmarkt. Weder der EAGFL noch der ESF sind ursprünglich als Instrumente einer Regi7 onalpolitik oder gar einer Kohäsionspolitik eingesetzt worden. Vielmehr verfolgten sie bestimmte sozialpolitische Ziele – die Integration von Arbeitslosen in den Ar-

_____ 2 Vgl Weise S 50 ff u S 168 ff; P Becker S 5. 3 VO 25, ABl 1962 P 30/991 f. Matthias Rossi

I. Allgemeines zur Kohäsionspolitik | 1337

beitsmarkt dort, die Sicherung des Einkommens der Landwirte hier. Dementsprechend verfügten die Fonds auch nur über vergleichsweise geringe Mittel. Ein größeres Finanzvolumen wurde angesichts der damaligen hohen Wachstumsraten der Volkswirtschaften und vor dem Hintergrund einer weitgehenden Vollbeschäftigung nicht für erforderlich gehalten.

c) Regionalfonds Die Initialzündung zu einer Kohäsionspolitik im heutigen, in einem weiten Sinne 8 erfolgte auf dem Pariser Gipfeltreffen 1972. Angesichts der bevorstehenden ersten Erweiterung der Europäischen Gemeinschaften um Irland, Großbritannien und Dänemark war es der Wille der Staats- und Regierungschefs, die durch die intendierte Wirtschafts- und Währungsunion zu erwartende Vergrößerung regionaler Unterschiede wenn auch nicht bekämpfen, so doch abmildern zu können. So wurden etwa die Mittel des ESF zu 60% für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Problemregionen reserviert und insofern erstmals regionale Präferenzen festgelegt. Zusätzlich wurde der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) gegründet, der explizit als regionalpolitisches Instrument vorgesehen war. Er wurde 1976 durch eine Verordnung gegründet, die auf Art 235 EWGV gestützt wurde, der in seiner Funktion dem heutigen Art 352 I AEUV entspricht.4 Später hat er durch die EEA zunächst in Art 130c EWGV und sodann in Art 160 EGV eine eigenständige Rechtsgrundlage erhalten, die sich seit dem Vertrag von Lissabon in Art 176 AEUV wiederfindet. Neben ökonomischen Argumenten war maßgebend auch das politisch verwen- 9 dete Nettozahlerargument: Das Vereinigte Königreich, das in Beitrittsverhandlungen mit den Gemeinschaften stand, verfügte über ein überdurchschnittliches Pro-Kopf-BIP, wusste aber, dass es aufgrund seiner vergleichsweise geringen Landwirtschaft nicht von den Agrarhilfen profitieren würde. Mit dem EFRE wurde den Briten insofern die Möglichkeit eines „juste retour“ eröffnet.5 Aus wirtschaftswissenschaftlicher ebenso wie aus rechtlicher Perspektive erscheint es freilich verfehlt, die Einzahlungen eines jeden Mitgliedstaates seinen Nutzungen aus den Kohäsionsfonds gegenüberzustellen. Nur aus politischer Perspektive ist eine solche Gegenüberstellung verständlich. Insofern wird Deutschland nicht müde zu betonen, dass es für die Förderperiode 2014–2020 insgesamt 19,2 Mrd Euro aus den Struktur- und Investitionsfonds – zu denen der EFRE sowie der ESF zählen – erhalten wird, wobei rund 9,7 Mrd Euro für Übergangsregionen und rund 8,5 Mrd Euro für entwickelte Regionen zur Verfügung stehen.6 Weitere 965 Mio Euro werden in Deutschland

_____ 4 VO 724/75, ABl 1975 L 73/1. 5 Rudzio S 112 mwN. 6 Vgl https://ec.europa.eu/germany/eu-funding/grants_de. Matthias Rossi

1338 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

für die europäische territoriale Zusammenarbeit in Anspruch genommen werden können.

d) Einheitliche Europäische Akte 10 Nach verschiedenen kleineren Reformen, namentlich des EFRE in den Jahren 1979

und 1984, war insbesondere das Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte im Jahr 1987 für die Entwicklung und Reform der Strukturpolitik von entscheidender Bedeutung. Durch sie fand ein neuer Titel V („Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt“) Eingang in den EWG-Vertrag (Art 130a bis 130e EWGV). Nunmehr existierte eine eigenständige Rechtsgrundlage für den EFRE. Daneben erteilte Art 130d EWGV dem Rat einen Rechtsetzungsauftrag zur „Präzisierung und Rationalisierung der Aufgaben“ der Strukturfonds. Auf dieser Rechtsgrundlage wurde mit der VO 2052/88 über „Aufgaben und Ef11 fizienz der Strukturfonds“7 ein Rechtsrahmen initiiert, der zugleich deren Koordinierung bezweckte.8 Der Sekundärrechtsakt legte vorrangige Förderziele und -grundsätze fest. Außerdem wurde die Tätigkeit der EIB auf die Ziele und Instrumente der Strukturfonds abgestimmt. Dieser Ansatz der Reform von 1988, mittels einer übergreifenden Verordnung grundlegende Bestimmungen für die verschiedenen Fonds bereitzustellen, wird bis heute verfolgt und spiegelt sich in der in Kraft befindlichen sog Allgemeinen Verordnung wider. Daneben bestanden drei Durchführungsverordnungen für den EFRE, den ESF und den EAGFL.9 Erstmals erfolgte eine mehrjährige Programmplanung, nämlich für den Zeitraum 1989–1993. Zugleich wurde der Strukturpolitik im Haushalt ein deutlich größeres Gewicht eingeräumt – ihr Anteil wuchs von rund 5% in den siebziger Jahren auf nun rund 15%. Eine Ursache für den Bedeutungszuwachs der Strukturpolitik in den achtziger Jahren war der Beitritt Griechenlands, Spaniens und Portugals, deren im Vergleich zu den damaligen Mitgliedstaaten deutlich unterschiedliche Wirtschaftskraft die Beseitigung von Ungleichheiten zunehmend auf die politische Agenda brachte.10

e) Vertrag von Maastricht 12 Der Vertrag von Maastricht führte auf primärrechtlicher Ebene zu einer noch stärkeren Herausbildung der Strukturpolitik. Der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt wurde an prominenter Stelle, nämlich in Art B EUV, als ein Ziel der Union be-

_____ 7 VO 2052/88, ABl 1988 L 185/9. 8 Die Koordinierung war vornehmlich in der Durchführungsverordnung zur VO 2052/88 geregelt: VO 4253/88, ABl 1988 L 374/1. 9 VO 4254/88, ABl 1988 L 374/15; VO 4255/88, ABl 1988 L 374/21; VO 4256/88, ABl 1988 L 374/25. 10 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Kern/C Eggers Art 174 AEUV Rn 19. Matthias Rossi

I. Allgemeines zur Kohäsionspolitik | 1339

nannt. Des Weiteren wurde die Strukturpolitik in den Aufgaben (Art 2 EGV) und im Tätigkeitsbereich der Gemeinschaft (Art 3 lit j EGV) verankert. Zudem wurde mit Art 130d EGV eine Rechtsgrundlage für die Schaffung eines Kohäsionsfonds (KF) aufgenommen. Das „Protokoll über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt“ bekräftigte die Bedeutung der Strukturpolitik „für die umfassende Entwicklung und den dauerhaften Erfolg der Gemeinschaft“. Auch die „Erklärung zu den Gebieten in äußerster Randlage“ machte die zunehmende strukturpolitische Ausrichtung der Gemeinschaft deutlich. Die Reform der Strukturpolitik im Jahr 1993 spielte sich innerhalb des im Jahr 13 1988 kreierten Rechtsrahmens ab und sollte für den Zeitraum 1994–1999 insbesondere Verfahrensoptimierungen bewirken.11 Des Weiteren wurden die Grundsätze der Zusätzlichkeit und der Partnerschaft forciert. 12 Infolgedessen wurden sämtliche Strukturfondsverordnungen überarbeitet. In finanzieller Hinsicht wurde nun rund ein Drittel der Haushaltsmittel für die Strukturpolitik veranschlagt. Basierend auf der Rechtsgrundlage des Art 130d II EGV wurde 1994 zudem der KF ins Leben gerufen.13

f) Reform von 1999 Der 1999 in Kraft getretene Vertrag von Amsterdam war für die Entwicklung der 14 Strukturpolitik nur von geringer Bedeutung. Immerhin wurden die „benachteiligten Inseln“ in die strukturpolitische Generalklausel des Art 158 II EGV aufgenommen. Auf sekundärrechtlicher Ebene kam es für den Planungszeitraum 2000–2006 15 hingegen zu einer neuerlichen Reform, welche sowohl vom „Lissabon-Prozess“14 als auch von dem geplanten Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten beeinflusst wurde.15 Den schwächsten Regionen wurde eine noch größere Aufmerksamkeit zuteil. Des Weiteren sollten erneut Verbesserungen auf der Verfahrensebene erreicht werden. Im Vordergrund der Reform stand aber eine effizientere Verwendung der Mittel. Deshalb wurde eine „Verordnung mit allgemeinen Bestimmungen über die Strukturfonds“ 16 geschaffen, welche die Koordinierungsverordnung (VO 2052/88) und deren Durchführungsverordnung (VO 4253/88) ablöste und sich funktional heute in der Allgemeinen Verordnung wiederfindet. Daneben wurden fünf neue fondsspezifische Verordnungen für den EFRE, den ESF, den EAGFL, den

_____ 11 12 13 14 15 16

Schöndorf-Haubold S 59. Schöndorf-Haubold S 59. VO 1164/94, ABl 1994 L 130/1. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Kern/C Eggers Art 174 AEUV Rn 21. Schöndorf-Haubold S 61. VO 1260/1999, ABl 1999 L 161/1.

Matthias Rossi

1340 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

FIAF17 und den KF verabschiedet. Außerdem wurden finanzielle Instrumente zur Heranführung von möglichen Beitrittskandidaten an den Standard der Mitgliedstaaten ins Leben gerufen. Die rechtliche Ausgestaltung der Förderperiode 2007–2013 entsprach in ihrer 16 Systematik bereits der legislativen Architektur des gegenwärtigen Förderzeitraums 2014–2020. Neben einer Allgemeinen Verordnung 18 existierten fondsspezifische Verordnungen für den EFRE,19 den ESF,20 den KF21 und den EVTZ.22 Zielsetzung dieser Reform war es, Synergien zu anderen Tätigkeitsbereichen der Gemeinschaft herzustellen. Zudem sollte eine einfache und dezentrale Fondsverwaltung gewährleistet werden.23 In diese Förderperiode fiel auch die Aufteilung des EAGFL.24 Dessen Abteilung 17 Garantie wurde in den Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) übernommen, der entsprechend seinen Aufgaben der Gemeinsamen Agrarpolitik zugewiesen ist. Die Abteilung Ausrichtung hingegen wurde in den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) überführt, bei dem die strukturpolitische Entwicklung im Vordergrund steht und der deshalb der Kohäsionspolitik zugeordnet ist.

g) Vertrag von Lissabon 18 Durch den Vertrag von Lissabon wurde das allgemeine Ziel des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts um die territoriale Komponente erweitert. Auch die Bezeichnung des Titels XVIII im Dritten Teil des AEUV und Art 174 I AEUV wurden entsprechend ergänzt. Praktisch bedeutsamer als diese primärrechtlichen Veränderungen ist der neue, 19 sog „lissabonisierte“ Ansatz der Kohäsionspolitik, der sich zum einen bereits in der Strategie „Europa 2020“ wiederfindet,25 zum anderen als Leitgedanke den mehrjährigen Finanzrahmen 2014–2020 bestimmt und schließlich auch normativen Niederschlag in der neuen „legislativen Architektur“ der Kohäsionspolitik, namentlich in der Allgemeinen Verordnung, gefunden hat.26 Während sich die „alte“ Kohäsi-

_____ 17 Finanzinstrument für die Ausrichtung der Fischerei, heute EMFF. 18 VO 1083/2006, ABl 2006 L 210/25. 19 VO 1080/2006, ABl 2006 L 210/1. 20 VO 1081/2006, ABl 2006 L 201/12. 21 VO 1084/2006, ABl 2006 L 201/79. 22 VO 1082/2006, ABl 2006 L 201/19. 23 Vgl die Website der EU-Kommission, http://ec.europa.eu/regional_policy/sources/docgener/in format/basic/basic_2007_de.pdf. 24 VO 1290/2005, ABl 2005 L 209/1. 25 KOM(2010) 2020. 26 S unten Rn 51. Matthias Rossi

I. Allgemeines zur Kohäsionspolitik | 1341

onspolitik auf die Förderung der rückständigsten Regionen konzentriert und hier durch eine Unterstützung in den Bereichen Infrastruktur und Beschäftigungspolitik zur Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts in der EU beitragen will, geht es der neuen Strategie darum, die Wettbewerbsfähigkeit, das Wachstum und die Beschäftigung zu steigern. Mögen die Unterschiede zwischen diesen Ansätzen auch nicht bei jeder Förderungsmaßnahme erkennbar sein, tritt neben die Umverteilungsfunktion doch erkennbar auch eine wachstumsorientierte Modernisierungspolitik.27

h) Ausblick Angesichts des bevorstehenden Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU 20 (Brexit) werden einige Anpassungen und Veränderungen in der Kohäsionspolitik auf die Union zukommen. Der Austritt eines der wirtschaftsstärksten Mitgliedstaaten und damit großem Nettozahler wird nicht nur (zukünftige) finanzielle Auswirkungen auf den EU-Haushalt haben. Wird der Austritt im Frühjahr 2019 vollzogen, so entsteht bei den Kohäsionsausgaben eine Lücke, da die Mittel für die Förderperiode 2014–2020 bereits zugewiesen sind. Daneben hat der Austritt auch auf Einteilung der Regionen Auswirkungen. Da EU-weit das Pro-Kopf-BIP sinken wird, können bspw „weniger entwickelte Regionen“ zu „Übergangsregionen“ aufsteigen.28 Unabhängig von den wirtschaftlichen und finanziellen Rahmenbedingungen 21 werden derzeit auch – einmal wieder – die rechtlichen Grundlagen der Kohäsionspolitik novelliert. Dabei soll die Kohäsionspolitik nach der Vorstellung der Kommission auch als Sanktionsinstrument für Verletzungen des Rechtsstaatsprinzip genutzt werden können.29 Ungeachtet der politischen Bewertung eines solchen Instruments wird aber noch zu prüfen sein, ob neben dem Verfahren des Art 7 EUV Sanktionen gegen Mitgliedstaaten verhängt werden können. In der Sache jedenfalls würden erstmalig kohäsionspolitische Finanzsanktionen ermöglicht, die unabhängig von haushaltsdefizitären Erwägungen wären.

3. Funktionen der Kohäsionspolitik Die Entwicklung der Kohäsionspolitik der EU zeigt nicht nur, dass der Kohäsionspo- 22 litik verschiedene Funktionen zugewiesen werden können, sondern auch, dass sich diese Funktionen oder jedenfalls doch die Prioritäten unter ihnen wandeln können. Dementsprechend sind die zahlreichen Beschreibungen und Kategorisierungen der

_____ 27 P Becker S 5. 28 Zum Ganzen näher Busch S 38 ff. 29 COM(2018) 324. Matthias Rossi

1342 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

Funktionen, die in der politischen Praxis und der sie beobachtenden Wissenschaft vorgenommen wurden und werden, nahezu unüberschaubar. Auch die nachfolgende Systematisierung ist insofern nur eine von zahlreichen Möglichkeiten, die Funktionen der Kohäsionspolitik zu beschreiben.30

a) Entwicklungsfunktion 23 Die Entwicklungsfunktion betont das Interesse der Kohäsionspolitik, die wirt-

schaftliche Entwicklung in bestimmten Gebieten der EU zu fördern. Ziel einer solchen Förderung ist, wie die Präambel zum EWGV es vielleicht sogar deutlicher als heute Art 3 III UAbs 3 EUV formulierte, den Abstand zwischen einzelnen Gebieten und den Rückstand weniger begünstigter Gebiete zu verringern.31 Dieses Ziel ist nicht nur politisch fundiert, sondern wurde ab den achtziger Jahren auch ökonomisch begründet. Während nämlich zu Beginn der europäischen Integration die Meinung vorherrschte, dass sich der Zusammenhalt unter den Mitgliedstaaten alleine durch die Mechanismen des Marktes einstellen würde, wurde mit der zunehmenden Erweiterung der Union deutlich, dass sich die Öffnung von Märkten nur in bestimmten Kernregionen positiv auswirken, an der Peripherie hingegen zu Nachteilen führen könne. Die Konvergenztheorie,32 nach der der Integrationsprozess nahezu von sich aus zu einer Konvergenz der verschiedenen Volkswirtschaften und Regionen führen müsste, war insofern durch die Divergenztheorie widerlegt: Mit zunehmender Integration können sich die Disparitäten zwischen Volkswirtschaften auch verstärken. Der Kohäsionspolitik wurde insofern die Aufgabe zugewiesen, die Integration in einen vollendeten Binnenmarkt zu flankieren, Anreize zu einer Konvergenz der Volkswirtschaften zu forcieren und etwaige Fehlentwicklungen zu korrigieren. Als marktintervenierendes Instrument steht die Kohäsionspolitik damit in ge24 wissem Widerspruch zur Grundkonzeption der europäischen Integration, die sich einen wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten schon durch die Öffnung der Märkte und entsprechende Harmonisie-

_____ 30 Sie folgt der Systematisierung von Rudzio S 56 ff, und ergänzt sie um eine einflusssichernde und eine wachstumsstützende Funktion zu sechs Funktionen. 31 Diese Formulierung findet sich heute immer noch in Art 174 II AEUV. 32 Der Konvergenztheorie zufolge sind die Wirtschaftsordnungen industrialisierter Länder, die anfänglich unterschiedlich strukturiert sind, gleichen technischen und wirtschaftlichen Sachzwängen ausgesetzt und müssen daher in einem Integrationsprozess ähnliche Lösungswege einschlagen. Der Begriff der wirtschaftlichen Konvergenz beschreibt deshalb die gegenseitige Angleichung (Annäherung und Übereinstimmung) zwischen konkreten, unterschiedlich ausgeprägten wirtschaftlichen Gesamtsystemen und ihrer Lage, Entwicklung und Ziele – so die knappe Erläuterung im Gabler Wirtschaftslexikon. Matthias Rossi

I. Allgemeines zur Kohäsionspolitik | 1343

rungen erhoffte.33 Jede wettbewerbsverfälschende Beeinflussung, namentlich durch staatliche Beihilfen, sollte hingegen ausgeschlossen sein. Vor diesem Hintergrund haben sich vor allem die Wirtschaftswissenschaften jenseits allgemeiner politischer Überlegungen mit der Wirksamkeit regionalpolitischer Interventionen befasst.34 Neben der neoklassischen Wachstumstheorie, der Außenwirtschaftswachstumstheorie und der neuen Wachstumstheorie hat das auch die „New Economic Geography“ zu erklären versucht.35 Ihre Erkenntnisse stehen aber in gewissem Widerspruch zur politischen Praxis, die nicht zuletzt aus Gründen der politischen Durchsetzbarkeit Strukturhilfen eher nach dem Gießkannenprinzip einsetzt. Aus juristischer Perspektive können die wirtschaftswissenschaftlichen Schwie- 25 rigkeiten bei den Empfehlungen der „richtigen“ Kohäsionspolitik und ihrer „Bilanz“36 nur beobachtet werden.37 Gleiches gilt für die politische Praxis mit ihrer verständlichen Präferenz zur Gleichmacherei. Doch spätestens bei der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit von Maßnahmen, einem in Art 310 V AEUV immerhin primärrechtlich verankerten und von Art 33 HO konkretisierten Maßstab des gesamten Haushaltsvollzugs, muss nicht nur jede einzelne kohäsionspolitische Maßnahme, sondern muss die Kohäsionspolitik insgesamt die Frage nach ihrer Sinnhaftigkeit beantworten können. 38 Dass die kohäsionspolitischen Rahmenbedingungen von Förderperiode zu Förderperiode „reformiert“ werden, um die Effizienz der kohäsionspolitischen Maßnahmen zu verbessern, lässt doch gewisse Zweifel an der Entwicklungsfunktion aufkommen. Häufige Kritikpunkte sind39 – Ineffizienz und mangelnde empirische Nachweisbarkeit von Konvergenzwirkungen, – fehlende Zielgenauigkeit bzw Förderung nach dem Gießkannenprinzip, – Fehlallokationen und Verstärkung von Mitnahmeeffekten durch Eingriffe in die Marktmechanismen, – Intransparenz der Förderung, Missachtung des Subsidiaritätsprinzips und zu hohe Bürokratiekosten. Ganz überwiegend wird – insbesondere aus politischer Perspektive und von den Europäischen Institutionen – daran festgehalten, dass der Kohäsionspolitik eine

_____ 33 Vgl Dörr ORDO 67 (2016), 193 ff. 34 Zsfd Adolf S 18 ff; aktuell Fratesi/Wishlade Regional Studies 2017, 817 ff; Bachtler/Begg/Charles/ Polverari EU Cohesion Policy in Practice, 2016. 35 Optimistischer Pflüger/Südekum Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 1/2005, 26 ff. 36 Verständlich Dreger/Kosfeld/Türck/Karl S 35 ff. 37 Instruktiv Heinemann et al S 27 ff; Ribhegge S 134 ff. 38 Gegenüberstellung der wirtschaftspolitischen Argumente für und gegen eine Kohäsionspolitik bei Ribhegge S 145 ff. 39 Auflistung bei P Becker S 11 mwN, der die Kohäsionspolitik selbst auf S 12 insgesamt als „höchst effektiv“ bezeichnet. Matthias Rossi

1344 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

maßgebliche Bedeutung für die wirtschaftliche, soziale und territoriale Entwicklung in den Mitgliedstaaten zukommt.

b) Sozialpolitische Funktion 26 Die sozialpolitische Funktion offenbart sich in der inhaltlichen Ausrichtung der

Finanzierungsinstrumente, die vor allem, aber nicht nur beim ESF auf sozialpolitische Zielsetzungen wie etwa die Beschäftigung gerichtet sind. Grundlegende Konsequenz der Anerkennung einer sozialpolitischen Funktion ist die auch horizontale Ausrichtung der Fonds, die stärker problem- und weniger gebietsbezogen eingesetzt werden müssen. Zudem entbindet die Anerkennung der sozialpolitischen Funktion von der Beschränkung auf investive Instrumente und erlaubt auch konsumtive Elemente, etwa in Form von Einkommensbeihilfen. Auf der anderen Seite wird jedenfalls jenseits des ESF davor gewarnt, die Kohä27 sionspolitik mit effizienzmindernden, „sachfremden“ allgemeinen Zielsetzungen zu überfrachten. Sozialpolitische, industriepolitische, umweltpolitische oder speziell auf die Währungsunion bezogene Maßnahme sollten nur dann Gegenstand auch der Kohäsionspolitik sein, wenn sie an strukturelle Ungleichgewichte anknüpfen und in der Lage sind, sie zu beseitigen.40 Die Anerkennung der Kohäsionspolitik als Querschnittsmaterie in Art 175 I 2 AEUV steht dieser wirtschaftswissenschaftlichen Einsicht freilich entgegen, so dass – gerade in Zeiten der Euro-Krise – die Kohäsionspolitik ohne Frage sozialpolitische Wirkungen entfaltet bzw entfalten soll.

c) Finanzausgleichsfunktion 28 Jenseits der konkreten Ziele der einzelnen Projekte kann das Fondswesen der Union

auch als haushaltswirtschaftliches Umverteilungssystem begriffen werden, das den Finanzausgleich des Eigenmittelsystems ergänzt.41 Die Finanzausgleichsfunktion der Kohäsionspolitik liegt in ihrer umverteilenden Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten. Zwar bewirken die Fonds keine allgemeine Einkommensumverteilung, sondern erlauben nur bestimmte, problem- bzw zweckgebundene finanzielle Interventionen. Doch in einem weiten Sinne lassen sich auch solche Finanzierungen als Finanzausgleich verstehen; sie bilden wenn auch kein ungebundenes, so doch ein gebundenes Finanzausgleichssystem. Dass die finanziellen Interventionen nicht stets den Mitgliedstaaten, sondern bspw bestimmten Regionen, noch kleineren lokalen Ebenen oder gar Unternehmen zu Gute kommen, steht der Annahme einer

_____ 40 Vgl Wasmayr S 208. 41 Vgl Ohler S 405; eingehend auch Kadelbach/Puttler S 43. Matthias Rossi

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Finanzausgleichsfunktion nicht entgegen.42 Denn löst man sich von dem engen Begriff und der spezifischen Struktur des bundesdeutschen Finanzausgleichs, kann doch nicht übersehen werden, dass die Mitgliedstaaten der EU immense Summen zur Verfügung stellen,43 die diese über die Kohäsionspolitik in bestimmte Regionen umverteilt.

d) Machtpolitische Funktion Als machtpolitische Funktion entpuppt sich die Möglichkeit, die Kohäsionspolitik 29 im Rahmen von politischen „Paketlösungen“ als Spielball für Kompromisse einsetzen und Zustimmungen zu anderen, kohäsionsfremden Entscheidungen „erkaufen“ zu können. So zeigen die Erfahrungen mit der europäischen Politik, dass „packagedeals“ häufig mit kohäsionspolitischen Finanzierungszusagen geschlossen wurden.44 Ob die gesamte Kohäsionspolitik allerdings mit der bewussten Intention geschaffen wurde, Kompromisse in politischen Streitfragen zu erzielen, muss bezweifelt werden. Dass sie, einmal ins Leben gerufen, in politische Paketlösungen einbezogen wird, ist hingegen verständlich, zumal ihr Charakter als Finanzierungsinstrument ein (vermeintlich) leicht zu quantifizierendes Tauschobjekt verspricht.

e) Einflusssichernde Funktion Als einflusssichernde Funktion soll bezeichnet werden, dass die Europäische Kom- 30 mission die Kohäsionspolitik als „goldene Zügel“ einsetzen kann, um jenseits exakter Kompetenzabgrenzungen und unter Umständen ohne die zentrale Staatsgewalt der Mitgliedstaaten direkten Einfluss auf verschiedenste Politikbereiche in den Regionen nehmen kann. Die Kohäsionspolitik gibt der EU und namentlich der Europäischen Kommission ein Instrument an die Hand, mit der sie von Brüssel aus tief in die Mitgliedstaaten hinein agieren kann – freilich nach dem Prinzip der Partnerschaft immer nur zusammen mit den jeweiligen staatlichen und privaten Akteuren. Nicht unterschätzt werden darf deshalb die Bedeutung der Kohäsionspolitik 31 für die Regionen. Denn durch die Strukturfonds wurden und werden die Regionen nicht länger von der Willensbildung der europäischen Integration ausgeschlossen. Mit zunehmender Bedeutung der Strukturfonds wurde seit 1988 eine neue Phase der europäischen Integration eingeläutet, weil die Entscheidungen nicht länger nur das Nadelöhr der nationalen Regierungen und Parlamente passieren mussten, sondern

_____ 42 Allerdings auch mit der Folge, dass wohlhabendere Mitgliedstaaten ebenso profitieren, vgl Kadelbach/Puttler S 43 (51). 43 Zum Beitragscharakter der wichtigsten „Eigenmittel“ vgl Dauses/Ludwigs/Rossi A III Rn 122. 44 Vgl Beispiele bei Rudzio S 63 ff. Matthias Rossi

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nunmehr von den Regionen in direktem Kontakt mit der Europäischen Kommission gefällt werden konnten.45 Was möglicherweise in erster Linie positiv bewertet werden mag, bleibt freilich nicht ohne Nachteil. Denn umgekehrt gibt die Kohäsionspolitik der Europäischen Kommission einen erheblichen Einfluss auf die Regionalpolitik. Unabhängig von der – sicherlich auch politischen – Bewertung eines solchen Einflusses trägt die Kohäsionspolitik auf diese Weise jedenfalls in den begünstigten Regionen ganz erheblich zur Sichtbarkeit der Europäischen Union bei, was von der Europäischen Kommission auch bewusst genutzt wird.46 Mag die Kohäsionspolitik in den begünstigten Regionen aber auch zu einer breiteren Akzeptanz der EU als solcher führen und ein „Wir-Gefühl“ schaffen, kann sie doch entgegen mancher selbstreflexiven Verblendung der Kommission nicht zu einer höheren Legitimation der EU führen.

f) Kohäsionspolitik als Wachstumsinstrument 32 Mit der expliziten Einbindung der Kohäsionspolitik in die Strategie „Europa 2020“

und insbesondere auch unter dem Eindruck der Euro-Krise scheint die Kohäsionspolitik über die Förderung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts hinaus ganz generell als Instrument begriffen zu werden, das Wachstum in der Europäischen Union zu fördern.

4. Kohäsionspolitik und Solidarität 33 Die Kohäsionspolitik ist grundsätzlich nicht darauf gerichtet, innerhalb der Europä-

ischen Union einheitliche Lebensverhältnisse herzustellen. Auch soll sie an sich nicht dafür Sorge tragen, dass alle Mitgliedstaaten mit ausreichender Finanzkraft ausgestattet sind. Denn das Europarecht ist grundsätzlich nicht durch ein Prinzip des bündischen Einstehens füreinander gekennzeichnet, wie es etwa das Bundesverfassungsgericht für die bundesstaatliche Ordnung in Deutschland hervorgehoben hat. Vielmehr geht das Europarecht grundsätzlich von der fiskalpolitischen Eigenverantwortlichkeit der Mitgliedstaaten aus, wie insbesondere Art 125 I AEUV zum Ausdruck bringt. Die Verbindlichkeit dieser sogenannten „no-bail-out“Klausel ist zwar im Zuge der Eurokrise sowohl aus wirtschaftswissenschaftlicher wie auch aus politischer Perspektive in Frage gestellt worden, jedoch bleibt sie in rechtlicher, gar in verfassungsrechtlicher Hinsicht ein fundamentales Prinzip für

_____ 45 Bachtler/Mendez/Wishlade S 21. 46 Vgl etwa die Broschüre der Kommission auf der Homepage der GD Regionalpolitik und Stadtentwicklung: Sichtbarkeit der Kohäsionspolitik sicherstellen: Informations- und Kommunikationsvorschriften 2014–2020. Matthias Rossi

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das Verhältnis der Europäischen Union zu ihren Mitgliedstaaten ebenso wie für das Verhältnis unter den einzelnen Mitgliedstaaten. Freilich lässt sich seit der Einführung der Strukturpolitiken die Tendenz erken- 34 nen, die Förderung des wirtschaftlichen, sozialen und nun auch territorialen Zusammenhalts zu einem allgemeinen Solidaritätsprinzip fortzuentwickeln. Dies findet zwar einerseits eine primärrechtliche Grundlage in der Hervorhebung der „Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“ in Art 3 III UAbs 3 EUV, darf aber nicht das Prinzip der fiskalpolitischen Eigenverantwortlichkeit der Staaten unterlaufen. Die Solidarität, jedenfalls die durch die Kohäsionspolitik konkretisierte Solidarität, hat sich deshalb weiterhin in „funktional gerechtfertigten zweckgebundenen Einzelakten“47 zu manifestieren. Die Zweckbindung ist ein, wenn nicht der entscheidende Aspekt der Kohäsionspolitik. Sie unterscheidet die Europäischen Strukturund Investitionsfonds von allgemeinen Finanzhilfen, ermöglicht eine gezielte Steuerung und erlaubt eine Kontrolle der Mittelverwendung. Wollte man sie durch eine Politik unterlaufen, die nur allgemein die Solidarität in der Europäischen Union fördern wollte oder sich unter Berufung auf die Solidarität frei von kohäsionspolitischen Zwecksetzungen fühlte, drohte die Gefahr, dass sich die Union entgegen dem Subsidiaritätsprinzip, entgegen dem Prinzip der finanziellen Eigenverantwortung und vor allen Dingen auch unter Überschreitung, jedenfalls aber Umgehung von sachlichen Kompetenzzuweisungen „goldener“ oder doch „goldfarbener Zügel“ bedient, um die Politik in den Mitgliedstaaten zu beeinflussen. Das Verhältnis zwischen dem Kohäsionsziel in Art 3 III UAbs 3 EUV und der in 35 derselben Vorschrift hervorgehobenen Solidarität ist also besser mit dem zweier Seiten einer Medaille beschrieben: „Geht es bei dem Kohäsionsziel also darum, die Gleichheit der Mitgliedstaaten durch Zuwendungen herzustellen, soll das Solidaritätsziel den Ausbruch der Mitgliedstaaten aus der Gleichheit verhindern.“48 Denn nach der allgemeinen Unionstreueklausel ist die Europäische Union gegenüber den Mitgliedstaaten zu einer Gleichbehandlung verpflichtet. Die Ziele dürfen deshalb nur auf der Grundlage objektiver Kriterien festgelegt werden, ohne einzelne Mitgliedstaaten hier zu bevorzugen oder zu benachteiligen, soweit nicht ein sachlicher Grund für eine Differenzierung vorliegt. Ob dieses Prinzip in der Praxis immer eingehalten wird, darf mit guten Gründen bezweifelt werden. Die Aushandlung des mehrjährigen Finanzrahmens und die abstrakte Festlegung der Förderziele kommt einem politischen „Geschacher“ gleich, bei dem sich möglicherweise nicht immer die „Bedürftigsten“, sondern die „Lautesten“ durchsetzen. Hier zeigt sich, dass die Kohäsionspolitik zwar abstrakt rechtlichen Vorgaben unterworfen ist, das Recht aber seine volle gestalterische und lenkende Kraft nicht immer entfalten kann.

_____ 47 So Ohler S 410 mwN. 48 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Terhechte Art 3 EUV Rn 57. Matthias Rossi

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II. Das Recht der Kohäsionspolitik II. Das Recht der Kohäsionspolitik 36 Auch wenn die Kohäsionspolitik im Ergebnis „nur“ in der Bereitstellung finanzieller Mittel besteht, ist sie doch rechtlich determiniert. Ein ganzes Bündel von Rechtsvorschriften regelt die Kohäsionspolitik im Zusammenhang mit Soft-Law-Vorgaben, die zu erfassen nicht immer einfach ist.

1. Rechtliche Grundlagen im Überblick 37 Die rechtlichen Grundlagen für die Kohäsionspolitik der Europäischen Union sind

primärrechtlich nur rudimentär angelegt. Maßgeblich ist letztlich ein ganzes Bündel an Verordnungen. Neben diesen Vorgaben sind es zudem vor allem die finanziellen Veranschlagungen im mehrjährigen Finanzrahmen und in den einzelnen Haushaltsplänen, die die Kohäsionspolitik determinieren. Zudem konkretisiert die Europäische Kommission die formellen Rechtsvorschriften häufig durch Mitteilungen. Daneben sind für die jeweiligen nationalen Anteile der finanziellen Förderungen auch die entsprechenden nationalen Bestimmungen zu beachten, die von verfassungsrechtlichen Kompetenzvorschriften über die haushaltsgesetzlichen Vorgaben bis hin zu den verwaltungsinternen Verwaltungsvorschriften reichen.

a) Primärrecht aa) Kohäsion als Ziel, Kohäsionspolitik als Querschnittsaufgabe 38 Im Primärrecht formuliert zunächst Art 3 III UAbs 3 EUV das Ziel der Union, „den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern.“ Ergänzt wird diese Bestimmung durch das Protokoll (Nr 28) über den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt, das gemäß Art 51 EUV Bestandteil der Verträge ist. Von elementarer Bedeutung ist darüber hinaus Art 175 I 2 AEUV, der in Ergänzung der allgemeinen Zielsetzung des Art 3 III UAbs 3 EUV den Querschnittscharakter der Kohäsionspolitik betont: „Die Festlegung und Durchführung der Politiken und Aktionen der Union sowie die Errichtung des Binnenmarkts berücksichtigen die Ziele des Art 174 und tragen zu seiner Verwirklichung bei.“ Das Kohäsionsziel ist deshalb auch bei der Durchführung der sonstigen Unionspolitiken, insbesondere etwa bei der Durchführung der Landwirtschafts-, der Verkehrs- und der Beschäftigungspolitik zu berücksichtigen. Konkretisiert werden diese allgemeinen Aufgaben und Absichtserklärungen 39 durch den Titel XVIII des Dritten Teils des AEUV, der ebenfalls mit „Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt“ überschrieben ist (Art 174–178 AEUV). Wegen der Einbindung des sozialen Zusammenhalts sind insofern auch die Vorschriften über den ESF bedeutsam, die systematisch im Zusammenhang mit der Sozialpolitik in einem eigenen Titel XI zusammengefasst sind (Art 162–164 AEUV), Matthias Rossi

II. Das Recht der Kohäsionspolitik | 1349

durch die Klarstellung des Art 175 I 3 AEUV aber rechtlich in die Kohäsionspolitik einbezogen sind, so dass insb die Ermächtigungsnorm des Art 177 I AEUV auch für den ESF Anwendung findet.49

bb) Strukturpolitische Generalklausel Von besonderer Bedeutung ist die sog strukturpolitische Generalklausel des Art 174 AEUV. Sie konkretisiert den Art 3 III UAbs 3 EUV in Bezug auf bestimmte Kohäsions- und Konvergenzziele, die ebenfalls in der Norm bestimmt werden. Die sich aus diesen Zielvorgaben ergebenden konkreten Pflichten der Union und der Mitgliedstaaten werden vor allem durch Art 175 AEUV vorgegeben, während Art 176–178 AEUV mit den Strukturfonds die wichtigsten Finanzierungsinstrumente zur Durchführung der Kohäsions- und Konvergenzpolitik der Union beschreiben. Art 174 I AEUV greift das bereits in Art 3 III UAbs 3 EUV benannte Ziel der Stärkung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts, der Kohäsion, auf, das seinerseits funktional auf eine harmonische Entwicklung der Union als Ganzes ausgerichtet ist und sich insoweit nur als Zwischenziel darstellt. Die Kohäsionspolitik erfasst deshalb grundsätzlich nur solche Probleme, die die Union als Ganzes betreffen, nicht hingegen etwa die Förderung einzelner mitgliedstaatlicher Volkswirtschaften oder des Wirtschaftslebens im engeren Sinne.50 Wie die Terminologie „die Union entwickelt und verfolgt weiterhin...“ zu erkennen gibt, hat die Bestimmung nur programmatischen Charakter. Ihre Verwirklichung ist deshalb zwingend auf Maßnahmen und Handlungen sowohl der Union als auch der Mitgliedstaaten nach Art 175 AEUV angewiesen.51 Als besonderes Ziel der Kohäsionspolitik der Union betont Art 174 II AEUV die Aufgabe, die Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen zu verringern, was als Konvergenz bezeichnet wird. Diese Vorschrift nimmt die Formulierung in der Präambel zum EWGV auf. Hervorzuheben ist, dass als maßgebliche Bezugsgrößen nicht die Mitgliedstaaten, sondern die Regionen fungieren. Damit zählt auch die Regionalpolitik zu den Aufgaben der Union, die insbesondere durch den EFRE gemäß Art 176 AEUV verwirklicht wird. Zugleich sind gemäß Art 175 I AEUV auch die Mitgliedstaaten verpflichtet, zur Konvergenz der Regionen beizutragen. Der durch den Vertrag von Lissabon eingeführte Art 174 III AEUV hebt bestimmte Regionen explizit hervor, denen im Rahmen der Strukturpolitik besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden soll, nämlich – den ländlichen Gebieten, – den vom industriellen Wandel betroffenen Gebieten

_____ 49 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Kingreen Art 162 AEUV Rn 2. 50 Vgl Streinz/Magiera Art 174 AEUV Rn 14; Schwarze/Priebe Art 174 AEUV Rn 8. 51 EuGH, Rs C-149/96 – Portugal / Rat, Rn 86. Matthias Rossi

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und den Gebieten mit schweren und dauerhaften natürlichen oder demografischen Nachteilen.

Als Beispiele werden die „nördlichsten Regionen mit sehr geringer Bevölkerungsdichte sowie die Insel-, Grenz- und Bergregionen“ genannt. Ihre Erwähnung geht auf verschiedene Forderungen der einzelnen Mitgliedstaaten zurück.52 Sie wird sich vor allem in den politischen Verhandlungen um die Ausgestaltung des jeweiligen mehrjährigen Finanzrahmens auswirken, der seinerseits gem Art 312 I UAbs 3 AEUV bei den konkreten Mittelbewilligungen in den einzelnen Haushaltsplänen zu beachten ist. Konkrete rechtliche Privilegierungen der genannten Gebiete gegenüber anderen Regionen, die insoweit „nur“ auf die strukturpolitische Generalklausel nach Art 174 I u II AEUV verwiesen sind, lassen sich der Norm nicht entnehmen.

cc) Mitwirkung der Mitgliedstaaten 44 Die zur Durchführung der in Art 174 AEUV umschriebenen Strukturpolitik erforder-

lichen Maßnahmen der Union und der Mitgliedstaaten werden von Art 175 AEUV konkretisiert. Die Vorschrift verdeutlicht zunächst, dass die Verwirklichung der Kohäsions- und Konvergenzziele entgegen dem Wortlaut des Art 174 AEUV nicht allein durch Maßnahmen der Union zu realisieren ist, sondern der Mitwirkung der Mitgliedstaaten bedarf. Zu diesem Zweck verpflichtet Art 175 I AEUV die Mitgliedstaaten in Konkretisierung des Art 121 I AEUV zu einer auf die von Art 174 AEUV vorgegebenen Ziele abgestimmten Wirtschaftspolitik. Diese Ziele treten neben die von Art 120 AEUV in den Blick genommenen Ziele der Wirtschaftspolitik. Angesichts der primären Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Ausführung 45 der Wirtschaftspolitik kommt der Union gemäß Art 175 I 3 „nur“ eine Unterstützungspflicht zu, der sie in erster Linie mit den Europäischen Investitions- und Strukturfonds (ESI) sowie der EIB, darüber hinaus aber auch im Rahmen ihrer sonstigen Finanzierungsinstrumente, nachzukommen hat. Diese sonstigen Finanzierungsinstrumente werden von Art 175 AEUV vorausgesetzt und können nicht auf seiner Grundlage errichtet werden.53 Im Unterschied zur zurückhaltenden Unterstützungspflicht nach Art 175 I 3 46 AEUV ermächtigt Art 175 III AEUV das Europäische Parlament und den Rat zu spezifischen strukturpolitischen Aktionen, die neben die primären Instrumente der Strukturfonds und die sonstigen Politiken treten. Die Querschnittsaufgabe verdichtet sich insoweit zu einer eigenständigen Politik. Eine Beschränkung auf bestimmte Handlungsformen ist nicht vorgesehen, wie der Begriff „Maßnahmen“ zum Ausdruck bringt. Sie werden im regulären Verfahren nach Art 294 AEUV und mangels

_____ 52 Vgl Fischer VVE S 342 f. 53 Calliess/Ruffert/Puttler Art 175 AEUV Rn 5. Matthias Rossi

II. Das Recht der Kohäsionspolitik | 1351

abweichender Regelung gem Art 16 III EUV mit qualifizierter Mehrheit des Rates und gem Art 231 I AEUV mit relativer Mehrheit des Parlaments beschlossen. Die Kommission wird von Art 175 II AEUV verpflichtet, dem Europäischen Par- 47 lament, dem Rat, dem Wirtschafts- und Sozialausschuss sowie dem Ausschuss der Regionen alle drei Jahre einen Bericht über die Durchführung der Kohäsionspolitik vorzulegen.54 Diese Berichtspflicht knüpft an die in Art 317 AEUV normierte Verantwortung der Kommission für den Haushaltsvollzug an.

dd) Ermächtigungen für Strukturfonds und Durchführungsverordnungen Die übrigen primärrechtlichen Vorschriften zum Kohäsionsrecht sind Ermächtigun- 48 gen zur sekundärrechtlichen Ausgestaltung der von Art 175 AEUV genannten Strukturfonds EAGFL bzw ELER, ESF, EFRE (Art 177 I AEUV), zur Gründung eines Kohäsionsfonds (Art 177 II AEUV) bzw zum Erlass von Durchführungsverordnungen (Art 178 AEUV). Von allen Ermächtigungen hat die Union durch den Erlass sekundärrechtlicher Vorschriften Gebrauch gemacht.

b) Sekundärrecht Kohäsionspolitik erschöpft sich nicht in materieller Rechtsetzung, sondern voll- 49 zieht sich durch die Bereitstellung finanzieller Mittel. Sie nutzt somit nicht das klassische Ordnungsrecht mit seinen Ge- und Verboten, sondern schafft wirtschaftliche bzw finanzielle Anreize. Kohäsionspolitik ist insofern Finanzierungspolitik. Die finanziellen Mittel werden durch verschiedene Fonds bereitgestellt, auf die sich die wichtigsten sekundären Rechtsakte beziehen. Die fünf folgenden Fonds werden sekundärrechtlich als Europäische Struktur- und Investitionsfonds (ESI) zusammengefasst: – EFRE – Europäischer Fonds für regionale Entwicklung – ESF – Europäischer Sozialfonds – KF – Kohäsionsfonds – ELER – Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raumes – EMFF – Europäischer Meeres- und Fischereifonds.

– –

Hinzu treten weitere Instrumente, derzeit: JASPERS – Joint Assistance to Support Projects in European Regions IPA – Instrument für Heranführungshilfe (Instrument for Pre-Accession Assistance)

_____ 54 Die Berichte sind abrufbar unter http://ec.europa.eu/regional_policy/en/information/cohesionreport/. Matthias Rossi

1352 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

— – – –

EUSF – Europäischer Solidaritätsfonds EGF – Europäischer Fonds für die Anpassung an die Globalisierung ETZ – Europäische Territoriale Zusammenarbeit EVTZ – Europäischer Verbund für territoriale Zusammenarbeit.

50 Mit den primärrechtlichen Vorgaben ist diese Strukturierung nur bedingt verein-

bar. Denn Art 175 I 3 AEUV fasst nur den ELER, ESF und EFRE als Strukturfonds zusammen und ordnet somit insbesondere den KF den sonstigen Finanzierungsinstrumenten zu. Die sekundärrechtliche Systematisierung droht insofern die engeren inhaltlichen Vorgaben für die sonstigen Finanzierungsinstrumente, insbesondere die strengeren Vorgaben des Art 177 II AEUV für den KF, zu unterlaufen und zu einer Nivellierung der kohäsionspolitischen Fonds und Instrumente beizutragen. Freilich sind die Zwecksetzungen der einzelnen Fonds dem praktischen und ökonomischen Bedürfnis nach einer Kohärenz ohnehin derart angeglichen worden, dass jede Forderung nach einer strengen Beachtung der primärrechtlichen Vorgaben und Trennung der einzelnen Fonds als formale Prinzipienreiterei folgenlos bliebe. Unabhängig von der Abweichung der Strukturierung der Fonds von den ver51 traglichen Grundlagen ist der Vollzug der Fonds seit den achtziger Jahren nicht mehr allein der Steuerung durch die allgemeinen haushaltsrechtlichen Grundlagen überlassen, sondern sekundärrechtlich präzisiert worden. Die neue „legislative Architektur“, die die Kommission hierfür im Jahre 2011 vorgeschlagen hat und die durch die Verabschiedung zahlreicher Verordnungen im Dezember 2013 fertiggestellt wurde, sieht – eine übergreifende Verordnung mit gemeinsamen Regelungen für den EFRE, den ESF, den KF, den ELER, den EMFF sowie weitere allgemeine Regelungen für den EFRE, ESF und KF, – drei spezifische Verordnungen für den EFRE, den ESF und den KF, – zwei Verordnungen zu dem Ziel ETZ und zum EVTZ vor. 52 Dieses Legislativpaket zielt durch eine Harmonisierung der Regelungen zu den ver-

schiedenen Fonds darauf ab, die Kohärenz der Kohäsionspolitik zu steigern. Bereits in dieser Struktur der rechtlichen Rahmenvorgaben wird erkennbar, dass die ESI nunmehr unter einem gemeinsamen strategischen Rahmen (GSR) zusammengefasst und noch konsequenter auf die Stärkung von Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung ausgerichtet sind.55 Die Lesbarkeit mancher Verordnung mag durchaus verbessert werden können, 53 doch ihre Komplexität lässt sich nur teilweise noch reduzieren. Dementsprechend

_____ 55 Vgl Anhang I zur VO 1303/2013 (Allgemeine Verordnung). Matthias Rossi

II. Das Recht der Kohäsionspolitik | 1353

wird man als interessierter Antragsteller auf ministerielle Aufbereitungen und kommerzielle Schulungen und Handbücher nicht verzichten können.56 Sich dieser Problematik gewahr, hat die Kommission bei der Ausarbeitung des 54 neuen kohäsionspolitischen Rahmens für den Zeitraum 2021–2027 „Vereinfachung“ zum Leitprinzip erhoben.57 Neben der einfacheren Gestaltung durch Reduktion, Kürzen und klarerer Gestaltung der Regelung stand auch die Flexibilität im Vordergrund. Nach Auffassung der Kommission hätten insbesondere die Migrations- und Flüchtlingskrise, aber auch die zunehmend häufiger auftretenden Naturkatastrophen verdeutlicht, dass ein schnelles und effizientes Reagieren auf unvorhergesehene Ereignisse notwendig ist. Vor diesem Hintergrund hat sie im Mai 2018 einen neuen Rechtsrahmen vorgeschlagen, der sich maßgeblich auf eine „Dachverordnung“ stützt, die Bestimmungen für nunmehr sieben Fonds umfassen soll.58 Wann und mit welchem Inhalt dieser neue Rechtsrahmen in Kraft treten wird, bleibt abzuwarten.

aa) Allgemeine Verordnung Bis zum Inkrafttreten eines neuen Rechtsrahmens bleibt die auf Art 177 I AEUV ge- 55 stützte und am 23.12.2013 in Kraft getretene sogenannte Allgemeine Verordnung von Bedeutung,59 die gemeinsame Bestimmungen für die fünf Struktur- und Investitionsfonds EFRE, ESF, KF, ELER, EMFF sowie weitere allgemeine Regelungen für den EFRE, den ESF und den KF enthält und im Folgenden als Allgemeine Verordnung bezeichnet wird. Angesichts der Mischung aus allgemeinen und besonderen Bestimmungen ist 56 ihre Systematik von besonderer Bedeutung: Nach allgemeinen Vorschriften zum Anwendungsbereich, zu Begrifflichkeiten und zu Berechnungen von Fristen im Teil Eins der Verordnung werden die gemeinsamen auf die ESI anwendbaren Regelungen in Teil Zwei niedergelegt. Teil Drei legt sodann die allgemeinen Regelungen für den EFRE, den ESF und den KF in Bezug auf die Aufgaben, die vorrangigen Ziele und die Organisation der Fonds fest, findet also keine Anwendung auf den ELER und den EMFF. Zudem werden in diesem Teil die Kriterien, die die Mitgliedstaaten und Regionen erfüllen müssen, um für eine Förderung aus den ESI in Betracht zu kommen, die verfügbaren Finanzmittel und die Kriterien für deren Zuweisung festgelegt. Teil Vier schließlich legt die allgemeinen Regelungen fest, die für die Fonds und den EMFF in Bezug auf Verwaltung und Kontrolle, Finanzverwaltung, Rech-

_____ 56 Vgl etwa Rieger/Platzer (auf Österreich zugeschnitten). 57 Europäische Kommission, Regionale Entwicklung und Kohäsionspolitik nach 2020: Fragen und Antworten, Pressemitteilung IP/18/3885. 58 COM(2018) 372. 59 VO 1303/2013, ABl 2013 L 347/320. Matthias Rossi

1354 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

nungslegung und finanzielle Berichtigungen gelten – er findet also keine Anwendung auf den ELER. Der Teil Fünf fasst Schlussbestimmungen, Durchführungs- und Übergangsbestimmungen zusammen. Der Verordnungsvorschlag der Kommission,60 der die Allgemeine Verordnung 57 im Jahr 2021 ablösen soll, wird auch Geltung für den Asyl- und Migrationsfonds sowie den Fonds für innere Sicherheit und für das Instrument für Grenzmanagement und Visa entfalten.

bb) Fondsspezifische Verordnungen 58 Zusammen mit der Allgemeinen Verordnung sind drei fondspezifische Verordnun-

gen in Kraft getreten: die auf der Grundlage von Art 178 I AEUV und Art 349 III AEUV erlassene EFRE-Verordnung,61 die auf Art 177 I AEUV gestützte ESF-Verordnung62 sowie die nach Art 177 II AEUV erlassene KF-Verordnung.63 Flankiert werden diese Verordnungen von der auf Art 178 AEUV gestützten ETZ59 Verordnung64 sowie von der auf Grundlage von Art 175 III AEUV erlassenen EVTZVerordnung.65 Zeitlich etwas später ist zudem ein Gesetzgebungsakt zur Festlegung der Bedingungen für die finanzielle Unterstützung für die Meeres- und Fischereipolitik für den Programmplanungszeitraum 2014–2020 (EMFF-Verordnung) erlassen worden.66

cc) Durchführungsverordnungen 60 Art 178 AEUV ermächtigt das Parlament und den Rat zudem zum Erlass von Durch-

führungsverordnungen, die im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung sowohl des Wirtschafts- und Sozialausschusses als auch des Ausschusses der Regionen gefasst werden. Erlassen wurde ua eine delegierte Verordnung zum Europäischen Verhaltenskodex für Partnerschaften im Rahmen der ESI-Fonds.67 Ebenfalls in Kraft ist eine Durchführungsverordnung zum elektronischen Datenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission in Angelegenheiten der ESI und zur sprachüberschreitenden Festlegung der Nomenklatura in Ziffern.68

_____ 60 61 62 63 64 65 66 67 68

COM(2018) 375. VO 1301/2013, ABl 2013 L 347/289. VO 1304/2013, ABl 2013 L 347/470. VO 1300/2013, ABl 2013 L 347/281. VO 1299/2013, ABl 2013 L 347/259. VO 1302/2013, ABl 2013 L 347/303. VO 508/2014, ABl 2014 L 149/1. VO 240/2014, ABl 2017 L 74/1. VO 184/2014, ABl 2014 L 57/7. Matthias Rossi

II. Das Recht der Kohäsionspolitik | 1355

dd) Mehrjähriger Finanzrahmen und Haushaltspläne Die Kohäsionspolitik ist in besonderer Weise in die Haushaltspolitik und mit dieser 61 zusammen in die mehrjährige Finanzplanung eingebunden. Denn in dem mehrjährigen Finanzrahmen, der nach Art 312 AEUV als Verordnung erlassen wird, sind unter Berücksichtigung des Eigenmittelbeschlusses Obergrenzen für die wichtigsten Ausgabenkategorien festgeschrieben, die ihrerseits für die Haushaltspläne verbindlich sind. Diese Obergrenzen dürfen vom jeweiligen Jahreshaushaltsplan nicht überschrit- 62 ten werden. Weil jede finanzielle kohäsionspolitische Maßnahme im jeweiligen Haushaltsplan veranschlagt sein muss, um tatsächlich von der Kommission zur Verfügung gestellt werden zu können, gewinnen die Haushaltspläne an besonderer Bedeutung für die Kohäsionspolitik. Der mehrjährige Finanzrahmen enthält dagegen schon wegen seiner viel zu abstrakten Gliederung keine konkreten Mittelzuweisungen. Er bindet nach Art 312 III AEUV nur den Haushaltsgesetzgeber, also namentlich die Kommission bei der Erarbeitung des Entwurfs des Haushaltsplans als auch das Europäische Parlament und den Rat, die den Jahreshaushaltsplan im Verfahren nach Art 314 AEUV gemeinsam festlegen.

c) Soft Law Da viele der Maßnahmen, die beim Vollzug der Kohäsionspolitik durchgeführt wer- 63 den, in Bereiche fallen, die der primären Zuständigkeit der Mitgliedstaaten unterfallen und in denen der EU dementsprechend nur unterstützende oder koordinierende Kompetenzen zugewiesen sind, etwa im Bereich der Bildungspolitik, der Arbeitsmarktpolitik oder auch der Sozialpolitik, bereitete schon die Umsetzung der Lissabon-Strategie und bereitet auch die Umsetzung der Strategie „Europa 2020“ gewisse rechtliche Probleme.69 Die Kompetenzverteilung und namentlich auch das Subsidiaritätsprinzip versucht die EU dadurch zu wahren, dass sie Verfahren und Form ihrer Entscheidungsfindung angepasst hat. Hinsichtlich des Verfahrens hat sich ua die sog Offene Methode der Koordi- 64 nierung (OMK) durchgesetzt. Sie wird im Weißbuch der Europäischen Kommission „Europäisches Regieren“ wie folgt beschrieben: „[Die OMK] fördert die Zusammenarbeit, den Austausch, bewährte Verfahren sowie die Vereinbarung gemeinsamer Ziele und Leitlinien von Mitgliedstaaten, die manchmal wie im Falle der Beschäftigung und der sozialen Ausgrenzung durch Aktionspläne von Mitgliedstaaten unterstützt werden. Diese Methode beruht auf einer regelmäßigen Überwachung der bei der Verwirklichung dieser Ziele erreichten Fortschritte und bietet den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, ihre Anstrengungen zu vergleichen und aus den Erfahrungen

_____ 69 Brohm S 75 ff. Matthias Rossi

1356 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

der Anderen zu lernen.“70 Trotz faktischer Durchbrechung mancher Kompetenzzuweisungen, die ja auch immer Verantwortungszuweisungen sind, wird die OMK überwiegend für rechtlich zulässig betrachtet.71 Der maßgebliche Grund für diese Beurteilung liegt darin, dass sich die OMK sol65 cher Handlungsformen bedient, die rechtlich unverbindlich sind. Neben Mitteilungen hat sich im Bereich der Kohäsionspolitik etwa die Verabschiedung von Leitlinien durchgesetzt.72 Trotz ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit haben sie sich in der Praxis als äußerst wirkmächtig erwiesen.

d) Nationales Recht 66 Neben dem Europarecht wird die Kohäsionspolitik auch durch das nationale Recht

des jeweiligen Mitgliedstaats determiniert. Denn da die Finanzmittel der EU nach dem Grundsatz der Zusätzlichkeit (s u Rn 87) regelmäßig nur gewährt werden, wenn auch der Mitgliedstaat finanzielle Zuwendungen gewährt, müssen diese nationalen Zuwendungen im Einklang mit nationalem Recht stehen. In Deutschland sind insofern schon die verfassungsrechtlichen Kompetenzabgrenzungen zwischen Bund und Ländern sowie innerhalb der Länder die jeweiligen landesverfassungsrechtlichen Vorgaben zu beachten. Darüber hinaus müssen Zuwendungen den haushaltsrechtlichen Vorschriften der jeweiligen Gebietskörperschaft und ggf darüber hinaus gehenden materiellen Vorgaben, etwa in Subventionsgesetzen, entsprechen. Auch die allgemeinen verwaltungsrechtlichen Vorschriften sind zu beachten. Insgesamt bleibt es auch bei EU-unterstützten Maßnahmen bei der vollen Bindung an das Recht, die im Bereich der Leistungsverwaltung inhaltlich freilich etwas zurückgenommen ist.

2. Charakter des Rechts der Kohäsionspolitik 67 Das Recht der Kohäsionspolitik ist gegenüber dem für andere Politikbereiche gel-

tenden Recht durch zahlreiche Besonderheiten geprägt, die im Folgenden thesenartig hervorgehoben seien.

a) Mehrebenenbinnenrecht 68 Das Recht der Kohäsionspolitik bedient sich zwar zT der klassischen Formen, insb

der Verordnung, zielt aber zumeist nicht auf eine Außenwirkung gegenüber Dritten. Vielmehr beschränken sich seine Regelungsintentionen häufig auf das Verhältnis zwischen den verschiedenen Hoheitsträgern – die Europäische Union auf der

_____ 70 KOM(2001) 428. 71 Vgl Bodewig/Voß EuR 2003, 310; Lang/Bergfeld EuR 2005, 381. 72 Vgl Schöndorf-Haubold S 95 ff; Löwe S 61, 63. Matthias Rossi

II. Das Recht der Kohäsionspolitik | 1357

einen Seite, die Mitgliedstaaten und ihre regionalen und lokalen Untergliederungen auf der anderen Seite.73 Es mag insofern in weiten Teilen als Mehrebenenbinnenrecht charakterisiert werden.

b) Leistungsverwaltungsrecht Die Kohäsionspolitik ist Leistungsverwaltung, Kohäsionsverwaltungsrecht somit 69 Leistungsverwaltungsrecht. Dies spiegelt sich bspw in der geringen grundrechtlichen Determinierung und der Außerachtlassung von Gesichtspunkten des Rechtsschutzes wider.

c) Planungsrecht Kohäsionspolitik ist mehrstufige Planung, Kohäsionsverwaltungsrecht ist Pla- 70 nungsrecht. Angefangen bei langfristigen politischen Zielplanungen, zB der sog Strategie „Europa 2020“,74 und der mittelfristigen Verteilung finanzieller Mittel im mehrjährigen Finanzrahmen über die nationalen strategischen Rahmenpläne und die konkreteren Programmpläne bzw die operationellen Programme besteht die Kohäsionspolitik in erster Linie in dem Aufstellen von Plänen, deren Vollzug, so bedeutsam er auch sein mag, demgegenüber nachgeordnet zu sein scheint. Die hierarchische, kaskadenförmige Struktur des Kohäsionsrechts ist typisch für ebenenübergreifendes Planungsrecht, wie etwa auch das allgemeine Raumordnungsund Bauplanungsrecht oder das planbasierte Naturschutzrecht zeigen. Die Realisierung der Planungen hängt davon ab, ob sie ihre Anreizwirkungen 71 entfalten. Denn ungeachtet der Besonderheiten der einzelnen Finanzierungsinstrumente zielt die Kohäsionspolitik darauf, private und öffentliche Investitionstätigkeit mit Hilfe von Investitionsbeihilfen zu stimulieren, Menschen zu qualifizieren, private und öffentliche Forschungsaktivitäten und Innovationsdiffusion zu fördern sowie Unternehmensgründungen und Kleine und Mittlere Unternehmen (KMU) zu unterstützen.75 Ob dies gelingt, kann ex ante kaum vorausgesagt werden. Der Anreiz sollte jedenfalls um der Effizienz der eingesetzten finanziellen Mittel wegen nicht durch einen Zwang ersetzt werden.

d) Verwaltungskooperationsrecht Im Verhältnis zu anderen Politikbereichen ist die Kohäsionspolitik stärker als jeder 72 andere Politikbereich von vornherein durch eine Verzahnung von unionaler und

_____ 73 Zum dadurch entstehenden Spannungsfeld der Verantwortlichkeiten Mögele EuR 2016, 490 ff. 74 KOM(2010) 2020. 75 So explizit Dreger/Kosfeld/Türck/Karl S 33. Matthias Rossi

1358 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

nationaler Ebene gekennzeichnet, involviert dabei in besonderer Weise auch die regionale Ebene.76 Kohäsionspolitik verlangt Verwaltungskooperation, Kohäsionsverwaltungsrecht ist somit Verwaltungskooperationsrecht.

e) Verfahrensrecht 73 Eine weitere Besonderheit liegt darin, dass der Rechtsrahmen für die Kohäsionspoli-

tik in besonderer Weise durch dichte Organisations- und Verfahrensvorschriften und weniger durch inhaltliche Vorgaben gekennzeichnet ist. Der stark prozedurale Charakter der Kohäsionspolitik ist dabei unmittelbare Folge ihres Planungscharakters, denn ein Großteil der Vorschriften widmet sich der Frage, wer in welchen Verfahren Pläne aufzustellen hat. Die inhaltlichen Vorgaben für diese Pläne sind demgegenüber erstens deutlich zurückgenommen und zweitens vor allem meist nur zielbezogen, so dass an Stelle konditionaler Rechtssätze finale Programmsätze dominieren. Die eigentlichen inhaltlichen Vorgaben sind demgegenüber erst Gegenstand der konkreten Pläne. Kohäsionsverwaltungsrecht ist somit eines der wenigen Beispiele für ein europäisches Verwaltungsverfahrensrecht.

f) Kohäsionspolitik als Meta-Governance-Instrument 74 Das Verhältnis zu den anderen Politikfeldern ist zudem nicht zuletzt wegen der in Art 175 I 2 AEUV zum Ausdruck kommenden Querschnittsaufgabe durch eine nicht abgrenzbare Überlappung gekennzeichnet. Kohäsionspolitik kann als ein „MetaGovernance-Instrument“77 für eine horizontale Koordinierung der Politiken verstanden werden, die zugleich in vertikaler Hinsicht alle Ebenen der europäischen Staatlichkeit einbindet – die europäische Ebene ebenso wie die nationale, regionale und kommunale Ebene. Noch deutlicher wird das Bild einer umfassenden Governancestruktur, zählt man zu den staatlichen Akteuren auch die privaten Akteure hinzu, die wie etwa Unternehmen, Banken und NGOs ganz erheblich an der Kohäsionspolitik beteiligt sind.

3. Grundbegriffe der Kohäsionspolitik 75 Die Kohäsionspolitik ist durch eine Reihe von Begriffen gekennzeichnet, die sich in

ihrer Summe zu einer Fachsprache entwickelt haben, die außerhalb der Europäischen Kommission und der mit ihr kooperierenden Stellen in den Mitgliedstaaten kaum verstanden wird. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass in allen Mitgliedstaaten innerhalb und außerhalb der staatlichen Verwaltung Stellen

_____ 76 Anschaulich für Deutschland Frenz EWS 2016, 308 ff. 77 Bachtler/Mendez/Wishlade S 12. Matthias Rossi

II. Das Recht der Kohäsionspolitik | 1359

geschaffen wurden, die – sei es im Rahmen ihrer öffentlichen Aufgabe, sei es als private Dienstleistung – die finanziellen Zuwendungen und ihre potentiellen Nutznießer zusammenbringen. In die Sprache des Rechts der Kohäsionspolitik führt die Allgemeine Verordnung ein, die in Art 2 – legistisch vorbildlich, inhaltlich jedoch vage – verschiedenste Begriffe definiert. Einige Begriffe dieses Vokabulars der Kohäsionspolitik sind im Folgenden 76 wiedergegeben: Zählung kontrollieren „Unionsstrategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ meint die Strategie „Europa 2020“; 2. „strategischer Politikrahmen“ ist „ein Dokument oder [sind] mehrere Dokumente auf nationaler oder regionaler Ebene, durch das/die eine begrenzte Zahl von kohärenten Prioritäten festgelegt wird, die auf der Grundlage von Fakten gesetzt werden, und ein Zeitrahmen für die Umsetzung dieser Prioritäten; dazu kann auch ein Begleitmechanismus gehören;“ 3. „Strategie für intelligente Spezialisierung“ meint „die nationalen oder regionalen Innovationsstrategien, die Prioritäten setzen, um einen Wettbewerbsvorteil aufzubauen, indem die eigenen Stärken in den Bereichen Forschung und Innovation entwickelt und auf den Bedarf der Wirtschaft abgestimmt werden, um auf sich ergebende Gelegenheiten und Marktentwicklungen in kohärenter Weise reagieren zu können und dabei die Verdoppelung und Fragmentierung der Bemühungen zu vermeiden; eine Strategie für intelligente Spezialisierung kann die Form nationaler oder regionaler strategischer Politikrahmen für Forschung und Innovation (F&I) annehmen oder darin enthalten sein;“ 5. „Programmplanung“ meint „den mehrstufigen Prozess der Organisation, Entscheidungsfindung und Zuweisung der Finanzmittel unter Einbeziehung von Partnern gemäß Artikel 5, mit denen die Union und die Mitgliedstaaten auf mehrjähriger Basis die gemeinsamen Maßnahmen zur Verwirklichung der Ziele der Strategie der Union für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum durchführen möchten;“ 6. „Programm“ meint ein „operationelles Programm“ gemäß Teil Drei oder Teil Vier dieser Verordnung und gemäß der EMFF-Verordnung, und ein „Entwicklungsprogramm für den ländlichen Raum“ gemäß der ELER-Verordnung;“ 7. „Programmgebiet“ bezeichnet ein geographisches Gebiet, welches durch ein spezifisches Programm abgedeckt ist, oder, im Falle eines Programms, welches mehr als eine Regionenkategorie erfasst, das jeder separaten Regionenkategorie entsprechende geographische Gebiet; 8. „Priorität“… 9. „Vorhaben“ meint „ein Projekt, einen Vertrag, eine Maßnahme oder ein Bündel von Projekten, ausgewählt von den Verwaltungsbehörden der betreffenden Programme oder unter ihrer Verantwortung, die zu den Zielen einer Priorität bzw der zugehörigen Prioritäten beitragen; im Zusammenhang mit Finanzinstrumenten besteht ein Vorhaben aus den im Rahmen eines Programms geleisteten Finanzbeiträgen an Finanzinstrumente und der daraus folgenden finanziellen Unterstützung durch diese Finanzinstrumente;“ 10. „Begünstigter“... 11. „Finanzinstrumente“ sind solche im Sinne des Art 2 Nr 25, 40, 52 und 57 der Haushaltsordnung, namentlich also Darlehen, Beteiligungsinvestitionen, beteiligungsähnliche Investitionen, Risikoteilungsinstrumente und Finanzierungsinstrumente, wobei letztere definiert sind als „Maßnahmen der Union zur finanziellen Unterstützung eines oder mehrerer konkreter politischer Ziele der Union, die als Komplementärfinanzierung aus dem Haushalt bereitgestellt werden;“ 12. „Endbegünstigter“ ist eine juristische oder natürliche Person, die finanzielle Unterstützung aus einem Finanzinstrument erhält; 17. „Dokument“ …

1.

Matthias Rossi

1360 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

18. „zwischengeschaltete Stelle“ … 20. „Partnerschaftsvereinbarung“ meint „ein Dokument, das ein Mitgliedstaat unter Einbeziehung von Partnern im Einklang mit dem Ansatz der Steuerung auf mehreren Ebenen erstellt, in dem die Strategie, die Prioritäten und die Vorkehrungen dieses Mitgliedstaats für die effiziente und wirksame Nutzung der ESI dargelegt werden, um die Strategie der Union für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstums umzusetzen, und das von der Kommission bewilligt wird, nachdem es bewertet und mit dem betreffenden Mitgliedstaat erörtert wurde;“ 27. „Dachfonds“ ist ein „Fonds, der mit dem Ziel errichtet wird, für verschiedene Finanzinstrumente Mittel aus einem Programm oder aus Programmen bereitzustellen [...];“ 31. „makroregionale Strategie“ ist „ein vom Europäischen Rat gebilligter Gesamtrahmen, der unter anderem durch die ESI-Fonds unterstützt werden kann, um gemeinsame Probleme in einem abgegrenzten geografischen Gebiet in Bezug auf in demselben geografischen Gebiet gelegene Mitgliedstaaten und Drittstaaten anzugehen, wodurch Letzteren eine verstärkte Zusammenarbeit zugutekommt, die zur Verwirklichung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts beiträgt;“ 33. „anwendbare Ex-ante-Konditionalität“ meint „einen konkreten vorab exakt definierten entscheidenden Faktor, der eine Voraussetzung für die wirksame und effiziente Verwirklichung eines spezifischen Ziels einer Investitionspriorität oder einer Priorität der Union darstellt, einen unmittelbaren und echten Bezug zur Verwirklichung dieses Ziels aufweist und sich hierauf unmittelbar auswirkt;“ 38. „systembedingte Unregelmäßigkeit“ ist „jede Unregelmäßigkeit, die wiederholt auftreten kann und bei Vorhaben ähnlicher Art mit hoher Wahrscheinlichkeit auftritt und auf einen gravierenden Mangel in der effektiven Funktionsweise eines Verwaltungs- und Kontrollsystems zurückzuführen ist; hierzu gehören auch die Fälle, in denen nicht die geeigneten Verfahren im Einklang mit dieser Verordnung und den fondsspezifischen Regelungen eingerichtet wurden;“

4. Grundsätze der Kohäsionspolitik 77 Die Kohäsionspolitik der Europäischen Union wird seit der Reform von 1988 durch vier wesentliche Grundsätze geleitet: Den Grundsatz der Konzentration, der Programmplanung, der Partnerschaft und der Zusätzlichkeit. Zum Teil wird noch die größtmögliche Wirksamkeit der Vergabe der Strukturfondsmittel als übergreifender Grundsatz hinzugerechnet.78 Zum Teil entgegen, zum Teil in Ergänzung dieser Grundsätze benennt die All78 gemeine Verordnung in ihrem Teil Zwei dagegen folgende Grundsätze der Kohäsionspolitik: – Art 5 – Grundsatz der Partnerschaft und Grundsatz der Mehrebenen-Governance – Art 6 – Grundsatz der Konformität mit anwendbarem EU-Recht und nationalem Recht – Art 7 – Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern, Nichtdiskriminierung – Art 8 – Nachhaltige Entwicklung.

_____ 78 Vgl bspw Eekhoff S 68 unter Verweis auf Holzwart S 160 f. Matthias Rossi

II. Das Recht der Kohäsionspolitik | 1361

Diese Auswahl an Grundsätzen muss kritisiert werden: Während der in Art 6 genannte Grundsatz der Konformität nur eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit zum Ausdruck bringt, sind die Grundsätze in Art 7 und Art 8 als inhaltliche Zielsetzungen der Kohäsionspolitik zu qualifizieren. Ähnlich wie im Vergaberecht zT vergabefremde Kriterien in die Entscheidung über das wirtschaftlichste Angebot einzubeziehen sind, hat nun auch die Kohäsionspolitik den Rahmen ihrer Aufgabe der Förderung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts verlassen und sich weitere Zielsetzungen auf die Fahnen geschrieben. Dies mag angesichts des Charakters der Gleichstellungs- und Umweltschutzpolitik als Querschnittsaufgabe nicht unzulässig sein. Gleichwohl hätte es der Erhebung dieser Zielsetzungen zu Grundsätzen der Kohäsionspolitik nicht bedurft. Zudem sind inhaltlich ausgerichtete Grundsätze ein Fremdkörper in der verfahrensorientierten Allgemeinen Verordnung.79 Für das Verfahren sind aber nach wie vor die folgenden Grundsätze maßgeblich.

a) Grundsatz der Konzentration Nach dem Grundsatz der Konzentration sollen die finanziellen Mittel dort einge- 79 setzt werden, wo sie am dringendsten benötigt werden. Der Grundsatz lässt sich insofern als Gegensatz zum Gießkannenprinzip verstehen. Dem Bekenntnis der Kommission wie auch den maßgeblichen Verordnungen zum Grundsatz der Konzentration steht indes die Praxis entgegen. Die Konzentration der Mittelzuweisungen für die einzelnen Fonds auf die Strategie „Europa 2020“80 ist schon ausweislich der viel zu offenen Begrifflichkeiten nicht geeignet, eine punktuelle Verwendung der finanziellen Mittel sicherzustellen. Auch eine Zweckbindung verfehlt ihre Wirkungen, wenn die Zielsetzungen zu allgemein formuliert sind. Die Unbestimmtheit mancher Formulierung (etwa des „intelligenten, nachhaltigen und integrativen Wachstums“) wird dabei nicht immer nur unvermeidliche Folge eines Formelkompromisses, sondern zuweilen auch bewusstes Resultat eines Finanzierungskalküls der Mitgliedstaaten gewesen sein. Es kann dann aber nicht verwundern, wenn kohäsionspolitische Transfers mitunter de facto als zweckfreie Zuweisungen an die Mitgliedstaaten empfunden werden.81 Hinsichtlich des Grundsatzes der Konzentration lassen sich drei Bezugspunkte ausmachen, wobei hier die Terminologie der Kommission verwendet und die (besseren) Bezeichnungen der Rechtsetzungsakte nur in Klammern angegeben werden.

_____ 79 Womöglich der Grund dafür, dass die Art 7 und 8 keine Entsprechung in dem Verordnungsvorschlag COM(2018) 372 für die Neuregelung der ESI-Fonds gefunden haben. 80 Vgl Erwägungsgrund Nr 104 und Art 18 der Allgemeinen Verordnung. 81 So Wasmayr S 230. Matthias Rossi

1362 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

Nach dem Grundsatz der Konzentration der Ressourcen (geographische Konzentration) soll sich der größte Teil der Mittel aus den Strukturfonds auf die ärmsten Regionen und Länder erstrecken. In der Förderperiode 2014–2020 sind dementsprechend 70% der Strukturfonds für diese Regionen vorgesehen (finanzielle Konzentration). Nach der Konzentration der Investitionen sollen sich die Investitionen auf 81 Hauptwachstumsschwerpunkte beschränken. In Abstimmung mit der Strategie „Europa 2020“ sind Hauptwachstumsschwerpunkte Forschung und Innovation, Informations- und Kommunikationstechnologien, Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit kleinerer und mittlerer Unternehmen sowie die Unterstützung der Umstellung auf eine CO2-arme Wirtschaft. Diese Sichtweise der Europäischen Kommission82 begegnet freilich Kritik. Denn die europäischen Förderungsmaßnahmen müssen sich mit Blick auf ihre Wirksamkeit streng an den vorrangigen Zielen und realen Bedürfnissen der begünstigten Gebiete orientieren, was mit dem Begriff „thematische Konzentration“ besser zum Ausdruck gebracht wird.83 Sie verlangt zudem, dass den lokalen bzw regionalen Antragstellern sehr viel mehr Gewicht beigemessen wird als der Europäischen Kommission. Oktroyierte finanzielle Mittel sind mehr oder weniger „goldene Zügel“, die nur selten zur Wirksamkeit einer Maßnahme beitragen. Nach der Konzentration der Ausgaben werden zu Beginn eines Programm82 planungszeitraums jedem Programm die jährlichen Finanzmittel zugeteilt, wobei die Mittel bis zum Ende des zweiten Jahres nach ihrer Zuteilung ausgegeben werden. Man spricht von der n+2-Regel.

80

b) Grundsatz der Programmplanung 83 Nach dem Grundsatz der Programmplanung finanziert die Kohäsionspolitik seit

1988 grundsätzlich keine Einzelprojekte mehr, sondern nur noch einzelstaatliche Mehrjahresprogramme, die auf die Ziele und Prioritäten der EU ausgerichtet sind. Die Programmplanung verlangt insofern, dass die einzelnen Maßnahmen in ein von der Kommission mit einem Mitgliedstaat entwickeltes mittelfristiges Konzept eingepasst sein müssen. Entscheidend sind insofern die sog nationalen strategischen Rahmenpläne (NSRP) sowie insbesondere die operationellen Programme der Regionen. Nicht zu verkennen ist, dass der Grundsatz der Programmplanung der Europäischen Kommission erheblich mehr Einfluss auf die inhaltliche Förderung gibt als ihr bei der Förderung von Einzelprojekten zukäme. Der Grundsatz der Programmplanung trägt insofern erheblich dazu bei, dass die Kohäsionspolitik für die Europäische Kommission ein eigenständiges gestaltungsreiches Politikfeld geworden ist.

_____ 82 Vgl http://ec.europa.eu/regional_policy/de/policy/how/principles/. 83 So auch die Bezeichnung in Art 18 Allgemeine Verordnung. Matthias Rossi

II. Das Recht der Kohäsionspolitik | 1363

Normativ kommt der Grundsatz der Programmplanung in verschiedenen Erwä- 84 gungsgründen sowie vor allem im eigenen Titel III der Allgemeinen Verordnung zum Ausdruck, wo Art 26 bis 36 detailliert die einzelnen Planungsschritte und -verfahren regeln.

c) Grundsatz der Partnerschaft Nach dem Grundsatz der Partnerschaft, der in Art 5 der Allgemeinen Verordnung 85 zusammen mit dem Grundsatz der Mehrebenen-Steuerung verankert ist, wird jedes Programm in einem kollektiven Prozess entwickelt, an dem Behörden auf europäischer, regionaler und lokaler Ebene ebenso beteiligt sind wie Sozialpartner und Organisationen der Zivilgesellschaft. Der Grundsatz der Partnerschaft soll sich auf alle Phasen des Programmplanungsprozesses beziehen, also beim Entwurf ebenso zum Tragen kommen wie bei der Verwaltung und Umsetzung bis hin zur Beobachtung und Bewertung.84 Er findet in den Partnerschaftsvereinbarungen seinen deutlichsten Ausdruck. Um die Mitgliedstaaten bei der Organisation und Ausgestaltung von Partnerschaften zu unterstützen, hat die Kommission den Europäischen Verhaltenskodex für Partnerschaften verfasst, der Leitlinien für eine partnerschaftliche Durchführung der ESI-Fonds festlegt.85 So geeignet der Partnerschaftsgrundsatz auch ist, um Bedarf, Akzeptanz und 86 Wirksamkeit von Maßnahmen gleichermaßen zu sichern, so problematisch kann er aus rechtlicher Perspektive sein. Denn er steht unter dem Vorbehalt der vertraglichen wie auch der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung. Dabei darf der Wunsch nach (zusätzlichen) Geldern aus Brüssel nicht den Blick auf das Subsidiaritätsprinzip verstellen. Partnerschaftsvereinbarungen können deshalb nur innerhalb der jeweiligen Befugnisse der beteiligten Akteure geschlossen werden und derogieren nicht etwa entgegenstehendes Recht.86 Umgekehrt muss die (alleinige) Verantwortung der Europäischen Kommission für den Vollzug des Haushaltsplans der EU beachtet werden.87 Die Mitgliedstaaten und ihre regionalen Untergliederungen sind deshalb über den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art 4 III EUV zur ordnungsgemäßen Verwendung der zugewiesenen Mittel aus dem Haushaltsplan verpflichtet.

d) Grundsatz der Zusätzlichkeit Der Grundsatz der Zusätzlichkeit (zum Teil liest man auch vom Grundsatz der 87 Komplementarität oder Additionalität) bedeutet, dass die Finanzierung aus den

_____ 84 85 86 87

Ebenso Streinz/Magiera Art 177 AEUV Rn 14. VO 240/2017, ABl 2014 L 74/1. Dauses/Ludwigs/Borchardt D II Rn 229. Hieraus eine institutionelle Verantwortlichkeitslücke ableitend Mögele EuR 2016, 490 (501 f).

Matthias Rossi

1364 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

europäischen Strukturfonds nationale Ausgaben grundsätzlich nicht vollständig ersetzen, sondern nur zu ihnen hinzutreten darf. Er wird bspw in den Erwägungsgründen Nr 87 und Nr 124 der Allgemeinen Verordnung erwähnt und ist darüber hinaus Gegenstand des Art 95 der Allgemeinen Verordnung, der durch den Anhang X zur Allgemeinen Verordnung konkretisiert wird. Bereits aus diesen Vorschriften ergibt sich, dass der Grundsatz zwar überall gelten soll, nicht jedoch in allen Fällen überprüft wird. Zudem gibt es zahlreiche Ausnahmen, in denen der „Ko“Finanzierungsanteil der Europäischen Kommission bis zu 100% betragen kann. Von solchen sekundärrechtlich festgeschriebenen Ausnahmen abgesehen ist es wirtschaftswissenschaftlich umstritten, wie die optimale Kofinanzierungsrate zu bestimmen ist.88 Entscheidend ist, sieht man einmal von Gleichheitsaspekten ab, auch nicht die absolute Quote, sondern die durch die Kofinanzierung gesicherte Möglichkeit der Kommission, eine zweckgerichtete Verwendung der Mittel sicherzustellen. Zusammen mit der Zweckbindung verbietet es der Grundsatz der Zusätzlichkeit zudem, die finanziellen Zahlungen als Instrument eines reinen, also voraussetzungslosen Finanzausgleichs zu qualifizieren. Dies bedeutet umgekehrt, dass jede Ausnahme vom Grundsatz der Zusätzlichkeit die Finanzausgleichsfunktion der Kohäsionspolitik stärkt.

e) Grundsatz der Wirtschaftlichkeit 88 Die Verpflichtung auf den Wirtschaftlichkeitsgrundsatz ergibt sich schon aus seiner

Normierung in Art 310 V 1 AEUV und folgt zudem dem Umstand, dass Kohäsionspolitik zugleich Haushaltsvollzug ist, so dass Art 56 HO zur Anwendung kommt. Art 4 VIII der Allgemeinen Verordnung erinnert an diese haushaltsrechtliche Verpflichtung. Der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit gebietet nach dem Maximalgrundsatz, mit den gegebenen Mitteln eine größtmögliche Aufgabenverwirklichung anzustreben, und nach dem Minimalgrundsatz, ein gegebenes Ziel mit den geringstmöglichen Mitteln zu erreichen. Bei der Anwendung dieser Maximen steht den beteiligten Organen zwar ein weiter Beurteilungsspielraum zu. Zugleich ist der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit jedoch gem Art 287 II AEUV zentraler Maßstab für die Kontrolle durch den Rechnungshof. Wirtschaftlichkeit wird von Art 33 HO dabei durch die Grundsätze der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit definiert (three „e“: economy, efficiency, effectiveness).

_____ 88 Vgl hierzu Wrede Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 1/2005, 69 f. Matthias Rossi

III. Verfahren der Kohäsionspolitik | 1365

III. Verfahren der Kohäsionspolitik III. Verfahren der Kohäsionspolitik Die Kohäsionspolitik ist ausgesprochen komplex. Sie folgt einer Agenda, die sich in 89 vier Hauptverfahren gliedern lässt.89

1. Politische und finanzielle Vorentscheidungen Als erste Phase der Kohäsionspolitik lassen sich politische und finanzielle Vorent- 90 scheidungen ausmachen, die mit den konkreten Maßnahmen der Kohäsionspolitik zunächst nur wenig zu tun zu haben scheinen und die doch in besonderer Weise die Komplexität und das Kompromisshafte der Kohäsionspolitik erkennen lassen. Je stärker sich die Kohäsionspolitik nämlich von bloß strukturellen Korrekturmaßnahmen zu einer eigenständigen gestalterischen Politik fortentwickelt und je größer ihr Anteil am Gesamtvolumen des EU-Haushalts wird, desto wichtiger sind grobe politische Zielsetzungen und ein für ihre Verwirklichung verlässlicher Finanzrahmen.

a) Mittelfristige politische Zielsetzungen Seit Mitte der achtziger Jahre lässt sich beobachten, dass die EU bzw damals die 91 EWG ihr gesamtes politisches Handeln auf bestimmte Ziele ausrichtet und sich auf diese Weise selbst verpflichtet. Funktional mag man diese Zielfestlegungen als eine Art Regierungsprogramm verstehen. Zunächst noch nach dem Initiator, dem Kommissionspräsidenten Jacques Delors, benannt, wurden die weiteren Programme zwar ebenfalls von der Kommission erarbeitet, letztlich aber vom Europäischen Rat gem seiner Leitaufgabe in Art 15 EUV beschlossen. Die derzeitige Förderphase ist auf die „Strategie für intelligentes, nachhaltiges 92 und integratives Wachstum“ ausgerichtet, die kurz „Europa 2020“ genannt wird.90 Sie wurde vom Europäischen Rat am 17.6.2010 in Brüssel verabschiedet und liest sich wie die Werbebroschüre eines großen Unternehmens. In hehren Worten wird die Schaffung von „intelligentem, nachhaltigem und integrativem Wachstum“ propagiert, wobei „intelligent“ eine wirksamere Investition in Bildung, Forschung und Innovationen meint, „Nachhaltigkeit“ durch eine entschlossene Ausrichtung auf eine kohlenstoffarme Wirtschaft und eine wettbewerbsfähige Industrie erreicht werden soll und „integrativ“ bedeutet, dass vorrangig Arbeitsplätze geschaffen und Armut bekämpft werden soll. Kern der Strategie sind fünf detailliert quantifizierte Ziele, die den Mitgliedstaaten im Wege der „parametrischen Steuerung“ vorgegeben

_____ 89 Ausführlich Schöndorf-Haubold S 127 ff. 90 KOM(2010) 2020. Matthias Rossi

1366 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

sind und die bis 2020 unter Beachtung von sieben Leitinitiativen realisiert werden sollen.91

b) Mittelfristige finanzielle Rahmenbedingungen 93 Die politischen Zielsetzungen der jeweiligen Leitstrategie können nur erreicht wer-

den, wenn zu ihrer Umsetzung ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Um einen jährlichen Streit zwischen den Haushaltsbehörden – namentlich dem Europäischen Parlament auf der einen Seite und dem Rat als Vertreter der mitgliedstaatlichen (Finanz-)Interessen auf der anderen Seite – zu vermeiden, verständigt man sich seit den achtziger Jahren auf eine mittelfristige Finanzplanung, die zunächst als „Finanzielle Vorausschau“ in Form einer interinstitutionellen Vereinbarung geschlossen wurde und die seit dem Vertrag von Lissabon als mehrjähriger Finanzrahmen in der Rechtsform einer Verordnung ergeht, allerdings nicht im ordentlichen Rechtsetzungsverfahren, sondern vom Rat nach Zustimmung des Parlaments erlassen wird. Vorbehaltlich der Brückenklausel des Art 312 II UAbs 2 AEUV entscheidet der Rat einstimmig. Das in diesem Einstimmigkeitserfordernis liegende Veto-Recht eines jeden Mitgliedstaates ist der Grund dafür, dass um den mehrjährigen Finanzrahmen stets ein langer und hart ausgetragener Streit geführt wird. Dabei stehen sich aufgrund insofern gemeinsamer politischer Interessen regelmäßig die ausgabefreudige Kommission und das ebenso gestaltungsfreudige wie einflusshungrige Parlament auf der einen Seite und der Rat als Vertreter der zahlungsverpflichteten Mitgliedstaaten auf der anderen Seite gegenüber. So langwierig die Verhandlungen auch sein mögen, so hat der mehrjährige Fi94 nanzrahmen doch dazu geführt, dass die jährlichen Haushaltspläne meist ohne größere Verzögerung verabschiedet werden können. Der Grund für diese Befriedungsfunktion liegt darin, dass der mehrjährige Finanzrahmen unter Berücksichtigung des Eigenmittelbeschlusses nach Art 312 III AEUV Obergrenzen für die wichtigsten Ausgabenkategorien statuiert, die ihrerseits gem Art 312 I UAbs 3 AEUV für die Haushaltspläne verbindlich sind. Die Obergrenzen sind für die einzelnen Jahre der Laufzeit des mehrjährigen Finanzrahmens gesondert auszuweisen, um dem an den Grundsatz der Jährlichkeit gebundenen Haushaltsgesetzgeber eine verlässliche Vorgabe zu sein. Die erste interinstitutionelle Vereinbarung betraf die finanzielle Vorausschau 95 für die Jahre 1988–1992 und diente der Umsetzung des sog Delors-Paket I. Ihr folgten die finanzielle Vorausschau für die Jahre 1993–1999, die inhaltlich auf das Delors-Paket II bezogen war, die finanzielle Vorausschau für die Jahre 2000–2006 (Agenda 2000) und für die Jahre 2007–2013.

_____ 91 KOM(2010) 2020 S 15 ff. Matthias Rossi

III. Verfahren der Kohäsionspolitik | 1367

Mit einiger Verspätung und nach intensiven Verhandlungen wurde am 96 2.12.2013, nun erstmals in der verbindlichen Rechtsform einer Verordnung, der mehrjährige Finanzrahmen für die Jahre 2014–2020 verabschiedet.92 Für die Zeit von 2021-2027 ist bis zum August 2019 noch kein mehrjähriger Finanzrahmen beschlossen worden. Der bis Ende 2020 geltende mehrjährige Finanzrahmen gliedert sich in sechs Kategorien, die in ihren Bezeichnungen denselben politischen Formelkompromissen folgen wie die „strategischen“ Beschlüsse des Europäischen Rates und schon angesichts ihres ungleichen, jeweils in Klammern angegebenen Anteils am Gesamtvolumen keine sinnvolle Strukturierung der Ausgaben darstellen bzw die eigentlichen Verwendungen nicht erkennen lassen: 1. Intelligentes und integratives Wachstum (44,9%) 1a: Wettbewerbsfähigkeit für Wachstum und Beschäftigung 1b: Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt 2. Nachhaltiges Wachstum, natürliche Ressourcen (41,6%) 3. Sicherheit und Unionsbürgerschaft (1,5%) 4. Europa in der Welt (5,8%) 5. Verwaltung (5,9%) 6. Ausgleichszahlungen (0,4%). Die Kohäsionspolitik taucht in diesem Finanzrahmen unter der Bezeichnung 97 „Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt“ als Teilrubrik zu 1. auf und beansprucht 33,3% des Gesamtvolumens für Verpflichtungsermächtigungen. Allerdings sind einige kohäsionspolitische Maßnahmen anderen Rubriken zugeordnet, so dass eine klare Zuweisung nicht auf den ersten Blick erkennbar ist. So ist die Europäische Meeres- und Fischereipolitik etwa der Rubrik 2 zugewiesen. Beschränkt man sich auf die Teilrubrik 1b für den wirtschaftlichen, sozialen 98 und territorialen Zusammenhalt, so ist für den gesamten Zeitraum von sieben Jahren eine Summe von 366.791 Mio Euro vorgesehen, wobei der jährliche Betrag von 47.413 Mio Euro im Jahre 2014 kontinuierlich ansteigt bis auf 57.275 Mio Euro im Jahr 2020. Die jährlichen Ansätze verteilen sich prozentual jeweils zu 49,0% auf die sog regionale Konvergenz, 18,8% auf die Kohäsionsfonds, 15,6% auf die Wettbewerbsfähigkeit, 9,9% auf Übergangsregionen, 3,8% auf die Beschäftigungsinitiative für junge Menschen und nur 1,1% auf die europäische territoriale Zusammenarbeit.

c) Haushaltsplan Die besondere Bedeutung des mehrjährigen Finanzrahmens liegt in seiner Bin- 99 dungswirkung gegenüber dem Haushaltsplan. Art 312 I UAbs 3 AEUV unterstreicht

_____ 92 VO 1311/2013, ABl 2013 L 347/884. Matthias Rossi

1368 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

den Grundsatz des Einnahmenhaushalts, indem er eine Hierarchie der Finanzbestimmungen festlegt: Die Einnahmen der Union werden durch den Eigenmittelbeschluss nach Art 311 AEUV festgelegt. Die Einnahmen begrenzen gemäß Art 312 I AEUV die Ausgaben, die im Finanzrahmengesetz mittelfristig festgelegt werden. Diese wiederum sind gem Art 312 I UAbs 3 AEUV bindend für die Festlegung der Jahreshaushaltspläne. Die Mittel für die Strukturpolitik nehmen einen immensen Anteil am gesamten 100 Haushaltsvolumen ein. Für das Haushaltsjahr 2018 sind 160.113 Mio Euro an Verpflichtungsermächtigungen veranschlagt.93 Auf die Kohäsionspolitik iwS (Rubrik 1b des Haushaltsplans: Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt), also einschließlich des ESF, entfallen dabei 55.532 Mio Euro, also etwa ein Drittel. Innerhalb dieses Gesamtvolumens entfallen auf den EFRE 30.096 Mio Euro,94 auf den ESF 13.585 Mio Euro95 und auf den KF 9.418 Mio Euro.96 Daneben sind für den ELER 14.367 Mio Euro97 und für den EMFF 946 Mio Euro vorgesehen.98 Auch langfristig wird sich an dieser Größenordnung nur marginal etwas verändern. Der mehrjährige Finanzrahmen sieht bis 2020 jedenfalls eine Ausweitung der Verpflichtungsermächtigungen bis auf 57.275 Mio Euro vor, was nach bisheriger Planung einen Anteil von rund 34% am Gesamtvolumen des Haushalts ausmachen wird.99 So übersichtlich sich der mehrjährige Finanzrahmen gestaltet, so unübersicht101 lich sind die Haushaltspläne der EU. Das Auffinden der Angaben zu den einzelnen Fondsvolumen für das Haushaltsjahr 2018 gestaltet sich als schwierig. Der Haushaltsplan ist aufgrund seines Umfangs und der tabellarischen Darstellung unübersichtlich, zumal die Finanzierungsinstrumente der Kohäsionspolitik nicht zusammenhängend aufgeführt sind. Des Weiteren beinhaltet der Haushaltsplan für das Jahr 2018 zwar die Rubrik „Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt“. Wünschenswert wäre darüber hinaus aber eine Untergliederung in die betreffenden Fonds. Problematisch ist zudem, dass sich die angegebenen Beträge zT auf „Preise von 2011“, an anderer Stelle auf „aktuelle Preise“ beziehen. Im Ergebnis erscheint die Außendarstellung der Kommission trotz der Internetauftritte der Generaldirektionen Haushalt und Regionalpolitik sowie der eigenen Internetpräsenz des mehrjährigen Finanzrahmens verbesserungsbedürftig.

_____ 93 Gesamthaushaltsplan 2018 s Erlass 2018/251, ABl 2018 L 57/1. 94 Haushaltsplan 2018, Verpflichtungen, Kapitel 13 03, S 1025. 95 Haushaltsplan 2018, Verpflichtungen, Kapitel 04 02, S 542. 96 Haushaltsplan 2018, Verpflichtungen, Kapitel 13 04, S 1025. 97 Haushaltsplan 2018, Verpflichtungen, Kapitel 05 04, S 669. 98 Haushaltsplan 2018, Verpflichtungen, Kapitel 11 06, S 981. 99 Übersicht der GD Haushalt, http://ec.europa.eu/budget/annual/index_de.cfm?year=2018. Die Angaben der VO 1311/2013, ABl 2013 L 347/884, Anlage 1, sind zu Preisen von 2011 gemacht. Matthias Rossi

III. Verfahren der Kohäsionspolitik | 1369

2. Planungsphase Die Planungsphase beginnt mit der Erstellung eines Gemeinsamen Strategischen 102 Rahmens (GSR) durch die EU, der nach Art 10 I Allgemeine Verordnung „der Förderung einer harmonischen, ausgewogenen und nachhaltigen Entwicklung der Union dient.“ Zudem soll er die Ausarbeitung der Partnerschaftsvereinbarung und der Programme im Einklang mit den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Subsidiarität und unter Berücksichtigung der nationalen und regionalen Zuständigkeiten erleichtern, damit die spezifischen und geeigneten Strategie- und Koordinierungsmaßnahmen beschlossen werden, wie Art 10 III Allgemeine Verordnung festhält. Sein obligatorischer Inhalt wird von Art 11 und Anhang 1 der Allgemeinen Verordnung beschrieben. Zusammenfassend legt er strategische Leitgrundsätze fest, um den Planungsprozess und die sektorale und territoriale Koordinierung der Unionsintervention im Rahmen der ESI mit anderen relevanten Unionsstrategien und -instrumenten im Einklang mit den Vorgaben und Zielen der Strategie der Union für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum unter Berücksichtigung der wichtigsten territorialen Herausforderungen der verschiedenen Arten von Gebieten zu erleichtern. Im Anschluss sind die Mitgliedstaaten aufgefordert, eine Gesamtstrategie für 103 alle strukturpolitischen Maßnahmen in ihrem gesamten Territorium zu entwickeln. Der früher für diese mitgliedstaatsinterne Planungs- und Koordinierungsleistung verwendete Begriff „Nationaler Strategischer Rahmenplan“ wird von den geltenden Rechtsgrundlagen nicht mehr verwendet. Stattdessen spricht Art 14 Allgemeine Verordnung von der Partnerschaftsvereinbarung, die von den Mitgliedstaaten bis zum 22. April 2014 erstellt werden und die alle Unterstützungsleistungen aus den ESI-Fonds im betreffenden Mitgliedstaat abdecken müssen. Der Kommission stehen nach Art 16 I Allgemeine Verordnung drei Monate für Anmerkungen zur Partnerschaftsvereinbarung zur Verfügung, die sie, sofern ihre Anmerkungen vom Mitgliedstaat angemessen berücksichtigt werden, nach Art 16 II Allgemeine Verordnung binnen vier Monaten annehmen muss. Die Partnerschaftsvereinbarung zwischen der Europäischen Kommission und 104 Deutschland100 veranschlagt für den Zeitraum 2014–2020 für den EFRE und den ESF Mittel iHv 19,2 Mrd Euro und für den ELER ein Finanzvolumen von 8,3 Mrd Euro.101 Die Interventionsschwerpunkte für Deutschland – auch basierend auf den von der Europäischen Kommission ausgesprochenen Empfehlungen102 – gestalten

_____ 100 S BMWi, Partnerschaftsvereinbarung zwischen Deutschland und der Europäischen Kommission, Teile 1 und 2, zugänglich auf der Website des BMWi, https://www.bmwi.de. 101 BMWi, Partnerschaftsvereinbarung Teil 1, S 9; näher zur aktuellen Entwicklung BMWI, Strategischer Fortschrittsbericht 2017, ebenfalls zugänglich auf der Website des BMWi, https://www. bmwi.de. 102 Europäische Kommission, GD Regionalpolitik und Stadtentwicklung, Stellungnahme der Kommissionsdienststellen zur Vorbereitung der Partnerschaftsvereinbarung und der Programme in Matthias Rossi

1370 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

sich wie folgt:103 Zwar gehört der größte Teil Ostdeutschlands nicht mehr zu den weniger entwickelten, sondern seit 2014 zu den Übergangsregionen. Dennoch sind vor allem die Unterschiede in Wirtschaftsleistung, Beschäftigungsquote und Probleme bei der Demografie generell anzugehen. Problematische Bereiche in ganz Deutschland sind insbesondere Armut trotz Erwerbstätigkeit sowie Energiewende und Klimawandel. Folglich sind vorrangig für drei Bereiche Förderprioritäten vorgesehen: Regionale Unterschiede bei Wettbewerbsfähigkeit und demografischem Wandel, Steigerung des Arbeitsmarktpotenzials, der sozialen Eingliederung und des Bildungsniveaus, Energiewende und nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen. Anschließend steht den Mitgliedstaaten nach Art 26 IV Allgemeine Verordnung 105 ein Zeitraum von drei Monaten zur Verfügung, um die Programme bzw operationellen Programme (OP) zu erarbeiten und einzureichen. Ihr obligatorischer Inhalt wird von Art 27 Allgemeine Verordnung beschrieben, das Verfahren zu ihrer Annahme von Art 29. Nach dem in der Verordnung vorgesehenen Zeitplan sollten alle operationellen Programme bis Ende Januar 2015 angenommen sein. Insgesamt ist die Planungsphase das gestaltende Element innerhalb der Kohä106 sionspolitik. Auf jeder Stufe des Planungsprozesses wird eine stufenweise Problemabschichtung vorgenommen. Die vorherige Festlegung einer groben politischen Strategie durch den Europäischen Rat und der finanziellen Mittel im mehrjährigen Finanzrahmen führt zu einer Streckung ebenso wie zu einer Entlastung der Planungsphase. Die Planung selbst verfolgt steuernde, kommunikative und rationalisierende Wirkungen, die sie in aller Regel auch erreicht.104

3. Vollzugsphase 107 In der sich anschließenden Vollzugsphase werden die Vorhaben ausgewählt und

durchgeführt. Diese Phase wird von den Mitgliedstaaten dominiert, die Rolle der Europäischen Kommission beschränkt sich weitgehend auf die Mittelbewilligung und -auszahlung. Freilich nimmt die Allgemeine Verordnung insofern Einfluss auf die Vorhabenauswahl, als sie sog Ex-ante-Konditionalitäten erwartet, wie Erwägungsgrund 21 der Allgemeinen Verordnung deutlich zum Ausdruck bringt: „Die Mitgliedstaaten sollten die Unterstützung so konzentrieren, dass ein signifikanter Beitrag zur Verwirklichung der Ziele der Union im Einklang mit dem spezifischen nationalen und regionalen Entwicklungsbedarf des jeweiligen Mitgliedstaats sichergestellt werden kann. Es sollten Ex-ante-Konditionalitäten sowie eine kurz gefasste, erschöpfende Aufstellung objektiver Kriterien für ihre Bewertung festgelegt

_____ Deutschland für den Zeitraum 2014–2020, abrufbar ua auf der Website der G.I.B, https://www. gib.nrw.de. 103 Hierzu BMWi, Partnerschaftsvereinbarung Teil 1, S 62 ff. 104 Intensiv zur Planungsphase Schöndorf-Haubold S 158 ff. Matthias Rossi

III. Verfahren der Kohäsionspolitik | 1371

werden, um zu gewährleisten, dass die notwendigen Voraussetzungen für eine wirksame und effiziente Nutzung der Unterstützung durch die Union gegeben sind. Zu diesem Zweck sollte eine Ex-ante-Konditionalität nur dann auf die Priorität eines bestimmten Programms angewandt werden, wenn sie einen unmittelbaren und echten Bezug zur wirksamen und effizienten Verwirklichung eines spezifischen Ziels einer Investitionspriorität oder einer Unionspriorität aufweist oder sich hierauf unmittelbar auswirkt, da nicht jedes spezifische Ziel unbedingt an eine in den fondsspezifischen Regelungen festgelegte Ex-ante-Konditionalität gebunden ist.“ Eine Übersicht der erforderlichen Ex-ante-Konditionalitäten und ihrer Erfüllungskriterien findet sich in Ergänzung zu Art 19 Allgemeine Verordnung im Anhang XI Teil II zur Allgemeinen Verordnung. Mit Blick auf die Verantwortung der Kommission für den Vollzug des EU- 108 Haushalts nach Art 317 AEUV ist sie aber auch und gerade in der Vollzugsphase auf Informationen der Mitgliedstaaten angewiesen. Bereits Erwägungsgrund 98 der Allgemeinen Verordnung hält deshalb fest: „Die Mitgliedstaaten sollten der Kommission regelmäßig die wichtigsten Daten übermitteln, damit relevante, aktuelle Informationen über die Programmdurchführung zur Verfügung stehen. Damit den Mitgliedstaaten kein zusätzlicher Verwaltungsaufwand entsteht, sollte sich dies auf fortlaufend erhobene Daten beschränken, und die Übertragung sollte im Wege des elektronischen Datenaustausches erfolgen.“

4. Kontrollphase Die Aufsicht über die Durchführung der Kohäsionspolitik kann als eine typische 109 Verbundaufsicht charakterisiert werden:105 Die eigentliche Aufsicht über die Verwendung der finanziellen Mittel liegt bei den nationalen Stellen. Doch trotz der primären Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für den Vollzug der kohäsionspolitischen Maßnahmen und deren Kontrolle kann sich die Europäische Kommission ihrer Haushaltsverantwortung nach Art 317 AEUV nicht mit dem Verweis auf Missstände in den Mitgliedstaaten entziehen. Vielmehr muss sie selbst kontrollieren, ob die Mitgliedstaaten geeignete Kontrollmechanismen ins Leben gerufen haben. Deshalb übt die Europäische Kommission sowohl eine Kontrolle hinsichtlich der Richtigkeit der Zahlungsanträge als auch eine Aufsicht über die nationalen Kontrollen aus, die die mitgliedstaatlichen Verwaltungen gegenüber den Begünstigten durchzuführen haben. Neben Vor-Ort-Kontrollen (vgl bspw Art 75 Allgemeine Verordnung) hat die Kommission dabei auch die Möglichkeit, Empfehlungen oder – verbindlicher – Aufforderungen zu Abhilfemaßnahmen auszusprechen, deren Nichtbefolgung unter Umständen mit finanziellen Konsequenzen verbunden ist (vgl Art 87 Allgemeine

_____ 105 So Eekhoff S 66 ff. Matthias Rossi

1372 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

Verordnung). Die Europäische Kommission kann die Fondsfinanzierung für eine einzelne Investition im Ergebnis sogar ganz oder teilweise kürzen (Art 86 Allgemeine Verordnung). In der Regel werden die entsprechenden Gelder dann für ein anderes Projekt im Rahmen desselben Programmes verwendet. Nimmt ein Mitgliedstaat die insoweit angeordneten Finanzkorrekturen allerdings nicht vor, kann die Kommission auch mit einer Nettoreduzierung der Unionsmittel reagieren. Insgesamt setzt die Allgemeine Verordnung aber verstärkt auf strukturelle 110 Vorsorgekontrolle und sog Ex-ante-Konditionalitäten denn auf eine nachträgliche Kontrolle.106 So bestimmt schon Erwägungsgrund 106 der Allgemeinen Verordnung, dass die Mitgliedstaaten für jedes operationelle Programm eine Verwaltungsbehörde, eine Bescheinigungsbehörde und eine funktionell unabhängige Prüfbehörde zu benennen haben, die im Zusammenspiel für die Durchführungskontrolle zuständig sind: Die Verwaltungsbehörde prüft die Einhaltung der Bedingungen für die Gewährung von Zuschüssen und führt regelmäßige Kontrollen durch, um die Fortschritte und die Richtigkeit der angesetzten Ausgaben zu überprüfen. Die Bescheinigungsstelle unterbreitet der Kommission regelmäßig die Kostennachweise und die Zahlungsanträge. Sie überprüft, ob die Zahlungsanträge korrekt sind und von Rechnungsführungssystemen erstellt wurden, die den geltenden nationalen und europäischen Vorschriften entsprechen. Die Prüfbehörde prüft die Systeme und die Projekte. Sie meldet der Verwaltungsbehörde und der Bescheinigungsstelle festgestellte Lücken und Unregelmäßigkeiten bei den Ausgaben. Darüber hinaus legt Erwägungsgrund 43 der Allgemeinen Verordnung fest: 111 „Um verhältnismäßige Kontrollvorkehrungen zu gewährleisten und den mit den Finanzinstrumenten verbundenen Mehrwert zu wahren, sollten die vorgesehenen Endbegünstigten nicht durch übermäßigen Verwaltungsaufwand abgeschreckt werden. Die für die Prüfungen von Programmen zuständigen Gremien sollten zuerst Prüfungen auf der Ebene der Verwaltungsbehörden und der Stellen, die Finanzinstrumente durchführen, einschließlich Dachfonds, vornehmen. Allerdings kann es spezifische Umstände geben, unter denen die notwendigen Unterlagen für den Abschluss solcher Prüfungen auf der Ebene der Verwaltungsbehörden oder der Stellen, die die Finanzinstrumente durchführen, nicht vorliegen oder diese Dokumente keine wahrheitsgemäße und genaue Aufzeichnung der geleisteten Förderung darstellen. In solchen speziellen Fällen bedarf es daher bestimmter Vorkehrungen, um auch Prüfungen auf der Ebene der Endbegünstigten zu ermöglichen.“ Eine besondere, im weitesten Sinne kontrollierende Funktion nimmt ferner der 112 Europäische Rechnungshof ein. Dieser kann auf Grundlage von Art 284 IV UAbs 2 AEUV Bemerkungen in Form von Sonderberichten zu besonderen Fragestellungen

_____ 106 Zur Bewertung der Ex-ante-Konditionalitäten vgl auch Europäischer Rechnungshof, Sonderbericht Nr 15/2017, ABl 2017 C 401/19. Matthias Rossi

IV. Die fünf Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESI) | 1373

vorlegen. Dabei kann der Hof die Kohäsionspolitik der Kommission zum Gegenstand seiner Bewertung machen und Empfehlungen aussprechen.107 Letztlich trägt der Rechnungshof so erheblich zu einer Effektivierung der Kohäsionspolitik bei. IV. Die fünf Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESI) IV. Die fünf Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESI) Der Europäischen Union stehen für ihre Kohäsionspolitik – von ihrer Verfolgung als 113 Querschnittsaufgabe im Rahmen aller Politiken abgesehen – im Wesentlichen Fonds sowie andere Finanzierungsinstrumente zur Verfügung. Die im Dezember 2013 reformierten sekundärrechtlichen Vorschriften, insb die Allgemeine Verordnung (so Rn 55), fassen die fünf Struktur- und Investitionsfonds EFRE, ESF, KF, ELER und EMFF zu den Europäischen Struktur- und Investitionsfonds, kurz ESI, zusammen.

1. Europäischer Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) a) Rechtsgrundlage und Überblick Der EFRE wurde 1975 durch eine auf Art 235 EWGV – dem jetzigen Art 352 I AEUV 114 vergleichbar – gestützte Verordnung gegründet, bevor er durch die EEA zunächst in Art 130c EWGV, sodann in Art 160 EGV und nun in Art 176 AEUV eine eigenständige Rechtsgrundlage erhalten hat. Art 176 AEUV bestimmt die Aufgabe des EFRE, zum Ausgleich der wichtigsten 115 regionalen Ungleichgewichte in der Union beizutragen. Des Weiteren sollen schwächer werdende Industriegebiete umgestellt und wichtige regionale Ungleichgewichte ausgeglichen werden. Wichtigste regionale Unterschiede sind nicht besonders bedeutsame, sondern besonders schwerwiegende. Die Beseitigung sonstiger lokaler Diskrepanzen bleibt primäre Aufgabe der Mitgliedstaaten. Der EFRE wird vor allem zur strukturellen Anpassung rückständiger Gebiete sowie zur Umstellung der Industriegebiete mit rückläufiger Entwicklung genutzt. Er ist das wichtigste Finanzierungsinstrument der Regionalpolitik der Union. Durch seine entsprechenden Finanzzuweisungen fungiert er in gewissem Maße als horizontaler Finanzausgleich, der aber wegen seiner Ausrichtung auf Regionen nur mittelbar die Mitgliedstaaten betrifft. Der Fonds besitzt keine eigene Rechtspersönlichkeit, sondern ist

_____ 107 Beispielhaft seien angeführt Europäischer Rechnungshof, Die Verhandlungen der Kommission über die Partnerschaftsvereinbarungen und Programme der Kohäsionspolitik 2014-2020: gezieltere Ausrichtung der Ausgaben auf die Prioritäten von Europa 2020, aber zunehmend komplexere Regelungen für die Leistungsmessung, Sonderbericht Nr 2/2017, ABl 2017 C 109/5; Europäischer Rechnungshof, Bei Auswahl und Begleitung von EFRE- und ESF-Projekten überwiegt im Zeitraum 20142020 nach wie vor die Outputorientierung, Sonderbericht Nr 21/2018, ABl 2018 C 315/20. Matthias Rossi

1374 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

eine unselbstständige Einrichtung der Union. Er wird von der Kommission verwaltet, seine Mittel sind im Haushaltsplan enthalten. Bereits Art 174 II, III AEUV beinhalten relevante Zielbestimmungen für die re116 gionale Entwicklung und den EFRE. So sind eine Angleichung der Entwicklungsstände und eine Beseitigung der Rückstände der unterschiedlichen Regionen Ziele der europäischen Strukturpolitik. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den ländlichen, vom industriellen Wandel betroffenen Gebieten und den Gebieten mit schweren und dauerhaften natürlichen oder demografischen Nachteilen, zB nördliche und Inselgebiete. Es handelt sich bei dieser Norm um die Rechtsgrundlage für eine unionsrechtliche Regionalpolitik.108 Die primärrechtliche Grundlage für den EFRE enthalten Art 176 und 178 AEUV, nicht aber Art 175 I 3, der nur auf vorhandene Finanzierungsinstrumente abstellt, aber trotzdem zu einer unionseigenen Förderungspolitik ermächtigt.109

b) EFRE-Verordnung 117 Die nur allgemeine Aufgabenzuweisung an den EFRE bedarf der Konkretisierung durch das gemäß Art 177 und vor allem Art 178 AEUV zu beschließende Sekundärrecht, das insbesondere Einzelheiten der Ausgestaltung und der Finanzierung des EFRE zu bestimmen hat. Entsprechende Vorgaben enthalten die Allgemeine Verordnung und die EFRE-Verordnung,110 welche zugleich die Vorgängerverordnung111 aufhebt. Die EFRE-Verordnung stützt sich neben Art 178 AEUV auch auf Art 349 AEUV, welcher bestimmte außereuropäische Territorien der Mitgliedstaaten betrifft, die wegen ihrer strukturbedingten sozialen und wirtschaftlichen Lage Sonderregelungen bei der Anwendung der Verträge erfahren. Diese Zweiteilung der Rechtsgrundlagen spiegelt sich auch in der Struktur 118 der EFRE-Verordnung wider. In Kapitel I als allgemeiner Teil finden sich gemeinsame Bestimmungen über Aufgaben und Interventionsbereich des Fonds. Dem schließt sich ein spezieller Teil in Kapitel II an, der besondere Bestimmungen zur Behandlung von territorialen Besonderheiten enthält, worunter auch nördlichste Regionen mit sehr geringer Bevölkerungsdichte und die in Art 349 AEUV genannten Regionen in äußerster Randlage fallen. Übergangsbestimmungen, delegierte Rechtsakte und die Aufhebung der früheren Verordnung befinden sich in den Schlussbestimmungen in Kapitel III. Am Ende benennt Anhang I gemeinsame Out-

_____ 108 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Kern/C Eggers Art 174 AEUV Rn 27 f. 109 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Kern/C Eggers Art 174 AEUV Rn 27, Art 175 AEUV Rn 17, Art 176 AEUV Rn 1. 110 VO 1301/2013, ABl 2013 L 347/289. 111 VO 1080/2006, ABl 2006 L 210/1. Matthias Rossi

IV. Die fünf Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESI) | 1375

putindikatoren für den Bereich „Investitionen in Wachstum und Beschäftigung“ sowie in Anhang II eine Entsprechungstabelle zur Vorgängerverordnung.

aa) Allgemeiner Teil Die EFRE-Verordnung zielt auf Investitionen in Wachstum und Beschäftigung sowie 119 auf eine europäische territoriale Zusammenarbeit. Hierfür werden die notwendigen Aufgaben bestimmt und der Bereich festgelegt, in welchem interveniert werden soll, um die beschriebenen Ziele zu erreichen (Art 1). Dabei unterstützt der EFRE die Finanzierung von Maßnahmen, die auf einen Ausgleich bedeutender regionaler Disparitäten abzielen (Art 2). In Art 3 I werden nun Maßnahmen aufgezählt, welche durch den EFRE gefördert werden (Interventionsbereich) – zu erwähnen sind insbesondere die bedeutenden Bereiche der Produktion (lit a) und Infrastruktureinrichtungen (lit c). In negativer Hinsicht unterstützt der EFRE nicht die in Abs 3 genannten Bereiche, etwa: Kernkraftwerke; Verringerung der Treibhausgasemissionen, soweit die Tätigkeiten in Anhang I der RL 2003/87112 aufgeführt sind; Tabak(erzeugnisse). Daran anschließend weist Art 4 den Zielen und Prioritäten aus Art 9 I und Art 5 120 Allgemeine Verordnung die nötigen Mittel zu und konzentriert sie (thematisch) auf bestimmte Bereiche, enthält aber im Rahmen dessen freilich auch Ausnahmen und Spezialisierungen.113 Diese Mindestzuweisung114 erfolgt dadurch, dass auf nationaler Ebene je nach Entwicklungsstand der Region ein anderer Prozentsatz für die Ziele in Art 9 I Allgemeine Verordnung zugeteilt wird. Welche der drei Kategorien (weniger entwickelte Regionen, Übergangsregionen und stärker entwickelte Regionen) einschlägig ist, richtet sich nach dem BIP pro Kopf, gemessen am durchschnittlichen BIP der EU-27.115 In einer Übergangsregion zB liegt das BIP pro Kopf zwischen 75% und 90% des durchschnittlichen BIP der – aufgrund des Brexits bald wieder – EU-27. Folgendes Bsp dient der Veranschaulichung: Für Teile Ostdeutschlands als Übergangsregion116 werden 9,772 Mrd Euro zwischen 2014–2020 zur Verfügung gestellt. In Übergangsregionen müssen gemäß Art 4 I lit b) 60% der Mittel auf zwei oder mehr der in Art 9 I Nr 1–4 Allgemeine Verordnung genannten Ziele verwendet werden, davon mindestens 15% für diejenigen in Art 9 I Nr 4 Allgemeine

_____ 112 ABl 2003 L 275/32. 113 Übersichtliche Kurzzusammenfassung auch unter https://ec.europa.eu/regional_policy/index. cfm/en/funding/erdf. 114 European Commission, MEMO/11/663, S 2 f. 115 Vgl Art 90 II Allgemeine Verordnung 1303/2013, ABl 2013 L 347/320. 116 S Karte und Zahlen der Europäischen Kommission, GD Regionalpolitik und Stadtentwicklung, Europäischer Struktur- und Investitionsfonds 2014-2015 (November 2015), https://ec.europa.eu/ regional_policy/sources/docgener/guides/blue_book/blueguide_de.pdf, S 31. Matthias Rossi

1376 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

Verordnung. Zusammenfassend wird deutlich, dass stärker entwickelte Regionen einen kleineren thematischen Spielraum für die Mittelverwendung besitzen, wohingegen weniger entwickelte Gebiete wegen ihres breiten Entwicklungsbedarfs einen größeren Spielraum zur Mittelverwendung erhalten.117 Dennoch besteht in jeder Region ein Schwerpunkt in der Förderung von Energieeffizienz, erneuerbaren Energien, Innovation und der Förderung von kleinen und mittelständischen Unternehmen. In einer weiteren Stufe der Konkretisierung und Priorisierung bestimmt Art 5 121 Investitionsprioritäten, dh der EFRE unterstützt Investitionen in gewisse Felder, die innerhalb der Ziele des Art 9 I Allgemeine Verordnung liegen. So zielt zB Art 9 I Nr 6 Allgemeine Verordnung auf die Erhaltung und den Schutz der Umwelt sowie die Förderung der Ressourceneffizienz. Hiermit korrespondiert Art 5 VI EFREVerordnung. Demgemäß muss im Rahmen dieses Ziels die Priorität unter anderem auf die Wasserwirtschaft (b) gelegt werden. Vergröbernd zusammengefasst konzentriert sich der Schwerpunkt (die Priorität) 122 der Investitionen auf die Bereiche Forschung und Innovation, Digitale Agenda, Unterstützung kleiner und mittelständischer Unternehmen und Projekte zur kohlenstoffdioxidarmen Wirtschaft.118 Wieviel der Mittel hierauf entfallen müssen, richtet sich nach der betroffenen Region: in entwickelten Regionen mindestens 80% auf mindestens zwei der erwähnten Bereiche, in weniger entwickelten Regionen 50% und in Übergangsregionen 60%. Dabei muss in jeder Region ein gewisser Prozentsatz für kohlenstoffdioxidarme Wirtschaftsprojekte eingesetzt werden. Die an einigen Stellen in der EFRE-Verordnung angesprochenen Programme zur europäischen territorialen Zusammenarbeit, die ebendort nicht näher geregelt sind, müssen hingegen alle vier Prioritäten mit mindestens 80% der Mittel versehen. Der allgemeine Teil schließt mit Indikatoren für das Ziel „Investitionen in 123 Wachstum und Beschäftigung“, Art 6 und Anhang I. Somit wird eine konkrete und transparente Erfolgskontrolle möglich.

bb) Besonderer Teil 124 Der Besondere Teil beginnt mit speziellen Vorschriften für eine nachhaltige Stadt-

entwicklung (Art 7), die neuerdings die Rolle der Städte für Wachstum und Beschäf-

_____ 117 Europäische Kommission, Kohäsionspolitik 2014–2020: Investieren in Wachstum und Beschäftigung, 2011, S 8; s für konkrete Zahlen Europäische Kommission, https://cohesiondata.ec.europa. eu/funds/cf#. 118 S auch Europäische Kommission, MEMO/13/1011, S 2; Europäische Kommission, GD Regionalpolitik und Stadtentwicklung, Die Fonds. Europäischer Fonds für regionale Entwicklung, http://ec.europa.eu/regional_policy/thefunds/regional/index_de.cfm; dort auch zum Folgenden. Matthias Rossi

IV. Die fünf Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESI) | 1377

tigung mittels integrierter Maßnahmen unterstreichen.119 Bei der Stadtentwicklung hat eine enge Zusammenarbeit mit den städtischen Behörden zu erfolgen (Art 7 V). Flankiert wird Art 7 durch Art 8, wodurch innovative Maßnahmen im Bereich der nachhaltigen Stadtentwicklung, zB Studien und Pilotprojekte, gefördert werden können und eine strenge Bindung an die in Art 4 genannten Tätigkeiten nicht besteht. Dem Bereich der Stadtentwicklung dient auch ein Stadtentwicklungsnetz (Art 9). Gebiete mit natürlichen oder demografischen Nachteilen finden in den 125 Art 10–12 besondere Berücksichtigung. So gilt Art 4 nicht für nördlichste Regionen mit sehr geringer Bevölkerungsdichte, so Art 11, und für Regionen in äußerster Randlage. Stattdessen sind die Mittel für jene nördlichsten Regionen für die Ziele in Art 9 I Nr 1–4 und 7 Allgemeine Verordnung zu verwenden, in Regionen in äußerster Randlage für Mehrkosten, die aus eben dieser Lage entstehen (vgl Art 349 AEUV). Es sind dabei die Einschränkungen in den folgenden Absätzen des Art 12 zu beachten.

cc) Schlussbestimmungen Details zu delegierten Rechtsakten werden in Art 14 erwähnt. Art 15 und 13 stellen 126 das Verhältnis von alter und neuer Verordnung klar. So wird die alte EFREVerordnung grundsätzlich aufgehoben. Verweise auf diese verstehen sich von nun an als Verweise auf die neue EFRE-Verordnung, was über die Entsprechungstabelle in Anhang II näher zu erschließen ist. Soweit es um Unterstützungen und Anträge geht, die auf der alten Verordnung basieren, bleiben diese durch die neue Verordnung unberührt.

c) Würdigung Die derzeitige EFRE-Verordnung befindet sich in ihrer Konzeption auf einer Linie 127 mit dem neuen Ansatz aller Fonds. Im Mittelpunkt stehen eine starke Priorisierung sowie eine anschließende transparente Erfolgskontrolle. Es bleibt aber zu fragen, ob sich das Fonds-Konzept angesichts seiner Weite, die durch die kaum noch überschaubare Aneinanderreihung von Schlagworten deutlich wird, nicht den Vorwurf der Konturenlosigkeit oder gar Beliebigkeit gefallen lassen muss. Ob eine Priorisierung auf generalklauselartige Begriffe zu einer wirklichen Prioritätensetzung führt, muss bezweifelt werden. Die Steuerungsfähigkeit des Rechts verlangt auch einen hinreichenden Bestimmtheitsgrad.

_____ 119 Vgl auch European Commission, MEMO/11/663, S 9; näher zu Art 7 auch Europäische Kommission, Integrierte nachhaltige Stadtentwicklung. Factsheet, abrufbar unter http://ec.europa. eu/regional_policy/de/information/publications/brochures/2014/integrated-sustainable-urban-dev elopment, S 2 f, 4 f. Matthias Rossi

1378 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

128

Aufgrund der föderalen Struktur in Deutschland erfolgt die Förderung durch den EFRE zum größten Teil auf Länderebene.120 Insgesamt 15 regionale Programme erhalten für den Zeitraum 2014–2020 Mittel aus dem EFRE; in Niedersachsen besteht zudem ein Multifonds-Programm aus EFRE und ESF.121 Die Förderung durch den EFRE umfasst zwar grundsätzlich das gesamte Staatsgebiet, allerdings befinden sich die einzelnen Regionen auf unterschiedlichen Entwicklungsniveaus und unterliegen damit unterschiedlichen Gebietskategorien, weshalb sich die Zuordnung der Finanzmittel auf die strukturschwächeren Übergangsregionen, und somit überwiegend auf die ostdeutschen Bundesländer, konzentriert. Für diese Ziele ist der weit überwiegende Teil der EFRE-Mittel vorgesehen, wobei etwa die Hälfte der zur Verfügung stehenden Mittel für die Stärkung der regionalen Wettbewerbsfähigkeit vorgesehen ist.

2. Europäischer Sozialfonds (ESF) a) Rechtsgrundlage und Überblick 129 Auf primärrechtlicher Ebene stellen zunächst die unter einem eigenen Titel normierten Art 162 bis 164 AEUV die Rechtsgrundlagen für den ESF dar. Da es sich bei dem ESF gemäß Art 175 I 3 AEUV um einen Strukturfonds handelt, finden außerdem die Art 174 ff AEUV Anwendung.122 Art 162 AEUV verpflichtet die EU zur Errichtung des ESF und erläutert dessen Zielsetzung in Gestalt der Verbesserung der „Beschäftigungsmöglichkeiten im Binnenmarkt“, welche „zur Hebung der Lebenshaltung“ beitragen soll. Gemäß Art 163 I AEUV obliegt die Fondsverwaltung der Kommission. Zusätzlich wird unter dem Vorsitz eines Kommissionsmitglieds ein unterstützender Ausschuss eingesetzt, der sich aus Vertretern der Regierungen sowie der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände zusammensetzt (Art 163 II AEUV). Art 164 AEUV ermächtigt das Europäische Parlament und den Rat zum Erlass von Durchführungsverordnungen. Von Bedeutung ist zudem die Ermächtigungsvorschrift des Art 177 I AEUV zum Erlass von fondsspezifischen Verordnungen. Der seit 1957 existierende Europäische Sozialfonds123 (ESF) bezweckt die Förde130 rung der „Beschäftigungsmöglichkeiten der Arbeitskräfte im Binnenmarkt“.124 Von

_____ 120 Zum aktuellen Förderungsfortschritt s BMWi, Strategischer Fortschrittsbericht 2017, abrufbar auf der Website des BMWi, https://www.bmwi.de. 121 Europäische Kommission, EU-Kohäsionspolitik in Deutschland, abrufbar auf der Website des BMWi, https://www.bmwi.de. 122 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Kingreen Art 162 AEUV Rn 2, 11. 123 Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziales und Integration, http://ec.europa.eu/ esf/home.jsp?langId=de; zum Europäischen Sozialfonds in Deutschland https://www.esf.de/portal/ DE/Ueber-den-ESF/Geschichte-des-ESF/inhalt.html. 124 Art 162 AEUV. Matthias Rossi

IV. Die fünf Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESI) | 1379

seinem Anwendungsbereich werden auch die Bildungsförderung, die soziale Inklusion sowie die Armutsbekämpfung erfasst. Gegenwärtig besitzt der ESF gerade für die Bekämpfung der in Südeuropa grassierenden Jugendarbeitslosigkeit eine große Bedeutung. Insgesamt dient der ESF, im Gegensatz zu den Zielsetzungen von EFRE und ELER, ausschließlich der persönlich-sozialen Sphäre wirtschaftlicher Entwicklung.125 Der ESF stellt eine unselbstständige Komponente des EU-Haushalts dar.126 Der Mindestanteil des ESF an den Kohäsionsmitteln beläuft sich nach dem 131 mehrjährigen Finanzrahmen auf 23,1%. Für die Programmperiode 2014–2020 weist er ein Volumen von über 80 Mrd Euro auf,127 das „Investitionen in Menschen“128 zugutekommen soll. 3,2 Mrd Euro dieses Betrages sind für die „Beschäftigungsinitiative für junge Menschen“129 veranschlagt. Jährlich profitieren ca 15 Mio Bürger vom ESF.130

b) Sekundärrechtliche Ausgestaltung Die sekundärrechtliche Ausgestaltung des ESF sieht in der Förderperiode 2014– 132 2020 folgendermaßen aus: Die Allgemeine Verordnung enthält gemeinsame Bestimmungen für die „Europäischen Struktur- und Investitionsfonds“, zu denen neben dem EFRE, dem KF, dem ELER und EMFF auch der ESF zählt.131 Zudem sind im Teil Drei dieses Sekundärrechtsakts allgemeine Bestimmungen für den EFRE, den KF sowie für den ESF niedergelegt (Art 89 ff). Gemäß Art 89 II lit a) dient der ESF dem Ziel, „Investitionen in Wachstum und Beschäftigung“ zu erreichen. In der ESF-Verordnung132 („fondsspezifische Verordnung“), die auf der Rechts- 133 grundlage des Art 164 AEUV erlassen wurde, sind detaillierte Bestimmungen enthalten. Art 3 ESF-Verordnung legt den Interventionsbereich des ESF fest. Danach dient er insbesondere der Realisierung folgender „thematischer Ziele“133 der ESI: – „Förderung nachhaltiger und hochwertiger Beschäftigung und Unterstützung der Mobilität der Arbeitskräfte“,

_____ 125 Keller S 203. 126 Calliess/Ruffert/Puttler Art 162 AEUV Rn 1. 127 Europäische Kommission, GD Regionalpolitik und Stadtentwicklung, Die Fonds, Europäischer Sozialfonds, https://cohesiondata.ec.europa.eu/funds/esf. 128 Europäische Kommission, Der Europäische Sozialfonds – In Menschen investieren, 2012. 129 COM(2013) 144. 130 Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziales und Integration, http://ec.europa.eu/ esf/main.jsp?catId=67&langId=de&newsId=8229. 131 Erwägungsgrund 2 Allgemeine Verordnung. 132 VO 1304/2013, ABl 2013 L 347/470. 133 Zu den thematischen Zielen der ESI s die grundlegende Bestimmung des Art 9 Allgemeine Verordnung. Matthias Rossi

1380 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

– – –

„Förderung der sozialen Inklusion und Bekämpfung von Armut und jeglicher Diskriminierung“, „Investitionen in Bildung, Ausbildung und Berufsbildung für Kompetenzen und lebenslanges Lernen“, „Verbesserung der institutionellen Kapazitäten von öffentlichen Behörden und Interessenträgern und der effizienten öffentlichen Verwaltung“.

Innerhalb der thematischen Ziele legt Art 3 I „Investitionsprioritäten“ fest, um ein ergebnisorientiertes Handeln zu ermöglichen. Hierbei sollen auch Belange der Nachhaltigkeit und Forschung berücksichtigt sowie KMUs gestärkt werden (Art 3 II). Die Vorschrift des Art 4 macht gegenüber den Mitgliedstaaten Vorgaben zu den kohäsionspolitischen Grundsätzen der Kohärenz und der thematischen Konzentration. Nach Art 4 II sollen in jedem Mitgliedstaat mindestens 20% der ESF-Mittel für das Ziel der „Förderung der sozialen Inklusion und Bekämpfung von Armut und jeglicher Diskriminierung“ bereitgestellt werden. Zum Zwecke der thematischen Konzentration sieht Art 4 III vor, dass je nach Regionskategorie ein bestimmter Anteil der jedem operationellen Programm zugewiesenen ESF-Mittel auf Investitionsprioritäten des Art 3 I ausgerichtet ist. Auf diese Weise soll dem ESF zu einer größeren Durchschlagskraft verholfen werden. Die Einbeziehung der Sozialpartner und der Nichtregierungsorganisationen bei 134 der Umsetzung des ESF soll durch diese Verordnung gestärkt werden (vgl Art 6). Bei der Mittelverwendung sind die Mitgliedstaaten zur Förderung der Gleichstellung (Art 7), der Chancengleichheit und Nichtdiskriminierung (Art 8) verpflichtet. Des Weiteren sollen die soziale Innovation (Art 9) und die transnationale Zusammenarbeit (Art 10) vorangetrieben werden. Von Relevanz ist außerdem das Kapitel IV, welches Bestimmungen zur „Beschäftigungsinitiative für junge Menschen“ enthält.

c) Umsetzung 135 In die Programmplanung sind sowohl die Kommission als auch die Mitglied-

staaten eingebunden. Hierbei werden nationale oder regionale „operationelle Programme“ für die siebenjährige Förderperiode erstellt. In der vergangenen Förderperiode 2007–2013 existierten in Deutschland insgesamt 18 operationelle Programme.134 Im aktuellen Förderzeitraum werden 15 Länderprogramme und ein nationales Programm mit Mitteln iHv fast 7,5 Mrd Euro durch den ESF gefördert.135

_____ 134 S die Webseite des BMAS zum ESF: https://www.esf.de/portal/DE/Foerderperiode-2014-2020/ ESF-Programme/inhalt.html. 135 Europäische Kommission, EU-Kohäsionspolitik in Deutschland, S 1, abrufbar auf der Website des BMWi, https://www.bmwi.de. Matthias Rossi

IV. Die fünf Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESI) | 1381

Die Umsetzung des ESF erfolgt zweistufig („indirektes Subventionsmodell“136): 136 Die Kommission weist die ESF-Mittel den Mitgliedstaaten zu, welche – in Kooperation mit der Kommission – in einem weiteren Schritt einzelfallbezogen über die Programmförderung entscheiden.137 Für die Umsetzung der ESF-Programme des Bundes (zB EXIST, JOBSTARTER, XENOS) ist das BMAS federführend zuständig. Die Höhe der ESF-Förderung sowie die Ausrichtung der unterstützten Pro- 137 gramme erfolgt nach Maßgabe des „relativen Wohlstands“ der Regionen. Es wird gemäß Art 90 II Allgemeine Verordnung auf NUTS-2-Ebene138 in Abhängigkeit vom BIP pro Kopf zum EU-Durchschnitt zwischen drei Kategorien differenziert: – „weniger entwickelte Regionen“ – „Übergangsregionen“ – „stärker entwickelte Regionen“. Für den Programmzeitraum 2021–2027 sind für den ESF umfangreichende 138 Änderungen vorgesehen. So soll der ESF mit weiteren Fonds zum „Europäischen Sozialfonds Plus“ (ESF+) verschmolzen werden, wodurch eine größere Flexibilität und Vereinfachung erreicht werden soll. Konkret sollen der ESF, die Beschäftigungsinitiative für junge Menschen, der Europäische Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen, das EU-Programm für die Beschäftigung und soziale Innovation sowie das EU-Gesundheitsprogramm zusammengefasst werden.139

d) Würdigung Diese Relativität der Kohäsionspolitik wird zT als wenig sachgerecht empfunden. 139 Ihr per definitionem egalitärer Ansatz führte bspw dazu, dass fast alle deutschen Regionen in den neuen Ländern ihren Höchstförderstatus verloren, nur weil sich die maßgeblichen Durchschnittswerte mit dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens verschoben haben. Trotz der verständlichen Reaktion in den betroffenen Gebieten ist die relative Betrachtung des Wohlstands der Regionen im Verhältnis zueinander ein wirkungsvolles Instrument, um den Grundsätzen der Konzentration und Wirksam-

_____ 136 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Kingreen Art 162 AEUV Rn 32. 137 Schöndorf-Haubold S 125; sa Grabitz/Hilf/Nettesheim/Kingreen Art 162 AEUV Rn 32. 138 NUTS ist eine englisch ausgesprochene Abkürzung des französischen Begriffs Nomenclature des unités territoriales statistiques. Sie bezeichnet gem VO 1059/2003, ABl 2003 L 154/1, eine hierarchische Systematik zur Klassifizierung von räumlichen Bezugseinheiten der Amtlichen Statistik in der EU. Unterschieden werden NUTS 0 (Nationalstaaten), NUTS 1 (Größere Regionen­/Landesteile); NUTS 2 (Mittlere Regionen/Landschaften), NUTS 3 (Kleinere Regionen/Groß­städte), gefolgt von LAU 1 und LAU 2 (Local Adminstrative Units). 139 Vgl Europäische Kommission, EU-Haushalt: Ein neuer Sozialfonds, ein verbesserter Fonds für die Anpassung an die Globalisierung und ein neuer Fonds für Justiz, Rechte und Werte, Pressemitteilung IP/18/3923. Matthias Rossi

1382 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

keit Genüge zu tun. Im Übrigen wird umgekehrt nicht nur aus politischer, sondern auch aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive mitunter kritisiert, dass von der Kohäsionspolitik auch die reicheren Mitgliedstaaten profitieren. Es stelle sich die Frage nach dem Mehrwert von Umverteilungen innerhalb der Gruppe der reichen bzw der armen Mitgliedstaaten.140 Im Zweifel ist die Berücksichtigung auch der reicheren Mitgliedstaaten der ökonomische Preis für die politische Zustimmung zum mehrjährigen Finanzrahmen.

3. Der Kohäsionsfonds (KF) a) Rechtsgrundlage und Überblick 140 Der Kohäsionsfonds verfolgt die Stärkung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts der Union durch den Ausgleich von Ungleichheiten und die Förderung nachhaltiger Entwicklung im Wege der Bereitstellung von Investitionsmitteln im Rahmen der Fazilität „Connecting Europe“141 für Verkehrsinfrastrukturprojekte im Bereich der transeuropäischen Verkehrsnetze (TEN-V)142 sowie für Maßnahmen mit Nutzen für die Umwelt.143 Basierend auf Art 174, Art 177 AEUV wurde die Allgemeine Verordnung ge141 schaffen, die als übergreifende VO grundlegende Vorgaben für die verschiedenen Fonds, so auch für den Kohäsionsfonds, macht. Nähere Bestimmungen zum Kohäsionsfonds enthält die auf Grundlage von Art 177 II AEUV erlassene fondspezifische KF-Verordnung über den Kohäsionsfonds und zur Aufhebung der VO 1084/2006.144

b) Förderung durch den Kohäsionsfonds 142 Der Kohäsionsfonds unterstützt Mitgliedstaaten mit einem Pro-Kopf-Bruttonational-

einkommen (BNE) von weniger als 90% des EU-Durchschnitts bei Investitionen in Umwelt- und Verkehrsprojekte. Die Förderung kann jedoch bei übermäßiger Verschuldung eines Mitgliedstaates durch mit qualifizierter Mehrheit des Rats getroffene Entscheidung ausgesetzt werden, wenn der betreffende Mitgliedstaat keine geeigneten Maßnahmen zu ihrer Lösung ergriffen hat.145 Damit ist der KF das einzige

_____ 140 Knapp etwa Busch Die Finanzierung der Europäischen Union, Beiträge aus dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln, Nr 52, 2012, S 40 f. 141 VO 1316/2013, ABl 2013 L348/129. 142 Vgl ferner die Leitlinien der VO 1315/2013, ABl 2013 L 348/1. 143 Hierzu auch Europäische Kommission, Zusammenfassung der Gesetzgebung, Kohäsionsfonds (2014–2020), zugänglich auf der Datenbank EUR-Lex (unter https://eur-lex.europa.eu/) unter „Zusammenfassungen der EU-Gesetzgebung“. 144 VO 1300/2013, ABl 2013 L 347/281. 145 Europäische Kommission, EU-Investitionen in Regionen und Städte, Regionalpolitik, Finanzierung, http://ec.europa.eu/regional_policy/de/funding/cohesion-fund/. Matthias Rossi

IV. Die fünf Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESI) | 1383

strukturpolitische Instrument, das über einen eigenen Sanktionsmechanismus verfügt.146 Im Förderzeitraum 2014–2020 erhalten Bulgarien, Estland, Griechenland, Kro- 143 atien, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Portugal, Rumänien, Slowenien, Slowakei, Tschechien, Ungarn und Zypern aus dem Kohäsionsfonds Gesamtmittel in Höhe von 75.427 Mio Euro (in aktuellen Preisen).147 Für den Zeitraum ab 2020 schlägt die Europäische Kommission vor, die Fazilität 144 „Connecting Europe“ mit Mitteln iHv 42,3 Mrd Euro fortzuführen; das entspricht einer Mittelaufstockung von 47% im Vergleich zur aktuellen Förderperiode.148 Dabei sollen 60% dieser Mittel zu Maßnahmen für den Klimaschutz beitragen.

4. Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raumes (ELER) Der ELER hat die Abteilung Ausrichtung des EAGFL abgelöst. Er war in der Förder- 145 periode 2000–2006 zunächst in die übergreifende Koordinierung aller Fonds eingebunden, schon in der anschließenden Förderperiode aber von den Rahmenvorgaben entkoppelt. So muss er sich zwar in den nationalen strategischen Rahmenplan einordnen, ist im Rahmen der operationellen Programme aber nicht in die langfristigen Ziele der Strukturfonds eingebunden.149 Seine historischen Wurzeln führen bis heute zu zahlreichen Überlappungen mit dem EFRE. Trennscharfe Abgrenzungen erscheinen kaum möglich. Jedenfalls seitens der Wirtschaftswissenschaften wird deshalb auch seine Auflösung und Einbettung in den EFRE gefordert, was zudem die Mitgliedstaaten von den „goldenen Zügeln“ der EU-Agrarpolitik befreite,150 die sich einige Mitgliedstaaten umgekehrt freilich gerne anlegen lassen. In der politökonomischen Sprache benennt die Verordnung151 drei sehr allge- 146 meine Ziele, die den beteiligten Akteuren aufgrund ihrer Unbestimmtheit einen ausgesprochen weiten Gestaltungsspielraum belassen. So soll mit dem ELER die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft gefördert, zugleich eine nachhaltige Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen und Klimaschutz gewährleistet und eine ausgewogene räumliche Entwicklung der ländlichen Wirtschaft und der ländlichen Gemeinschaften erreicht werden, wozu auch die Schaffung und der Erhalt von Arbeitsplätzen (man beachte die Reihenfolge) zählt (Art 4 ELER-VO).

_____ 146 Vgl Keller S 205. 147 Anhang IV und V des Beschlusses 2014/99/EU, ABl 2014 L 50/22; zu den aktuellen Zahlen s Europäische Kommission, https://cohesiondata.ec.europa.eu/funds/cf#. 148 Europäische Kommission, EU-Haushalt: Kommission schlägt vor, die Mittel für Investitionen in leistungsstarke Infrastrukturen zur Vernetzung Europas aufzustocken, Pressemitteilung IP/18/4029. 149 Vgl Erwägungsgrund 2 der Allgemeinen Verordnung. 150 Dreger/Kosfeld/Türck/Karl S 45. 151 VO 1305/2013, ABl 2013 L 347/487. Matthias Rossi

1384 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

147

In Anpassung an die Strategie „Europa 2020“ sind für die Förderperiode 2014– 2020 auch die Prioritäten neu festgeschrieben worden. Nunmehr geht es um 1. Förderung von Wissenstransfer und Innovation in der Land- und Forstwirtschaft und den ländlichen Gebieten, 2. Förderung der Wettbewerbsfähigkeit aller Arten von Landwirtschaft und des Generationswechsels in den landwirtschaftlichen Betrieben, 3. Förderung der Organisation der Nahrungsmittelkette und des Risikomanagements in der Landwirtschaft, 4. Wiederherstellung, Erhaltung und Verbesserung von Ökosystemen, die von der Land- und Forstwirtschaft abhängig sind, 5. Förderung der Ressourceneffizienz und Unterstützung des Agrar-, Ernährungsund Forstsektors beim Übergang zu einer kohlenstoffarmen und klimaresistenten Wirtschaft, 6. Förderung der sozialen Eingliederung, der Bekämpfung der Armut und der wirtschaftlichen Entwicklung in den ländlichen Gebieten.

148

Die von den Mitgliedstaaten und Regionen zu formulierenden Programme zur ländlichen Entwicklung haben mindestens vier der genannten Prioritäten zu berücksichtigen. Zudem sind für jedes regionale Entwicklungsprogramm mindestens 30% der Finanzmittel für Umwelt und Klimaschutz und 5% der Mittel für LEADER152 zu veranschlagen.153 In der aktuellen Förderperiode gibt es in Deutschland 13 Länderprogramme zur Umsetzung des ELER, die insgesamt mit Mitteln iHv etwa 16,9 Mrd Euro ausgestattet sind.154

5. Europäischer Meeres- und Fischereifonds (EMFF) 149 Für die Förderperiode 2014–2020 hat der Europäische Meeres- und Fischereifonds

(EMFF) den Europäischen Fischereifonds (EFF) sowie eine Reihe weiterer Instrumente abgelöst.155 Die Allgemeine Verordnung enthält gemeinsame Bestimmungen für die Struktur- und Kohäsionsfonds, wie auch für den EMFF und den ELER, wenngleich die EMFF-VO erst zu einem späteren Zeitpunkt verabschiedet wurde.156

_____ 152 LEADER steht für "Liaison Entre Actions de Développement de l'Économie Rurale" und ist ein methodischer Ansatz der Regionalentwicklung, der die Menschen vor Ort miteinbindet. Näheres unter https://www.netzwerk-laendlicher-raum.de/regionen/leader/. 153 Europäische Kommission, GD Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, Ländliche Entwicklung 2014-2020, https://ec.europa.eu/agriculture/rural-development-2014-2020_de. 154 Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, Broschüre „Das kann der ELER“, S 5 f, abrufbar unter https://www.netzwerk-laendlicher-raum.de/. 155 VO 508/2014, ABl 2014 L 149/1. 156 Die EMFF-VO gilt rückwirkend ab 1. Januar 2014. Matthias Rossi

V. Weitere Fonds und Unterstützungsprogramme | 1385

Die EMFF-Verordnung ist die zentrale Säule für die Finanzierung der 2013 re- 150 formierten Gemeinsamen Fischereipolitik.157 Mit ihr soll die Nachhaltigkeit der Fischereiwirtschaft zum neuen Leitprinzip erhoben werden.158 Der EMFF soll deshalb die Beschäftigten im Fischerei- und Aquakulturbereich sowie die Bevölkerung in Küstengebieten bei der Anpassung unterstützen. Dazu stehen dem Fonds von 2014– 2020 insgesamt Mittel iHv 6,5 Mrd Euro zur Verfügung, die an die Mitgliedstaaten in Relation zur Größe ihrer Fischereiindustrie verteilt und anschließend projektbezogen weiterverwendet werden. Schwerpunktmäßig verfolgt der EMFF folgende Ziele: 151 – Auffüllen der Fischbestände und sukzessives Beenden von Rückwürfen – Stärkung von Aquakulturen und Investitionen in wissenschaftliche Erkenntnisse über die Meeresumwelt – Verstärkte Überwachung der Fischerei – Investitionen in eine nachhaltigere und schonendere Ausrüstung – Förderung der örtlichen Wirtschaft.159 Für den Zeitraum ab 2020 soll sich der EMFF auf drei Ziele konzentrieren: die 152 Erhaltung gesunder Meere und Ozeane sowie eine nachhaltige Fischerei und Aquakultur, Förderung der blauen Wirtschaft und Stärkung der internationalen Meerespolitik und Sicherheit des Meeresraums.160 V. Weitere Fonds und Unterstützungsprogramme V. Weitere Fonds und Unterstützungsprogramme Neben den ESI gibt es spezielle Finanzierungsinstrumente, die einen Zusam- 153 menhang zur Kohäsionspolitik aufweisen. Dementsprechend ist die Generaldirektion Regionalpolitik größtenteils in ihre Verwaltung eingebunden. Zu den speziellen Finanzierungsinstrumenten zählen die Fazilität (JASPERS), das Instrument für die Heranführungshilfe (IPA), der Europäische Solidaritätsfonds (EUSF) und der Europäische Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (EGF). Im Gefüge der Kohäsionspolitik haben die speziellen Finanzierungsinstrumente eine ergänzende bzw unterstützende Funktion inne.

_____ 157 Vgl Europäische Kommission, https://ec.europa.eu/fisheries/cfp_de sowie die Homepage des BMEL, https://www.bmel.de/, dort „Fischerei in Europa“. 158 Ausführlicher BMEL, https://www.bmel.de, unter „Die Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik“. 159 Umfassend Europäische Kommission, Zusammenfassung der Gesetzgebung, Europäischer Meeres- und Fischereifonds (2014-2020), zugänglich auf der Datenbank EUR-lex (unter https://eurlex.europa.eu/) unter „Zusammenfassungen der EU-Gesetzgebung“. 160 COM(2018) 321, Annex S 65. Matthias Rossi

1386 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

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Während die ESI dem mehrjährigen Finanzrahmen unterliegen, werden EUSF und EGF nicht erfasst.161 Hiermit ermöglichen diese beiden Finanzierungsinstrumente eine größere Flexibilität, um auf unvorhergesehene Geschehnisse angemessen reagieren zu können. VI. Flankierung der Kohäsionspolitik durch die EIB VI. Flankierung der Kohäsionspolitik durch die EIB

155 Unterstützt und flankiert wird die Kohäsionspolitik durch die Europäische Investi-

tionsbank.162 Schon gemäß ihrer primärrechtlichen Aufgabenzuweisung in Art 309 AEUV obliegt es ihr „zu einer ausgewogenen und reibungslosen Entwicklung des Binnenmarkts im Interesse der Union beizutragen; hierbei bedient sie sich des Kapitalmarkts sowie ihrer eigenen Mittel. In diesem Sinne erleichtert sie ohne Verfolgung eines Erwerbszwecks durch Gewährung von Darlehen und Bürgschaften die Finanzierung der nachstehend bezeichneten Vorhaben in allen Wirtschaftszweigen: a) Vorhaben zur Erschließung der weniger entwickelten Gebiete; b) Vorhaben zur Modernisierung oder Umstellung von Unternehmen oder zur Schaffung neuer Arbeitsmöglichkeiten, die sich aus der Errichtung oder dem Funktionieren des Binnenmarkts ergeben und wegen ihres Umfangs oder ihrer Art mit den in den einzelnen Mitgliedstaaten vorhandenen Mitteln nicht vollständig finanziert werden können; c) Vorhaben von gemeinsamem Interesse für mehrere Mitgliedstaaten, die wegen ihres Umfangs oder ihrer Art mit den in den einzelnen Mitgliedstaaten vorhandenen Mitteln nicht vollständig finanziert werden können.“ Explizit ist ihr darüber hinaus die Aufgabe zugewiesen, die Finanzierung von Investitionsprogrammen zu erleichtern, in Verbindung mit der Unterstützung aus den Strukturfonds und anderen Finanzierungsinstrumenten der Union. Vorhaben zur Erschließung weniger entwickelter Gebiete können sich sowohl 156 auf eine Verbesserung der Infrastruktur als auch auf die Förderung ganzer Produktionszweige beziehen.163 Sie kamen bislang in erster Linie den wirtschaftlich schwachen Regionen in Süditalien, Griechenland, Irland, Korsika, Teilen Spaniens und Portugal zugute, weil in der Praxis zur Bestimmung des Entwicklungsstandes eines Gebiets stets an die Strukturfondsverordnungen angeknüpft wird. Entsprechend der

_____ 161 Vgl Europäische Kommission, Mehrjähriger Finanzrahmen 2014–2020 und EU-Haushalt 2014 in Zahlen, 2014, S 9. 162 Näheres unter http://www.eib.org/de/projects/sectors/regional-development/index.htm. 163 Ebenso Grabitz/Hilf/Nettesheim/Stoll/Rigod Art 309 AEUV Rn 22. Matthias Rossi

VI. Flankierung der Kohäsionspolitik durch die EIB | 1387

Ausrichtung auf das allgemeine Kohäsionsziel und die konkrete Kohäsionspolitik hat sich die Finanzierungstätigkeit vor allem in die mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten der Union und seit der Eurokrise verstärkt auch auf Griechenland, Portugal und Zypern verlagert. Die Finanzierung solcher Gebiete entspricht dem Sinn der EIB, die als Instrument eines gewissen bundesstaatlichen Finanzausgleichs zugunsten einer Entwicklung der „ärmeren Teile“ der Union gegründet worden ist.164 Vorhaben zur Modernisierung von Unternehmen und Schaffung von Arbeits- 157 plätzen können von der EIB nach Art 309 I lit b) AEUV nur mitfinanziert werden, wenn sie sich aus der „Errichtung oder dem Funktionieren des Binnenmarkts“ ergeben. Diese Formulierung stellt im Unterschied zu den Vorläuferregelungen klar, dass es sich nicht um eine zeitlich befristete, sondern um eine funktional ausgerichtete Finanzierungsvoraussetzung handelt. Maßgeblich ist der Begriff des Binnenmarktes iSv Art 26 II AEUV. Entscheidend ist bei volkswirtschaftlicher Betrachtung somit, ob und in welchem Ausmaß sich die wirtschaftlichen Bedingungen für Unternehmen durch die spezifischen Vorgaben des Binnenmarktes verändern. Insbesondere für die jüngsten Beitrittsstaaten „funktioniert“ der Binnenmarkt in der Praxis noch nicht reibungslos. Mag der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Beitritt zur Europäischen Union und den Bedürfnissen nach Vorhaben zur Modernisierung oder Umstellung von Unternehmen bzw zur Schaffung neuer Arbeitsplätze im Einzelfall auch nicht immer leicht nachzuweisen sein, sind strukturelle Änderungen doch grundsätzlich häufig auf die Wirkungen der Integration auf die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten zurückzuführen. Unter Vorhaben von gemeinsamem Interesse für mehrere Mitgliedstaaten 158 fallen nach den allgemeinen Richtlinien der EIB insbesondere solche Projekte, die zur Annäherung der Märkte und zur Integration der Volkswirtschaften beitragen können. Erfasst werden vor allem Maßnahmen in den „gemeinsamen Politiken“ der Union. Mit der Ausweitung dieser „gemeinsamen Politiken“ wird auch die Bedeutung der Kredite auf der Basis von Art 309 I 2 lit c) AEUV anwachsen.165 Als Beispiele seien neben Infrastrukturvorhaben auch Maßnahmen im Bereich des Umweltschutzes, der Energiepolitik, der (Hoch-)Technologie sowie der Bildungs- und Gesundheitspolitik genannt. In ihrem operativen Gesamtplan für 2017–2019 bekundet die EIB die Absicht, 159 zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung weiter an ihrem antizyklischen Kurs festzuhalten und sich auf die Bereiche Innovation und Kompetenz, Zugang kleinerer Unternehmen zu Finanzierungen, Klimaschutz und strategische Infra-

_____ 164 Vgl hierzu Calliess/Ruffert/Rossi Art 309 AEUV Rn 5, sowie EIB/AdR, „Wirkung für alle“, abrufbar auf der Website der EIB, http://www.eib.org. 165 Ähnlich Grabitz/Hilf/Nettesheim/Stoll/Rigod Art 309 AEUV Rn 25. Matthias Rossi

1388 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

struktur zu konzentrieren.166 Insbesondere die zu schwache und ungleich verteilte Investitionstätigkeit – trotz konjunktureller Erholung und vorhandener Liquidität – steht noch immer im Zeichen der (Finanz-)Krise. VII. Kohäsionspolitik und Beihilfenaufsicht VII. Kohäsionspolitik und Beihilfenaufsicht 160 Angesichts der nicht nur bewirkten, sondern gar intendierten Marktinterventio-

nen, die mit der Kohäsionspolitik einhergehen, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Kohäsionspolitik auf der einen Seite und dem Beihilferegime auf der anderen Seite. Denn auf den ersten Blick mag es widersinnig erscheinen, den Mitgliedstaaten jede auch nur potentielle Wettbewerbsverfälschung durch Beihilfen zu untersagen, sie sodann aber auf europäischer Ebene in Gestalt der Kohäsionspolitik nicht nur zuzulassen, sondern gar zu fördern. Das wirtschaftliche Leitbild der EU scheint hier widersprüchlich zu sein. In der Tat entspricht es zunächst der fiskalpolitischen Eigenverantwortlich161 keit der Mitgliedstaaten, dass das Zusammenwachsen der Märkte nach der Grundkonzeption der europäischen Integration liberalen Regeln überlassen ist. Es sind vor allen Dingen die Marktfreiheiten sowie die sekundäre Gesetzgebung, die zu einem Binnenmarkt beitragen sollen. Diese Grundausrichtung auf die Wirkmechanismen des freien Wettbewerbs dürfen durch die kohäsionspolitischen Maßnahmen nicht unterlaufen werden. Sie sind deshalb grundsätzlich nur dort zulässig, aber auch geboten, wo die zum Teil national geschützten Märkte unter den europarechtlichen Bedingungen verstärkten Wettbewerbsvorgaben ausgesetzt sind und etwa die Voraussetzung für eine Teilnahme am Marktwettbewerb erst geschaffen werden müssen. Dies mag vor allen Dingen in geografischen Randlagen und/oder bei unzureichender Infrastruktur der Fall sein. Bei solchen strukturellen Schwächen greift die Kohäsionspolitik, die den marktwirtschaftlichen Prozess abmildern oder ergänzen kann.167 Über die Vereinbarkeit einzelner kohäsionspolitischer Maßnahmen mit dem 162 Beihilferegime ist damit noch nichts ausgesagt. Die Wettbewerbsverfälschung – oder genauer: die Möglichkeit der Wettbewerbsverfälschung – tritt jedenfalls unabhängig davon ein, ob die finanzielle Unterstützung ausschließlich von einem Mitgliedstaat oder auch von der EU ausgeht.168 Allerdings bezieht sich das Beihilfeverbot des Art 107 I AEUV explizit nur auf 163 „staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen“. Folglich findet das

_____ 166 S EIB, Operativer Gesamtplan 2017-2019, abrufbar auf der Website der EIB, http://www.eib.org; ferner Investitionsüberblick bei EIB, Tätigkeitsbericht 2017, S 7, abrufbar auf der Website der EIB. 167 Vgl Ohler S 409. 168 So auch Immenga/Mestmäcker/Mestmäcker/Schweitzer Band 3, 1. Teil, I A Rn 45. Matthias Rossi

VII. Kohäsionspolitik und Beihilfenaufsicht | 1389

Beihilfenregime der Art 107 ff AEUV ausschließlich auf mitgliedstaatliche Beihilfen, nicht aber auf Unionsbeihilfen Anwendung.169 Für die finanziellen Zuwendungen aus den ESI-Fonds ist damit aber noch kein beihilferechtlicher Freibrief erteilt. Denn erstens haben Unionsbeihilfen einen allgemeinen Grundsatz des Verbots von Wettbewerbsverfälschungen zu beachten.170 Und zweitens ist umstritten, welche Maßnahmen überhaupt vom Begriff der Unionsbeihilfe erfasst werden. Sicher erfasst werden unionsunmittelbare Förderungen,171 also „Leistungen, die unmittelbar bei Unionsdienststellen beantragt, von dort nach Unionsvorschriften bewilligt und nur aus dem Unionshaushalt gespeist werden“.172 Sind hingegen die Mitgliedstaaten in den Vollzug der Förderung eingebunden, ist zu differenzieren, ob es sich um eine Unions- oder mitgliedstaatliche Beihilfe handelt. Dementsprechend bereitet die Qualifizierung gerade im Hinblick auf die Strukturpolitik Schwierigkeiten. Der EuGH hat zu dieser Problematik bislang nicht ausdrücklich Stellung bezo- 164 gen,173 allerdings hat er in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass eine Beihilfe iSv Art 107 I AEUV vorliegt, wenn „alle in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen erfüllt sind“.174 Diese Kriterien können zur (negativen) Abgrenzung von Unionsbeihilfen und mitgliedstaatlichen Beihilfen beitragen. Danach ist für Unionsbeihilfen kennzeichnend, dass die EU über die „Programmhoheit“ verfügt und eine (Mit-)Finanzierung aus EU-Mitteln erfolgt.175 MaW ist maßgeblich, welche Instanz die „verbindliche Entscheidung“ über die Förderung fällt:176 – „Liegt diese Entscheidung bei Unionsstellen oder hat der Mitgliedstaat bei Vorliegen der unionsrechtlich gesetzten Tatbestandsvoraussetzungen keinen Entscheidungsspielraum, handelt es sich um eine Unionsbeihilfe. Die Finanzierung erfolgt dann auch aus Unionsmitteln.“ – „Hat der Mitgliedstaat hingegen ein Entscheidungsermessen und/oder setzt er sogar selbst die Tatbestandsvoraussetzungen oder Teile davon, liegt eine staat-

_____ 169 So die hA: Schwarze/Bär-Bouyssière Art 107 AEUV Rn 6; Calliess/Ruffert/Cremer Art 107 AEUV Rn 82; Immenga/Mestmäcker/Mestmäcker/Schweitzer Band 3, 1. Teil, I A Rn 44. 170 Ausführlich Immenga/Mestmäcker/Mestmäcker/Schweitzer Band 3, 1. Teil, I A Rn 51 ff; Calliess/Ruffert/Cremer Art 107 AEUV Rn 82; differenzierend Birnstiel/Bungenberg/Heinrich/Petzold Kapitel 4 Rn 17 ff. 171 Schwarze/Bär-Bouyssière Art 107 AEUV Rn 6. 172 Birnstiel/Bungenberg/Heinrich/Petzold Kapitel 4 Rn 6; Immenga/Mestmäcker/Mestmäcker/ Schweitzer Band 3, 1. Teil, I A Rn 44. 173 Birnstiel/Bungenberg/Heinrich/Petzold Kapitel 4 Rn 4. 174 EuGH, Rs C-341/06 – Chronoposte und La Poste / UFEX ua, Rn 121 f. 175 Dauses/Ludwigs/Götz H III Rn 58 spricht von "Zurechnung" und "Mittelbelastung". 176 Birnstiel/Bungenberg/Heinrich/Petzold Kapitel 4 Rn 16; Immenga/Mestmäcker/Mestmäcker/ Schweitzer Band 3, 1. Teil, I A Rn 44, 46. Matthias Rossi

1390 | § 16 Die Kohäsionspolitik der Union

liche Beihilfe vor,[177] auch wenn sie ganz oder teilweise aus Mitteln gewährt wird, die dem Staat von der Union zur Verfügung gestellt wurden.“178 165 Für die Anwendbarkeit der Art 107 ff AEUV sprechen auch verschiedene Aspekte

der Allgemeinen Verordnung. Zwar kann die allgemeine Rechtsbindungsklausel des Art 6, nach der „die aus den ESI geförderten Vorhaben dem Unionsrecht und dem in Bezug auf dessen Umsetzung einschlägigen nationalen Recht entsprechen“ müssen, nicht fruchtbar gemacht werden. Denn sie beantwortet nicht, ob das Beihilferegime anwendbar ist oder nicht. Doch wird diese Auffassung durch die Erwägungsgründe Nr 36, 38, 58 und 64 der Allgemeinen Verordnung gestützt. Vor allem aber verlangt Art 37 der Allgemeinen Verordnung (in Bezug auf Dachfonds), dass die eingesetzten Finanzinstrumente „dem geltenden Recht – insbesondere in Bezug auf staatliche Beihilfen und Vergabe öffentlicher Aufträge – genügen.“ Ferner wird den Grundsätzen des Art 81 der VO 1305/2013 (ELER) allgemeine Bedeutung zugemessen, nach dem die Art 107–109 AEUV keine Anwendung auf Zahlungen finden, die von den Mitgliedstaaten gemäß und im Einklang mit der ELER-VO getätigt werden.179 Insofern ist von einer grundsätzlichen Anwendbarkeit des Beihilferegimes auf finanzielle Zuwendungen mit Unterstützung aus ESI-Fonds auszugehen. In der Praxis wird die Anwendbarkeit freilich nur zu modifizierten Verfahren 166 und Ergebnissen führen. Denn gerade weil die Allgemeine Verordnung eine antizipierte Prüfung hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Beihilferegime vorschreibt, sollte die Kommission eine Kofinanzierung nur für beihilferechtlich unbedenkliche Programme freigeben. Immerhin sehen Art 107 II lit b), c), und III lit a), c) AEUV Ausnahmen vom grundsätzlichen Beihilfeverbot vor, die sich zT mit den Zielsetzungen der Strukturpolitik decken.180 Formaliter sind entsprechende Zuwendungen aber auch dann, wenn sie von der EU kofinanziert werden, gegenüber der Kommission zu notifizieren und bedürfen ggf der Genehmigung. Der Umstand, dass die GD Regionalpolitik und Stadtentwicklung einer Kofinanzierung zugestimmt hat, befreit gegenüber der GD Wettbewerb jedenfalls nicht von einer Notifizierungs- und etwaigen Genehmigungspflicht.

_____ 177 „Im Ergebnis entscheidet also der Mitgliedstaat […] über die Rahmenbedingungen (OP), die Tatbestandsvoraussetzungen (Förderrichtlinie) und die individuelle Gewährung […] einer Beihilfe und damit über Art, Anlass und Ausmaß der Beeinflussung des Wettbewerbs“ (Birnstiel/ Bungenberg/Heinrich/Petzold Kapitel 4 Rn 13); s a Dauses/Ludwigs/Götz H III Rn 58; Grabitz/Hilf/ Nettesheim/vWallenberg/Schütte Art 107 AEUV Rn 128. 178 Birnstiel/Bungenberg/Heinrich/Petzold Kapitel 4 Rn 16. 179 So Immenga/Mestmäcker/Mestmäcker/Schweitzer Band 3, 1. Teil, I A Rn 47. 180 Vertiefend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Kern/C. Eggers Art 175 AEUV Rn 10. Matthias Rossi

§ 17 Die Gemeinsame Agrar- und Fischereipolitik der Union | 1391

José Martinez

§ 17 Die Gemeinsame Agrar- und Fischereipolitik der Union § 17 Die Gemeinsame Agrar- und Fischereipolitik der Union José Martinez § 17 Die Gemeinsame Agrar- und Fischereipolitik der Union https://doi.org/10.1515/9783110498349-017

Gliederungsübersicht I. Die Bedeutung der Landwirtschaft und der Fischerei in der EU 1. Ökonomische Bedeutung 2. Ökologische Bedeutung 3. Regionalpolitische Bedeutung 4. Kulturelle Bedeutung II. Der Anwendungsbereich der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) und der Gemeinsamen Fischereipolitik (GFP) 1. Europäische Landwirtschaft 2. Europäische Fischerei 3. Annexbereiche a) Lebensmittelsicherheit b) Tierschutz c) Grüne Gentechnik III. Die Entwicklung der GAP 1. Die Gründungsjahre 2. Die Krise der GAP in den 1980er Jahren 3. Die MacSharry-Reform von 1992 4. Die Agenda 2000 5. Die Fischler-Reform 2003 6. „Gesundheitscheck" 2008 7. Die GAP-Reform 2013 8. Ausblick auf die GAP-Reform 2020 IV. Wirtschaftsvölkerrechtlicher Rahmen 1. GAP und WTO-Recht 2. Bilaterales Außenwirtschaftsrecht V. Kompetenzverteilung 1. Vertikale Kompetenzverteilung 2. Horizontale Kompetenzverteilung VI. Die Ziele der GAP 1. Die primärrechtlichen Ziele der GAP 2. Wertung 3. Die Grundsätze der GAP VII. Die Säulen der GAP 1. Gemeinsame Marktorganisation a) Allgemeines b) Handelsinterventionen c) Preisunterstützung durch Intervention d) Unterstützung privater Lagerhaltung e) Subventionen zur Förderung des internen Verbrauchs f) Instrumente der EU zur Einkommensstützung g) Die Auswirkungen des Greening der GAP 2013 aa) Grünlandumbruchverbot

José Martinez https://doi.org/10.1515/9783110498349-017

Rn 1 3 6 9 10 11 12 14 17 17 19 20 21 23 26 29 30 33 34 35 38 39 39 46 47 47 52 54 54 62 66 71 72 72 84 86 87 88 89 94 97

1392 | § 17 Die Gemeinsame Agrar- und Fischereipolitik der Union

VIII.

IX. X. XI. XII.

bb) Diversifizierung der Anbaukulturen cc) Ökologische Vorrangflächen 2. Die Entwicklung des ländlichen Raumes 3. Harmonisierung von Rechtsvorschriften Das Verhältnis der GAP zu anderen EU-Politiken 1. Verhältnis zum Binnenmarkt 2. Verhältnis zum Wettbewerbsrecht 3. Verhältnis zum Umweltschutz 4. Verhältnis zur Energiepolitik Die Gemeinsame Fischereipolitik (GFP) Kontrolle Rechtsschutz: Strukturelle Besonderheiten Ausblick

98 101 102 110 111 111 114 118 121 122 130 133 134

Spezialschrifttum Belger, Guido Das Agrarbeihilfenrecht, 2012; Bremer, Taalkea Die rechtliche Gestaltung des Agrarstrukturwandels, 2018; CEDR (Hrsg), CAP reform: market organisation and rural areas: legal framework and implementation 2017; Härtel, Ines (Hrsg) Nachhaltige Ernährungssicherung und die europäische Agrarpolitik, 2016; Holzer, Gottfried Agrarrecht, 4. Aufl, 2018; Martinez, José (Hrsg) Die Gemeinsame Agrarpolitik vor neuen Herausforderungen, 2012; Martinez, José Die Gemeinsame Agrarpolitik der EU als Teil des Binnenmarktes, in: Współczesne problemy prawa rolnego i cywilnego – Księga jubileuszowa [Festschrift] Profesor Teresy Kurowskiej, 2018, S 341–354; Norer, Roland Lebendiges Agrarrecht, 2005; Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim BMEL Für eine gemeinwohlorientierte Gemeinsame Agrarpolitik der EU nach 2020, 2018. Leitentscheidungen des EuGH Rs 5/67 – Beus; Rs 77/72 – Capolongo; Rs 185/73 – König; Rs 3/76 – Kramer, verb Rs 80/77 und 81/77 – Ramel; Rs 125/77 – Scholten-Honig; Rs 804/79 – Seefischerei-Erhaltungsmaßnahmen; Rs 138/79 – Quotenregelung für Zucker und Isoglukose; Rs 68/86 – Hormone; Rs C-269/97 – Rinderkennzeichnung; Rs C-336/00 – Huber; Rs C-210/00 – Hofmeister; Rs C-452/01 – Ospelt; C 241/01 – National Farmers‘ Union; Rs C-59/11– Kokopelli/Baumaux; Rs C-671/15