Europa und der Stier oder der Brautraub des Zeus: Die Entführung Europas in den Darstellungen der griechischen und römischen Antike [1 ed.] 9783666208720, 9783525208724

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Europa und der Stier oder der Brautraub des Zeus: Die Entführung Europas in den Darstellungen der griechischen und römischen Antike [1 ed.]
 9783666208720, 9783525208724

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Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben

Herausgegeben von Sabine Föllinger, Dorothea Frede, Hans-Joachim Gehrke, Karla Pollmann, Christiane Reitz, Christoph Riedweg, Tanja Scheer, Gisela Striker Band 204

Vandenhoeck & Ruprecht

Konrad Heldmann

Europa und der Stier oder der Brautraub des Zeus Die Entführung Europas in den Darstellungen der griechischen und römischen Antike

Vandenhoeck & Ruprecht

Verantwortlicher Herausgeber: Christoph Riedweg

Mit 7 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 0085-1671 ISBN 978-3-666-20872-0 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Europa auf dem Stier, festlich als Braut geschmückt. Attisch-weißgrundige Schale (um 470 v. Chr.). A. B. Cook, Zeus. A Study in Ancient Religion I (Cambridge 1914), Taf. 32. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Voraussetzungen und Kontext: Die Liebesleidenschaft des Götterkönigs und die Kränkungen Heras . . . . . . . . . . . . . . 13 1.1 Zeus, Aphrodite und Hera in der älteren Dichtung . . . . . . . . . 13 1.2 furtum vs. »adulterium«: Typologie und Strukturelemente . . . . 19 1.3 Die Verwandlungen des Zeus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.4 Zorn und Rache Heras . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2. Der Brautraub in der Antike und im antiken Mythos . . . . . . . . . . 38 2.1 Entführte Frauen und geraubte Bräute: Regeln und Regelverstöße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.2 Der Brautraub im Mythos: Proserpina und andere Fälle . . . . . . 43 3. Die Entführung Europas als Brautraub des Zeus . . . . . . . . . . . . . 56 3.1 Die archäologischen und literarischen Zeugnisse aus der Zeit vor dem Hellenismus und die Struktur der Europa-Erzählung . . 56 3.2 Zeus und Europa in der hellenistischen Dichtung: Das Epyllion des Moschos und die Vulgata . . . . . . . . . . . . . 84 3.3 Exkurs: Europa und Ariadne. Variationen eines Erzählmusters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

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Inhalt

3.4 Die Europa-Ode des Horaz (c. 3,27) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3.4.1 Die Konzeption des Gedichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3.4.2 Die Galatea-Strophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 3.4.3 Die Europa-Strophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 4. Europa in Ovids Metamorphosen (met. 2,836–3,9): Ein Brautraub nur aus Liebeslust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 5. Europa in den Dionysiaka des Nonnos: Eine Theogamie des Zeus unter den Augen Heras . . . . . . . . . . . . 182 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 1. Textausgaben, Übersetzungen und Kommentare . . . . . . . . . . 210 2. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Indizes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 1. Index nominum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 2. Index auctorum et locorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

Vorwort

Kein anderes Bildmotiv aus der Welt der Antike ist auch in einer breiteren Öffentlichkeit so präsent wie Europa auf dem Stier. Jeder erkennt auf den ersten Blick, dass die weibliche Gestalt den Kontinent Europa repräsentiert, auch wenn er nicht weiß, was es mit dem Stier auf sich hat, auf dessen Rücken sie sitzt. Das ist wohl der Hauptgrund dafür, dass das Motiv in der politischen Karikatur so überaus beliebt ist. Wer sich jedoch mit Hilfe der einschlägigen Handbücher kundig zu machen versucht, wird dort mehr Informationen finden, als er benötigt, und er wird deshalb kaum mit der Möglichkeit rechnen, dass die antiken Erzähler und ihre Leser die Geschichte von der Entführung Europas in einem entscheidenden Punkt ganz anders verstanden haben, als es in der modernen wissenschaftlichen Literatur dargestellt wird. Genau das ist jedoch der Fall, und dies vorzuführen ist der Sinn und die Absicht der vorliegenden Untersuchung. Zu danken habe ich den Herausgebern der Hypomnemata für die Aufnahme dieser Arbeit in ihre Reihe und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für einen großzügigen Druckkostenzuschuss. Mein persönlicher Dank gilt Joachim Dingel für seine aufopferungsvolle Lektüre des Typoskripts und wertvolle Hinweise; ganz besonders aber Joachim Raeder, der mir, wie schon so oft in den letzten fünfundzwanzig Jahren, mit seinem archäologischen Rat immer wieder selbstlos weiterzuhelfen bereit war. Gewidmet ist dieses Buch meinen Enkelkindern und ihrer Zukunft in einem sich auf sich selbst besinnenden Europa. Kiel, im Januar 2016

Konrad Heldmann

Einleitung

Unter den Erzählungen von den Liebschaften der Götter, die in der Antike seit ältester Zeit in Umlauf waren und die seit Homer von den Dichtern immer wieder neu gestaltet wurden, nahmen die über Zeus nach Zahl und Prominenz eine Sonderstellung ein, ganz so, wie es seinem Rang als Göttervater entsprach. Ein vorzügliches Beispiel dafür ist der Mythos von der Entführung Europas, um den es in dieser Abhandlung gehen soll. Er ist eines der ältesten Sujets der antiken Dichtung überhaupt und handelt davon, wie Zeus in Liebe zu der phönizischen Königstochter entbrennt, wie er ihr in der Gestalt eines Stiers erscheint, als sie zusammen mit ihren Freundinnen auf einer Wiese Blumen pflückt, und wie er mit ihr, sobald sie auf seinen Rücken gestiegen ist, übers Meer bis nach Kreta schwimmt, um sich dort mit ihr zu vereinigen. In der gesamten Neuzeit und bis in unsere Gegenwart hinein hat man es immer für selbstverständlich gehalten, dass dieser Mythos als eines der zahlreichen Liebesabenteuer zu verstehen sei, mit denen Zeus seine Gattin Hera betrogen habe. Hier dagegen soll der Nachweis geführt werden, dass der Europa-­Mythos in der Antike als ein Brautraub mit dem Ziel einer Eheschließung galt, aus der mehrere Kinder hervorgingen, dass man sich Zeus also bei der Entführung Europas nicht als verheiratet vorgestellt hat. Ein frivoles Liebesabenteuer hat erst Ovid in seinen Metamorphosen daraus gemacht, aber eine Gattin, die der Göttervater hätte betrügen können, gibt es auch dort noch nicht. Auf den ersten Blick erscheint es unbegreiflich, dass die neuzeitlichen Leser, die professionellen eingeschlossen, Ovids Europa-Erzählung ohne jeden Anhaltspunkt im Text für eine Ehebruchsgeschichte gehalten haben. Noch erstaunlicher aber ist die Beobachtung, dass die Gelehrten diese dem Meta­ morphosen-Dichter zu Unrecht unterstellte Lesart auch auf alle früheren Europa-Erzählungen der Antike appliziert und zum Deutungsmuster schlechthin gemacht haben. Es lassen sich dafür aber durchaus Gründe angeben. Der Europa-Mythos gehört zu den Geschichten, die man sich über die Macht der Liebesgöttin und darüber erzählte, dass ihr nicht nur die Sterblichen, sondern auch alle Unsterblichen und selbst Zeus ausgeliefert seien. Wenn wir diesen Geschichten entnehmen, dass Zeus sich ohne Rücksicht darauf, ob er verheiratet ist oder nicht, seiner Liebesleidenschaft hingibt, dann entspricht das durchaus dem Bild des notorisch verliebten Göttervaters, das sich schon in der Antike zum Stereotyp verfestigt hat. Indessen hat die Forschung daraus geschlossen, dass die Unterscheidung zwischen den Liebschaften des verheirateten und denen des unverheirateten Zeus auch für die Erzähler und ihre Leser keine

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Einleitung

besondere Bedeutung gehabt hätte, und damit hat sie sich auf einen Irrweg begeben. Für die Antike war diese Unterscheidung nämlich ganz einfach deshalb grundlegend, weil die Geschichte in dem einen Fall mit der Erfüllung der Liebessehnsucht ihr natürliches Ende fand, während in dem anderen Fall eine Gattin betroffen war und reagieren konnte. Folglich gab es hier zwei Erzähltypen mit völlig unterschiedlichen Handlungsstrukturen, und wer das ignoriert, kann auch der Geschichte von der Liebe des Zeus zu Europa nicht gerecht werden. Der zweite Grund für das Missverständnis dieser Erzählung liegt offensichtlich darin, dass Ovid den grundlegenden Unterschied zwischen einem Braut­ raub des unverheirateten Götterkönigs und seinen frivolen Liebesaffären mit äußerstem Raffinement überspielt und, ohne den Hergang zu ändern, suggeriert hat, dass Jupiter auch bei seinem Brautraub nichts anderes als die Befriedigung seiner Liebeslust im Sinne gehabt habe. Für den zeitgenössischen Leser, der die Geschichte aus zahlreichen anderen Erzählungen kannte, lag gerade darin ein besonderer Reiz. Der heutige Leser dagegen befindet sich in einer völlig anderen Lage, weil diese älteren Erzählungen fast alle verloren sind, so dass ihm die eigentliche Bedeutung der Geschichte nicht mehr bewusst ist. Deshalb ist er allzu leicht geneigt, die Metamorphosen-Erzählung als ein typisches Beispiel für Jupiters Liebesaffären zu verstehen und das von Ovid insinuierte Bild des lüsternen Jupiters unwillkürlich zum Stereotyp des seine Gattin betrügenden Göttervaters zu ergänzen. Nicht ganz so einfach zu erklären ist die Selbstverständlichkeit, mit der die gelehrten Ovid-Leser der Neuzeit dieses Bild auch auf die älteren Erzählungen über die Entführung Europas übertragen haben. Wenn man jedoch bedenkt, dass der Ruhm dieser Geschichte seit dem Ende der Antike ausschließlich auf der Version Ovids beruht, dann kann man darin ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die Faszination erkennen, die von der Erzählkunst der Metamorphosen zu allen Zeiten ausgegangen ist. Freilich ist das neuzeitliche Missverständnis der Europa-Geschichte auch dadurch erleichtert worden, dass ihre Deutung mehr noch als in anderen Fällen vom Vorverständnis der Erzählungen von der Liebe des Göttervaters und der anderen Götter zu sterblichen Frauen abhängt und die Vorstellungen, die dieses Vorverständnis konstituieren, dem heutigen Leser auch grundsätzlich schwer zugänglich sind. Deshalb müssen wir zunächst diese Vorstellungen skizzieren und darüber hinaus auch den strukturellen Unterschied beschreiben, durch den sich die beiden Erzähltypen auszeichnen, je nachdem ob man sich Zeus bei einer Liebesbeziehung als verheiratet vorgestellt hat oder nicht. Zweitens müssen wir vorab in aller Kürze die Merkmale nennen, durch die sich ein Brautraub in der Antike auszeichnet, und die Beispiele für einen Brautraub in der antiken Mythologie heranziehen, die als Folie für das Verständnis der Europa-Erzählung in Betracht kommen. Unsere Hauptaufgabe aber wird es sein, die Europa-Erzählungen, die in dem Zeitraum von Hesiod bis Horaz verfasst worden sind, aus der Perspektive eines

Einleitung

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Lesers zu untersuchen, der die Version Ovids noch nicht gekannt hat. Am Anfang müssen die archäologischen Denkmäler und die frühesten literarischen Behandlungen bei Hesiod und bei Aischylos stehen; im Anschluss daran haben wir uns der ersten vollständig erhaltenen Europa-Erzählung des Moschos und der hellenistischen Dichtung zuzuwenden, um dann schließlich die EuropaOde des Horaz zu analysieren, für die sich dadurch erstmals die Chance einer plausiblen Erklärung ergibt. Danach werden wir in der Lage sein, die narratologischen Mittel, mit denen Ovid der berühmten Geschichte einen anderen Sinn gegeben hat, genauer zu erkennen und zu benennen. Unser letzter Blick gilt dem spätantiken Epiker Nonnos, in dessen Dionysiaka die Entführung Europas zum ersten und einzigen Male in der Antike zu einer Liebesaffäre des verheirateten Zeus geworden ist.

1. Voraussetzungen und Kontext: Die Liebesleidenschaft des Götterkönigs und die Kränkungen Heras

1.1 Zeus, Aphrodite und Hera in der älteren Dichtung Zum ersten Male begegnet uns Europa in der Rede des Zeus, die dem ἱερὸς γάμος im vierzehnten Buch der Ilias vorausgeht. Dort versucht Hera, die im Trojanischen Krieg ihre eigenen Ziele verfolgt, den Göttervater durch eine List außer Gefecht zu setzen. Sie verschafft sich den Zaubergürtel der Aphrodite, und sie hat Erfolg damit: Zeus wird von einem so starken Liebesverlangen ergriffen, dass er an nichts anderes mehr zu denken vermag als daran, sich augenblicklich mit ihr zu vereinigen. Damit seine Gattin aber nicht daran zweifelt, wie sehr er sie begehrt, zählt er ihr all die Frauen auf, zu denen er früher schon einmal in heftiger Liebe entbrannt gewesen sei, zu keiner jedoch so sehr wie jetzt zu ihr: οὐ γάρ πώ ποτέ μ’ὧδε θεᾶς ἔρος οὐδὲ γυναικὸς θυμὸν ἐνὶ σθήτεσσι περιπροχυθεὶς ἐδάμασσεν, οὐδ’ ὁπότ’ ἠρασάμην Ἰξιονίης ἁλόχοιο, ἣ τέκε Πειρίθοον, θεόφιν μήστωρ’ ἀτάλαντον· οὐδ’ ὅτε περ Δανάης καλλισφύρου Ἀκρισιώνης, ἣ τέκε Περσῆα, πάντων ἀριδείκετον ἀνδρῶν· οὐδ’ ὅτε Φοίνικος κούρης τηλεκλειτοῖο, ἣ τέκε μοι Μίνων τε καὶ ἀντίθεον Ῥαδάμανθυν· οὐδ’ ὅτε περ Σεμέλης οὐδ’Ἀλκμήνης ἐνὶ Θήβῃ, ἥ ῥ’ Ἡρακλῆα κρατερόφρονα γείνατο παῖδα· ἡ δὲ Διώνυσον Σεμέλη τέκε, χάρμα βροτοῖσιν· οὐδ’ ὅτε Δήμητρος καλλιπλοκάμοιο ἀνάσσης, οὐδ’ ὁπότε Λητοῦς ἐρικυδέος, οὐδὲ σεῦ αὐτῆς, ὡς σέο νῦν ἔραμαι καί με γλυκὺς ἵμερος αἱρεῖ.1

1 Hom. Il. 14, 315–328: »Nie noch hat Liebesverlangen nach einer Frau oder Göttin / so das Gemüt in der Brust mir durchströmt und das Herz mir bezwungen,/ nicht als ich zu Ixions Gemahlin [= Dia] in Liebe entbrannt war;/ die gebar den Peirithoos, gleichend den Göttern an Einsicht;/ noch als ich Danaë liebte, Akrisios’ Tochter mit schönen/ Knöcheln, die Perseus gebar, den erlesensten unter den Männern;/ nicht als des Phoinix Tochter, des weitberühmten [= Europa], ich liebte,/ die Rhadamanthys gebar, den göttergleichen, und Minos;/ noch als Semele einst, noch auch, als Alkmene in Theben,/ die den mutigen Herakles mir als

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Voraussetzungen und Kontext

Dass diese Verse zu den Belegen für die außergewöhnliche Liebesleidenschaft des Göttervaters gehören, die seit ältester Zeit als charakteristisch für ihn galt und die sich auch in der großen Zahl seiner Geliebten widerspiegelt,2 ist unbestreitbar. Das Gegenmodell dazu bildet die Aufzählung der Ehen des Zeus im engeren Sinn in Hesiods Theogonie,3 in der es gerade nicht um sexuelles Begehren geht und die sich deshalb dazu wie die Ausnahme zur Regel verhält.4 Indessen wird auch bei Homer keineswegs ein Chaos der Leidenschaft abgebildet, sondern der Aufzählung der Liebschaften liegt ein klares Gestaltungsprinzip zugrunde, in dem sich ihre Deutung manifestiert. Zeus nennt zuerst nur sterbliche Geliebte (Dia, Danaë, Europa, Semele und Alkmene), aber er charakterisiert sie, indem er die Söhne rühmt, die er mit ihnen gezeugt hat, nämlich göttergleiche Helden (Peirithoos, Perseus, Minos und Rhadamanthys, Herakles), ja sogar einen Gott (Dionysos). Durch die großartigen Nachkommen also sind auch die Liebesbeziehungen des Zeus mit sterblichen Frauen der Erinnerung wert.5 Deshalb ist es nur folgerichtig, dass die Nachkommen der beiden unsterblichen Geliebten Demeter und Leto, die in der antiken Überlieferung als Zeusgattinnen galten, nicht erwähnt werden. Gleichwohl hat man an dem Götterbild, das uns hier zum ersten Mal in dieser Weise begegnet, bekanntlich schon früh Anstoß genommen. Die Kritik entzündete sich freilich allein an der Unterwerfung unter sexuelle Leidenschaften, die mit der Würde eines Götterkönigs nicht vereinbar sei,6 und nicht etwa daran, dass Zeus so ungeniert zu seiner eigenen Gattin über seine Liebschaften mit anderen Frauen spricht. Für die Kritiker war es zweitrangig, ob Zeus Sohn hat geboren;/ Semele aber gebar Dionysos, Wonne der Menschen;/ noch auch, als ich Demeter, die Herrin mit herrlichen Flechten,/ noch die gepriesene Leto liebte, noch auch dich selber,/ so wie ich nun dich liebe und süßes Verlangen mich ankommt.« (Übersetzung nach Hampe). Bei den späteren Autoren gilt Europa in der Regel nicht als Tochter des Phoinix, sondern des Agenor; detaillierter zur genealogischen Überlieferung Edwards 1979, 23–28. 2 In der späten Mythographie hat man nachgerechnet und ist auf eine Gesamtzahl von 115 Frauen gekommen, die Zeus geliebt haben soll (vgl. Burkert 2011, 202). 3 Hes. theog. 886–923; die Gattinnen sind Metis, Themis, Eurynome, Demeter, Mnemosyne, Leto und Hera. 4 Vgl. dazu Snell 1986, 85 ff. und insbesondere Schmidt 1985, 77: »gerade die leidenschaftlichsten Beziehungen, die zumindest Zeus in der Ilias zuerst in den Sinn gekommen waren, nämlich die mit Danaë oder Europa oder Semele, sind hier völlig in den Hintergrund gedrängt«. 5 Geläufiger ist uns die umgekehrte Perspektive, nämlich die der zahlreichen »Geschlechter und Stämme, die alle in gleicher Weise vom Himmelsvater abstammen« und deshalb die eigene Abkunft vom Götterkönig genealogisch nachweisen wollten, mit der Folge, dass auch zahlreiche andere Geliebte als ›Zeusgattinnen‹ bezeichnet werden konnten (Burkert 2011, 202). Vgl. auch Graf 1994, 38 f. und Hirschberger 2004, 74. 6 Deshalb hat Aristophanes von Byzanz, der Homer ein solches Götterbild nicht zutraute, die Verse, in denen Zeus seiner Gattin seine früheren Liebschaften vorträgt (Il. 14, 317–327), athetiert.

Zeus, Aphrodite und Hera in der älteren Dichtung

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sich in der Zeit seiner Ehe – und damit war seine ›letzte‹ Ehe, also die mit Hera, gemeint – oder ob er sich zu einer unbestimmten anderen Zeit in eine dieser Frauen verliebt haben sollte, ganz so, wie eine solche Unterscheidung irrelevant gewesen war, als man dieses Götterbild noch als selbstverständlich akzeptiert hatte.7 Auch als die Liebschaften des Zeus nicht mehr nur einfach aufgezählt, sondern je für sich von den Dichtern ausführlich erzählt wurden, änderte sich an dieser Perspektive lange Zeit hindurch nichts, und wir können die Anschauungen über das Verhältnis der beiden Gatten zueinander folgendermaßen zusammenfassen: Weder nimmt Hera es ihrem Gatten übel, dass er sich in andere Frauen verliebt, noch bemüht Zeus sich, seine Liebschaften vor Hera zu verbergen (und das gilt, wie noch zu zeigen sein wird, im Prinzip nicht nur für die Frühzeit, sondern für die gesamte Antike). Vorzügliche Belege dafür finden sich in den Homerischen Hymnen. In den ersten Versen des Homerischen Aphroditehymnus heißt es, dass die Liebesgöttin ihre Macht nach Lust und Laune auch über Zeus ausübe, obwohl er doch der Größte (μέγιστος) und am höchsten Geehrte sei: καί τε τοῦ εὖτ’ ἐθέλῃ πυκινὰς φρένας ἐξαπαφοῦσα ῥηϊδίως συνέμειξε καταθνητῇσι γυναιξίν, ῞Ηρης ἐκλελαθοῦσα κασιγνήτης ἀλόχου τε, ἣ μέγα εἶδος ἀρίστη ἐν ἀθανάτῃσι θεῇσι.8

Der verliebte Zeus vergisst sogar seine Hera: Das ist der beste aller denkbaren Beweise für die schier unbegrenzte Macht Aphrodites, aber es ist nur deshalb ein so guter Beweis, weil keine der Frauen, in die Zeus sich verliebt, sich auch nur von fern mit Hera messen könnte. Die Pointe ist dieselbe wie in der Rede, mit der Zeus in der Ilias zu seiner Gattin über seine früheren Liebschaften spricht, nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Dort ist Zeus durch den Zaubergürtel der Aphrodite von einem so großen Liebesverlangen nach Hera ergriffen worden wie bei keiner anderen von all den Frauen, die er früher schon geliebt hat, hier bringt Aphrodite ihn dazu, sogar sterbliche Frauen so leidenschaftlich zu begehren, dass er darüber seine Gattin Hera vergisst, der doch keine andere unter den Göttinnen gleichkommt. Die Vermutung, dass Zeus solche Liebschaften vor Hera verbergen wollte und dabei von Aphrodite unterstützt würde, ist weder mit dem Wortlaut noch mit dem Sinn des Textes vereinbar und allein den

7 Dazu Burkert 2011, 202: »In der archaischen Welt reicht keine moralisierende Kritik an solch göttliches Verhalten heran, auch wenn man Heras Eifersucht versteht und schrecklich ausmalt.« 8 [Hom.] h. Ven. 38–41: »Wann immer sie wollte, betörte sie sein starkes Herz und brachte ihn mit sterblichen Frauen zusammen und ließ ihn sogar seine Schwester und Gattin vergessen, die doch die bei weitem schönste und würdigste unter den Göttinnen ist.« Die daran anschließenden Verse enthalten eine kleine Aristie der Götterkönigin.

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Voraussetzungen und Kontext

Vorstellungen geschuldet, die man sich in der Neuzeit vom Rollenverhalten des Göttervaters gemacht hat.9 Auch der Hermeshymnus bietet entgegen dem ersten Anschein keinen Beleg für eine solche Anschauung. Dort wird zwar berichtet, dass Zeus immer dann mit Maia zusammengewesen sei, wenn Hera geschlafen habe, aber es kann keine Rede davon sein, dass er eine Affäre vor seiner Gattin geheimhalten wollte, sondern der Erzähler will damit etwas ganz und gar Unglaubliches glaubhaft machen: Weil keiner der Götter und keiner der Sterblichen etwas von der Liebe des Zeus zu der Nymphe bemerkt hatte,10 ahnte niemand etwas von der bevorstehenden Geburt des Hermes, und man erfuhr davon erst, als sich die Nachrichten von dessen unfassbaren Aktivitäten gleich am Tage seiner Geburt verbreiteten. Nach diesen Versen ist von Hera im Hermeshymnus nirgendwo mehr die Rede, und sie spielt ja auch sonst in diesem Mythos keine Rolle. Tatsächlich hat Zeus aber auch überhaupt keine Veranlassung, seine Liebschaften vor Hera zu verheimlichen, denn – das ist der erste Grund – er ist ihr an Macht so weit überlegen, dass er keine Rücksicht auf sie zu nehmen braucht. Seine Überlegenheit über alle anderen Götter und eben auch über Hera wird schon im ersten Buch der Ilias thematisiert. Als sie anlässlich seiner Unterredung mit Thetis die Forderung stellt, an seinen Entscheidungen beteiligt zu werden, weist er sie mit schonungsloser Schroffheit zurück. Nicht einmal das Recht, seine Pläne zu erfahren, will er ihr zugestehen, sondern allenfalls das Privileg, sie von Fall zu Fall früher zu informieren als die anderen Götter.11 Nicht sehr viel besser ergeht es ihr in der Streitszene zu Beginn des vierten Buches.12 Die Asymmetrie der Macht erlaubt es Zeus, zu tun und zu lassen, was ihm beliebt. Hera dagegen ist stets unzufrieden mit der Würde und Macht, die ihr von Zeus zugebilligt wird. Weil sie nicht nur die Gattin des Zeus, sondern auch seine Schwester ist, erhebt sie Anspruch auf eine Bevorzugung gegenüber den anderen Göttern und protestiert immer wieder gegen ihre vermeintliche Zurücksetzung. Dennoch ist die übliche Annahme, sie empöre sich auch und erst recht über die Liebesaffären ihres Gatten, schon deshalb verfehlt, weil ein solcher Gedanke noch fern lag, solange man solche Stürme der Leidenschaft noch 9 Die Formulierung ῞Ηρης ἐκλελαθοῦσα in V. 40 wird gelegentlich so verstanden, als ob Aphrodite dafür sorgte, dass Zeus bei seinen Liebschaften nicht von Hera ertappt würde (H. G. Evelyn-White in der Loeb-Ausgabe 1914/1977: »and mates him with mortal woman, unknown to Hera«; die Übersetzung ist sprachlich eindeutig falsch (pace Hunter 2004, der sie 215 f. übernommen hat). Olson 2012 übersetzt (63) mit »evading the notice of Hera«, erläutert aber (158) »causing Hera […] to vanish from his mind.« Eine eingehende Begründung für die richtige Wiedergabe hat schon Faulkner 2008, 126 gegeben: »causing him to forget« oder auch: »makes Zeus forget all about his beautiful wife Hera«. 10 [Hom.] h. Merc. 6–9. 11 Besonders prägnant Hom. Il. 1, 562–567 (dort noch ohne Bezug auf Liebesbezie­ hungen). 12 Hom. Il. 4, 1–67 (V. 57–61 der Anspruch Heras auf Ebenbürtigkeit).

Zeus, Aphrodite und Hera in der älteren Dichtung

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einfach nur als Beweis für die unentrinnbare Macht Aphrodites verstand. Das ist der zweite Grund dafür, dass Zeus seine Liebschaften nicht vor ihr zu verbergen versucht. Hera gerät nicht darüber in maßlosen Zorn, dass ihr Gatte sich in eine andere Frau verliebt, sondern darüber, dass diese Liebe nicht ohne Folgen bleibt. Genauer gesagt: So wie Zeus auf die großartigen Söhne stolz ist, die er mit seinen sterblichen Geliebten gezeugt hat, so ist Hera darüber erbost, dass ihr Gatte immer wieder herrliche und hochberühmte Kinder zeugt und sie daran nicht beteiligt ist. Zwei besonders eindringliche Beispiele dafür sind die Geburt­ Apollons und die Geburt Athenes. Im Homerischen Apollonhymnus wird erzählt, dass die ganze Welt schon vor der Geburt des Gottes in so große Furcht vor seiner gewaltigen Macht geraten sei, dass Leto lange vergeblich nach einem Ort suchen musste, an dem sie gebären konnte. Alle Länder und Inseln hätten sich den Bitten der Göttin verweigert, weil sie um ihre Existenz bangten, wenn Apollon auf ihrem Boden geboren würde. Der Dichter schildert eindringlich, wie sehr auch Delos sich ängstigt und sich erst, nachdem Leto der Insel feierlich Sicherheit und künftigen Ruhm als Kultstätte Apollons garantiert hat, bereitfindet, den größten aller Götter bei sich aufzunehmen. In der Furcht, die alle Welt vor Apollon schon vor seiner Geburt empfindet, manifestiert sich sein unvergleichlicher Ruhm. Das aber ist eine im Götterkult verwurzelte und deshalb viel überzeugendere Darstellung als die spätere Erfindung, Hera habe den Ländern die Aufnahme Letos aus weiblicher Eifersucht untersagt. Folgerichtig tritt Hera im Homerischen Apollonhymnus erst viel später auf den Plan. Sie fühlt sich nicht durch die Liebe ihres Gatten zu Leto gekränkt, sondern durch den herrlichen Sohn, den Leto zur Welt bringen soll. Um das zu verhindern, hält sie die Geburtsgöttin Eileithyia zurück, und nur weil diese sich von den um Leto versammelten Göttinnen bestechen lässt, kann Apollon dennoch geboren werden.13 Die Erzählung von der Kränkung Heras durch die Geburt Athenes aus dem Haupte des Zeus ist in zwei Versionen überliefert. Nach der einen, bei Hesiod belegten Version rächt sie sich dafür, indem sie Hephaistos ohne Beteiligung des Zeus zur Welt bringt. Von einer viel furchtbareren Rache aber berichtet der Apollonhymnus: Hera habe in einer Rede vor den versammelten Göttern ihrem Zorn darüber Ausdruck verliehen, dass Zeus sich ohne ihre Beteiligung zum Vater einer so bedeutenden Göttin gemacht habe, während sie selbst, und dadurch sei die Entehrung ganz unerträglich für sie, nur Mutter des humpelnden Schwächlings Hephaistos sei; sie habe sich aber nicht mit Worten begnügt, son 13 Letos vergebliche Suche nach einem Ort für die Geburt Apollons: [Hom.] h. Ap. ­30–47; ihre erfolgreichen Verhandlungen mit Delos: V. 48–87; Hera hält sich im Gegensatz zu allen anderen Göttinnen fern von Leto und hält die Geburtsgöttin Eileithyia aus Eifersucht auf Letos Sohn (ζηλοσύνῃ, V. 100) zurück: V. 95–101; die erfolgreiche Bestechung Eileithyias: V. 102–115.

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Voraussetzungen und Kontext

dern schrecklich gerächt, indem sie den Drachen Typhon entstehen ließ, der erst von Apollon bezwungen werden konnte.14 In dieser Geschichte gibt es überhaupt keine Rivalin Heras, und damit wird vollends klar, dass es ursprünglich nicht die Liebesaffären ihres Gatten sind, durch die Hera sich zurückgesetzt fühlt, sondern ihr Prestige und ihr Selbstgefühl werden dadurch verletzt, dass die großen Gottheiten und Helden nur Kinder des Zeus und nicht auch ihre Kinder sind.15 Nun hat Hera zwar besonders oft Anlass, sich darüber zu beklagen, dass ihr Prestige sich nicht im Rang ihrer Nachkommen manifestiert, aber auch die anderen Götter betrachten es als eine Beeinträchtigung ihrer Würde, wenn ihre Kinder nicht ebenbürtig sind. Für den Göttervater gilt das natürlich erst recht, und wir haben zu Beginn dieses Kapitels gesehen, wie er seine Liebesverbindungen mit sterblichen Frauen durch die großartigen Söhne, die er mit ihnen gezeugt hat, zu nobilitieren versucht. Noch deutlicher wird das in den Versen über seine Liebe zu Sterblichen, die wir aus dem Homerischen Aphroditehymnus zitiert haben. Dort heißt es nämlich, Zeus sei erzürnt über Aphrodite, weil sie ihn immer wieder dazu zwinge, mit Frauen zusammenzukommen, mit denen er nur sterbliche Kinder zeugen könne, und besonders nehme er ihr übel, dass sie sich dessen auch noch zu rühmen pflege.16 Deshalb beschließt er, zugleich im Namen der anderen Götter und Göttinnen, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.17 Er flößt Aphrodite, auf welche Weise auch immer,18 ein Liebes­ 14 Hes. theog. 924–929; ibid. 928: καὶ ζαμένησε καὶ ἤρισε ᾧ παρακοίτῃ (»sie zürnte sehr und haderte mit ihrem Gatten). [Hom.] h. Ap. 305–339; Zeus entehrt sie durch die Geburt Athenes: ἀτιμάζειν (V. 312). 15 Ein weiterer Beleg dafür ist die dem Agamemnon in den Mund gelegte Erzählung in der Ilias, Zeus habe an dem Tage, an dem Herakles geboren werden sollte, die Geburt eines großen Herrschers aus seinem Blute angekündigt (Il. 19, 91–133). Hera jedoch habe ihn überlistet und dafür gesorgt, dass nicht Herakles, sondern Eurystheus an diesem Tage geboren worden sei. Auch hier ist Heras Motiv nicht die Eifersucht einer betrogenen Gattin, sondern der Rang der Nachkommen als Maßstab für das eigene Prestige. Diese Erzählung ist vielleicht das Vorbild für den Versuch Heras im Apollonhymnus, die Geburt Apollons zu erschweren; vgl. Roscher s. v. Leto (1963). 16 Dass die Götter mit sterblichen Frauen nur sterbliche Kinder zeugen können, wird auch sonst gelegentlich erwähnt. Semele (die freilich nicht immer als Sterbliche gilt), ist die Ausnahme von der Regel; darauf wird offenbar bei Sophokles mit der Bemerkung angespielt, dass sterbliche Frauen nur in Theben Götter gebären (Soph. F 773 Radt: Θήβας […] οὗ δὴ μόνον τίκτουσιν αἱ θνηταὶ θεούς). 17 [Hom.] h. Ven. 45–51 (48 f.: Aphrodites Prahlen mit ihrer Macht); V. 52 wird hinzu­ gefügt, dass das nicht nur für die Götter, sondern auch für die Göttinnen gilt. 18 Später bleibt die Macht, Liebe zu erwecken, gleichsam per definitionem der Liebesgöttin und ihrem Sohne Eros-Amor vorbehalten, der aber nur in ihrem Auftrag tätig werden darf. Folglich kann sie sich nur durch sich selbst (oder durch Eros-Amor) verlieben, z. B. indem Amor sie versehentlich mit einem Liebespfeil ritzt. So erzählt Ovid es in seiner­ Adonis-Erzählung, und auch dort handelt es sich um einen (freilich unbewussten) Racheakt, weil Adonis’ Mutter Myrrha von der inzestuösen Liebe zu ihrem Vater ergriffen worden war (met. 10, 525–528).

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verlangen nach dem Trojaner Anchises ein, damit auch sie zur Mutter eines Sterblichen wird.19 Wie gut die Rache des Zeus gelungen ist, zeigt Aphrodites Verhalten gleich nach der Liebesvereinigung. Sie offenbart dem Anchises zwar ihre Identität und verkündet ihm, dass der Ruhm des Sohnes, den er mit ihr gezeugt habe, und der aller seiner Nachkommen überwältigend sein werde, sie empfindet es jedoch als eine so große Erniedrigung, einen Sterblichen geliebt und von ihm einen sterblichen Sohn empfangen zu haben, dass sie Anchises den Tod durch die Blitze des Zeus androht, wenn er dieses Geheimnis preisgeben sollte.20 Als letztes Beispiel für dieses Denkmuster sei noch die Erzählung von der Liebe Poseidons zu Tyro in der Odyssee angeführt. Auch hier verliebt sich ein Gott in eine Sterbliche und zeugt mit ihr in der Gestalt ihres Geliebten, des Flussgottes Enipeus, sterbliche Kinder. Danach gibt er sich ihr feierlich zu erkennen, verheißt Tyro und ihren Söhnen eine große Zukunft, macht ihr zugleich aber unmissverständlich klar, dass damit für sie alles vorbei ist. Er fordert sie auf, jetzt nach Hause zu gehen, und damit noch nicht genug, er fügt hinzu, wenn sie ihre Kinder zur Welt bringen werde, dann solle sie sie aufziehen, aber sie dürfe niemandem sagen, dass sie von ihm gezeugt worden sind.21 Den Grund dafür nennt er ihr nicht, aber darauf hat sie auch keinen Anspruch. Schließlich erfährt auch im Aphroditehymnus nur der Leser und nicht Anchises selbst, warum ihm die Göttin ein so strenges Schweigegebot auferlegt. Wir können also festhalten: So wie Hera ihren eigenen göttlichen Rang an dem ihrer Kinder misst, so hängen Ehre und Würde aller Götter nicht zuletzt vom Rang ihrer Nachkommen ab. Das ist der Grund dafür, dass sie ihre sterblichen Geliebten nach dem Beischlaf nicht nur ihrem Schicksal überlassen, sondern auch zu strengem Stillschweigen darüber verpflichten. Wir werden sehen, dass allein die Europa-Erzählung von diesem Muster abweicht. 

1.2 furtum vs. »adulterium«: Typologie und Strukturelemente Die Kategorien, die den überlieferten Erzählungen zugrunde liegen, soviel hat sich bereits gezeigt, lassen es als ganz unangemessen erscheinen, die Liebschaften des Göttervaters nur deshalb, weil auch er sich immer wieder verliebt, mit den Maßstäben der Sterblichen zu messen, und das gleiche gilt für die Reak 19 [Hom.] h. Ven. 45–56. 20 [Hom.] h. Ven. 192–290 und darin V: 281–290 das Schweigegebot und die Drohung mit dem Blitze des Zeus. 21 Hom. Od. 11, 235–252; Hes. fr. 30–31 MW = 20 und 24 Hirschberger; Apollod. bibl. 1, 9, 8; das Schweigegebot: νῦν δ’ ἔρχευ πρὸς δῶμα, καὶ ἴσχεο μηδ’ὀνομήνῃς (Hom. Od. 11, 251). Das gleiche Modell liegt der Mars-Ilia-Geschichte zugrunde, nur dass Mars nicht verrät, welcher Gott er ist, so dass das Schweigegebot überflüssig wird (Dion. Hal. ant. 1, 77).

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tionen Heras. Es stellt sich jedoch die Frage nach der Konstanz dieses für die ältere Zeit charakteristischen Bildes, d. h. welche Vorstellungen sich später, also in der hellenistischen und in der römischen Literatur, geändert haben und welche nicht. Um dies zu ermitteln, bietet es sich an, die Terminologie der erotischen Dichtung zu applizieren. Sie ist am besten greifbar in der Liebeselegie und wird uns helfen, das Bild, das wir von der älteren Zeit skizziert haben, zu ergänzen und zu präzisieren. Wir gehen aus von den Begriffen, von denen die bereits kurz umrissene com­ munis opinio der Forschung zum Europa-Mythos bestimmt ist: Es handle sich, so die allgemeine Überzeugung, bei der Entführung Europas um »ein Liebesabenteuer des Zeus mit Europa«, und zwar ein Liebesabenteuer des verheirateten Zeus, also um einen Ehebruch.22 Auf die Deutung der Entführung Europas als eine Vergewaltigung23 brauchen wir dagegen nicht einzugehen, da es dafür keinerlei Anhaltspunkte gibt. Auch die Frage, ob eine sterbliche Frau die einmalige Liebesvereinigung mit einem Gott nicht als ein so großes Glück empfinden müsse, dass alle daraus entstehenden Leiden aufgewogen würden, müssen wir hier beiseitelassen.24

22 So auch Bühler 1968, 38, der wohl beste Kenner der Materie; er hat die Erzählung ibid. 31 unter der Rubrik »Jovis adulteria« aufgeführt. Ähnlich Kuhlmann 2012, 485 (über Jupiters Motiv für seine Verwandlung in einen Stier in den vorovidischen Europa-Erzählungen): »just because he wants to deceive his wife Juno (and Europa) […]«. Die Auffassung der gelehrten Literatur zu den einzelnen Autoren steht damit ausnahmslos in Einklang. Besonders dezidiert Kuhlmann 2004, 283 (mit Bezug auf Moschos): dort werde »der mit Hera verheiratete Zeus […] als Ehebrecher gezeigt«. 23 So z. B. Curran 1978, 22; Doblhofer 1994, 84 bezeichnet den Raub der Europa sogar als ein »Paradebeispiel« für eine Vergewaltigung, obwohl schon Bühler 1968, 33 f. darauf hin­ gewiesen hat, dass die Europa-Erzählung in keiner der antiken Versionen als Vergewaltigung aufgefasst worden ist und dass sich eine solche »grobe Verdrehung« erst durch Missverständnis der Europa-Ode des Horaz in den Scholien des frühen Mittelalters findet. Die Tendenz, bei den amores deorum die Unterschiede zwischen Verführung und sexueller Gewalt so zu relativieren, als ob es darauf nicht weiter ankäme, lässt sich wohl nur damit erklären, dass die Rezeption der erotischen Erzählungen bis in unsere Gegenwart hinein durch die männliche Perspektive dominiert war und ist. 24 Dies ist die provozierende These von Lefkowitz 1993. Freilich bezieht sich die Autorin, anders als der Titel ihres höchst anregenden Aufsatzes vermuten lässt, nicht auf den griechischen Mythos an sich, sondern nur auf dessen literarische Gestaltung in der älteren griechischen Dichtung, und ihre Argumentation ist um so weniger überzeugend, je jünger die von ihr angeführten Belege sind. Schon bei den Beispielen aus der attischen Tragödie (ibid. 26–28, insbesondere über Kreusa im Ion des Euripides) ist der Konflikt zwischen dem Wortlaut der Texte und ihrer Deutung unübersehbar. Völlig irreführend aber sind die Verallgemeinerungen im Fazit ihres Beitrags: »To speak about the ›rape‹ of Europa or Io or other females seduced or abducted by gods gives a wrong impression of what the experience was like for the women involved. In all the stories that have come down to us, the women give their consent before having intercourse with a god [sic!].« Vgl. dazu auch u. Kap. 3.4 (Horaz).

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In der römischen Liebesdichtung werden bekanntlich alle Liebschaften, die der Menschen und die der Götter (gemeint sind fast immer männliche Liebhaber), nicht nur amores, sondern gleichbedeutend und noch öfter furta genannt. Der Begriff furtum bezeichnet jedoch keineswegs nur einen Fehltritt oder eine unerlaubte Affäre, sondern jede verstohlene Liebschaft, und verstohlen ist sie deshalb, weil sie mit Takt und Diskretion angebahnt und gepflegt werden sollte.25 Bei einem solchen furtum kann es sich um ein flüchtiges Erlebnis handeln, aber auch um eine Liebschaft, die längere Zeit hindurch andauert (ut duret amor), und deshalb kann ein furtum sogar zu einem coniugium führen. In der Welt der Liebeselegie ist damit zwar keine wirkliche Ehe, sondern immer nur eine erotische Beziehung gemeint, die sich durch den Anspruch unverbrüchlicher Treue auszeichnet, aber das berechtigt nicht zu dem Umkehrschluss, dass Begriffe wie ›coniugium‹ und ›uxor‹ auch außerhalb der Elegie a priori im uneigentlichen Sinne gemeint sein müssten.26 Gelegentlich wird ›fur­ tum‹ metonymisch gebraucht und bezeichnet nicht die verstohlene Liebschaft, sondern die Geliebte.27 Zu einem »adulterium« wird ein furtum erst dann, wenn der Liebhaber mit einer anderen Frau durch ein coniugium verbunden, also verheiratet ist, und selbst ein solches »adulterium« eines Mannes ist nur nach modernen Maß­ stäben unerlaubt.28 Da also furtum der Oberbegriff und »adulterium« der Sonderfall eines furtum ist, sind die Liebschaften des Zeus zwar allesamt furta, aber nur dann »adulteria«, wenn er sich als Gatte Heras in eine andere Frau verliebt hat. Ein Beispiel für ein solches »adulterium« ist der Io-Mythos, der von jeher mit Hera verbunden war, Gegenbeispiele sind der Leda- und der Danaë-Mythos. Diese beiden repräsentieren – auch wenn das in der Forschung oft anders dargestellt wird – den Erzähltypus, in dem keine eifersüchtige Hera vorkommt und 25 In diesem Sinne spricht schon Catull von furtivi amores (Catull. 7, 8). 26 Repräsentatives Beispiel für die Alternative ist Verg. Aen. 4, 171 f.: nec iam furti­ vum Dido meditatur amorem: coniugium vocat […] (»und Dido denkt nicht mehr an heimliche Liebe, sie spricht von Ehe«). Weitere Belege bei Bömer 1969, 191. Zu uxor bei Horaz s. Kap. 3.4. 27 Zum metonymischen Gebrauch von furtum in der Bedeutung ›Geliebte‹ s. TLL s. v. (B. metonymice). Der für uns interessanteste der dort aufgeführten Belege steht bei Ovid und bezieht sich auf Europa: quis enim deprendere possit furta Iovis? (Ov. met. 3, 6 f.: »Denn wer könnte die heimlichen Geliebten Jupiters entdecken?«). Zum Verständnis der Stelle und zu ihrer Kommentierung in der gelehrten Literatur s. u., S. 180 f. 28 In der modernen Philologie und Literaturwissenschaft wird diese Besonderheit gern vergessen (s. z. B. Anderson 1997, 339 zu Ov. met. 3, 6 f.), aber es ist unumstritten, dass sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe nur bei einer Frau als Ehebruch galten (und juristisch relevant waren), während der Mann in einem solchen Falle nur das Treueverhältnis zu seiner Frau verletzte. Folglich ist der Begriff ›adulterium‹ in seiner eigentlichen Bedeutung irre­ führend. Wir verwenden ihn gleichwohl, weil es keine treffende Alternative dazu gibt, setzen ihn aber, wenn es sich nur im modernen Sinn um einen Ehebruch handelt, in doppelte Anführungszeichen.

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nicht vorkommen kann, weil man sich den Göttervater bei diesen Liebesbeziehungen nicht als mit ihr verheiratet vorgestellt hat.29 Dass diese Unterscheidung zwischen dem unverheirateten und dem verheirateten Jupiter in der erotischen Dichtung ignoriert worden ist, wo immer man mythologische Beispiele für die Werbung um eine puella brauchte (vor allem also in katalogartigen Aufzählungen), steht auf einem anderen Blatt, denn schließlich wurde auch einem Redner die Freiheit zugestanden, ungeeignete Beispiele seinem Argumentationsziel anzupassen.30 Überall dort jedoch, wo es darum ging, von der Liebe des Göttervaters zu einer begehrenswerten Frau auch wirklich zu erzählen und nicht nur ihren Namen zu erwähnen, haben die Dichter sich an die skizzierte Überlieferung gehalten. Wer dieses Kriterium außer acht lässt, wird die einschlägigen Erzählungen und ihre Intention zwangsläufig missverstehen. Man kann das sehr gut an den bewusst inszenierten Fehldeutungen in Ovids Arachne-Erzählung illustrieren. Arachne zählt nämlich sämtliche Liebesbeziehungen Jupiters zu den caelestia crimina, völlig unabhängig davon, ob sie als »adulteria« galten oder nicht, ja sogar dann, wenn eine dieser Geliebten eine seiner Gattinnen gewesen war – ganz einfach deshalb, weil sie die jungfräuliche Göttin Athene zu provozieren versucht, indem sie von Jupiter das Bild eines rücksichtslosen Erotomanen zeichnet. Deshalb ist der Teppich der Arachne ebensowenig ein Beleg für das Urteil der Antike wie die Polemik der frühen Christen.31 29 Anders z. B. Doblhofer1994, 86, aber auch Bühler 1960, 123, der als Belege für das Eifersuchtsmotiv neben den Erzählungen von Io, Leto und Semele auch die von Leda angibt. Es handelt sich hier um eine sehr klare kategoriale Unterscheidung, die aber typologisch begründet und deshalb mit der Chronologie der Liebschaften und Ehen des Zeus nicht kommensurabel ist. 30 Ovid nennt Jupiter mit Bezug auf Leda zwar einen adulter, aber eben nur in seinen Amores (Ov. am. 1, 3, 22 und 1, 10, 4) und nicht in einer Metamorphosen-Erzählung. Ähnliches gilt auch für die katalogartigen Aufzählungen von Jupiters Liebschaften wie z. B. die Zusammenstellung der amores Iovis in dem wohl aus neronischer Zeit stammenden Lehrgedicht Aetna. Dort werden V. 87 ff. als Beispiele für das Thema Iupiter peccat Europa, Leda und Danaë genannt, wobei aber zugleich auch von abscondita nobis coniugia die Rede ist. All dies sind keine Belege für eine bestimmte Deutung der Mythologeme, sondern nur für die Möglichkeit ihrer Instrumentalisierung. In der erzählenden Literatur dagegen werden die typologischen Unterschiede gewahrt. 31 Ov. met. 6, 103–133; zu Arachnes Beispielen gehört auch die Liebe Jupiters zu Danaë und sogar seine Liebesbeziehung zu Mnemosyne, bei der es sich gemäß Überlieferung um eine der Ehen des Zeus handelt. In der Forschung hat man das nicht immer beachtet und die Unterschiede zwischen den von Arachne dargestellten amores deorum ignoriert. In der Kritik der frühen Christen gegen die heidnischen Götter wird ganz ähnlich polemisiert und nicht nur die Unterscheidung zwischen Ehe und furtum, sondern auch die zwischen furtum und »adulterium« rigoros aufgehoben (bequeme Zusammenstellung des Materials bei Bühler 1986, 982 f.).

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Dass eine Liebesgeschichte narratologisch ergiebiger ist, wenn der Liebhaber verheiratet ist, liegt auf der Hand, denn nur unter dieser Voraussetzung kann der Erzähler auch von einer betrogenen Ehefrau berichten, die das Bedürfnis hat, sich für die erlittene Kränkung zu rächen. In der antiken Komödie wird das dadurch in Szene gesetzt, dass es dem notorischen Liebhaber trotz aller Bemühungen nicht gelingt, seine Affäre zu verheimlichen, so dass er von seiner eifersüchtigen Gattin ertappt wird und deren ungehemmten Zorn über sich ergehen lassen muss. Auch bei der Darstellung der Liebschaften des Zeus wurden spätestens seit hellenistischer Zeit diejenigen bevorzugt, bei denen man von der betrogenen Gattin Hera erzählen konnte, also die »adulteria«. Die Erzählstruktur war hier wie dort dieselbe, denn wenn Zeus seine Gattin hinterging, gab es nicht nur zwei, sondern drei Hauptakteure, und die Geschichte bestand nicht nur aus einer Liebschaft des Zeus, sondern es kam eine Folgehandlung hinzu, in deren Mittelpunkt die Göttin Hera stand. Darauf ist es wohl zurückzuführen, dass einige Erzählungen, die dies ursprünglich gar nicht gewesen waren, nachträglich in solche »adulteria« verwandelt worden sind. Darüber hinaus bot dieser Erzähltypus den Autoren die Möglichkeit, den Abstand des Göttervaters und seiner Gattin zu allem Menschlichen zu relativieren und zu nivellieren. Indessen bedeutet die strukturelle Analogie zum Komödien-Klischee keineswegs, dass die Erzähler die »adulteria« des Göttervaters auch inhaltlich angeglichen und von einem ›Ehekrach‹ berichtet hätten, ganz im Gegenteil: Gerade bei den »adulteria« zeigt sich, dass die Verhaltensmuster, die in der älteren Dichtung für Zeus und Hera charakteristisch waren, sich auch später nicht wesentlich ändern. Die Asymmetrie der Macht, von der wir gesprochen haben, wird zwar von den späteren Autoren nicht mehr so wie in der Ilias thematisiert, aber sie ist in allen Erzählungen bis hin zum spätantiken Epos des Nonnos als eine Gegebenheit der Götterwelt vorausgesetzt. Zeus-Jupiter bleibt bis hin zu Ovid und über Ovid hinaus immer der übermächtige Göttervater, selbst dann, wenn sich seine Affären von denen eines irdischen amator kaum unterscheiden und er seine göttliche Würde völlig vergisst. Hera-Juno dagegen muss sich weiterhin damit abfinden, dass sie nichts gegen ihn auszurichten vermag, und so verhält sie sich auch.32 Am besten ist der Unterschied zwischen dem literarischen Modell des­ Iupiter amans und dem im Komödien-Klischee gespiegelten menschlichen Alltag daran abzulesen, dass der dort dargestellte untreue Ehemann vor einem Seitensprung immer Vorsichtsmaßnahmen trifft, um nicht von seiner Gattin ertappt zu werden. Der Göttervater dagegen kümmert sich niemals darum, obwohl Hera-Juno, und das ist die einzige, aber sehr bedeutsame Veränderung,

32 Zum Folgenden s. Heldmann 2014, 333 ff.

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sich jetzt auch dadurch gekränkt fühlt, dass ihr Gatte sich in andere Frauen verliebt. Damit sind uns zwei Aufgaben gestellt. Die erste betrifft die Rolle des Zeus, genauer gesagt seine Gewohnheit, eine andere Gestalt anzunehmen, wenn er eine Geliebte verführen will. Die Erklärung, die man dafür zu geben pflegt, er wolle sich nicht von seiner Gattin ertappen lassen, ist unvereinbar mit unserem Ergebnis, dass ihm das völlig gleichgültig sein kann und er deshalb gar keinen Anlass hat, Vorkehrungen dagegen zu treffen. Folglich müssen wir eine andere, plausiblere Erklärung für die Selbstverwandlungen des Zeus geben. Unsere zweite Aufgabe besteht darin, das Handlungsmuster zu analysieren, das der Reaktion Heras auf die »adulteria« ihres Gatten zugrunde liegt, und zu bestimmen, was für die entsprechenden Erzählungen charakteristisch ist. Dies ist für unsere Fragestellung auch deshalb besonders relevant, weil ein solches Handlungsmuster auf die Erzählung von der Entführung Europas anwendbar sein müsste, wenn man dieses Sujet zu den »adulteria« Iovis zählen dürfte.

1.3 Die Verwandlungen des Zeus  Bei den Selbstverwandlungen des Zeus ist zunächst und vor allem anderen daran zu erinnern, dass man in der Antike (jedenfalls in älterer Zeit) davon überzeugt war, kein Sterblicher könne den Anblick einer Gottheit in ihrer ganzen Göttlichkeit ertragen.33 Deshalb verhüllen auch die anderen Götter ihre göttliche Identität, wenn sie sich zu den Menschen begeben. So nimmt Aphrodite in der Ilias die Gestalt einer alten Frau an, als sie Helena dazu bewegen möchte, zu Paris zu gehen. Freilich gelingt die Täuschung nicht immer ganz, und gelegentlich erkennen oder ahnen die Sterblichen trotz einer solchen Verwandlung, dass sie eine Gottheit vor sich haben.34 Nur wenn die Götter einem Frevler seine furchtbare Strafe ankündigen, also wenn sie den Menschen Tod und Verderben bringen wollen, erscheinen sie ihnen in ihrer wahren Gestalt.35 Besonders anschaulich wird die Unfähigkeit des Menschen, die unmittelbare Gegenwart einer Gottheit zu ertragen, im Homerischen Aphroditehymnus vorgeführt. Als Aphrodite in Liebe zu Anchises entbrannt und in sein Haus gekom 33 Bei den jüngeren Dichtern (vor allem bei Ovid)  ist die Vorstellung nicht mehr so streng; s. u., S. 27 f. mit Anm. 42. 34 Aphrodite kommt in Gestalt einer alten Frau zu Helena: Hom. Il. 3, 385–387; H ­ elena erkennt die Göttin an ihrem schönen Hals, der Brust und den funkelnden Augen: ibid. ­396–398. 35 Im Demeterhymnus des Kallimachos ermahnt die Göttin den Frevler Erysichthon zunächst in der Gestalt ihrer Priesterin (Call. h. 6, 42–49), und erst als er ihre Warnung ig­ noriert und sich völlig vergisst, erscheint sie ihm in ihrer ganzen furchtbaren Göttlichkeit (ibid. 57–58).

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men war, da »trat die Tochter des Zeus, Aphrodite, vor ihn hin, an Größe und Gestalt einer unbezwungenen Jungfrau gleichend, damit er nicht erschrecke, wenn er sie mit seinen Augen erkenne«: στῆ δ’ αὐτοῦ προπάροιθε Διὸς θυγάτηρ Ἀφροδίτη παρθένῳ ἀδμήτῃ μέγεθος καὶ εἶδος ὁμοίη μή μιν ταρβήσειεν ἐν ὀφθαλμοῖσι νοήσας.36

Indessen erkennt auch Anchises sofort, dass die Frau, die da bei ihm eingetreten ist, keine Sterbliche sein kann. Aber weil er sich ihr sonst nicht hingeben würde, muss Aphrodite diesmal, anders als bei ihrem Besuch bei Helena in der Ilias, seinen Verdacht unbedingt zu zerstreuen versuchen, und sie stellt sich ihm in einer langen Trugrede mit anschaulichen Details als eine Sterbliche vor, deren Identität ihm plausibel sein muss. Als sie sich ihm aber nach der Vereinigung als die Göttin Aphrodite offenbart, ist Anchises so bestürzt, dass er um sein Leben fürchtet: »denn blühendes Leben wird keinem Manne gewährt, der das Lager unsterblicher Göttinnen teilte«.37 Zwar ist die Furcht des Anchises um sein Leben unbegründet, aber eben nur deshalb, weil Aphrodite bei der Liebesvereinigung menschliche Gestalt angenommen hatte. Das Gegenbeispiel dazu ist die Semele-Erzählung, in der das Unvermögen des Menschen, die unverhüllte Göttlichkeit der Unsterblichen zu ertragen, besonders grell beleuchtet wird. Als Hera ihre Rivalin Semele dem Tode überantworten will, braucht sie nichts weiter zu tun, als ihr einzureden, sie müsse, um sich der Identität ihres Geliebten zu vergewissern, Zeus um einen Besuch in seiner wahren Gestalt und mit allen Zeichen seiner Macht bitten, so wie er sich auch seiner göttlichen Gattin zu nahen pflege.38 Die Verhüllung des eigenen göttlichen Wesens ist aber nur der Grund dafür, dass die Götter sich überhaupt verwandeln, wenn sie sich zu den Sterblichen begeben. In aller Regel verfolgen sie mit einem solchen Besuch jedoch eine bestimmte Absicht, und deshalb nehmen sie keine beliebige, sondern die Gestalt an, in der sie ihr Ziel am besten erreichen können. Insofern ist die Verwandlung eines Gottes immer auch ein Mittel zum Zweck. Auch dafür ist Aphrodites Besuch bei Helena in der Gestalt einer alten Frau ein Beispiel, ein noch eindringlicheres aber Hera in der Semele-Geschichte: Sie gewinnt Semeles Vertrauen,

36 [Hom.] h. Ven. 81–83. 37 Anchises hält sie für eine Göttin: [Hom.] h. Ven. 82–106; Aphrodites Trugrede: V. 108–142; Aphrodite gibt sich als Göttin zu erkennen: V. 177–179; Furcht und Entsetzen des Anchises: V. 181–190. In V. 185 f. hält Anchises ihr vor, dass er sie von Anfang an als Göttin erkannt, dass sie ihn jedoch getäuscht habe. 38 Apollod. bibl. 3, 4, 3. Die älteste erhaltene Version der vollständigen Erzählung steht bei Ov. met. 3, 253–315. Hier ist daran zu erinnern, dass Semele ursprünglich nicht immer als eine Sterbliche galt.

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weil sie ihr in der Gestalt ihrer alten Amme erscheint, und nur deshalb kann sie sie so leicht dazu bewegen, dem verhängnisvollen Rat zu folgen, der zu ihrem Tode führt.39 Dabei ist freilich vorausgesetzt, dass Semele nicht weiß, was es bedeutet, wenn Zeus sich mit allen Zeichen seiner Macht nähert.40 Bei Heras Verwandlung handelt es sich um die boshafte List einer boshaften Göttin, aber auch ein Gott, der sich verliebt hat, nimmt immer die Gestalt an, die ihn zum Erfolg führen wird und in der er die von ihm begehrte Frau am besten erobern kann. Deswegen kommt Zeus zu Alkmene in der Gestalt ihres Gatten Amphitryon und zu Kallisto in der ihrer Lieblingsgöttin Artemis, und in der Gestalt eines schönen Stiers gelingt es ihm, Europa über das Meer zu entführen. Nicht immer ist so klar wie bei den angeführten Beispielen zu durchschauen, warum ein Gott gerade diese und nicht eine andere Gestalt annimmt, um die Geliebte zu überlisten. Wenn jedoch Zeus sich dieser List bedient, dann ist sie jedenfalls nie dadurch motiviert, dass er sich nicht von seiner Gattin bei einem Seitensprung ertappen lassen wollte, sondern sie dient ihm immer nur als strategisches Mittel zur Erfüllung seiner Liebessehnsucht. Nur deshalb ist es plausibel, dass er sich auch bei solchen Liebesbeziehungen verwandelt, bei denen man sich ihn nie als verheiratet vorgestellt hat. Beispiele dafür sind Danaë, in deren Gehäuse er als goldener Regen eindringt, und Leda, die er in der Gestalt eines Schwans verführt. Schon in der Antike galt es als derart charakteristisch für den Göttervater, eine begehrte Frau durch Annahme einer anderen Gestalt zu überlisten, dass die Beispiele dafür katalogisiert worden sind, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob es sich um ein »adulterium« handelte oder nicht. Dass auch die anderen Götter die List der Selbstverwandlung anwenden, wenn sie ihre Liebeslust befriedigen wollen, haben wir schon am Beispiel des Poseidon gesehen, der zu Tyro in der Gestalt ihres Geliebten, des Flussgottes Enipeus, kommt.41 Die meisten Belege für eine solche Liebeslist finden sich in Ovids Metamorphosen, aber das ist allein dem Umstand geschuldet, dass von

39 Ov. met. 3, 273–278. Apollodor (bibl. 3, 4, 3) berichtet in seinem Resümee nur, dass­ Semele von Hera getäuscht wurde, aber nicht, auf welche Weise das geschah. 40 In Schillers Semele (1782) sind Junos Worte nicht mehr verrätselt wie in der Antike (Apollod. bibl. 3, 4, 3; Ov. met. 3, 285 f.), sondern sie sagt offen, dass Jupiter sich seiner Gattin mit Blitz und Donner zu nahen pflege und dass Semele dasselbe verlangen solle (V.199–246). Nach antikem Verständnis macht sich Semele, indem sie dem Rat folgt, der Hybris schuldig, was freilich ein Grundzug ihres Charakters in dieser »lyrischen Operette« ist und der von Schiller intendierten Persiflage entspricht. Indessen sind auch bei Schiller Donner und Blitz das entscheidende Merkmal von Jupiters Göttlichkeit (V. 203 und 205: »Enthüllen muss er sich!«), die kein Sterblicher ertragen kann (V. 324–326). 41 S. o., S. 19. Es ist zwar richtig, dass Tyro von Poseidon nicht vergewaltigt wird – auf diese Feststellung legt Lefkowitz 1993, 23 großen Wert –, aber wenn sie sich ihm nur deshalb hingibt, weil sie ihn für ihren Geliebten halten muss, dann wird sie natürlich dennoch zum Opfer subtiler Gewalt.

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den Werken seiner hellenistischen Vorgänger so wenig erhalten ist. Man kann manche der einschlägigen Erzählungen Ovids als eine frivole Parodie auf die in den älteren Texten noch als selbstverständlich empfundene Verhüllung der Göttlichkeit verstehen, aber dass sie unabdingbar erforderlich ist, wird auch bei Ovid nicht in Frage gestellt, ganz im Gegenteil. In den Metamorphosen finden sich nämlich auch Beispiele für einen Regelverstoß, den Götter begehen, wenn sie meinen, sie könnten eine Geliebte ohne Verwandlung und in ihrer wahren Gestalt für sich gewinnen, und mit diesem Regelverstoß wird die Regel geradezu beglaubigt: Apollon wirbt um Daphne, indem er ihr in einer großspurigen Selbstvorstellung seine göttlichen Qualitäten anpreist, und Jupiter wirbt um die Gunst Ios, indem er damit prahlt, dass er keiner von den gewöhnlichen Göttern, sondern deren König höchstpersönlich sei.42 In beiden Fällen führt die Strategie zu einem eklatanten Misserfolg; dies aber nicht etwa deshalb, weil die umworbenen Frauen erschräken vor der Größe der Gottheit wie Anchises vor Aphrodite, sondern weil sie sich dadurch nicht im geringsten beeindrucken lassen: Apollon bekommt statt der begehrten Jungfrau nur einen kühlen Lorbeerbaum, und Jupiter muss brutale Gewalt anwenden,43 um den Widerstand Ios zu brechen.44 Für die antike Auffassung, dass Götter, die sich in sterbliche Frauen verliebt haben, ihre Göttlichkeit nur deshalb verhüllen, weil sie sich ihre Liebeslust sonst nicht erfüllen könnten, sei schließlich noch ein Text als Beleg angeführt, der nicht zu den Erzählungen der mythologischen Dichtung gehört, sondern diese kommentiert. In der Phaedra Senecas, in der die unglückselige Liebe der Titelheldin im Mittelpunkt des Geschehens steht, stellt der Autor die verhängnisvollen Folgen unbeherrschter Liebe in einen größeren Zusammenhang, indem er seinen Chor an einigen berühmten Beispielen vorführen lässt, wie die Übermacht der Liebe zu einer Selbsterniedrigung der Verliebten führt.45 Sogar die Götter, so beginnt 42 Apoll: Ov. met. 1, 504–524; Jupiter: ibid. 589–597. Ein weiteres Beispiel dafür ist Merkur, der sich seiner Schönheit so gewiss ist, dass er sich nicht verwandelt, als er Herse begehrt (Ov. met. 2, 731: nec se dissimulat: tanta est fiducia formae); auch er scheitert, freilich am Neid von Herses Schwester Aglauros; er bestraft sie, und danach hat er offenbar das Interesse an Herse verloren (zum seltsamen Ende der Geschichte s. Anderson 1997, 333). Komplexer ist die Darstellung in der Geschichte von der Liebe des Sonnengottes mit Leucothoe (Ov. met. 4, 215–233). 43 Ov. met. 1, 599 f.; in der Forschung wird das eigenartigerweise meist beschönigt (so z. B. Graf 1994, 36: »bei Io [wird] der Überfall auf das Mädchen nur angedeutet«), obwohl doch gerade das Tempo der Darstellung die schockierende Brutalität dieser Vergewaltigung widerspiegelt. 44 Eine sarkastische Variante zur Preisgabe der eigenen Identität in einer solchen Situation hat Ovid in seiner Callisto-Erzählung geschaffen, denn dort gibt Jupiter sich dadurch zu erkennen, dass er Callisto vergewaltigt: nec se sine crimine prodit (met. 2, 433). 45 Sen. Phaedr. 274–357.

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die für uns relevante Perikope, ließen sich von Amor dazu zwingen, den Himmel zu verlassen, eine fremde Gestalt anzunehmen und sich auf der Erde aufzuhalten.46 Das erste Beispiel für die entwürdigende Allmacht Amors ist Apollon, der die Herden des Admet hütete, als dieser um Alkestis warb; es folgen die Verwandlungen Jupiters in einen Schwan und in einen Stier, danach die Mondgöttin Luna, die wegen ihrer Liebe zu Endymion ihren nächtlichen Wagen nicht mehr zu lenken vermochte und ihn deshalb, mit bedenklichen Folgen für den Wechsel von Tag und Nacht, dem Sonnengott überlassen musste, und den Schluss bildet Herkules, der wegen seiner Liebe zu Omphale Frauenkleider anlegte und Sklavendienste verrichtete.47 Apollon, Luna und Herkules sind auch für den modernen Leser einleuchtende Beispiele für die Selbsterniedrigung unter der Übermacht der Liebe, weil sie alle eine Rolle übernehmen, die im Widerspruch zu ihrem eigentlichen Wesen steht, und damit ihre Identität verleugnen: Apollon, der stolzeste unter den Göttern, wird Sklave und Rinderhirt, die Mondgöttin entzieht sich der ihr übertragenen Aufgabe, Natur und Weltall im Gleichgewicht zu halten, und der stärkste aller Helden erniedrigt sich selbst zu einer orientalischen Sklavin. Und genauso verleugnet eben auch Jupiter aus Liebesleidenschaft seine Göttlichkeit und nimmt eine ›niedrigere‹ Gestalt an (forma minor), indem er zum Schwan wird, um Leda zu gewinnen, aber auch, indem er sich für Europa in einen Jungstier verwandelt, der durch die Meeresfluten schwimmt wie die Schiffe.48 Indessen verwandelt Zeus in den mythologischen Erzählungen der Antike nicht nur sich selbst, sondern manchmal auch seine Geliebte, und auch hier beruht die Auffassung, er tue dies deshalb, weil er nicht von seiner eifersüchtigen Gattin wegen eines Seitensprungs zur Rechenschaft gezogen werden wollte, auf einem Missverständnis. Wenn man bedenkt, wie grausam Juno für ihre Demütigung an den Geliebten ihres Gatten Rache übt, dann ist es von vornherein viel wahrscheinlicher, dass Jupiter zumindest hin und wieder seine Geliebte vor der Verfolgung durch seine Gattin zu schützen versucht. Das sicherste Mittel dafür ist, ihnen eine Gestalt zu geben, in der sie von Juno nicht identifiziert werden können. Deshalb verwandelt Jupiter Io in eine Kuh, und er hat damit vorläufig ja auch durchaus Erfolg, weil Hera tatsächlich nicht weiß, ob ihr Verdacht zu-

46 Sen. Phaedr. 294 f.: et iubet caelo superos relicto / vultibus falsis habitare terras (»und er befiehlt den Göttern, den Himmel zu verlassen und in falscher Gestalt die Erde zu be­ wohnen«). 47 Sen. Phaedr. 296–324; bei dem Beispiel Apollon fällt auf, dass er seine Göttlichkeit für die Liebe eines anderen preisgibt. 48 Über Jupiter wird explizit gesagt, dass sogar der Gott, der das Weltall regiert, sich immer wieder durch Verwandlungen erniedrigt habe (Sen. Phaedr. 299 f.): induit formas quo­ tiens minores / ipse qui caelum nebulasque ducit! (»Wie oft nahm er selbst, der den Himmel und die Wolken lenkt, das Äußere von Geringeren an!«).

Die Verwandlungen des Zeus 

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trifft, und sich die verdächtige Kuh deshalb als Geschenk erbittet.49 Ebenso ist es in der Kallisto-Geschichte: In der Version,50 in der Zeus selbst seine Geliebte in eine Bärin verwandelt, tut er dies, damit Hera sie nicht identifizieren kann,51 und es blieb der Nachwelt vorbehalten, ihm ohne Rücksicht auf den Kontext zu unterstellen, er habe damit sich selbst vor dem Zorn Heras schützen wollen.52 Sogar in der Überlieferung der Semele-Erzählung gibt es einen Beleg für das Bestreben des Zeus, die Geliebte vor dem Zorn der Gattin zu schützen, hier freilich nicht durch eine Verwandlung. In der Kurzfassung bei Apollodor heißt es, dass Zeus Semele »heimlich vor Hera« geliebt, also seine Liebesbeziehung so lange wie möglich vor Hera geheimzuhalten versucht habe.53 In der Tat wird erst dadurch wirklich plausibel, dass Hera so spät eingreift.54 Freilich erringt sie an-

49 Zeus verwandelt Io zwar schon in dem Moment, in dem er eine Entdeckung durch Hera befürchten muss, aber er tut dies keineswegs, um sich selbst zu schützen, sondern um zu verhindern, dass Hera seine Geliebte identifizieren und an ihr Rache nehmen kann: hanc Iuppiter dilectam compressit et in vaccae figuram convertit, ne Iuno eam cognosceret (»diese verwandelte Jupiter, als er mit ihr geschlafen hatte in Kuhgestalt, damit Juno sie nicht erkennen könne«: Hyg. fab. 145, 3). 50 Zu den unterschiedlichen Versionen des Kallisto-Mythos und seiner Bestandteile (Verwandlung durch Artemis oder durch Zeus oder durch Hera) vgl. Franz bei Roscher II 1, 931–934, sowie Heinze 1919, 105 f. (= 1960, 386) und Gantz 1993, 725–728. 51 Vgl. Apollod. bibl. 3, 8, 2: [Ζεὺς] βουλόμενος δὲ ῞Ηραν λαθεῖν εἰς ἄρκτον μετεμόρφωσεν αὐτήν. Übrigens hat Jupiter sogar bei Ovid, obwohl er Callisto dort nur zur Befriedigung seines Sexualtriebs benutzt hat, am Schluss doch noch Erbarmen mit ihr und macht sie zum Sternbild, freilich mit der Begründung, dass sie nicht von ihrem Sohn unerkannt getötet werden soll (Ov. met. 2, 505–507). 52 Allerdings beginnt diese Umdeutung schon in der späteren Antike. So wird bei ›Hygin‹ die letzte der im Callisto-Kapitel astr. 2, 1 referierten Versionen mit der Bemerkung eingeleitet, Jupiter habe durch die Verwandlung seinen Fehltritt vor Juno verheimlichen wollen (ibid. 2, 1, 4: quo facilius suum peccatum tegeretur). Das ist jedoch, wie sich alsbald zeigt, eindeutig falsch, denn der Fortgang der Handlung entspricht ganz dem üblichen Muster: Juno stellt keineswegs Jupiter zur Rede, sondern sie möchte die Bärin durch Diana töten lassen. Da­ rauf wiederum reagiert Jupiter, indem er sie als Sternbild an den Himmel versetzt, und auch das ist eine Verwandlung zum Schutz und zur Rettung der Geliebten. Die zitierte Erklärung geht vielleicht auf ein Missverständnis der frechen Bemerkung zurück, die Ovid seinem Jupiter met. 2, 423 f. in den Mund gelegt hat (dazu s. u., S. 35, Anm. 71) und gehört vermutlich zu den Zusätzen, die in dieses Werk später eingedrungen sind; zu den Parallelversionen bei ›Hygin‹ vgl. Fletcher 2013, 142. 53 Apollod. bibl. 3, 4, 3 (Σεμέλης δὲ Ζεὺς ἐρασθεὶς Ἥρας κρύφα συνευνάζεται). Das erinnert an die noch länger vor Hera und allen anderen Göttern geheimgehaltene Liebe des Zeus zu Maia (s. o. S. 16). 54 In Ovids ausführlicher Erzählung ist von einer heimlichen Liebesbeziehung nicht die Rede. Da Juno dort aber erst eingreift, als bzw. weil Semele schwanger geworden ist (met. 3, 262–272), liegt die Vermutung nahe, dass in der von Apollodor referierten Version einer geheimen Liebesbeziehung erst die Schwangerschaft zur Entdeckung geführt hat, so wie auch in der Kallisto-Erzählung die Katastrophe durch die Entdeckung der Schwangerschaft ausgelöst wird.

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Voraussetzungen und Kontext

ders als in anderen Fällen nur einen ambivalenten Erfolg, denn weil Zeus dafür sorgt, dass das ungeborene Kind Semeles nicht zusammen mit der Mutter zugrundegeht, verwandelt sich ihr Triumph über die Rivalin in eine bittere Nieder­lage, die sich in der Geburt des Dionysos manifestiert. Wir können also festhalten: Die antiken Erzählungen über die Liebschaften des Göttervaters stimmen allesamt darin überein, dass er keinerlei Vorkehrungen trifft, um nicht von seiner Gattin ertappt zu werden, und dabei bleibt es – von der Komödie und Götterburleske ist natürlich abzusehen  – bis zur Spätantike.55 Er verwandelt sich allein deshalb, weil er die begehrte Frau ohne eine solche List nicht verführen, sondern allenfalls vergewaltigen könnte.56 Entsprechend dient ihm die (freilich viel seltenere) Verwandlung seiner Geliebten dazu, sie durch eine fremde Gestalt vor dem Zorn seiner Gattin zu schützen.

1.4 Zorn und Rache Heras Damit sind wir bei dem Handlungsmuster, das der Reaktion Junos auf die »adulteria« Iovis zugrunde liegt. Hier ändert sich das Bild beträchtlich, und zwar allein dadurch, dass die gekränkte Göttin zum beherrschenden Motiv der Erzählungen wird. Einerseits bleibt es dabei, dass sie es als eine unerträgliche Demütigung empfindet, wenn der Göttervater ohne ihre Beteiligung hochberühmte Kinder zeugt, aber nun fühlt sie sich auch durch die Liebesaffären ihres Gatten erniedrigt, von denen sie in der älteren Dichtung kaum Notiz zu nehmen schien. Damit war ein Reaktionsmuster vorgegeben, das vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten bot. Seit dem Hellenismus sind die Kränkungen Heras und speziell ihre weibliche Eifersucht zu einem Lieblingsthema der antiken Literatur geworden,57 so dass das Motiv der ira Iunonis (χόλος

55 Auch hier gibt es eine nur scheinbare Ausnahme: In der Io-Erzählung der Metamor­ phosen lässt Jupiter eine Nebeldecke entstehen, um Io unbemerkt vergewaltigen (!) zu können (met. 1,599 f.); aber das ist eine Erfindung Ovids, die (ebenso wie seine Version der CallistoErzählung) allein der Charakterisierung Jupiters in den ersten Büchern der Metamorpho­ sen geschuldet ist und die für den weiteren Hergang der Erzählung folgenlos bleibt; vgl. dazu Heldmann 2014, 329–341. 56 Ein eklatantes Beispiel dafür ist bei Ovid außer der Vergewaltigung Ios (s. die vorige Anm.) die Callisto-Erzählung: Jupiter versucht bei Ovid zwar, Callisto zu verführen und nimmt dafür die Gestalt der Diana an, aber als ihm das nicht schnell genug geht, vergewaltigt er sie (Ov. met. 2, 425–437). Freilich gibt es auch Ausnahmen von der Regel: In der Geschichte von Sol und Leucothoe wird mit dem Motiv gespielt (Ov. met. 4, 226–228) und in der ­Adonis-Erzählung ist überhaupt nicht davon die Rede, dass Venus sich verwandelt hätte (ibid. 10, 529–707). 57 So schon Heinze 1919, 105 f. (=1960, 386; bezogen auf die Kallisto-Erzählung): »Hellenistische Dichtung hat die eifersüchtige Hera eingeführt«.

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῞Ηρης) und ihrer daraus resultierenden Rachsucht schließlich zum Stereotyp gerann.58 Ein besonders schöner Beleg dafür, dass die Vorstellung, Hera sei erbittert auf Zeus, weil er ohne ihre Beteiligung großartige Kinder zeugt, keineswegs nur in der älteren Dichtung vorherrscht, findet sich im Delos-Hymnus des Kallimachos. Dort heißt es, gewaltig zürne Hera den Frauen, die dem Zeus Söhne geschenkt hatten, am meisten aber der Leto, weil sie dazu ausersehen war, einen Sohn zu gebären, den Zeus mehr lieben werde als Ares, also mehr als den einzigen Sohn, den sie selbst von ihrem Gatten empfangen hat.59 Beispiele aus der römischen Literatur sind die Semele-Erzählung Ovids und das Wüten Junos gegen Herkules. Nach der Darstellung Ovids ist Juno weniger über die Liebschaft Semeles mit ihrem Gatten als darüber empört, dass sie »ausgerechnet von Jupiter« schwanger geworden ist, was, so fügt sie hinzu, »selbst mir kaum gelungen ist«.60 Bei dem Beispiel Herkules lässt sich die Entwicklung des Motivs bis auf die Ilias und den erfolgreichen Versuch Heras, die Geburt des Helden zu verzögern61, zurückverfolgen. Weil Hera-Juno aber ihre Würde nun auch durch die Liebschaften ihres Gatten verletzt sieht, rückt in den jüngeren Erzählungen ihr Bedürfnis, sich für die erlittene Kränkung zu rächen, immer mehr in den Mittelpunkt des Interesses. Dennoch versucht sie auch bei den späteren Dichtern nicht, Zeus zur Rechenschaft zu ziehen, sondern übt immer nur an dessen Geliebten Vergeltung. Sehr drastisch hat Ovid dieses Reaktionsmuster in seiner Erzählung über die geschwätzige Echo geschildert. Immer wenn die Nymphen unter Jupiter gelegen hätten, so heißt es dort etwas derb, habe Echo, selbst eine Nymphe, Juno so lange mit ihrer Redseligkeit hingehalten, dass die Göttin sie nicht mehr er­ wischen konnte, und deshalb habe die erboste Juno dafür gesorgt, dass Echo nichts Eigenes mehr zu sagen vermochte:

58 Der Typus ist nicht auf eine Kränkung durch Eifersucht und auch nicht auf Hera-Juno beschränkt. Sein wichtigstes Merkmal ist, dass die Gottheit mehr oder weniger zufällig feststellt, dass sie (wieder einmal) benachteiligt und in ihrer Ehre gekränkt worden ist, und sie beschließt, das nicht länger hinzunehmen, sondern mit aller Macht in den Lauf der Dinge einzugreifen. Eines der ältesten einschlägigen Beispiele dafür ist der Poseidon der Odyssee (5, 282 ff.), ein analoges dazu aus der jüngeren Epik die Juno im ersten Buch von Vergils Aeneis: Als sie sieht, dass die Aeneaden Italien fast schon erreicht haben, besticht sie A ­ eolus, den König der Winde, damit er der Flotte des Aeneas einen Seesturm schickt (Verg. Aen. 1, 36 ff.). Seneca hat die ira Iunonis im Prolog zu seinem Hercules furens zum Paradebeispiel eines Affektmonologs gemacht (Herc. f. 1–124). 59 Call. h. 4, 55–58. 60 Ov. met. 3, 266–270; das Zitat: et mater, quod vix mihi contigit, uno de Iove vult fieri (ibid. 269 f.). Ebenso empört ist Juno über die Schwangerschaft Callistos (Ov. met. 2,­ 471–475): dazu s. u., S. 35 f. 61 Hom. Il. 19, 91–133 s. o., S. 18, Anm. 15.

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fecerat hoc Iuno, quia, cum deprendere posset sub Iove saepe suo nymphas in monte iacentis, illa deam longo prudens sermone tenebat, dum fugerent nymphae.62

Eindeutiger geht es nicht: Juno denkt überhaupt nicht daran, dass sie ihren Gatten zur Rede stellen könnte, und sie hat von vornherein kein anderes Ziel, als seiner Geliebten habhaft zu werden. Selbst bei den iurgia Iunonis, die in Ovids Metamorphosen geradezu zum Stereotyp geworden sind,63 handelt es sich niemals um einen Wortwechsel mit Jupiter, sondern entweder um Selbstgespräche, in denen Juno ihrem Zorn freien Lauf lässt, oder um Versuche, Helfer für die Realisierung ihrer Rachepläne zu gewinnen.64 In der Verfolgung der Geliebten Jupiters durch Juno bildet sich der tief­ greifende Unterschied zu den Kränkungen ab, die wir bisher betrachtet haben. Wenn sie sich dadurch gedemütigt fühlte, dass die großartigen Nachkommen des Zeus nicht zugleich auch die ihren waren, spiegelte sich in ihrer Reaktion darauf nur ihre Hilflosigkeit wider. Man denke nur daran, wie sie ihren Zorn über die Geburt Athenes aus dem Haupte des Zeus mit der Geburt des vater­ losen Hephaistos oder mit der Erschaffung eines die Menschenwelt verwüstenden Ungeheuers zu stillen versucht hatte. Bei den Liebesaffären ihres Gatten dagegen sieht sie ihre Erniedrigung in den von ihm geliebten Frauen gleichsam personifiziert und kann an ihnen mit ihrer ganzen göttlichen Macht Vergeltung üben. Weil es ihr aber nur darum geht, ihre Demütigung durch einen Sieg zu kompensieren, ist es irrelevant, ob die Geliebte sich hat verführen lassen oder ob sie von Zeus brutal vergewaltigt worden ist. Deshalb ist der Handlungsablauf immer der gleiche und endet stets mit Junos Triumph über ihre Rivalin. Besonders Ovid, aber keineswegs nur er, hat den maßlosen Zorn und die erfolgreiche Rache Junos immer wieder zum Thema gemacht. Auf die Darstellung der­ Liebesbeziehungen zu Leda und zu Danaë, bei denen Jupiter nicht als mit Juno verheiratet galt, hat er dagegen verzichtet – offenbar deshalb, weil es bei diesem Erzähltypus entweder wie im Leda-Mythos überhaupt keine Folgehandlung gab 62 Ov. met. 3, 362–365: »Das hatte Juno bewirkt, weil Echo die Göttin, wenn sie die Nymphen noch hätte erwischen können, die oft im Gebirge unter ihrem Jupiter lagen, wohlweislich mit ihren Plaudereien hinzuhalten pflegte, bis die Nymphen entkommen konnten.« Echo verfolgt und erreicht also genau das gleiche Ziel wie Jupiter, wenn er seine Geliebten durch eine Verwandlung vor seiner Gattin schützt: Ohne eine sichere Identifizierung der Geliebten kann Juno nichts gegen sie unternehmen. 63 Vgl. Ov. met. 3, 261 »profeci quid enim totiens per iurgia?« dixit (»›Was habe ich denn erreicht mit so häufigem Schimpfen?‹, sagte sie«). 64 Bömer 1969, 517 gibt eine Liste von Belegen. Soweit sie überhaupt hierher gehören, handelt es sich um Selbstgespräche Junos (Semele bzw. Ino betreffend: Ov. met. 3, 262–272 und 4, 422–431), um eine Rede an die (abwesende) Callisto (ibid. 2, 471–475) und um eine Bittrede an Oceanus und Tethys (ibid. 2, 512–530).

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oder aber wie im Danaë-Mythos eine ganz andere, deren Charakter mehr der Tragödie als dem seiner Metamorphosen entsprach.65 Von diesen beiden Handlungsmustern lässt sich noch ein dritter Typus abgrenzen. Er zeichnet sich dadurch aus, dass die Folgehandlung, wenn es denn eine gab, ursprünglich ebenfalls nichts mit Hera zu tun hatte, das Sujet jedoch später so verändert oder erweitert wurde, dass man auch von der Rache der eifersüchtigen Hera berichten konnte. Ein Beispiel für die Veränderung der ursprünglichen Erzählung ist die Leto-Geschichte, ein Beispiel für die Erweiterung ist die Kallisto-Geschichte. Im Homerischen Apollonhymnus hatte Leto keinen Ort für ihre Niederkunft gefunden, weil alle Länder und Inseln sich vor dem Gott fürchteten, den sie zur Welt bringen sollte.66 Im Delos-Hymnus des Kallimachos dagegen ist Heras Eifersucht nicht nur durch die unvergleichliche Größe des Gottes motiviert, dessen Geburt sie zu verzögern versucht, sondern erwacht viel früher und richtet sich auch gegen ihre Rivalin. Deshalb werden Letos Irrfahrten hier durch Hera bewirkt.67 Die Erzählung von der arkadischen Nymphe Kallisto ist ein besonders gutes Beispiel für die Erweiterung durch eine Folgehandlung, weil sie eigentlich zu dem Typus von Liebesgeschichten gehört, bei dem Zeus nicht als verheiratet galt, aber schon relativ früh von einem der bloßen Iovis furta zu einem »adulte­ rium« umgedeutet worden ist, so dass zwangsläufig eine von Heras Eifersucht bestimmte Fortsetzung hinzukam. Auch die Europa-Erzählung hat in der literarischen Überlieferung von jeher nichts mit Hera zu tun. Wenn man sich jedoch Zeus bei der Entführung als mit Hera verheiratet vorzustellen hätte, wie dies von der Forschung einmütig vorausgesetzt wird, dann stellt sich unausweichlich die Frage, ob und an welcher Stelle der Hergang der Erzählung und ihre Struktur überhaupt die Möglichkeit für eine Erweiterung durch eine aus der Eifersucht Heras resultierende Handlung geboten hätte. Dies lässt sich beispielhaft an der Kallisto-Erzählung überprüfen, weil sich für dieses Sujet eine Version der erweiterten Erzählung in Ovids Metamorphosen erhalten hat. 65 Von den Darstellungen des Danaë-Mythos in der griechischen Literatur ist zwar fast nichts erhalten, aber die Resümees der Mythographen genügen für die Feststellung, dass der Hergang keine Gelegenheit geboten hätte, von einem Eingreifen Heras zu berichten. Anders (zu Leda) Heinze 1919, 104 (=1960, 384); er meint, Ovid habe die Verwandlung des Gottes in ein Tier als erniedrigend empfunden und deshalb nicht darstellen wollen. 66 Dazu s. o., S. 17. 67 Call. h. 6, 55–58; so auch Ov. met. 6, 332–334. Die Verfolgung Letos und ihrer beiden Kinder durch Hera könnte ebenfalls von einem hellenistischen Dichter erfunden worden sein; Ovid leitet mit dem Vers hinc quoque Iunonem fugisse puerpera fertur die Geschichte von den lykischen Bauern ein (ibid. 6,337: »doch auch von dort musste die Wöchnerin, so erzählt man, vor Juno fliehen«).

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Für die Arkader war nur wichtig gewesen, dass Kallisto von Zeus zur Mutter ihres Stammvaters Arkas gemacht worden war. Deshalb konnten sie in ihren Erzählungen offenlassen, ob die keusche Nymphe von Zeus verführt oder vergewaltigt worden war, und es konnte ihnen auch gleichgültig sein, ob Zeus sie als Gatte Heras oder zu einer anderen Zeit geliebt hatte. Für einen Dichter dagegen, der sich des Stoffes annahm, fing die Geschichte erst hier richtig an, weil er zwischen zwei reizvollen Alternativen wählen und die Erzählung entsprechend gestalten konnte. Ovid hat diese Möglichkeit besonders konsequent genutzt und die Callisto-Geschichte zu der Geschichte einer brutalen Vergewaltigung gemacht, in der es dem Göttervater um nichts anderes als um die Befriedigung seines Sexualtriebs geht.68 Das Ende der Geschichte dagegen war festgelegt, weil Kallisto ihre Keuschheit verloren hatte und, sobald sie ihre Schwangerschaft nicht mehr verheimlichen konnte, von Artemis aus dem Kreis der jungfräulichen Nymphen ausgeschlossen werden musste.69 Weiter reicht der Spannungsbogen der Geschichte nicht, und darüber hinaus gab es außer der Geburt des Arkas nichts mehr zu erzählen. Man konnte jedoch aus diesem Ende auch den Beginn einer neuen Geschichte machen, indem man das Motiv der eifersüchtigen Zeusgattin hinzufügte, den Stoff also durch Heras Rache an der schon einmal schrecklich bestraften Kallisto anreicherte. Auf diese Weise ging die Kallisto-ArtemisErzählung in eine Kallisto-Hera-Erzählung über, und der Stoff gewann an dramatischer Intensität. Dass es sich dabei um eine Erweiterung handelt, ist in der Version Ovids, der sich aber wohl durch ein hellenistisches Vorbild hat anregen lassen,70 an den Fugen seiner Erzählung deutlich zu erkennen. Ovid eröffnet die Erzählung, indem er Jupiter die Bemerkung machen lässt, von diesem Liebesabenteuer werde Juno bestimmt nichts erfahren – wenn aber

68 Ov. met. 2,432 f.: narrare parantem / inpedit amplexu nec se sine crimine prodit (»als sie sich anschickt zu erzählen, hindert er sie durch seine Umarmung daran und verrät sich nicht ohne Vergehen«) und dazu Heldmann 2011, 51–58. Dass die Brutalität des Iupiter amans in den Metamorphosen auch bei Ovid einmalig ist, zeigt ein Blick auf die Darstellung der Vergewaltigung Callistos in den Fasten (f. 2, 162). 69 Anders Heinze 1919, 107 (= 1960, 386); aber mit der Bemerkung, Ovid lasse die »Artemis­strafe […] lediglich in der Verbannung aus der Göttin Nähe [sic] bestehen«, wird der grausame Akt der Verstoßung Callistos aus ihrer Lebenswelt in unzulässiger Weise verharmlost, und dass wir kein Vorbild aus der griechischen Dichtung dafür besitzen (Heinze ibid.) ist angesichts der überaus dürftigen Überlieferung kein Argument dafür, dass Ovid diesen Hergang erfunden hätte. Nach einer bei Apollodor referierten Version bestrafte Artemis Kallisto für den Verlust ihrer Jungfräulichkeit mit einem tödlichen Pfeilschuss (bibl. 3, 8, 2). 70 Zumindest das Eifersuchtsmotiv scheint schon Kallimachos mit der Kallisto-Erzählung verknüpft zu haben (fr. 632 Pf.), aber wohl nicht viel mehr (vgl. Pfeiffer ad loc.). Ob und in welcher Form er Hera in die Handlung eingreifen ließ, können wir nur vermuten (vgl. Gantz 1993, 726).

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doch, dann sei es ihm den Zank (iurgia) wert.71 Hier blitzt einen Moment lang der Gedanke auf, die Scheltreden Junos könnten sich doch gegen Jupiter selbst richten. Aber dazu kommt es natürlich nicht, sondern die Verse kündigen dem Leser lediglich einen späteren Auftritt Junos an, nicht jedoch den tatsächlichen Hergang der Handlung. Mit anderen Worten: Der publikumswirksame Witz, mit dem Jupiter die Attraktivität der schönen Nymphe gegen die Eifersucht seiner Gattin ausspielt, dient lediglich dazu, die Maßlosigkeit seines Liebesverlangens zu charakterisieren. Deshalb wird Junos Eingreifen wenige Verse später noch einmal angekündigt, und diesmal so, wie es dem stereotypen Handlungsmuster entspricht: Der Erzähler unterbricht seine Schilderung, um in einer Apostrophe an Juno auszurufen, dass die Göttin bestimmt gnädiger gewesen wäre, wenn sie Callistos heftige Gegenwehr gegen Jupiters Gewaltakt hätte sehen können.72 Der Auftritt Junos kann jedoch erst erfolgen, nachdem Callistos Schwangerschaft entdeckt und die Unglückliche von Diana aus dem Kreis der jungfräulichen Nymphen verstoßen worden ist.73 Sobald das erzählt worden ist, heißt es, Juno habe längst bemerkt gehabt, was geschehen war, sie habe die Bestrafung aber auf einen geeigneten Zeitpunkt verschoben.74 Damit beginnt die Juno-Callisto-Erzählung, und sie wird eingeleitet mit einer an Callisto gerichteten Scheltrede (iurgium) Junos: Die Göttin beschimpft die Nymphe als Ehebrecherin (adultera) und wirft ihr ihre Schwangerschaft vor, durch die sie selbst vor aller Augen gedemütigt worden sei.75 Hier wird bis in die Formulierung hinein sichtbar, dass es sich um eine nachträgliche Erweiterung handelt, denn die Verschiebung auf einen geeigneten Zeitpunkt ist ja nur ein Problem des Erzählers, der die Göttin erst einmal auf die Warteliste setzen muss, und zwar nicht nur bis zur Verstoßung der schwangeren Callisto, sondern sogar bis zur Geburt des Arcas, weil Juno ihre Rivalin nicht schon vor deren Niederkunft in eine Bärin verwandeln sollte. Narratologisch ist die Erweiterung der Callisto-Erzählung durch das Eifersuchtsthema vor allem deshalb interessant, weil Ovid das Handlungselement der Bestrafung durch Diana auf ein Minimum reduziert hat, so dass alles Gewicht auf Junos Rache liegt. Während er für den Akt der Vertreibung aus dem Kreise der Nymphen nur zwei Verse benötigt – die Göttin befiehlt der unrein gewordenen Nymphe knapp und emotionslos, die heiligen Quellen und ihr

71 Ov. met. 2, 423 f.: ›hoc certe furtum coniunx mea nesciet‹ inquit, ›aut si rescierit, sunt, o sunt iurgia tanti!‹ 72 Ov. met. 2, 435: adspiceres utinam, Saturnia, mitior esses! 73 Ov. met. 2, 460–465. Zu den literarischen Quellen s. Wheeler 2000, 77. 74 Ov. met. 2, 466 f.: senserat hoc olim magni matrona Tonantis / distuleratque graves in idonea tempora poenas. 75 Ov. met. 2, 471–475; es folgt die Verwandlung Callistos in eine Bärin.

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Gefolge unverzüglich zu verlassen76 – darf Juno unmittelbar danach ihrem Zorn freien Lauf lassen und sich ausführlich über die Schmach entrüsten, dass Callisto auch noch schwanger geworden ist und einen Sohn geboren hat.77 Die Motive sind fast alle dem bekannten Repertoire der Affektreden Junos entnommen, aber nicht darauf kommt es an, sondern darauf, dass die ira Iunonis zum eigentlichen Sujet der Callisto-Erzählung geworden ist.78 Sehr viel spricht dafür, dass nicht erst Ovid, sondern schon einer seiner Vorgänger die Callisto-Diana-Erzählung durch die Juno-Handlung zu erweitern und anzureichern versucht hat. Bei Ovid jedenfalls ist die ursprüngliche Intention zwar noch gut genug zu erkennen, aber die Stringenz der Erzählung doch erheblich beeinträchtigt, weil die ira Iunonis zum alles beherrschenden Thema geworden ist – so sehr, dass ein antiker Kompilator in seiner Zusammenfassung der Erzählung nur noch die Verwandlung Callistos durch die rachsüchtige Juno für erwähnenswert gehalten hat, ohne die Verstoßung der unglücklichen Nymphe und die Rolle der Göttin Diana auch nur zu erwähnen.79 Wir haben hier mithin ein illustratives Beispiel dafür, dass die Liebesbeziehungen des Göttervaters, von denen sich keine Gattin Hera gestört fühlte, im Laufe der Jahrhunderte immer weniger dem Bild entsprachen, das man sich von einem Iupiter amans machte.80 Entscheidend ist jedoch, dass es in keiner der 76 Ov. met. 2, 464 f.:›i procul hinc‹ dixit ›nec sacros pollue fontis!‹ Cynthia deque suo iussit secedere coetu (»geh fort von hier, sagte die Cynthierin, und verunreinige die heiligen Quellen nicht, und befahl ihr, sich aus ihrem Gefolge zu entfernen«). 77 Die starke Wirkung, die von dem Ausbruch von Junos Zorn unmittelbar nach der Verstoßung durch Diana ausgeht, verdankt sich dem Kunstgriff Ovids, die Reihenfolge von Ereignis und Reaktion auf das Ereignis umzukehren. Zuerst schildert er eindringlich die Verzweiflung Callistos: wie sie sich der unausweichlichen Folgen der Vergewaltigung sofort bewusst ist und sich schon von da an aus Angst vor der Entdeckung ihrer Schwangerschaft ihrer vertrauten Welt im Kreis der Diana nicht mehr zugehörig fühlt; und dann die spannungsgeladene Szene, in der Callisto sich zusammen mit den anderen Nymphen zum ›Bad der Diana‹ entkleiden muss. Daraus ergibt sich die Erzählfolge Verzweiflung über die Versto­ ßung durch Diana (V. 441–463), Verstoßung durch Diana (V. 464–465), Zorn und Rache Junos (V. 466–530). 78 Nicht einmal damit, dass Jupiter seine frühere Geliebte von ihrer Existenz als Bärin erlöst und als Sternbild an den Himmel versetzt, kann sie sich abfinden, sondern sie sieht darin eine weitere Demütigung, und sie ist erst zufrieden, als sie die Meergottheiten dazu gebracht hat, dass das Sternbild der Bärin niemals untergehen und im Meere untertauchen darf: Ov. met. 2, 508–530. 79 Hyg. fab. 177: Callisto Lycaonis filia ursa dicitur facta esse ob iram Iunonis quod cum Iove concubuit (»Von Callisto, der Tochter des Lykaon, heißt es, sie sei zu einer Bärin gemacht worden aufgrund von Junos Zorn darüber, dass sie mit Jupiter geschlafen hatte«). Die Fortsetzung der Zusammenfassung entspricht wieder der Erzählung Ovids. 80 Ein Indiz dafür ist auch die Erfindung Ovids, von Jupiter eine gewaltige Nebeldecke über der Erde entstehen zu lassen, so als ob Juno nicht mitbekommen dürfte, dass er eine schöne Frau vergewaltigt, wiewohl es in Wahrheit nur darum geht, dass die Identität dieser Frau vor Juno tunlichst geheimgehalten werden soll; dazu Heldmann 2014 passim.

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zahlreichen Erzählungen über die Liebschaften Jupiters dazu kommt, dass der Göttervater deswegen von seiner Gattin zur Rede gestellt würde, auch bei Ovid nicht, so sehr er auch manche Leser der antiken und modernen Nachwelt zu einem solchen Missverständnis verführt haben mag:81 Juno begnügt sich stets damit, die Geliebten ihres Gatten mit ihrer Rachsucht zu verfolgen. Diese Rachsucht bot den Autoren die willkommene Gelegenheit, einander mit wirkungsvollen Darstellungen zu überbieten, und deshalb ist die ira Iunonis zu einem der beliebtesten Sujets der mythologischen Dichtung geworden. Bei der Geschichte von der Entführung Europas dagegen ist kein antiker Erzähler auf die Idee gekommen, eine von Heras Eifersucht bestimmte Folgehandlung hinzuzuerfinden, und zwar ganz einfach deshalb nicht, weil hier die unabdingbare Voraussetzung dafür fehlte: Ebenso wie in der Leda- und in der Danaë-Geschichte gab es keine Hera, die sich hätte gekränkt fühlen können.82

81 S. o., S. 29 mit Anm. 52 zu dem Einschub quo facilius suum peccatum tegeretur bei Hyg. astr. 2, 1, 4. 82 Zum Erzähltyp der Leda- und der Danaë-Geschichte s. o. S. 21 f. mit Anm. 29. Es fällt auf, dass Danaë, Europa und Leda in der antiken Literatur gern zu einer Trias von Beispielen zusammengestellt worden sind; ein später Beleg dafür findet sich noch in der Anthologia­ Palatina, in der sie als königliche Jungfrauen (βασιλεύουσαι παρθενικαί) im Gegensatz zu Prostituierten (πόρναι) bezeichnet werden (5, 258; Palladas). In der modernen Literatur findet sich dieselbe Trias der ohne Heras Eifersucht geliebten Frauen in Schillers Semele-Drama: Er liebe Semele so sehr, ruft Zeus dort aus, wie er nicht einmal Europa, Danaë und Leda geliebt habe (V. 410–414)

2. Der Brautraub in der Antike und im antiken Mythos

2.1 Entführte Frauen und geraubte Bräute: Regeln und Regelverstöße Dass die Erzählung von der Liebe des Zeus zu Europa zum Typus der Entführungsgeschichten gehört, ist unbestreitbar und unbestritten. Da mit dem Begriff ›Entführung‹ aber sehr unterschiedliche mythologische Erzählungen bezeichnet werden können,1 müssen wir präzisieren, unter welchen Bedingungen und Regeln und in welchem sozialen Kontext eine Entführung nach dem Verständnis der Antike zu einem Brautraub wird, und welche Abweichungen und Regelverstöße möglich sind und welche nicht. Bei der Entehrung einer Frau ist es nach Auffassung der Antike in der Regel irrelevant, wie es dazu gekommen ist, ob durch Verführung oder durch eine List oder durch pure Gewalt. Relevant ist allein die Faktizität des Vorgefallenen.2 Das ist der Grund dafür, dass jede Frau durch ihre Schändung ihr soziales Umfeld verliert und radikal entwurzelt wird. Eine höchst eindringliche Darstellung einer solchen verzweifelten Situation hat Ovid in seiner Callisto-Erzählung gegeben. Die Nymphe ist sich sofort nach ihrer Vergewaltigung durch Jupiter dessen bewusst, dass sie Gegenwart und Zukunft verloren hat, dass sie keine Perspektive mehr besitzt.3 Grundsätzlich gilt dies auch in dem Fall, in dem eine Frau entführt wird, also bei einem Frauenraub, weil die Frau auch dadurch ihrem sozialen Umfeld dauerhaft oder auf unbestimmte Zeit entrissen wird. Indessen können mit dem Begriff Frauenraub ganz unterschiedliche Vorgänge und Handlungen bezeichnet werden, die von einander entgegengesetzten Motiven bestimmt sind und folglich auch einander entgegengesetzte Konsequenzen haben. In dem einen Fall wird ein gewaltsamer Willkür- oder Racheakt verübt, der eine Vergewaltigung einschließen kann, aber nicht muss. Die frühesten Bei-

1 Zum Typus ›Entführungsgeschichte‹ bei Hesiod vgl. Hirschberger 2004, 75 ff. 2 Vgl. Doblhofer 1994, 76 f. 3 Deshalb sind ihr Wälder und Haine jetzt verhasst, und sie weiß nicht, wohin sie gehen soll (Ov. met. 2, 438–440: huic odio nemus est et conscia silva;/ unde pedem referens paene est oblita pharetram/ tollere cum telis et quem suspenderat arcum).

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spiele dafür finden sich bei Herodot in den ersten Kapiteln seines Geschichtswerks. Es handelt sich hier um rationalisierte Versionen allgemein bekannter mythologischer Erzählungen und zugleich um die erste summarische Behandlung des Themas überhaupt.4 Zu den bei Herodot genannten Beispielen gehört auch Europa, die von einigen Hellenen, vermutlich Kretern, aus Tyros in Phönizien geraubt worden sei.5 Sehr viel deutlicher wird dieser Typus von Frauenraub in späterer Zeit und in den Berichten antiker Historiker über Frauen, die in oder nach einem Krieg von den Siegern entführt worden seien, um sie zu schänden und dadurch die besiegten Feinde zu demütigen. Betroffen davon waren aufgrund der besonderen Motivierung einer solchen Entführung in erster Linie die Ehefrauen der besiegten Feinde – die größtmögliche Entehrung einer Frau, bei der selbst die Vergewaltigung nur noch als Mittel zum Zweck dient.6 Ein Brautraub stellt den entgegengesetzten Fall dazu dar, denn hier – das ist der Kernpunkt, auf den allein es hier ankommt – entführt ein Mann eine Frau unter tatsächlicher oder rituell inszenierter Anwendung von Gewalt in sein Haus oder seine Heimat, um mit ihr eine Ehe zu schließen (conubium).7 In diesem Fall ist also eine Vergewaltigung gerade ausgeschlossen, und die Frau vertauscht ihr bisheriges mit einem neuen sozialen Umfeld, dem ihres Mannes, so dass sie ihre Zukunft nicht verliert, sondern eine gesicherte Zukunft gewinnt. Die unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass sowohl der Entführer als auch die geraubte bzw. entführte Frau noch unverheiratet ist. Deshalb kann der Brautraub weniger präzise auch als Mädchenraub bezeichnet werden (puellam rapere).8 In der patriarchalisch geprägten Vormoderne wird eine Frau durch ihre Verheiratung aus der Obhut ihres Vaters entlassen und in die Obhut ihres Gatten überführt.9 Folglich kommen Ehen in aller Regel nur durch ein Arrangement der Brauteltern mit dem Bräutigam (oder mit dessen Eltern) zustande. Prinzipiell ist auch bei einem Brautraub das Einverständnis der Brauteltern erforder 4 Hdt. 1, 1–4. Herodot referiert eine Version, die er den Persern zuschreibt und für die er sich nicht verbürgen will. 5 Hdt. 1, 4, 2. 6 Drastische Beispiele dafür bei Doblhofer 1994, 26 ff. 7 In der modernen althistorischen Forschung wird der Brautraub sehr kontrovers diskutiert. Darauf brauchen wir hier nicht einzugehen. Wichtig für uns ist, dass der Brautraub, wie Schmitz 2002, 567 f. gegen frühere Auffassungen hervorgehoben hat, nicht eine altertümliche Form, sondern eine Sonderform der Eheschließung ist und dass er »die Aufgabe hat, in bestimmten Fällen einen Konflikt zu regeln und zu entschärfen.« 8 Ein Brautraub kann auch in Gestalt einer bloßen Entführungszeremonie vorkommen und wird in archaischen Gesellschaften auch heute noch als eine Form der Eheschließung praktiziert (freilich oft nur noch im Widerspruch zu den geltenden Gesetzen). 9 Vgl. Schmitz 2002, 572 über die Bedingungen für eine legitime Ehe im antiken Griechenland: »[…] Bei der Ékdosis übergab der Kýrios die Braut dem Bräutigam, der damit die Kyrieía über die Frau übernahm. […].«

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lich, denn ohne deren Zustimmung wäre nicht gesichert, dass es sich bei dem Frauenraub wirklich um einen Brautraub und nicht um eine Entführung mit dem Ziel einer Schändung, also um einen schweren Rechtsverstoß (iniuria, ἀδίκημα) handelte. Umgekehrt kann es aber auch einen Affront oder sogar einen Rechtsverstoß darstellen, wenn die Brauteltern ihr Einverständnis grundlos verweigern. Das gilt um so mehr, je höher der Rang des Bräutigams, also des künftigen Schwiegersohns ist, und deshalb kann, wenn ein Anspruch des Schwiegersohns durch einen solchen Rang oder auch auf andere Weise begründet ist, in Grenzfällen auf die Zustimmung der Brauteltern entweder vorläufig oder ganz verzichtet werden. In einem solchen Fall kann jedoch ersatzweise das Einverständnis der Braut, das normalerweise keine Rolle spielt, bedeutsam werden und der Legitimation zugutekommen; oder besser umgekehrt: Wenn nicht nur das Einverständnis der Brauteltern, sondern auch das der Braut fehlt, kann ein Brautraub auch nachträglich kaum legitimiert werden Aus all dem folgt, dass mit einem Brautraub  – auch dies ein distinktives Merkmal im Gegensatz zu einer Verführung und einer Vergewaltigung  – die gesellschaftlichen Normen nicht nur nicht in Frage gestellt, sondern sogar bestätigt werden. Die Relevanz und die Effizienz von Regeln lassen sich am besten an Regelverstößen und deren Konsequenzen überprüfen. Eines der ganz wenigen Beispiele, die dafür in Betracht kommen, ist der ›Raub der Sabinerinnen‹, ein kollektiver Frauenraub zum Zwecke der Eheschließung, mithin ein kollektiver Brautraub.10 Er gehört zwar zum Gründungsmythos Roms, wird aber in den antiken Quellen stets als historisches Geschehen dargestellt. Nach der von Livius wiedergegebenen Version fand der Raub der Sabinerinnen zu einem Zeitpunkt statt, zu dem die Römer schon eine bedeutende Machtposition errungen hatten und sich zudem darauf berufen konnten, dass ihrer Stadt von den Göttern eine große Zukunft verheißen worden sei.11 Damit ist, auf das Modell des Brautraubs bezogen, der hohe Rang der Schwiegersöhne umschrieben. Aber diese große Zukunft ist akut gefährdet, weil es in Rom nicht genügend Frauen gibt, um Ehen zu schließen und Familien zu gründen (penuria mulierum). 10 Die Bezeichnung ›Raub der Sabinerinnen‹ ist eigentlich nicht ganz korrekt, weil von dem Brautraub nicht nur die Sabiner, sondern auch andere Nachbarvölker Roms betroffen sind; sie hat sich aber eingebürgert. 11 Liv. 1, 8. Dementsprechend sind die Nachbarvölker, als sie zum ersten Mal nach Rom kommen, ganz außerordentlich beeindruckt (ibid. 1, 9, 9). Die entgegengesetzte Version (schwache Machtposition Roms) findet sich bei Dionys von Halikarnass (ant. 2, 30–31); das Motiv des Romulus für den Brautraub ist deshalb hier nicht Frauenmangel, sondern der König verfolgt das politische Ziel, die Machtposition Roms durch kollektive Heiratsverbindungen mit den Nachbarvölkern zu festigen.

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Deshalb bemüht Romulus sich auf diplomatischem Wege, Heiratsverbindungen mit den Nachbarvölkern herzustellen. Das ist die Bitte um das Einverständnis der Brauteltern. Die römischen Gesandten werden jedoch von den Nachbarvölkern, die für die Römer nichts als Verachtung empfinden und zugleich deren wachsende Macht fürchten, nicht nur abgewiesen, sondern darüber hinaus auch noch mit Hohn und Spott übergossen und aufs schwerste beleidigt.12 Mit dieser schroffen Abweisung begehen die Brauteltern einen Rechtsverstoß (­iniuria),13 und die jungen Römer verlangen eine gewaltsame Lösung.14 Um eine geeignete Gelegenheit dafür zu schaffen, bedient Romulus sich einer List und lockt die Nachbarvölker unter einem Vorwand nach Rom. Dort gibt er den Befehl, sich der Frauen zu bemächtigen. Das ist ein hinterhältiger Bruch des Gastrechts, und dadurch, nicht jedoch durch den Raub selbst, begeht Romulus seinerseits einen Rechtsverstoß, der aber im Kontext des Gesamtgeschehens als eine durch die Notwehrsituation gerechtfertigte Antwort auf den zuvor erlittenen Rechts­ verstoß dargestellt werden kann.15 Nach der Entführung kommt alles darauf an, ihr die Legitimität zu verschaffen, durch die sie als Brautraub anerkannt werden kann. Dafür ist zweierlei erforderlich. Erstens müssen die Römer den unwiderleglichen Nachweis dafür erbringen, dass sie kein anderes Motiv für den Raub hatten als das einer Eheschließung. In der Version des Dionys von Halikarnass kommt das besonders klar zum Ausdruck. Dort plant Romulus den Brautraub in der sicheren Erwartung, dass die Nachbarvölker zwar die von ihm gewünschten Heiratsverbindungen verweigern, sich im nachhinein aber dem Zwang fügen und als Brauteltern zustimmen würden, »wenn mit dem Zwang keine Hybris verbunden sei«.16 Der Begriff ›Hybris‹ ist in diesem Kontext eindeutig: Er bedeutet nicht etwa ›Überheblichkeit‹ oder dergleichen, sondern ›Entehrung‹, und die Ent 12 Liv. 1, 9, 5. Vgl. Schmitz 2002, 568: »[…] Dabei kann der Fall eintreten, daß der Brautvater dieses Begehren ablehnt. Will der Brautwerber nun trotzdem eine Eheschließung durchsetzen, weil er die Ablehnung für unbillig hält und deshalb auf Verständnis für seine Position in der Gemeinschaft hoffen kann, bleibt ihm die freilich mit einem großen Risiko verbundene Möglichkeit, die Braut zu rauben.« 13 Liv. 1, 9, 6. Mit besonderer Entschiedenheit hat Augustinus civ. 2, 17 die Zurückweisung der Römer und ihres Ersuchens als iniuria gebrandmarkt. Freilich hätten die Römer nach seiner Überzeugung darauf nicht mit betrügerischen Mitteln (fraus) antworten dürfen, sondern sie hätten sich die ihnen von den eigenen Nachbarn verweigerten Frauen sofort mit militärischen Mitteln holen müssen. 14 Liv. 1, 9, 6: haud dubie ad uim spectare res coepit (»die Sache fing zweifellos an, sich der Gewalt zuzuneigen«); das ist möglicherweise ein Hinweis auf die ältere Version des Fabius Pictor (?), der zufolge es sich beim Raub der Sabinerinnen um eine von Romulus durchgeführte tollkühne Militäraktion gehandelt hatte (Plut. Rom. 14, 1 f. = FRH 1, fr. 9). 15 Der Aufwand für die Rechtfertigung des Rechtsverstoßes ist beträchtlich und nimmt großen Raum bei Livius ein, spielt jedoch für unsere Fragestellung keine wesentliche Rolle. 16 Dion. Hal. ant. 2, 30, 2: εἰ μηδεμία γένοιτο περὶ τὴν ἀνάγκην ὕβρις.

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ehrung einer Frau ist ihre Schändung.17 Nach der gelungenen Entführung wird der Gegensatz der beiden denkbaren Motive noch einmal mit großem Nachdruck wiederholt: Romulus befiehlt den Römern, die Frauen über Nacht unberührt zu bewahren und am nächsten Tag zu ihm zu bringen. Damit ist die Regel umschrieben, dass ein Frauenraub allein dadurch, dass der Entführer die von ihm entführte Frau nicht entehrt, sondern eine rechtmäßige Ehe mit ihr eingeht, als ein Brautraub legitimiert wird. Zweitens versucht Romulus, sein Vorgehen dadurch zu legitimieren, dass er bei den geraubten Frauen um ihre Zustimmung zu einer Eheschließung mit den römischen Männern wirbt. Im Prinzip wäre auch der Fall denkbar, dass eine Frau sich gegen den Willen ihrer Eltern von einem Mann als Braut entführen lässt,18 aber wenn dies nicht der Fall ist, dann muss wenigstens deren nachträgliches Einverständnis erwirkt werden. Es sollen also keine Zwangsheiraten stattfinden, sondern ein Konsens zwischen den Entführten und den Entführern hergestellt werden, durch den die Ablehnung der Ehen durch die Brauteltern überspielt wird. In beiden Berichten gibt Romulus sich alle erdenkliche Mühe, die Frauen davon zu überzeugen, dass sie nichts zu befürchten haben. Bei Livius wird darüber hinaus noch geschildert, wie die einzelnen Männer erfolgreich auf die weibliche Psyche eingegangen seien, indem sie den Raub mit ihrem Liebesverlangen entschuldigt und die Frauen dadurch besänftigt hätten – eine Individualisierung, die der Historiker offensichtlich den Liebesdichtern abgeschaut hat.19 Bei Dionys von Halikarnass versichert Romulus den Frauen, »dass sie nicht, um sie zu entehren, geraubt worden seien, sondern um Ehen zu schließen, was ein alter griechischer Brauch und für Frauen die angesehenste Art der Eheschließung sei, und er bat sie, diejenigen zu lieben, die ihnen das Schicksal zu Männern gegeben habe.«20 Um jedem nur möglichen Zweifel vorzubeugen, sorgt Romulus dafür, dass die Eheschließungen auch der Form nach unanfechtbar sind. In den Berichten darüber werden die Bemühungen um Rechtsförmlichkeit bei der Eheschließung mit den Sabinerinnen und um die Begründung und Wahrung der Rituale besonders ausführlich dargestellt.21 Dadurch wird 17 Dazu vgl. Doblhofer 5 ff. und 52 mit Anm. 22. 18 Schmitz 2002, 568 geht bei seiner Skizze eines Brautraubs von der Voraussetzung aus, dass »die Braut in den Plan eingeweiht«, also mit der Eheschließung einverstanden ist. 19 Liv. 1, 9, 16: accedebant blanditiae uirorum, factum purgantium cupiditate atque amore, quae maxime ad muliebre ingenium efficaces preces sunt. Dass sie mit dieser pia fraus Erfolg haben, wird ibid. 1, 10, 1 berichtet: iam admodum mitigati animi raptis erant. Der Charme der Erzählung liegt darin, dass die Männer so liebevoll lügen. 20 Dion. Hal. ant. 2, 30, 5: οὐκ ἐϕ’ ὕβρει τῆς ἁρπαγῆς, ἀλλὰ ἐπὶ γάμῳ γενομένης; ähnlich Plut. Rom. 1,6: μὴ μὲτ’ ὕβρεως μηδ’ ἀδικίας. 21 Deshalb konnte Plutarch in seinen Quaestiones Romanae für bestimmte Besonderheiten der römischen Ehe eine ›historische‹ Erklärung aus dem Raub der Sabinerinnen gewinnen; vgl. dazu Boulogne 2000, 353–363.

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der Eindruck vermittelt, dass die Integration der geraubten Frauen in ihr neues soziales Umfeld in vollkommener Weise gelungen und ihre glückliche Zukunft gesichert ist. Damit fehlt nur noch die (nachträgliche) Zustimmung der Brauteltern. Aufgrund des gesamten Ablaufs der Entführung bis hin zur einvernehmlichen Eheschließung und weil die Brauteltern ihr Einverständnis willkürlich und ohne triftigen Grund verweigert hatten, ist der Brautraub und sein Ergebnis davon aber nicht mehr tangiert, und es kommt nur noch insofern auf das Einvernehmen mit den Brauteltern an, als die Römer nicht in Feindschaft mit ihren Nachbarvölkern leben wollen. Bei der Wiedergabe der Ereignisse spiegelt sich das darin wider, dass die Sabiner, ganz so wie Romulus es in der Version des Dionys von Halikarnass vorausgesagt hatte, sich erst einmal abfinden mit dem, was geschehen ist.22 Damit akzeptieren sie stillschweigend, dass das Geschehen nicht rückgängig zu machen ist, weil nun Ehen geschlossen und Kinder geboren worden sind. Die weiteren Vorgänge und die Kriege Roms, zuerst mit den anderen Nachbarvölkern und dann auch mit den Sabinern, gehören nur noch in­ soweit zum Thema Brautraub, als Romulus am Ende auch das Einverständnis der Brauteltern erhält.23

2.2 Der Brautraub im Mythos: Proserpina und andere Fälle Gemessen an der schier unendlichen Zahl von Liebesgeschichten in der antiken Mythologie kommt der Brautraub zwar nicht allzu häufig vor, aber wenn man genauer hinsieht, findet man doch eine ganze Reihe von Göttern und Heroen, die eine Frau entführen, um sich mit ihr zu vermählen, und dazu gehören auch die drei großen Vatergottheiten Zeus, Poseidon und Hades. Bei Zeus ist das nicht von vornherein klar, weil er – von Europa sehen wir vorläufig ab – seine Gattin Hera, jedenfalls der Vulgata zufolge, nicht durch Brautraub zur Gattin gewonnen hat,24 und deshalb beginnen wir mit den anderen Beispielen, durch die wir eine sichere Grundlage für unsere Analyse gewinnen werden. 22 Vgl. auch Liv. 1, 10, 1 ff. 23 Dazu generell (und unter der Voraussetzung, dass die Braut der Entführung zugestimmt hatte) Schmitz 2002, 568: »Die Geraubte wird in ein Versteck zum Beispiel in einem Nachbardorf gebracht, wo der Freier und die geraubte Frau geschlechtlich verkehren. Damit ist der Brautvater vor vollendete Tatsachen gestellt. Der vom Brautvater abgelehnte Freier bemüht sich anschließend, über Mittelsmänner einen Ausgleich mit dem Brautvater herbeizuführen, damit das Paar in das Dorf zurückkehren kann.« 24 Immerhin gab es eine lokale Überlieferung, in der berichtet wurde, dass auch die Ehe des Zeus mit Hera durch einen Brautraub zustande gekommen sei: Plut. mor. fr. 157, 3 Sandbach (aus der Schrift de Daed. Plat.; Überlegungen dazu bei Jahn 1870, 29 f.), aber diese Überlieferung hat sich nicht durchgesetzt.

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Den Bericht über Poseidons Brautraub besitzen wir nur in einer sehr knappen Zusammenfassung: Als Poseidon Amphitrite auf Naxos beim Tanz erblickt habe, da habe er sie geraubt.25 Als allgemein bekannt vorausgesetzt und deshalb nicht eigens erwähnt wird in diesem Satz, dass das Ziel der Entführung das Reich des Meergottes ist, weil er Amphitrite zu seiner Gattin machen will.26 Die Braut tauscht ihre eigene Heimat gegen die ihres Bräutigams aus,27 und darin liegt der gewichtige Unterschied zu den vielen anderen Fällen, in denen Poseidon nur ein Liebesabenteuer sucht. Zwar gab es, wie wir gleich sehen werden, noch eine andere Version der Geschichte, in der Poseidon Amphitrite ohne Anwendung von Gewalt zur Gattin gewinnt, aber das ist nur eine Bestätigung dafür, dass das distinktive Merkmal des Brautraubs auch hier die Entführung einer Frau mit dem Ziel einer Vermählung ist. Jedenfalls feiert Poseidon, nachdem Amphitrite seine Gattin geworden ist, eine prächtige Hochzeit mit ihr, die in der spätarchaischen Vasenmalerei, ebenso wie die anderer großer Götterpaare, ein beliebtes Thema war.28 Auch in den literarischen Zeugnissen wird hervorgehoben, dass die Verbindung Poseidons mit Amphitrite sich besonderer göttlicher Gunst erfreute: Aphrodite selbst schenkt der Braut einen von Hephaistos angefertigten Hochzeitskranz, den diese später an Theseus weitergibt und der dadurch auch zum Brautkranz Ariadnes wird.29 Das wichtigste Beispiel für einen Brautraub in der antiken Mythologie ist aber zweifellos der Raub der Proserpina: Der König der Unterwelt entführt Proserpina in sein Reich, wo sie seitdem zusammen mit ihm und als seine Gattin über die Toten herrscht.30 In der älteren Überlieferung ist die Entführung noch kein Akt plötzlich entflammender Liebe, sondern Hades-Pluto raubt Persephone-Proserpina im 25 Eustath. Schol. Hom. Od. 3, 91: περὶ ἧς μῦθος ὅτι ἐν Νάξῳ τὴν Ἀμφιτρίτην χορεύουσαν ἰδῶν Ποσειδῶν ἥρπασεν. Zusammenstellung der literarischen Quellen bei Kaempf-Dimitriadou 1981, 724 f. 26 Dass Poseidon und Amphitrite verheiratet sind, ist schon bei Hesiod vorausgesetzt (Theog. 930–933). 27 Dass die Heimat des Bräutigams das distinktive Merkmal eines Brautraubs im Gegensatz zu anderen Entführungen ist, lässt sich am Beispiel Poseidon mit einem anderen Liebesraub des Poseidon illustrieren: Als der Gott sich in Mestra verliebt hat, entführt er sie nicht in seine eigene Heimat, sondern zur Insel Kos, zu der Mestra in einer, uns freilich nicht genau bekannten Verbindung steht: Hes. fr. 43 MW = fr. 37 Hirschberger, dort V. 57; vgl. Hirschberger 2004, 279. 28 Vgl. Schefold 1978, 25. 29 S. u., S. 76. 30 Die beiden relevanten literarischen Darstellungen sind der Demeterhymnus ([Hom.] h. Cer.), sowie der Gesang der Calliope in Ovids Metamorphosen (5, 341–461, im Wettstreit der Musen mit den Pieriden); darüber hinaus ist von Fall zu Fall die Version in den F ­ asten (4, 417–618) heranzuziehen. Aufgrund unserer Fragestellungen können andere wichtige Aspekte des Proserpina-Mythos ignoriert werden; aus demselben Grund soll hier auch das stätantike Epos De raptu Proserpinae des Claudian außer Betracht bleiben.

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Auftrag oder sogar auf Befehl des Brautvaters Zeus-Jupiter, der zugleich sein Bruder ist.31 Das steht im Einklang mit der Regel, dass ein Brautraub einer Zustimmung der Brauteltern bedarf, bedeutet aber zugleich einen Regelverstoß, weil der Brautraub ohne Wissen und gegen den Willen der Brautmutter Demeter-Ceres erfolgt.32 Besonders deutlich wird der Widerstreit zwischen Regelkonsens und Regelverstoß in einer von den antiken Mythographen überlieferten Variante. Dort hält Jupiter es für ausgeschlossen, dass Ceres einer Ehe ihrer Tochter mit dem König der Unterwelt zustimmen würde, und befiehlt Pluto deshalb, sie heimlich zu rauben, während sie auf dem Ätna Blumen pflückt.33 Das erinnert an die Gründe, aus denen Romulus in der Version des Dionys von Halikarnass beschließt, die Sabinerinnen mit Hilfe einer List zu rauben,34 freilich mit dem Unterschied, dass dort der Entführer die Brauteltern überlistet, während sich hier der Brautvater mit dem Entführer verbündet, um die Brautmutter zu hintergehen. Damit aber wird der Regelverstoß erst recht thematisiert. Im Normalfall wäre die fehlende Zustimmung der Brautmutter kein relevantes Hindernis, denn wenn sich in einer patriarchalischen Gesellschaft Eltern nicht einigen können, entscheidet der Vater, was geschehen soll. Aber Demeter ist eine der großen und mächtigen Gottheiten des Olymps, und deshalb gelten hier andere Regeln. Zeus ist sich dessen bewusst, dass ihm nicht die alleinige Entscheidungsbefugnis zusteht, aber er setzt sein Vorhaben dennoch und hinter Demeters Rücken ins Werk, und damit verletzt er ihre Rechte und ihre Würde ganz empfindlich. Im Homerischen Hymnus ist es geradezu ein Leitmotiv, dass Demeter als die Mutter Persephones nicht hätte übergangen werden dürfen und dass sie eine schwere Kränkung erlitten hat, aber auch sonst wird nirgendwo ein 31 Schon bei Hesiod (Theog. 913 f.) heißt es, Aidoneus habe Persephone von ihrer Mutter geraubt, der ›ratgebende Zeus‹ aber habe sie ihm gewährt (ἣν Ἀιδωνεὺς / ἥρπασε ἧς παρὰ μητρός· ἔδωκε δὲ μητίετα Ζεύς); so auch mehrfach im Demeterhymnus: [Hom.] h. Cer. 2 f.; 9; 30 und mit besonderem Nachdruck 77 ff.; vgl. dazu Richardson 1974, 139 f. 32 [Hom.] h. Cer. 39 ff., 72 f. u. ö. 33 Apollod. bibl. 1, 5, 1: Πλούτων δὲ Περσεφόνης ἐρασθεὶς Διὸς συνεργοῦντος ἥρπασεν αὐτὴν κρύφα (»Als Pluto sich in Persephone verliebt hatte, raubte er sie heimlich unter Mitwirkung des Zeus«). Ausführlicher Hyg. fab. 146: †Pluton petit ab Iove Proserpinam filiam eius et Cereris in coniugium daret.† Iovis negavit Cererem passuram ut filia sua in Tartaro te­ nebricoso sit, sed iubet eum rapere eam flores legentem in monte Aetna, qui est in Sicilia. in quo Proserpina dum flores cum Venere et Diana et Minerva legit, Pluton quadrigis venit et eam ra­ puit […]. (»Pluto bittet Jupiter, er möge ihm seine und der Ceres Tochter Proserpina zur Eheschließung geben. Jupiter erklärt, Ceres werde es nicht hinnehmen, dass ihre Tochter im finsteren Tartarus sei, befiehlt jedoch, er solle sie rauben, während sie Blumen sammle auf dem Berge Ätna, der auf Sizilien liegt. Als Proserpina dort zusammen mit Venus, Diana und Minerva Blumen sammelte, kam Pluto mit seinem Viergespann und raubte sie […]«). Der erste Satz ist zwar korrupt, aber der Sinn, nämlich dass Pluto Jupiter darum gebeten hatte, ihm Proserpina zur Frau zu geben, ist klar. 34 Dion. Hal. ant. 2, 30, 2; s. o., S. 41 f.

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Zweifel daran gelassen, dass der Göttin durch den Raub ihrer Tochter großes Unrecht widerfahren ist. Die außerordentliche Bedeutung, die man dem Einverständnis der Brauteltern mit einem Brautraub in der Antike beigemessen hat, kommt auch darin zum Ausdruck, dass die Vasenmalerei eine eigene Bildsprache dafür entwickelt hat. Besonders gut lässt sich das am Beispiel der Nereide Thetis demonstrieren, denn hier trifft der Brautwerber auf den erbitterten Widerstand der Braut, und es findet ein regelrechter Kampf zwischen den beiden statt. Anders als die literarischen Quellen haben die Vasenmaler nicht nur dargestellt, wie es Peleus gelingt, Thetis trotz ihrer Verwandlungskünste schließlich doch noch zu über­w inden, sondern sie hielten es offenbar für geboten, auch die Rolle der Brauteltern (Nereus und Doris) in diesem Konflikt zu thematisieren. Dabei kam es im Grunde natürlich nur auf den Vater an, aber der verhält sich genauso wie die anderen Brautväter: »Nereus greift bei diesen Darstellungen nie direkt in das Geschehen ein, obwohl er zumeist auf das Paar blickt und in manchen Fällen mit einer Handgeste darauf Bezug nimmt. Er wird damit zum stillen, nicht nur duldenden, sondern auch gutheißenden Beobachter des Geschehens.«35 Deutlicher als durch eine solche Ikonographie konnte man das entscheidende Kriterium für die Legitimität eines Brautraubs nicht zum Ausdruck bringen, denn dass der Brautvater dem Brauträuber Beistand leisten müsste, um den Widerstand seiner Tochter zu brechen, wäre eine absurde Vorstellung. Die einzige Ausnahme ist auch hier wieder der Raub der Persephone, aber nicht weil sie selbst, sondern weil ihre Mutter sich dem Brautraub widersetzt. Deshalb machen die Maler eine aktive Unterstützung des Brauträubers Hades durch den Brautvater Zeus zum Thema, aber auch das aktive Eingreifen Demeters, die den Brautraub zu verhindern versucht.36 Sobald die erotische Dichtung sich des Themas annahm, konnte Pluto Proserpina nur noch aus Liebe entführt haben, und deshalb wird der Raub in der jüngeren Version, die Ovid kräftig ausgemalt hat, nicht mehr durch eine Verabredung zwischen dem König des Olymp und dem der Unterwelt motiviert, sondern nun übernimmt die Liebesgöttin die Hauptrolle. Venus erblickt Pluto, als er auf der Insel Sizilien nach dem Rechten sieht, und befiehlt ihrem Sohne Amor, ihn mit seinem Liebespfeil zu treffen. Sie begründet das bei Ovid ebenso ausführlich wie geistreich, indem sie die Idee und Ideologie der römischen Weltherrschaft auf das Reich der Liebe überträgt, in dem sie selbst die Herrschaft ausübt: Die Götter des Olymps und die der Meere hat Amor sich längst 35 Bernhardt 2014, 189; ein weiteres Beispiel dafür ist der Raub der Leukippiden (ibd. 189). 36 Bernhardt 2014, 189 f.; es ist dies jedoch die absolute Ausnahme: »Ansonsten unterlassen auch die Mütter die Unterstützung des Opfers und willigen damit quasi in das Geschehen ein« (Bernhardt ibid. 190); ebenso exzeptionell ist die aktive Verteidigung Persephones durch die »kämpfenden Göttinnen« Athene und Artemis (Belege dafür aus der Vasenmalerei: Bernhardt ibid. 188).

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unterworfen, nur über den dritten Bereich, den der Unterwelt, hat er noch keinerlei Macht.37 Mit anderen Worten: Der künftige Brauträuber Pluto ist unverheiratet, er weiß noch nichts von der Liebe. Amor gehorcht dem Befehl, und als Pluto Proserpina erblickt, die gerade auf einer schönen Wiese zusammen mit ihren Gefährtinnen Blumen pflückt,38 entbrennt er sofort in Liebe zu ihr und entführt sie in die Unterwelt, die seine Heimat ist.39 Die Gewaltsamkeit der Entführung manifestiert sich wie schon im Homerischen Demeterhymnus darin, dass er sich dafür seines mit windschnellen Rossen bespannten Wagens bedient.40 Dass bei Ovid die Göttin Venus den Anstoß zu dem Brautraub gibt, bedeutet jedoch keine substantielle Änderung gegenüber den älteren Fassungen, denn es bleibt dabei, dass Pluto, wenn schon nicht auf den direkten Befehl Jupiters, so doch mit dessen stillschweigendem Einverständnis handelt. Das geht bei Ovid klar aus der Antwort Jupiters an Ceres hervor, die ihm bittere Vorwürfe wegen der Entführung Proserpinas macht und ihm vorhält, dass ihre gemeinsame Tochter es nicht verdient habe, einem Räuber (praedo) in die Hände zu fallen.41 Jupiter akzeptiert zwar das Argument, dass Proserpina auch seine Tochter sei, aber er rechtfertigt die Tat, indem er der Unterstellung, Pluto sei ein Räuber, ganz entschieden widerspricht und erklärt, dass es sich nicht um Entehrung

37 Ov. met. 5, 364–379. 38 Ov. met. 5, 391 ff.; Ov. f. 4, 425 f.; so auch schon [Hom.] h. Cer. 5 ff. und 417 ff. (mit Namens­liste und Blumenliste); die Situation ist eine typische Verführungssituation, die nicht nur einen Brautraub, sondern auch jeden anderen Mädchenraub einleiten kann. 39 Die pointierte Formulierung paene simul visa est dilectaque raptaque Diti:/ usque adeo est properatus amor (Ov. met. 5, 395 f.: »beinahe gleichzeitig wurde sie von Dis erblickt und geraubt: so schnell kam die Liebe zum Ziel«) erinnert an das berühmte veni vidi vici. Für unsere Fragestellung aufschlussreicher ist jedoch der Vergleich mit zwei Versen in der IoErzählung: cum deus inducta latas caligine terras / occuluit tenuitque fugam rapuitque pudo­ rem (Ov. met. 1, 599 f. »als der Gott die Erde weithin mit Nebel überzog und verbarg, die Fliehende aufhielt und ihr die Unschuld raubte«). Dort ist die sexuelle Befriedigung Jupiters das Motiv für die Anwendung von Gewalt (vgl. dazu Heldmann 2014, 329–331), hier dagegen der Wunsch, sich mit der Entführten zu vermählen. 40 [Hom.] h. Cer. 32 und 431 (Richardson 1974, 293); Ov. met. 5, 360 f. und besonders eindringlich ibid. 403–408. Der Wagen ist auf bildlichen Darstellungen das charakteristische Kennzeichen einer gewaltsamer Frauenentführung (dazu Cohen 1996,117 f.). 41 Ov. met. 5, 514–522. Die Bezeichnung Plutos als Räuber ibid. 521 f.: ›[…] neque enim praedone marito / filia digna tua est, si iam mea filia non est.‹ (»[…] aber einen Räuber als Ehemann hat deine Tochter ja nicht verdient, wenn sie denn meine Tochter nicht mehr ist.«). Ähnlich, aber mit dem Oxymoron praedone marito in der Parallelerzählung vom Raub der Proserpina Ov. f. 4, 591. Ein praedo ist ein Frauenräuber ohne ehrliche Absichten; in Vergils Aeneis nennt Amata, die Gattin des Latinus, den Aeneas einen praedo, weil sie ihm unterstellt, er wolle ihre Tochter entführen, so wie Paris Helena entführt habe: perfidus alta petens abducta virgine praedo (Verg. Aen. 7, 362: »der treulos aufs hohe Meer hinausfahren wird, der Räuber.«).

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und Rechtsbruch (iniuria), sondern um Liebe (amor) handle.42 Damit wird die entscheidende Rechtsfrage so deutlich formuliert, wie das in der Dichtung überhaupt möglich ist,43 zumal Jupiter die beiden Termini ›iniuria‹ und ›amor‹ selbst als die vera nomina, die zutreffenden Begriffe, bezeichnet.44 Das bedeutet: Pluto hat Proserpina nicht entführt, um seine sexuellen Begierden zu befriedigen (das wäre iniuria oder ὕβρις), sondern es war ein Brautraub aus echter Liebe,45 und Pluto will die Ehe mit ihr schließen.46 Die beiden entscheidenden Argumente, die in einem solchen Konflikt wirksam werden können, sind, wie wir am Modell der von Romulus geraubten Sabi­ nerinnen gesehen haben, der besondere Rang des Schwiegersohns und die Zustimmung der Entführten. Bei Persephone kann es, ebenso wie bei den Sabi­ nerinnen, nur darum gehen, ob sie den erlittenen Gewaltakt nachträglich legitimiert, indem sie ihre Vermählung mit dem Entführer akzeptiert. Dieses Kriterium verdient auch deshalb hervorgehoben zu werden, weil die männliche Perspektive, aus der die antiken Entführungsgeschichten erzählt worden sind und auch heute noch überwiegend gelesen zu werden pflegen, vielfach die 42 Ov. met. 5, 523–526: Iuppiter excepit ›commune est pignus onusque / nata mihi tecum; sed si modo nomina rebus / addere vera placet, non hoc iniuria factum,/ verum amor est; […]‹. (»Jupiter entgegnete: gemeinsames Unterpfand und Bürde ist unsere Tochter für mich mit dir zusammen; wenn man jedoch die Dinge zutreffend beim Namen nennen will, dann ist diese Tat kein Unrecht, sondern Liebe […].«). 43 Bömer 1976, 359 spricht deshalb von einer »pedantischen Definition«. Das kann sich freilich nur auf den Begriff iniuria beziehen, da der Gegenbegriff amor nicht der Rechtssphäre, sondern der Liebesdichtung angehört und seine spezifische Bedeutung erst dadurch erhält, dass Jupiter Pluto zugleich als den gemeinsamen Schwiegersohn bezeichnet: ›neque erit nobis gener ille pudori‹ (Ov. met. 5, 526: »und dieser Schwiegersohn wird uns nicht zur Schande gereichen«). 44 Das Bedeutungsspektrum von iniuria ist so breit, dass der jeweilige Sinn nur kontextabhängig zu bestimmen ist. Hier kann nur das Äquivalent zum griechischen ὕβρις gemeint sein, also der illegitime, weil mit der Intention einer Entehrung (Schändung) unternommene Frauenraub im Gegensatz zu einem legitimen Brautraub. Bömer 1976, 359 verweist für diese Bedeutung zu Recht auf die Digesten (attemptata pudicitia), sorgt aber für Verwirrung durch seine Kommentierung der von ihm zitierten Stellen und vor allem durch die Belege, die er für die Verwendung von iniuria im Bericht des Livius über den Raub der Sabinerinnen anführt, denn die beziehen sich allesamt gerade nicht auf die attemptata pudicitia, sondern auf die iniuria, die Romulus durch den Bruch des Gastrechts gegenüber den Eltern der raptae puellae begangen hat. Im scharfen Gegensatz dazu ist Romulus auf nichts so sehr bedacht wie auf den Schutz der raptae vor iniuria, also auf den Schutz ihrer pudicitia vor jedem nur denkbaren Übergriff, weil der Raub der Sabinerinnen nur so als Brautraub legitimiert werden kann. 45 In der Parallelversion im vierten Buch der Fasti sind die beiden Begriffe auf die Rede der protestierenden Ceres, die von dem »Unrecht der Tat« spricht (f. 4, 589: iniuria facti) und der Antwort Jupiters factumque excusat amore (f. 4, 597: »und er entschuldigt die Tat mit Liebe«) verteilt. 46 Missverstanden u. a. von Curran 1978, 218 und von Doblhofer 1994, der »einige eher kuriose Beispiele« für eine Vergewaltigung nennt und dazu auch den Raub der Proserpina rechnet (33).

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Vermutung impliziert (bei Herodot wird sie sogar offen ausgesprochen), dass eine Frau gar nicht erst geraubt würde, wenn sie damit nicht einverstanden wäre.47 Im Homerischen Demeterhymnus wird diese Frage in einem Gespräch zwischen Mutter und Tochter geklärt: Persephone versichert, dass sie mit Gewalt entführt worden sei und sich vergeblich dagegen zu wehren versucht habe,48 und lässt keinen Zweifel daran, dass sie nichts sehnlicher wünscht, als von ihrem Entführer freigelassen zu werden. In der Version der Erzählung in Ovids Metamorphosen wird der Raub ganz unerwartet aus der Perspektive des Opfers beleuchtet. Als die Quellnymphe Cyane den König der Unterwelt mit der geraubten Proserpina erblickt, stellt sie sich ihm entgegen und hält ihm vor, er könne nicht Schwiegersohn der Ceres gegen deren Willen sein: er hätte um Proserpina werben müssen und sie nicht rauben dürfen (›nec longius ibitis!‹ inquit; / ›non potes invitae Cereris gener esse: roganda,/ non rapienda fuit‹).49 Der Protest, den die couragierte Nymphe hier erhebt, ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Einmal deshalb, weil in diesem Moment niemand außer Jupiter und Pluto wissen kann, dass Proserpina gegen den Willen der Ceres geraubt worden ist. Der Erzähler hat hier also intradiegetisch einen klaren Widerspruch in Kauf genommen; das lässt darauf schließen, dass ihm viel daran gelegen war, den Regelverstoß zur Sprache zu bringen. Mindestens ebenso interessant aber ist das Argument, mit dem sie ihre Kritik noch erweitert. Wenn Pluto es schon versäumt habe, bei Ceres um Proserpina zu werben, dann hätte er sich wenigstens um die Erwiderung seiner Liebe bemühen müssen. Um das zu illustrieren, erzählt Cyane dem Gott, was ihr selbst widerfahren sei. Als sich Anapis in sie verliebt habe, da habe sie ihn geheiratet, weil sie seine Bitten erhört habe, nicht aber, weil sie wie Proserpina in Furcht und Schrecken versetzt worden wäre.50 Hier scheint für einen Moment die Welt der römischen Liebeselegie auf, aber der Kerngedanke entspricht dem Grundsatz, von dem sich Romulus nach dem Raub der Sabinerinnen leiten lässt: Wenn ein Brautraub 47 Bei Herodot wird diese Unterstellung von den Persern vorgebracht (Hdt. 1, 4, 2), und zwar als Kommentar zu der durch Frauenentführungen verursachten Feindschaft zwischen Griechen und Barbaren (Entführung von Io, Europa, Medea und Helena); dass man diese Position auch aus weiblicher Perspektive für richtig oder zumindest für pragmatisch halten kann, zeigt die Erörterung dieser Kapitel bei Lefkowitz 1993, 17–19. 48 [Hom.] h. Cer. 431 f. 49 Ov. met. 5, 414–416: »Weiter werdet ihr nicht gehen!, sagte sie; du kannst nicht Schwiegersohn der Ceres gegen ihren Willen sein; du hättest (um Proserpina) werben müssen, nicht aber sie rauben dürfen!«). 50 Ov. met. 5, 416–418: quodsi conponere magnis / parva mihi fas est, et me dilexit Ana­ pis; / exorata tamen, nec, ut haec, exterrita nupsi (»Wenn ich Großes mit Kleinem vergleichen darf: auch mich hat Anapis geliebt; aber aufgrund seiner Bitten bin ich seine Frau geworden, nicht durch Einschüchterung, wie die hier«).

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nicht im Einvernehmen mit den Brauteltern erfolgt ist, dann ist es zwingend erforderlich, das Einverständnis der Entführten zu gewinnen.51 Für einen anderen Brautraub des Mythos ist dieser Gedanke durch ein Vasenbild aus dem späten fünften Jahrhundert belegt, auf dem die Entführung der Leukippiden dargestellt ist. Dort eilt eine weibliche Gestalt, die mit dem Namen ΠΕΙΘΩ (Peitho) bezeichnet ist, schnellen Schrittes davon, denn angesichts der brutalen Gewalt, mit der sich die Dioskuren der beiden Leukippos-Töchter bemächtigen, wird die Überredungskunst nicht mehr gebraucht.52 Indessen hätte die Nymphe ihre Mahnung an den Unterweltsgott statt mit dem Verhalten ihres Liebhabers Anapis auch mit einem standesgemäßen Vorbild illustrieren können, nämlich mit der Liebe von Plutos Bruder Poseidon zu Amphitrite. Von dieser Geschichte gab es nämlich nicht nur die BrautraubErzählung, sondern, wie bereits angedeutet, noch eine andere Version. Poseidon habe, so heißt es dort, Amphitrite zur Königin an seiner Seite machen wollen, aber die Nereide sei, weil sie unbedingt Jungfrau bleiben wollte, zu Atlas geflohen. Damit habe Poseidon sich jedoch nicht abfinden wollen und habe, um die Ernsthaftigkeit seiner Werbung unter Beweis zu stellen, andere um Vermittlung gebeten. Am Ende sei ihm das auch gelungen, denn einer seiner Brautwerber, ein gewisser Delphin, habe Amphitrite umstimmen können. Zum Dank dafür habe Poseidon seinen Helfer als Sternbild in den Himmel versetzt.53 Damit kehren wir zur Persephone-Erzählung und zu dem zweiten Argument, mit dem die fehlende Zustimmung der Brauteltern relativiert oder sogar kompensiert werden kann, zurück. Dieses Argument ist, wie wir am Beispiel der Sabinerinnen-Erzählung gesehen haben, ein besonders hoher Rang des Schwiegersohns. Beim Raub der Proserpina ist es zwar nur die Brautmutter, die überzeugt werden muss, und zudem bemüht sich nicht der Entführer, sondern der Brautvater darum, aber auch in dieser Konstellation spielt das Argument eine beherrschende Rolle. Zugleich ergibt sich daraus die dramatische Wendung der Geschichte, weil Demeter sich nicht beeindrucken lässt.

51 S. o., S. 42 f. Auch bei Livius wird erzählt, die Männer hätten sich, jeder für sich, um die Erwiderung ihrer Liebe zu den Entführten bemüht. Indessen wäre die Episode dort für die (historiographische) Argumentation entbehrlich und dient eher dazu, sie unterhaltsam auszuschmücken. 52 Rotfigurige Hydria des Meidias-Malers, um 410 v. Chr. (LIMC Dioskuroi, Nr. 201); vgl. dazu auch Cohen 1996, 123 f.: auch bei Sappho ist es Aufgabe der Peitho, die Liebenden zusammenzuführen (Sapph. 1, V. 18–20 Voigt; ähnlich Ibykos fr. 288 PMG Page). 53 Hyg. astr. 2, 17: Delphinus. hic qua de causa sit inter astra collocatus, Eratosthenes ita cum ceteris dicit: Neptunum, quo tempore voluerit Amphitriten ducere uxorem et illa ­cupiens conservare virginitatem fugerit ad Atlanta, complures eam quaesitum dimisisse, in his et­ Delphina quendam nomine; qui pervagatus in insulas aliquando ad virginem pervenit eique persuasit ut nuberet Neptuno et ipse nuptias eorum administravit. pro quo facto inter sidera delphini effigiem collocavit.

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Besonders im Homerischen Hymnus nehmen die Bemühungen, auf Demeter einzuwirken und die eindringlichen Ermahnungen, sie möge sich doch auf den außerordentlich hohen Rang des Schwiegersohnes besinnen, der sie, wenn sie es recht bedenke, zu einer nachträglichen Zustimmung bewegen könne und müsse, breiten Raum ein.54 Aber Demeter besteht auf der Rückkehr ihrer Tochter, so dass Zeus schließlich nachgibt. Er schickt Hermes zum König der Unterwelt und lässt ihm befehlen, Persephone freizugeben.55 Ähnlich, nur sehr viel kürzer, wird es auch in der jüngeren Version der Metamorphosen dargestellt. Dort antwortet Jupiter auf den Vorwurf der Ceres, dass der Raub gegen ihren Willen erfolgt sei, man brauche sich dieses Schwiegersohnes wahrlich nicht zu schämen, denn Pluto sei ja sein eigener, Jupiters Bruder und stehe im Range nur durch den Zufall des Losentscheids ein wenig unter ihm. Aber noch während Jupiter das Wort ›Schwiegersohn‹ ausspricht, relativiert er den Begriff auch schon wieder, indem er ihn von der Bedingung abhängig macht, dass Ceres damit einverstanden ist,56 erklärt sich also bereit, die Rückkehr der entführten Braut zu ihrer Mutter zuzulassen. An dieser Stelle der Erzählung scheint Ceres den Machtkampf gewonnen zu haben, und damit wäre nicht nur die Argumentation mit dem hohen Rang des Schwiegersohns (als Teil des Regelsystems) wirkungslos geworden, sondern auch die Möglichkeit eröffnet, den Raub rückgängig zu machen. In Wahrheit ist die Entscheidung jedoch bereits gefallen und die Frage, ob Demeter-­Ceres ihre Zustimmung gibt oder nicht, ist nicht mehr relevant. Denn der König der Unter­welt ist zwar bereit, die entführte Braut wieder freizugeben, aber  – so wird es in der älteren Version geschildert – er lässt sie vor ihrer Rückkehr heimlich den Kern eines Granatapfels essen und bindet sie mit dieser List an die Unterwelt.57 Bei Ovid formuliert Jupiter selbst das Schicksalsgesetz, dass Proserpina an die Unterwelt gebunden bleibt, wenn sie dort irgendeine Speise zu sich 54 Besonders prägnant formuliert in den einfühlsamen Worten, die Helios an Demeter richtet ([Hom.] h. Cer. 74–86); ibid. 314–323 schickt Zeus zunächst Iris und dann eine Götterdelegation zu ihr, die sie um ein Einlenken bitten soll, aber Demeter weist das Ansinnen schroff zurück und verweigert der Erde weiterhin die Fruchtbarkeit, solange Persephone nicht zu ihr zurückgekehrt sei (ibid. 324–333) 55 [Hom.] h. Cer. 334–356. 56 Ov. met. 5, 526–529: neque erit nobis gener ille pudori, / tu modo, diva, velis. ut desint cetera, quantum est / esse Iovis fratrem! quid, quod nec cetera desunt / nec cedit nisi sorte mihi? (»[…] und dieser Schwiegersohn wird uns nicht zur Schande gereichen, sofern du es nur willst, Göttin. Angenommen, er hätte sonst nichts zu bieten – wie bedeutsam ist es, dass er Jupiters Bruder ist! Nun aber, da er keineswegs nichts zu bieten hat, und er mir nur durch den Losentscheid nachsteht?!«) Vgl. Ov. f. 4, 597–600. 57 [Hom.] h. Cer. 371–374. Zu diesen vielbehandelen Versen vgl. z. B. Richardson 1974, 275–277, Foley 1994, 56 f. sowie Lefkowitz 1993, 31. Als Persephone später ihrer Mutter davon berichtet, behauptet sie, Hades habe sie trotz ihres Sträubens dazu gezwungen, den Kern zu essen (ibid. 411–413).

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genom­men hat.58 Aber Proserpina hat, in Ovids Version ohne Zutun Plutos und ohne zu wissen, was das bedeutet, sieben Kerne eines Granatapfels gegessen, und sie ist dabei von einem Zeugen beobachtet worden, der sie verrät.59 Damit ist hier wie dort entschieden, dass Hades-Pluto die entführte Braut nicht freizugeben braucht und dass sie seine Gattin sein wird. Indessen kann man auch im Genuss der Granatapfelkerne ein Merkmal des Brautraubs erkennen, denn indem die Entführte in der Unterwelt etwas isst, integriert sie sich selbst in das Reich dessen, der sie dorthin entführt hat. Folglich gehört sie, da sie dort zumindest symbolisch Speise zu sich genommen hat, als Gattin Plutos der Unterwelt an, aber nicht ganz und gar, und kann in regelmäßigem Wechsel auf die Erde zurückkehren.60 Ovid hat diese Bedingung hier noch einmal wiederholt und mit den Worten non ita fata sinunt61 in die spezifisch römische Gedankenwelt übertragen. Die Worte klingen wie ein Zitat aus dem Proömium zu Vergils Aeneis62 und erinnern an die fata, die dem Aeneas ver­ heißen sind. Und vielleicht darf man auch daran denken, dass Romulus seinen Anspruch auf die Eheverbindungen der Römer mit den Sabinerinnen darauf gründet, dass Rom von den fata eine so große Zukunft zugesagt ist. Im Demeterhymnus ist die Erzählung damit noch nicht beendet, und sie kann auch nicht beendet sein, solange die mächtige Göttin als Verliererin dasteht. Deshalb lässt Zeus sie, nachdem sie sich dessen bewusst geworden ist, dass sie ihre Tochter künftig nur noch für einen Teil des Jahres bei sich haben wird und sie für die übrige Zeit dem König der Unterwelt überlassen muss,63 noch einmal darum bitten, in den Kreis der Götter zurückzukehren und sichert ihr dafür alle Ehren zu.64 Indem Demeter dieser Bitte nachkommt, akzeptiert sie 58 Ov. met. 5, 531 f.: ›lege tamen certa, si nullos contigit illic / ore cibos; nam sic Parcarum foedere cautum est‹ (»doch nur unter der festen Bedingung: wenn sie dort keine Speise genossen hat; denn so ist es durch Anordnung der Parzen festgesetzt«). 59 Ov. met. 5, 534–542. Dass im Homerischen Hymnus der Vorgang als solcher genügt und dass seine Bedeutung allen Beteiligten sofort bewusst ist, während einige Jahrhunderte danach der römische Dichter die Wirksamkeit von einer Zeugenaussage abhängig macht, ist zwar nur ein Detail, aber der unterschiedliche Charakter der beiden Erzählungen kommt darin sinnfällig zum Ausdruck. 60 Damit lässt sich wohl auch der scheinbare Widerspruch erklären, dass PersephoneProserpina mit dem Brautraub zur Gattin geworden ist ([Hom.] h. Cer. 342 f.) und dennoch um ihre Rückkehr und um die Auflösung der Ehe gerungen werden kann; vgl. bes. Ov. f. 4, 596 ›reddat et emendet facta priora novis‹ (»wenn er sie nur zurückgibt und seine Tat durch eine neue wiedergutmacht«) und ibid. 602 semel iuncti rumpere vincla tori (»die Bande der einmal geschlossenen Ehe zu zerreißen«). 61 Ov. met. 5, 534: »die Schicksalssprüche gestatten es nicht«. 62 Verg. Aen. 1,20: si qua fata sinant (»wenn die Schicksalssprüche es irgend gestatten sollten«); da das auf Junos begrenzte Macht bezogen ist, handelt es sich auch dort um eine unerfüllbare Bedingung). 63 [Hom.] h. Cer. 393–404. 64 [Hom.] h. Cer. 441–447; dazu Richardson 1964, 295–301.

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die Lösung des Konflikts, und das ist strukturell gesehen die nachträgliche Zustimmung der Brautmutter zu dem hinter ihrem Rücken und gegen ihren Willen geplanten Brautraub.65 Dass Demeter ihre Zustimmung zu einer Vermählung ihrer Tochter mit­ Hades so lange und so hartnäckig verweigert, ist allein darin begründet, dass sie hintergangen und in ihrer Würde aufs schwerste gekränkt worden ist. Deshalb verschließt sie sich, nachdem ihr Genugtuung widerfahren ist, nicht mehr dem Argument, dass man den König der Unterwelt nicht als Schwiegersohn ablehnen kann. Ein Gegenbeispiel dazu ist die Erzählung vom Brautraub des thrakischen Windgottes Boreas, der sich in Orithyia verliebt hat und bei deren Vater, dem König Erechtheus, um ihre Hand anhält.66 Boreas ist ein angesehener Gott, und es gibt auch nichts in seiner Person, was die Zurückweisung seiner Werbung rechtfertigen könnte. Aber Erechtheus verweigert ihm dennoch die Hand seiner Tochter, und er begründet das mit der Greueltat des ebenfalls aus Thrakien stammenden Tereus. Das ist eine willkürliche und beleidigende Zurückweisung, mit der dem Brautwerber Boreas ebenso Unrecht (iniuria) geschieht wie dem Brautwerber Romulus mit der Demütigung durch die Sabiner. Es ist also nur konsequent, wenn der verschmähte Schwiegersohn darauf ebenso wie die Römer mit einem Brautraub antwortet: Er setzt seinen Anspruch als Schwiegersohn mit Gewalt durch und entführt Orithyia in seine Heimat Thrakien, wo sie seine Gattin wird.67 Danach kommentiert er das Geschehen mit der sarkastischen Selbstkritik, er hätte gar nicht erst bitten, sondern Erechtheus gleich auf diese Weise zu seinem Schwiegervater machen sollen: hac ope debueram tha­ lamos petiisse, socerque / non orandus erat mihi sed faciendus Erechtheus.68 Das klingt wie eine Widerrede gegen die eben zitierten Worte roganda, non rapienda 65 Bei Ovid nehmen die Versuche des Göttervaters, die Brautmutter zu versöhnen, sehr viel weniger Raum ein als im Demeterhymnus, aber das entspricht der unterschiedlichen Ausgangslage: In der älteren Version hat Zeus selbst den Raub der gemeinsamen Tochter befohlen, bei Ovid hat er ihn nur gebilligt. Besonders leicht kann Ceres in der Parallelversion Ovids in den Fasti zufriedengestellt werden (Ov. f. 4, 615 f.). 66 Ovid met. 6, 675–722. Die Geschichte ist in der älteren Literatur mehrfach erzählt worden, wovon aber kaum etwas erhalten ist. Die knappe Erzählung bei Apollonios Rhodios (1, 211–218) ist bei unserer Fragestellung irrelevant. 67 Die ungerechtfertigte Zurückweisung wird mit dem Erfolg verglichen, den Cephalus bei seiner Brautwerbung hatte (Ov. met. 6, 681 f.): Boreae Tereus Thracesque nocebant (ibid. 682: »Den Boreas aber ließen Tereus und die Thraker scheitern«). Bei Ovid wird die Liebe des Boreas und die große Geduld, mit der ausgerechnet der sonst so raue Nordwind so friedfertig um ­Orithyia wirbt, stark betont: zuerst heterodiegetisch vom Erzähler (ibid. 683–685) und dann intradiegetisch in einem Selbstgespräch, das Boreas nach seiner Zurückweisung durch Erechtheus führt (ibid. 687–702). 68 Ov. met. 6, 700 f. (»Mit diesem Mittel hätte ich mich um die Vermählung bemühen müssen, und statt Erechtheus darum zu bitten, mein Schwiegervater zu werden, hätte ich ihn dazu machen müssen«.

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fuit, mit denen Cyane Pluto zur Rede gestellt hatte, weil er Proserpina geraubt hatte, statt zuvor um ihre Hand zu bitten. Der Mythos weiß aber nicht nur von Göttern, die ihre Ehe mit einem Braut­ raub begründen, sondern auch die Heroen bedienen sich dieses Mittels. Das spektakulärste Beispiel dafür ist die Entführung Helenas durch Paris, die zum Trojanischen Krieg führte. Aber für Helena war das nicht die erste Entführung, sondern als sie noch ein ganz junges Mädchen war, hatte Theseus sie zusammen mit Peirithoos aus Sparta geraubt. Die Berichte darüber gehen auf Hellanikos von Lesbos zurück, stimmen untereinander aber nicht völlig überein.69 Dass Theseus Helena zu seiner Gattin machen wollte, wird explizit nur in dem Homer-Scholion gesagt, ist aber bei Diodor und wohl auch bei Plutarch vorausgesetzt, und darin konvergieren die Berichte trotz aller Unterschiede in den Details. Nach dem Resümee des Scholiasten hatten Theseus und Peirithoos vereinbart, Töchter des Zeus zu heiraten, und zunächst Helena geraubt und zu Theseus’ Mutter Aithra nach Aphidna gebracht (es folgt der Gang in die Unterwelt mit dem Ziel, die für Peirithoos vorgesehene Persephone zu rauben). Bei D ­ iodor wird hervorgehoben, Peirithoos habe Theseus zu dem Raub überredet, als er festgestellt habe, dass dieser so wie er selbst verwitwet war. Plutarch berichtet, dass Theseus, der zum Zeitpunkt der Entführung schon fünfzig Jahre alt gewesen sei, mit Peirithoos gelost habe, wer Helena zur Gattin bekommen solle. Gemeinsam ist allen Berichten, dass es sich um einen illegitimen Frauenraub aus einer fremden Stadt nach dem Muster einer Abenteuergeschichte handelt, denn auch in der Version, in der das Ziel des Unternehmens eine Vermählung mit der Entführten ist, bleibt es völlig gleichgültig, ob sie damit einverstanden ist oder nicht.70 Das ist ganz anders bei der zweiten Entführung Helenas. Als Paris sie in seine Heimat entführen will, da ist es auch ihr eigener Wunsch, ihm zu folgen und in Troja seine Frau zu werden. Dass sie diese Entscheidung auch im nachhinein nicht verleugnet, wird in der berühmten Szene in der Ilias geschildert, in der sie zusammen mit ihrem neuen Schwiegervater Priamos auf den Mauern Trojas steht und auf das griechische Heer und ihren früheren Gatten Menelaos herabblickt.71 Paris hat also die entscheidende Regel eingehalten, dass der Entführer, wenn er denn schon mit seinem Brautraub gegen den Willen der Brauteltern (bzw. in diesem Sonderfall gegen den des Ehegatten) verstößt, zumindest 69 Hellanic. FGrHist 323a, F 18 = fr. 168a Fowler (Plut. Thes. 31.1); Hellanic. FGrHist 4, F 134 (323a, F 20) = fr.168c Fowler (Schol. A Hom. Il. 3, 144). Eine vollständige Darstellung ohne Berufung auf Hellanikos gibt Diodor (4, 63). Gantz 1993, 288–291 hat die Berichte übersichtlich zusammengestellt und analysiert. 70 Die Illegitimität wird noch dadurch gesteigert, dass Persephone verheiratet, dass­ Helena noch ein Kind ist und dass Theseus die geraubte Helena wegen des Unwillens der Athener über das Geschehen nach Aphidna zu seiner Mutter bringen muss (Diod. 4, 63). 71 Hom. Il. 3, 172–180, und dazu s. u., S. 98.

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die Zustimmung der Entführten, oder wie Cyane es in der Proserpina-Erzählung Ovids ausdrückt, deren Liebe gewonnen haben muss. Dass er dennoch ein schweres Unrecht begangen hat, weil Helena verheiratet ist und weil er sie aus dem Hause ihres Gatten72 entführt – ganz abgesehen von dem Bruch des Gastrechts, einem besonders schweren Vergehen73 –, steht auf einem anderen Blatt. Zum Abschluss sei noch die Hippodameia-Erzählung erwähnt, deren Thema eine Brautwerbung in Gestalt eines Brautraubs ist. Da Oinomaos ein Orakel fürchtet, das ihm den Tod durch seinen Schwiegersohn prophezeit, will er die Vermählung seiner Tochter verhindern und fordert jeden, der um ihre Hand anhält, zu einem Wettrennen mit Pferdegespannen heraus, bei dem einer nach dem anderen den Tod findet. Schließlich wird er von Pelops, dem Poseidon fliegende Pferde geschenkt hat, besiegt.74 Auf dem berühmten Vasenbild in Arezzo ist die Botschaft zu einer einzigen Szene verdichtet: Hippodameia steht, den Blick nach vorne gerichtet, auf dem Wagen des Pelops, sie ist bräutlich verschleiert und begrüßt freudig das göttliche Zeichen für die Gunst Aphrodites, zwei sich paarende Tauben, während die Pferde über das Meer hinweg zum Isthmos rasen.75

72 Wichtige Hinweise zu diesem Kriterium bei Lefkowitz 1993, 19. 73 Frühe Belege dafür, dass dies der entscheidende Vorwurf gegen Paris ist, finden sich bei Alkaios (fr. 283, V. 5 Voigt) und Ibykos (fr. 282, V. 10 PMG Page). Der Rechtsbruch ist der gleiche wie der des Romulus beim Raub der Sabinerinnen (dazu s. o., S. 41). 74 Bequeme Übersicht über die (literarischen und bildlichen) Quellen und weiterführende Analyse bei Gantz 1993, 540–545 (auch zu der Version mit dem Betrug des Myrtilos). 75 LIMC Hippodameia I, Nr. 23 (in Bd. V, 1990); wichtig dazu Simon 1981, 224, vgl. aber auch Cohen, 1996, 128 f.

3. Die Entführung Europas als Brautraub des Zeus1

3.1 Die archäologischen und literarischen Zeugnisse aus der Zeit vor dem Hellenismus und die Struktur der Europa-Erzählung

Die frühen Darstellungen und die Struktur der Erzählung Bevor wir damit beginnen, unsere These, dass die Antike den Europa-Mythos als einen Brautraub verstanden hat, mit der Analyse der Textzeugnisse zu begründen, müssen wir einen Blick auf die archäologischen Denkmäler werfen.2 Eine ausführliche Erörterung wäre an dieser Stelle schon wegen der Fülle des noch vorhandenen Materials nicht möglich, sie ist aber auch gar nicht erforderlich, denn die Forschung ist bei der Beschreibung und Analyse der einschlägigen Darstellungen zu Ergebnissen gelangt, die – in klarem Widerspruch zu der Prämisse, dass die Antike in dem Europa-Mythos nur eines der Liebesabenteuer des Zeus gesehen habe – nur dann plausibel sind, wenn die Künstler ein viel bedeutenderes Geschehen wiedergeben wollten.3 In der früharchaischen Kunst tritt dies dadurch zutage, dass die Entführung Europas durch Zeus das einzige große Beispiel für die Thematisierung der Liebe von Göttern zu sterblichen Frauen und Knaben ist.4 Schon bald danach, in der archaischen Zeit, ist die Vielfalt der Themen sehr viel größer, so dass sich nun auch unterschiedliche Darstellungstypen direkt miteinander vergleichen lassen. Auf der einen Seite stehen bloße Liebesszenen, auf der anderen Seite Bilder mit dem Thema Zeus und Europa, die sich dadurch auszeichnen, dass sie sämtliche

1 Eine Interpretation der literarischen Zeugnisse hat Reeves 2003 vorgelegt. Sie hat das gesamte Material mit genauer Kenntnis und großer Sorgfalt zusammengetragen und alle erhaltenen einschlägigen Texte, vom Epyllion des Moschos bis hin zur Spätantike (Nonnos), ausführlich interpretiert. Die Arbeit enthält viele kluge Beobachtungen und ist im Einzelnen oft hilfreich, darüber hinaus geht ihr Anspruch jedoch nicht. 2 Zusammenstellung des Materials: LIMC IV, Europe I, mit der Beschreibung und Kommentierung von Robertson 1988. Immer noch wichtig: Jahn 1870 und Bühler 1968, 4­ 7–72. 3 Das gilt schon für die ältere Forschung und in geradezu exemplarischer Weise für Karl Schefold, einen der besten Kenner der Materie. Seine Interpretationen lesen sich so, als ob der Autor die Deutung als Brautraub unbewusst vorausgesetzt hätte (Schefold 1978, 1981 und 1993). 4 So Schefold 1993, 58.

Seite A Europa wird von dem Stier über das Meer getragen

Abb. 1: Attisch-rotfigurige Amphora (um 500 v. Chr.) Seite B Zeus mit Zepter, Europa mit Grußgestus erwartend

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Abb. 2a: Kelchkrater des Asteas (um 330 v. Chr.) Europas Brautfahrt zu Zeus nach Kreta unter dem Schutz Aphrodites

Abb. 2b: Kelchkrater des Asteas (Ausschnitt)

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Abb. 3: Amphora des Darius-Malers (um 330 v. Chr.) Europa und der Stier unter der Obhut ihres Pädagogen und inmitten ihrer Freundinnen

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Abb. 4: Attisch-weißgrundige Schale (um 470 v. Chr.) Europa auf dem Stier, festlich als Braut geschmückt

Abb. 5: Apulischer Glockenkrater (um 360 v. Chr.) Europa vollzieht unter dem Schutz Aphrodites den Brautgestus der Anakalypsis (Entschleierung)

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Abb. 6: Kampanischer Glockenkrater (um 350/40 v. Chr.) Europa vollzieht auf dem Stier sitzend den Brautgestus der Anakalypsis; links und rechts ihre erwachsenen Söhne

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Abb. 7: Paolo Veronese, Der Raub der Europa

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Merkmale einer festlichen Hochzeit aufweisen.5 Besonders augenfällig wird der Gegensatz, wie schon Karl Schefold hervorgehoben hat, im Vergleich mit den Darstellungen eines Liebesraubes, d. h. der Ergreifung einer Frau zur Befriedigung sexuellen Verlangens.6 Dieser Gesamteindruck lässt sich aber noch konkretisieren und präzisieren. An erster Stelle ist ein Bildtypus zu nennen, bei dem nicht nur die Entführung, sondern auch deren Ziel gezeigt wird: Zeus trägt in der Gestalt eines Stiers Europa auf seinem Rücken, und Zeus in Menschengestalt erwartet und empfängt die entführte Braut als Bräutigam. Ein repräsentatives Beispiel dafür ist eine um 500 vor Christus geschaffene Amphora in der Eremitage von Sankt­ Petersburg (Abb. 1):7 Europa sitzt seitwärts auf dem Stier, bekleidet mit Chiton und Himation. Da der Stier nicht schwimmt, sondern so über das Meer galoppiert, dass seine Hufe die Meeresoberfläche nicht berühren, kann auch Europa nicht nass werden. In der linken Hand hält sie (oder besser: auf dem Arm balanciert sie)  einen fein geflochtenen Korb, der offenbar die auf der Wiese gesammelten Blumen enthält.8 Ihr konzentrierter Blick ist auf den Korb gerichtet, und ihm widmet sie ihre ganze Aufmerksamkeit, um ihn unversehrt ans Ziel zu bringen.9 Mit dem Bild der Braut korrespondiert auf der Rückseite das des Bräutigams: Dort steht Zeus, aber nun in menschlicher Gestalt. In der linken Hand hält er sein Zepter, und mit der erhobenen Rechten heißt er Europa mit einem Grußgestus willkommen.10 5 Vgl. Schefold 1978, 24 über das Vasenbild LIMC IV, Europe I, Nr. 24: »Eine Caere­taner Hydria der Villa Giulia in Rom gibt um 520 ein heiteres ionisches Landschaftsbild mit Fischen, Delphinen, Vögeln der Liebesgöttin und einem Flügelwesen, das festliche Kränze zur Hochzeit bringt; solche Flügelwesen erscheinen auch auf späteren Hochzeitsvasen.« 6 Schefold 1978, 25–27: Als Liebesräuber kennt die archaische Kunst sonst nur die niederen göttlichen Wesen, die Satyrn, die »Urwesen sinnlich-üppigen Verlangens«, aber von »solchem dionysischen Treiben ist die Europasage tief verschieden […]. Sie ist die griechische Fassung eines uralten Mythos von der Hochzeit des Stiergotts mit der großen Mutter, der Herrin des Lebens.« 7 LIMC IV, Europe I, Nr.  38 (ohne Abb.); Nachzeichnung bei Jahn 1870, Taf. V  b (Beschreibung dort p. 22 f.). 8 Der Blumenkorb steht natürlich für die Blumenwiese, auf der junge Mädchen sich aufhalten (und von dem aus sie entführt werden), und symbolisiert die Unberührtheit der Braut, die sich aus der Obhut ihrer Eltern in die Obhut ihres Mannes begibt. Auf einem Vasenbild aus derselben Zeit (LIMC IV, Europe I, Nr. 36) hält Europa ebenfalls einen solchen Korb, aber ihr Blick ist rückwärts gerichtet. 9 Vgl. Jahn 1870, 23: »Offenbar ist Europa hier nicht darauf bedacht, für sich selbst einen sicheren Halt zu suchen, sondern vielmehr besorgt, wie sie den Korb wohlbehalten fortbringe.« 10 Robertson 1988, 91 sieht in den Darstellungen dieses Bildtypus Belege für die Version des Mythos, in der Zeus sich nicht selbst verwandelt, sondern einen Stier aussendet, der Europa zu ihm nach Kreta bringen soll (dazu s. u., S. 76 f.). Das würde, wenn es zuträfe, zwar nichts an der skizzierten Botschaft ändern, ist aber doch eher unwahrscheinlich, denn die »gleichzeitige Wiedergabe des Gottes in Menschengestalt und Gestalt des Stiers ist zwar befremdlich, aber auf zahlreichen attischen und italischen Vasen bezeugt« (Schauenburg, 1981, 113).

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Die Botschaft dieses Bildes ist besonders klar, weil Europa und der Stier hier noch ganz ohne Begleitung dargestellt sind.11 Aber auch unter den Bildern des vierten Jahrhunderts, auf denen die Gruppe von einem mehr oder weniger üppigen Gefolge umgeben ist, gibt es mehrere Beispiele, die demselben Typus zuzurechnen sind. Das berühmteste ist der Kelchkrater des Assteas aus Paestum (Abb. 2), der unter dem Namen seines zeitweiligen Standortes Malibu berühmt geworden ist.12 Dort reitet Europa im Seitensitz auf einem weißen Stier über das Meer, hat den Blick aber durch eine Wendung des Kopfes nach vorn gerichtet. Sie ist mit einem bis zu den Füßen reichenden kostbaren Gewand gekleidet, trägt erlesenen Schmuck und sitzt ganz entspannt mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Stier, an dessen linkem Horn sie sich mit der rechten Hand festhält. Ihr langes Lockenhaar fällt über beide Schultern nach vorn, und mit der linken Hand umgreift sie ihren im Winde wehenden Brautschleier. Der Stier und die auf ihm reitende Europa sind umrahmt von Skylla (mit Dreizack) und Triton (mit Steuerruder), und das Meer unter ihnen wimmelt von Fischen und anderen Wassertieren, eine Andeutung des auf anderen Vasenbildern reicher ausgeführten Hochzeitsthiasos. Über Europa schwebt der geflügelte Pothos (πόθος), der die Liebessehnsucht personifiziert und in ihr erweckt. Er hält in der linken Hand ein Diadem für sie bereit. In den Zwickeln rechts und links über der Gruppe sind jeweils drei Figuren dargestellt, durch die das im Hauptbild dargestellte Geschehen versinnbildlicht und vervollständigt wird. Ihre Anordnung entspricht der Laufrichtung des Stiers von rechts nach links. Im rechten Zwickel steht ganz außen (und dadurch als größte Gestalt) Aphrodite, die die Liebe des Zeus zu Europa gestiftet und die Entführung initiiert hat (auch sie mit Diadem), links neben ihr ­Adonis und ein Erosknabe. Das ist gewissermaßen die Vorgeschichte zu dem Ritt über das Meer. Im linken Zwickel wird auf das unmittelbar bevorstehende Ereignis verwiesen. Dort steht Zeus und blickt auf die Szene herab, auch er ganz außen und korrespondierend zu Aphrodite. In der einen Hand hält er das Zepter, die andere ist zur Begrüßung in Richtung der herannahenden Europa ausgestreckt. Rechts außen steht (als Viertelfigur) Hermes mit dem Kerykaion, der Mittler von Zeus’ Willen.13 Zwischen den beiden Göttern und von ihnen umrahmt aber 11 Vgl. Robertson 1988, 90: »In early representations, E. on the bull has no company«. Dass dies nicht uneingeschränkt zutrifft, zeigt die eben erwähnte Caeretaner Hydria (LIMC IV, Europe I, Nr. 24). 12 LIMC IV, Europe I, Nr. 74 (Datierung: 340/330 v. Chr.). Maler-Signatur: Assteas. Der Krater befindet sich seit 2007 wieder in Italien (Nationalmuseum Paestum). Alle dargestellten Figuren sind durch Beischrift gekennzeichnet. Die weiteren Beispiele: LIMC IV, Europe I, Nr. 57, 59, 71 und dazu Robertson 1988, 90. 13 In dieser Funktion taucht Hermes (stellvertretend für Zeus oder zusammen mit ihm) auch auf Darstellungen vom Raub der Persephone auf: Bernhardt 2014, 192.

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grüßt eine weibliche Figur zu Europa herab. Sie trägt ein königliches Diadem auf dem Haupt und ist durch die Beischrift als die personifizierte Insel Kreta gekennzeichnet. An der Intention dieses Vasenbilds gibt es keinen Zweifel: Der Maler zeigt die Fahrt Europas, der von Zeus geliebten Braut, zu ihrer Vermählung nach Kreta, der Heimat des Göttervaters, wo sie von ihm empfangen wird.14 Es ist also keineswegs so, dass die antiken Künstler Europas »vornehme Bestimmung auf der großen Insel Kreta« feiern wollten15 und zugleich gemeint hätten, dass der Göttervater nur seine Liebeslust an ihr befriedigen wollte, und Europa ist nicht etwa »die königlichste unter den Geliebten des Zeus«,16 sondern diese Geliebte wird als königlich dargestellt, weil der Sinn ihrer Entführung nach Kreta ihre Vermählung mit dem Götterkönig ist. Die Überführung eines jungen Mädchens aus der Obhut von Vater und Mutter in die Obhut ihres künftigen Mannes ist ein Vorgang, der stets als schmerzlich und auch als gewaltsam empfunden werden kann. Deshalb sind Indizien für die Gewaltsamkeit des Geschehens kein geeignetes Kriterium, um bildliche Darstellungen eines Brautraubs von solchen, die einen aus anderen Motiven unternommenen Frauenraub zeigen, zu unterscheiden. Dass es auch bei dem Thema Entführung Europas neben Beispielen für eine ganz gelassene Europa17 solche gibt, auf denen ihre Furcht und ihr Erschrecken sichtbar wird, kann aber um so weniger überraschen, wenn die Entführte auf einem Stier sitzt, der über das Meer galoppiert. Das typologische Merkmal eines Brautraubs ist auf Vasenbildern aber ja auch gar nicht der Gesichtsausdruck der Entführten, sondern, wie wir gesehen ha 14 Ein weiteres Beispiel bietet ein von Oakley 1995, 67 f. beschriebener Fischteller aus dem 4. Jh.; dort »schwimmt Europa auf einem Stier über das fischreiche Meer zu Zeus, der sie mit seinem Zepter, auf einem Diphros sitzend, erwartet. Auch Poseidon ist in der Nähe. Europa wird von mehreren Eroten mit Bändern, Tympana und Kästchen und von einer Nereide auf einem Seepferd begleitet. Sie alle sind ihr Brautgefolge, das sie zu ihrem neuen Heim führt, in genau derselben Funktion wie Verwandte, Freunde und Eroten in den üblichen Hochzeitsdarstellungen« (St. Petersburg, Eremitage, Inv. Nr. BB 90; nicht im LIMC, aber vgl. dort Nr. 59 f.). 15 Schefold 1981, 235 zu dem Bild der Münchner Kylix: »Der Maler […] hat Europa in ihrer stolzen Schönheit fürstlicher aufgefaßt als die anderen Geliebten des Zeus – er feiert ihre vornehme phönizische Herkunft und ihre ebenso vornehme Bestimmung auf der großen Insel Kreta.« 16 Schefold 1981, 234. 17 Zu dieser Gruppe gehören auch zwei der berühmtesten Europa-Darstellungen überhaupt, nämlich die auf der weißgrundigen Münchner Kylix, auf die wir gleich eingehen werden, und die des Berliner Malers auf dem Krater aus Tarquinia aus dem frühen 5. Jh. (LIMC IV, Europe I, Nr. 2). Bei diesem Bild könnte man fast daran zweifeln, dass es sich um eine Entführung handelt, denn Europa sitzt nicht auf dem Stier, sondern sie läuft neben ihm her und hat mit dem gestreckten Arm eines seiner Hörner ergriffen, so als ob sie ihn im letzten Moment am Davonlaufen hindern und einholen wollte. Außer den Vasenbildern gehört aber wohl auch die Europa-Metope aus Selinunt (LIMC ibid. Nr. 78) hierher; dazu Giuliani 1979, 43.

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ben, die Gegenwart des Brautvaters, der durch seine Rolle als passiver Zuschauer sein Einverständnis mit dem Geschehen signalisiert.18 Bei der Entführung Europas war eine solche Bildsprache nicht möglich, weil in einer Geschichte, in der der künftige Schwiegersohn der Götterkönig war, das Einverständnis des sterblichen Brautvaters nicht zum Thema gemacht werden konnte.19 Folglich mussten die Maler, wenn sie die Botschaft explizit zum Ausdruck bringen wollten, dass Zeus sich mit Europa vermählen wollte, einen ikonographischen Ersatz für den Brautvater finden. Sie fanden ihn in dem Pädagogen und in der Amme Europas. Ein gutes Beispiel dafür ist ein großes rotfiguriges Vasenbild des Darius-Malers (Abb. 3).20 Dort geht der Stier vor Europa in die Knie, offenbar veranlasst durch eine Geste ihrer Hände und durch einen geflügelten Eros, der auf seinem Rücken sitzt und ihm mit bloßen Händen Schläge versetzt. Die Gefährtinnen Europas vergnügen sich derweil völlig unbeeindruckt auf der Blumenwiese mit einem Ballspiel,21 und am Rand steht der Pädagoge, der für Europa verantwortlich ist; er versucht aber nicht etwa einzugreifen, sondern sieht, bequem auf seinen Stock gestützt, der bevorstehenden Entführung aufmerksam zu.22 Auf einem etwa zur selben Zeit entstanden Kelchkrater ist es die Amme, die die Entführung ihres Schützlings durch ihre Anwesenheit als passive Zuschauerin legitimiert.23 Um unsere Argumentation zu vervollständigen, werfen wir noch einen Blick auf die spezifischen Attribute, mit denen Europa dargestellt wird. Wenn die Vasenmaler eine junge Frau als Braut kennzeichnen wollen, pflegen sie sie mit festlichem Schmuck auszustatten, insbesondere mit einem Brautkranz bzw. einer Brautkrone,24 die von der Braut schon bei der Heimführung getragen wird.25 Zwar sind für die Brautkrone unterschiedliche Formen überliefert, und auch die Begleiterinnen der Braut können einen solchen Schmuck tragen, so dass sich auf Hochzeitsbildern daraus nicht immer ein klares Unterscheidungsmerkmal herleiten lässt,26 aber bei Einzeldarstellungen befinden wir uns in einer ande 18 Zu dieser Bildsprache s. o., S. 46. 19 S. dazu u., S.  78. 20 Amphora des Darius-Malers, LIMC IV, Europe I, Nr. 7 (um 330 v. Chr.). Im LIMC ist nur die zentrale Szene abgebildet; vollständige Nachzeichnung bei Jahn 1870 (Tafel Ia). Die Amphora ist über drei Meter hoch. 21 Das Ballspiel ist ebenso wie das Blumenpflücken erotisch konnotiert, zumal in der unteritalischen Vasenmalerei, in der der Ball ein Attribut Aphrodites ist (Bernhardt 2014, 188). Aber auch Nausikaa spielt mit ihren Freundinnen am Meeresufer Ball, und dadurch erwacht der dort gestrandete Odysseus (Hom. Od. 6, 99–118). 22 Ausführliche Beschreibung des Bildes bei Jahn 1870, 1–4. 23 LIMC IV, Europe I, Nr.8. Europa tätschelt den Stier, die Amme steht direkt hinter ihr; in der oberen Bildzone schwebt ein geflügelter Eros, und links und rechts von ihm sitzen Zeus und Aphrodite. 24 Zur Hochzeit im antiken Athen: Oakley /Sinos 1993 (mit reichem Bildmaterial). 25 Vgl. Salis 1920/24, 203. 26 Vgl. dazu Salis 1920/24, 207 sowie Blech 1982, 75–81.

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ren Situation. Das notwendige Vergleichsmaterial bieten einige Vasenbilder, auf denen der Brauch dokumentiert ist, unvermählt verstorbene junge Frauen als Braut zu schmücken.27 Auch unter den mythologischen Einzeldarstellungen gibt es eine Gruppe von Bildern mit diesem Motiv. Sie zeigen eine junge Frau, die dem Tode geweiht ist und durch reichen Schmuck und insbesondere durch ein Diadem als Braut, nämlich als Hadesbraut gekennzeichnet wird wie zum Beispiel Antigone.28 Geradezu symbolische Bedeutung für die Kennzeichnung einer Braut aber hat der Kranz bzw. die Krone29 Ariadnes gewonnen, die nach der Vermählung mit Dionysos an den Himmel versetzt wurde. Weitere Beispiele dafür sind Antikleia als Braut des Laertes, Hippodameia bei der Hochzeit mit Peirithoos, die Hochzeit der Leukippostöchter (Entführung durch die Dioskuren) sowie Hippodameia als Braut des Pelops.30 Die zweite Gruppe solcher mythologischer Einzeldarstellungen bilden Entführungsszenen, und hier wird die Brautkrone nun in der Tat zum geeigneten Kriterium, um einen Brautraub von einem bloßen Liebesabenteuer zu unterscheiden. Durchmustert man nämlich das einschlägige Material nach typischen Darstellungen einer zeremoniellen Brauttracht – von Szenen, in denen das Diadem der einzige Schmuck der verfolgten Geliebten ist, wollen wir absehen31 –, dann wird man ausgerechnet in den wenigen Fällen fündig, in denen es sich bei der Entführung um einen Brautraub handelt, nämlich bei Helena, Oreithyia, Persephone und eben auch bei Europa.32 27 Dazu vgl. Salis 1920/24, 212–214. Repräsentative Beispiele dafür aus dem frühen 5. Jh. hat Simon 1981 behandelt: Loutrophoros in Athen (Tafel 174 und S. 125 f.) und weißgrundige Lekythos in München (Tafel XLVII und S.138). 28 Vgl. Salis 1920/24, 211 f.; die weiteren Beispiele sind Andromeda, Hesione und Danaë. Reicher Schmuck ist an sich natürlich noch kein distinktives Merkmal einer Braut, weil er zugleich auch auf die vornehme Herkunft verweist, sondern es kommt auf den Kontext an. 29 Zwischen Kranz und Krone wird auch sonst im Hochzeitszeremoniell nicht unterschieden: Salis 1920/24, 204. 30 Vgl. Salis 1920/24, 207 f. 31 Kaempf-Dimitriadou 1979, 22 unterscheidet zwei Typen von verfolgten Geliebten des Zeus: die einen sind »wie bürgerliche Mädchen mit einfachem Chiton und Himation be­ kleidet, die Haare unter einer Haube«, die anderen »wie hochrangige, adlige Koren mit reich gefaltetem und bestickten Gewändern, mit hohem Diadem und gepflegten Frisuren«; exemplarisch für den zweiten Typus steht die von Zeus verfolgte Aigina. 32 Dies das Ergebnis der Untersuchung, die Salis 1920/24 durchgeführt hat. Das ist um so bemerkenswerter, als auch er nicht davon ausgeht, dass es sich bei der Entführung Europas um einen Brautraub handelt. Dem verdankt sich die Formulierung ibid. 209 »Auf Bildern der Brautentführung und der Liebesverfolgung überhaupt [sic] finden wir fast stets auch die zeremonielle Brauttracht wiedergegeben, bisweilen nur den Schleier […], häufig aber auch den festlichen Kopfschmuck […].« Andere als die genannten Frauengestalten führt er nicht an, verweist aber ibid. 208 f. zu Recht und unter Berufung auf Furtwängler darauf, dass auch die Fahrten der Freier um Hippodameia nicht als Wettrennen, sondern als Brautraub gemeint sind.

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Ein Diadem für Europa hält Pothos auch auf dem gerade erwähnten apulischen Kelchkrater bereit, aber eines der eindrucksvollsten Beispiele für ihre Darstellung als Braut ist das Innenbild auf einer attisch-weißgrundigen Schale (Kylix) aus dem frühen fünften Jahrhundert (Abb. 4). Dort sitzt Europa auf dem Rücken eines schwarzen Stiers, ihr Gesichtsausdruck ist gelöst und fast heiter, sie wendet sich zurück und riecht an einer Blumenranke, die sie in der linken Hand hält. Sie ist in ein rotes, bis zu den Füßen reichendes Gewand gekleidet, das mit goldenen Nadeln zusammengehalten wird; die Arme sind mit goldenen Reifen geschmückt, der Hals mit einer goldenen Kette, sie trägt goldene Ohrringe und auf dem Haupt ein goldenes Diadem.33 Weitere Beispiele für das Diadem als Brautschmuck Europas sind die um etwa ein Jahrhundert jüngeren Vasenbilder in Ferrara, in London und in Paris sowie die apulische Schale in Wien, die auf etwa 440/430 datiert wird.34 Wichtiger noch als die Brautkrone ist der Schleier. Er war das Standeszeichen der verheirateten Frau im Unterschied zum Mädchen, und ihm kam rituelle Bedeutung im Hochzeitsablauf zu: Die Braut nahm verschleiert am Hochzeitsmahl teil, und den Höhepunkt des Festes bildete der Gestus der Anakalypsis, bei dem die Braut ihren Schleier vom Gesicht zog (Anakalypteria)35 Dieser Gestus ist auch auf zahlreichen mythologischen Darstellungen zu sehen. Als Beispiele dafür werden in der Forschung Darstellungen von Thetis, Persephone, Leto, den Leukippiden, Deianeira und Helena angeführt.36 Bei Europa hat man offenbar gar nicht erst danach gesucht, aber auch von ihr gibt es eine ganze Reihe von Vasenbildern, auf denen sie beim rituellen Akt der Anakalypsis zu sehen ist, und das setzt zwingend voraus, dass die Maler die Entführung als einen Brautraub mit dem Ziel einer Eheschließung verstanden haben. Herausragende Beispiele dafür sind ein apulischer und ein kampanischer Glockenkrater aus dem vierten Jahrhundert (Abb. 5 und 6).37 Hier wie dort bildet Europa den Mittelpunkt 33 LIMC IV, Europe I Nr.44. Robertson bezeichnet das Diadem dort als einen Kranz (»stephane«), Jahn 1870, 44 beschreibt es als ein »goldenes Band, über der Stirn mit Zacken verziert«. Übrigens sind sogar die Hörner des Stiers vergoldet. 34 LIMC IV, Europe I, Nr. 56 (München), 57 (London), 75 (Paris) und 72 (Wien). 35 Blech 1982, 79. 36 Vgl. z. B. Oakley 1995, 64 und Bernhardt 2014, 191. 37 Abb. 5: LIMC IV, Europe I, Nr. 4 (um 360); Abb. 6: ibid. Nr. 75 (um 350/340; s. dazu auch u., S. 79 f.). Weitere Anakalypsis-Beispiele für Europa: LIMC 56, 57, 61 und 64 (ebenfalls aus dem 4. Jh.); für sie alle gilt die Beschreibung des Brautgestus von Bernhardt 2014, 191 als die Formel, bei der »die Frau die Hand an die Schulter führt und dort ihr Himation hochzieht. […] Manchmal kann an die Stelle des Himations auch ein durchsichtiger Schleier treten, der den Hinterkopf oder das ganze Gesicht verhüllt.« Umgekehrte Gewichtung bei Oakley 1995, 64: »anstelle des Schleiers kann der Mantel der Braut über ihren Kopf hochgezogen sein«. Vielleicht gehört zu dieser Gruppe auch die nur fragmentarisch erhaltene frühe­ Metope in Delphi (LIMC IV, Europe I, Nr. 77, um 560 v. Chr.) mit dem senkrecht fallenden Manteltuch (Hinweis von J. Raeder).

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einer Szene, in der die Anakalypsis als symbolischer Akt dargestellt wird. Das eine Mal sitzt sie in einer Laube am Rande eines Gewässers; von rechts oben blickt Aphrodite zusammen mit dem geflügelten Eros zu ihr herab, während der Stier, ähnlich wie auf der Amphora des Dariusmalers (Abb. 3) eine unterwürfige Geste zu ihr hin macht (»Kotau« und »Kratzfuß«). Das andere Mal (Abb. 6) sitzt sie seitlich auf dem Stier und ist von ihren erwachsenen Söhnen umgeben. Zum ikonographischen Repertoire von Brautdarstellungen gehören aber auch Geschenke, insbesondere Körbe oder Gefäße, die in der Regel von Mädchen getragen werden, die zur Begleitung der Braut gehören.38 Wenn solche Begleiterinnen fehlen, was in Entführungsszenen ganz natürlich ist, muss der Maler diese Attribute der Braut selbst in die Hand geben. Zwei Beispiele dafür sind die bereits behandelten Vasenbilder aus dem frühen fünften Jahrhundert, auf denen Europa einen Korb in der Hand hält.39 Die Botschaft der archäologischen Denkmäler besäße schon für sich genommen Beweiskraft genug, aber die der Schriftquellen stimmt damit ganz überein. Von den literarischen Darstellungen aus den Jahrhunderten zwischen Homer und dem Hellenismus sind zwar nur noch Bruchstücke und spätere Zusammenfassungen erhalten, doch das überlieferte Textmaterial enthält aussagekräftige Details, die auf den bildlichen Darstellungen naturgemäß fehlen, und insgesamt ist sein Informationswert völlig ausreichend, um die Frage zu beantworten, ob die Dichter dieser Epoche den Mythos ebenfalls als eine »hochzeitliche Entführung« verstanden haben oder nicht. Deshalb lässt sich die auf den Vasenbildern erkennbare Interpretation des Mythos durch die literarischen Zeugnisse präzisieren und sichern, und es erweist sich, dass die Entführung Europas auch in der griechischen Dichtung vermutlich von Anfang an, ganz gewiss aber seit dem sechsten Jahrhundert, als Brautraub des Zeus begriffen worden ist. Die wichtigsten Texte, die dafür herangezogen werden müssen, stammen aus den nur fragmentarisch überlieferten Frauenkatalogen Hesiods und aus einer im übrigen fast vollständig verlorenen Tragödie des Aischylos, die den Doppeltitel Die Karer oder Europa trug. Hinzuzunehmen ist eine kleine Versgruppe im siebzehnten Dithyrambos des Bakchylides.40 Hesiods Europa-Erzählung wird für uns vor allem durch ein Kurzreferat repräsentiert, das zu den sog. historiae der Ilias-Scholien gehört und für das sich 38 Blech 1982, 75. 39 LIMC IV, Europe I, Nr. 36 und 38. Hinzuzunehmen ist ein um 400 n. Chr. entstan­ denes Mosaik in Djemila/ Algerien (ibid. Nr. 164). Auf den beiden zuletzt genannten Bildern befinden sich Europa und der Stier bereits auf dem Meer. 40 Weitere Belege bei Bühler 1960, 17 ff., Bühler 1968, 25 ff., Radt 1985, 217 und Robinson 1988, 76. Die Popularität des Europa-Mythos in der Lyrik des siebten und sechsten sowie in der attischen Dichtung des fünften Jahrhunderts v. Chr. hat Reeves 2003, 31–34 do­kumentiert.

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der Scholiast (Mythographus Homericus) in der subscriptio außer auf Hesiod auch auf Bakchylides beruft:41 Εὐρώπην τὴν Φοίνικος Ζεὺς θεασάμενος ἔν τινι λειμῶνι μετὰ νυμφῶν ἄνθη ἀναλέγουσαν ἠράσθη, καὶ καθελθὼν ἤλλαξεν ἑαυτὸν εἰς ταῦρον καὶ ἀπὸ τοῦ στόματος κρόκον ἔπνει· οὕτως τε τὴν Εὐρώπην ἀπατήσας ἐβάστασε, καὶ διαπορθμεύσας εἰς Κρήτην ἐμίγη αὐτῇ. εἶθ’ οὕτως συνῴκισεν αὐτὴν Ἀστερίωνι τῷ Κρητῶν βασιλεῖ. γενομένη δὲ ἔγκυος τρεῖς παῖδας ἐγέννησε Μίνωα Σαρπηδόνα καὶ Ῥαδάμανθυν. ἡ ἱστορία παρ’  Ἡσιόδῳ καὶ Βακχυλίδῃ. Als Zeus Europa, die Tochter des Phoinix erblickte, wie sie auf einer Wiese zusammen mit Nymphen Blumen pflückte, wurde er von Liebe ergriffen; und er kam herab, verwandelte sich in einen Stier und ließ Krokosduft aus seinem Maul verströmen. Indem er Europa auf diese Weise täuschte, nahm er sie auf seinen Rücken, und nachdem er das Meer bis nach Kreta durchschwommen hatte, vereinigte er sich mit ihr. So gab er sie danach Asterion, dem König der Kreter, in den Ehestand. Sie war aber schwanger geworden und gebar drei Kinder, Minos, Sarpedon und Rhadamanthys. Die Geschichte steht bei Hesiod und Bakchylides.

Es spricht viel dafür, dass das Scholion »im wesentlichen ein Auszug aus einem mit Ps.-Apollodor verwandten, gegenüber dem erhaltenen Apollodortext aber ausführlicheren Handbuch« ist.42 Wir müssen freilich damit rechnen, dass die Mythographen auch Elemente in ihre Kurzreferate aufgenommen haben, mit denen die Geschichte erst später, also in hellenistischer Zeit, angereichert worden ist,43 ohne dass sie solche Zusätze kenntlich gemacht hätten.44 Folglich können die Verweise auf die literarischen Quellen am Schluss der Zusammenfassung mit größerer Sicherheit immer nur auf die Geschichte insgesamt und nicht unbesehen auch für jedes Detail in Anspruch genommen werden. Das betrifft, wie gleich zu zeigen sein wird, in dem zitierten Text die Nachricht, Zeus habe Europa dem König Asterion zur Gattin gegeben, nicht jedoch die Angabe, dass er drei Kinder mit ihr gezeugt habe.45 Nicht nur im Hinblick auf Details viel fragwürdiger als die Berufung auf Hesiod ist freilich die auf Bakchylides, 41 Schol. AB Hom. Il. M (12), 292 (I 427 / III 506 Dindorf). Hesiod: fr. 140 MW = 89 Most; Bakchylides: fr. 10 Maehler. 42 Bühler 1968, 29; s. auch Bühler 1960, 18 f. (dort auch Hinweise auf die ältere ­Forschung). 43 Schon Eduard Schwartz hat darauf hingewiesen, dass die Bildung von jedem verlangte, »dass er die Sage als das Object der Poesie kannte«, und dass die Handbücher verfasst wurden, um darüber, also über die Vulgata einer mythologischen Erzählung, zuverlässig zu informieren (Schwartz 1894, 2880). Folglich können wir nur darüber spekulieren, wie groß der Anteil des in der subscriptio genannten πρῶτος εὑρετής ist. 44 Zu den tatsächlichen und den vermeintlichen Verweisen der antiken Mythographen auf Hesiod als literarische Quelle s. Heldmann 2015, 292–296. Argumente dafür, dass die Homerscholien Material aus Apollodors Bibliothek übernommen haben, bei Fowler 2013, 378–384. 45 Zu Asterion s. weiter unten am Ende dieses Kapitels.

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denn bei ihm sind wohl doch nur Einzelzüge belegt und nicht die Geschichte insgesamt.46 Die Eingangssituation – Zeus erblickt Europa auf einer Wiese, als sie inmitten von Nymphen Blumen pflückt – entspricht der beim Raub der Proserpina, ist aber typisch für jede Mädchenentführung, also kein distinktives Merkmal eines Brautraubs. Erst mit der Verwandlung in einen Stier gewinnt die Erzählung ihr besonderes Profil. Die religionshistorische Bedeutung des Stiermotivs und dessen Bezug auf den Götterkönig können wir hier beiseitelassen und uns mit der Feststellung begnügen, dass dem Stier die Aufgabe zukommt, Europa über das Meer zu tragen. Besonders hervorgehoben werden muss zweierlei. Erstens ist die Verwandlung eine List, die ausschließlich Europa gilt. Das ergibt sich so klar wie nur möglich aus den Worten οὕτως τε τὴν Εὐρώπην ἀπατήσας und entspricht unserer Beobachtung, dass in den erotischen Erzählungen des antiken Mythos die Selbstverwandlung ein strategisches Mittel der Götter zur Erfüllung ihrer Liebessehnsucht ist.47 Der Gedanke, Zeus wäre verheiratet und wollte mit seiner Verwandlung auch Hera täuschen, ist mit dem Wortlaut des Textes nicht vereinbar, und das gilt, wie wir noch sehen werden, mutatis ­mutandis generell für die Europa- Erzählungen der Antike, ausgenommen nur die letzte in den Dionysiaka des Nonnos. Deshalb ist der nach Krokos duftende Atem ein so wichtiges Moment seiner List, dass es auch in einer Zusammenfassung eigens hervorgehoben zu werden verdient: Europa soll durch den betörenden Duft dazu verleitet werden, auf den Rücken des Stiers zu steigen und sich über das Meer tragen zu lassen. Zweitens unterscheidet sich die Liebe des Zeus zu Europa dadurch vom üblichen Muster der amores deorum (und daran hat auch Nonnos sich gehalten), dass es ihm keineswegs darum geht, möglichst rasch eine Leidenschaft zu befriedigen wie in all den anderen Fällen, in denen entweder er selbst oder ein anderer Gott eine Geliebte zu verführen oder zu vergewaltigen versucht,48 sondern der Göttervater nimmt sich Zeit. Er lockt Europa fort von dem Ort, an dem er sie erblickt hat, und bringt sie an einen anderen Ort, und zwar nicht an irgendeinen Ort, sondern er entführt Europa aus ihrer phönizischen Heimat nach Kreta (διαπορθμεύσας εἰς Κρήτην). Kreta aber ist der Ort, an dem Zeus selbst nach ältester Überlieferung geboren und aufgezogen worden war,49 und erst dort, in der Heimat des Bräutigams (der nun wieder 46 Wie der Verweis auf Bakchylides zu verstehen ist, ist in der Forschung umstritten, weil in dith. 17 nur ganz kurz auf die Europa-Geschichte eingegangen wird und von einer eigenständigen Erzählung nichts bekannt ist. Die Argumente und Gegenargumente hat Bühler 1960, 19 knapp zusammengefasst; vgl. auch Campbell 1991, 4. 47 Dazu s. o., Kap. 1.3. 48 Die besten Beispiele dafür sind in Ovids Metamorphosen die Erzählungen von Jupiter und Io, Jupiter und Callisto sowie von Apollo und Daphne. 49 Der älteste literarische Beleg dafür ist Hes. theog. 477–480 (zu den Einzelheiten s. West 1966, 297 f.), aber die kretische Geburtslegende stammt schon aus vorgriechischer Zeit.

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zum anthropomorphen Gott geworden ist), findet die Vereinigung von Braut und Bräutigam statt (ἐμίγη αυτῆι).50 Mithin ist auch hier das distinktive Merkmal eines Brautraubes im Unterschied zu anderen Formen der Frauenentführung gegeben. Außer dem Kurzreferat des Mythographus Homericus besitzen wir aber noch ein Papyrusfragment aus Hesiods Frauenkatalogen, das als dessen Vorlage angesehen werden darf.51 Es enthält etwa dreißig Verse, von denen jedoch nur jeweils die zweite Hälfte erhalten ist, und deshalb muss hier trotz aller Bemühungen der Forschung, das Verlorene zurückzugewinnen, manches unsicher bleiben. Der erhaltene Teil beginnt mit dem Moment, in dem Europa sich bereits auf dem Meer befindet: ….. ….. … ] πέρησε δ’ ἄρ’ ἁλμυρὸν ὕδωρ πατρίδος ἒκ Κρήτηνδε] Διὸς δμηθεῖσα δόλοισι.52

Auch hier ist die List des Zeus klar auf Europa bezogen, die er durch seine Verwandlung zu einer unfreiwilligen Seefahrt hat verleiten können.53 Bei den Worten πατρίδος ἒκ Κρήτηνδε handelt es sich zwar nur um eine Ergänzung, die aber als Analogon zu der Angabe διαπορθμεύσας εἰς Κρήτην im Kurzreferat des Mythographen so gut wie sicher und in der Forschung unumstritten ist.54 Noch deutlicher ist der Bezug auf Kreta als die Heimat des Entführers im siebzehnten Dithyrambos des Bakchylides, denn dort heißt es, die Vereinigung habe »unter der Schläfe des Idagebirges« stattgefunden55 also in der Diktäischen Grotte, in der Zeus der mythischen Überlieferung zufolge geboren worden war, 50 Dass Zeus Europa nach Kreta bringt, um sich dort mit ihr zu vereinigen, »ist schon für die Fassung anzunehmen, die in Il. Ξ 321 f. vorausgesetzt ist« (Maehler 1997, 190), und das ist die auch bei den späteren Autoren belegte Vulgata. Das Gegenbeispiel ist Aigina: Zeus verwandelt sich in einen Adler (nach Ov. met. 6, 113 in Feuer) und entführt sie zu der Insel­ Oinone (Herodot 8, 46, 1) oder Oinopia (Ov. met. 7, 473 f.). 51 P. Oxy. 1358 fr. I, 1, ed. Grenfell-Hunt; P. Reinach 77 = Hes. fr. 141 MW = 90 Most = 56 Hirschberger. 52 Hes. fr. 141 MW, v. 1–2 (»sie durchquerte die Salzflut / von ihrem Vaterland nach Kreta, überwältigt von den Schlichen des Zeus.«) 53 Hes. fr. 141 MW, v. 2.  Der Begriff δμηθεῖσα hat zu dem Missverständnis geführt, Europa gehöre zu den zahlreichen Heroinen, die von einem liebenden Gott ›bezwungen‹ worden sind; so z. B. Campbell 1991, 2 (mit Verweis auf Hes. fr. 25, 18 MW): »The ›tamed‹, ›subdued‹ heroine is  a recurrent figure in genealogic poetry«. Aber Hesiod sagt hier von Europa nicht, dass sie von Zeus bezwungen, sondern dass sie durch seine List dazu gebracht worden sei, sich auf seinem Rücken über das Meer tragen zu lassen. Von der Liebesvereinigung wird erst im darauf folgenden Satz (V. 3) berichtet. 54 Die Ergänzung stammt von K. F. W. Schmidt und ist von Merkelbach / West in den­ Apparat, von West (Loeb-Ausgabe) auch in den Text aufgenommen worden. 55 Bacch. dith. 17, 29–32: εἰ καί σε κεδνὰ τέκεν λέχει Διὸς ὑπὸ κρόταφον ῎Ιδας μιγεῖσα Φοίνικος ἐρατώνυμος κόρα; gemeint sind damit die Klippen unterhalb des Berggipfels.­ Maehler 1997, 182 datiert das Gedicht auf die Zeit zwischen 500 und 490.

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und noch bei Lukian führt Zeus gleich nach der Ankunft auf Kreta Europa in die Diktäische Grotte.56 Das Idagebirge aber war ein Ort von höchster symbolischer Bedeutung, es war der Ort der ›Heiligen Hochzeit‹ des Zeus, aber eben nicht nur der Hochzeit mit Hera,57 sondern auch der Hochzeit mit Europa, die Zeus dorthin entführt hatte. Mithin haben wir hier dieselbe Übereinstimmung zwischen dem Ziel einer Entführung und der Heimat des Entführers wie beim Raub der Proserpina durch Pluto und dem Raub der Orithyia durch Boreas. Unter den Liebschaften des Zeus dagegen gibt es kein weiteres Beispiel dafür, ausgenommen den Raub des Ganymedes, den Zeus in der Gestalt eines Adlers in den Olymp entführt (wenn er nicht seinen Adler damit beauftragt), und das ist ebenfalls eine Entführung auf Dauer und in die Heimat des Entführers. In dem Papyrusfragment aus Hesiods Frauenkatalogen muss direkt nach dem Vers über die Fahrt nach Kreta, also in der verlorenen ersten Hälfte von Vers 3, von der Liebesvereinigung berichtet worden sein: τῆι δὲ μίγη φιλότητι] πατὴρ καὶ δῶρον ἔδωκεν ὅρμον χρύσειον, τόν ῥ’῞Η]φαιστος κλυτοτέχνης ….. ….. ….. ἰδυί]ηισιν πραπίδεσσι ….. ….. … πα]τρὶ φέρων· ὃ δὲ δέξατο δῶρο[ν· ….. ….. … κούρ[η]ι Φοίνικος ἀγαυοῦ.58

Zugleich mit der Liebesvereinigung empfängt Europa vom Göttervater ein wundervolles Geschenk, das er zuvor für sie hat anfertigen lassen. Sollte Zeus den ruhmreichen Hephaistos beauftragt haben, ein goldenes Halsband zu schmieden, um sich bei einer flüchtigen Liebschaft für die von ihm erhofften Freuden erkenntlich zeigen zu können? Dafür gäbe es in der Überlieferung kein weiteres Beispiel,59 und mit der communis opinio, dass die Europa-Geschichte zu den zahlreichen Affären des Zeus gehöre, ist diese Erzählung unvereinbar. Der Name des Hephaistos steht – man denke nur an den für Achill geschmiedeten Schild in der Ilias – für die Vollkommenheit in der Kunst, und so lässt auch Zeus den Gott, der die schönsten und besten aller denkbaren Werke herzustellen ver 56 Luc. dial. mar. 15, 4: ἐπιλαβόμενος δὲ τῆς χειρὸς ὁ Ζεὺς ἀπῆγε τὴν Εὐρώπην εἰς τὸ Δικταῖον ἄντρον. 57 Hom. Il. 14, 341–353. Das Dikte- und das Ida-Gebirge sind zwar nicht identisch, werden aber in den antiken Nachrichten über Zeus (wohl aufgrund ungenauer Kenntnis Kretas) nicht voneinander geschieden. 58 Hes. fr. 141 MW, v. 3–7 (»Mit ihr vereinigte sich der Vater in Liebe und gab ihr ein Geschenk, ein goldenes Halsband, das der in den Künsten ruhmreiche Hephaistos selbst angefertigt hatte, mit kundigem Verstand, ein herrliches Schmuckstück, und er brachte es seinem Vater. Der aber empfing das Geschenk, und er gab es der Tochter des erlauchten Phoinix.«). Die von Schmidt für die erste Hälfte von Vers 3 vorgeschlagene Ergänzung τῆι δὲ μίγη φιλότητι haben sowohl Merkelbach / West als auch Most in ihre Ausgaben aufgenommen. 59 So aber z. B. Hirschberger 2004, 309: »Seiner Geliebten macht Zeus ein Halsband zum Geschenk, das er eigens für sie hat anfertigen lassen«.

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mag, ein goldenes Halsband schaffen, weil er für die von ihm geraubte Braut Europa ein Hochzeitsgeschenk braucht. Aber auch der feierliche Ton, in dem so ausführlich davon erzählt wird, sowie die Umschreibung von Europas Namen durch das Patronymikon »Tochter des erlauchten Phoinix« am Schluss, all das weist deutlich darauf hin, dass hier der Göttervater seine Braut beschenkt. Ein zusätzliches Argument lässt sich einer Nachricht entnehmen, die durch ein Fragment aus dem Geschichtswerk des Pherekydes überliefert ist. Dort wird berichtet, dass Europa das von Zeus empfangene Halsband später ihrem Bruder Kadmos als Hochzeitsgeschenk für dessen Braut Harmonia übereignet habe.60 Es gibt aber noch zwei weitere Beispiele für von Hephaistos angefertigte Hochzeitsgeschenke, die ebenfalls nicht bei der ersten Braut bleiben, sondern weitergegeben werden. Das ist zum einen der goldene Hochzeitskranz, den Amphitrite von der δόλιος Ἀφροδίτα bekommen hat und den sie später dem Theseus überlässt, so dass er zum Hochzeitsgeschenk für Ariadne werden kann;61 zum anderen der goldene Korb, den Moschos im Proömium zu seinem Epyllion beschreibt: ihn hatte Hephaistos für Libye zu ihrer Hochzeit mit Poseidon62 geschaffen, Libye hatte ihn später Telephassa, der Mutter Europas, geschenkt, und die jungfräuliche Europa hatte ihn von ihrer Mutter bekommen, um Blumen darin zu sammeln.63 Auch vor diesem Hintergrund wäre es mehr als sonderbar, wenn das goldene Halsband, das Zeus von Hephaistos anfertigen lässt, nichts weiter als ein hübsches Andenken an eine Liebschaft sein sollte und erst durch die Weitergabe an eine andere Frau zu einem Hochzeitsgeschenk geworden wäre. Es gab aber noch eine andere Version der Erzählung, in der Zeus sich nicht selbst verwandelt, sondern einen Stier nach Phönizien schickt, der Europa entführen und zu ihm in seine Heimat Kreta bringen soll. Wenn man an der Selbstverwandlung der verliebten Götter Anstoß nimmt, weil man eine durch Liebeslust motivierte Verleugnung der eigenen Identität als eines Gottes und ganz besonders eines Göttervaters unwürdig empfindet, dann ist ein solcher Anstoß in dieser Version jedenfalls vermieden. Belegt ist sie bei Akusilaos, aber so gut wie sicher auch in der Europa-Tragödie des Aischylos,64 und sie begegnet auch 60 Pherec. (FGrHist 3) F 89; vgl. dazu Fowler 2013, 350. 61 Bacchyl. dith. 17, 109–116 (dazu Maehler 1997, 203 f.); Ov. f. 3, 513 f.; Hyg. astr. 2, 5; s. dazu auch Salis 1920/24, 203 f. 62 In der Nachricht von der Ehe Poseidons mit Libye spiegelt sich dessen Identifizierung mit einer alten libyschen Gottheit wider (dazu s. Hdt. 2, 50, 3). 63 Mosch. Eur. 37–42. Möglicherweise hat Moschos die ganze Geschichte frei erfunden (so Bühler 1960, 89), aber das ändert nichts an dem Symbolgehalt des Motivs. 64 Akusilaos (FGrHist 2) F 29 (Apollod. bibl. 2, 29); vgl. dazu Gantz 1993, 211 und Fowler 2013, 286. Aischylos: Aesch. F 99 Radt; bei Aischylos heißt es in V. 3, dass er während der Entführung blieb, wo er war (αὐτοῦ μένων); anders, aber kaum richtig z. B. Deacy 1997, 45 (»Zeus turned himself into a bull«).

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später noch in der Literatur65 und wohl auch auf Vasenbildern.66 Hier ist der Stier gleichsam der Bote, der von dem Bräutigam mit dem Brautraub beauftragt wird:67 Zeus lässt Europa zu sich in seine Heimat bringen, wo sie bleiben und ihm Söhne gebären wird. Obwohl der Zusammenhang der ersten drei Verse des Tragödien-Fragments, in denen dies von Europa selbst berichtet wird, nicht völlig klar ist,68 kann man ihnen doch entnehmen, dass Zeus den Vater Europas dadurch überlistet, dass er den Stier wertvolle Dienste für ihn verrichten lässt. Der arglose Phoinix schickt ihn zum Lohn dafür auf eine üppige Weide,69 und von dieser Weide aus kann Zeus, während er selbst auf Kreta bleibt, den betrügerischen Diebstahl an Europas altem Vater mühelos durchführen lassen:70 τοιόνδε μὲν Ζεὺς κλέμμα πρεσβύτου πατρὸς αὐτοῦ μένων ἄμοχθον ἤνυσεν λαβεῖν.

Das ist ein von langer Hand geplanter und wohlüberlegt durchgeführter Braut­ raub, und besonders bemerkenswert daran ist, dass aus der Perspektive Europas nicht ihre eigene Überlistung durch Zeus, sondern der betrügerische Diebstahl an ihrem Vater (κλέμμα πρεσβύτου πατρός) im Vordergrund steht. Dass der Brauträuber den Brautvater hintergeht, verweist ebenfalls auf ein wichtiges strukturelles Merkmal des Brautraubs und auf das Konfliktpotential, das überall dort vorhanden ist, wo dem Bräutigam das Einverständnis der Brauteltern verweigert wird oder er mit der Verweigerung rechnen muss, obwohl er aufgrund seines hohen Ranges und weil es keine triftigen Einwände ge 65 Vgl. dazu Bühler 1968, 13 f. und Fowler 2013, 286, der auch darauf hinweist, dass­ Euripides beide Versionen kennt, was vielleicht damit zu erklären sei, dass sich die Belege dafür auf zwei verschiedene Tragödien bezögen. 66 Die von Robertson 1988, 91 genannten Beispiele dafür (s. o., S. 65, Anm. 10) sind allerdings zweifelhaft. 67 Auch das ist eine Parallele zum Raub des Ganymedes, der ja ebenfalls in beiden Varianten (Verwandlung des Zeus in einen Adler und Aussendung eines Adlers) erzählt wurde. Bühler 1968, 14 hält die »Verselbständigung des Stieres« für die spätere Version, erklärt aber gleichzeitig, dass dazu »die verwandte Ganymedessage beigetragen haben [dürfte], bei der der Adler ebenfalls – jedenfalls in der frühen Zeit – nur ausführendes Organ ist.« 68 Vgl. Radt 1985, 218. Die Verse gehören jedenfalls zu einem von Europa gesprochenen Monolog, in dem die Protagonistin auf ihr bisheriges Leben zurückblickt. Die Entführung war also nicht das Thema der Tragödie, sondern kam nur als Vorgeschichte vor. Mit dieser Möglichkeit ist aber auch sonst zu rechnen. Vgl. auch Sommerstein 2008, 111–117 (Text, Übersetzung, Erläuterungen). 69 Aesch. F 99 Radt, v. 1. Wir übernehmen bei diesem korrupt überlieferten Vers die Textfassung von Radt (ταύρῳ τε λειμὼν ξένια πάμβοτος πάρα) und folgen der von Radt 1985, 218 zustimmend zitierten Deutung von Wecklein: »[…] Dem stiere wird zum lohne für seinen dienst eine üppige weide angewiesen.« 70 Aesch. F 99 Radt, v. 2–3 (»einen solchen Diebstahl an meinem alten Vater vollbrachte Zeus, während er selbst dort blieb, und ohne sich abzumühen«).

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gen sein Ansinnen gibt, einen Anspruch darauf hat oder zu haben glaubt. Das ist, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, das entscheidende Motiv dafür, dass Romulus den Raub der Sabinerinnen befiehlt und sich durch die Götter dazu legitimiert fühlen darf, und ganz ähnlich bittet Zeus nach dem Raub der Proserpina seine Gattin Demeter, als Brautmutter den hohen Rang ihres künftigen Schwiegersohns zu bedenken, der der König der Unterwelt und Bruder des Göttervaters ist, und deshalb nachträglich ihre Zustimmung zu dem Brautraub zu geben.71 In der Europa-Erzählung dagegen ist es genau umgekehrt, denn der Brautvater ist ein Sterblicher, und es wäre unvorstellbar, dass der Götterkönig ihn um sein Einverständnis bäte.72 Folglich ist der ›Betrug‹ des Zeus am Brautvater in diesem Sonderfall kein Regelverstoß, sondern ein unabdingbares Struktur­ element. Im Hinblick auf die eigentlich erforderliche nachträgliche Legitimation des Brautraubs entsteht dadurch jedoch zwangsläufig eine Leerstelle. Bei Aischylos wird sie dadurch gefüllt, dass Europa selbst, wie wir eben gesehen haben, im Rückblick auf ihr Leben den an ihrem Vater verübten Betrug (κλέμμα πρεσβύτου πατρός) beklagt. Damit gewinnt der Betrug am Vater, der für den Ablauf des äußeren Geschehens irrelevant ist, Bedeutung für die seelische Disposition der Tochter, die über den von Zeus verübten Raub um ihres Vaters willen bekümmert ist. In den späteren Versionen, in denen ein stilles Einverständnis Europas mit ihrer Entführung vorausgesetzt wird, richtet sich das Interesse immer mehr auf das Denken und Fühlen Europas und ganz besonders auf den Moment, in dem ihr erstmals bewusst wird, was es bedeutet, dass sie dem Stier so arglos gefolgt ist, nämlich dass sie ihren Vater verlassen hat, der doch sein Einverständnis dazu hätte geben müssen. Das ist eine völlig andere Perspektive als bei Aischylos, und doch führt von dessen Versen ein direkter Weg zu der Darstellung der Seelenlage Europas bei Moschos und auch zu den Selbst­ vorwürfen Europas bei Horaz.73 71 Illustrative Gegenbeispiele dazu sind Jason und Theseus, die mit ihrer Fahrt nach Kolchis bzw. nach Kreta ein ganz anderes Ziel, nämlich den Raub des Goldenen Vlieses und die Überwindung des Minotaurus, verfolgen. Erst an Ort und Stelle erweist sich, dass sie ihr Ziel nur mit Hilfe der Königstochter erreichen können. Hier übernehmen Medea bzw. Ariadne die aktive Rolle, indem sie aus Liebe zu dem Ankömmling ihren eigenen Vater verraten. Damit wird die für einen Brautraub charakteristische Konstellation ins Gegenteil verkehrt, und überdies ist die Entführung nicht die eigentliche Ursache für den Konflikt mit dem ›Brautvater‹, sondern dessen unvermeidliche Folge. 72 Übrigens wird erst durch diese Besonderheit die Folgehandlung in Gang gesetzt: Weil Zeus sich nicht um das Einverständnis des Brautvaters zu kümmern braucht und dessen Existenz schlichtweg ignorieren kann, ist Phoinix (oder Agenor) völlig ahnungslos, als seine Tochter verschwunden ist, und befiehlt seinem Sohn, sie wo auch immer auf der Welt zu suchen, und damit beginnt die Kadmos-Handlung (besonders deutlich ist die Verknüpfung bei Ovid, met. 3, 1–9). 73 Vgl. dazu u., Kap. 3.2. (Moschos) und 3.4. (Horaz).

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Wenn es sich aber bei der Entführung Europas typologisch um einen Braut­ raub handelt, und so ist die Geschichte in der Antike offensichtlich von jeher verstanden worden, dann stellt sich unausweichlich die Frage, wie lange Zeus mit Europa zusammengeblieben ist. Mit dieser Frage berühren wir die Sollbruchstelle der Geschichte. Freilich gilt dies auch dann, wenn man die Entführung nicht als einen Brautraub versteht, denn sowohl Hesiod als auch Aischylos berichten, dass Europa dem Zeus drei Söhne geboren habe,74 und das setzt, wie schon Wilamowitz hervorgehoben hat, ein längeres Zusammensein voraus: »daß Zeus von keiner anderen Sterblichen sonst eine Anzahl von Kindern hat, also mit keiner anderen ein dauerndes Verhältnis, pflegt überhaupt nicht gewürdigt zu werden, und doch stand es in Hesiods Katalogen«75 – und, wie man hinzufügen darf, bei Aischylos bildet dies geradezu das Zentrum der erhaltenen Verspartie:76 Seine Europa hält in den Versen, mit denen der Dichter sie im Rückblick auf ihr Leben die Ereignisse nach der Entführung zusammenfassen lässt, außer der Liebesvereinigung mit Zeus nur die Geburt der drei Söhne und deren Schicksal für erwähnenswert, sie spricht davon, dass sie drei Mal die Schmerzen einer Geburt ausgehalten habe, und sie betont so sehr die durch die gemeinsamen Kinder konstituierte Verbindung, dass man meinen könnte, sie lebte noch immer mit Zeus zusammen.77 Bei Aischylos ist also offenkundig »ein längerandauerndes, eheähnliches Verhältnis vorausgesetzt«.78 Indessen zeugt der Göttervater nicht nur bei Hesiod und bei Aischylos drei Söhne mit Europa, sondern diese Zahl ist sowohl in den mythographischen Handbüchern der Antike als auch in der Vasenmalerei dokumentiert. Für Apollodor ist es die Vulgata, zu der die Version Homers, bei dem nur zwei Söhne genannt werden, nur eine erklärungsbedürftige Abweichung darstellt.79 In der Vasenmalerei wird diese Vulgata eindrucksvoll durch den kampanischen Glockenkrater repräsentiert, auf den wir schon im Zusammenhang mit der Anakalypsis eingegangen sind (Abb. 6). Dort sind wie bei Aischylos die Gegenwart und die Vergangenheit der Heroine auf ein und demselben Bild zusammengefügt, wobei der Maler sich im Hinblick auf die Entführung aber für die bei Hesiod belegte Hauptversion entschieden hat, der zufolge Zeus keinen 74 Hes. fr. 140 MW; fr. 141 MW, v. 13–15; Aesch. F 99 Radt, v.11–17. 75 Wilamowitz 1906, 100 f. 76 Das ist natürlich thematisch dadurch begründet, dass die Entführung in der Tragödie des Aischylos nur als Vorgeschichte wirksam wird; vgl. dazu außer Aesch. F. 99 Radt auch Sommerstein 2008, 111–117. 77 Aesch. TrGF 3, F. 99; Ankündigung der knappen Zusammenfassung in v.4 (τί οῦν; τὰ πολλὰ κεῖνα Διὰ παύρων λέγω), über die Liebesvereinigung mit Zeus und die Geburt der drei Söhne in v. 5–9 (die dreimaligen Geburtsschmerzen in Vers 7). 78 So Bühler 1968, 22 mit Verweis auf Smyth, der diese Auffassung in seiner AischylosAusgabe besonders nachdrücklich vertreten hat. 79 Apollod. bibl. 3, 1, 1. Bei Homer (Il. 14, 322) sind nur Minos und Rhadamanthys die Söhne Europas, und Sarpedon ist ein Sohn des Zeus und der Laodamia.

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Stier entsandt, sondern sich selbst verwandelt hat. In der Mitte ist der festlich geschmückte Stier zu sehen, und auf seinem Rücken sitzt Europa mit einer Brautkrone und vollzieht den Gestus der Anakalypsis. Links und rechts von ihr sind die drei Söhne dargestellt, alle schon im Mannesalter und durch Kronen, die sie auf dem Haupt tragen oder in der Hand halten, als königliche Helden gekennzeichnet.80 Wie man sich die Alternative zu dem Ablauf vorstellen müsste, der in der Vulgata vorausgesetzt ist, liegt auf der Hand, denn wenn man meinte, dass Europa nach einer einmaligen Liebesvereinigung von Zeus verlassen worden sei, dann musste er Zwillinge mit ihr gezeugt haben.81 Diese Version ist jedoch erst bei Nonnos, also erst im fünften nachchristlichen Jahrhundert belegt, und sie ist dort dadurch bedingt, dass Zeus mit Hera verheiratet ist und die Entführte nun wirklich nach der Liebesvereinigung wieder verlassen muss.82 Aber Europa gehört in der antiken Überlieferung nun einmal nicht zu den Frauen, die als »Gattinnen des Zeus« bezeichnet wurden, und deshalb hat man das Problem dadurch zu lösen versucht, dass man eine Vulgata postuliert hat, in der Zeus, anders als bei Aischylos, nur einmal mit Europa geschlafen habe und danach wieder verschwunden sei. Freilich käme als Gewährsmann dafür nur Hesiod in Betracht, und bei ihm gibt es keinen Hinweis darauf. Diesem Umstand verdankt sich die Hypothese, einer der verstümmelten Verse in dem Papyrusfragment von Hesiods Frauenkatalogen könne zu der Aussage vervoll­ ständigt werden, dass Zeus Europa nach der Liebesvereinigung wieder verlassen habe.83 Da es für eine solche Ergänzung abgesehen von der Annahme, dass­ Hesiod dies erzählt haben müsse, aber keinen Anhaltspunkt gibt, liegt hier ein

80 LIMC, Europe I, Nr. 75 (s. o., S. 70 f.); vgl. dazu auch Robertson 1988, 91. Hierher gehören auch die Bilder, auf denen die Übergabe von Sarpedons Leichnam an Europa gezeigt wird, was voraussetzt, dass sie und nicht Laodamia als seine Mutter galt (Beispiele dafür bei Robertson 1988, 91). Das namengebende Bild des ›Malers der Trauernden‹ auf einer Bauchamphora im Vatikan zeigt mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls die trauernde Europa zusammen mit dem toten Sarpedon (um 530 v. Chr.): Simon 1981, 88 und Tafel 77. 81 Bühler 1968, 21 f. hat die antiken Belegstellen übersichtlich zusammengestellt, aber seine Argumentation bleibt, auch was das Ergebnis betrifft, in eigenartiger Weise in der Schwebe. Die beiden Hesiod-Fragmente, die er für seine These anführt, man könne den Widerspruch zwischen drei Geburten und einem nur kurzen Zusammensein des Zeus mit Europa durch die Annahme einer Drillingsgeburt lösen, geben das jedenfalls nicht her. Eine Drillingsgeburt bietet sich aber auch deshalb nicht als Lösung an, weil sie für die Antike ein derart exzeptionelles Ereignis gewesen wäre, dass man darüber ganz gewiss nicht geschwiegen hätte. 82 Nonn. Dion.1, 352 und dazu s. u. Kap. 5. 83 Schon die Herausgeber Grenfell und Hunt haben die erhaltene zweite Hälfte von Vers 10 (νύ]μφης πάρα καλλικόμοιο) entsprechend zu vervollständigen versucht (αὖτις ἔπειτ’ ἀπέβη; so auch Schmidt 1918); Rzach hat in seiner Ausgabe Οὔλυμπόνδ’ statt αὗτις ἔπειτ’ (und er ging fort von dem Mädchen mit den schönen Haaren, hin zum Olymp).

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Zirkelschluss vor, und wir müssen damit rechnen, dass an der fraglichen Stelle etwas ganz anderes gestanden hat.84 Mithin können wir als Ergebnis festhalten, dass das Postulat der modernen Forschung, Zeus müsse Europa bald nach der Ankunft und Liebesvereinigung auf Kreta wieder verlassen haben, nirgendwo belegt ist, in den älteren antiken Darstellungen nicht, aber auch in den jüngeren nicht, ganz im Gegenteil. In der Europa-Ode des Horaz liegt das Geschehen nach der Ankunft auf Kreta zwar außerhalb des Gedichts, wird aber durch eine Rede der Liebesgöttin antizipiert, und der Entführten wird, wie wir noch sehen werden, von Venus eine herrliche Zukunft als Gattin Jupiters verheißen. Wenn man aber bedenkt, wie beliebt das Motiv des treulosen Liebhabers Jupiter in der antiken Literatur war, dann ist es schon bemerkenswert, dass all die Jahrhunderte hindurch kein Dichter erzählt oder auch nur beiläufig behauptet hat, auch Europa gehöre zu den zahl­ reichen Frauen, die der Göttervater nach der Befriedigung seiner Liebeslust ihrem Schicksal überlassen habe. Wenn Europa jedoch gar nicht von Zeus verlassen worden war, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie das sonst gesagt wird und wie es sonst dort gemeint ist, wo die Liebschaft eines Gottes mit einer Sterblichen zu Ende ist, dann blieb sie jedenfalls von dem Schicksal verschont, das sonst über die von Zeus geliebten Frauen hereinbrach (man denke nur an die Verstoßung der unglücklichen Kallisto). Das ist die entscheidende Besonderheit, und sie ist um so bemerkenswerter, wenn man bedenkt, wie schutzlos eine drei Mal Mutter gewordene Europa in der Fremde gewesen sein müsste. Ursprünglich scheint man sich darüber gar keine Gedanken gemacht zu haben,85 aber als man dann doch darüber nachdachte, kam man zu dem Schluss, dass Zeus in irgend einer Weise für Europa gesorgt haben musste. Dafür sind zwei Varianten überliefert. Die erste Variante ist literarisch nur durch das Argonauten-Epos des Apollonios Rhodios bezeugt. Dort wird berichtet, Zeus habe Talos, einen Giganten des ehernen Zeitalters, auf Kreta als Wächter für Europa eingesetzt. Dieser Talos habe die Insel in kurzen Abständen regelmäßig umkreist, und als die Argonauten sich näherten, habe er mit Felsbrocken nach ihnen geworfen, so dass sie nicht dort landen konnten.86 In dieser etwas absonderlichen Geschichte wird 84 Vgl. Marg 1984, 461: »Es ist also möglich, daß in der Eöe Zeus länger bei Europa blieb, Vers 9/10 anders zu ergänzen ist; dann wäre es der einzige Fall, wo Zeus eine längere Bindung mit einer Sterblichen hat.« Auch die neueren Ausgaben (fr. 141 MW, 56 Hirschberger) haben den Ergänzungsvorschlag Οὔλυμπόνδ’ ἀπέβη nur zitiert und nicht in den Text aufgenommen. 85 Vgl. Bühler, 1960, 203 und Bühler 1968, 22. 86 Apoll. Rhod. 4, 1638–1644. Ein weiterer Beleg ist, wie Simon 1981, 154 f. (Tafel 230 und 231) wahrscheinlich gemacht hat, das Bild auf der ›Talosvase‹, einem Volutenkrater aus der Zeit um 400; es zeigt, wie Talos durch die Zauberkünste Medeas den Tod findet (LIMC IV, Europe I, Nr. 220; Robertson 1988, 89 und 92). In der üblichen Version des Mythos überwacht Talos im Dienste des Minos die Insel Kreta (auf Veranlassung des Zeus oder des Hephaistos).

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Europa zwar nur vor Gefahren von außen geschützt, aber im Vergleich zu den Opfern seiner erotischen Abenteuer hat Zeus auch damit schon außergewöhnlich viel für Europa getan.87 Dennoch ist die andere Variante überzeugender. Es ist die Nachricht, mit der das Hesiod-Referat des Mythographus Homericus, von dem wir ausgegangen sind, schließt und die zur Vulgata geworden ist: Zeus habe Europa zur Ehefrau des Asterion gemacht, der als König über seine Heimat Kreta herrschte. Ob wirklich schon Hesiod von der Vermählung mit Asterion berichtet hat (in dem Papyrusfragment steht davon nichts), müssen wir offenlassen,88 denn man könnte sich ebenso gut vorstellen, dass erst der Mythographus Homericus eine Leerstelle, die er in Hesiods Erzählung vorfand, mithilfe einer jüngeren Version ausgefüllt hat. Aber wie dem auch sei, durch diese Ehe ist jedenfalls die für den Brautraub konstitutive Bedingung, dass der Bräutigam der von ihm entführten Braut eine gesicherte Zukunft in seiner Heimat garantiert, in geradezu idealer Weise erfüllt: εἶθ’ οὕτως συνῴκισεν αὐτὴν Ἀστερίωνι τῷ Κρητῶν βασιλεῖ. Dass Zeus, weil er nicht selbst Ehemann Europas bleiben kann, für einen Ersatzehemann sorgt, ist, wenn man nicht in neuzeitlichen Kategorien denkt, ganz gewiss nicht anstößig, denn durch die Ehe mit dem Kreterkönig wird der Brautraub, den der auf Kreta geborene Gott unternommen hat, zu einem guten Ende gebracht. Deshalb hebt der Erzähler mit dem Begriff συνῴκισεν die Hausgemeinschaft hervor, der sich die Entführte nach dem Verlust ihrer eigentlichen Heimat nun zugehörig fühlen darf.89 Da aber Asterion in Wahrheit »kein anderer als Zeus selber in menschlicher Gestalt ist«,90 hatte die Erzählung damit in der Tat ein überzeugendes Ende gefunden. Wenn die Geschichte aber erst seit dem vierten Jahrhundert so erzählt worden ist und man sich in der Antike so wenig Gedanken darüber gemacht hat, in welcher Weise Zeus wohl für Europa gesorgt haben könnte, dann dürfen wir uns auch nicht darüber wundern, dass wir nichts darüber erfahren, wann Zeus 87 Hierher gehört noch eine weitere, schwer zu deutende Nachricht in der Prosa-Epitome der Katasterismoi des Eratosthenes (?). Dort wird das Kapitel über das Sternbild des Hundes mit folgenden Worten eingeleitet (Eratosth. cat. 33,1): Περὶ τούτου ἱστορεῖται ὅτι ἔστιν ὁ δοθεὶς Εὐρώπῃ φύλαξ μετὰ ἄϰοντος (»Über ihn wird berichtet, dass er Europa als Wächter mit dem Wurfspeer beigegeben worden sei.«). 88 Merkelbach 1958, 57: »dies nicht hesiodisch, wie es scheint«; zustimmend Bühler 1968, 23 (mit dem Hinweis ibid. 24, dass die Nachricht mindestens seit dem 4. Jh. v. Chr. belegt ist). 89 Die Terminologie (συνοικίζειν / συνοικεῖν) verweist auf die letzte der drei Bedingungen für eine legitime Ehe (in Athen): »Durch den Geschlechtsverkehr in der Hochzeitsnacht wurde das Synoikeín, das Zusammenleben besiegelt (Schmitz 2002, 572). 90 Robert 1920, 354. Bühler 1968, 23: »Asterios scheint ein Substitut für Zeus zu sein und ist sicher sekundär.« Bei den Mythographen erscheint die Nachricht als die gesicherte Vulgata (mit der Namensform Asterios): Apollod. bibl. 3, 1, 2: Εὐρώπην δὲ γήμας Ἀστέριος ὁ Κρητῶν δυνάστης τοὺς ἐκ ταύτης παῖδας ἔτρεφεν (»Die Europa aber heiratete Asterios, der Herrscher von Kreta, und zog ihre Kinder auf«); ähnlich Diod. 4, 60, 2–5.

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Europa aus seiner eigenen Obhut in die des Kreterkönigs übergeben haben soll. Der Satz, mit dem der Scholiast die Stiftung der Ehe mit Asterion umschreibt, beginnt zwar mit einem εἶθ’ (danach), aber das ist eine ganz unbestimmte Zeitangabe, die nur besagt, dass das nach der Liebesvereinigung geschah, und wir sind, zumal bei einer knappen Zusammenfassung, nicht berechtigt, ein »danach« als ein »sogleich danach« zu interpretieren.91 Ebenso unbestimmt ist das zweite Wort οὕτως (so), das in der gebotenen Kürze die Situation umschreibt, in der sich Europa nun befindet, nämlich nach der Liebesvereinigung mit dem Götterkönig. Der Scholiast gibt also lediglich ein Nacheinander an. So spricht alles dafür, dass es sich hier um Widersprüche handelt, die nur der moderne Leser als störend empfindet und die auch dann nicht aufgelöst würden, wenn wir statt der Fragmente die vollständigen Werke besäßen. Erst recht aber wäre es müßig, nach einer Erklärung dafür zu suchen, dass Zeus eine Sterbliche entführt, um sich mit ihr zu vermählen. Hier muss der Hinweis genügen, dass es schon in vorgriechischer Zeit eine oder mehrere Gottheiten mit dem Namen Europa gab, die kultische Verehrung genoss und dass auch Zeus nicht von jeher nur der uns aus Homer und den späteren Dichtern vertraute Gott war.92 Für die Autoren und ihre Leser jedenfalls kam es darauf an, dass Europa von Zeus nicht einem ungewissen Schicksal überlassen worden war und dass sie sich dauerhaft ihm zugehörig fühlen konnte, im Gegensatz zu all den Nymphen und Heroinen, die er verführt oder vergewaltigt hatte und deren Schicksal den Dichtern unerschöpflichen Stoff bot. Europa ist in der antiken Überlieferung aber nicht die einzige Heroine, die von einem Gott zu seiner Gattin erhoben wurde, sondern das gleiche wurde von Ariadne berichtet, die ebenfalls eine Sterbliche und zugleich eine (lokale) Gottheit war. Die Verwandtschaft der beiden mythologischen Sujets ist so evident, dass sich ein Vergleich aufdrängt. Indessen lässt sich aufgrund der fragmentarischen Überlieferung nur dann ein klares Bild gewinnen, wenn man auch die Erzählungen aus hellenistischer Zeit berücksichtigt. Deshalb wollen wir zunächst die hellenistische Europa-Dichtung behandeln und erst danach auf die AriadneErzählungen eingehen. 91 Anders Bühler 1968, 22. Die eben zitierte Formulierung bei Apollodor (bibl. 3, 1, 2) erweckt jedenfalls eher den Eindruck, dass dies erst nach der Geburt der drei Söhne geschah; ganz ähnlich Diod. 4, 60, 2–3. 92 Die religionswissenschaftliche Literatur dazu ist uferlos. Wir begnügen uns, unserem Thema entsprechend, auf ganz wenige Hinweise. Bühler 1968, 44 ff.: »Hauptstätte der Verehrung der Europa ist Kreta« (44); ibid. 46: »[…] nur soviel erkennen, daß Europa auf Kreta und in Phönikien Verehrung genoß (letzteres erst in der Kaiserzeit) und gelegentlich mit Demeter oder Hera gleichgesetzt wurde […].« Vgl. schon Jahn 1870, 24–29; ibid. 25 zu den Münzbildern, die die Vermählung Europas mit Zeus in Gortyn zeigen und »darauf hinweisen, »dass es sich auch hier um den ἱερὸς γάμος handelt, in welchem der zeugungskräftige Gott des Himmels im Frühling die bräutliche Erde umfängt«; ibid. zu Europeia als Beiname Heras. Wichtig die Hinweise von West 1997, 451 f.

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3.2 Zeus und Europa in der hellenistischen Dichtung: Das Epyllion des Moschos und die Vulgata Die Geschichte von der Liebe des Göttervaters zu Europa galt im augusteischen Rom als eine fabula nota und muss schon in der hellenistischen Dichtung ein besonders beliebtes Sujet gewesen sein.93 Das ist alles verloren mit Ausnahme des Epyllions, das Moschos aus Syrakus im zweiten Jahrhundert vor Christus verfasst hat. Es ist also ein trügerisches Bild, wenn die Europa-Dichtung dieser so überaus produktiven Epoche für den heutigen Leser allein durch Moschos repräsentiert wird, und die meisten der zahlreichen Belege, die von der Forschung für die Nachwirkung des Moschos zusammengestellt worden sind, können zugleich auch für die uns verlorenen hellenistischen Europa-Erzählungen in Anspruch genommen werden.94 Das gleiche gilt natürlich auch im umgekehrten Fall. Wenn ein späterer Dichter die Geschichte anders als Moschus erzählt hat, dann ist das noch lange kein Beweis für besondere poetische Originalität, sondern es kann sich bei dieser Abweichung zugleich um eine Übereinstimmung mit einem anderen Europa-Gedicht oder vielleicht sogar mit der Vulgata handeln. Von ihr ist auch Moschos abgewichen, und das Thema war offensichtlich vor allem deshalb reizvoll für ihn, weil es ihm vielfältige Möglichkeiten bot, sein künstlerisches Talent zu erproben.95 Wie bereits angedeutet, sind bei Moschos die distinktiven Merkmale, durch die sich ein Brautraub gegenüber jeder anderen Form der Entführung einer Frau auszeichnet, allesamt vorhanden und von der Forschung auch jeweils für sich registriert worden, ohne dass man jedoch auf den Gedanken gekommen wäre, dass das Epyllion tatsächlich die Erzählung von einem Brautraub sein könnte. Die nächstliegende Erklärung dafür ist wohl die Unschärfe der griechi­ 93 Ov. f. 5, 604: huic signo [sc. Tauro) fabula nota subest (»diesem Sternbild [sc. dem des Stiers] liegt eine bekannte Geschichte zugrunde«). Zur weiten Verbreitung des Themas vgl. auch Létoublon 2007, 34–37 (ibid. 36: »la diffusion du thème à Rome s’autorisait de nombreux modèles grecs, et particulièrement de modèles alexandrines.«). Auch in der attisch-rotfigurigen und in der unteritalischen Vasenmalerei war das Thema, wie Schauenburg 1981, 111 festgestellt hat, außerordentlich beliebt; es gebe eine erstaunlich große Fülle einschlägiger Bilder, deren Häufung kaum mit dem Einfluss von Theaterstücken zu erklären sei. 94 Zum inhaltlichen Anschluss des Moschos an die ältere Tradition (insbesondere an­ Hesiod) s. auch Hunter 2005b, 254–256. Für die Frage der Nachwirkung ist der Kommentar von Bühler maßgeblich: Er hat die Behauptung der älteren Forschung, die antiken Dichter nach Moschos hätten dessen Epyllion nicht gekannt, mit zahlreichen Einzelnachweisen überzeugend widerlegt (Bühler 1960, passim). Dass man gleichwohl mit »früheren Behandlungen« des Themas in hellenistischer Zeit zu rechnen hat, konzediert aber auch Bühler (ibid. 115). 95 Gegen abschätzige Urteile in der älteren Forschung hat u. a. Kuhlmann 2004 mit guten Argumenten die literarische Leistung des Moschos gewürdigt und den alexandrinischen Charakter der Europa herausgearbeitet. Vgl. auch Kuhlmann 2012, 473–482.

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schen Terminologie, da der Begriff νύμφη bekanntlich je nach Kontext nicht nur im engeren Wortsinn die Braut, sondern in weiterer Bedeutung auch jede unverheiratete junge Frau bezeichnen kann, und das gilt, wenn auch nicht uneingeschränkt, auch für die davon abgeleiteten und die semantisch benachbarten Termini.96 Deshalb lässt sich aus den Begriffen allein nicht erschließen, ob der Entführer nur ein Liebesabenteuer sucht oder ob er die Entführte zu seiner Gattin machen will. Aber abgesehen davon, dass es nicht nur die von Moschos verwendeten Begriffe sind, die auf einen Brautraub verweisen, wird in diesem Fall der Kontext durch die ältere Überlieferung und die literarische Tradition konstituiert. Dort aber wurde, wie wir gesehen haben, die Entführung Europas einhellig als Brautraub dargestellt, bei dem – das ist die Voraussetzung dafür – Zeus nicht verheiratet war. Das ist ein so eindeutiger Befund, dass sich eigentlich jede weitere Argumentation erübrigen würde. Dem steht jedoch ein Vers in dem uns überlieferten Text des Moschos entgegen, in dem es heißt, dass Zeus sich bei der Entführung Europas vor dem Zorn seiner eifersüchtigen Gattin Hera habe in acht nehmen müssen. Wenn man diesen Vers in die Waagschale werfen dürfte, dann wäre eine Deutung des Epyllions als Brautraub in der Tat ausgeschlossen. Mithin hängt das Verständnis der von Moschos erzählten Version der Europa-Geschichte von einem einzigen Vers ab. Wir behandeln zunächst die Anfangspartien des Epyllions vor dem Auftritt des Zeus, soweit sie für unsere Fragestellung relevant sind, und analysieren danach den fraglichen Vers, in dem Hera als die Gattin des Zeus erscheint, mit dem Beweisziel, dass er nicht zum ursprünglichen Bestand des Epyllions gehört, sondern erst von späterer Hand in den Text eingefügt worden ist. Wenn dies gelingt und Zeus auch bei Moschos ein unverheirateter Entführer war, dann können wir seine Darstellung gleichsam beim Wort nehmen, und es entfällt die Notwendigkeit, die zahlreichen Hinweise auf einen Brautraub, die sich wie ein roter Faden durch das Epyllion ziehen, zu relativieren oder zu ignorieren. »Der Europa sandte Aphrodite einst einen süßen Traum«97 – so beginnt das Epyllion, und gleich in den nächsten Versen erfahren wir, dass Europa ihren Traum in der Stunde träumte, in der die wahren Träume umgehen. Dadurch macht der Erzähler schon zu Beginn deutlich, dass hier nicht die übliche Ge 96 Mosch. Eur. 159 wird Europa mit dem Begriff νυμφήια ihre Hochzeit angekündigt; damit könnte zwar auch das Brautlager (Plural von νυμφεῖον) bezeichnet werden (vgl. Bühler 1968, 196), aber nicht ohne weiteres die bloße Liebesvereinigung. Obwohl dieser Unterschied natürlich auch für die Antike von größter Bedeutung ist, wird in der modernen Forschung bedauerlicherweise oft der gegenteilige Eindruck vermittelt; so schreibt z. B. Robert 1920, 352: »Da aber trägt sie Zeus aus dem Phoenikerland nach Kreta, wo er sich mit ihr vermählt« – gemeint ist damit aber nur die Liebesvereinigung. Auch Bühler 1960 verwendet immer wieder Begriffe wie ›Hochzeit‹, obwohl es sich für ihn um ein »Liebesabenteuer« des Zeus handelt (vgl. Bühler 1968, 31, Bühler 1986, 982 u. ö.). 97 Mosch. Eur. 1: Εὐρώπῃ ποτὲ Κύπρις ἐπὶ γλυκὺν ἧκεν ὄνειρον. Die Übersetzung orientiert sich hier und sonst an der von Bühler 1960.

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schichte von einer Heroine wiedergegeben werden soll, die von einem Gott geliebt wird und seinem mehr oder weniger gewaltsamen Liebesbegehren ausgeliefert ist, sondern dass seine Europa von Anfang an selbst eine Liebende sein wird.98 Der Traum einer jungen Frau als Schlüsselszene für das folgende Geschehen: hier konnte der antike Leser gar nicht anders, als an den Traum der Nausikaa in der Odyssee zu denken, und auch im Folgenden zitiert Moschus immer wieder berühmte literarische Vorbilder, um ihnen eine neue Bedeutung abzugewinnen.99 Freilich ist der Inhalt ihres Traums für Europa selbst völlig rätselhaft, und als sie nach dem Erwachen daran zurückdenkt, empfindet sie Furcht, weil er ihr Wirklichkeit zu sein schien. Sie weiß nicht, was es zu bedeuten hat, dass die beiden Erdteile ihretwegen in Streit geraten waren, und warum sie es sich so gern hatte gefallen lassen, dass die geheimnisvolle Fremde sie mit der Gewalt ihrer starken Hände von ihrer Heimat fortzuziehen versuchte, und es ist ihr ein Rätsel, warum sie eine unbestimmte Sehnsucht (πόθος) nach der Fremden empfand, von der sie sich so freundlich aufgenommen sah.100 Für den Leser dagegen, der mit dem Sujet ja vertraut ist, wird durch den Traum Europas die Deutung der Erzählung schon vor ihrem eigentlichen Beginn unmiss­verständlich vorweggenommen:101 nämlich dass Europa innerlich bereit ist, sich dem liebenden 98 Ausgehend von Mosch. Eur. 13 f. hat Hunter 2004, 216–220 allgemeinere Überlegungen zum Thema »male view of female sexuality, both in context of marriage and rape or abduction« angestellt (das Zitat: ibid. 217), und in der pointierten Bemerkung »no woman is carried off ›unwillingly‹« zusammengefasst (ibid. 219). Aber so bedenkenswert das auch ist, so sind gerade diese Verse kein sehr guter Beleg dafür. Kuhlmann 2004, 283 dagegen hat, wenn auch etwas überpointiert, hervorgehoben, dass »Europa bei Moschos die einzige­ Heroine des griechischen Mythos [ist], die sich einem verführendem Gott freiwillig hingibt«. 99 Die intertextuellen Bezüge in der Europa des Moschos sind gut erforscht und oft genug gewürdigt worden. Freilich besteht die Leistung des Moschos vor allem darin, die berühmten prototypischen Szenen aus den Werken seiner Vorgänger so in seine Erzählung einzubetten, dass ein reizvoller Kontrast zwischen dem vertrauten Text und seiner neuen Botschaft entsteht. Das gilt in vorzüglicher Weise schon für den Traum Nausikaas (Hom. Od. 6, 25–40) als Vorbild für den Traum Europas; vgl. Kuhlmann 2004, 282 und Kuhlmann 2012, 476 f. 100 Mosch. Eur. 8–15; die wichtigsten Stichworte stehen in den Versen 13/14: κρατερῇσι βιωομένη παλάμῃσιν (zwingend mit ihren starken Händen) und, besonders wichtig, οὐκ ἀέκουσαν (nicht unfreiwillig); dazu Bühler 1960: »Durch nichts könnte der Unterschied zwischen den althergebrachten Raubsagen […] und der Gestaltung vom ›Raub‹ der Europa besser illustriert werden als durch dieses οὐκ ἀέκουσαν« (mit Verweis auf das ἁρπάξας δ’ ἀέκουσαν beim Raub der Persephone). 101 Schon Bühler 1960, 86 hat darauf hingewiesen, dass bei Moschos auch sonst »ein guter Teil der Wirkung auf dem Unterschied zwischen dem Wissen des Lesers und der Unwissenheit Europas« beruht. Besonders wichtig ist hier natürlich das Wort πόθος, das Europa bei Moschos in ihrer als direkte Rede wiedergegebenen Reaktion auf den Traum benutzt (V. 25), und das nicht nur ganz allgemein in der Bedeutung ›Sehnsucht‹ (›Liebessehnsucht‹) zu den wichtigsten Begriffen der erotischen Sprache gehört, sondern im vierten Jahrhundert ikonographisch mit der Europa-Gestalt verknüpft worden ist (ein Beispiel dafür ist der zu Beginn dieses Kapitels besprochene Kelchkrater in Malibu). Später wird auch Zeus zu Europa von seinem πόθος sprechen (Mosch. Eur. 157).

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Zeus anzuvertrauen und ihre alte Heimat aufzugeben, um in der Fremde eine neue Geborgenheit zu finden, dass diese Entführung also ganz anders ablaufen wird als der Raub der Persephone, die vom König der Unterwelt mit brutaler Gewalt in sein schreckliches Reich entführt worden war. Umgekehrt ist aber auch die Vorstellung, Europa würde hier nur ein flüchtiges Liebesabenteuer angekündigt, mit ihrem Traum nur schwer zu vereinbaren.102 Nach dem Erwachen ruft Europa ihre Freundinnen zusammen, um mit ihnen zusammen wie gewohnt auf den Wiesen am Meer Blumen zu pflücken. Damit wird erneut das unmittelbar bevorstehende Geschehen vorweggenommen, denn die Blumenwiese ist für jeden Leser der Ort, an dem liebende Götter unschuldige Mädchen zu entdecken und zu entführen pflegen.103 Sehr viel wichtiger ist für uns jedoch die Beschreibung des goldenen Korbes, dem wir schon einmal im Zusammenhang mit den von Hephaistos angefertigten Hochzeitsgeschenken begegnet sind.104 Europa hat ihn von ihrer Mutter bekommen, um darin Blumen zu sammeln, und dargestellt ist darauf der Mythos von Zeus und Io.105 Den inhaltlichen (und auch den genealogischen) Bezug auf die Geschichte von Zeus und Europa hat man natürlich von jeher gesehen, aber darüber ist der Fokus der Erzählung aus dem Blick geraten. In der Vulgata standen immer die furchtbaren Qualen im Mittelpunkt, die Io erdulden musste, nachdem sie ihre menschliche Gestalt verloren hatte und in eine Kuh verwandelt worden war: zuerst als Gefangene des Argos und dann noch viel schrecklicher, als sie nach dessen Tod von der Stechfliege durch die Welt gejagt wurde.106 Hier dagegen soll eine ganz andere Botschaft vermittelt werden, und dafür hat sich Moschos eines narratologischen Kunstgriffs bedient. Er beginnt seine Ekphrasis,107 indem er mit einer beziehungsreichen Formulierung hervor 102 Anders Lefkowitz 1993, 36: »Europa became the hesitant but willing bride (however temporarily of the greatest god, and for her, as the dream indicates, her seduction marked the beginning of a new and autonomous life«): »temporarily« und dennoch »the beginning of a new and autonomous life«! 103 Mosch. Eur. 28–36; die Bezugsstellen hat Bühler 1960 ad loc. zusammengestellt. 104 S. o., S.  76. Die Bedeutung der Ekphrasis für das Epyllion des Moschos ist von der Forschung oft betont worden. Am weitesten geht Harden 2011 mit ihrer These (87) »in the Europa, ekphrasis does not function as a digression or digressive tactic, but becomes the primary means of telling the story«. 105 Zuerst wird der Korb als solcher gewürdigt und seine Geschichte erzählt (Mosch. Eur. 37–42), danach werden die Einzelbilder beschrieben (43–62); wir können sie uns als Reliefbilder oder Intarsien vorstellen (vgl. Bühler 1960, 87). 106 In der hellenistischen Dichtung (und auch bei Licinius Calvus) wurde vor allem Ios Verzweiflung über den Verlust der menschlichen Gestalt thematisiert; vgl. dazu Heldmann 2014, 342. 107 Zur Korbbeschreibung (Ekphrasis) s. außer den Kommentaren von Bühler 1960, Hopkinson 1988 und Campbell 1991 auch Reeves 2003, 100–128 und v. a. Hunter 2004, 221–224; freilich kann die dort gegebene Gesamtdeutung trotz sehr guter Beobachtungen zu den Einzelbezügen und Analogien zwischen der Ekphrasis und dem Erzähltext des Moschos dann

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hebt, dass auf dem Korb viele herrliche Kunstwerke108 zu sehen waren, würdigt dann aber nur zwei Bilder einer Beschreibung, und zwar Bilder, mit denen der Leidensweg Ios ignoriert und dessen glückliches Ende thematisiert wird.109 Auf dem ersten (V. 44–49) ist Io als im Meer schwimmende Kuh zu sehen. Aber da gesagt wird, dass sie noch (εἰσέτι) eine Kuh sei, repräsentiert das Bild eben nicht, wie man eigentlich erwarten sollte, Ios Leiden, sondern ihre bevorstehende Erlösung. Auf dem zweiten Bild (V. 50–54) erfüllt sich unsere Erwartung: Io hat den Meeresstrand erreicht und gewinnt durch eine sanfte Berührung des Zeus ihre menschliche Gestalt zurück.110 Mit anderen Worten: Die Io-Bilder auf dem Korb des Hephaistos sind nur deshalb eine Präfiguration der Europa-Erzählung, weil Moschos die wichtigsten Ereignisse der Io-Geschichte konsequent zugunsten des glücklichen Endes weggelassen hat.111 Die Überleitung zur Entführung bilden zwei Verse, in denen es heißt, dass Europa sich nicht mehr lange an Blumen freuen und Jungfrau bleiben sollte.112 Derartige auktoriale Verweise auf künftiges Geschehen entsprechen epischer Tradition, und man kann die Formulierung bei Moschos als eine Anspielung auf die Worte verstehen, mit der Apollonios Rhodios auf das Schicksal vorausdeutet, das Medea bevorsteht.113 Indessen liegt der Reiz des Zitates darin, dass doch nicht überzeugen, weil sie von der Prämisse ausgeht, dass der Fokus der Erzählung hier wie dort die Befriedigung eines Sexualtriebs sei (»Io was changed into a cow […] in order that Zeus could satisfy his lust«, ibid. 222). 108 Mit dem einleitenden Satz, dass auf dem Korb viele herrliche Kunstwerke (δαίδαλα πολλά, V. 43) dargestellt waren, zitiert Moschus die beiden Worte, mit denen die Beschreibung der zahlreichen Bilder beginnt, die auf dem ebenfalls von Hephaistos für Achill angefertigten Schild zu sehen waren (Hom. Il. 18, 482). Folglich müssen wir uns auch bei dem Korb der Europa eine größere thematische Vielfalt vorstellen, wobei natürlich offenbleiben kann, wie viele Bilder dem Thema Io gewidmet und welche anderen Themen darüber hinaus noch dargestellt waren. 109 Ähnlich schon Manakidou 1993, 188: »Die äußere Heiterkeit entspricht der Stimmung der Beschreibung und des Gedichtes selbst. Die Iogeschichte zeigt keine Spur ihres Unglücks (z. B. keine Erwähnung des οἶστρος, der Bremse), sondern ist nüchtern und erzeugt sogar Ruhe (zweite Szene) und Freude (dritte Szene).« Leider hat Manakidou mit ihren Beobachtungen, soweit ich sehe, kaum Resonanz gefunden; anders z. B. auch Kuhlmann 2004, 288 f. 110 Als drittes Bild kommt noch die Szene mit Hermes und der Verwandlung des getöteten Argos hinzu (V. 55–61), von der aber gesagt wird, dass sie nicht auf der Hauptseitenfläche, sondern am Rand des Korbes angebracht war (vgl. Bühler 1960, 104). Sie gehört also nicht zu den einleitend genannten δαίδαλα πολλά. Inhaltlich ist das dadurch begründet, dass es sich hier um eine Rückblende handelt. 111 Noch einen Schritt weiter geht Manakidou 1993, 188: »Innerhalb der Geschichte soll die Beschreibung den königlichen Reichtum und den Luxus der künftigen Frau des Zeus veranschaulichen, die statt des simplen ἀνθοδόκον τάλαρον (34) der übrigen Mädchen einen goldenen Korb mit prachtvollen Dekorationen in ihrem Besitz hat.« 112 Mosch. Eur. 72 f.: οὐ μὲν δηρὸν ἔμελλεν ἐπ’ ἄνθεσιν θυμὸν ἰαίνειν / οὐδ’ ἄρα παρθενίην μίτρην ἄχρανθον ἔρυσθαι. 113 Apoll. Rhod. 3, 1133 f.; zur literarischen Tradition vgl. Bühler 1960, 116 f. und Campbell 1991, 77 (mit weiteren Belegen).

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bei Moschos etwas ganz anderes als in der Medea-Geschichte und ganz gewiss nicht die »Ankündigung eines nahen Verhängnisses« gemeint ist,114 sondern die baldige Erfüllung der Verheißungen, die der jungfräulichen Europa in ihren Traumbildern zu Beginn des Epyllions so verlockend erschienen waren. Und gleich im Anschluss daran werden wir auch gewahr, warum Europas Mädchenzeit nun zu Ende geht: Zeus erblickt die schöne Königstochter auf einer Blumenwiese und wird »von den unvorhersehbaren Geschossen der Kypris bezwungen, die allein auch Zeus überwältigen kann«.115 Aphrodite war es auch gewesen, die Europa ihren süßen Traum gesandt hatte, und hier erweist sie sich vollends als die lenkende Gottheit der Geschichte. Der Auftritt des Zeus beginnt mit einer expliziten Begründung dafür, warum er sich in einen Stier verwandelt, und damit sind wir an der Stelle angelangt, an der die Deutung als Brautraub mit dem Wortlaut des Textes in Konflikt zu geraten scheint: †δὴ γὰρ† ἀλευόμενός τε χόλον ζηλήμονος ῞Ηρης παρθενικῆς τ’ ἐθέλων ἀταλὸν νόον ἐξαπατῆσαι κρύψε θεὸν καὶ τρέψε δέμας καὶ γίνετο ταῦρος116

Es ist evident, dass von den beiden Begründungen dafür, dass Zeus sich in einen Stier verwandelt – »um dem Zorn der eifersüchtigen Hera zu entgehen und um den kindlich-zarten Sinn des Mädchens zu täuschen«  – jede für sich genommen vollkommen ausreichend wäre. Das allein wäre freilich kein Grund, den Text anzuzweifeln, sondern der Anstoß ergibt sich erst daraus, dass der erste der beiden Verse (»um dem Zorn der eifersüchtigen Hera zu entgehen«) an dieser Stelle nicht nur überflüssig ist,117 sondern in dem Epyllion des Moschos einen Fremdkörper darstellt. Dafür sollen drei Argumente vorgetragen und im An 114 So aber Bühler 1960, 116, weil hier wie dort eine entscheidende Situation vom Erzähler mit demselben Wort (ἔμελλεν) kommentiert wird. Aber das Schicksal, das Medea bevorsteht, wird sie am Ende in namenlose Verzweiflung stürzen, während bei Moschos der Übergang von dem Leben als Mädchen zu dem als verheiratete Frau gemeint ist. Zwar ist auch das nach dem Verständnis der Antike eine tiefe Zäsur, aber alles andere als ein Verhängnis, und auch das weitere Schicksal Europas ist ja in keiner Weise mit dem Medeas zu vergleichen. 115 Mosch. Eur. 75 f. ἀνωίστοισιν ὑποδμηθεὶς βελέεσσι / Κύπριδος, ἣ μούνη δύναται καὶ Ζῆνα δαμάσσαι. Der Gedanke ist topisch seit dem homerischen Aphroditehymnus ([Hom.] h. Ven. 34–41), aber der Akzent liegt bei Moschos nicht darauf, dass die Göttin ihre Macht demonstrieren wollte, wie das sonst so oft der Fall ist. 116 Mosch. Eur. 77–79: »Um dem Zorn der eifersüchtigen Hera zu entgehen und um den kindlich-zarten Sinn des Mädchens zu täuschen, verbarg er den Gott, verwandelte seine Gestalt und wurde ein Stier.« 117 Reeves 2003, 84–86 sieht in Zeus den Typus des lächerlichen Liebhabers; der Vers 77 ist ihr Hauptargument dafür: »His loss of dignity is particularly highlighted by his desire to avoid his wife’s wrath« (ibid. 84 f.).

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schluss daran die Athetese textkritisch und überlieferungsgeschichtlich fundiert werden. Erstens steht der Vers inhaltlich im klaren Widerspruch zur literarischen und mythographischen Konvention der Antike, in der es, wie wir gesehen haben, infolge der Asymmetrie der Machtverhältnisse unvorstellbar wäre, dass Hera ihren Zorn an Zeus auslassen könnte, der Göttervater also (wenn er denn überhaupt als verheiratet gilt) niemals daran denkt, wie er selbst »dem Zorn der eifersüchtigen Hera entgehen könnte«,118 sondern allenfalls seine Geliebte vor ihrer Rache zu schützen versucht.119 Der zweite Anstoß hängt unmittelbar mit dem ersten zusammen. Die beiden Begründungen für die Verwandlung werden in V. 77 und 78 mit zwei Partizipialkonstruktionen (ἀλευόμενος / ἐθέλων) umschrieben, die in V. 79 von einem dreigliedrigen Hauptsatz aufgenommen werden: »verbarg er den Gott, verwandelte seine Gestalt und wurde ein Stier« (κρύψε θεὸν καὶ τρέψε δέμας καὶ γίνετο ταῦρος). Die Hauptaussage steht im ersten Glied des Hauptsatzes: Zeus verbarg den Gott, d. h. er verbarg, dass er ein Gott war;120 die beiden anderen Glieder (»verwandelte seine Gestalt« und »wurde ein Stier«) haben lediglich explizierende Funktion, indem sie angeben, auf welche Weise Zeus seine Göttlichkeit verbarg. Wenn es aber entscheidend darauf ankommt, dass Zeus seine göttliche Identität nicht preisgeben will, dann kann die Person, vor der er »den Gott« verbirgt, keine Gottheit sein (also nicht Hera), sehr wohl aber eine sterbliche Frau, in die er sich verliebt hat und der er sich in seiner wahren Gestalt nicht nahen könnte, um sie zu verführen. Die Formulierung »verbarg er den Gott« ist also nichts anderes als eine feierliche Umschreibung der Verführungsstrategie, der eine solche Verwandlung ja auch sonst geschuldet ist.121 Die Gegenprobe wird uns durch den Epiker Nonnos ermöglicht, der die Entführung Europas durch Zeus mehr als ein halbes Jahrtausend nach Moschos in seinen Dionysiaka behandelt und sie als erster und einziger Dichter der griechisch-römischen Antike in die Zeit seiner Ehe mit Hera verlegt hat: Auch bei 118 Um das Motiv der eifersüchtigen Hera auch aus der älteren Literatur zu belegen, verweist Hunter 2004, 215 f. auf den Aphroditehymnus, aber das beruht auf einem Miss­ verständnis des Textes (s. o., S. 15 f., mit Anm. 9). 119 Bühler 1960, 122 f. verkennt das Problem in seiner Kommentierung des Verses, indem er Belege aus anderen Liebschaften des Zeus nennt, in denen aber (wenn überhaupt) natürlich nur die Geliebten des Zeus und nicht er selbst Heras Groll zu spüren bekommen. Ähnlich Campbell 1991, 81 »The detail [sic!] of the avoidance of Hera’s wrath had no doubt appeared often enough before Moschus«; von seinen Belegen bezieht sich aber nur einer ohne Zweifel (Nonn. Dion. 1, 324) und ein weiterer vielleicht auf Europa (Ov. f. 4, 720), und in beiden Fällen ist an die Möglichkeit, dass Zeus bzw. Jupiter sich vor dem Zorn seiner Gattin in acht nehmen müsste, gar nicht gedacht. 120 Vgl. dazu die von Bühler 1960, 123 f. und von Hopkinson 1988, 209 angeführten Parallelstellen. 121 Dazu o., Kap. 1.3 .

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ihm verwandelt Zeus sich in einen Stier, um Europa unerkannt entführen zu können, aber seine Gattin darf als ohnmächtige Beobachterin dabei zusehen und muss sich damit begnügen, das Geschehen mit einem bitteren Kommentar zu begleiten.122 Drittens stellt die Aussage von Vers 77 einen Fremdkörper sowohl in seinem engeren Kontext als auch in der Erzählung des Moschus insgesamt dar. Die Mädchen pflücken gemeinsam auf der Wiese am Meer Blumen, und Europa ragt unter ihnen empor wie Aphrodite unter den Chariten (V. 69–71). Dort erblickt sie der Göttervater, und weil er »von den unvorhersehbaren Geschossen der Kypris« bezwungen worden ist (V. 74–76), verwandelt er sich in einen wunderschönen Stier, »um den kindlich-zarten Sinn des Mädchens zu täuschen« (V. 78–79). Das ist ein ganz anderer Ton als in den Erzählungen, in denen der Göttervater wieder einmal mit aller Gewalt sein sexuelles Verlangen befriedigen möchte. Aber auch insgesamt ist das Epyllion des Moschos die Erzählung von einer unbeschwerten Liebe, beginnend mit dem schönen Traum Europas, in dem das glückliche Ende der Geschichte schon unmissverständlich vorweggenommen wird. Entsprechend ist auch die Göttin Aphrodite gezeichnet. Sie, deren Macht sonst oft als so grausam empfunden wird, lenkt das Geschehen mit fürsorglicher Hand, indem sie Europa nicht nur ihren süßen Traum sendet, sondern sogleich auch für dessen wunderbare Erfüllung sorgt, indem sie Zeus im rechten Moment mit ihren Geschossen trifft. Bedenkt man dann noch die ausgesprochen harmonische Szene, in der die Mädchen auf der Blumenwiese  – nämlich nicht nur Europa selbst, sondern auch ihre Freundinnen  – eine so eigentümliche Zuneigung zu dem wunderschönen Stier empfinden, dann wird man sagen müssen: Hier ist nirgendwo Platz für den Gedanken an künftiges Unheil durch den Zorn, den eine eifersüchtige Gattin an der von Zeus so sehr geliebten Europa auslassen könnte, und in der Tat hören wir bis zum Schluss des Epyllions an keiner Stelle mehr etwas von Hera. Aber auch über das Ende der Erzählung hinaus verbietet sich angesichts der wunderbaren Verheißung, die Europa in den letzten Versen des Gedichtes von Zeus erhält,123 jeder Gedanke daran, dass Hera sich im nachhinein an Europa rächen dürfte. Bleibt noch die Frage, wie der Vers in den Text hineingeraten sein könnte. Eigentlich sollte er schon deshalb verdächtig sein, weil der Sprachgebrauch, wie man längst bemerkt hat, anstößig und der Versanfang so korrupt ist, dass sich dafür keine befriedigende Emendation hat finden lassen.124 Hinzu kommt, dass 122 Dazu s. u., Kap. 5. 123 Mosch. Eur. 154–161 124 In Gows Ausgabe der Bucoli Graeci sind die Verse noch ohne Crux abgedruckt (1952; mehrfach nachgedruckt). Bühler 1960, 122 hat die Probleme im Einzelnen, die insbesondere die Korruptel †δὴ γὰρ† am Versanfang und das ungewöhnliche Partizip ἀλευόμενος betreffen, eingehend dargelegt und die Versuche, den Text zu heilen, für gescheitert erklärt (ibid. 37,

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die Überlieferung in dem darauf folgenden Vers 78 gespalten ist; die Konjunktion τ’ in παρθενικῆς τ’ ἐθέλων ist nämlich nur in einem Teil der Handschriften enthalten. Sie ist offenbar eingefügt worden, um den interpolierten Vers mit dem folgenden Text zu verknüpfen, vielleicht anstelle eines δ’, das an dieser Stelle gestanden haben könnte.125 Das Motiv des Interpolators ist evident. Er ließ sich von der allmählich zum Klischee geronnenen Vorstellung leiten, dass eine Geschichte, die von dem verliebten Zeus handelte, auch von Heras Eifersucht handeln müsse. Dabei übersah er, dass es auch Liebschaften des Zeus gab, in denen Hera gar nicht vorkam, weil man sich Zeus nicht als Ehemann vorstellte, wie etwa bei Leda und bei ­Danaë, aber das übersah nicht nur er, sondern mit ihm auch die meisten anderen Leser seit der Spätantike. Und ebenso leicht konnte und kann man vergessen, dass auch bei einem Seitensprung des Zeus die betrogene Hera sich immer nur an den Geliebten des Göttervaters rächt, weil sie diesem selbst nichts anhaben kann. Auch dafür haben wir bereits ein antikes Beispiel kennengelernt, nämlich das Resümee der Kallisto-Geschichte bei ›Hygin‹, in die die Bemerkung eingedrungen ist, Jupiter habe mit der Verwandlung seiner Geliebten in eine Bärin seinen ›Fehltritt‹ vor Juno zu verbergen versucht, obwohl sich das dort nicht einmal mit dem unmittelbar danach referierten Fortgang der Handlung vereinbaren lässt.126 Zeus bedient sich also bei Moschos zur Eroberung seiner Geliebten derselben List wie bei Hesiod: Er verbirgt seine Göttlichkeit, weil er Europa in seiner wahren Gestalt nicht für sich gewinnen könnte, und in einen Stier verwandelt er sich, um sie auf seinem Rücken entführen zu können.127 Wie der Stier, in den Zeus sich verwandelte, in den älteren Europa-Erzählungen aussah, entzieht sich unserer Kenntnis, aber da die hellenistische Dichtung bei der literarischen Gestaltung solcher Themen ihre eigenen künstle­rischen Prinzipien entwickelt hat, müssen wir hier mit größeren Unterschieden zu den Vorgängern rechnen. Moschos gibt eine weit ausholende Beschreibung in insgesamt neun Versen (V. 80–88). Sie beginnt damit, was der Zeus- Stier nicht war, nämlich (1) kein Stier wie der, der in Ställen aufgezogen wird, (2) kein Stier app. crit.: »neutrum in verborum contextum quadrat«), ohne V. 77 insgesamt in Frage zu stellen. Campbell 1991, 80 hat die Bedenken wenig überzeugend zu relativieren versucht. 125 Darstellung der handschriftlichen Überlieferung bei Bühler 1960, 1–16. Der Ambrosianus 121 (= F) hat παρθενικῆς τ’ ἐθέλων, der Basileensis (=B) und der Vaticanus 915 (=M) schreiben dagegen παρθενικῆς ἐθέλων. Das verweist auf eine Textfassung, in die der Vers 77 schon eingefügt, aber noch nicht durch ein τ’ mit dem Kontext (V. 78 ff.) verknüpft worden war. Durch eine Änderung des τ’ in ein δ’ in V. 78 würde das durch die Athetese entstehende etwas harte Asyndeton vermieden (Hinweis von J. Dingel). Darstellung der handschriftlichen Überlieferung bei Bühler 1960, 1–16. 126 S. o., S. 29 mit Anm. 52. 127 Hes. fr. 141 MW (Διὸς δμηθεῖσα δόλοισι) und 140 MW (τὴν Εὐρώπην ἀπατήσας); s. o. Kap. 3.1.

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wie der, den man beim Pflügen für die Feldarbeit verwendet, (3) kein Stier wie der, der bei der Herde weidet, (4) und auch kein Stier wie der, der einen schwerbeladenen Wagen zieht. Die Pointe dieser scheinbar etwas umständlichen Aufzählung erschließt sich erst auf den zweiten Blick: Sie ist völlig inhaltsleer. Für keine einzige der vier Gruppen wird ein spezifisches Merkmal genannt. Bei der zweiten und vierten Gruppe ist zwar implizit vorausgesetzt, dass die Stiere für die genannten Arbeiten kräftig genug sein müssen, aber dass der Zeus-Stier kein schwerfälliger Muskelprotz war, hätte sich der Leser auch selbst denken können.128 Bei der ersten und dritten Gruppe gibt es nicht einmal einen solchen Anhaltspunkt, denn dass sie entweder in Ställen oder auf der Weide leben, gilt für alle Stiere. Die vermeintliche »Beschreibung ex negativo« ist also in Wahrheit nichts anderes als eine vergnügliche Umschreibung der Behauptung, dass der Zeus-Stier keinem der vielen gewöhnlichen Stiere glich.129 Wie aber soll der Leser ihn sich dann vorstellen? Eigentlich müsste die Frage ja in der nun folgenden ›positiven‹ Beschreibung beantwortet werden. Aber auch dort erfahren wir nur etwas über die Farbe des Stiers, nämlich dass er goldbraun war und dass sich auf seiner Stirn ein silberfarbener Kreis befand. Danach werden zwar noch die Augen und die Hörner erwähnt, aber es wird nichts darüber gesagt, wie die Augen aussahen, also nichts über ihre Form, über ihre Größe oder über ihre Stellung, sondern nur über ihre besondere Wirkung, nämlich dass sie glänzten und lieblich blitzten, und bei den Hörnern ist es ganz ähnlich: Wir erfahren nichts über ihre Größe, ihre Form oder ihre Farbe, sondern nur etwas über ihre Schönheit, nämlich dass sie regelmäßig gebildet waren und dass ihr Halbrund der Mondsichel glich.130 Das Motiv für die konsequent reduktionistische Beschreibung ist evident, denn alle konkreten Angaben zum Aussehen des Stiers hätten den Eindruck verwischt, dass der Zeus-Stier völlig anders als ein gewöhnlicher Stier aussah. Da es dem Erzähler jedoch allein auf das totaliter aliter ankam, konnte er es jedem einzelnen Leser überlassen, sich gemäß seiner Imaginationskraft die wunderbare Gestalt vorzustellen, die der 128 Bühler 1960, 129 hat zu V. 81 auf das Epigramm des Moschos fr. 4, 5 (Anth. Plan. 200 = Anth. Pal. 16, 200) hingewiesen, dessen Pointe (V. 5 f.) auf dem »spielerischen Gedanken, den Zeus-Stier beim Pflügen zu verwenden« beruht: εἴπε (sc. ῎Ερως) δ’ ἄνω βλέψας αὐτῷ Διί· πλῆσον ἀρούρας, / μή σε, τὸν Εὐρώπης βοῦν, ὑπ’ ἄροτρα βάλω; weitere Belege bei Bühler ibid. Anm. 1. 129 Anders Kuhlmann 2004, 289 f.; er vermutet, Moschos wolle mit seiner »bemüht apologetischen Beschreibung dieses wunderbaren Stieres ex negativo« den Stier im voraus gegen etwaige Kritik verteidigen, wie sie in den »satirisch-humoristischen Darstellungen gerade dieser Zeus-Rolle« in der Dichtung mehrfach belegt sei. Ob Moschos das für nötig hielt, sei dahingestellt, aber die von Kuhlmann ibid. zitierten Belege sind trotzdem hilfreich. 130 Die Farbe des Fells: Mosch. Eur. 84–85, das liebliche Blitzen der Augen: V. 86, das Ebenmaß der Hörner: V. 87–88. Der Vergleich mit dem Halbrund des Mondes ist in der antiken Dichtung vielfach belegt (dazu Bühler 1960, 136 f.) und setzt selbstverständlich voraus, dass sie gekrümmt waren.

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Göttervater annahm, als er sich in einen Stier verwandelte, ohne zu einem wirklichen Stier zu werden.131 Damit aber ist auch die erstaunliche Wirkung schon im voraus erklärt, die der Zeus-Stier von Anfang an auf Europa und ihre Freundinnen ausübt, als er völlig unerwartet auf die Blumenwiese kommt: »Sein Erscheinen erschreckte die Mädchen nicht, sondern alle ergriff Verlangen (Eros), sich ihm zu nähern und den lieblichen Stier zu berühren.«132 In dem kollektiven Entzücken dürfen wir einen weiteren Hinweis darauf sehen, dass die Europa-Erzählung eine Braut­ raub-Erzählung ist: Der Entführer wird nicht nur von der Entführten, sondern auch von deren häuslichem Umfeld akzeptiert. Nicht von ungefähr verströmt der Zeus-Stier einen intensiven Duft von Ambrosia, den »göttlichen Wohlgeruch«.133 Und was zuvor als seine Absicht angekündigt worden war, nämlich »den kindlich-zarten Sinn« Europas zu täuschen, gelingt ihm rasch und in vollendeter Weise. Als er ihr den Hals leckt, ist sie so bezaubert, dass sie ihm den Schaum vom Maul abwischt und ihn dann sogar küsst. Darauf antwortet er – und erneut offenbart sich, wieder in leicht humoristischer Inszenierung, das to­ taliter aliter dieses Stiers  –, indem er so lieblich muht wie eine mygdonische Flöte. Zugleich wendet er sich Europa zu, geht vor ihr in die Knie und zeigt ihr seinen breiten Rücken.134 In der unverhohlenen Erotik der Szene und der augenfälligen, wenn auch unbewussten Hingabe Europas an den unerkannten Gott wiederholen sich die Motive, die schon die Traumszene bestimmt haben, und Europa ist auch hier, selbst bei dem Kuss, ganz unschuldig-naiv.135 Deshalb bezieht sie die Einladung auch nicht nur auf sich selbst, sondern zugleich auch auf ihre Freundinnen und 131 Man ist bei dieser Beschreibung versucht, an den Stier auf der Metope von Selinunt zu denken (LIMC IV, Europe I, Nr. 78): »Ein solch ernster, prosaischer Wirklichkeitssinn lag dem selinuntischen Bildhauer völlig fern: sein Stier ist mit Nektar und Ambrosia genährt, mit den kostbarsten Ölen gesalbt und nie von Fliegen geplagt worden« (Giuliani 1979, 47). Für zahlreiche Vasenbilder gilt mutatis mutandis das gleiche. 132 Mosch. Eur. 89–91: οὐκ ἐφόβησε φααντεὶς / παρθενικάς, πάσῃσι δ’ ἔρως γένετ’ ἐγγὺς ἱκέσθαι / ψαῦσαί θ’ἱμερτοῖο βοός. 133 Mosch. Eur. 91 f. und dazu Bühler 1960, 139 f. sowie Campbell 1991, 89. In den älteren Erzählungen duftete er offenbar nach Safran oder nach Rosen. 134 Dass der Stier Europa bezaubert (κατέθελγε), indem er ihr den Hals leckt, steht in V. 94, die Liebkosungen und der Kuss in 95–96, in V. 97–98 muht er wie eine mygdonische Flöte, und in V. 99–100 blickt er Europa an und zeigt ihr seinen breiten Rücken. Der Schaum (ἀφρός / aphros) am Maul verweist wohl doch auf die ›schaumgeborene‹ Aphrodite. Vgl. im übrigen zu den erotischen Konnotationen der Verse Campbell 1991, 92 f. 135 Anders Bühler 1960, 143; er kommentiert den Vers 96 mit dem Hinweis: »Ein Tier zu küssen galt als verächtlich […] Statt des Personalpronomens neben κύσε wohl absichtlich ταῦρον zur Betonung des Indezenten.« Dabei ist nicht bedacht, dass der Zeus-Stier kein wirkliches Tier ist und auch Europa ihn nicht dafür hält. Die von Schmiel 1981 und von Campbell 1991 verfochtene These, »to see Europa as a sexually aggressive person«, hat Reeves 2003, 87–92 mit guten Gründen zurückgewiesen (das Zitat: ibid. 87).

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fordert sie auf, mit ihr zusammen auf den Rücken des Stiers zu steigen, weil er so mild, so sanft anzuschauen und lieblich sei (V. 102–105). Und wenn sie noch hinzufügt, er gleiche überhaupt nicht anderen Stieren, dann lässt der Erzähler sie mit anderen Worten genau das wiederholen, worauf es ihm bei seiner Beschreibung vor allem ankam. Ja, er lässt sie sogar noch einen deutlichen Schritt weiter gehen: er habe, so beendet Europa ihre kleine Rede, einen »rechtschaffenen Sinn« wie ein Mensch, es fehle ihm nur die Sprache.136 Dann setzt sie sich als erste lächelnd auf seinen Rücken, und sie rechnet überhaupt nicht damit, dass er aufspringen und sie davontragen könnte. Aber selbst als genau das geschieht, und zwar bevor die Freundinnen ihrem Beispiel folgen können, reagiert sie völlig anders, als man es von einer Frau in einer solchen Situation erwarten würde. Kein Wort des Erschreckens, keine Hilferufe, ganz im Gegenteil: Europa bleibt voller Zuversicht und ruft noch einmal ihre Freundinnen herbei, »aber die konnten sie nicht mehr einholen« (V. 112)137 – ein einprägsames Sinnbild für den Abschied, den eine Braut nimmt, wenn sie ihrem künftigen Mann folgt und ihre Freundinnen zurücklässt. Der Gegensatz zu der brutalen Gewalt, von der der Raub der Persephone beherrscht ist, könnte krasser nicht sein. Gleich danach ist der Zeus-Stier schon auf dem Meer, aber statt zu schwimmen, läuft er über die Wogen, ohne sich die Hufe zu benetzen.138 Das gehört zu den wunderbaren und zugleich heiteren Zügen der Erzählung, und damit beginnt dann auch schon der berühmte Hochzeitsthiasos. Diese Szene ist von entscheidender Bedeutung für die Europa-Erzählung des Moschos, weil sich das hier geschilderte wunderbare Vermählungsritual nicht durch den Hinweis auf terminologische Ambiguitäten relativieren lässt und zugleich auf die zahlreichen Vasenbilder zurückverweist, die schon Jahrhunderte zuvor die entführte Europa als eine Braut auf dem Wege zur Vermählung mit dem Götterkönig dargestellt hatten.139 Das Meer glättet sich unter den Schritten des verwandelten 136 Mosch. Eur. 105–107. Der Begriff αἴσιμος in V. 107 (»rechtschaffen«; dazu s. Campbell 1991, 107) ist besonders wichtig, weil er explizit zum Ausdruck bringt, warum Europa überzeugt ist, dass sie sich dem Stier ganz unbesorgt anvertrauen kann und weil es keinen Anlass für die Vermutung gibt, dass sie dies zu Unrecht annähme. Bühler 1960, 148 hält die ethische Bedeutung an dieser Stelle zwar für »sinnlos« (und übersetzt deshalb »freundlichen Sinn«), gibt aber selbst zu Europas Worten V. 106 f. den wichtigen Hinweis: »νόος und αὐδή sind durch die Stellung hervorgehoben. Sie sind die Eigenschaften, die über den Bereich des Animalischen hinausführen.« (ibid. 147). 137 Mosch. Eur. 102–112; dass Europa lächelt, als sie den Stier besteigt, wird in V. 108 gesagt (μειδιόωσα). 138 Mosch. Eur. 113 f.; vgl. dazu Bühler 1960, 154 und Reeves 2003, 57. 139 Dazu oben zu Beginn von Kap. 3.1.; zum wechselseitigen Einfluss von Dichtern und Malern bei der Darstellung der über das Meer getragenen Europa s. Bühler 1960, 165 f. und vor allem Harden 2011, 98. Verknüpfung des Hochzeitsthiasos bei Moschos (und bei Lukian) mit den prächtigen Vasenbildern schon bei Jahn 1870, 48–50.

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Zeus, und Delphine und Nereiden tauchen aus den Meereswellen empor. Schließlich erscheint sogar Poseidon, um seinem Bruder den Weg zu weisen, und damit »wird klärlich auf den Geleiter des Hochzeitszuges angespielt, der beim Überführen der Braut in ihr neues Heim vor dem Hochzeitswagen schreitet.«140 Um ihn herum scharen sich die Tritonen und blasen die Hochzeitsmusik (γάμιον μέλος).141 Inmitten des Hochzeitszuges aber sitzt Europa auf dem Rücken des Stiers, hält in der einen Hand sein Horn und hebt mit der anderen die Falten ihres purpurfarbenen Gewandes hoch, das sich im Winde bauscht wie ein Schiffssegel, während sie sich als Braut über das Meer tragen lässt.142 Den modernen Leser erinnert das fast an eine Filmszene, und das gleiche gilt für die literarische Technik, derer Moschos sich hier bedient: zuerst der Blick des Lesers auf die Fahrt der Protagonistin über das Meer, dann ein Schnitt, und es folgt der Blick, den die Protagonistin selbst auf das Meer richtet, auf dem sie sich von dem Stier davontragen lässt. Das ist der Moment, in dem die Entführte beginnt, sich ihrer Entführung bewusst zu werden: ἡ δ’ὅτε δὴ γαίης ἄπο πατρίδος ἦεν ἄνευθε, φαίνετο δ’ οὔτ’ ἀκτή τις ἁλίρροθος οὔτ’ ὄρος αἰπύ, ἀλλ’ ἀὴρ μὲν ὕπερθεν, ἔνερθε δὲ πόντος ἀπείρων ἀμφὶ ἓ παπτήνασα τόσην ἀνενείκατο φωνήν·143

In der grenzenlosen Unendlichkeit von Himmel und Meer nimmt das unbekannte Niemandsland (γαίης ἄπο πατρίδος ἄνευθε) Gestalt an, das die entführte Braut durchqueren muss, um von ihrer bisherigen in ihre künftige Heimat zu gelangen, von der sie noch nichts weiß und die die ihres Bräutigams ist. 140 Bühler 1960, 163. Vgl. auch Gutzwiller 1981, 71: »It is made explicit that this is  a­ wedding procession by the fact, that Poseidon, as brother of the groom, serves as leader [Verweis auf Bühler 1960, 163] and that the Tritons play a wedding song on their conch shells.« 141 Beginn des Hochzeitsthiasos V. 115, die Delphine und der Chor der Nereiden V. ­117–119, Poseidon als Führer des Hochzeitszuges V. 120–122a, die Tritonen und die Hochzeitsmusik V. 122b–124. Bühler 1960, 163–165 verweist auf die damit vergleichbare Szene bei Nonnos. Aber das Motiv war auch sonst beliebt und weit verbreitet, was trotz des Verlusts aller anderen hellenistischen Darstellungen durch die Vasenbilder hinreichend dokumentiert ist, und es wird bei Nonnos in ganz anderer Weise benutzt (dazu s. u. Kap. 5.). Bei Lukian singen Eroten den Hochzeitsgesang (Luc. dial. mar. 15,3). 142 Ausführliche Kommentierung der Szene Europa auf dem Rücken des Stiers (V. ­125–130) und ihrer vielfältigen literarischen Bezüge sowie ihrer Wirkung auf die spätere Dichtung bei Bühler 1960, 165–173. Zu den unterschiedlichen Varianten dieses Bildtypus auf den archäologischen Denkmälern s. u., S. 173 f. Die uns heute besonders vertrauten Gemälde der Neuzeit gehen aber natürlich nicht so sehr auf die Darstellung des Moschos, sondern eher (wenn überhaupt auf eine literarische Vorlage) auf die Ovids zurück. 143 Mosch. Eur. 131–134: »Als sie nun fern von ihrem heimatlichen Land war und weder eine meerumrauschte Küste noch ein steiler Berg zu sehen war, sondern nur Luft oben und unten das unendliche Meer, da ließ sie den Blick um sich schweifen und brach das Schweigen mit den Worten […].«

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Europa jedoch, und das ist das Ungewöhnliche an der Darstellung des Moschos, beginnt sich erst mitten in diesem Niemandsland bewusst zu werden, was mit ihr geschieht. Noch erstaunlicher aber ist, dass die Worte, die sie in diesem Moment an ihren Entführer richtet, wiederum nicht etwa Worte der Furcht und des Schreckens sind, sondern des Staunens und der Verwunderung.144 Ganz am Anfang steht zwar die Frage nach dem Ziel der Entführung, aber viel mehr scheint Europa sich für die Identität ihres Entführers zu interessieren, und es ist nicht ohne Witz, dass die selbst so furchtlose ihn fragt, wieso er, anders als alle anderen Stiere, keine Furcht vor dem Meer empfinde.145 Schon bei der ersten Begegnung auf der Blumenwiese hatte Europa zu ihren Freundinnen gesagt, dass dieser Stier ihr menschengleich erscheine;146 doch nun, als sie sich darüber klar wird, wie sehr alles, was dieser Stier tut, jeder Erfahrung widerspricht, erscheint er ihr nicht nur menschengleich, sondern er wird für sie zu einem überirdischen Wesen, einem gottgleichen Stier, ja einem Gott. Dadurch aber verwandeln sich die Fragen, die sich ihr angesichts des rätselhaften Geschehens stellen, in Ahnungen, mit denen sie das Rätsel selbst zu lösen beginnt.147 In der Reflexion des äußeren Geschehens ist damit ein Zielpunkt erreicht, der sich strukturell in der scharfen Zäsur zwischen den beiden Teilen der Europa-Rede abbildet. Das Thema der zweiten Redehälfte, die hier beginnt, ist die Selbstreflexion Europas (V. 146–152). Sie besteht wiederum aus zwei Abschnitten, die antithetisch durch die Personalpronomina ich und du eng aufeinander bezogen sind: Zuerst spricht Europa sich selbst an, danach wendet sie sich in einem Gebet an Poseidon. Der erste der beiden Abschnitte, also die Selbstreflexion Europas im engeren Sinne, hat der Forschung besonders großes Kopfzerbrechen bereitet. Indessen lösen sich alle relevanten Probleme von selbst, sobald man das durch einen Brautraub vorgegebene Deutungsmuster appliziert. Die Selbstreflexion Europas beginnt mit den Worten: 144 Vgl. Bühler 1960, 176: »Das Furchtbare, das einer Entführung eigentlich innewohnt, ist teils durch jugendliche Unbekümmertheit, teils durch Ahnen des wahren Sachverhalts überdeckt […].« 145 Mosch. Eur. 135–138: »πῇ με φέρεις, θεόταυρε; τίς ἔπλεο; πῶς δὲ κέλευθα / ἀργαλέ’ εἰλιπόδεσσι διέρχεαι, οὐδὲ θάλασσαν / δειμαίνεις; νηυσὶν γὰρ έπιδρομός ἐστι θάλασσα /  ὠκυάλοις, ταῦροι δ’ ἁλίην τρομέουσιν ὰταρπόν« (»Wohin bringst du mich, Gottstier? Wer bist du? Wie kommt es, dass du die Pfade, die schwierig sind für die schleppfüßigen Rinder, durchschreitest, ohne das Meer zu fürchten? Für die schnellfahrenden Schiffe ist das Meer ja gangbar, aber die Stiere fürchten sich vor dem salzigen Meer.«). 146 Mosch. Eur. 105–107: »[…] und er gleicht nicht den anderen Stieren, sondern ein freundlicher Sinn, wie der eines Menschen, umgibt ihn; es fehlt ihm nur die Sprache.« (»[…] οὐδέ τι ταύροις / ἄλλοισι προσέοικε· νόος δέ οἱ, ἠύτε φωτός, / αἴσιμος ἀμφιθέει, μούνης δ’ ἐπιδεύεται αὐδῆς«). 147 Das θεόταυρε (V. 135) wird in den folgenden Versen (135–145) in mehrfacher Hinsicht entfaltet und reflektiert, gipfelnd in der Frage V. 140: »Bist du etwa ein Gott?« (ἦ ἄρα τις θεός ἔσσι;).

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ὤμοι ἐγὼ μέγα δή τι δυσάμμορος, ἥ ῥά τε δῶμα πατρὸς ἀποπρολιποῦσα καὶ ἑσπομένη βοῒ τῷδε ξείνην ναυτιλίην ἐφέπω καὶ πλάζομαι οἴη.148

Wenn eine Frau eine Ehe eingeht, dann verlässt sie ihr väterliches Haus und ihre vertraute Umgebung, und sie folgt ihrem künftigen Manne. Deshalb sind λείπω (ich verlasse) und ἕπομαι (ich folge) von jeher die Signalwörter für eine Eheschließung, ganz gleich, ob sie in der Form eines Brautraubs oder in anderer Form erfolgt. Der früheste literarische Beleg dafür sind die Worte, die Helena in der Teichoskopie der Ilias an Priamos richtet: ὡς ὄφελεν θάνατός μοι ἁδεῖν κακὸς ὁππότε δεῦρο υἱέϊ σῷ ἑπόμην, θάλαμον γνωτούς τε λιποῦσα παῖδά τε τηλυγέτην καὶ ὁμηλικίην ἐρατεινήν.149

Helena bereut, dass sie Paris gefolgt ist und ihre Angehörigen verlassen hat – die beiden Begriffe ἑπόμην und λιποῦσα stehen in ein und demselben Vers –, und auch hier ist ihr Entführer eben nicht nur ihr Liebhaber, sondern er hat sie in seine Heimat gebracht, um dort mit ihr die Ehe zu schließen, und sie ist seine Gattin geworden.150 Die einzige Besonderheit liegt darin, dass das vertraute Heim, das Helena verlassen hat, nicht das ihres Vaters, sondern, weil sie bei der Entführung bereits verheiratet war, das ihres früheren Gatten ist. Bei Moschos war das Motiv schon in der Traumszene angeklungen, in der es hieß, die ›Fremde‹ (also der personifizierte ›Erdteil‹ Asien) habe sich fester an das junge Mädchen (nämlich Europa) zu klammern versucht und gesagt, sie selbst habe sie geboren und aufgezogen,151 und auch der baldige Übergang der jungen Europa von dem Leben als Mädchen zu dem als verheiratete Frau war schon unmittelbar vor der Entführung in einem Leitvers angekündigt und thematisiert worden.152 Jetzt lässt der Erzähler Europa erkennen, dass dies nun geschieht und dass sie selbst es initiiert hat. Dafür steht die typologisch eindeutige Antithese λείπω – ἕπομαι: Sie hat das Haus des Vaters verlassen (δῶμα πατρὸς ἀποπρολιποῦσα) und betreibt eine Fahrt auf dem Meer in die Fremde 148 Mosch. Eur. 146–148: »Ach, ich Unglückselige, dass ich das Haus des Vaters verlassen habe und diesem Stier gefolgt bin, eine Fahrt auf dem Meer (eig. »mit dem Schiff«) in die Fremde betreibe und allein umherirre!« 149 Hom., Il. 3, 172–176: »Hätte mir doch lieber der Tod gefallen, der schlimme, als ich hierher deinem Sohn gefolgt bin und das Ehegemach und die Meinen verließ und die Tochter, die spätgeborene, und die lieblichen Altersgenossen!« (Übersetzung: Schadewaldt). 150 Il. 3, 163 bezeichnet Priamos Menelaos als Helenas früheren Gatten (πρότερόν τε πόσιν), V.171 redet Helena Priamos als ihren Schwiegervater an, und V. 180 sagt sie, dass Agamemnon ihr Schwager war. 151 Mosch. Eur. 11 f.: […] καὶ μᾶλλον ἑῆς περιίσχετο κούρης, / φάσκεν δ’ ὥς μιν ἔτικτε καὶ ὡς ἀτίτταλέ μιν αὐτή. 152 Mosch. Eur. 72 f.

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(ξείνην ναυτιλίην ἐφέπω).153 Die Europa des Moschos wird sich also dessen bewusst, dass sie nicht nur etwas mit sich hat geschehen lassen, sondern dass sie auch selbst daran mitgewirkt hat.154 Damit ist die immer wieder gestellte Frage, was diese Europa überhaupt zu ihren Selbstvorwürfen veranlasst, obwohl hier doch gar kein Raum sei für eine »Schuld«,155 eigentlich schon beantwortet. Denn rätselhaft sind die Selbstvorwürfe nur dann, wenn man sie in moralischen Kategorien der Neuzeit statt in solchen der antiken Gesellschaftsordnung zu erfassen versucht. Um es auf eine allgemeine Formel zu bringen: Eine junge Frau, die sich darüber hinwegsetzt, dass die Entscheidung über ihre Eheschließung der Zustimmung ihres Vaters bedarf und die von sich aus einem Bräutigam folgt, begeht einen schweren Verstoß gegen eine der Grundregeln, auf die sich diese Gesellschaftsordnung stützt, und das gilt selbstverständlich nicht nur für den besonderen Fall eines Braut­ raubs. Deshalb geht es an der Sache vorbei, wenn man meint, solche Selbstvorwürfe passten nur zu den großen Heroinen des Mythos wie Medea und Ariadne, nicht aber zu Europa. Dass Medea und Ariadne sehr viel mehr Grund haben als Europa, sich schwere Vorwürfe zu machen, ist zwar richtig, aber nur deshalb, weil sie sich zugleich eines noch viel schlimmeren Vergehens schuldig machen. Sie müssen in einer Konfrontation auf Leben und Tod Partei ergreifen zwischen ihrem Geliebten und ihrem Vater, befinden sich also a priori in einer völlig anderen, viel komplexeren Situation. Daraus resultiert ein existentieller innerer Konflikt, den sie in dramatischen Monologen austragen und den sie dadurch entscheiden, dass sie um ihrer Liebe willen ihren eigenen Vater verraten. 153 Das Adjektiv-Attribut ξείνην in V. 148 (zu ναυτιλίην) und das Genitiv-Attribut πατρός in V. 147 (zu δῶμα) sind in semantischer Opposition aufeinander bezogen und bringen die Antithese Fremde  – Heimat auf den Begriff; deshalb geht mit der Übersetzung »seltsam« (so Bühler 1960 und Beckby 1975; ähnlich Hopkinson 1988, 213) die wichtigste Bedeutungskomponente verloren; sehr viel treffender Campbell 1991, 120: »›foreign‹, ›to foreign parts‹, far away from her home […], but also of course ›strange‹, ›outlandish‹.« Der Gegensatz wird noch dadurch verstärkt, dass auch die beiden Substantive einen Gegensatz ausdrücken: Eine Fahrt über das Meer (ναυτιλίη) ist eine Fahrt in die Ferne, weit weg vom Haus (δῶμα), in dem man lebt oder gelebt hat. 154 Das wird zusätzlich betont durch den Begriff ἐφέπω (148); zur Wortbedeutung vgl. Campbell 1991, 121: »›busy myself with‹, (actively) pursue’.« Gutzwiller 1981, 72: »It is not an abducted maiden, but a woman who has willingly abandoned her father or husband for a lover who utters this type of regret.« Anders Hunter 2004, 219: »what self-pity there is (vv. 146–8) does not conceal her responsibility for what has happened, even though this is hardly fair on herself, and evokes the pattern, applicable both to marriage and ›elopement‹, of ›abandoning the father’s house and following a man [or, in this case, bull]‹« (mit Verweis auf Apoll. Rhod. 4, 185–187). 155 Eine ebenso ausführliche wie detaillierte Erörterung der gesamten Thematik unter dem nicht sehr glücklichen Oberbegriff ›Schuld‹ findet sich bei Bühler 1960, 184–187; vgl. aber schon Schmiel 1981, 267: »She does not talk to her father, as Io and Nausicaa did – granted that Nausicaa attempted unsuccessfully to conceal the reason – or to her sister, as Medea tried to do.« Zu den Selbstvorwürfen Europas bei Horaz s. u. Kap. 3.4.

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Nichts davon trifft auf Europa zu. Einen Entscheidungsmonolog kann es in dieser Erzählung schon deshalb nicht geben, weil Europa sich in keinem inneren Konflikt befindet. Und als sie auf den Rücken des Stiers steigt, lässt sie sich nur von ihrer Intuition leiten. Erst im nachhinein wird ihr bewusst, dass sie in dem Moment, in dem sie sich dem Stier anvertraut hat, ihr Vaterhaus verlassen und ein unveräußerliches Vorrecht ihres Vaters missachtet hat.156 Als Strukturelement des Brautraubs entspricht das, wie wir gesehen haben, dem Verstoß gegen die Regel, dass der Entführer das Einverständnis der Brauteltern einzuholen hat, gegen eine Regel also, die für den Göttervater nicht gelten kann. Indessen wäre jeder antike Leser befremdet, wenn Europa sich für berechtigt hielte, das Haus ihres Vaters ohne dessen Einverständnis zu verlassen, und man darf hinzufügen, dass Moschos seine Europa die Vorwürfe so verhalten wie nur eben möglich formulieren lässt.157 Aus der Perspektive des Erzählers und seiner intendierten Leser ist Europas Vergehen ohnehin mehr als verzeihlich, denn sie hat ja aus Liebe gehandelt, und in der Welt der Liebesdichtung ist alles verzeihlich, was aus Liebe geschieht. In der Verknüpfung von geringer Schuld und großer Liebe liegt der besondere Reiz des Motivs, das es in den älteren Erzählungen ganz gewiss noch nicht gegeben und mit dem die hellenistische Liebesdichtung sich den Europa-Mythos an­verwandelt hat.158 Den Schluss der Rede bildet Europas Gebet an Poseidon: ἀλλὰ σύ μοι, μεδέων πολιῆς ἁλὸς  Ἐννοσίγαιε, ἵλαος ἀντιάσειας, ὃν ἔλπομαι εἰσοράασθαι τόνδε κατιθύοντα πλόον προκέλευθον ἐμεῖο· οὐκ ἀθεεὶ γὰρ ταῦτα διέρχομαι ὑγρὰ κέλευθα.159

Schon der Inhalt des Gebets ist bemerkenswert: Europa macht sich weiterhin nicht die geringsten Sorgen wegen ihrer Entführung, ganz im Gegenteil, jetzt denkt sie überhaupt nur noch an das Ziel, zu dem sie von ihrem Entführer gebracht werden soll und das sie unter dem Schutz des Poseidon wohlbehal-

156 Anders z. B. Kuhlmann, der 2004, 277 von einem »kurzem Bedauern über den Verlust [sic] ihres Elternhauses« spricht. 157 Vor allem der Beginn der Perikope (ὤμοι ἐγὼ μέγα δή τι δυσάμμορος, V. 146) erweckt den Eindruck, dass Europa selbst es als vom Schicksal (μοῖρα) verhängt empfindet, dass sie dem Stier gefolgt ist. 158 Vgl. Bühler 1960, 187: »Erst mit der Verschiebung des Akzents vom eigentlichen Raub in Richtung auf eine mehr oder weniger gewollte Entführung ist die Möglichkeit von Schuld und Selbstvorwurf gegeben. Es spricht manches dafür, daß diese Umformung des Mythos erst in hellenistischer Zeit, möglicherweise sogar von M., vorgenommen wurde.« 159 Mosch. Eur. 149–152: »Aber du, Gebieter des grauen Meeres, Erderschütterer, zeige dich mir gnädig, den ich zu erblicken meine als den Lenker dieser Fahrt, als meinen Wegbereiter. Denn nicht ohne göttlichen Willen durchschreite ich die nassen Pfade.«

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ten erreichen möchte.160 Narratologisch kommt das darin zum Ausdruck, dass die Divergenz zwischen der Perspektive des Betrachters und der der Protagonistin nun aufgehoben wird. War vorher, als sie sich ihrer Situation bewusst zu werden begann, der Blick Europas auf die endlose Weite des unbelebten Meeres antithetisch auf die Beschreibung bezogen, mit der dem Leser das Bild des festlichen Hochzeitszuges über das Meer – und mitten im Hochzeitszug Poseidon als Brautführer – vor Augen gestellt worden war, so meint nun auch Europa zu sehen, dass der Meergott ihre Fahrt lenkt und ihr Wegbereiter ist.161 Damit aber führt der Erzähler das zum Ziel, was er in den ersten Versen des Epyllions eingeleitet hatte. Schon dort war nicht zu verkennen, wie sehr es Moschos auf das unbewusste Einverständnis seiner Europa mit ihrer Entführung ankam, und im Fortschreiten der Erzählung erwies sich dieses Einverständnis immer mehr als das Leitmotiv seiner Darstellung. Hier nun, in den letzten Versen ihrer Rede und am Ende des Epyllions, lässt Moschos die entführte Europa sich ihrer selbst so gewiss werden, dass sie in ihre Bestimmung einwilligt, bevor sie sie überhaupt kennt: »Nicht ohne göttlichen Willen durchschreite ich die nassen Pfade.«162 Das aber bedeutet: Die Europa des Moschos ist sich einer Zukunft gewiss, die jedenfalls nicht in einem Liebesabenteuer bestehen wird. Die Antwort auf ihr Gebet gibt ihr nicht Poseidon, nicht der Brautführer also, sondern Zeus selbst, der Bräutigam. Dass er sie ihr sofort gibt, also noch auf hoher See und schon vor der Ankunft in seiner Heimat Kreta, dürfte, wie Bühler wahrscheinlich gemacht hat, eine Erfindung des Moschos sein, und das gilt dann wohl auch für die Trostrede insgesamt.163 Zeus weiß natürlich, dass Europa sich nicht ängstigt wegen der Entführung. Aber auch über die Gefahren des Meeres hatte sie in der an ihn gerichteten Rede kein einziges Wort verloren, und das scheint nun sogar dem Göttervater fast unglaublich zu sein. Deshalb versichert er ihr vor allem anderen: »Sei getrost, Jungfrau, fürchte dich nicht vor dem Meeresgewoge!«164 Erst danach folgt die eigentliche Rede des Zeus: 160 So schon Bühler 1960, 189: »Weit entfernt, um Befreiung aus der gegenwärtigen Situation zu bitten […], zeigt Europa durch ihre Worte, daß sie in ihr Schicksal einwilligt.« 161 Bühler 1960, 189 verweist zu Recht auf die (Europa unbewusste) Doppeldeutigkeit ihrer Worte, ein von Moschos wiederholt angewandtes Darstellungsmittel: »für Europa ist Poseidon Geleiter, für den Leser Führer des Brautzuges; für Europa geschieht die Fahrt ›nicht ohne den Willen der Götter‹, der Leser weiß, in welchem der Sprechenden selbst noch verborgenen Sinn diese Worte wahr sind.« 162 Mosch. Eur. 152: οὐκ ἀθεεὶ γὰρ ταῦτα διέρχομαι ὑγρὰ κέλευθα. 163 Bühler 1960, 176 f.; ibid. 177: »[…] dagegen ist es auffallend, daß sich bei M. Zeus schon während der Fahrt Europa zu erkennen gibt. Alle anderen Autoren berichten, daß die Erkennung erst bei der Rückverwandlung auf Kreta stattfand, und das scheint auch das Natürliche zu sein.« 164 Mosch. Eur. 154: θάρσει, παρθενική, μὴ δείδιθι πόντιον οἷδμα. Das ist sehr hübsch und steigert die Komik, die schon darin lag, dass die selbst so furchtlose Europa den Stier gerade eben gefragt hatte, wieso er gar keine Furcht vor dem Meer habe (V. 136 f.).

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Die Entführung Europas als Brautraub des Zeus 

αὐτός τοι Ζεύς εἰμι, κεἰ ἐγγύθεν εἴδομαι εἶναι ταῦρος, ἐπεὶ δύναμαι γε φανήμεναι ὅττι θέλοιμι. σὸς δὲ πόθος μ’ ἀνένηκε τόσην ἅλα μετρήσασθαι ταύρῳ ἐειδόμενον.165

Zeus beginnt mit dem Wichtigsten, der feierlichen Preisgabe seiner Identität, und spricht gleich danach von seiner Liebessehnsucht nach Europa. Die Worte σὸς δὲ πόθος an der Spitze des Satzes erinnern den Leser sowohl inhaltlich als auch begrifflich (πόθος) an die Sehnsucht, die Europa empfand, als sie an ihren Traum zurückdachte,166 und damit wird erneut die Gegenseitigkeit dieser Liebe thematisiert. Viel wichtiger aber ist der Kontext, in dem das σὸς δὲ πόθος hier erscheint. Wenn ein Gott von Liebesverlangen nach einer schönen Frau ergriffen wird, dann weiß er auch Mittel und Wege, dieses Verlangen so bald wie möglich zu stillen. Aber dafür, dass ein von Liebessehnsucht überwältigter Gott mit der geliebten Frau erst einmal eine lange Fahrt über das Meer unternimmt (τόσην ἅλα μετρήσασθαι), bevor er sich seine Wünsche erfüllt, gibt es kein weiteres Beispiel in der antiken Literatur. Die Worte, mit denen Zeus diesen langen Weg zum Ziel bei Moschos erklärt, sind jedoch ebenso klar wie einleuchtend: »Kreta wird dich nunmehr aufnehmen, das auch mich selbst aufzog; dort wird deine Hochzeit stattfinden.«167 Zeus hat das weite Meer also nur deshalb zusammen mit Europa überquert, weil er sie, und damit wird der entscheidende Punkt, durch den sich ein Braut­ raub von jeder anderen Entführung unterscheidet, vom Göttervater selbst ausgesprochen, als Bräutigam in seine Heimat Kreta bringen und dort mit ihr die Ehe schließen will. Die Ankündigung, dass Kreta sie aufnehmen werde (σε δέξεται168), korrespondiert mit den Worten, dass Kreta auch ihn schon auf­ gezogen habe (ἤδη / ἥ μ’ ἔθρεψε καὶ αὐτόν). Die zitierten Worte des Zeus sind das feierliche Versprechen des Bräutigams, dass er die entführte Frau als seine Gattin zu sich nehmen will, und das wäre eigentlich schon Verheißung genug. Der Göttervater fügt jedoch noch hinzu, dass Europa die Mutter seiner Kinder, hochberühmter Söhne, sein werde: ἐξ ἐμέθεν δὲ κλυτοὺς φιτύσεαι υἷας, / οἳ σκηπτοῦχοι ἅπαντες ἐπιχθονίοισιν ἔσσονται.169

165 Mosch. Eur. 155–158a: »Ich bin Zeus selbst, auch wenn ich aus der Nähe ein Stier zu sein scheine; denn ich kann in jeder Gestalt, in der ich will, erscheinen. Sehnsucht nach dir hat mich getrieben, eine so große Meeresfläche in Stiergestalt zu durchmessen.« 166 Mosch. Eur. 25 und dazu o., S. 86 mit Anm. 101. 167 Mosch. Eur. 158b–160a: Κρήτη δέ σε δέξεται ἤδη / ἥ μ’ ἔθρεψε καὶ αὐτόν, ὅπῃ νυμφήια σεῖο / ἔσσεται. 168 Der Begriff assoziiert Geborgenheit durch die Heimat; Belege bei Bühler 1960, 196. 169 Mosch. Eur. 160b–161: »Von mir wirst du berühmte Söhne gebären, die alle Herrscher über die Menschen sein werden.«

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Die Verse erinnern an die Rede, von der wir zu Beginn dieser Untersuchung ausgegangen sind, denn auch bei Homer spricht Zeus von den herausragenden Nachkommen, die seinen Liebesverbindungen mit sterblichen Frauen entstammen. Aber bei Moschos tut er dies aus der Perspektive Europas, die er zur Mutter seiner Söhne machen wird.170 Das ist dasselbe literarische Muster, das uns in den Erzählungen über Poseidon und Tyro und über Venus und Anchises begegnet ist, aber die darin enthaltene Botschaft ist genau entgegengesetzt. Dort muss sich, bezwungen von der Macht der Liebesgöttin, ein Gott mit einer sterblichen Frau und eine Göttin mit einem sterblichen Manne vereinigen, aber gleich danach verlangen beide Gottheiten, dass niemand etwas davon erfahren darf, weil sie die Zeugung sterblicher Kinder als eine Demütigung empfinden. Die Sterblichen dürfen zwar stolz auf die Söhne sein, die aus der Vereinigung mit der Gottheit hervorgehen, aber damit ist für sie auch alles vorbei, und sie bleiben nun ihrem Schicksal überlassen; deshalb ist es ist nur allzu verständlich, wenn Tyro Poseidons Befehl missachtet und das Zwillingspaar nach der Geburt aussetzt.171 Die Erzählung von Zeus und Europa erweist sich schon dadurch als das Gegenmodell dazu, dass Zeus seine Identität schon vor der Liebesvereinigung offenbart. Vor allem aber wird Europa hier tatsächlich in die Rechte einer Gattin eingesetzt und darf ihre Kinder aufziehen als Kinder des Gottes.172 Das ist, so wird man sagen dürfen, ein Bekenntnis zu der geliebten Frau ohne jeden Vorbehalt. Für einen Liebesdichter war mit der Ankündigung des Zeus, dass Europa auf Kreta mit ihm Hochzeit feiern werde, alles Wesentliche gesagt, und eigentlich könnte das Gedicht damit zu Ende sein. Die Leser wussten ohnedies, dass die Worte des Zeus in Erfüllung gehen würden, und dass Europa dem Göttervater tatsächlich mehrere Kinder geboren hatte, gehört zum festen Bestandteil

170 Dass die Verheißung berühmter Söhne als ein »Trost« Europas gemeint wäre (so z. B. Bühler 1960, 191 zu V. 153–161), ist eine abwegige Vorstellung aus neuzeitlicher Sicht, und insofern trifft auch die Erläuterung dazu »Prototyp solcher Reden ist diejenige, die Poseidon nach dem Beilager an Tyro richtet […]« nur formal zu. Weitere Beispiele für solche Reden bei Bühler ibid. 191 f. 171 Typologisch steht die Erzählung von der Liebe des Poseidon zu Tyro (Liebesbegehren und Zeugung großer Söhne) zwischen den oben (S. 44) besprochenen Erzählungen von seiner Liebe zu Amphitrite (Brautraub bzw. Brautwerbung und Eheschließung) und der zu Mestra (einmalige Erfüllung von Liebeslust). Die Aussetzung der Kinder durch Tyro wird bei Homer und bei Hesiod noch nicht erwähnt; Hirschberger 2004, 240 nennt als frühesten expliziten Beleg dafür die beiden Tyro-Tragödien des Sophokles. 172 In der Forschung wird darüber gestritten, was es zu bedeuten habe, dass Europa auf die Rede des Zeus nicht reagiert. Reeves 2003, 94 hat das in Auseinandersetzung mit Schmiel und Campbell damit zu erklären versucht, dass Europa unter Schock stehe (»She is shocked«). Das ist ganz gewiss nicht der Fall. Aber was könnte der Dichter die Heroine überhaupt auf eine solche Rede des Göttervaters antworten lassen, ohne unerträglich banal zu werden?

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Die Entführung Europas als Brautraub des Zeus 

der mythologischen Überlieferung, die allen antiken Lesern vertraut war. Auch Moschos hat das ganz zum Schluss noch berichtet. Aber hier wird die Erzählung so knapp, als ob ein Mythograph dem Dichter die Feder geführt hätte. Alle Details sind übergangen, auch das goldene Halsband, das Europa von Zeus als Hochzeitsgeschenk erhält, erwähnt Moschos nicht.173 Wichtiger war ihm offenkundig der Vollzug der Hochzeit mit Zeus, und es mag seinen Lesern willkommen gewesen sein, die Erfüllung der schönen Prophezeiung auch in diesem Gedicht bestätigt zu sehen: ὣς φάτο· καὶ τετέλεστο τά περ φάτο· φαίνετο μὲν δὴ Κρήτη, Ζεὺς δὲ πάλιν σφετέρην ἀνελάζετο μορφήν, λῦσε δέ οἱ μίτρην, καὶ οἱ λέχος ἔντυον Ὧραι.174

Nachdem Zeus schon zuvor, als Stier auf dem Meer, Europa seine Identität offenbart hatte, legt er nun auch die Stiergestalt ab, die ihm nur dazu gedient hatte, die Geliebte anzulocken, sie auf seinen Rücken steigen zu lassen und übers Meer nach Kreta zu tragen. Für die Vermählung dagegen, also für die Liebesvereinigung, braucht er keine List mehr, anders als Poseidon zur Befriedigung seiner Liebeslust und anders auch, als wir es in den meisten anderen Geschichten von liebenden Göttern lesen. Der Vollzug der Hochzeit wird in einem einzigen Vers berichtet, mit dem Hysteron-Proteron »er löste ihr den Gürtel, und die Horen bereiteten ihr das Lager.« Das Lösen des Gürtels ist eine besonders feierliche Umschreibung für die Liebesvereinigung, die aus der älteren Dichtung stammt, dort freilich nicht nur für die Vermählung im engeren Sinne benutzt wird.175 Das Schmücken des Brautbetts dagegen ist Bestandteil der Hochzeitszeremonien, und das ist noch einmal ein klarer Hinweis darauf, dass es sich hier nicht um ein bloßes Liebesabenteuer des Zeus handelt.176 Dazu stimmt auch das bedeutsame Detail, dass diese Aufgabe von den Horen erfüllt wird, die sonst dafür sorgen, dass die

173 Zum raffenden Erzählstil des Moschos am Schluss seiner Erzählung s. Bühler 1960, 198 (mit weiteren Beispielen aus der Dichtung); s. auch Campbell 1991, 128 f. und Hunter 2005b, 256 f. Zum Hochzeitsgeschenk s. o. S. 75 f.; dass Moschos es nicht erwähnt, betont auch Hunter ibid. 265. 174 Mosch. Eur. 164–166: »So sprach er, und was er gesprochen, war vollendet: Kreta erschien wirklich, Zeus nahm wieder seine Gestalt an, er löste ihr den Gürtel, und die Horen bereiteten ihr das Lager.« 175 Hom. Od. 11, 245 (Poseidon und Tyro); [Hom.] h. Ven. 164 (Aphrodite und Anchises). 176 Hopkinson 1988, 214 kommentiert den Begriff νυμφήια (V. 159) mit der Bemerkung »not a formal marriage, of course« (ohne Begründung), gibt ibid. zu V. 164 aber dann doch den wichtigen Hinweis: »the Horae, goddesses of charme and beauty, are associated with Aphrodite; and γάμου ὥρα is  a standard phrase for ›marriageable age‹, i. e. the right time to be married (cf. Od. 15.126). Preparation of the bed was  a formal part of the marriage ceremony«.

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Hochzeit mit Blumenschmuck festlich ausgestaltet wird – wenn man nicht sogar an den ἱερὸς γάμος denken will.177 Den Schluss des Gedichts bilden zwei Verse, die in der Forschung bis heute kontrovers diskutiert werden: ἡ δὲ πάρος κούρη Ζηνὸς γένετ’ αὐτίκα νύμφη, καὶ Κρονίδῃ τέκε τέκνα, καὶ αὐτίκα γίνετο μήτηρ.178

Dass Europas Mädchenzeit bald zu Ende gehen würde, war schon anfangs gesagt worden, als es hieß, dass Zeus von den Geschossen Aphrodites getroffen worden sei. Mit dem letzten Vers jedoch, der von Europas Mutterschaft und der Geburt ihrer Kinder handelt, kommt die weitere Zukunft der Zeus-Braut in den Blick, die über die Vermählung mit Zeus hinausreicht. Dass sie durch Zeus zur Mutter des Minos, des Rhadamanthys und des Sarpedon geworden war, zeichnete Europa bei Aischylos und wohl überhaupt im Bewusstsein der Antike vor allen anderen Heroinen aus, und deshalb war es ein glücklicher Gedanke des Moschos, das Gedicht mit dem Wort ›Mutter‹ (μήτηρ) enden zu lassen – eine Einladung an den Leser, den von Europa begangenen Weg zugleich allegorisch als den für ein junges Mädchen vorgezeichneten Weg zu Ehe und Mutterschaft zu verstehen.179 Damit bleibt zwar auch hier ungesagt, dass Europa nicht die Gattin des Zeus geblieben war, aber wenn sich schon die Leser zu Zeiten Hesiods und des Aischylos daran nicht gestört und nicht weiter über die Dauer dieser Beziehung nachgedacht haben, dann wird man die Lösung des Problems von einem Liebesdichter erst recht nicht erwarten dürfen, ganz im Gegenteil: Das Epyllion des Moschos hat an dieser Stelle sein Ziel längst erreicht, und alles, was darüber hinaus ging, konnte sein Thema nicht mehr sein.180 Unter dem Eindruck der anschaulichen und vollständig erhaltenen Erzählung des Moschos vergisst man allzu leicht, dass die Geschichte nur deshalb so 177 Bühler 1960, 201 f. nennt die wichtigsten Belege; ibid. 202 die Vermutung, dass »das Schmücken des Brautbetts hier im gleichen Sinn wie beim ἱερὸς γάμος (Il. 14, 347 ff.) zu verstehen sein« könnte; darüber hinaus »konnte ihre Gegenwart bei Hochzeiten auch die Kräfte des Wachstums symbolisieren.« Vgl. auch Campbell 1991, 128. 178 Mosch. Eur. 165 f.: »Und sie, die vorher ein Mädchen war, wurde alsbald die Braut des Zeus, und sie gebar dem Kroniden Kinder und wurde alsbald Mutter.« 179 Es ist bemerkenswert, dass Hunter 2004 sich für eine solche Deutung stark gemacht hat, obwohl er die Europa-Erzählung nicht als einen Brautraub versteht: »Moschus’ central concern with the passage from girlhood to womanhood is confirmed by the fact that it ends with Europa becoming a mother (of sons), for it is precisely in the bearing of a son that a woman’s transition is completed.« (ibid. 218). 180 Zu den Schwierigkeiten, die die beiden Schlussverse im Einzelnen bieten, vgl. Bühler 1960, 202 ff.; s. auch den Überblick bei Bühler 1968, 19–23; nützlich auch die Überlegungen von Hopkinson 1988, 214 f. und Campbell 1991, 128–131. Reeves 2003, 67–78 hat die Probleme und die unterschiedlichen Lösungsvorschläge seit Wilamowitz detailliert aufbereitet und ibid. 78–82 (the »Effectiveness of the Ending«) überzeugend dargestellt.

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berühmt werden konnte, weil sie eben nicht nur im zweiten Jahrhundert vor Christus und nicht nur von Moschos, sondern schon vor und gewiss auch nach ihm von anderen hellenistischen Dichtern behandelt worden war. Dass diese Darstellungen allesamt verloren sind, bedeutet jedoch keineswegs, dass man darüber nichts sagen könnte. Die wichtigsten Informationen darüber sind einer Kurzfassung in Lukians Seegöttergesprächen,181 einem Dialog des Westwinds mit dem Südwind über die Entführung Europas, und den weitgehend damit übereinstimmenden Darstellungen anderer Autoren zu entnehmen.182 Wir beginnen mit einer Besonderheit, die es nur bei Lukian und in keiner anderen Version der Erzählung gibt. Sie betrifft den Brautzug über das Meer: Liebesgötter mit Fackeln in den Händen fliegen dicht über den Wellen und singen das Hochzeitslied; Nereiden, Delphine und allerlei andere Meerwesen umtanzen das Paar, und auch Poseidon fährt auf seinem Wagen voraus, um ihm den Weg zu bahnen. Bis dahin unterscheidet sich die Beschreibung kaum von der bei Moschos, aber sie ist nicht zu Ende damit: Zu alldem (ἐπὶ πᾶσιν) kam noch hinzu, so heißt es bei Lukian, dass Aphrodite sich auf ihrer Muschel von Tritonen über das Meer tragen ließ und bunte Blumen auf die Braut streute.183 Schon die Formulierung ἐπὶ πᾶσιν legt die Vermutung nahe, dass es sich hier um eine Ergänzung handelt, und auch inhaltlich würde niemand Aphrodite auf der Muschel vermissen, denn es sind ja schon die Liebesgötter gekommen, um das Hochzeitslied zu singen,184 und Poseidon bereitet als Brautführer den beiden den Weg. Man hat längst bemerkt, dass die Aphrodite im Hochzeitszug von Lukian erfunden worden sein muss,185 aber es lässt sich auch eine Erklärung dafür geben. Die Entführung Europas durch Zeus ist bei Lukian kein Geschehen der mythischen Vergangenheit, sondern ein hochaktuelles Ereignis der Gegenwart. Der Westwind hat sie als Augenzeuge miterlebt und berichtet als Binnenerzähler dem Südwind, der wegen eines Auslandsaufenthaltes nichts davon mitbekommen hat. Der Dialog beginnt mit der Bemerkung, dass die Liebe des Zeus zu

181 Luc. dial. mar. 15. Aus der literarischen Form eines Gesprächs zwischen zwei Seegöttern ergeben sich einige besonders reizvolle Aspekte; vgl. dazu Reeves 2003, 264–276. Für die Rezeption in den bildenden Künsten spielt Lukians Dialog zwar eigentlich keine Rolle, aber es gibt eine Darstellung der Entführung Europas von Karl Blechen, auf der der Stier das Meer durchschwimmt, während über ihm zwei Seegötter schweben, die ein geblähtes Segel halten (um 1825, Berlin). 182 Die wichtigsten Belegstellen hat Baldwin 1980 zusammengestellt und ausgewertet. 183 Luc. dial. mar. 15, 3. Der Thiasos bei Moschos: Eur. 115–124. 184 In der Bildbeschreibung bei Achilleus Tatios spielt Eros die führende Rolle im Geleitzug auf dem Meer, und es gibt dort nicht zusätzlich noch eine Aphrodite (Ach. Tat. 1, 1, 13). 185 Baldwin 1980, 117 sieht in der Teilnahme Aphrodites an dem Geleitzug »the most obvious novelty«. Die Art der Darstellung lässt vermuten, dass Lukian sich von einem Bild hat anregen lassen.

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Europa ja allgemein bekannt sei,186 dass es nun aber spektakuläre Neuigkeiten gebe: Zeus habe sich in einen Stier verwandelt und Europa über das Meer nach Kreta entführt. Das ist wahrhaftig ein Witz und fast schon skurril: Alle Welt weiß, dass der Göttervater eine schöne Frau liebt, aber der hat bisher noch keinerlei Versuche unternommen, sie zu erobern. Die Pointe liegt in der Verquickung von Diegese und Metadiegese, denn die intradiegetische Behauptung, dass alle Welt von der Liebe des Zeus zu Europa weiß, ist ja nur eine Chiffre dafür, dass die Geschichte von der Entführung Europas allen Lesern bestens bekannt ist. Aber intradiegetisch ist es dann eben doch so, dass Zeus – ausgerechnet Zeus! – sich erst einmal dazu durchringen muss, seine Geliebte zu entführen. Das entspricht ganz dem spöttischen Tenor der Seegöttergespräche, aber die Komik hat ihren Preis. Wenn Zeus nämlich schon lange in Europa verliebt ist, sich aber erst irgendwann später dazu entschlossen hat, aktiv zu werden, dann war die Entführung kein spontaner Akt der Liebe, sondern nur die Fortsetzung (τὰ μετὰ ταῦτα) einer Liebesgeschichte,187 und für Aphrodite, die die Ereignisse gewiss nicht nur bei Moschos, sondern bei allen hellenistischen Dichtern von Anfang an gelenkt hatte, war kein Platz mehr. Das war ein Mangel, der sich aber beheben ließ: Bei Lukian bekommt Aphrodite im nachhinein bei der Fahrt über das Meer einen um so größeren Auftritt, und dadurch bleibt sie auch bei ihm, im Einklang mit der literarischen Überlieferung, die Herrin des Geschehens. Sieht man von dieser gattungsspezifischen Besonderheit ab, lassen sich der Kurzfassung Lukians aber signifikante Informationen über einige Unterschiede zwischen der Erzählung des Moschos einerseits und der übrigen literarischen Überlieferung andererseits entnehmen. Repräsentativ dafür ist ein Detail, nämlich die Farbe des Stiers. In der Idealvorstellung der Antike ist ein schöner Stier weiß,188 und folglich ist auch der Zeus-Stier weiß, sowohl bei Lukian als auch bei allen anderen Autoren. Ovid hat die weiße Farbe des Stiers in den Metamor­ phosen gleich drei Mal hervorgehoben. Nur Moschos beschreibt den Zeus-Stier als goldbraun.189 Das ist ein Argument, das schon früher für die Vermutung geltend gemacht worden ist, dass die Version des Moschos nicht mit der hellenistischen Vulgata übereinstimmt.190 186 Luc. dial. mar. 15, 1: Μῶν ὅτι ὁ Ζεὺς ἐραστὴς τῆς παιδὸς ἐκ πολλοῦ; τοῦτο γὰρ καὶ πάλαι ἠπιστάμην. (»Etwa dass Zeus seit langem der Liebhaber des Mädchens ist? Das wusste ich schon längst.« 187 Luc. dial. mar. 15, 1: Οὐκοῦν τὸν μὲν ἔρωτα οἶσθα, τὰ μετὰ ταῦτα δὲ ἤδη ἄκουσον (»Über seine Liebe weißt du also Bescheid, hör nun aber, was danach geschah«). 188 Belege bei Bömer 1969, 437. 189 Mosch. Eur. 84 (δέμας ξανθόχροον ἔσκε); Luc. dial. mar. 15, 2 (λευκός τε γὰρ ἦν ἀκριβῶς; vgl. dazu Reeves 2003, 271). Ov. met. 2, 852 (quippe color nivis est), ibid. 861 (can­ dida ora) und 865 (latus niveum). Eine Liste der Belege für die Farbe Weiß hat Bühler 1968, 11 f. zusammengestellt; für einen braunen Stier ist dort außer der Beschreibung bei Moschos nur ein pompejanisches Wandgemälde angeführt. 190 Baldwin 1980, 116.

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Sehr viel wichtiger ist jedoch, dass sich die Charakterisierung der Protagonistin Europa im Epyllion des Moschos grundlegend von der bei den anderen Autoren unterscheidet: Seine Europa zeichnet sich durch eine geradezu frappierende Furchtlosigkeit aus. Als der Stier auf der Wiese erscheint, fasst sie sofort Zutrauen zu ihm und lässt sich so leicht dazu verleiten, auf seinen Rücken zu steigen, als ob das nur ein heiteres Spiel und so selbstverständlich wie das gemeinsame Blumenpflücken wäre. Und sogar als der Stier plötzlich aufspringt und ins Meer hinein läuft, lässt sie sich nicht im geringsten aus der Ruhe bringen, sondern möchte, so als ob sie zu einem schönen Ausflug aufbräche, von ihren Freundinnen begleitet werden.191 Beinahe unvorstellbar aber ist, dass Europa sich nicht einmal bei der Überfahrt über das Meer Sorgen machen sollte, und doch hat Moschos es so dargestellt: Als nirgendwo mehr ein Küstenstrich, sondern nur noch die un­ endliche Weite von Himmel und Meer zu sehen ist, da verlässt sie nicht etwa ihr Mut, sondern sie beginnt, sich dafür zu interessieren, wohin die Reise eigentlich geht und was für ein seltsamer Stier das ist, der sie über das Wasser zu tragen vermag.192 Bei allen anderen Autoren dagegen reagiert Europa auf alles, was ihr widerfährt, in der Weise, wie man es bei einem jungen Mädchen zu erwarten hat. Sie muss schon einigen Wagemut aufbringen, um sich überhaupt auf den ­Rücken des Stiers zu setzen  – auch bei Lukian, bei dem sie ebenso wie bei Moschos von dessen Charme fasziniert ist. Bei Horaz wird sie aus demselben Grund­ audax genannt.193 Ovid hat in den Metamorphosen ausführlich geschildert, wie der Stier alles darauf anlegt, friedfertig zu erscheinen, und dennoch fürchtet Europa sich (metuit), so dass es einige Zeit dauert, bis er ihr ihre Furcht wenigstens so weit genommen hat (metu dempto), dass sie sich traut, ihn zu tätscheln und zu bekränzen, und schließlich sogar wagt (ausa est), auf seinen Rücken zu steigen.194

191 Mosch. Eur. 102–108 und 111–112. Dieser Zug verdient um so mehr Beachtung, als der Europa des Moschos die Furcht keineswegs fremd ist: Sie fürchtet sich nach dem Erwachen, weil sie durch die Bilder, die sie im Traum gesehen hat, verunsichert ist. 192 Man könnte hier einwenden, dass Europa auf den archäologischen Denkmälern schon sehr viel früher in dieser Weise dargestellt wird. Indessen lässt sich das eine mit dem anderen kaum vergleichen, weil dort ein Gesamteindruck auf eine einzige Szene reduziert wird, hier dagegen die differenzierte Schilderung eines psychologischen Geschehens gegeben werden soll. 193 Luc. dial. mar. 15, 2: ὥστε τὴν Εὐρώπην τολμῆσαι καὶ ἀναβῆναι αὐτόν (»so dass Europa sogar wagte, auf ihn hinaufzusteigen«); Hor. c. 3, 27, 28 und dazu u., S. 136. 194 Ov. met. 2, 852–869 (dazu Kap. 4.); die drei Zitate: ibid. 860, 866 und 868. Vgl. auch Baldwin 1980, 119, n. 13 (zu Europas Wagemut bei Lukian und anderen): »One obviously cannot rule out the possibility that the detail derives from a lost Greek version. There were plenty of these, in both prose and verse.« Vgl. auch die Hinweise ibid. 118. note 2.

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Als der Stier sie plötzlich ins Meer hineinträgt, erschrickt Europa natürlich erst recht, und sie greift, so wird es sowohl bei Ovid als auch bei Lukian beschrieben, nach dem Horn des Stiers, um nicht ins Wasser zu fallen.195 Die Reaktion von Europas Gefährtinnen auf die plötzliche Entführung hat Lukian in seinem knappen Bericht übergangen, und auch sonst spielt das Motiv in den literarischen Darstellungen keine besondere Rolle. Auf einem Mosaik aus Palestrina dagegen, das auf das erste Jahrhundert n. Chr. datiert wird, ist eine solche Szene wiedergegeben.196 Im Vordergrund springt der Stier mit Europa auf dem Rücken ins Meer, direkt daneben stehen zwei Frauen (vielleicht Lokalgottheiten oder Nymphen); eine der beiden, die unmittelbar neben dem Stier gestanden hat, schreckt vor dem plötzlichen Sprung zurück, während die andere keinerlei Gemütsbewegung erkennen lässt. Auf der zweiten Ebene sieht man fünf junge Frauen, die mit allen Zeichen der Ratlosigkeit zu einem bärtigen Mann laufen, bei dem es sich um Europas Vater Agenor oder um ihren Bruder Kadmos handeln muss und dem sie das, was sie gerade erlebt haben, mitteilen wollen.197 Auch auf anderen Bildern wird die Reaktion der Gefährtinnen Europas ge­ legentlich dargestellt, und deshalb ist es vielleicht kein Zufall, dass gerade Achilleus Tatios, bei dessen Europa-Erzählung es sich ja um die Beschreibung eines Bildes handelt, dem Motiv große Aufmerksamkeit geschenkt und eine ausführliche Beschreibung der Mädchen gegeben hat: Einerseits freuen sie sich (das ist nur dann plausibel, wenn die Entführung auch hier als Brautraub verstanden wird), zugleich empfinden sie aber auch Furcht (das ist anders als im Epyllion des Moschos,198 aber in dieser Situation eine ganz natürliche Reaktion)199 und 195 Ov. met. 2, 873b–875: pavet haec litusque ablata relictum / respicit et dextra cornum tenet, altera dorso/ inposita est (»Sie ängstigt sich und blickt, entführt, zu der von ihr zurückgelassenen Küste zurück und hält sich mit der rechten Hand an einem Horn fest, die andere ist auf seinen Rücken gestützt«). Luc. dial. mar. 15, 2: ἡ δὲ πάνυ ἐκπλαγὴς τè πράγματι (»die aber war dadurch ganz und gar erschrocken«). 196 Eingehende Beschreibung des Mosaiks bei Jahn 1879, 7–8 (Nachzeichnung auf Tafel II). LIMC IV, Europe I, Nr 148 = LIMC Agenor I, Nr. 5 (dort die Abbildung). 197 Etwas anders die Deutung von Jahn 1870, 7, der meint, dass sich die Gespielen Europas in »eiliger Flucht« befänden. Seine Vermutung, dass es sich bei dem bärtigen Mann auch um Kadmos handeln könnte, scheint mir jedoch erwägenswert, obwohl die moderne Forschung in ihm lieber Agenor sehen möchte. 198 Ach. Tat. 1, 1, 7–8: τὸ σχῆμα ταῖς παρθένοις καὶ χαρᾶς καὶ φόβου (»das Äußere der Mädchen drückte sowohl Freude als auch Furcht aus«). Danach heißt es, dass sie ihre Stirn bekränzt hatten, dass sie aber mit bleichem Gesicht und leicht geöffnetem Mund, so als ob sie vor Furcht (ὑπὸ φόβου) schreien wollten, aufs Meer blickten. Die Reaktion auf das Erscheinen des Stiers bei Moschos: Eur. 89–91; der vergebliche Versuch, den davoneilenden Stier zu er­ reichen: ibid. 109–112. 199 Wenn man die Szene nicht als Brautraub versteht, ist diese Gefühlsmischung und insbesondere die Freude rätselhaft; cf. Reeves 2003, 241: »Why joy?« (Bei Reeves steht die Frage nach den narratologischen Bezügen der Bild-Erzählung Europa und der Stier auf die Roman-

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ergreifen die Flucht. Noch harmonischer geht es auf dem bereits erwähnten apulischen Vasenbild zu, auf dem der Stier vor Europa in die Knie geht, während die Gefährtinnen sich mit einem Ballspiel vergnügen, ebenso wenig von dem Geschehen beeindruckt wie der Pädagoge (Abb. 3).200 Über die Empfindungen Europas bei der Fahrt über das Meer wird im Kurzreferat Lukians und im Roman des Achilleus Tatios nichts gesagt, aber bei den römischen Dichtern reagiert sie so, wie es einer solchen Situation entspricht: Bei Horaz erbleicht sie vor dem von Ungetümen wimmelnden Meer und den um sie herum lauernden Gefahren, und bei Ovid ist das Motiv geradezu dominant. In den wenigen Versen der Fasten-Erzählung ist zwei Mal von ihrer Furcht die Rede (obwohl das Meer dort sehr friedlich erscheint),201 und in den Meta­ morphosen macht sogar Arachne, obwohl sich ihre Polemik gegen die caelestia crimina richtet, bei dem Beispiel Europa deren Furcht vor den Gefahren des Meeres zum eigentlichen Thema: ipsa videbatur terras spectare relictas et comites clamare suas tactumque vereri adsilientis aquae timidasque reducere plantas.202

Die Frage, warum Moschos und offenbar nur er die entführte Europa gegen alle Wahrscheinlichkeit als eine Frau erscheinen lässt, die keinerlei Furcht kennt, lässt sich mit Hilfe der Szene beantworten, in der dies am deutlichsten wird: Europa erkundigt sich mitten auf dem Meer nach ihrem Schicksal, fast so, als ginge es nicht um sie selbst. Wir haben schon gesehen, dass die Fragen Europas und die Antwortrede des Zeus während der Überfahrt ohnehin etwas sonderbar wirken und dass der natürliche Ort dafür im Ablauf des Geschehens die Ankunft auf Kreta oder bald danach wäre. Nun können wir hinzufügen: Nur weil Moschos seine Europa als eine von Grund auf furchtlose Frau dargestellt hat, konnte er sie in dieser Situation so unerschrocken darüber reflektieren lassen, was hier eigentlich geschieht, und das wiederum war die Voraussetzung dafür, dass Zeus ihr schon auf hoher See ihr künftiges Schicksal als seine Gattin offenbaren konnte. Aber so eigenartig es auch anmutet, dass sich diese Szene mitten auf dem Meer und nicht erst nach der Ankunft am Ziel abspielt, so lassen sich doch gute Erzählung Leukippe und Kleitophon im Vordergrund: ibid. 243–263). Umgekehrt sieht Morales 2004, 211 bei den Freundinnen nur die Furcht (und nicht die Freude) und hält es deshalb für bemerkenswert, dass Europa selbst keineswegs gegen ihre Entführung protestiert. 200 LIMC IV, Europe I, Nr. 7 und dazu o., S. 68. 201 Hor. c. 3, 27, 28 (palluit); Ov. f. 3, 608 (timor ipse), 612 (metuit); in der Europa-Erzählung der Metamorphosen fehlt dieser Abschnitt der Handlung. 202 Ov. met. 6, 105–107: »Sie selbst schien zum Land zu blicken, das sie zurückgelassen hatte, nach ihren Gefährtinnen zu rufen, die Berührung des heranhüpfenden Wassers zu fürchten und die Fußsohlen ängstlich zurückzuziehen.«

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Gründe dafür angeben. Die Intention des Kunstgriffs wird nämlich sofort verständlich, wenn man bedenkt, dass Europa bei Moschos schon vor der Ankunft auf Kreta aller Sorgen ledig und vollständig in ihr wunderbares Schicksal eingeweiht ist. Auch das entspricht der besonderen Konzeption seines Epyllions: Weil seine Europa schon durch den Traum zu Beginn der Erzählung durch Aphrodite innerlich auf ihre Zukunft vorbereitet worden ist, lässt sie sich so gelassen über das Meer tragen, und weil Zeus ihr schon auf dem Meer seine Identität und bevorstehende Vermählung mit ihr offenbart hat, ist ihr schon vor der Ankunft in der Fremde jeder Anlass zu Furcht und Sorge genommen. Die Vermutung, dass der Hergang in der Vulgata ganz anders erzählt worden sein muss, lässt sich durch die Kurzfassung Lukians und die Wiedergabe in Ovids Fasti sichern. Lukian resümiert die Schlussszene folgendermaßen: Als er aber die Insel betrat, war der Stier nicht mehr zu sehen, Zeus aber nahm Europa bei der Hand und führte sie in die Diktäische Grotte, wobei sie errötete und die Augen niederschlug; sie wusste jetzt nämlich, wozu sie mitgenommen wurde.203

Zwar wird hier suggeriert, dass der Stier nur für ganz kurze Zeit verschwunden war, aber entscheidend ist, dass Europa bei ihrer Ankunft noch nicht weiß, wer er ist und was ihr bevorsteht, eben weil sie nicht schon unterwegs über ihr künftiges Schicksal aufgeklärt worden ist, und das entspricht der Struktur einer solchen Erzählung: Die Ankunft in der Fremde ist der Moment der größtmöglichen Ungewissheit einer Entführten, auf den mit einer klassischen Peripetie ihre unerwartete Rettung folgt. Am interessantesten ist natürlich die Frage, wie Europa, wenn sie nicht schon auf dem hohen Meer über alles unterrichtet worden war, nach der Ankunft in Kreta auf das plötzliche Verschwinden des Stiers reagierte und auf welche Weise sich ihr der Göttervater zu erkennen gab. Darüber können wir der Kurzfassung Lukians, der mit seiner Darstellung ganz andere Ziele als die Dichter verfolgte, zwar nur entnehmen, dass Europa noch nichts über die Identität ihres Ent­ führers erfahren hatte, aber im Hinblick auf die Struktur der Erzählung im Unterschied zu der Version des Moschos ist die Bedeutung dieser Information gar nicht zu überschätzen. In Lukians Resümee geht nach der Landung alles sehr rasch. Der Stier ist nicht mehr zu sehen (ὁ μὲν ταῦρος οὐκέτι ἐφαίνετο), aber dafür zeigt sich nun Zeus höchstpersönlich der entführten Europa. Ohne auch nur ein einziges Wort zu verlieren, führt er sie in die Diktäische Grotte, und Europa weiß sogleich, was das zu bedeuten hat. Hier sind die Raffung und das Tempo der Erzählung ganz offensichtlich der literarischen Gattung geschuldet, und eine göttliche Aufklä 203 Luc. dial. mar. 15, 4: ἐπεὶ δὲ ἐπέβη τῆ νήσῳ ὁ μὲν ταῦρος οὐκέτι ἐφαίνετο, ἐπιλαβόμενος δὲ τῆς χειρὸς ὁ Ζεὺς ἀπῆγε τὴν Εὐρώπην εἰς τὸ Δικταῖον ἄντρον ἐρυθριῶσαν καὶ κάτω ὁρῶσαν· ἠπίστατο γὰρ ἤδη ἐφ’ ὅτῳ ἄγοιτο.

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rung Europas über ihr wunderbares Schicksal dürfen wir, zumal nach dem sarkastischen Beginn, nun wirklich nicht erwarten. Indessen verdient der Satz, dass die Entführte von ihrem Entführer bei der Hand genommen und in die Diktäische Grotte geleitet worden sei, doch etwas mehr Aufmerksamkeit. Seine erotische Pointe kommt darin zum Ausdruck, dass Europa, obwohl ihr Entführer kein Wort sagt, sofort weiß, was das zu bedeuten hat und ihm ebenso wortlos und mit Erröten, also offenkundig durchaus nicht unfreiwillig, folgt. Das ist genau die Pikanterie, die der Leser von Lukians Dialogi erwarten kann, und sie bildet einen wirkungsvollen und für Lukian charakteristischen Schluss. Mit der Formulierung, dass Zeus sie »bei der Hand nahm« jedoch, und das sollte man nicht übersehen, wird auch hier ein Hochzeitsgestus beschrieben, vergleichbar der Entschleierung (Anakalypsis), und auch diesen Gestus kennen wir von den Vasenbildern.204 Er passt vorzüglich zu dem zuvor von Lukian geschilderten Hochzeitsthiasos und auch dazu, dass Zeus Europa eben nicht irgendwohin führt, sondern in die Diktäische Grotte.205 Dieselbe Struktur der Erzählung ist in Ovids Fasti belegt. Das Einleitungsdistichon enthält den Hinweis, von dem wir in diesem Kapitel ausgegangen sind, es handle sich um eine fabula nota. Damit kündigt der Erzähler an, dass er sich auf das beschränken wird, was für ihn an dieser Stelle wesentlich ist, und das ist das Aition für das Sternbild des Stiers: Idibus ora prior stellantia tollere Taurum   indicat: huic signo fabula nota subest.206

Zwei Szenen der fabula nota sind für den Erzähler der Fasti relevant. Die erste ist die Überfahrt Europas auf dem Rücken des Stiers von Phönizien nach Kreta: praebuit ut taurus Tyriae sua terga puellae   Iuppiter et falsa cornua fronte tulit. 204 Beispiele bei Oakley / Sinos 1993, Taf. 87 und 106. Vgl. zu diesem Hochzeitsgestus in der Mythologie Oakley 1995, 64 (Vasenbilder) und Lefkowitz 1993, 27 (mythologische Dichtung): »The god takes her by the wrists, employing the gesture used in marriage ceremony (χεῖρ’ ἐπὶ κάρπωι) to lead away (ἄγειν) the bride« (mit Literaturhinweis); auf dem Boston-­ Skyphos 13.186 (= LIMC Alexandros Nr. 64, um 485 v. Chr.) ist dargestellt, wie Paris Helena am Handgelenk zur Hochzeit führt (vgl. Lefkowitz ibid. 19, n. 4). 205 Bei dem Hochzeitsgestus (χεῖρ’ ἐπὶ κάρπῳ ἄγειν) und der Hochzeit selbst handelt es sich um zwei zeitlich voneinander getrennte Vorgänge: Auf Vasenbildern wird die Entführung Helenas aus Sparta mit diesem Gestus gekennzeichnet, obwohl die Hochzeit erst später in Troja stattfinden wird (Oakley 1995, 65), 206 Ov. f. 5, 603 f.: »Der Tag vor den Iden zeigt an, dass der Stier seine aus Sternen gebildete Stirn erhebt; diesem Sternbild liegt eine bekannte Geschichte zugrunde.« Mit einer ähnlichen Bemerkung leitet der Erzähler die Geschichte vom Raub der Proserpina in den Fasti ein (Ov. f. 4, 418): plura recognosces, pauca docendus eris (»an das meiste wirst du dich erinnern, über einiges wenige sollst du unterrichtet werden«): Hier wird das Vorwissen des Lesers zu einem Bestandteil der Erzählung.

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illa iubam dextra, laeva retinebat amictus,   et timor ipse novi causa decoris erat; aura sinus implet, flavos movet aura capillos:   Sidoni, sic fueras aspicienda Iovi. saepe puellares subduxit ab aequore plantas,   et metuit tactus adsilientis aquae; saepe deus prudens tergum demisit in undas,   haereat ut collo fortius illa suo.207

Die Furcht Europas, von der wir eben schon gesprochen haben, vermehrt ihre Schönheit noch, aber der Stier kann das, da sie auf seinem Rücken sitzt, nicht mit eigenen Augen genießen und sucht um so mehr den Körperkontakt mit ihr.208 Das ist alles, was wir über die Fahrt auf dem Meer erfahren, aber es genügt, um zu sagen: Die Schilderung, die Ovid hier unter Berufung auf die allen Lesern vertraute Überlieferung gibt, lässt keinen Raum für die Vermutung, Jupiter könnte Europa seine Identität statt nach der Ankunft auf Kreta schon auf hoher See offenbart haben. Dem Geschehen nach der Ankunft ist die zweite Szene gewidmet: litoribus tactis stabat sine cornibus ullis   Iuppiter inque deum de bove versus erat. Taurus init caelum; te, Sidoni, Iuppiter implet,   parsque tuum terrae tertia nomen habet.209

Das ist nicht weniger knapp als bei Lukian, aber die Verkürzung dient nicht einer pikanten Pointe, sondern sie ist der aitiologischen Intention der Fasti geschuldet, denn es hätte der Konzeption dieses Werkes widersprochen, wenn Ovid die Erzählung über die Verstirnung hinaus fortgeführt und auch noch 207 Ov. f. 5, 605–614: »Jupiter bot als Stier dem Mädchen aus Tyros seinen Rücken dar und trug Hörner auf seiner trügerischen Stirn. Sie aber hielt mit der Rechten seine Mähne, mit der Linken ihr Gewand, und gerade ihre Furcht machte sie noch anmutiger. Der Lufthauch ließ ihren Gewandbausch anschwellen, der Lufthauch brachte ihr blondes Haar in Bewegung: So, Sidonierin, hätte Jupiter dich sehen müssen! Oft zog sie ihre Mädchenfüße von der Meeresoberfläche hoch und fürchtete sich vor der Berührung des heranschwappenden Wassers; oft tauchte der Gott seinen Rücken absichtlich in die Wogen, damit sie sich um so fester an seinen Nacken anklammere.« Zu der entsprechenden Szene bei Manilius (astr. 4, 681–685) s. Landolfi 1994, 522 f. 208 Eine dazu passende Darstellung aus dem 1. Jh. n. Chr. ist das Mosaik LIMC IV, Europe I, Nr. 166, auf dem der Stier den Kopf nach Europa so umwendet, dass er fast ihre Lippen berührt; dazu Robertson 1988, 85. 209 Ov. f. 5, 615–618: »Sobald das Ufer erreicht war, stand Jupiter ganz ohne Hörner da und hatte sich aus dem Rind (wieder) in den Gott verwandelt. Der Stier steigt zum Himmel auf; dich aber, Sidonierin, schwängert Jupiter, und der dritte Teil der Erde trägt deinen Namen.« Das erste der beiden Distichen ist eine Reprise des Distichons Ov. f. 3, 875 f., das ebenfalls mit litoribus tactis beginnt. Zur Darstellung des Katasterismos im Einzelnen und im Vergleich zu anderen Darstellungen s. Reeves 2003, 201–206.

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die feierliche Rede wiedergegeben hätte, in der Jupiter Europa seine Vermählung mit ihr und künftigen Ruhm ankündigte. Der Sache nach ist aber beides in der Information enthalten, dass Jupiter nun wieder zum Gott geworden war und dass er Europa nicht nur zur Mutter gemacht, sondern ihren Namen durch die Benennung eines Erdteils verewigt habe. Das konnte und musste an dieser Stelle genügen. Ein weiterer Beleg sind die Metamorphosen Ovids, denn die Verse, mit denen er dort von der Europa- zur Cadmus-Erzählung überleitet, setzen voraus, dass Jupiter der entführten Europa seine Identität in der Vulgata erst nach der Ankunft auf Kreta offenbarte.210 Indessen muss für die Dichter, auf deren Werke sich Lukian bezieht und auf die Ovid mit der Charakterisierung fabula nota verweist, gerade der dramatische Moment, in dem der Stier plötzlich verschwunden ist und Europa allein lässt mit ihrer Ungewissheit, besonders attraktiv gewesen sein. Sie konnten Europa genau so klagen lassen wie all die anderen verlassenen Heroinen des Mythos, und die Leser hatten ihre Freude daran, weil sie wussten, dass sie alsbald von dem liebenden Zeus mit wunderbaren Verheißungen aus ihrer vermeintlichen Not erlöst werden würde.211 Durch Zitate belegen lässt sich das freilich nicht, weil diese Szene in Ovids Metamorphosen außerhalb des Horizonts der Erzählung liegt und aus der Zeit vor Horaz davon nichts erhalten ist. Aber das will nichts besagen, wenn man bedenkt, wie wenig von der reichhaltigen hellenistischen Dichtung auf uns gekommen ist. Auch bei der Klage der Ariadne, die das literarische Musterbeispiel dafür ist, wissen wir nur durch ein zufällig überliefertes mythographisches Zeugnis, dass sie nicht erst von­ Catull, sondern schon von den hellenistischen Dichtern zum Thema gemacht worden ist. Der Ariadne-Mythos ist jedoch keineswegs nur wegen der Klage der verlassenen Heroine, sondern auch aufgrund struktureller Analogien, die ihre Vermählung mit dem Gott und ihr Schicksal nach der Vermählung betreffen, von besonderem Erkenntniswert für die Geschichte von der Entführung Europas. 210 Ov. met. 3, 1 f.: Iamque deus posita fallacis imagine tauri / se confessus erat, […] (»Schon hatte der Gott die täuschende Stiergestalt abgelegt und sich zu erkennen gegeben […].« 211 Vgl. schon Bühler 1960, 28: »Alt ist vielleicht ferner die Klage der Europa, aber M[oschos] hat daraus etwas wesentlich anderes gemacht«. Eigenartigerweise sind ausgerechnet Baldwin die verlockenden Möglichkeiten einer solchen Peripetie völlig entgangen. Er bemerkt dazu: »The Europa of Moschus concludes abruptly […] Hence it is worth noting that the same quick finale is employed by Horace, Ovid and Lucian, it was the normal thing to end with the transformation of the bull and its immediate consequences for Europa.« (Baldwin 1980, 118). Aber die Europa des Moschos schließt nur deshalb abrupt, weil alles Wichtige schon vor der Landung auf Kreta gesagt ist, bei Horaz steht am Schluss eine lange Rede der verzweifelten Europa und die Trostrede der Göttin Venus, und in Ovids Metamorphosen ist dieser Teil der Erzählung überhaupt ausgespart; so bleibt nur Lukian übrig, der die Schlussszene auf eine pikante erotische Pointe reduziert.

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3.3 Exkurs: Europa und Ariadne. Variationen eines Erzählmusters In der literarischen Überlieferung war der Ariadne-Mythos von jeher viel unübersichtlicher als der Europa-Mythos. Die Zahl der unterschiedlichen und miteinander konkurrierenden Versionen ist so groß, dass man die Widersprüche schon in der Antike durch die Hypothese aufzulösen versucht hat, es habe nicht nur einen Minos und nicht nur eine Ariadne, sondern jeweils zwei Personen dieses Namens gegeben.212 Wir können das jedoch beiseitelassen, weil es sich um Probleme handelt, die entweder nur die Rolle des attischen Gründungsheros Theseus betreffen213 oder aus anderen Gründen für unsere Fragestellung nicht relevant sind. Auch der Ariadne-Mythos enthält Handlungselemente, die für einen Braut­ raub konstitutiv sind, er entspricht jedoch nicht insgesamt dem BrautraubModell. Die für einen Brautraub typischen Elemente sind auf zwei Handlungsabschnitte verteilt. Im ersten Handlungsabschnitt entführt Theseus Ariadne aus ihrer Heimat Kreta, um sie in seine eigene Heimat Athen zu bringen, wo er sie heiraten will. Er ist jedoch nicht um Ariadnes willen nach Kreta gekommen, sondern um den Minotaurus zu töten. Die Entführung ist also, wie bei dem Mythos von Jason und Medea, nur ein Folgegeschehen, wenn nicht gar Mittel zum Zweck, denn Theseus ist für die erfolgreiche Durchführung seines Vorhabens auf Ariadnes Hilfe angewiesen und hat ihr als Gegenleistung versprochen, sie nach dem erfolgreichen Ende seines Unternehmens zu seiner Gattin zu machen. Bevor es dazu kommt, setzt jedoch der zweite Handlungsabschnitt ein: Statt Theseus tritt nun Dionysos auf, der Ariadne ›entführt‹, um sich mit ihr zu vermählen. Von der ältesten Überlieferung wissen wir nicht allzu viel. In der Odyssee wird erzählt, Theseus habe Ariadne von Kreta nach Athen bringen wollen, sie sei jedoch »auf das Zeugnis des Dionysos hin« auf Dia (Naxos) von Artemis getötet worden.214 Damit wäre sie die einzige der unglücklichen Heroinen in der Nekyia, von deren Schicksal etwas berichtet wird. Indessen handelt es sich bei den Versen wohl um eine attische Interpolation, mit der zwei sehr alte, aber voneinander unabhängige Motive des Mythos miteinander verknüpft wurden, nämlich dass Ariadne von Anfang an, also schon auf Kreta die ›Braut‹ des­ Dionysos war, und dass sie wegen Preisgabe ihrer Jungfräulichkeit von Artemis 212 Plut. Thes. 20, 4. In diesen Zusammenhang gehört auch die Nachricht, Ariadne habe sich aufgehängt, nachdem sie von Theseus verlassen worden sei (Plut. ibid. 20, 1). 213 Zahlreiche Varianten sind unverkennbar dem Bemühen geschuldet, das Verhalten des Theseus in ein besseres Licht zu rücken. 214 Hom. Od. 11, 321–325; ibid. 325 Διονύσου μαρτυρίῃσι.

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getötet worden sei.215 Jedenfalls entfällt in dieser Version der zweite Handlungsabschnitt, der zur Vermählung Ariadnes mit Dionysos führt. Dieser zweite Handlungsabschnitt, also der Ariadne-Dionysos-Mythos, ist für uns von besonderem Interesse aufgrund seiner strukturellen Verwandtschaft mit dem Europa-Mythos. Beide handeln davon, dass eine Heroine von einem Gott zu seiner Gattin erhoben wird, und diese Vermählung mit einem Gott ist das distinktive Merkmal, durch das sie sich tiefgreifend von den zahlreichen Geschichten über die Liebesabenteuer des Zeus und anderer Götter unterscheiden. Die einzelnen Elemente, in denen sich diese strukturelle Verwandtschaft konkretisiert, betreffen das Geschehen vor, bei und nach der Eheschließung mit dem Gott: − Der Gott gibt sich schon vor der Liebesvereinigung zu erkennen und macht seine künftige Gemahlin eben dadurch zu einer Auserwählten unter allen Sterblichen; dies im Gegensatz zu den Liebschaften, bei denen die Götter ihre Identität zu verbergen bzw. erst im nachhinein preiszugeben pflegen;216 − die Braut erhält als Zeichen ihrer Vermählung mit dem Gott ein kostbares Hochzeitsgeschenk; alternativ dazu oder zusätzlich wird ihr ewiger Nachruhm verheißen; − aus der Ehe mit dem Gott gehen mehrere Kinder hervor; − das Schicksal der Vermählten nach der Eheschließung bleibt im Unbestimmten, und der Frage nach der Dauer des Zusammenlebens nach der Eheschließung wird kaum Beachtung geschenkt. Der Übergang vom ersten zum zweiten Handlungsabschnitt, also der dramatische Moment, in dem Dionysos an die Stelle des Theseus tritt, ist in zwei sehr unterschiedlichen Fassungen erzählt worden. In der einen Fassung sind Dionysos und Theseus Rivalen in der Liebe zu Ariadne: Theseus hat keineswegs die Absicht, Ariadne zu verlassen, sondern er wird von Dionysos gezwungen, auf seine Geliebte zu verzichten. Dionysos setzt seinen Anspruch entweder durch, indem er Theseus im Traum so mit Drohungen einschüchtert, dass dieser aus Angst vor dem Gott von Naxos abreist,217 oder er raubt ihm Ariadne gleich nach der Landung auf Naxos mit offener 215 Wilamowitz 1884, 150 hat dazu festgestellt, »daß es nicht einfach eine einlage ist, sondern aufgrund einer erwähnung der Ariadne eine attische erweiterung.« Zu Dionysos und Ariadne vgl. West 1966, 418: »The part played by Dionysus is best understood on the assumption that Ariadne was already his bride in Crete before Theseus arrived.« Die Tötung durch Artemis wegen Preisgabe der Jungfräulichkeit (ἀναιρεθῆναι δὲ αὐτήν φασιν ὑπ’ Ἀρτέμιδος προεμένην τὴν παρθενίαν) ist eine Erzählvariante in dem Scholion zu Od. 11, 322, auf das wir gleich eingehen werden. 216 Dazu s. o., Kap. 1.3. 217 Diod. Sic. 5, 51, 4.

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Gewalt218 und schließt entweder dort oder an einem anderen Ort die Ehe mit ihr.219 Diese Fassung gleicht dem Europa-Mythos darin, dass der Gott von Anfang an kein anderes Ziel hat, als sich mit der Heroine zu vermählen.220 In der zweiten Fassung wird berichtet, Theseus sei heimlich von Naxos nach Athen aufgebrochen und habe Ariadne in voller Absicht einem ungewissen Schicksal überlassen; danach aber sei sie mehr oder weniger zufällig durch das Erscheinen des Dionysos gerettet worden, der sich alsbald mit ihr vermählt habe. Als Motiv des Theseus gilt entweder seine Treulosigkeit oder aber – dies eine apologetische Variante – ein Befehl der Göttin Athena, die ihm im Traum erschienen sei und ihn angewiesen habe, sofort und ohne Ariadne nach Athen zurückzukehren. Als Ariadne erwacht, wird sie dessen gewahr, dass sie von Theseus verlassen und allein auf der Insel zurückgeblieben ist. Sie gerät in abgrundtiefe Verzweiflung, der sie in einem langen Klagemonolog Ausdruck verleiht. Noch während ihrer Klage erscheint der Gott, der sich mit ihr ver­mählen wird. Belegt ist diese Fassung durch ein Resümee, das in einem Scholion zur­ Odyssee überliefert ist und die älteste vollständige Darstellung der Ariadne-­ Erzählung enthält, die wir besitzen. Der Scholiast beruft sich dafür zwar auf Pherekydes von Athen,221 aber es ist unverkennbar und unbestritten, dass er bei seiner Wiedergabe der Handlung hellenistisches Erzählgut berücksichtigt und eingearbeitet hat.222 Über den Beginn der Entführung Ariadnes wird in dem Scholion (und übereinstimmend damit auch in anderen Quellen) berichtet, dass Theseus, nachdem er den Minotaurus getötet habe, zusammen mit Ariadne mitten in der Nacht von Kreta abgesegelt sei.223 Der Grund für den nächtlichen Aufbruch ist evident, denn wenn Theseus sich der Verfolgung durch Minos entziehen wollte, dann musste er sich dem Schutz der Dunkelheit anvertrauen. Bei der Darstel 218 Pausan. 10, 29, 4 erwähnt zwei voneinander abweichende Berichte darüber: Entweder hatte Dionysos dem Theseus aufgelauert (das ist wohl ein Reflex der älteren Berichte über eine bereits bestehende Verbindung zwischen Dionysos und Ariadne), oder er war zufällig dorthin gekommen und hatte sich sogleich in Ariadne verliebt. 219 Nach Diod. Sic. 5, 51, 4 schließt Dionysos die Ehe mit Ariadne auf dem Berge Drios (also auf der Insel Naxos), nach Apollod. epit. 1, 9 auf Lemnos. 220 Diod. Sic. 4, 61, 5; dass es sich nicht nur um eine große Liebe, sondern um eine regelrechte Eheschließung handelt, wird durch die Formulierung ἔχειν αὐτὴν ὡς γυναῖκα γαμετὴν ἀγαπωμένην διαφερόντως zum Ausdruck gebracht. 221 Pherec. (FGrHist 3) F 148 (fr. 148 a Fowler) = Schol. Od. 11, 322: ἡ ἱστορία παρὰ Φερεκύδει. 222 So schon Kiessling / Heinze 1930, 371; ähnlich die jüngere Forschung, z. B. Harrison 1993, 150: »though in context to be ascribed to Pherecydes looks very much like the summary of a Hellenistic poem.« Ähnlich Fowler 2013, 472. Nicht für alle Motive und Abschnitte des Textreferats lässt sich Pherekydes als Gewährsmann so eindeutig ausschließen. 223 Pherec. (FGrHist 3) F 148 (fr. 148a Fowler) = Schol. Od. 11, 322: νυκτὸς μέσης ἀποπλεῖ (»mitten in der Nacht segelt er ab«). Diod. Sic. 4, 61, 5: κλέψας τὴν Ἀριάδνην ἔλαθεν ἐκπλεύσας νυκτός (»er entführte Ariadne unbemerkt, da er nachts absegelte«). Apollod. epit. 1,9: διὰ νυκτὸς […] εἰς Νάξον ἀφικνεῖται (»während der Nacht kommt er […] nach Naxos«).

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lung von Theseus’ heimlichem Aufbruch von Naxos nach Athen repräsentiert das Scholion die apologetische Version, d. h. Theseus verlässt Ariadne nicht willentlich, sondern auf göttlichen Befehl.224 Damit beginnt der zweite Handlungsabschnitt, der mit einer hochdramatischen Peripetie eingeleitet wird. Hier ist besonders deutlich zu erkennen, dass die Geschichte so nicht von Pherekydes, sondern nur von einem späteren Dichter erzählt worden sein kann: κατολοφυρομένης δὲ τῆς Ἀριάδνης ἡ Ἀϕροδίτη ἐπιφανεῖσα θαρρεῖν αὐτῇ παραινεῖ· Διονύσου γὰρ ἔσεσθαι γυναῖκα καὶ εὐκλεῆ γενήσεσθαι. ὅθεν ὁ θεὸς ἐπιφανεὶς μίσγεται αὐτῇ καὶ δωρεῖται στέφανον αὐτῇ χρυσοῦν. ὃν αὖθις οἱ θεοὶ κατεστέρισαν τοῦ Διονύσου χάριτι.225

Dieses Resümee ist der erste Beleg für die Klage der verlassenen Ariadne, und weil es dazu dient, mythologisches Sachwissen zum besseren Verständnis einer Homerstelle zu vermitteln, kann es sich nicht auf die besondere Version eines bestimmten Dichters beziehen, sondern es muss die Vulgata – vorsichtiger gesagt: die Vulgata der hellenistischen Zeit – wiedergeben. Die römischen Dichter sind dieser Vulgata gefolgt, und deshalb ist das Motiv der verzweifelt klagenden Ariadne und ihrer unerwarteten Rettung zum wichtigsten Merkmal dieses Mythos geworden. Dasselbe Motiv ist aber auch für die Europa-Ode des Horaz bestimmend und für die Europa-Erzählung der hellenistischen Dichtung, die ihr vermutlich zugrundeliegt. Sowohl bei Ariadne als auch bei Europa erweist sich die Verzweiflung jedoch – unerwartet nur für die beiden Heroinen, aber nicht für den Leser – im nachhinein als grundlos, weil ihnen in wunderbarer Weise ein deus (oder eine dea) ex machina erscheint, um sie zu retten, und das ist zugleich ein gemeinsames Merkmal, durch das Ariadne und Europa sich vom literarischen Stereotyp der verlassenen Heroine unterscheiden.226 224 Eine Klage Ariadnes ist selbstverständlich auch in der Erzählvariante möglich, in der Theseus sie unfreiwillig verlassen hat (anders Flashar 2011, 503), denn Ariadne kann ja nicht wissen, warum er ohne sie aufgebrochen ist. Im übrigen sind Klage und Anklage einer verlassenen Geliebten Strukturelemente, für die es keiner rationalen Begründung bedarf. Vergils Aeneas rechtfertigt seine Abreise wahrheitsgemäß mit einem göttlichen Befehl, aber Dido glaubt ihm kein Wort und bezichtigt ihn der Treulosigkeit und des Verrats an der gemeinsamen Liebe. 225 Schol. Od. 11, 322 = Pherec. fr. 148 Fowler: »Während Ariadne klagte, erschien Aphrodite und ermunterte sie, guten Mutes zu sein; sie werde nämlich die Gattin des Dionysos sein und berühmt werden. Daraufhin erschien der Gott und vereinigte sich mit ihr und schenkte ihr einen goldenen Kranz, den die Götter dem Dionysos zuliebe zum Sternbild machten.« Flashar zitiert das Fragment, meint aber gleichwohl, »ob es in einem nicht erhaltenen hellenistischen Gedicht eine ausgeführte Klage der Ariadne gegeben hat, ist nicht sicher zu entscheiden (2011, 503; noch entschiedenere Zweifel ibid. 501). 226 Zu den für die Klage konstitutiven Motiven s. das nächste Kapitel über die Europa-Ode des Horaz.

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In der von dem Scholiasten resümierten Erzählung verdient die Epiphanie der Göttin Aphrodite, die Ariadne über die glückliche Wendung ihres Schicksals aufklärt, besondere Beachtung. Bei diesem Motiv handelt es sich nicht um ein Strukturmerkmal, sondern um eine Ausschmückung der Erzählung, denn am Ablauf der Handlung ändert sich dadurch nichts. Das zeigt die Ariadne-Erzählung in Ovids Ars amatoria, in der das Motiv fehlt.227 Sie beginnt mit der Klage der verlassenen Ariadne, die wie von Sinnen auf dem Strand hin und herläuft und vergeblich nach Theseus ruft; aber noch während sie auf dem einsamen Meeresstrand klagt, erscheint so plötzlich mit ohrenbetäubenden Lärm der ausgelassene Thiasos des Dionysos, dass Ariadne das Bewusstsein verliert. Als sie wieder zu sich kommt, erblickt sie den Gott auf seinen von Tigern gezogenem Wagen und gerät in noch größere Furcht. Dionysos spricht ihr jedoch mit folgenden Worten Mut zu: ›pone metum: Bacchi, Cnosias, uxor eris. munus habe caelum; caelo spectabere sidus; saepe reges dubiam Cressa Corona ratem.‹228

Hier ist Ariadne völlig unvorbereitet auf die Epiphanie des Dionysos mit seinem großartigen Gefolge, und deshalb kann Ovid sie, nicht ohne Witz, beim Herannahen des Gottes vor Schreck in Ohnmacht fallen lassen.229 Die Gründe, die den oder die unbekannten Dichter dazu bewogen haben, eine Epiphanie Aphrodites einzufügen, bevor der Gott, der sich mit ihr vermählen will, selbst erscheint, liegen jedoch auf der Hand: Auf diese Weise erhält die Liebesgöttin, die das Geschehen nach ihrem Willen gelenkt hat, die Gelegenheit, ihren Erfolg selbst zu verkünden und auszukosten. Auch in der Geschichte von der Entführung Europas ist Aphrodite die lenkende Gottheit, und dennoch verbot sich hier der Kunstgriff, zuerst die Liebesgöttin auftreten zu lassen, denn dadurch wäre eine darauf folgende Epiphanie des Zeus zu einer matten Dublette geworden. Kein anderer Gott, auch nicht der Göttervater, konnte die Epiphanie Aphrodites und ihre glückverheißende Rede so spektakulär überbieten wie Dionysos mit seinem Gefolge und unvergleichlichen Gepränge. Im Epyllion des Moschos gab es dazu ohnehin keine Gelegenheit, weil Zeus sich der Entführten schon während der Überfahrt offenbart hatte. Aber auch in der geläufigeren Version, die den Resümees in Lukians Seegöttergesprächen und in Ovids Fasti zugrundeliegt, überließen die Erzähler 227 Ov. a.a. 1, 527–564; die eigentliche Klage umfasst hier nur wenige Worte. 228 Ov. a.a. 1, 556–558: »Hör auf, dich zu fürchten, Knosserin, du wirst die Gemahlin des Bacchus sein. Nimm den Himmel zum Geschenk; am Himmel wird man dich als Sternbild sehen: oft wirst du als kretische Krone ein unsicheres Schiff lenken.« 229 Bei Ovid manifestiert sich die Peripetie in einem mehrfachen dramatischen Stimmungswechsel Ariadnes; die Vermählung mit Dionysos ist ein unvergleichlich viel größeres Glück als die zuvor erhoffte und dann doch nicht erreichte eheliche Verbindung mit Theseus.

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es aus gutem Grund dem Göttervater selbst, der entführten Europa zu offenbaren, dass er sie zu seiner Gemahlin erwählt hatte. Freilich war das ein Problem nur in der erzählenden Dichtung, und deshalb ist es gewiss kein Zufall, dass die Liebesgöttin erst in einer Ode des Horaz die Gelegenheit erhält, Europa ihr unbeschreibliches Glück zu verkünden und ihren eigenen Triumph zu genießen  – ein fulminanter Gedichtschluss, der die Epiphanie des Göttervaters vorwegnimmt und zugleich überflüssig macht. Sanktioniert wird die Vermählung Ariadnes mit Dionysos dadurch, dass sie als Hochzeitsgeschenk einen Brautkranz erhält, der ebenso wie das goldene Halsband, das Europa von Zeus bekommt, von Hephaistos geschaffen worden ist. Der ewige Ruhm, der Ariadne verheißen wird, ist durch die Überlieferung festgelegt und manifestiert sich in der Verstirnung ihrer Brautkrone, also darin, dass ihre Vermählung mit Dionysos für alle Zeiten am Sternenhimmel sichtbar sein wird. Europas Ruhm dagegen gründet sich ursprünglich nur auf die hochberühmten Söhne, die Zeus mit ihr zeugt, also darauf, dass sie vom Göttervater zur Mutter großer Helden gemacht worden ist. Das ist ein Ruhm, der den Kategorien der älteren Dichtung entspricht, also der Tragödie und dem Epos, und dieser Tradition ist, wenn auch sehr verhalten, auch Moschos in seinem­ Epyllion gefolgt. Zur Vorstellungswelt der Liebesdichtung passen die heldenhaften Söhne nicht so gut, aber es war um so leichter, auf dieses Motiv zu verzichten, als Europa zur Namenspatronin eines Erdteils geworden war.230 Das stand zwar nicht in unmittelbaren Zusammenhang damit, dass der Göttervater sie zu seiner Gemahlin erwählt hatte,231 aber es bedeutete einen nicht geringeren, einen kosmischen Ruhm, und war deshalb der Erhebung von Ariadnes Brautkrone an den Sternenhimmel232vergleichbar und gleichwertig Durch die Kinder, die aus der Liebesverbindung eines Gottes mit einer­ Heroine hervorgehen, wird ihr aber nicht nur (in der älteren Zeit) ewiger Ruhm zuteil, sondern sie sind (nicht nur in der älteren Zeit) der beste Beweis dafür, dass der Gott nicht etwa nur seine Liebesleidenschaft befriedigt, sondern die Geliebte zu seiner Gattin gemacht hat, jedenfalls dann, wenn sie mehrfach Kinder von ihm empfangen und zur Welt gebracht hat. Im Europa-Mythos ist das eines der zentralen Motive, aber auch Ariadne gebiert dem Dionysos mehrere Söhne, und es werden bis zu sechs Namen genannt.233 230 So übereinstimmend Hor. c. 3, 27, 75 f. und Ov. f. 5, 618. Dafür muss es ein Vorbild in der hellenistischen Dichtung gegeben haben, aber der Sache nach ist hier vieles völlig unklar (dazu Nisbet / Hubbard 2004, 337 f. und Manuwald 2015, 15–22). 231 Vgl. Commager 311: »The rewards of Icarus and Europa are fortuitous; only the poet can willfully compel a lasting image upon the world.« 232 Den Aspekt des Kosmischen hat Ovid in seiner Ariadne-Erzählung zu der Pointe­ munus habe caelum; caelo spectabere sidus verdichtet (a.a. 1, 557, wie oben zitiert). 233 Eine Liste mit sechs Namen steht im Scholion zu Apoll. Rhod. 3, 997–1004a, Apollod. epit. 1, 9 sind es vier, bei anderen weniger. Bei Plutarch werden abweichend zwei davon als

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Das Schicksal Ariadnes nach der Eheschließung bleibt, ebenso wie das Europas, in der literarischen Überlieferung ganz unbestimmt, und fast scheint es so, als habe man die Frage danach für unpassend gehalten. Symptomatisch dafür ist die mehrfach belegte Nachricht, dass Ariadne schon bald nachdem sich der Gott mit ihr vermählt habe, »verschwunden« sei.234 Einen Widerspruch zu der Geburt mehrerer Kinder hat man darin jedenfalls nicht gesehen, ebensowenig wie man bei Europa darüber räsoniert hat, ob die mehrfache Schwangerschaft damit in Einklang steht, dass man nichts von einer längeren Verbindung mit Zeus zu berichten wusste. Bei Ariadne kann man jedoch nicht einmal darüber spekulieren, dass sie von Dionysos verlassen worden sein könnte, und vielleicht ist ihr Verschwinden als Chiffre dafür zu verstehen, dass ihr Liebesglück nie zu Ende ging.235 Ovid hat die Vorstellung, dass Ariadne und Dionysos als Ehepaar zusammenleben, durch eine eigenwillige Erfindung mit Leben erfüllt. Der mit Ariadne verheiratete Bacchus habe einmal, so erzählt er in den Fasti, von einem Indien-Feldzug reiche Beute und einige hübsche Gefangene mitgebracht, darunter eine Königstochter, an der er allzu viel Gefallen gefunden habe (grata ­nimis Baccho filia regis erat). Darüber habe seine liebende Gattin Ariadne Tränen vergossen (flebat amans coniunx) und erneut die Klage der Verlassenen angestimmt, wie schon einmal, als Theseus ohne sie nach Athen aufgebrochen war. Bacchus aber habe sie daraufhin liebevoll in den Arm genommen und ihr versprochen, dass er gemeinsam mit ihr in den Himmel aufsteigen und dass er ihren von Vulcanus geschaffenen Hochzeitskranz zum Zeichen der Erinnerung an sie zum Sternbild machen werde.236 Dadurch werden die Verheißungen bzw. ihre Erfüllung auf einen späteren Zeitpunkt im Verlauf der Ehe verschoben, und das macht sie zu einer Garantie dafür, dass Ariadnes vorübergehend getrübtes Eheglück Bestand haben wird. Söhne des Theseus von Ariadne bezeichnet (Plut. Thes. 20, 2). Dass die Überlieferung uneinheitlich ist, erklärt sich wohl auch daraus, dass die Kinder (anders als die Heldensöhne in den frühen Europa-Erzählungen) für den Ruhm und das Schicksal Ariadnes nicht relevant waren. 234 Bei Arat ist ohne weitere Erläuterung von der verschwundenen Ariadne die Rede (ἀποιχομένης ’Αριάδνης, V. 72). Eine andere Variante steht bei Diodor: Dionysos sei nach der Entführung Ariadnes auf den Berg Drios verschwunden und danach sei auch Ariadne nicht mehr gesehen worden (Diod. Sic. 5, 51, 4). Zum Verschwinden Ariadnes vgl. auch den Hinweis DNP Bd. 1, Sp. 1076. 235 Das ist wohl schon in der ebenso unbestimmten älteren Überlieferung vorgebildet. Bei Hesiod heißt es: χρυσοκόμος δὲ Διώνυσος ξανθὴν Ἀριάδνην, / κούρην Μίνωος, θαλερὴν ποιήσατ’ ἄκοιτιν, / τὴν δὲ οἱ ἀθάνατον καὶ ἀγήρω θῆκε Κρονίων (Hes. theog. 947–949: »Und der goldengelockte Dionysos nahm die blonde Ariadne, die Tochter des Minos, zu seiner blühenden Gattin. Die machte ihm der Kronide frei von Tod und von Alter.«) 236 Ov. f. 3, 459–516. Die zitierten Formulierungen grata nimis Baccho filia regis erat und flebat amans coniunx ibid. 468 und 469; zur ›zweiten‹ Klage Ariadnes Heinze 1919, 59 f. (=1960, 352) und Bömer 1957, 158 f.; die Verheißungen des Bacchus: ibid. 511–514.

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Unter den Berichten über die Vermählung des Dionysos mit Ariadne gibt es aber auch eine Überlieferung, in der berichtet wird, Ariadne habe später den Dionysos-Priester Oinaros geheiratet. Das erinnert bis in die Terminologie hinein an die Nachricht, Europa sei von Zeus mit Asterios, dem König seiner Heimat Kreta, vermählt worden.237

237 Plut. Thes. 20, 1.  Die Verbindung wird mit dem Begriff συνοικεῖν umschrieben, so wie bei Hesiod die Begründung der Hausgemeinschaft Europas mit dem Begriff συνοικίζειν (συνῴκισεν αὐτὴν) umschrieben wird (dazu oben S. 82). Das Konstrukt ist leicht zu durchschauen: An die Stelle des Dionysos tritt dessen Priester, so wie der Kreterkönig Asterios an die Stelle des auf Kreta geborenen Zeus tritt.

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3.4 Die Europa-Ode des Horaz (c. 3,27) 3.4.1 Die Konzeption des Gedichts Die Ode 3,27 des Horaz ist die früheste erhaltene Darstellung des Europa-­ Mythos seit dem Epyllion des Moschos, von der sie durch mehr als ein Jahrhundert geschieden ist. Sie ist ein Widmungsgedicht an eine Frau namens Galatea. Da sich aber nur die Anfangsstrophen an die Adressatin richten und der weitaus größere Teil des Gedichts, nämlich dreizehn von insgesamt neunzehn Strophen, von dem mythologischen Thema Europa beherrscht ist, wird die Ode in der Regel nicht nach Galatea, sondern nach Europa benannt. In der Forschung gilt die Europa-Ode als eines der schwierigsten Gedichte des Horaz überhaupt,238 und sie ist deshalb seit mehr als zweihundert Jahren besonders oft Gegenstand gelehrter Untersuchungen gewesen. Das Hauptproblem stellt von jeher die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem ›Galatea-Teil‹ und dem ›Europa-Teil‹ dar, also die Frage nach der organischen Einheit des Gedichts, aber auch im Einzelnen bereitet das Gedicht mancherlei Schwierigkeiten.239 Zwar ist man sich mittlerweile darin einig, dass das quantitative Übergewicht des mythologischen Teils nach den Maßstäben antiker Dichtung keinen ästhetischen Mangel begründet,240 aber eine Antwort auf die Frage, wie die Botschaft des ersten und die des zweiten Teils miteinander in Einklang zu bringen sind, konnte und kann sich daraus nicht ergeben. Auch die Erkenntnis, dass in dem ganzen Gedicht immer wieder ein parodistischer Ton spürbar ist,241 stellt zwar einen bedeutsamen Fortschritt dar, aber die zahlreichen Einzelprobleme konnten dadurch allenfalls relativiert und nicht gelöst werden. 238 Diese Feststellung von Büchner 1938, 636 ist seither immer wieder zustimmend zitiert worden. Für West 2002, 224 ist das Gedicht sogar »the most difficult and controversial of the odes«. Symptomatisch für die weithin vorherrschende Ratlosigkeit ist, dass in einer vor wenigen Jahren publizierten Monographie, die sich grundsätzlich mit dem Thema »Mythos in den Oden des Horaz« beschäftigt, auf eine Behandlung der Europa-Ode von vornherein verzichtet wird (Breuer 2008). 239 West 2002, 222 f. nennt als die beiden Hauptschwierigkeiten des Gedichts »its lack of unity and its details, including the bewildering technicalities of eight omens in the first four stanzas, the extravagances of Europa’s lament in lines 34–56, and in particular the last five words of the poem, implying an apparently untenable comparison between Horace’s Galatea and Jupiter’s Europa.« 240 Daran hat z. B. Syndikus 2001, 221 erinnert: »[…] die Freude an einer ungewöhnlichen Spiegelung von Mythos und Leben entsprechen dem Geschmack der hellenistischen Dichtung und ihrer Nachfolger in Rom. Dort findet man auch am ehesten Beispiele für ein vergleichbares Übergewicht eines Mythenexempels im Gedichtganzen.« 241 Buscaroli 1937, 18 spricht treffend von der »semiserietá« des Gedichts, vergleichbar mit c. 2, 13 (Ille et nefasto). Ausführlich zum parodistischen Ton: Wilson 1969, 44 (»pseudoserious«) und passim.

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Kurz und gut, obwohl zu der Europa-Ode des Horaz viele kluge Beobachtungen gemacht, vorzügliche Argumente entfaltet und scharf­sinnige Erklärungen vorgetragen worden sind,242 hat sich daraus keine überzeugende Gesamtdeutung ergeben, ganz im Gegenteil: Die Debatte um dieses Gedicht wird heute so kontrovers geführt wie schon in den beiden zurückliegenden Jahrhunderten. Der Ausweg, den schwierigen Zugang zu dem Gedicht mit Defiziten in der poetischen Konzeption, also mit einem wenn auch vielleicht verzeihlichen Unvermögen des Horaz zu begründen, wird heute freilich nicht mehr so leicht beschritten wie vor hundert Jahren.243 Die Forschung hat ein entscheidendes Gegenargument daraus gewonnen, dass das wichtigste Kriterium für die Qualität eines Kunstwerks nach Überzeugung des Horaz dessen organische Einheit gewesen sei und dass er selbst dieses Gedicht offenkundig für eines seiner besten gehalten habe. Wenn man zusätzlich bedenke, dass Horaz seinem eigenen Maßstab mit seinen Gedichten in ganz vorzüglicher Weise gerecht geworden sei, freilich nicht so, dass man das immer auf den ersten Blick erkennen könne, dann müsse der Leser, wenn er keine innere Einheit feststellen könne, erst einmal innehalten.244 So einleuchtend diese Überlegung auch sein mag, so ist sie doch in keiner Weise beherzigt worden, da die meisten Gelehrten auch weiterhin glaubten und glauben, die Frage nach der organischen Einheit der Europa-Ode beantworten zu können, nur eben auf ganz unterschiedliche Weise. Jedenfalls ist die Forschungssituation nach wie vor dadurch gekennzeichnet, dass in rascher Folge Abhandlungen publiziert werden, in denen die längst bekannten, einander widersprechenden Deutungen mit allenfalls leichten Modifikationen wieder-

242 Auch an nützlichen Kommentaren herrscht kein Mangel. In Einzelfällen tut man gut daran, auch die älteren zu Rate zu ziehen; genannt seien an dieser Stelle Mitscherlich (1800), Lambinus (1829), Ritter (1856), Dillenburger (1881), Orelli (1886) und Müller (1900). 243 Zwar gehört es inzwischen zum guten Ton, sich von den apodiktischen Verdammungs­ urteilen zu distanzieren, die z. B. Wilamowitz und Eduard Fraenkel über das Gedicht gefällt haben, aber damit ist die grundsätzliche Kritik an der Qualität des Gedichts keineswegs verstummt; vgl. z. B. Quinn 1969, 253: Horace »has counted too much on his readers’ ability to recognize themes and put two and two together« (ähnlich 255). Prominentester Vertreter der Gegenposition war in der älteren Forschung Orelli 1886, der seine Überzeugung, dass die Europa- Ode ein Gedicht aus einem Guss sei, mit einem Resümee des Gedankengangs illustriert und daraus folgendes Fazit gezogen hat (ibid. 469): »Hanc simplicissimam rationem ubi sequamur, nihil habet inconcinni carminis exitus neque exordio repugnat. Uberior autem fabulae de Europa expositio eiusdem prorsus generis est atque c. III 11, 33 de Hypermestra narratio […]« 244 West 2002, 218: »Odes 3. 27 is part of the final climax of his boldly innovative collection between two exquisite love poems and before the greatest of all Horace’s lyrics, 3.  29 […]. By  a similar argument the poem must be  a unity. The first twenty-three lines of Horace’s Ars Poetica are devoted to the importance of unity, and he is a master of it, but his unity is often subtle and unexpected. If we cannot see it, we should pause.«

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holt werden,245 wie um vorzuführen, dass und warum eine Lösung auf den bisher beschrittenen Wegen nicht möglich ist. Man sollte sich deshalb an die triviale Tatsache erinnern, dass die scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten, einen Jahrtausende alten Text zu ver­stehen, häufig in erster Linie durch den Abstand zwischen der Epoche des Autors und der seiner nachgeborenen Leser bedingt sind. Wo immer dies erkennbar der Fall war, hat die Klassische Philologie ihre Aufgabe von jeher darin gesehen, die ursprünglichen Rezeptionsbedingungen der betroffenen Texte zu analysieren und dadurch ihrem historischen Verständnis so nahe wie möglich zu kommen. Bei der Europa-Ode des Horaz ist das jedoch noch nie ernsthaft versucht worden, und zwar offenkundig deshalb nicht, weil man sich nicht bewusst gemacht hat, dass gerade dieses Gedicht ein Musterbeispiel dafür ist, wie der Zugang zu einem Text der antiken Literatur durch den fortschreitenden Wandel der Rezeptionsbedingungen verschüttet werden kann. Damit ist unsere Aufgabe bereits umrissen. Um sie zu erfüllen, müssen wir uns erstens das Verständnis des Europa-Mythos zur Zeit des Horaz vergegenwärtigen und zweitens die übliche Auffassung überprüfen, dass Horaz die überlieferte Fassung der Erzählung grundlegend verändert habe. Im Hinblick auf den ersten Punkt können wir uns angesichts dessen, was wir in den vorigen Kapiteln ausgeführt haben, kurz fassen: Während die Erzählung für die antiken Leser ganz selbstverständlich mit einer glücklichen Eheschließung endete, hat sich in der Neuzeit die Überzeugung, dass dies a priori auszuschließen sei, zu einer Gewissheit verfestigt, die offenbar durch nichts zu erschüttern ist. Bei der Ode des Horaz führt das zu einem schon fast bizarren Ergebnis: Am Schluss des Gedichts wird der verzweifelten Europa von Venus verkündet, dass Jupiter sie zu seiner Gattin (uxor) auserkoren habe,246 aber alle Erklärer sind sich darin einig, dass Horaz das, was er hier geschrieben habe, keinesfalls gemeint haben könne. Vielmehr solle Europa ihr unvergleichliches Glück in dem Ruhm sehen, den sie bei der Nachwelt genießen werde, weil sie eine Liebesnacht mit Jupiter verbracht habe. Schon auf Europa bezogen ist eine solche ›Verheißung‹ etwas seltsam. Sie wird aber geradezu absurd, wenn man bedenkt, dass sich die Botschaft mutatis mutandis auch als eine Botschaft an Galatea beziehen lassen müsste, und das ist in der Tat, wie wir gleich sehen werden, in keinem der Erklärungsmodelle möglich, die die Forschung dafür entwickelt hat, wenn man unter uxor esse eine Liebesaffäre versteht. Aber auch für die Frage, welche narrative Struktur des Europa-Mythos dem Gedicht des Horaz zugrunde liegt, sind die Rezeptionsbedingungen von größerer Bedeutung, als man vermuten könnte. In der Horazforschung gilt es als

245 Einen ausführlichen Überblick über die Forschungssituation gibt Eicks 2011, 34–38. 246 Hor. c. 3, 27, 73: uxor invicti Iovis esse nescis.

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eine gesicherte Tatsache, dass es in der antiken Literatur vor Horaz die Szene, in der Europa sich plötzlich allein am Strand von Kreta wiederfindet, in einen langen Verzweiflungsmonolog ausbricht und erst danach (von Venus) getröstet und über ihr Schicksal aufgeklärt wird, noch nicht gegeben habe, dass Horaz diese Konstellation also nicht nur umgestaltet, sondern überhaupt erst erfunden habe. Das ergebe sich zwingend daraus, so wird behauptet, dass Europa bei Moschos schon vor der Ankunft in Kreta über ihre Situation aufgeklärt werde und dass es auch sonst kein literarisches Vorbild dafür gebe, dass Europa bei der Ankunft auf Kreta von dem Stier verlassen worden sei und nichts über dessen Identität wisse.247 Wenn dies zuträfe, dann hätte das weitreichende Konsequenzen. Sie beträfen einmal die Odendichtung des Horaz überhaupt, nämlich die Frage ihrer Originalität und ihrer Orientierung an den griechischen Vorbildern, dann aber auch unser Gedicht und dessen Konzeption, also die Frage, ob und wie eine solch grundlegende Neuerung durch den intendierten Bezug des Europa-Mythos auf die Galatea-Strophen veranlasst sein könnte. Die Frage lässt sich freilich nur dann beantworten, wenn man strikt zwischen der Struktur der Erzählung insgesamt und der Gestaltung der Szene bei und nach der Ankunft Europas auf Kreta unterscheidet. Was die Struktur der Erzählung betrifft, so ist die einhellige Überzeugung der Forschung, dass die Europa des Moschos zugleich die antike Vulgata der Europa-Erzählung repräsentiere, unzutreffend. Wie wir gesehen haben, ist die Szene, in der sich der Stier schon auf dem hohen Meer als Zeus zu erkennen gibt und Europa verkündet, dass er sie zu seiner Gattin erwählt habe, der besonderen Konzeption des Moschos geschuldet und deshalb höchstwahrscheinlich erst von ihm erfunden werden. In allen anderen Textzeugnissen wird explizit gesagt oder ersichtlich vorausgesetzt, dass Zeus sich erst nach der Ankunft in Kreta zu erkennen gibt, so wie es dem natürlichen Ablauf entspricht. Indem ­Horaz diese Darstellung übernommen hat, hat er sich für die Vulgata und (kaum überraschend) gegen die für seine Konzeption ganz ungeeignete Version des ­Moschos entschieden. Wenn Horaz aber die Struktur der Erzählung so in der literarischen Überlieferung vorgefunden hat, dann erscheint die Frage, ob er sich bei der literarischen Gestaltung dieser besonderen Szene an Vorbildern orientiert hat oder nicht, in einem ganz anderen Licht. Gewiss kann man sich den Hergang auch 247 So schon Mendell 1935, 291 in seinem immer noch sehr einflussreichen Aufsatz: »Nowhere else is there any suggestion of her desertion by the bull or of her ignorance after arriving in Crete of the identity of her lover.« Weitreichende Folgerungen hat daraus Syndikus in seinem Horaz-Buch (2001) gezogen, ausgehend von der unrichtigen Behauptung, das Europagedicht des Moschos repräsentiere alle Einzelheiten der Sage in »der hellenis­tischen Literatur«, die Horaz von dort übernommen habe (226).

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so vorstellen, dass Zeus sich unmittelbar nach der Ankunft auf Kreta zu erkennen gab, aber es spricht doch sehr viel mehr dafür, dass schon ein hellenistischer Dichter auf die naheliegende Idee gekommen ist, die Szene nach dem Modell der Ariadne-Erzählung zu konzipieren, also Europa nach dem Verschwinden des Stiers erst einmal im Ungewissen über ihr Schicksal zu lassen und ihre Verzweiflung und ihre Erlösung durch das Erscheinen des Gottes zum Thema zu machen. Dies wird schon durch die strukturelle Verwandtschaft der beiden Erzählungen nahegelegt, auf die wir im vorigen Kapitel eingegangen sind, und man wird deshalb auch mit wechselseitigen Entlehnungen rechnen müssen. Bei der eigentlichen Peripetie dagegen könnte Horaz sehr wohl der erste gewesen sein, der der verzweifelten Europa ihr wunderbares Schicksal durch die Liebesgöttin verkünden ließ und auf eine Epiphanie Jupiters verzichtet hat. Die Behauptung, Horaz habe die Europa-Erzählung gegenüber der Vulgata substantiell verändert, kann aber auch deshalb nicht zutreffen, weil er – und das ist von grundsätzlicher Bedeutung – die Geschichte, anders als Moschos oder auch als Ovid in den Metamorphosen, nicht um ihrer selbst willen erzählt, sondern als ein Exemplum verwendet hat. Um sich die Konsequenzen zu vergegenwärtigen, die sich daraus ergeben, braucht man nur einen flüchtigen Blick in das Regelwerk zu werfen, das von der antiken Rhetorik und Poetik für die richtige Wahl und den richtigen Gebrauch eines exemplum bzw. einer similitudo248 entwickelt worden ist. Quintilian umschreibt das wichtigste Kriterium für eine solche Wahl folgendermaßen: Quo in genere id est praecipue custodiendum, ne id quod similitudinis gratia adsciui­ mus aut obscurum sit aut ignotum: debet enim quod inlustrandae alterius rei gratia­ adsumitur ipsum esse clarius eo quod inluminat.249

Der Sinn der Direktive debet enim quod inlustrandae alterius rei gratia ad­ sumitur ipsum esse clarius eo quod inluminat ist evident: Nur ein Exemplum, das den Lesern oder Hörern so gut vertraut ist, dass man auf deren Vorwissen rekurrieren kann, ist geeignet, den Text, auf den es bezogen ist, zu verdeutlichen.250 Das ist auch der Grund dafür, dass ein Redner das von ihm als 248 Die Vorschriften für exemplum und similitudo (Gleichnis) sind weitgehend identisch, und für die Dichtung ist auch die Unterscheidung zwischen den beiden Funktionen probatio und ornatus kaum relevant. 249 Quint. i.o. 8, 3, 73: »Bei dieser Art muss man sich besonders davor hüten, dass das, was man um der Ähnlichkeit willen herangezogen hat, nicht dunkel oder unklar ist: Was zur Erläuterung einer anderen Sache herangezogen wird, muss selbst klarer sein als das, was es­ erhellt.« 250 Nur unter dieser Voraussetzung ergeben die Schulregeln überhaupt einen Sinn; vgl. z B. die Definition bei Cic. inv. 1, 49: exemplum est, quod rem auctoritate aut casu alicuius ho­ minis aut negotii confirmat aut infirmat (»Ein Beispiel ist, was eine Sache durch das Gewicht oder den Fall irgendeines Menschen oder einer Begebenheit stärkt oder schwächt«).

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exemplum verwendete Sujet einerseits weder vollständig noch in der ›richtigen‹ Reihenfolge wiederzugeben braucht, dass er es aber andererseits auch nicht nach Belieben verändern darf.251 Das gleiche gilt selbstverständlich auch für die Dichtung, und es wäre sehr seltsam, wenn ein Dichter, der die Intention seines Gedichts mit einer fabula nota illustrieren wollte, einen substantiell anderen als den allgemein bekannten Hergang voraussetzen würde.252 Daraus ergibt sich das Fazit: Da der Europa-Mythos den von Horaz intendierten Lesern bestens vertraut war und in seinem Gedicht keine eigenständige Erzählung ist, sondern als Exemplum im Sinne der antiken Rhetorik und Poetik fungiert, ist die Vermutung, Horaz hätte die überkommene Konzeption grundlegend verändert, a priori mehr als unwahrscheinlich.253 Damit sind wir bei der Frage, wie sich die Botschaft der an Galatea gerichteten Strophen mit der Botschaft der Europa-Erzählung in Einklang bringen lässt. Von den beiden Erklärungsmodellen, die von der Forschung für diesen Teil des Gedichts entwickelt worden sind, versteht das eine die Verse als ein Propemptikon an eine scheidende junge Frau, getragen von dem Wunsch, dass sie das Ziel ihrer Reise unversehrt erreichen und fern von der Heimat das erhoffte Glück finden möge. Diese Deutung verdankt sich einer sorgfältigen Textanalyse der Galatea-Strophen und ist insofern überzeugend. Sie bietet jedoch keine Antwort auf die Frage, wie eine solche Botschaft mit der des mythologischen Exemplums in Einklang zu bringen ist. Die Alternative dazu ist die von zahlreichen Vertretern der Horazforschung verfochtene These, der erste Teil  des Gedichts müsse als der Versuch gelesen werden, eine Geliebte durch eindringliche Warnungen und Drohungen davon abzuhalten, den ›Sprecher‹ zu verlassen und übers Meer einem Rivalen zu folgen. Eine solche Deutung ist nur möglich, wenn man mancherlei Widersprüche im Text des Gedichts konzediert, mit vielen Verrätselungen rechnet und, wo sich Drohungen und Warnungen aus dem Gedicht selbst nicht herleiten lassen, auf andere Gedichte verweist. Die Verfechter der These glauben solche Einwände jedoch durch den Hinweis entkräften zu können, dass die Ermutigung der scheidenden Galatea nicht ernst gemeint sei und auch gar nicht ernst gemeint sein könne, weil sie durch das mythologische Beispiel konterkariert 251 Dass die Details eines Exemplums der jeweiligen Argumentation angepasst werden können, ist aus der Praxis der antiken Rhetorik (und auch aus der Dichtung) hinreichend bekannt. 252 Die Erzählung war spätestens seit dem 1. Jh. v. Chr. im Bewusstsein der Römer so präsent, dass Details wie etwa die Schönheit des Stiers herausgegriffen und zum Argument gemacht werden konnten; so z. B. Cic. nat. deor. 1, 78: At mehercule ego dicam enim ut sentio quamvis amem ipse me tamen non audeo dicere pulchriorem esse me quam ille fuerit taurus qui vexit Europam (dazu der Kommentar von A. S. Pease, Harvard UP 1955, 400 f.). 253 Es ist dasselbe narratologische Verfahren, das Vorwissen des Lesers zu einem Bestandteil der Erzählung zu machen, wie später bei Ovid (Ov. f. 4, 418), nur dass der Leser dort explizit darauf hingewiesen wird (s. dazu o., S. 112 mit Anm. 206).

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werde. Sobald man nämlich die Prophezeiung, Europa werde als die Geliebte Jupiters ewigen Ruhm ernten, auf die Adressatin dieses Gedichts übertrage, erweise sich die Verheißung als sarkastisch, so dass das Schicksal Europas nur als Warnung und Drohung verstanden werden könne.254 Wenn es zuträfe, dass Europa nichts weiter als eine Liebschaft mit Jupiter zu erwarten hätte, wäre dieses Argument zweifellos zwingend. Die Vorstellung, man könne eine junge Frau dazu bringen, ihre Heimat um eines Liebhabers willen zu verlassen, indem man auf den Ruhm verwiese, den eine ­Heroine des­ Mythos aus einem flüchtigen Liebesabenteuer mit Jupiter gewonnen habe, ist in der Tat grotesk, und zwar nicht nur für uns, sondern auch für die Zeit des­ Horaz. Wenn man jedoch berücksichtigt, dass die Europa des Mythos am Ziel ihrer Reise ins Ungewisse tatsächlich die Gemahlin Jupiters wird, dann ist es gerade um­gekehrt: Die Ermutigung Galateas zu Beginn ihrer Reise wird bekräftigt durch das unerwartet glückliche Schicksal, das Europa bei ihrer Ankunft in der Fremde beschieden war, und darin manifestiert sich die Einheit des Gedichts. Daneben gibt es jedoch noch eine dritte Deutung. Sie geht von der Prämisse aus, dass man den Galatea gewidmeten Teil des Gedichts als ein allegorisches Propemptikon für den Weg einer puella und virgo zu einer uxor und matrona verstehen müsse. Diese Deutung ist erstmals in der Mitte des 20. Jahrhunderts vorgetragen255 und seitdem, insbesondere von Jenny Strauss Clay, weiter entfaltet und bekräftigt worden.256 In der wissenschaftlichen Diskussion hat sie jedoch wenig Beachtung gefunden.257 254 So z. B. Quinn 1969 (258 und passim), Harrison 1993 (152: das exemplum sei eine humorvolle Warnung an Galatea), Syndikus 2001 (226), Reeves 2003 (129–134) und Nisbet / Rudd 2004 (319 f.); noch eine Schritt weiter geht Sticker 2014, 405: »Horaz’ Europa ist keine glückliche Geliebte des Jupiter, sondern ein getäuschtes, verführtes und dann in der Fremde allein und verzweifelt zurückgelassenes Mädchen […]. So liegt die Folgerung nahe, dass Galatea in Europas Schicksal ihre eigene mögliche Zukunft erblicken soll« […]; ibid. 410: »Der Punkt, auf den es Galateas Liebhaber ankommen muss, ist vielmehr die »Unterstellung, dass sein Rivale nicht treu sein wird, genauso wenig, wie es Jupiter zu sein pflegt.« 255 Die These findet sich schon in der Römischen Religionsgeschichte von Altheim 1953, sie ist aber von der älteren Horazforschung meist übersehen worden. Erneut vorgetragen hat sie Wilson 1969–70: »[…] to read the propempticon of 3. 27 as the rejected lover’s ›send-off‹ for a just-maturing girl […] who has left him for another, and the warning of stormy seas as a caution concerning the perils that endanger her voyage into the unknown seas of womanhood« (ibid. 44). Vgl. auch Bradshaw 1978. 256 Clay 1992–93. Eicks 2001 und 2011 hat sich von seiner Begeisterung für die Interpretation seiner beiden Vorgängerinnen noch weit darüber hinaus tragen lassen, was der Plausibilität der allegorischen Deutung nicht zugute gekommen ist. 257 Bei Nisbet / Rudd 2004 werden die Aufsätze von Bradshaw und Clay zwar in der dem Gedicht vorangestellten Literaturliste aufgeführt, und bei West 2002 wird der von Clay unter der Rubrik »Other Views« referiert, aber beide Kommentare verzichten auf eine inhaltliche Auseinandersetzung.

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Der Hauptgrund dafür dürfte sein, dass der Europa-Mythos auch von denjenigen, die das Propemptikon in dem beschriebenen Sinne allegorisch zu deuten versuchen, nur als eines der zahlreichen Liebesabenteuer Jupiters verstanden wird. Wenn Europa von Jupiter aber gar nicht zu seiner uxor, sondern nur zu einer seiner Geliebten gemacht worden wäre, dann könnte Galatea auch nichts Besseres erwarten und müsste sich in der Tat davor hüten, ihrem Beispiel zu folgen.258 Deshalb gilt hier noch viel mehr, dass sich eine organische Einheit des Gedichts nicht plausibel machen lässt, wenn man die Entführung Europas mit einer Liebesaffäre statt mit einer Eheschließung enden lässt.259 Das ist um so bedauerlicher, als das mit Abstand wichtigste Argument für eine allegorische Deutung sich gerade daraus ergibt, dass die Entführung durch Zeus schon in der ältesten Überlieferung mit der Verkündung von Europas Mutterschaft endet, und selbst für das Epyllion des Moschos, in dem die Geburt der drei Söhne nicht im Mittelpunkt der Darstellung steht wie bei A ­ ischylos, sondern nur knapp erwähnt wird, hat die Forschung aus der Mutterschaft Europas ein wichtiges Argument für eine allegorische Interpretation gewonnen.260 Um so verlockender müsste es sein, die Galatea-Strophen des Horaz als Propemptikon für den Weg eines jungen Mädchens vom Hause des Vaters zu dem des künftigen Ehemanns zu lesen, gespiegelt in dem Brautraub, durch den Europa Gattin Jupiters wurde. Ob das genügt, der Europa-Ode gerecht zu werden, ist freilich eine andere Frage, zumal die Mutterschaft Europas, wie in einem Liebesgedicht kaum anders zu erwarten, außerhalb des poetischen Horizonts liegt.

3.4.2 Die Galatea-Strophen Die Europa-Ode beginnt damit, dass der Sprecher mit übersteigertem und offen­sichtlich nicht ganz ernst gemeintem Pathos all denen Unglück auf ihrer Reise wünscht, die er pauschal als impii bezeichnet (Str. 1–2, V. 1–7).261 Danach kündigt er an, er selbst werde für die Person, um die er besorgt sei – also für die Frau, die zu ihrer Reise aufbricht  –, glückverheißende Vorzeichen er 258 Clay 1992–93, 168 umschreibt die Glücksverheißung zwar mit den Worten »a great fate awaits her: she will become the wife of Jupiter and give her name to a continent«, aber, und darauf allein kommt es an, auch sie will den Begriff uxor (wife) nicht wörtlich verstanden wissen. 259 Sehr weit vom Text entfernt sich Eicks 2011, 61 f. mit seiner Konstruktion einer poetisch fundierten Unsterblichkeit, die sowohl für die verzweifelte Europa ein Trost als auch für Galatea die Zukunft sein soll. 260 Zur allegorischen Deutung der Europa des Moschos s. o., S. 105 mit Anm. 179. 261 Eicks 2001,123 verweist auf die in V.1–7a gehäuften Anspielungen auf die sexuelle Sphäre.

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wirken, und zwar als ein providus auspex.262 Beide Begriffe sind offensichtlich mit Bedacht gewählt, also nicht nur ›providus‹ wegen der doppelten Bedeutung ›voraussehend‹ und ›Sorge tragend‹, sondern auch ›auspex‹, ein Wort, das »fast ganz beschränkt [ist] auf den, der vor der Hochzeit die Zustimmung der Götter im Namen des Brautpaares, also auspicia privata, einholt; so hier H. für die Abreisende.«263 Das ist eine unbestritten richtige und wichtige Worterklärung. Indessen hilft sie erst dann weiter, wenn man bedenkt, dass der Sprecher nur deshalb in der Rolle eines auspex auftreten kann, weil er weiß, zu welchem Ziel die Abreisende aufbrechen will, und ihr dafür die besten Wünsche mit auf den Weg geben möchte. Dann aber geht von der Wahl eines solchen Begriffs, und zwar an prominenter Stelle, nämlich als Schlusspointe der zweiten Strophe, eine unmissverständliche Signalwirkung aus: Das Ziel der Reisenden kann nur eine Eheschließung sein.264 Einzig Clay hat dem die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt. Da sie damit jedoch kaum Beachtung gefunden hat, sei ihre Deutung in extenso zitiert: Horace’s playful assumption of this role is the key to the poem and clarifies his rela­ tion to its recipient. Young, but nubile, Galatea is starting off on the inevitable, if occasionally painful and frightening, journey from childhood into maturity, a journey that will culminate in her marriage. In this light, the omens catalogued in the first two stanzas manifest their full point and relevance: they constitute emblems of Galatea’s own fears of her sexual maturation and her assumption of the full dignity and responsibility of the matrona.265

Wenn es eine allegorische Reise ist, auf die sich die seltsamen Vorzeichen beziehen, die in diesen ersten Strophen in langer Reihung aufgezählt werden, dann scheint sich manches Problem in der Tat von selbst zu erledigen. Aber auch wenn eine wirkliche Reise gemeint ist, darf man daran zweifeln, ob sich der große Aufwand gelohnt hat, mit dem die Gelehrten für jedes Detail eine plausible Deutung zu finden versucht haben, statt zu beherzigen, was schon Richard Heinze dazu bemerkt hat: dass Horaz »diesen ganzen mit ernster Miene vor 262 Hor. c. 3, 27, 7 f.: ego cui timebo / providus auspex …; das Futur (timebo) deutet darauf hin, dass die Reise noch nicht begonnen hat: Nisbet / Rudd 2004, 323. 263 Kiessling / Heinze 1930, 366; der Kommentar von Nisbet / Rudd 2004 übernimmt die Erklärung, ohne sich darauf einzulassen (323: »the word is used in connection with auspicia privata, especially at a wedding«). 264 Die Kommentare verzichten darauf, die zitierte Bedeutung von auspex auf Galatea und deren Situation zu beziehen, und Sticker 2014, 410 f. (Anm. 44) glaubt sogar, den Bezug des Begriffs auf eine Hochzeit mit dem Hinweis auf die Verwendung des Wortes »in nicht ein­ geengter Bedeutung« bei Horaz epist. 1, 3, 13 widerlegen zu können. Indessen heißt es dort auspice Musa, und das entspricht dem formelhaften dis auspicibus, das im OLD unter Nr. 3 mit der Bedeutung patron, supporter aufgeführt ist. 265 Clay 1992/93, 172, ausgehend von Cic. div. 1, 28 und Val. Max. 2, 1, 1. Zustimmend Eicks 2001, 123 f. (und 2011, 38).

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getragenen auguralen Hokuspokus nicht selbst ernst nimmt, versteht sich«266. Mit anderen Worten: Der Schlüssel zum Verständnis dieser Strophen liegt darin, dass der Sprecher der jungen Frau in der Rolle eines providus auspex gegenübertritt, aber man darf das von Horaz hier vorgeführte Rollenspiel auch nicht überfrachten.267 Die zweite Trias der Galatea-Strophen (V.13–24) ist von einem ganz anderen Ton bestimmt. Hier gibt es keinerlei »auguralen Hokuspokus« mehr, die Adressatin des Gedichts wird erstmals mit ihrem Namen Galatea268 angeredet, und zugleich mit der Nennung ihres Namens lässt der Sprecher die große Zuneigung erkennen, die er zu ihr empfindet: sis licet felix, ubicumque mavis, et memor nostri, Galatea, vivas teque nec laevos vetet ire picus    nec vaga cornix.269

Die Wünsche, die in dieser Strophe ausgesprochen werden, begegnen ganz ähnlich auch in anderen Abschiedsgedichten der antiken Literatur, und man hat vermutet, dass Horaz sich an einem berühmten Sappho-Gedicht orientiert habe. Aber Abschied nehmen ja nicht nur Liebende voneinander. Wenn es jedoch Liebende sind, dann pflegen sie sich das in der zurückliegenden Zeit gemeinsam erlebte Glück zu vergegenwärtigen. Dafür ist das Gedicht Sapphos ein 266 So Kiessling / Heinze 1930, 366 und danach ibid.: »erst v. 14 mit der Anrede an Galatea lehrt, daß er sich auf den Standpunkt des Mädchens stellt, das, abergläubisch wie alle ihresgleichen, bänglich nach guten Omina verlangt haben wird.« Am weitesten in diese Richtung geht West 2002, der das Gedicht insgesamt für eine Burleske hält (224 und passim), weil er annimmt, Europa sei nur die Mätresse Jupiters so wie Galatea die des Dichters (ibid. 233). 267 Anders Eicks 2011, 38: »Auf diese Weise bekommt das lyrische Ich endgültig die Gestalt eines an Erfahrung weit überlegenen, wohlmeinenden Beobachters, der Galatea über zukünftige seelische Turbulenzen belehren, sie dagegen wappnen und dergestalt mit guten Vorzeichen auf ihren Lebensweg entlassen möchte«. Das klingt nicht nur etwas zu betulich und hausbacken für Horaz, sondern birgt auch die Gefahr einer biographischen, wenn nicht gar biographisch-spekulativen Interpretation des Gedichts. 268 Über die Wahl des Namens Galatea ist viel geschrieben worden. Schon bei ­Hesiod zeichnet sich Galateia unter den fünfzig Nereiden durch ihre besondere Schönheit aus (Hes. Theog. 250: εὐειδὴς Γαλάτεια). Im Grunde hängt aber wenig davon ab, ob man darin den Typus der überlegenen koketten jungen Frau (dazu Dörrie 1968, 21) oder einfach nur das Meermädchen (wie bei Hesiod: Dörrie ibid. 23) sehen oder ob man dem Namen überhaupt keine besondere Bedeutung beimessen will. Wichtig ist nur, dass es ein sprechender Name und dass die Vorstellung der weißen Galatea beinahe topisch ist (Belege bei Dörrie 1968), denn daraus ergibt sich ein Bezug zum niveum latus Europas bei Horaz (3, 27, 25 f.; Dörrie hat das Galatea-Gedicht freilich nicht in seine Studie aufgenommen). 269 Hor. c. 3, 27, 13–16: »Mögest du glücklich denn sein, wo immer du lieber bist, / und im Gedenken an mich, Galatea, leben, / und kein Specht zur Linken möge dich hindern zu gehen / noch eine umherstreifende Krähe.«

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Beispiel,270 nicht jedoch das des Horaz, in dem gerade dieser Gedanke fehlt. Statt dessen verleiht der Sprecher seiner Hoffnung Ausdruck, dass die Scheidende auch in der Ferne glücklich sein und sich, wo auch immer das sein werde, seiner erinnern möge: sis licet felix, ubicumque mavis, / et memor nostri, Galatea, vivas. Das ist warmherzig gesagt, aber es evoziert nicht die Vorstellungswelt der erotischen Dichtung, und es sind keine Abschiedsworte an eine ehemalige Geliebte.271 Auch in den anderen Strophen gibt es keinen Hinweis darauf, dass das poetische Ich zu seiner Geliebten spräche. Begleitet werden die guten Wünsche von der Hoffnung, dass Galatea nicht durch schlechte Vorzeichen daran gehindert werde, die Reise anzutreten, die sie zu ihrem gewünschten Ziel bringen soll (teque nec laevos vetet ire picus / nec vaga cornix), und diese Hoffnung wird in den beiden darauf folgenden Strophen (V. 17–24) weiter entfaltet. Der Sprecher vergegenwärtigt Galatea die schrecklichen Gefahren des Meeres, die er nur allzu gut kenne und durch die ihre Reise bedroht werde; das alles jedoch, nämlich die Orkane und die anbrausenden Fluten, so heißt es wie in einem Abwehrzauber – und damit werden wir noch einmal an die Antithese impios (V.1) vs. cui timebo (V.7) erinnert –, solle sich gegen die Gattinnen und die Kinder von Feinden richten: hostium uxores puerique caecos / sentiant motus. Die Kommentare führen zahlreiche Parallelstellen für eine solche a­ versio malorum auf die Feinde (hostes oder inimici) an, keine einzige jedoch dafür, dass das Unglück auf die Gattinnen und auf die Kinder der Feinde statt auf diese selbst abgelenkt werden soll.272 Aber auch die bei Horaz imaginierte Vorstellung, dass Gattinnen von Feinden eine Fahrt über das Meer unternehmen, ist wohl ohne Beispiel. Beides lässt sich jedoch leicht erklären, wenn man die Intention der Galatea-Strophen bedenkt und zugleich berücksichtigt, dass die beiden Begriffe ›uxores‹ (V. 21) und ›auspex‹ (V. 8) miteinander korrespondieren: 270 Sappho fr. 94 Voigt (= 94 LP). Clay 1992–1993, 173 glaubt, mit dem Verweis auf Sappho die allegorische Deutung des Horazgedichts bekräftigen zu können (»In her poetry, Sappho repeatedly bids farewell to her young charges on the occasion of their departure for marriage. […] Here, Horace alludes to, and adapts, this Sapphic moment of transition.« Das Argument ist jedoch etwas gewagt, weil die Verfasserin, um eine Parallele zu Hor. c. 3, 27, 13–16 zu gewinnen, aus dem Sappho-Gedicht nur die Verse 7–8 herausgreift und unterschlägt, dass in den unmittelbar anschließenden zwanzig Versen eine hocherotische Erinnerung an die gemeinsame Vergangenheit beschworen wird. 271 Zur Illustration des Unterschieds sei auf ein Liebesgedicht Ovids verwiesen, in dem das Horazische memor nostri wiederkehrt: vade memor nostri, vento reditura secundo (Ov. am. 2, 11, 37). Hier impliziert der Wunsch keinen Abschied ohne Wiederkehr (ubicumque mavis), sondern die Erwartung, dass die Trennung nicht von Dauer sein werde. Weitere Belege sind bei Nisbet / Rudd 2004, 325 zusammengestellt (»a natural commonplace at partings«), aber ohne Rücksicht auf die Besonderheiten eines erotisch konnotierten Abschieds. 272 Bei Kiessling / Heinze 1930, 367 wird die Abweichung immerhin registriert: »um Galateas Geschlecht willen«; ähnlich Nisbet / Rudd 2004, 326.

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Der selbsternannte auspex wünscht einer jungen Frau, dass sie vom Unheil der uxores hostium verschont bleiben und am Ziel der Reise, die sie jetzt antritt, das erhoffte Glück finden möge.273 Ob man explizit ausspricht, dass das Glück und Lebensziel einer jungen Frau in der Eheschließung besteht, oder ob man es wie der Sprecher dieses Gedichts nur in Bildern umschreibt, ist eine Frage des Takts. Dennoch ist das von Horaz hier eingeführte Bild deutlich genug, denn wenn die uxores von ihren Kindern puerique begleitet werden, dann können damit nicht irgendwelche Geliebten (wie so oft in der Liebeselegie), sondern nur wirkliche Ehefrauen gemeint sein. Zusätzliches Gewicht gewinnen die guten Wünsche für die abreisende Galatea durch die Stellung der Verse im Gedicht: Sie bilden den Abschluss des Galatea-Teils, und unmittelbar danach beginnt der Europa-Teil, in dessen letzter Strophe aus dem Begriff ›uxor‹ die Schlusspointe gewonnen wird.

3.4.3 Die Europa-Strophen Mit der siebenten Strophe also beginnt das mythologische Exemplum. Schon der Auftakt Sic et Europe274 signalisiert, dass es bei Horaz allein um Europa gehen wird und nicht um Jupiter. Das ist, wie schon ein kurzer Blick auf das­ Epyllion des Moschos zeigt, keineswegs selbstverständlich. Zwar hat auch der griechische Dichter den Empfindungen Europas große Aufmerksamkeit geschenkt, aber er hat gleichwohl ausführlich auch von dem verliebten Zeus berichtet, nämlich davon, wie er durch die Macht Aphrodites von unstillbarer Sehnsucht nach Europa ergriffen wird, wie er die Gestalt eines Stiers annimmt, um Europa für sich gewinnen zu können, aber nicht etwa eines gewöhnlichen, sondern eines ganz besonders schönen Stiers, wie der Gott-Stier sich auf der Blumenwiese von Europa und von ihren Gefährtinnen bewundern lässt, und auch in der Szene auf dem Meer wird die Rolle des Zeus angemessen gewürdigt, 273 Vgl. Peerlkamp 1862, 261, der die Stelle zwar athetiert (wie überhaupt den größten Teil des Gedichtes), aber gleichwohl kommentiert: »Uxores probari potest, quia Galateam alloquitur. Quamquam in tali formula solo hostium nomine uterentur: hostibus hoc eveniat […].« Die Versuche, die Strophe als Beleg dafür in Anspruch zu nehmen, dass Galatea durch Warnungen von ihrer Reise abgebracht werden solle, sind allesamt weit hergeholt und nicht überzeugend. Sticker 2014, 412 vertritt die Auffassung, die Verse 13–16 stellten für sich genommen zwar »einen uneigennützigen Wunsch dar«, aber (mit Verweis auf das sed in V.17): »die Realität kündigt sich anders an, und der ›Sturm‹ des zerbrechenden Liebesglücks ist bereits jetzt vorherzusehen.« Aus dem Text ist das schwerlich zu entnehmen, und wohl deshalb ist das Hauptargument dafür aus der Interpretation eines anderen Horazgedichts (c. 1, 5) hergeleitet. 274 Der abrupte Beginn der Erzählung erinnert an Vorbilder in der griechischen Mythendichtung (Beispiele bei Buscaroli 1937, 19 f.). Zur Einführung eines mythologischen Exempels mit sic s. Nisbet / Rudd 2004, 328.

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zunächst durch Europas Rede an und über den geheimnisvollen Stier und dann auch durch dessen majestätische Antwort. Bei Horaz dagegen ist die Darstellung gerade in Hinblick auf Jupiter bemerkenswert unvollständig. Manche, auch zentrale Bestandteile des überlieferten Mythos fehlen ganz, und wäre der Leser nicht so gut vertraut mit der Geschichte, er hätte einige Mühe, sich deren Hergang zusammenzureimen. Weder die Verwandlung Jupiters in einen Stier noch sein Erscheinen auf der Blumenwiese werden erzählt, kein Wort auch über die Faszination, die er auf Europa und ihre Freundinnen ausübt; nicht einmal die unerwartete Wendung wird berichtet, die das Geschehen dadurch nimmt, dass er mit Europa auf dem Rücken sich plötzlich zum Ufer hin bewegt und über das Meer zu laufen beginnt. Auch die Unbekümmertheit, mit der Europa sich ihm anvertraut, und die Überfahrt über das Meer scheinen nur kurz auf in Momentaufnahmen, die auf Europas großen Verzweiflungsmonolog vorbereiten. Sogar das alles entscheidende Faktum, nämlich dass der Stier bei der Ankunft auf Kreta plötzlich verschwunden ist, hat Horaz übergangen, und er konnte es übergehen, weil es zu den zentralen und allgemein bekannten Motiven der Überlieferung gehörte und die selbst­verständliche Voraussetzung für die Rede war, die er seiner Europa in den Mund gelegt hat. Darüber hinaus kommt die narratorische Reduktion aber auch dem inneren Gleichgewicht des Gedichts zugute, weil es in den Galatea-Strophen für den ersten Teil der Europageschichte kein Äquivalent gibt und auch keines geben kann. Mit der Rede selbst werden die Gefühle und Empfindungen der Entführten zum alleinigen Thema des Gedichts. Die Konsequenz, mit der Horaz das Geschehen als emotionales Erleben der Protagonistin geschildert hat, ist signifikant. Möglich war eine solche Fokussierung aber eben nur deshalb, weil Horaz die Geschichte im Gegensatz zu Moschos und anderen hellenistischen Dichtern nicht erzählen, sondern weil er sie als Exemplum verwenden wollte: sic et Europe niveum doloso credidit tauro latus et scatentem beluis pontum mediasque fraudes    palluit audax.275

Gleich durch den ersten Vers der dreizehn Strophen, die dem Europa-Mythos gewidmet sind, werden sie eng mit den vorausgehenden Galatea-Strophen verbunden: formal durch das konventionelle sic et und inhaltlich durch das Attribut niveum. Schneeweiß ist ihr Leib, so wie die Meeresnymphe Galatea weiß 275 Hor. c. 3, 27, 25–28: »So vertraute auch Europa ihren schneeweißen Leib dem listigen Stier an, und vor dem von Ungetümen wimmelnden Meer und den um sie herum lauernden Gefahren erbleichte die kühne.« Die Begegnung Europas mit ihrem listigen Entführer­ (niveum doloso credidit tauro latus) wird in der verschränkten Wortstellung a-b-x-B-A gespiegelt; zur Bedeutung von fraudes: Nisbet / Rudd 2004, 328.

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ist, die diese Farbe in ihrem Namen trägt und die wegen ihres sprichwörtlich weißen Teints bewundert wurde.276 In Juxtaposition dazu folgt doloso, das Attribut für den Stier. Der Begriff ist jedoch keineswegs negativ konnotiert, geschweige denn, dass damit ein »hinterhältiges Verhalten« gemeint wäre,277 sondern er dient lediglich dazu, dem Leser die Vorgeschichte und deren Pointe so knapp wie möglich in Erinnerung zu rufen: Nur weil Jupiter sich nicht in seiner wahren Gestalt gezeigt, sondern sich in einen Stier verwandelt hatte, nur dank dieser List hatte er Europa entführen können278. So wie in allen anderen Fällen war die List auch hier erfolgreich: Europa schenkte dem Stier Vertrauen (credidit), und sie war wagemutig genug (audax), sich auf seinen Rücken zu setzen. Sie musste dafür also all ihren Mut zusammennehmen, und anders wird man es bei einem jungen Mädchen auch kaum erwarten können. Genau so ist der Hergang auch vor Horaz schon geschildert worden: Europa musste sich überwinden, auf den Rücken des Tieres zu steigen.279 Das ist der natürliche Ablauf der Ereignisse, und soweit erkennbar ist nur Moschos mit seiner Konzeption einer ganz und gar furchtlosen Europa davon abgewichen. Selbst das scheinbare Oxymoron palluit audax am Schluss der Strophe verweist auf die Vulgata: Den Wagemut, sich auf den Rücken des Stiers zu setzen, hat Europa immerhin aufgebracht, aber angesichts der Schrecken des Meeres erbleicht sie vor Furcht. Um ein nur scheinbares, genauer gesagt: um ein nur sprachliches Oxymoron, das keinen inhaltlich begründeten Widerspruch zum Ausdruck bringt, handelt es sich deshalb, weil palluit sich auf die gerade erst überstandene Überfahrt über das Meer bezieht, während mit audax der Blick zurückgelenkt wird auf den Moment, in dem Europa dem Stier auf der Blumenwiese Vertrauen geschenkt und sich auf seinen Rücken zu setzen gewagt hat (credidit). In der anschließenden Strophe wird diese Antithese entfaltet, nun aber in zwei mal zwei Versen und in der umgekehrten Reihenfolge: nuper in pratis studiosa florum et debitae Nymphis opifex coronae nocte sublustri nihil astra praeter    vidit et undas.280 276 Dazu s. o., S. 132, Anm. 268. 277 Anders z. B. Sticker 2014, 406 f. 278 Die richtige Erklärung findet sich schon bei Ps.-Acro: »falso Iovi in taurum mutato«, ähnlich Lambinus 1829, 348 (»qui deum tegebat«), der auch den wichtigsten Beleg dafür (Mosch. Eur. 79) zitiert. Grundsätzliches zu dieser List s. o., Kap. 1.3. 279 S. o., S. 108 mit Anm. 193). Sogar in der Wortwahl stimmt Horaz mit Lukian überein. Das audax in V.28 entspricht dem τολμῆσαι bei Lukian; vgl. Baldwin 1980, 116. 280 Hor. c. 3, 27, 29–32: »Eben noch auf den Wiesen den Blumen hingegeben und mit einem Kranz beschäftigt, den sie den Nymphen gelobt hatte, sah sie in der halbdunklen Nacht nichts außer den Sternen und Wellen.«

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Die ersten beiden Verse stehen für die jungfräulich-unbekümmerte Europa, die nichts anderes im Sinn hat, als zusammen mit ihren Gefährtinnen Blumenkränze zu flechten, wie wir es aus zahlreichen anderen Schilderungen (und nicht nur solchen des Europa-Mythos) kennen. In scharfem Kontrast dazu wird im zweiten Verspaar die grenzenlose Weite des Meeres imaginiert, der Europa sich nun ausgeliefert sieht. In ganz ähnlicher Weise, wenn auch ohne die bedrohlichen Untertöne, hat schon Moschos die Unendlichkeit des Meeres und die vertraute Heimat einander gegenübergestellt, und auch dort besitzt das Motiv, das schon für sich genommen poetisch reizvoll ist, einen hohen Symbolgehalt.281 Aber während die Überfahrt bei Moschos und auch bei Lukian am Tage stattfindet – anders wäre der Thiasos auf dem Meere auch gar nicht denkbar  –, wird bei Horaz als selbstverständlich vorausgesetzt, dass tiefe Nacht herrschte, als der Stier Europa über das Meer nach Kreta brachte. Dass es dafür sonst keinen Beleg gibt,282 will angesichts unserer dürftigen Überlieferung nicht viel heißen. Es stellt sich jedoch die Frage, wie die Überfahrt überhaupt in der Nacht stattgefunden haben kann, wenn der Stier am Tage auf der Blumenwiese erschienen war, um Europa von dort zu entführen. Die Antwort darauf findet sich auch hier wieder im Ariadne-Mythos, also in derjenigen Entführungsgeschichte, die mehr als alle anderen mit dem EuropaMythos verwandt ist, denn Theseus war mit Ariadne mitten in der Nacht von Kreta nach Naxos gesegelt.283 Aber, und darauf kommt es an, Theseus hatte gar keine andere Wahl, als bei nächtlicher Dunkelheit aufzubrechen, wenn er sich der Verfolgung durch Minos entziehen wollte. Indessen brauchte, wer auch die Europa-Geschichte mit dem attraktiven Motiv einer nächtlichen Überfahrt anreichern wollte, nicht mehr zu tun, als während der Fahrt über das Meer die Nacht hereinbrechen zu lassen. Dadurch konnte auch Europa, die bei Moschos auf dem unendlichen Meer »oben nur Luft«284 sah, über sich den nächtlichen Sternenhimmel erblicken. Den antiken Lesern muss diese Version so vertraut gewesen sein, dass Horaz sie nur zu zitieren brauchte, um Europas Geborgenheit auf der heimatlichen Blumenwiese und die nächtliche Verlassenheit in der endlosen Weite von Himmel und Meer ohne eine besondere Erklärung miteinander kontrastieren zu lassen.285 281 Mosch. Eur. 131–134 und dazu o., Kap. 3.2. 282 Das haben u. a. Kiessling / Heinze 1930, 368 und West 2002, 229 hervorgehoben. 283 S. o. Kap. 3.3. und die dort zitierten Belege). 284 Mosch Eur. 133: ἀλλ’ ἀὴρ μὲν ὕπερθεν. 285 Anders Wilson 1969–70, die aus der siebenten Strophe entnehmen zu können meint: »The curt phrase sic et Europe links the two kinds of storm in a transition that is emotional and metaphoric rather than rational, suggesting that for Galatea as for Europa the storm really to be feared is internal and psychological« (44). Aber von Stürmen ist dort gar nicht die Rede, von äußeren nicht und erst recht nicht von inneren. Noch weniger lässt sich die Deutung der achten Strophe (»Here […] the poet links innocence and terror in four short lines«: ibid. 45) mit dem Wortlaut des Textes vereinbaren.

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Das ist alles, was Horaz aus der Überlieferung über die Entführung Europas bis zu ihrer Ankunft in Kreta aufgegriffen hat, eine poetische Verdichtung in nur acht Versen, um ein Vielfaches knapper noch als das Kurzreferat bei Lukian. Aber bei Horaz sind die Ereignisse der mythologischen Erzählung eben nicht das Thema, sondern nur dessen Grundlegung, sie bilden die Vorgeschichte zu der Rede Europas bei ihrer Ankunft in Kreta. Erzählt hat Horaz die Ankunft jedoch nicht, sondern nur in einem Nebensatz erwähnt, dabei aber in den hohen Stil des Epos hinüberwechselnd, wie es sich gehört, wenn die vom Göttervater entführte Braut in dessen Heimat angekommen ist: quae simul centum tetigit potentem / oppidis Creten […].286 Hier wäre der Ort gewesen, den entscheidenden dramatischen Moment zu schildern, nämlich dass der Stier plötzlich verschwunden war und Europa sich an der Küste eines ihr völlig fremden Landes alleingelassen fand. All das fehlt bei Horaz, und stattdessen folgen nun ohne jeden Übergang die ersten Worte ihres Verzweiflungsmonologs, angeschlossen lediglich durch ein eingeschobenes dixit: […] pater, o relictum filiae nomen pietasque! dixit    victa furore287

In den antiken Ausgaben waren der Beginn und das Ende von direkten Reden bekanntlich nicht gekennzeichnet, und meist war das auch nicht nötig, weil sich die Abtrennung eindeutig aus dem Zusammenhang ergab. Das ist hier jedoch nicht der Fall, und wir müssen uns zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden. Die modernen Erklärer und Herausgeber setzen als selbstverständlich voraus, dass victa furore zur direkten Rede Europas gehören und dass pietas (oder auch relictum filiae nomen pietasque) das Subjekt dazu sein müsse. Nach dem antiken Kommentar des sog. Ps.-Acro dagegen spricht Europa nur die Worte pater, o r­ elictum filiae nomen pietasque (V. 34 f.) und setzt ihre Rede erst mit den ersten Worten der nächsten Strophe fort (unde quo veni?, V. 37). Das bedeutet, dass victa furore nicht zu der Rede Europas, sondern zu dem übergeordneten dixit gehört: ordo est Quae simul attitigit Creten potentem centum oppidis, victa furore dixit: ›O p­ ater et pietas, relictum nomen filiae.‹288 286 Hor. c. 3, 27, 33 f. (»Sobald sie das durch seine hundert Städte mächtige Kreta erreicht hatte …«). 287 Hor. c. 3, 27, 34–36; zum Text und zur Übersetzung s. das Folgende. 288 Ps.-Acro ad Hor. c. 3, 27, 33–36 (»Die Reihenfolge ist: Sobald sie das durch seine hun­ dert Städte mächtige Kreta erreicht hatte, sagte sie, von Raserei überwältigt: ›O Vater und Kin­ desliebe, der [von mir] aufgegebene (verwirkte) Name einer Tochter.‹« Die Erklärung ist erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Vergessenheit geraten. Mitscherlich 1800, 264 hat sie referiert (»non amplius represso irae affectu«), aber für weniger wahrscheinlich gehalten (»minus vigoris habet«: ibid. 264), während Ritter 1856, 321 ihr zugestimmt hat: »Sic poeta uocat animum commotum puellae uix auribus oculisque competentis.«

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Der Unterschied zwischen den beiden Lesarten könnte größer nicht sein: Entweder begründet Europa das Verlassen ihres Vaters damit, dass ihre Kindesliebe (pietas) von Liebeswahnsinn zu dem Stier besiegt worden sei, oder aber der Erzähler berichtet, Europa habe, als sie sich plötzlich alleingelassen gesehen habe, von rasendem Affekt überwältigt die folgenden Worte ausgerufen. Die erste der beiden Erklärungen wird in zwei Varianten vertreten, die aber beide unausweichlich in die Aporie führen. Nach der einen Variante wäre gemeint, Europa habe sich auf den Rücken des Stiers gesetzt, weil sie durch Liebesbetörung dazu verführt worden sei. Das ist eine Vorstellung, die zwar Rücksicht auf den sprachlichen Kontakt zwischen relictum filiae nomen pietasque und victa furore nimmt, die aber mit der Wortbedeutung von furor als Ausdruck eines starken Affekts nicht in Einklang zu bringen ist.289 Die Alternative dazu ist die Hypothese, mit victa furore sei gemeint, dass Europa bereits ein stuprum begangen, nämlich mit dem Stier geschlafen habe, was direkt nach der Ankunft, aber noch vor ihrer Rede geschehen sein müsste, auf den Text des Gedichts bezogen also zwischen dem tetigit Creten von Vers 33 f. und dem dixit von V. 35. Diese Erklärung hat mit besonderem Nachdruck Bentley vertreten, sie ist aber bis in die jüngste Zeit hinein immer wieder befürwortet worden.290 Auch die Kommentatoren Nisbet und Rudd haben sich ihr angeschlossen, wenn auch mit großen Bedenken, weil bei Horaz ein stuprum nicht einmal angedeutet wird, er also das entscheidende Ereignis ausgelassen haben müsste, was man aber vielleicht damit erklären könne, dass die absurden Details einer Vereinigung Europas mit einem Stier dem Bezug des mythologischen Beispiels auf Galatea nicht zuträglich gewesen wären.291 289 Befürwortet hat diese Erklärung z. B. Müller 1900, II 325, der freilich unter furor den »Leichtsinn, mit dem sie sich dem Stiere anvertraute«, versteht, und das ist sprachlich unmöglich. Ähnlich aber auch Kiessling / Heinze 1930, 368 »furor für Liebesbetörung ganz gebräuchlich […] so, als habe sie sich durch einen menschlichen Verführer zur Flucht betören lassen.« 290 Bentley 1869, 220 f.; er konjiziert vitio für vitiis mit der Begründung: »Vitium est stu­ prum«; dass dies eine petitio principii ist, verrät der Satz (ibid.): »Pluralem numerum in hoc sensu adhibitum numquam invenies.« Die Forschung hat die Vorstellung eines Geschlechtsverkehrs mit dem Stier ausgiebig erörtert und auch nicht versäumt, mit behaglichem Schaudern an Pasiphaë zu erinnern; vgl. z. B. Friedrich 1959, 91–94 (ibid. 90 freilich auch berechtigte Einwände gegen die Erklärung von Kiessling / Heinze)  und Romano 1991, 830. Eine Variante dazu ist die Hypothese von Harrison 1993, dass Europa noch vor der Überfahrt nach Kreta mit dem Zeus-Stier geschlafen habe (ibid. 151: »she seems to have been raped before reaching Crete«), aber wie man sich das vorstellen soll, bleibt auch hier unklar. 291 Die Zustimmung von Nisbet / Rudd 2004, 319 steht unter dem Vorbehalt, dass dies die einzige mögliche Erklärung für Europas extreme Gewissensbisse sei: »According to­ others, the bull mates with Europa on reaching Crete (33 f.), though in Horace’s compressed narrative this crucial event is omitted; perhaps in pursuing the analogy with Galatea the poet is ­skating over the grossly absurd details. We prefer this second view, as it provides a more plausible explanation for Europe’s extreme remorse.« Ähnlich Syndikus 2001, 229, aber auch Reeves 2003, 148 (»she has had sex«, und zwar mit Jupiter in Stiergestalt: ibid. 151) und­ Sticker 2014, 409.

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Ein solcher Hergang ist jedoch nicht nur mit dem Wortlaut des Gedichts und mit seiner Intention unvereinbar, sondern die Hypothese ist auch deshalb ausgeschlossen, weil sie voraussetzt, dass schon in der früheren mythologischen Überlieferung von einem stuprum Europas die Rede gewesen wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall, ganz im Gegenteil, und ohne jeden Anknüpfungspunkt hätte weder Horaz eine derart absurde Vorstellung insinuieren noch einer seiner Leser sie verstehen können.292 Hinzu kommt, dass furor in der Bedeutung von Liebeswahnsinn nicht dem Sprachgebrauch des Horaz entspricht, und darüber helfen auch die ersatzweise herangezogenen Stellen bei anderen Autoren nicht hinweg.293 Wir werden noch sehen, dass im Hinblick auf die Begriffe, mit denen Europa die Schuld umschreibt, die sie sich vorwerfen zu müssen glaubt, ganz ähnliche Argumente geltend gemacht werden müssen. Die Erklärung des antiken Kommentators dagegen ist zwingend: Europas Verzweiflungsmonolog ist ja ein Paradebeispiel für den in der antiken Dichtung so überaus beliebten Typus der Affektrede, für eine Rede also, mit der die Leidenschaft, von der eine Person beherrscht wird, mit den Mitteln der Rhetorik zum Ausdruck gebracht wird.294 Damit entfällt der Anstoß, den die neueren Erklärer an Europas hyperbolischen Selbstvorwürfen genommen haben und die sie nicht anders als durch die Vermutung erklären zu können glaubten, dass Europa sich dem Entführer schon vor Beginn ihrer Rede, und folglich in seiner Gestalt als Stier, hingegeben habe. Wir dürfen aber noch einen Schritt weiter gehen, weil die Rede Europas motiv­ geschichtlich in die Tradition der Reden gehört, mit denen verzweifelte Heroinen darauf reagieren, dass sie von einem geliebten Manne unversehens verlassen worden sind. Die engen Berührungen mit der Rede, die Catulls Ariadne hält, als sie von Theseus allein auf Naxos zurückgelassen worden ist, sind schon oft und mit Recht hervorgehoben worden. Indessen kommt es nicht so sehr darauf an, dass Horaz dieselben oder sehr ähnliche Begriffe wie Catull verwendet hat, sondern entscheidend ist die jeweilige Funktion im Kontext des Gedichtes. 292 Nach der Auffassung von West 2002, 231 ist eben dies intendiert; die Absurditäten und unlösbaren Fragen seien konzeptionell bedingt, weil Horaz nichts anderes als eine Parodie im Sinn gehabt habe. Aber das ist ein allzu bequemer Ausweg und letztlich eine Kapitulation vor den Schwierigkeiten des Gedichts. 293 Dass furor bei Horaz kein Begriff für Liebeswahnsinn ist, hat schon Mendell 1935, 293 konzediert, obwohl er victa furore für einen Teil der direkten Rede hält: »The use of furore for the passion of love is not common in Horace, occurring in only one other instance (Satires ii. 3. 325).« Um die Bedeutung dennoch wahrscheinlich zu machen, führt er drei Stellen aus dem Gedicht Catull. 64 an (V. 54, 94 und 157), aber auch dort ist in Wahrheit kein Liebeswahnsinn gemeint (auch indomitos furores ibid. V. 54 bedeutet wohl kaum » the passion of love«, sondern bezeichnet den rasenden Zorn als Reaktion auf Theseus’ Abfahrt; cf. Kroll ad loc.). 294 Vgl. schon Ritter 1856, 321: »Sic poeta uocat animum commotum puellae uix auribus oculisque competentis.«

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In Catulls Ariadne-Gedicht nimmt nicht nur die Rede, die der Dichter der Heroine in den Mund legt, sehr viel Raum ein, sondern ihr aufgewühlter Gemütszustand wird auch in den Versen, mit denen der Erzähler ihre Rede einleitet, ausführlich beschrieben: saepe illam perhibent ardenti corde furentem clarisonas imo fudisse e pectore voces.295

»Rasend und glühenden Herzens« – so beschreibt der Dichter unter Berufung auf die Überlieferung den inneren Zustand Ariadnes in dem Moment, in dem sie entdeckt, dass Theseus ohne sie abgefahren ist, und in tiefer Betrübnis in eine lange Klage ausbricht.296 Indem er Ariadne eine rasende nennt (furentem), bereitet er den Leser auf den Charakter ihrer Rede vor, d. h. er gibt eine Leseanweisung, und an diese Leseanweisung erinnert er in der Rede selbst noch einmal, indem er Ariadne über sich selbst sagen lässt, sie sei ardens, amenti caeca furore.297 Eine solche Leseanweisung sind aber auch die beiden Worte victa furore bei Horaz, und auch seine Europa bezeichnet sich selbst als irata (V. 46). Beide Reden repräsentieren den besonderen Typus der Affektrede, der sich dadurch auszeichnet, dass eine in die Fremde entführte Heroine ihrer Verzweiflung und ihrer Wut darüber, dass ihr Geliebter sie treulos verlassen und einem ungewissen Schicksal preisgegeben hat, freien Lauf lässt.298 Eine weitere, rezeptionsästhetisch bedingte Gemeinsamkeit zwischen Europa und Ariadne ergibt sich daraus, dass der Leser sich in der Position eines überlegenen Zuschauers befindet und deshalb im voraus weiß, wie wunderbar sich das Schicksal der verzweifelten Heroine (auch dies im Gegensatz zu Dido und Medea) schon sehr bald zum Guten wenden wird. Die ersten Worte, die Europa ausruft, als sie sich einsam am Strande des fremden Landes wiederfindet, nehmen das, was sie in den darauf folgenden siebeneinhalb Strophen noch sagen wird, in komprimierter Form vorweg: ­»pater, o relictum filiae nomen pietasque!« Sie hat die liebevolle Ergebenheit vergessen, zu der sie ihrem Vater verpflichtet ist, und ihn eigenmächtig verlassen, und da-

295 Catull. 64, 124–125 (in der Übersetzung von O. Weinreich: »Oft, so heißt es, habe sie rasend, glühenden Herzens / dort schrilltönende Schreie aus tiefster Brust ausgestoßen«). 296 Catull. 64, 130: atque haec extremis maestam dixisse querellis. 297 Catull. 64, 197: »glühend, blind vor wütendem Wahnsinn«; auf diese Stelle hat schon Dillenburger 1881, 230 hingewiesen (»ut apud Catull 64, 197 ›amenti caeca furore‹ Ariadne, cuius querellae simillimae sunt«); er versteht aber victa furore trotzdem als Teil  der direkten Rede Europas. Übrigens beschreibt auch Vergils Dido ihren brennenden Zorn darüber, dass Aeneas sie verlassen hat, mit ganz ähnlichen Worten: »Heu furiis incensa feror!« (Verg. Aen. 4, 376). 298 Auch Venus spricht von den irae Europas als Motiv für die Affektrede (V.70). Der Zorn auf den Stier ist das auslösende Moment der Rede, aber der Begriff furor (victa furore) ist etwas umfassender als ira.

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mit hat sie das Recht verwirkt, sich seine Tochter zu nennen.299 Sämtliche Vorwürfe, die Europa sich macht  – um nicht zu sagen: in die sie sich hineinsteigert – lassen sich als Explikation dieser beiden Titelverse verstehen. Die älteren Kommentare haben mehr Gespür dafür gezeigt, dass ein solches Verlassen des Vaters einen schweren Vorwurf begründet, aber die Pointe lässt sich doch noch klarer formulieren, als das dort geschehen ist: Eine junge Frau, die ihren Vater ohne dessen Einverständnis verlässt, um einem geliebten Manne zu folgen, trifft eine Lebensentscheidung, zu der sie nicht berechtigt ist, und verstößt nach den Maßstäben der Antike gegen eine der Grundregeln der sozialen Ordnung. Da nicht nur jede Tochter, sondern mutatis mutandis auch jeder Sohn an diese Grundregel gebunden ist, lässt sich der Konflikt, der darin angelegt ist, mit einer Szene aus der Andria des Terenz veranschaulichen. Dort gerät Pamphilus, als sein Vater ihm beiläufig mitteilt, er wolle ihn noch am selben Tage verheiraten, in größte Verzweiflung, denn obwohl er heimlich eine andere Frau liebt, ist der patris pudor so mächtig, dass er sich außerstande sieht, das Gebot seines Vaters zu missachten: »tot me impediunt curae, quae meum animum divorsae trahunt: amor, misericordia huius, nuptiarum sollicitatio, tum patri’ pudor, qui me tam leni passus est animo usque adhuc quae meo quomque animo lubitumst facere. eine ego ut advorser? ei mihi. incertumst quid agam.«300

Der patris pudor, von dem der Sohn hier spricht und durch den er sich gezwungen sieht, sich dem Willen seines Vaters unterzuordnen, so sehr das auch seinen eigenen Wünschen und Gefühlen widerspricht, ist aber nichts anderes als die pietas erga patrem, gegen die Europa verstoßen zu haben glaubt.301 Beide Begriffe sind in diesem gedanklichen Kontext austauschbar, und deshalb kann Horaz seine Europa die Selbstvorwürfe, die sie mit dem Ausruf pater, o relictum filiae nomen pietasque! begonnen hatte, im letzten Vers dieses Gedankengangs mit den Worten impudens liqui patrios penates resümieren lassen.302 Wenn die Vorwürfe, die Europa sich macht, aber einen realen Grund haben, dann sind die maßlosen Übertreibungen, so sehr sie den modernen Le 299 Vgl. schon Müller 1900, II 325 zu filiae nomen: »der Name mit allen Rechten und Pflichten, die sein berechtigter Besitz gewährt.« 300 Ter. Andr. 260–264: »So viele Nöte umstricken mich, reißen mein Herz hierhin wie dorthin: die Liebe zu ihr und das Mitleid mit ihr, die Aufregung wegen der Hochzeit, die Scheu vor dem Vater, der bis zur Stunde mit Sanftmut mir durchgehen ließ, was immer zu tun mir beliebte: Ihm sollte ich mich widersetzen? Ach! Ich bin unsicher, was ich tun soll.« 301 Dass pudor sogar Liebenden eine gegenseitige Verpflichtung auferlegen kann, die mit pudicitia gar nichts zu tun hat, zeigt der Monolog Didos in Vergils Aeneis, in dem sie sich selbst an die Treue erinnert, die sie ihrem verstorbenen Gatten über den Tod hinaus schuldig ist: ante, pudor, quam te uiolo aut tua iura resolvo (Verg. Aen. 4, 427). 302 Hor. c. 3, 27, 49: »schamlos habe ich das väterliche Haus verlassen.«

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ser auch befremden mögen,303 nichts weiter als der natürliche Ausdruck ihres Affekts (victa furore). Sie entsprechen ganz dem, was wir aus vergleichbaren Affektreden der antiken Literatur kennen, sind aber dennoch nicht ohne Witz, weil es nach den Maßstäben eines Liebesgedichts natürlich keineswegs ein Vergehen ist, wenn eine Liebende um der Liebe willen ihr Vaterhaus verlässt – ganz im Gegenteil, auch Galatea hat ja diese Absicht und wird in den ersten Strophen des Gedichts vom Sprecher in dieser Absicht bestärkt. Die vorherrschende Forschungsmeinung, dass die Europa des Horaz sich mit den Worten impudens liqui patrios penates (V. 49) bezichtige, ihre pudici­ tia preisgegeben zu haben, stützt sich allein auf die etymologische Verwandtschaft der beiden Begriffe und ist nicht nur der Sache nach haltlos, sondern auch sprachlich unmöglich, denn eine Frau, die ihre pudicitia virginalis verletzt, ist nach lateinischem Sprachgebrauch impudica und nicht impudens,304 und darüber hinaus gibt es auch im Kontext des Gedichts für die vermeintlich erotischsexuelle Bedeutung des Wortes ›impudens‹ keinen Anhaltspunkt.305 Damit ist auch die Bedeutung des Begriffs ›virginum culpa‹ (V. 38) geklärt, der den Kommentatoren viel Kopfzerbrechen bereitet hat,306 denn auch er kann sich aus der Perspektive dieser Rede nur auf das eigenmächtige Verlassen des Vaterhauses beziehen. Der generalisierende Plural ist dadurch begründet, dass jede junge Frau, die so handelt, das unveräußerliche Recht ihres Vaters verletzt. Und wenn Europa ausruft, dass ein einziger Tod nicht Strafe genug für sie wäre (V. 37), so wird man auch daran keinen Anstoß nehmen dürfen, da sie sich erst 303 Vgl. Nisbet / Rudd 2004, 332: »›shameless‹ is too strong a word for Europe’s actual behaviour, just as ›abandoning home‹ is a very unfair way to speak of her abduction.« 304 Der Begriff impudens ist viel umfassender und kommt im Unterschied zu impudicus nur selten in erotischer Bedeutung vor (TLL: »raro erotice«); im TLL ist die Horaz-Stelle unter der Bedeutung »non pudens, insolens, audax« rubriziert. Bei Horaz ist schon im nächsten Vers, in dem impudens wiederholt wird (impudens Orcum moror, V. 50), die erotische Bedeutung ausgeschlossen, so dass man in den beiden Versen trotz der Anapher unterschiedliche Bedeutungen des Wortes annehmen müsste. Richtig schon Porphyrio ad loc.: »eadem inpudentia vivo, qua patriam reliqui.« Vgl. auch Dillenburger 1881, 231 »Venusti versus gravi oppositione: nam quae id impudenter fecit, quod patriam domum temerario amore inducta reliquit, ea etiam auget impudentiam, quod luce et caelo frui audet poenamque quodam modo detrectat.« 305 Anders z. B. Kiessling / Heinze 1930, 368 f.: »Diese culpa, ein turpe commissum und vi­ tium, ist die Jungfrauenschuld κατ’ ἐξοχήν – daher der generelle Pl. virginum –, die Verletzung der pudicitia (daher dann impudens) virginalis«; Clay 1992–93, 176: (»Europa repeatedly condemns herself to death for the crime of unchastity (culpa virginum, vitia, turpe com­ missum, impudens)«, beide mit dem Vorbehalt, dass der Vorwurf hier wohl nicht zutreffe [!]; ähnlich Friedrich 1959, 90–94 (sehr entschieden), Harrison 1993, 151 u. a.; die älteren Kommentare haben dagegen meist das Richtige: Mitscherlich 1800, 267; Ritter 1856, 322; Müller 1900, II 326 »inpudens; aber nicht inpudica.« 306 Vgl. Nisbet / Rudd 2004, 330 über die wenig befriedigenden Erklärungsversuche von virginum culpa und turpe commissum.

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jetzt, da sie sich an einem fremden Strande alleingelassen sieht, völlig bewusst wird, was sie getan hat.307 Auch bei der Frage, die Europa an sich selbst richtet, nämlich ob sie das turpe commissum wirklich begangen habe oder ob sie vielleicht nur von einem leeren Traumbild getäuscht werde und noch frei von vitia sei,308 liegt der Gedanke an ein stuprum ganz fern, denn mit dem Wort ›vitia‹ bringt sie nur all das noch einmal auf den Begriff, was sie bereits gesagt hat über ihr Verschulden. Hinzuzufügen ist, dass Horaz das Wort ›vitium‹ und die davon abgeleiteten Wörter auch sonst niemals für ein sexuelles ›Vergehen‹ verwendet hat.309 Mit einer zweiten, rhetorischen Frage, die Europa in dieser Strophe an sich selbst richtet, stellt sie ihre lange Fahrt über das Meer und ihr früheres Dasein, als sie auf ihrer Wiese frische Blumen pflückte, einander gegenüber,310 auch dies eine Variation des bestimmenden Themas, dass sie ihr Vaterhaus nicht hätte verlassen dürfen. Durch die Erinnerung an die Blumenwiese wird auch die Erinnerung an die Begegnung mit dem Stier wach, dem sie sich dort anvertraut hat und der nun spurlos verschwunden ist: »siquis infamem mihi nunc iuvencum dedat iratae, lacerare ferro et frangere enitar modo multum amati   cornua monstri.«311

Typologisch entspricht der Zornesausbruch gegen den Stier dem der verlassenen Ariadne gegen Theseus, und dass Europa den Stier geliebt hat, ist die Voraussetzung dafür. Das ist freilich wieder extrem knapp ausgedrückt (modo mul­ tum amati), aber da der Leser den Hergang aus anderen Erzählungen kennt, weiß er natürlich, was damit gemeint ist, nämlich dass weder Europa noch ihre Gefährtinnen sich der unwiderstehlichen Wirkung entziehen konnten, die von dem Stier ausging, und dass dies seinen Ausdruck in den Liebkosungen bei der 307 Knapp zusammengefasst in der Frage »unde quo veni?« (V. 37). 308 Hor. c. 3, 27, 38–42a. 309 So schon Müller 1900, II 325: Horaz »gebraucht vitium, vitiosus, vitiatus niemals von geschlechtlichen Vergehen, so dass gerade unser Vers deutlich zeigt, dass Europa noch nichts mit Juppiter zu schaffen gehabt hatte.« Ähnlich Buscaroli 1937, 43. 310 Hor. c. 3, 27, 42b–44: meliusne fluctus / ire per longos fuit an recentis / carpere flores? (»War es besser, durch die weiten Fluten zu ziehen, oder frische Blumen zu pflücken?«). Büchner 1938, 637 meint, dass die Frage auf einen freien Entschluss hinweise. Indessen wird mit der zugespitzten Formulierung nicht gesagt, dass Europa sich bewusst für das fluctus ire per longos entschieden hätte, sondern sie weiß jetzt, dass dies die Folge ihres unbedachten Entschlusses war, dem Stier Vertrauen zu schenken. 311 Hor. c. 3, 27, 45–48: »Wenn jemand den schändlichen Stier mir jetzt in meinem Zorn überließe, ich gäbe mir alle Mühe, ihn mit dem Schwert zu zerfleischen und zu zerbrechen die Hörner des eben noch sehr geliebten Untiers.«

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Begegnung auf der Blumenwiese fand.312 Davon vermittelt uns die Schilderung bei Moschos (und auch die bei Ovid) einen guten Eindruck. Wenn die Europa des Horaz aber sagt, so zornig sei sie jetzt, dass sie versuchen würde, den Stier, wenn er wiederkäme, mit Waffengewalt zu zerfleischen und seine Hörner zu zer­brechen, dann kann der Leser, der sich ja auch hier in der Position des überlegenen Zuschauers befindet und nicht erst von Venus erfährt, in welcher Gestalt der Stier zurückkehren wird, darin nur die Selbstparodie eines übersteigerten Gefühlsausdrucks und eines ganz und gar unbegründeten Affekts sehen. Von diesem hintergründig unernsten Ton ist der größte Teil der Europa-Rede bestimmt,313 ohne dass die Grenze zur Burleske überschritten würde.314 Es ist der gleiche Ton wie in den ersten Strophen des Gedichts, in denen der Erzähler der abreisenden Galatea seine abstrusen auguralen Weisheiten verkündet. Die dreizehnte Strophe beginnt mit dem Vers impudens liqui patrios penates, der die Selbstvorwürfe der vorausgegangen Strophen noch einmal auf den Begriff bringt. Seine inhaltliche Bedeutung haben wir bereits analysiert, er dient aber zugleich als Bindeglied zum zweiten Teil der Europa-Rede. Er wird nämlich fortgesetzt mit den anaphorisch daran anknüpfenden Worten impudens Orcum moror315, die das Thema der folgenden Strophen ankündigen: Nun geht es nicht mehr um das Vergehen, das Europa sich vorwirft und das sie für todeswürdig hält, sondern darum, dass sie noch immer keine Konsequenzen daraus gezogen hat. Auch hier ist Formulierung sehr knapp, aber keineswegs zu knapp: impudens Orcum moror kann nur bedeuten, dass ihr bisher noch der Mut zum Selbstmord gefehlt hat. Das ist eine Einsicht, die auf zweierlei Weise entfaltet wird, nämlich zunächst in der Wunschvorstellung Europas, dass sie ja auch zu Tode kommen könnte, ohne selbst Hand an sich zu legen (V. 51–56), dann in einer Entgegnung darauf, die sie sich von ihrem Vater geben lässt (V. 57–66). Der Wunsch, ohne eigenes Zutun zu sterben, ist als Gebet an die Götter formuliert: 312 So schon Mitscherlich 1800, 267: »quem ipsum modo, dum in pratis luderet, amasset, blande palpando atque osculando« (mit Verweis auf Mosch. Eur. 93 ff.); ähnlich Orelli 1886, 476: »Cuius ori flores virgo admoverat«. Dass auch hier auf ein stuprum angespielt würde, haben erst die späteren Kommentatoren vermutet. 313 So schon Buscaroli 1937 (passim) und besonders Büchner 1938, 639 (»Das Gedicht […] ist eine köstliche Parodie auf die rührenden, übersteigerten, pikanten hellenistischen Gedichte.« Treffend Bradshaw 1978, 171: »The two aspects of Europa’s story, the serious and the humorous, are both vital to the effect intended and are not alternative modes of interpretations which are open to the reader according to taste, nature, or mood. However ridiculous Europa’s hysterical exaggerations may be, her distress is genuine and deserves sympathy. 314 So aber z. B. West 2002, 224 (und passim), der die literarischen Bezüge jedoch ibid. gut analysiert hat: »The lament of Europa in its second part is a parody of sentimental love as portrayed in tragedy, epyllion, and elegy, and the teasing humour continues to the very last words of the poem.« 315 Hor. c. 3, 27, 49 f. (»schamlos habe ich die väterlichen Penaten verlassen, schamlos lasse ich den Tod warten«).

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»[…]  o deorum siquis haec audis, utinam inter errem   nuda leones! antequam turpis macies decentis occupet malas teneraeque sucus defluat praedae, speciosa quaero   pascere tigris.«316

Dass ein Todeswunsch sich in einer solchen Situation mit einer übersteigerten Gefühlsaufwallung äußert, ist alles andere als ungewöhnlich, aber was H ­ oraz seiner Europa hier in den Mund legt, ist dann doch zu exzessiv, um es ernst nehmen zu können. Nackt unter Löwen umherirren möchte sie, und außerdem wünscht sie sich, nicht erst dann zum Raubtierfutter zu werden, wenn ihr Körper agemagert ist und ihre Wangen eingefallen sind, sondern sie ist darauf aus (quaero), von den Tigern aufgefressen zu werden, solange sie noch gut aussieht (speciosa).317 Das ist literarische Parodie par excellence, bezogen auf das Stereotyp einer todessüchtigen Heroine. Damit erklären sich auch die drastischen Begriffe, mit denen Europa den befürchteten Verlust ihrer Schönheit beschreibt und die zugleich als literarische Zitate gelesen werden müssen.318 Dass es gerade Tiger sind, deren Beute sie werden möchte, legt die Vermutung nahe, dass die Verse eine Reminiszenz aus einer Rede der verlassenen Ariadne Rede sind, denn Tiger sind in der römischen Dichtung die Begleiter, durch die sich der Gott Bacchus zu erkennen gibt.319 Indessen darf die Beobachtung, dass Horaz hier mit viel Witz literarische Klischees parodiert hat, nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Worte, die er 316 Hor, c. 3, 27, 50–56: »Ach, ihr Götter (falls einer von euch dies hört): Wenn ich doch nackt unter Löwen umherirrte! Bevor hässliche Abmagerung von meinen hübschen Wangen Besitz ergreift und der Saft aus der zarten Beute entweicht, verlange ich danach, in Schönheit Tiger zu nähren.« 317 Dass Europa deshalb unverzüglich von den Tigern gefressen werden möchte, weil sie dann nicht in einem langen Prozess der Entkräftung dahinzusiechen brauchte, wäre eine vernünftigere Alternative, steht aber nicht da und würde auch nicht zum Kontext passen; so aber z. B. Müller 1900, II 326 und der Kommentar von Kiessling / Heinze 1930, in dem der Wortlaut richtig paraphrasiert, aber (wohl wegen der Absurdität des Gedankens) umgedeutet wird: »Ihre Schönheit ist ihr nur darum wert, weil sie ihr sicherer den Tod verbürgt« (370). Der Kommentar von Nisbet / Hubbard 2004 übergeht die Frage, während für West 2002, 230 die Parodie so dominant ist, dass er Europa als »silly girl« bezeichnen zu müssen glaubt. 318 Belege bei Müller 1900, II 326 und Nisbet / Rudd 2004, 332 f.; Müller weist ibid. darauf hin, dass sucus in dieser Bedeutung ein Wort der Komödiensprache ist. 319 Bei den Griechen ist in der Regel der Panther das Attribut des Dionysos und nicht der Tiger. Der wichtigste Beleg für den Tiger als Attribut bei Horaz ist sein Bacchus-Gedicht (c. 3, 3, 14 f.); weitere Belege Ov. am. 2, 2, 47 f.; Ov. a.a. 1, 549 f. (mit Bezug auf die Epiphanie des Bacchus bei Ariadne) und ibid. 555–560. Im 10. Heroidenbrief fürchtet Ariadne, als sie von Theseus verlassen worden ist, nicht nur die Tiger, sondern auch die Löwen und andere Untiere, die es auf der Insel geben könnte (Ov. epist. 10, 85–96).

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seiner Europa in den Mund legt, im Gesamtzusammenhang des Gedichts eine ganz andere Bedeutung haben als in den Texten, auf die sie verweisen. Wenn nämlich eine auf einer einsamen Insel verlassene Heroine an die Raubtiere denkt, die es dort geben könnte (typologisch betrachtet ist das die Situation­ Ariadnes), dann ist das Ausdruck ihrer Angst vor dem Tod, die Europa des Horaz dagegen wünscht sich die Raubtiere herbei (utinam), weil sie sterben möchte, ohne selbst die Initiative dazu ergreifen zu müssen. Die Antwort auf Europas Wunsch, ohne eigenes Zutun sterben zu können, hat Horaz als Prosopopoiie gestaltet und damit eine dritte Erzählebene geschaffen: Der Erzähler lässt seine Protagonistin eine Affektrede vortragen, in der diese ihren abwesenden Vater auftreten und sie zum Selbstmord auffordern lässt.320 Dieser Kunstgriff entfaltet deshalb eine besondere Wirkung, weil die ersten Worte in Europas Rede an ihren Vater gerichtet waren und nun zum Abschluss ihrer Rede der Vater seine Worte unmittelbar an seine Tochter richtet. Die ersten Worte des Vaters  – ›vilis Europe‹ pater urget absens, ›quid mori­ cessas?‹321 – sind eine direkte Antwort auf Europas impudens Orcum moror und kündigen zugleich an, dass es auch in seiner Rede um ein stereotypes Thema gehen wird, nämlich darum, dass für einen zum Tode entschlossenen Menschen der Weg dorthin nicht schwer zu finden ist.322 Folglich müssen wir auch hier mit parodischen Brechungen rechnen, und diese Erwartung wird durch die Ratschläge, die sich die Europa des Horaz von ihrem Vater geben lässt, erfüllt: ›[…] potes hac ab orno pendulum zona bene te secuta   laedere collum. sive te rupes et acuta leto saxa delectant, age te procellae    crede veloci […]‹323 320 Narratologisch sind das die drei Ebenen externer Erzähler / erster interner Erzähler /  zweiter interner Erzähler. 321 Hor. c. 3, 27, 57 f.: ›vilis Europe,‹ pater urget absens, ›quid mori cessas?‹« (»›Nichtswürdige Europa,‹ drängt mein Vater aus der Ferne, ›was zögerst du zu sterben?‹«). Die Kommentare zitieren dazu die Parallelstelle Ov. epist. 9, 146 impia quod dubitas Deianira mori?). Die Parallele ist v. a. wegen ›impia‹ relevant: Europa hat die pietas gegen ihren Vater verletzt, Deianira gegen ihren Gatten, indem sie ihm aus Eifersucht das todbringende Gewand geschickt hat; beide haben nicht bewusst, sondern unbedacht gehandelt und halten ihr Vergehen dennoch für todeswürdig. 322 Das Thema ist ein Klischee der Popularphilosophie, das Seneca (unter Berufung auf Epikur) auf die Formel patent undique ad libertatem viae multae, breves faciles gebracht hat (epist. 12, 10); die schönste Parodie darauf findet sich bei Petron (94, 8–15). 323 Hor. c. 3, 27, 58–63: »Du könntest an dieser Esche hängen mit dem Gürtel, der dir zum Glück gefolgt ist, und den Nacken dir brechen. Oder wenn dir Felsen und die zum Tode scharfen Klippen gefallen, nur zu, überlass dich dem rasenden Sturm.«

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Der erste Vorschlag, sie solle sich mit ihrem Jungfrauengürtel an einem Baum aufhängen, erinnert den Leser noch einmal nachdrücklich daran, dass Europa immer noch Jungfrau ist. Mit der Formulierung bene secuta wird ein wichtiges Detail angesprochen, das den Gegensatz zu dem berühmtesten Brautraub des Mythos markiert. Der von Pluto entführten Proserpina ist der Jungfrauengürtel nämlich nicht bis zum Schluss ›gefolgt‹, sondern er ist ihr vor dem Eingang zur Unterwelt entglitten (illo forte loco delapsam in gurgite sacro Persephones zo­ nam),324 und wie sich kurz danach herausstellt, hat Proserpina ihre Jungfräulichkeit in der Tat bereits verloren.325 Dass Europa ihren Gürtel noch besitzt, ist das Gegenmodell dazu und gehört zur Substanz des Mythos.326 Aber während es bei Moschos die Voraussetzung für den feierlichen Akt ist, in dem der Göttervater seiner Braut den Gürtel löst,327 hat Horaz das Motiv für einen grimmigen Witz benutzt, weil der Gürtel Europas aus der Perspektive ihres Vaters ein geeignetes Mittel ist, sich damit aufzuhängen. Der zweite Vorschlag ist nicht weniger sarkastisch. Er suggeriert, dass Europa an den tödlichen Felsen besonderes Gefallen finden könnte (delectant), und er setzt darüber hinaus absurderweise voraus, dass die Meeresklippen zu weit entfernt sind, um vom Ufer aus hinaufzuklettern, so dass Europa sich von einem Sturm dorthin tragen lassen muss, wenn sie sich von ihnen herabstürzen will.328 Aber Europa lässt sich von ihrem abwesenden Vater nicht nur vorschlagen, auf welche Weise sie ihr Leben beenden könnte, sondern es gibt offenbar auch eine Alternative dazu: 324 Ov. met. 5, 469 f.: (Cyane zeigt Ceres) »den Gürtel Persephones, der ihr gerade dort in der heiligen Quelle entglitten war«. Ovid wird das Motiv wohl einer hellenistischen Proserpina-Erzählung entnommen haben. 325 Ceres erfährt von der Augenzeugin Arethusa, dass Proserpina bereits matrona an der Seite ihres Gatten Pluto ist (Ov. met. 5, 507 f.): sed regina tamen, sed opaci maxima mundi, / sed tamen inferni pollens matrona tyranni (»Aber sie war dennoch Königin, war dennoch die Mächtigste des Schattenreichs, aber sie war dennoch die gewaltige Gattin des Unterweltkönigs.«). 326 Selbst Nisbet / Rudd 2004, 334 konzedieren, dass Europa nach dem Wortlaut dieser Verse noch Jungfrau sein müsste (»On one view this implies that Europa is still a virgin, even if she does not deserve to be«), meinen aber, es komme darauf an, dass der Gürtel in diesem Falle nur noch symbolische Bedeutung besitze und deshalb ebensogut zum Selbstmord benutzt werden könne. 327 Mosch. Eur. 166. 328 Vernünftiger wäre natürlich die von den Kommentaren favorisierte Deutung, Europa solle auf eine Felsklippe steigen und sich von dort herabstürzen, aber dann wäre der Sturm ganz überflüssig. Dass sie sich ihm anvertrauen soll (te procellae crede veloci, V. 62 f.), erinnert daran, dass sie sich zuvor dem Stier anvertraut hatte (doloso credidit tauro, V. 25 f.). Vorbild der Stelle sind vielleicht die Verse Hom. Il. 6, 345–348, in denen Helena wünscht, dass ein Wirbelwind (ἀνέμοιο θύελλα) sie schon am Tage ihrer Geburt ins Gebirge oder ins Meer entführt hätte.

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›[…] nisi erile mavis    carpere pensum regius sanguis dominaeque tradi barbarae paelex.‹329

Das ist eine überraschende Wendung im Gedankengang Europas bzw. ihres Vaters. Sollte das Vergehen der vilis Europe (V. 57) nun doch nicht durch den Tod gesühnt werden müssen? Sollte sie stattdessen auch zur Sklavin und Konkubine im Hause eines Barbaren werden können? Gewiss, das wäre ein tiefer Sturz für die Tochter eines Königs (regius sanguis), und doch wirkt der Gedanke an eine mögliche Versklavung im Mythos von der Entführung Europas abwegig. Gerade darin aber liegt die Pointe, denn Horaz hat einen Topos in sein EuropaGedicht eingeschmuggelt, der in einen ganz anderen Zusammenhang gehört. Er umschreibt in der antiken Literatur das Los, das die Frauen zu erwarten haben, deren Volk im Kriege besiegt worden ist: Sie werden in die Fremde verschleppt und müssen den Siegern als Sklavinnen und Konkubinen zur Verfügung stehen.330 In der Ilias wünscht Hektor, dass er den Tag nicht erleben möge, an dem Andromache ihre Heimatstadt Troja unter Tränen als Unfreie verlassen müsse, um in Argos für eine andere Frau Webarbeiten zu verrichten, und in der Andromache-Tragödie des Euripides ist die Gattin Hektors zur Konkubine des Neoptolemos geworden.331 Mit der Situation der verlassenen Europa ist eine solche Vorstellung nicht kommensurabel, und die mit sive mavis eingeführte Alternative ergibt weder dann einen vernünftigen Sinn, wenn man sie als Appell versteht, einem solchen Los rasch durch den Tod zuvorzukommen, noch wenn man darin die sarkastische Unterstellung sieht, dass Europa eine Versklavung vielleicht doch dem Tode vorziehen könnte.332 Indessen kann auch hier ein Blick auf die antiken Ariadne-Erzählungen weiterhelfen. Es war nämlich nicht erst Horaz, der den Andromache-Topos aus seinem ursprünglichen Zusammenhang von Krieg und Kriegsgefangenschaft gelöst und auf die Situation einer verlassenen Heroine übertragen hat, sondern dies ist schon in der hellenistischen Ariadne-Dichtung geschehen. Dadurch hat der Topos Eingang in das Repertoire gefunden, aus dem sich die griechischen und dann auch die römischen Dichter 329 Hor. c. 3, 27, 63–66: »›Es sei denn, du, aus königlichem Blut, zögest es vor, die einer Sklavin zugeteilte Wollarbeit zu erledigen und einer Barbarenherrin als Konkubine (ihres Gatten) übergeben zu werden.‹« 330 Eine Auswahl von Belegstellen bei Nisbet / Rudd 2004, 335. 331 Hom. Il. 6, 450–465. Vgl. auch Eur. Hec. 359–364 über Polyxene. 332 Der Erklärungsversuch von Kiessling / Heinze 1930, 370 (»Aber besser dies Ende mit Schrecken, als das Los, das ihr bevorsteht, wenn Menschen sie entdecken«) wirkt ziemlich hilflos. Die meisten anderen Interpreten versuchen gar nicht erst, den Halbsatz zu erklären, sondern begnügen sich mit der Vermutung, dass er wohl sarkastisch gemeint sei.

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bedient haben, um die Ariadne-Klage mit mehr oder weniger passenden Motiven anzureichern und auszuschmücken. Am deutlichsten ist das in Ovids zehntem Heroiden-Brief zu erkennen, aber auch Catull hat das Motiv in seinem 64. Gedicht benutzt, freilich in verwandelter Gestalt. Bei Catull ist der erste Teil  der Ariadne-Klage ganz von den heftigen Vor­ würfen der Verlassenen geprägt, die fassungslos darüber ist, dass Theseus so grausam sein konnte. Dann aber spricht sie unvermittelt in einem ganz anderen Ton zu ihm: ›si tibi non cordi fuerant conubia nostra, saeva quod horrebas prisci praecepta parentis, attamen in vestras potuisti ducere sedes, quae tibi iucundo famularer serva labore, candida permulcens liquidis vestigia lymphis purpureave tuum consternens veste cubile.‹333

Hier hat sich der Gedanke einer Frau daran, dass sie als Angehörige eines unterworfenen Volkes dazu gezwungen werden könnte, dem Sieger als seine Sklavin und Konkubine in die Fremde folgen, aus einer Schreckensvision in die Wunschvorstellung einer Heroine verwandelt, die von ihrem Geliebten ver­ lassen worden ist und dennoch weiterhin ganz von Liebe zu ihm erfüllt ist.334 Deshalb fällt kein Wort darüber, dass Ariadne eine stolze Königstochter ist, für die der Verlust ihres Geliebten zugleich ein Schicksalsumschwung ohnegleichen wäre, ganz im Gegenteil, die Königstochter Ariadne möchte ihrem Theseus »dienen in freudiger Arbeit«, möchte ihm sogar das Bett bereiten, obwohl er sein Bett ja nicht mit ihr, nicht mit der Verstoßenen, sondern mit einer anderen Frau teilen würde: alles würde sie tun, wenn sie dadurch in seiner Nähe bleiben könnte.335 Catull hat den Andromache-Topos serva et paelex in seine Ariadne-Klage eingefügt und ihm zugleich alles Befremdliche genommen, indem er ihn in ein bewegendes Motiv eines Liebesgedichts verwandelt hat. Das ist ein besonders schöner Zug des Gedichts  – ob Catull ihn von einem hellenistischen 333 Catull. 64, 158–163; in der Übersetzung von Otto Weinreich: »Wenn dir nichts daran lag, dass der Ehe Bündnis wir schlössen, / weil deines strengen Vaters erbitterte Weisung dich schreckte, / konntest du doch in der Deinigen Haus, deine Heimat mich führen, / wo ich dir gern als Magd gedient in freudiger Arbeit, / um dir gelind mit klarem Wasser die Füße zu waschen / oder die purpurne Decke zu breiten über dein Lager.« 334 In der Catull-Forschung wird das Motiv meist nicht als Fiktion, sondern so ver­ standen, dass Ariadne allen Ernstes meinte, Theseus hätte sie auch als Sklavin mitnehmen können, und es sei in ihren Augen ein Zeichen mangelnder Liebe, dass er das nicht getan habe. 335 Zu den wörtlichen Anklängen der Europa-Ode des Horaz an diese Perikope s. Mendell 1935, 294.

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Dichter übernommen oder selbst erfunden hat, müssen wir offen lassen –, der aber in dieser Gestalt für die Klagerede Europas nicht in Betracht kam, weil er voraussetzt, dass die Geliebte weiß, wer sie verlassen hat. Mit Ovids zehntem Heroiden-Brief haben wir aber auch einen Beleg dafür, wie der AndromacheTopos in seiner konventionellen Form in der Ariadne-Dichtung verwendet worden ist. Ovids Ariadne reflektiert in einer langen und breit angelegten Klage die tödlichen Gefahren, denen sie sich auf der unbekannten Insel ausgesetzt fühlt, aber es kommt ihr auch der Gedanke, dass man sie gefangennehmen könnte: ›tantum ne religer dura captiva catena,   neve traham serva grandia pensa manu, cui pater est Minos, cui mater filia Phoebi,   quodque magis memini, quae tibi pacta fuit.‹336

Die Ähnlichkeit der beiden Distichen Ovids mit den beiden Versen des Horaz ist evident.337 In beiden Gedichten kommt das wichtigste Merkmal des Andromache-Topos, nämlich dass eine Frau vornehmster Herkunft ihre Freiheit verliert und fern ihrer Heimat für ein fremde Herrin Wolle spinnen muss, klar zum Ausdruck, aber weder hier noch dort harmoniert er mit dem Kontext. Die Befürchtung, in Gefangenschaft zu geraten und versklavt zu werden – in der ausführlicheren Version Ovids ist die Herkunft des Topos noch an dem Begriff captiva abzulesen –, ist mit der äußeren Situation nicht kommensurabel. Nur das Merkmal der vornehmen Herkunft fügt sich harmonisch ein, und Ovid hat es noch durch die Pointe gesteigert, dass Ariadne einmal die Verlobte des Theseus war (quae tibi pacta fui). Dafür musste er freilich auf den Aspekt verzichten, dass die Gefangene zur Konkubine eines Fremden wird, wiewohl sich gerade darin im ursprünglichen Kontext die größte Erniedrigung einer vornehmen Frau manifestiert, die durch den Krieg zur Sklavin geworden ist. In der Ode des Horaz passt der Topos eigentlich noch weniger zur Situation der verzweifelten Heroine, bildet aber gerade deshalb einen guten Abschluss für die parodierenden Übertreibungen, die für die Rede Europas insgesamt charakteristisch sind. Vor allem aber hat Horaz mit den beiden Worten barbarae ­paelex

336 Ov. epist. 10, 89–92: »Wenn man mich nur nicht mit harter Kette fesselt und ich nicht mit versklavter Hand gewaltige Wollarbeiten ausführen muss, ich, die ich Minos zum Vater und zur Mutter die Tochter des Phoebus habe und, woran ich noch mehr denke, die ich deine Verlobte war!« Dasselbe Motiv findet sich, breiter ausgeführt, in der Ariadne-Klage des N ­ onnos (Dion. 47, 387–405). Keydell 1936, 909 hält »eine beiderseitige Anlehnung an ein helle­nistisches Gedicht [für] wahrscheinlich«. 337 Müller 1900, I 247 vermutet direkte Abhängigkeit Ovids von Horaz, er geht aber weder darauf ein, dass es sich um einen Topos aus einem ganz anderen Kontext handelt, noch darauf, dass das Motiv in anderer Form schon bei Catull begegnet.

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eine Schlusspointe gesetzt, die ihre volle Wirkung in dem Moment entfaltet, in dem Venus der Entführten verkündet, dass sie nicht zur Konkubine im Hause eines Barbaren erniedrigt, sondern zur Gemahlin des Götterkönigs (uxor invicti Iovis) erhoben werden soll. Die Beobachtung von Richard Heinze, dass Horaz sich für die Epiphanie der Venus von dem hellenistischen Ariadne-Gedicht hat anregen lassen, auf das wir im vorigen Kapitel eingegangen sind,338 ist in der Forschung zwar zustimmend zur Kenntnis genommen, aber bei der Analyse des Gedichts nicht genügend berücksichtigt worden. Bei Horaz ist die Epiphanie der Liebesgöttin339 kein plötzliches, aber ein für Europa ganz unerwartetes Ereignis, und so scheint es auch in dem hellenistischen Gedicht gewesen zu sein: […] aderat querenti perfidum ridens Venus et remisso   filius arcu. mox, ubi lusit satis, […]340

In diesen wenigen Versen ist fast jedes Wort signifikant. Schon mit aderat wird dem Leser signalisiert, dass diese Venus eine freundlich gesinnte Göttin ist, denn adesse bedeutet nicht nur Anwesenheit, sondern (zumal bei Göttern) auch Beistand, was hier durch die Juxtaposition aderat querenti besonders hervorgehoben wird. Das Partizip querenti entspricht dem Partizip κατολοφυρομένης δὲ τῆς Ἀριάδνης und besagt, dass die Liebesgöttin schon während der Rede Europas erschienen ist. Noch wichtiger ist die semantische Entsprechung der beiden Wörter κατολοφυρομένης und querenti. Für die Rede Ariadnes ist die Bezeichnung ›Klage‹ fast sprichwörtlich, wofür im Lateinischen queri und die davon abgeleiteten Wörter gebräuchlich sind.341 Die Europa-Rede des Horaz dagegen ist eigentlich keine Klage, sondern eine typische Affektrede und wird im Gedicht auch als solche eingeführt (dixit victa furore, V. 35 f.). Indessen konnte Horaz sich, wie unsere Analyse gezeigt hat, bei der Rede seiner Europa nur deshalb am Modell der Ariadne-Klage orientieren, weil auch sie in Wahrheit zum Typus der Affektrede gehört. Wenn er nun mit dem Begriff querenti 338 Kiessling / Heinze 1930, 371; dort auch die Vermutung, dass noch manches andere in der Ode des Horaz aus diesem Ariadne-Gedicht stamme. Die Darstellung der Epiphanie Aphrodites ist o. S. 118 im Wortlaut zitiert. 339 Wenn man sich auf das Motiv der Verkündigung in der Venus-Rede beschränkt, lassen sich natürlich noch sehr viel mehr Bezugsstellen anführen; so Nisbet / Rudd 2004, 337. 340 Hor. c. 3, 27, 66–69: »Da stand der klagenden zur Seite die hinterlistig lächelnde Venus und ihr Sohn, mit abgespanntem Bogen. Bald, nachdem sie sich genug amüsiert hatte […].« 341 Vgl. Catull. 64, 130 atque haec extremis maestam dixisse querellis; ibid. 164 sed quid ego ignaris nequiquam conqueror auris und ibid. 194 huc huc adventate, meas audite querellas.

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auch die Rede Europas im nachhinein zu einer Klagerede erklärt, dann ist das gleichsam die terminologische Bekräftigung dafür, dass die Rede seiner Europa nach dem Vorbild der Ariadne-Reden gestaltet ist. Mit perfidum ridens Venus verweist Horaz darauf, dass es die Liebesgöttin war, die das ganze Geschehen eingefädelt hat. Das gehört zur Vorgeschichte, die er in seinem Gedicht ausgespart hat, die jedoch zum festen Bestand der Europa-Erzählung gehörte und allen Lesern bestens bekannt war.342 Deshalb ist, vielen ganz anderen Deutungsversuchen zum Trotz, nach wie vor die Erklärung richtig, die Richard Heinze zu perfidum ridens gegeben hat: »da Venus […] Europes Verzweiflung verschuldet hat, aber, wie die folgenden Trostworte zeigen, in freundlicher Gesinnung, so ist ihre Schadenfreude, perfidia, in diesem Falle nicht vielmehr als ›Schelmerei‹, mit der sie sich vergnügt, lusit.«343 Die Annahme, eine List wäre in der Antike a priori negativ konnotiert,344 beruht auf einem anachronistischen Vorverständnis, und eine Aphrodite ohne ›Verschlagenheit‹ ist kaum vorstellbar. Schon in der älteren griechischen Dichtung ist δόλιος zum stehenden Beiwort der Liebesgöttin geworden,345 und wenn sie sich über einen gelungenen Coup freut, dann kann man sie ›verschlagen‹ (perfidum) lächeln sehen.346 In der Europa-Ode des Horaz verdankt sie ihren Erfolg wie in so vielen anderen Fällen ihrem Zusammenwirken mit Amor: Er hat den Liebespfeil abgeschossen, und deshalb ist sein Bogen jetzt entspannt (remisso arcu).347 Venus amüsiert sich so lange über Europas grundlose Verzweiflung, wie es ihr gefällt (lusit satis), und der Leser, der das literarische Spiel der Rede durchschaut hat, teilt ihr Vergnügen auf seine Weise. Schließlich macht die Göttin sich aber doch bemerkbar und rät Europa, sich erst einmal zu beruhigen, ganz so, wie Aphrodite die klagende Ariadne dazu ermuntert, guten Mutes zu sein (θαρρεῖν αὐτῇ παραινεῖ): 342 Zu Aphrodite als lenkende Göttin auch bei Moschos (Eur. 1–15 und 75 f.) s. o., S. 85–89. Anders Harrison 1993, 152: »This machinating role is the usual part of Venus in Horatian love-lyric […], and has no part in the simple love-story of Moschus.« 343 Kiessling / Heinze 1930, 371. 344 Wer das perfidum ridens Venus unter dieser Prämisse zu erklären versucht (besonders konsequent Sticker 2014, 407 f.), kommt zwangsläufig zu dem Ergebnis, Horaz habe das Verhalten der Liebesgöttin als moralisch sehr bedenklich darstellen wollen. 345 Bei Bakchylides wird Aphrodite als die »verschlagene Aphrodite« (δόλιος Ἀφροδίτα) bezeichnet, obwohl sie dort nichts weiter getan hat, als Amphitrite einen wunderschönen Hochzeitskranz zu schenken (Bacch. dith. 17, 114). 346 Auch in Horazens Danaë-Gedicht lacht Venus, weil sie mit einer List erfolgreich war, in diesem Falle zusammen mit Jupiter: si non Acrisium virginis abditae / custodem pavidum Iuppiter et Venus / risissent […] (Hor. c. 3, 16, 5–7: »Wenn den Acrisius, den ängstlichen Be­ wacher der verborgen gehaltenen Jungfrau, Jupiter und Venus nicht verlacht hätten […]«). 347 Anders erklärt Rudd die Wendung remisso arcu, nämlich als Hinweis darauf, dass Jupiter bereits mit Europa geschlafen habe (Nisbet / Rudd 2004, 336).

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»[…] abstineto« dixit »irarum calidaeque rixae, cum tibi invisus laceranda reddet   cornua taurus.«348

Das ist mit deutlicher Ironie gesagt, aber anders wird man es von dieser Venus auch nicht erwarten dürfen. Auf die vielen Schuldvorwürfe, die Europa sich gemacht hat, geht sie gar nicht erst ein – wie könnte es eine Liebesgöttin auch ernst nehmen, wenn eine junge Frau sich für schuldbeladen hält, weil sie sich ihrem liebenden Entführer anvertraut hat? Statt dessen antwortet sie darauf, dass Europa den Stier am liebsten zerfetzen und ihm die Hörner zerbrechen würde, und rät ihr, darauf doch lieber zu verzichten, wenn der Stier gleich zurückkehren und ihr seine Hörner hinhalten werde.349 Damit hat die Göttin bereits die Epiphanie Jupiters angekündigt,350 freilich derart verklausuliert, dass Europa nichts davon begreifen kann. Um so klarer direkt im Anschluss daran die eigentliche Verheißung, und das ist zugleich die letzte Strophe des Gedichts: »uxor invicti Iovis esse nescis: mitte singultus; bene ferre magnam disce fortunam; tua sectus orbis   nomina ducet.«351

Das ist die entscheidende Aussage des Gedichts, und von Ironie ist hier nichts mehr zu spüren. Dennoch hat die Forschung an der Überzeugung festgehalten, von der wir zu Beginn dieses Kapitels ausgegangen sind: Weil die Vorstellung, Europa würde von Jupiter zu seiner Gattin erwählt,  a priori auszuschließen sei, könne Horaz das, was er hier von seiner Venus verkünden lässt, unmöglich 348 Hor. c. 3, 27, 69–72: »Lass den Zorn«, sagte sie, »und den hitzigen Streit, wenn dir der verhasste Stier seine Hörner hinhalten wird (oder: gleich seine Hörner hinhält), sie zu zerbrechen!« Das Deutsche tut sich schwer mit einem futurischen Imperativ (abstineto) und einem Futur im Nebensatz (reddet), aber wenn man den Satz präsentisch wiedergibt, wie das in den meisten gedruckten Übersetzungen geschieht, geht gerade das, worauf es ankommt, verloren. 349 Die Forschung hat wiederholt und wohl zu Recht darauf hingewiesen, dass laceranda reddet cornua hier auch in seinem sexuellen Nebensinn verstanden werden kann. 350 Diese Ankündigung stellt die Verfechter der These, dass Europa schon vorher mit dem Stier geschlafen habe (und dass sie nur eine der zahlreichen Geliebten Jupiters sei), vor unlösbare Schwierigkeiten (Nisbet / Rudd 2004, 336). Dazu Nisbet: Es widerspreche der Gewohnheit Jupiters, nach einem Liebesakt noch einmal zurückzukehren, und deshalb seien hier vielleicht zwei Versionen miteinander verschmolzen: »(a) rape by the bull, (b) the return of the god in his true form«. Rudd glaubt dagegen, der Stier werde gar nicht zurückerwartet, und deshalb müsse man den überlieferten Text ändern (non statt cum) und zugleich den futurischen Imperativ abstineto präsentisch verstehen. 351 Hor. c. 3, 27, 73–76: »Du weißt nicht, dass du die Gemahlin des unbesiegbaren Jupiter bist: hör auf zu schluchzen und lerne, auf gute Weise großes Glück zu tragen; ein Erdteil wird deinen Namen tragen!«

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ernst gemeint haben. Die Gelehrten sind sich ihrer Sache so sicher, dass uxor hier nicht im eigentlichen Sinne verstanden werden dürfe,352 dass die meisten von ihnen auf eine Begründung dafür verzichtet haben.353 Unsere Analyse hat bereits ergeben, dass die Entführung Europas in der literarischen Überlieferung der Antike immer als ein Brautraub mit dem Ziel einer Eheschließung gegolten hat und dass die Europa-Ode des Horaz vollkommen im Einklang damit steht. Entscheidend ist jedoch, dass dies mit der Formel uxor invicti Iovis feierlich bekräftigt wird, und deshalb müssen wir noch auf die Argumente eingehen, die dagegen geltend gemacht worden sind. Der wichtigste Einwand beruht auf der Unterstellung, man müsse sich den Göttervater bei der Entführung Europas als mit Hera-Juno verheiratet vorstellen, und folglich müsse es sich hier um eine seiner zahlreichen Liebesaffären und darüber hinaus um einen Ehebruch handeln.354 Dabei wird stillschweigend vorausgesetzt, dass der Göttervater sich in Phönizien in eine schöne junge Frau verliebt hat, sein Liebesverlangen aber nicht sofort und an Ort und Stelle befriedigt, sondern die Geliebte dafür in einer langen Fahrt übers Meer nach Kreta bringt. Das ist ganz abwegig, und es gibt kein auch nur annähernd vergleichbares Beispiel dafür. Vor allem aber gilt Zeus, wie wir gesehen haben, bei der Entführung Europas keineswegs als verheiratet, und es gibt nirgendwo einen Anhaltspunkt dafür, dass Horaz der Überlieferung hätte widersprechen wollen. Das zweite Argument betrifft den Sprachgebrauch von uxor im Lateinischen. Hier ist das Beweisziel zwangsläufig etwas bescheidener, weil nur darauf verwiesen werden kann, dass uxor nicht immer und nicht überall ›Gattin‹ im Sinne einer rechtmäßigen Ehefrau heißen muss, sondern auch im weiteren Sinne von amica gebraucht werden kann. Das ist zwar richtig, aber es handelt sich dabei lediglich um eine gattungsspezifische Bedeutung. Die einschlägigen Belege stammen allesamt aus der Liebeselegie, also aus einer literarischen Gattung, in der es keine festen Grenzen zwischen flüchtigen und dauerhaften Liebesbeziehungen gibt und das Versprechen unverbrüchlicher und ewiger Liebe oft nur für den Augenblick gilt und gelten soll. Die Europa-Ode des Horaz ist jedoch 352 Durchgesetzt hat sich diese Auffassung offenbar erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Kommentar von Ritter 1856, 324 heißt es noch: »breui quaestione grauissimam consolationem eloquitur, aperiendo illam uxorem iam esse, neque uirginitati cur timeat aut malam conditionem horrescat, ullam causam adesse.« Ähnlich Mitscherlich 1800, 271 (zu V.  73): »Nescis esse uxor, graece, pro, nescis, non intelligis, te esse uxorem, expetitam amplexu a Iove«; vgl auch ibid. zu V. 74. 353 So. z. B. Nisbet / Rudd 2004, 337: »In Jupiter’s case, of course, uxor is a euphemism.« 354 West 2002, 233 kommentiert die Stelle mit der Bemerkung »Venus is not telling the whole story. Jupiter has a formidable wife and is a notorious philanderer«. Ähnlich Berres 1974, 78 und viele andere. Breuer 2008, 260, Anm. 49 versteht den Vers sogar als einen Beleg für das Thema »Juppiter als Ehebrecher«.

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sehr weit entfernt von der Vorstellungswelt der Liebeselegie, und auch sonst benutzt ­Horaz das Wort uxor immer nur im engeren Sinn, also nur in der Bedeutung Ehefrau.355 Nur mittelbar mit der Bedeutung des Wortes uxor hängt die seit Jahrzehnten kontrovers diskutierte Frage zusammen, wie der grammatische Gräzismus in dem Vers uxor invicti Iovis esse nescis zu verstehen ist: entweder »du weißt nicht, dass du die Gattin Jupiters bist« oder: »du verstehst nicht, dich als Gattin Jupiters zu betragen« (te gerere). Wir können die sprachlichen Argumente beiseitelassen, weil sich auf diesem Wege trotz eines erheblichen Aufwands an Gelehrsamkeit kein Konsens hat erzielen lassen, und begründen unsere Entscheidung mit der Bedeutung des Verses im Kontext. Europa weiß noch nicht und kann noch nicht wissen, dass sie zur Gemahlin des Göttervaters erhoben worden ist, und deshalb will Venus sie darüber aufklären, um sie aus ihrer Verzweiflung zu erlösen, sie zu trösten (mitte singultus). Genau das tut sie, wenn sie sagt »du weißt nicht, dass du die Gattin Jupiters bist«. Würde Venus dagegen sagen »du verstehst nicht, dich als Gattin Jupiters zu betragen«, dann würde das zwar auch die Mitteilung implizieren, dass Europa die Gattin Jupiter ist, aber in dieser Formulierung wäre das ein ziemlich unfairer und auch unverständlicher Vorwurf, weil Europa sich ja nicht wie eine Gattin Jupiters verhalten kann, solange sie gar nicht weiß, dass sie das ist.356 Narratologisch hat die Epiphanie der Venus keine andere Aufgabe, als der völlig ahnungslosen Europa die Vermählung mit Jupiter anzukündigen und ihr dadurch Mut zu machen, und sie kann in dieser Rolle, die eigentlich dem Göttervater selbst zukäme, ihren Triumph als Göttin der Liebe genießen, so wie schon in der hellenistischen Ariadne-Dichtung.357 Dass Europa nicht mehr zu schluchzen braucht (mitte singultus), wenn sie erfährt, dass sie zur uxor invicti Iovis geworden ist, bedarf keiner Erklärung. Die zweite Aufforderung dagegen (bene ferre magnam disce fortunam) ist nicht ganz so leicht zu verstehen, und zwar auch dann nicht, wenn wir ausschließen, dass fortuna hier so viel wie ›Unglück‹ bedeutet.358 355 So schon Müller 1900, II 328 (der uxor freilich trotzdem im Sinne von amica versteht). Der Witz der Katachrese von uxor in deviae olentis uxores mariti (Hor. c. 1, 17, 7) setzt ebenfalls die engere Bedeutung voraus. Zur Bedeutung des Wortes in der Liebeselegie s. o., Kap. 1.2. 356 So schon Kiessling / Heinze 1930, 371; ebenso Buscaroli 1937, Quinn 1969, 265 u. a., anders dagegen z. B. Büchner 1938, 638. Für die Übersetzung »you do not know that you are the wife« argumentiert auch West 2002, 232, der aber auch eine tolerierte Ambiguität für möglich hält. 357 S. o., Kap. 3.3. 358 Die These, fortuna sei hier im Sinne von Unglück gemeint, ergibt sich in der Forschung oft erst aus der Annahme, dass der Liebesakt schon stattgefunden habe und Jupiter nicht zurückkehren werde, und unter dieser Prämisse könnte die Aufforderung der Venus in

Die Europa-Ode des Horaz (c. 3,27) 

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Man hat den Satz durch ähnliche Formulierungen in der römischen Liebesdichtung zu erklären versucht.359 Dort wird davor gewarnt, gegen eine plötzlich aufflammende Liebe anzukämpfen, weil sie dadurch nur noch größer werde, und das wird mit der Metapher von der Last bekräftigt, die sich leichter tragen lässt, wenn man sie richtig trägt. Indessen trifft das alles ja auf Europa gar nicht zu. Nicht sie, sondern Jupiter ist von der Macht der Liebe bezwungen worden, und davon weiß Europa nicht einmal etwas. Wenn wir aber von der Beobachtung ausgehen, dass Venus in dieser Strophe etwas Großartiges zu verkünden hat und deshalb hier in vollem Ernst zu Europa spricht, dann erschließt sich der Sinn ihrer Mahnung fast von selbst: magnam fortunam bene ferre – das ist ein geläufiger Lehrsatz der antiken Ethik, und gemeint ist damit, dass nicht nur großes Unglück, sondern auch allzu großes Glück nicht leicht zu bewältigen ist und dass man lernen muss, damit in der richtigen Weise umzugehen. Cicero hat diesen Leitsatz im ersten Buch von De officiis so formuliert: Atque etiam in rebus prosperis et ad voluntatem nostram fluentibus superbiam mag­ nopere, fastidium arrogantiamque fugiamus. nam ut adversas res, sic secundas inmo­ derate ferre levitatis est praeclaraque est aequabilitas in omni vita […].360

Zur Situation Europas passt das vorzüglich. Aus tiefster Verzweiflung befreit, erfährt sie das höchste Glück; sie wird nicht zur Sklavin und Konkubine eines Barbaren werden, sondern sie wird die Gemahlin des unbesiegbaren Jupiter, uxor invicti Iovis, sein. Aber die Mahnung passt auch darüber hinaus besonders gut zur Ethik der Horazischen Dichtung, und man möchte vermuten, dass der Gedanke erst durch ihn Eingang in die Europa-Erzählung gefunden hat. Es wäre verfehlt anzunehmen, dass sich das mythologische Exemplum Europa361 in jeder Hinsicht auf die Adressatin des Gedichts beziehen lassen der Tat nur zynisch gemeint sein. So z. B. Reeves 2003, 155 (»the ending of the poem is quite dark«) und Sticker 2014, 408 f. (»Venus befiehlt Europa, … ihr ›großes‹ Schicksal mit Fassung zu tragen […] sowohl ferre als auch magnam deutet dabei auf eine Last, nicht auf Glück und Freude.«). 359 So z. B. Nisbet / Rudd 2004, 337 mit Verweis auf Ov. am. 1, 2, 9–10 Cedimus, an subitum luctando accendimus ignem?/ cedamus. leve fit, quod bene fertur, onus) und auf TLL 2, 2119, 36 ff., wo der Horaz-Vers in der Tat als Beleg für diese Bedeutung aufgeführt ist. 360 Cic. off. 1, 90: »Und auch in günstigen und nach unseren Wünschen verlaufenden Verhältnissen wollen wir Stolz, Überheblichkeit und Anmaßung konsequent vermeiden. Denn nicht nur Unglück, sondern auch Glück unbeherrscht hinzunehmen ist ein Zeichen von Haltlosigkeit, und rühmenswert ist Ausgeglichenheit in jeder Lebenslage […].« 361 Die Überzeugung, dass Horaz mit der Ode c. 3, 27 die politische Programmatik der ­augusteischen Herrschaftsideologie unterstützt habe, vertritt mit besonderem Nachdruck Létoublon 2007, 43–48: »elle pourrait s’intégrer dans le programme national d’Auguste« (ibid. 43); »Vénus prédit à Europe l’empire du monde, ce qui symboliquement pouvait être interprété comme une promesse faite par les dieux au vainqueur d’Actium« (ibid. p. 44). Die Argumente sind nicht sehr überzeugend, können hier jedoch nicht erörtert werden.

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Die Entführung Europas als Brautraub des Zeus 

müsste, aber so viel wird man sagen dürfen: Auch Galatea hat das höchste Glück zu erwarten, das man sich für sie vorzustellen vermag, und dieses Glück kann nach allem, was in der Ode gesagt wird, ganz gewiss nur das Glück einer uxor sein.362

362 Vgl. Clay 1992–93. Sie zieht trotz ihrer Prämisse, dass Europa von Jupiter nur zu seiner glücklichen Geliebten, aber nicht zu seiner Gattin gemacht werde, folgendes Fazit (ibid. 177): »The fantastical adventure and destiny of Europa, as Horace tells it, are in a sense the ­adventure and destiny of every young girl on the brink of womanhood. Galatea’s meta­ phorical voyage into maturity has its literal counterpart in Europa’s journey from her childhood home over  a frightening sea to  a strange and terrifying destination, leading finally into a glorious and undreamt of fate.«

4. Europa in Ovids Metamorphosen (met. 2,836–3,9): Ein Brautraub nur aus Liebeslust

Durch die Vermählung mit einem Gott erreicht eine Sterbliche das höchste Glück, das man sich vorzustellen vermag. Davon handeln in gleicher Weise der Europa- und der Ariadne-Mythos. Wenn von einem solchen Gott jedoch, wie das bei Zeus-Jupiter der Fall ist, zahllose Geschichten im Umlauf waren, in denen es ihm nur um die Befriedigung seiner Liebesleidenschaft ging, dann war es verlockend für einen Dichter, das Motiv und die Absichten des Entführers auch bei der Europa-Erzählung in Frage zu stellen. Ein Beispiel dafür haben wir mit dem spöttischen Resümee der Geschichte in Lukians Seegöttergesprächen schon kennengelernt.1 Sehr viel radikaler und lange vor Lukian hat jedoch Ovid, freilich nur in den Metamorphosen und nicht in den Fasten, die Botschaft des Europa-Mythos ins Gegenteil verkehrt. Er ist es gewesen, der die Entführung Europas zu einem der furta Iovis gemacht hat. Streng von der Unterstellung zu trennen, dass es dem Göttervater auch bei Europa nur um die Befriedigung seiner notorischen Liebeslust gegangen sei, ist die einhellig von der modernen Forschung vertretene Auffassung, dass Jupiter bei dieser Entführung mit Juno verheiratet gewesen wäre, seine Gattin also betrogen habe. Hier handelt es sich um den in der Wissenschaft seltenen Fall, dass sich eine Hypothese deshalb nicht widerlegen lässt, weil keinerlei Gründe dafür angeführt werden. Sie verdankt sich allein der Annahme, dass es sich bei einer Liebesaffäre Jupiters (furtum) immer auch um einen »Ehebruch« (»adulterium«) handeln müsse,2 also einer petitio principii. Wenn es aber jemand doch einmal für angebracht hält, sie plausibel zu machen, dann pflegt er darauf hinzuweisen, dass Ovid die Reaktion der betrogenen Gattin übergangen habe – ohne zu bedenken, dass es eine solche Reaktion auch vor Ovid weder gab noch geben konnte.3 1 S. o., Kap. 3.2. 2 Landolfi 1994 hat die Metamorphosen-Erzählung im Gegensatz zur üblichen Auffassung zwar nicht als »adulterium« gedeutet, aber auch er hat den Unterschied zwischen einer bloßen Liebesaffäre Jupiters und seiner Vermählung mit Europa ignoriert; vielmehr versteht er die beiden Europa-Erzählungen Ovids in den Metamorphosen und in den Fasti als Teile ein und derselben Geschichte, nämlich ante raptum und post raptum (ibid. 505): in der Meta­ morphosen-Version gebe es keinen richtigen Schluss, weil Ovid dort die »assunzione in cielo« ausgelassen habe (ibid. 518). 3 Einer der wenigen Gelehrten, die das Problem wenigstens bemerkt haben, ist Wheeler. Er hat es narratologisch zu analysieren und dadurch Jupiters vermeintliche eheliche Untreue zu erklären versucht: »In contrast to earlier rape stories, Ovid concentrates solely on Jupiter’s seduction and does not continue the Europa narrative with the typical thematic sequence

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Europa in Ovids Metamorphosen (met. 2,836–3,9)

Damit kommen wir zu unserer Analyse der virtuosen Erzähltechnik Ovids, von der die Interpreten sich haben in die Irre führen lassen. Zwischen Ovids Version der Europa-Geschichte in den Metamorphosen und der Ode des Horaz liegen nur drei Jahrzehnte, und doch sind sie durch Welten voneinander getrennt. Während Horaz die Botschaft des altbekannten Mythos poetisch belebt und zugleich mit der literarischen Gestaltung des Sujets sein ironisches Spiel getrieben hatte, ohne den Hergang selbst zu erzählen, ist es bei Ovid gerade umgekehrt: Er erzählt die überlieferte Geschichte von neuem mit dem alleinigen Ziel, ihre überkommene Bedeutung zu destruieren. Dies müssen wir nun durch eine Textanalyse belegen. Seit dem Homerischen Hymnus auf Aphrodite haben die Dichter immer wieder von der Macht dieser Göttin erzählt. Alle Sterblichen und Unsterblichen müssen sich ihr fügen, und nicht einmal Zeus kann ihr entkommen.4 Der König der Götter als Opfer der Liebesgöttin – das ist geradezu ein Stereotyp der antiken Dichtung. Auch Ovid lässt Venus damit prahlen, dass sie ihre Herrschaft gemeinsam mit Amor über den gesamten Kosmos und sogar über Jupiter ausübt.5 Um so auffälliger ist, dass Ovid die Geschichten über Jupiters Liebe zu Io, zu Callisto und zu Europa in den ersten beiden Büchern der Metamorphosen so erzählt hat, als ob Venus und Amor überhaupt nicht existierten. Die Io-Geschichte folgt unmittelbar auf die von der Liebe Apollons zu Daphne, eine Geschichte, die bei Ovid vom Triumph Amors über den mächtigen und allzu machtbewussten Apollon handelt.6 Apollon ist so stolz darauf, den Python-Drachen mit seinen Pfeilen besiegt zu haben, dass er sich dazu hinreißen lässt, dem Liebesgott den Gebrauch von Pfeil und Bogen zu untersagen. Amor bestraft ihn mit der unerwiderten Liebe zu der schönen Nymphe Daphne, und so kommt es, dass die Nymphe vor dem liebeskranken Apoll die Flucht ergreift und sein Werben erfolglos bleibt. In der Io-Erzählung ist die Konstellation sehr ähnlich, aber das Liebesbegehren des Götterkönigs wird nicht von Amor entfacht, und die Geschichte endet auch ganz anders. Als Io sich dem mit seiner Macht prahlenden Jupiter verweigert und ihm zu entkommen versucht, macht Jupiter kurzen Prozess und vergewaltigt sie. In der Callisto-Erzählung Ovids7 gibt es ebenfalls weder eine Göttin Venus noch einen Gott Amor. Jupiter nimmt, so wie es von der Überlieferung vorge­ of Juno’s vengeance and Jupiter’s rescue« (Wheeler 2000, 83). »Thus Jupiter’s marital infidelity reaches its climax in the rape of Europa« (ibid. 106). Indessen müsste die Reaktion Junos ja darin bestehen, dass sie sich an den von Jupiter gezeugten Söhnen oder an Europa selbst rächt, und das ist nicht ein von Ovid ausgelassenes Handlungselement (so aber Wheeler ibid. 85), sondern ein mit dem Europa-Mythos unvereinbares Konstrukt. 4 [Hom.] h. Ven. 34–41; s. o. S. 15 f. 5 Ov. met. 5, 364–379; s. o. S. 46 f. 6 Apoll und Daphne: Ov. met. 1, 452–567; Jupiter und Io: ibid. 1, 568–600. 7 Jupiter und Callisto: Ov. met. 2, 401–440.

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geben war, die Gestalt der Diana an, aber er versucht nicht einmal, die schüchterne Nymphe zu verführen, sondern er befriedigt seinen Geschlechtstrieb unverzüglich mit Gewalt. Wirklich verstörend ist in beiden Fällen im Kontext der antiken Tradition nicht die Vergewaltigung anstelle einer Verführung, sondern die Brutalität, mit der Jupiter vorgeht. Erst recht aber beleidigt er damit die Göttin Venus, die den Liebenden und nicht den Gewalttätern zugetan ist.8 In der Europa-Geschichte liegen die Dinge kaum anders. Für die hellenistischen Dichter war es selbstverständlich, dass Aphrodite die Liebe des Göttervaters erweckt und die Ereignisse bis zum glücklichen Ende gelenkt hatte. Bei Moschos hatte sie der Europa einen süßen Traum gesandt und in ihr ein unerklärliches Verlangen erweckt, und den Göttervater hatte sie mit ihren unvorhersehbaren Geschossen getroffen. Deshalb war Europa mit ihren Freundinnen zur Blumenwiese gegangen, und deshalb hatte Zeus sich in Stiergestalt dorthin begeben. Auch Horaz gibt am Schluss des Gedichts Venus das Wort, damit sie ihren Triumph verkünden kann. Nichts von all dem gibt es bei Ovid, sondern die Geschichte erscheint wie säkularisiert. Jupiters Liebesbegehren wird nicht motiviert, sondern ist eine gegebene Tatsache, und Europa hat keinen besonderen Anlass, zum Strand zu gehen, sondern sie tut damit nur das, was sie auch sonst zu tun pflegt. Jupiter kennt ihre Gewohnheit, und er trifft die Vorkehrungen, die es ihm ermöglichen, sich dort ihrer zu bemächtigen. Das ist die Konzeption der Erzählung vom Beginn bis zum Schluss: Nicht die Göttin der Liebe, sondern der Liebhaber Jupiter lenkt das Geschehen. Dem entspricht das Bild, das von der Protagonistin gezeichnet wird. Bei Moschos ist die Erzählung vom ersten Vers an beherrscht vom Fühlen und Denken Europas und ihrer eigentümlichen Sehnsucht, und bei Horaz geht es überhaupt nur um Europa, nur um ihr vermeintliches Unglück und wahres Glück: nur sie, nicht Jupiter ist das Thema des Gedichts. Dazu stellt die Erzählung Ovids den Gegenentwurf dar. Hier steht allein Jupiter im Fokus, genauer gesagt: Jupiters Liebeslust. Europa ist nichts als das Objekt seiner Begierde, und von ihren Gefühlen ist, abgesehen von ihrer Furcht vor dem Stier, überhaupt nicht die Rede. Nicht einmal ihr Name wird genannt.9 Und so unbestreitbar richtig es auch ist, dass Ovids Leser ihre Identität auch ohne Namensnennung erschließen konnten,10 so ist die Namenlosigkeit der weiblichen Protagonistin doch ein 8 Belege u., S. 175, Anm. 71. 9 In die Erzählung eingeführt wird sie met. 2, 844 als Königstochter (magni filia regis), und das ist für den Leser im Zusammenhang mit den geographischen Angaben Information genug, ebenso wie die Umschreibung ihres Namens mit dem Patronymikon Agenore nata ibid. 2, 858. Auch bei der Wiederaufnahme der Erzählung in den ersten Versen des dritten Buches wird ihr Name nicht genannt, sondern es heißt nur perquirere raptam (Ov. met. 3,3). 10 Das ist die übliche Erklärung, vgl. z. B. Anderson 1997, 334. Nach Bömer 1969, 432 wäre »hellenistische Technik« der Grund dafür, dass der Namen der Heroine nicht genannt wird.

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Signal. Eine Geliebte eines solchen Jupiter braucht keinen Namen, weil sie als Gegenstand seiner Liebeslust austauschbar ist.11 Die bildenden Künstler der Neuzeit sind Ovid darin nicht gefolgt, ganz im Gegenteil. Sie haben Europa als eine Liebende dargestellt, ja sogar als »die Braut, erfüllt von dem Glück, von einem Gott begehrt zu sein«. Besonders dezidiert hat Paolo Veronese gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts die Entführung Europas durch Jupiter in einer Folge von mehreren Szenen als den Weg einer Braut zur Vermählung wiedergegeben, fort von ihrer eigenen Heimat und hin zu der ihres Bräutigams (Abb. 7). Die Hauptszene ist die festliche Schmückung der auf dem Stier sitzenden Braut durch ihre Gefährtinnen, und zwei Nebenszenen zeigen den Fortgang der Handlung: in der einen wird Europa auf dem Stier von ihren Freundinnen zum Ufer geleitet, und in der anderen ist sie schon allein mit ihrem Entführer auf dem Wasser und nimmt winkend von den zurückwinkenden Abschied.12 Jupiter beschließt also, Europa zu verführen, und als ein in eroticis erfahrener Stratege hat er einen wohlüberlegten Plan, der ihn ans Ziel seiner Wünsche bringen wird. Mit der Inszenierung dieses Plans beginnt die Europa-Erzählung Ovids. Jupiter lässt Merkur zu sich kommen, um seine Dienste in Anspruch zu nehmen: sevocat hunc genitor nec causam fassus amoris ›fide minister‹ ait ›iussorum, nate, meorum, pelle moram solitoque celer delabere cursu, quaeque tuam matrem tellus a parte sinistra suspicit (indigenae Sidonida nomine dicunt), hanc pete quodque procul montano gramine pasci armentum regale vides ad litora verte!‹13

11 Auch Wheeler, 1999, 89 meint, dass die Unterdrückung des Namens thematisch begründet sein könnte, aber in ganz anderer Weise: »Jupiter desires to keep his affair secret from both Mercury and Juno [sic].« 12 Vgl. dazu Mundt 1988a (das Zitat: ibid. 16). Der Hinweis der Autorin, dass bei der Idealisierung der Europa-Erzählung (gegenüber der literarischen Vorlage in Ovids Metamorpho­ sen) auch das Epyllion des Moschos eine Rolle gespielt haben dürfte (ibid. 19), ist zu ergänzen, denn dieselbe Heiterkeit findet sich schon auf den antiken Vasenbildern. Zur Funktion des Veronese-Gemäldes als Hochzeitsbild für den Auftraggeber s. Mundt 1988b, 124–126. Ein eindringliches Beispiel für die entgegengesetzte Deutung ist das 1933 entstandene Aquarell von Max Beckmann, auf dem Europa zur wehrlosen Trophäe des Stiers geworden ist – ein prophetisches Sinnbild für die bevorstehende Unterjochung des nach ihr benannten Erdteils durch das nationalsozialistische Deutschland. 13 Ov. met. 2, 836–842: »Den [sc. Merkur] ruft sein Vater zu sich und sagt, ohne seine Liebe als den Grund dafür erkennen zu geben: ›Mein Sohn, treuer Diener meiner Befehle, säume nicht länger und gleite eilig auf gewohnter Bahn herab; such das Land auf, das von links aus zum Gestirn deiner Mutter emporblickt (die Einheimischen nennen es Sidonis), und treib das Vieh des Königs, das du in der Ferne die Bergweide abgrasen siehst, zur Küste.‹«

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Diese Szene gibt es in keiner anderen Version der Geschichte. Die Grundstruktur  – der Götterkönig ruft den Götterboten herbei, um ihn mit einer wichtigen Aufgabe zu betrauen – entspricht zwar der Konvention des antiken Epos, und der Leser wird sich an die Szene in der Ilias erinnern, in der Zeus seinen Sohn Hermes beauftragt, den König Priamos unbemerkt von den Danaern zum Zelt des Achill zu geleiten.14 Aber dass die Ovidische Szene in ihrer Gestaltung und Intention davon grundverschieden und geradezu eine Kontrafaktur dazu ist, signalisiert schon das erste Wort (sevocat), das uns aus der Welt des Göttermythos in den Bereich der Politik und der politischer Machenschaften versetzt.15 Auch an eine Komödienintrige könnte man denken, wenn Jupiter seinen »treuen Diener« Merkur in dieser Weise beiseite nimmt,16 und zu alldem passt der auf den ersten Blick geradezu rätselhafte Befehl an Merkur: nicht einen König soll er sicher zum Ziel geleiten, sondern er soll eine Rinderherde von den Bergen an die Küste treiben. Aber bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass der Befehl keineswegs mysteriös ist. Merkur ist nämlich für die ihm übertragene Aufgabe geradezu prädestiniert, weil er schon am Tage seiner Geburt seinem Bruder Apollon eine Rinderherde gestohlen und sie dann über weite Strecken vor sich her getrieben hatte. Das war eine Götterburleske, die den Lesern aus dem Hermeshymnus vertraut war, und eben diese Geschichte hat Ovid direkt vor der Szene nacherzählt, in der er Merkur von Jupiter herbeizitieren lässt.17 Der hintergründige Witz, der keinem Leser entgangen sein kann, deutet darauf hin, dass wir auch in der nun folgenden Europa-Erzählung mit burlesken Zügen zu rechnen haben.18 Freilich erfährt Merkur nichts über den Sinn seines Auftrags, auch dies im Gegensatz zu Hermes, der einen Schützling sicher geleiten soll. Das wird aus 14 Hom. Il. 24, 331–338. 15 Das römische Kolorit der Szene ist natürlich längst bemerkt worden. Vgl. z. B. Anderson 1979, 333 zu sevocat: »this verb brings the tone sharply down from that of epic to every­ day politics. Cicero employed it often to describe the machinations of himself and fellow Romans.« Barchiesi 2005, 308: »è un verbo che fa pensare a una macchinazione politica.« Der einzige Beleg in der Dichtung ist Catull. 65, 2, aber dort ist der Politiker Hortensius ange­redet (vgl. Moore-Blunt 1977, 166). 16 Vgl. Landolfi 1994, 504 f. Da die Vasenmaler andere narrative Mittel verwenden als die Dichter, lassen sie Hermes-Merkur auch in mythologischen Erzählungen auftreten, in denen er eigentlich keine Rolle spielt. Ein Beispiel aus dem Europa-Mythos dafür ist der Kelchkrater des Assteas aus Paestum (Abb. 2, LIMC IV, Europe I, Nr. 74), den wir o., S. 66 f. behandelt haben; aber dass Ovid sich dadurch zur Einführung des Merkur in die Europa-Geschichte hätte anregen lassen, ist wohl auszuschließen. 17 Ov. met. 2, 676–707; zu den Abweichungen der Erzählung Ovids vom Homerischen Hermeshymnus s. Bömer 1969, 399. 18 Wheeler 2000, 82 sieht in dem Auftrag an Merkur ein Bindeglied zur Io-Geschichte, weil Merkur dort den Auftrag erhält, Argus zu töten, um die in eine Kuh verwandelte Io zu befreien. Zu den Beziehungen zwischen der Europa- und der Merkur-Herse-Erzählung bei Ovid s. Reeves 2003, 165–167.

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drücklich gleich im ersten Vers hervorgehoben: nec causam fassus amoris. Der Hinweis ist narratologisch relevant, weil der Erzähler seinen Lesern damit ankündigt, dass er die Geschichte von der Entführung Europas grundsätzlich anders erzählen wird als seine Vorgänger. Wenn Jupiter nämlich nicht einmal seinem »treuen Diener« Merkur verraten will, dass Liebe der wahre Grund für den Auftrag ist, dann kann es sich bei dieser Liebe nur um eine der zahlreichen verstohlenen Liebschaften Jupiters, um ein furtum handeln.19 Dazu passt, dass er Merkur energisch zur Eile antreibt, so als ob schon viel zu viel Zeit verloren wäre (pelle moram, celer delabere).20 So spricht nicht der Götterkönig, der seine Braut in seine Heimat entführen will, sondern damit gibt sich der Jupiter Ovids zu erkennen, der seine Lust befriedigen möchte. Freilich drängt sich dem Leser hier die Frage auf, ob der verliebte Gott sich die Durchführung seines Plans wenn er von einer ganzen Rinderherde umgeben ist, nicht unnötig erschwert.21 Nun muss Merkur aber ja auch wissen, wo sich die Rinderherde befindet, die er zur Küste treiben soll. Darüber informiert Jupiter ihn in den folgenden Versen, und nun spricht er nicht mehr wie ein Politiker, sondern wie ein hellenistisch-römischer Dichter, der seine Gelehrsamkeit demonstrieren will. Der mächtige Götterkönig des Epos ist sich nicht zu schade, seine Befehle in den verwickelten Wendungen eines poeta doctus zu geben – auch das ein Vorverweis darauf, was der Leser zu erwarten hat.22 Merkur tut, was man von einem guten Diener erwartet: er gehorcht, ohne Fragen zu stellen. Sobald er die Rinderherde vom Gebirge zum Strand getrieben hat, verschwindet er von der Bildfläche.23 Nur der Leser erfährt (was er eigent 19 Zur Kategorie des furtum s. o., Kap. 1.2. 20 Die Wendung pelle moram (V. 838) ist nicht nur sprachlich ungewöhnlich (dazu­ Bömer 1969, 433), sondern auch der Sache nach, denn sie unterstellt eine Verzögerung bei der Ausführung eines Befehls, der noch gar nicht ausgesprochen ist, und bringt dadurch dessen besondere Dringlichkeit zum Ausdruck. Dieselbe Wendung benutzt Ovids Medea in der Rede, in der sie sich selbst dazu antreibt, nicht länger vor dem Verrat an ihrem Vater und der Hilfe für Jason zurückzuschrecken: quid tuta times? accingere et omnem / pelle moram […] (met. 7, 47 f.: »Warum fürchtest du, was ohne Risiko ist? Rüste dich, und lass alles Zaudern fahren!«). 21 Vgl. Kuhlmann 2012, 485: »[…] the invention is implausible because a herd of cattle on the loose, particularly bulls, would be a mortal danger for a group of young girls like Europa in real life«. 22 Ov. met. 2, 839–842. Die Kommentare haben einige Mühe, die Plausibilität der Beschreibung nachzuweisen, aber auf die Details kommt es eigentlich gar nicht an. Bömer 1969, 434 meint, Ovid habe die »ungewöhnliche geographische Bezeichnung dem Iuppiter auch deshalb in den Mund gelegt, um in der Manier eines poeta doctus die Verbindung MercuriusMaia auszudrücken.« Aber damit ist ja nicht erklärt, warum Ovid in den Metamor­phosen ausgerechnet Jupiter wie einen poeta doctus reden lässt. Vgl. auch Solodow 1988, 98. 23 Schiller hat in sein Semele-Drama, obwohl er der Darstellung Ovids folgt, zusätzlich zu den drei Protagonisten Semele, Jupiter und Juno die Figur des Merkur eingefügt. Diese Idee geht, wiewohl Merkur dort naturgemäß ganz andere Aufgaben zu erfüllen hat, offensichtlich auf Ovids Europa-Erzählung zurück.

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lich schon weiß), dass das der Ort ist, an dem Europa sich zusammen mit anderen jungen Mädchen zu vergnügen pflegt,24 und er muss annehmen, dass nun die eigentliche Geschichte beginnt, die er bisher nur ohne Rinderherde kennt. Aber so weit ist es immer noch nicht, denn der Erzähler hält er erst einmal inne, um das, was er erzählen wird, im voraus zu reflektieren und zu kommentieren: non bene conveniunt nec in una sede morantur maiestas et amor: sceptri gravitate relicta ille pater rectorque deum, cui dextra trisulcis ignibus armata est, qui nutu concutit orbem, induitur faciem tauri mixtusque iuvencis mugit et in teneris formosus obambulat herbis.25

Wenn ein Erzähler, selten genug, seine eigene Erzählung kommentiert, dann dient das der Leserlenkung, und die eineinhalb Verse non bene conveniunt nec in una sede morantur / maiestas et amor sind, auch dank ihrer herausgehobenen Stellung als Titelverse, eine besonders nachdrückliche Leserlenkung.26 Sie sind formuliert wie eine allgemeingültige Sentenz und wirken prima vista wie ein­ locus communis über die Unvereinbarkeit von Hoheit und Liebe. Aber der erste Eindruck täuscht auch diesmal und wird sogleich durch den Kontext korrigiert. Nicht die Hoheit schlechthin ist gemeint und auch nicht die Liebe schlechthin, so grundsätzlich ist der Erzähler nicht,27 sondern er kommentiert die Selbstverwandlung und das Gebaren des Iupiter amans in der Europa-Geschichte, und zwar nach dem Maßstab der Darstellung, die er selbst gleich im Anschluss daran geben wird. Die Verse sind ein Lehrstück der Narratologie, und um das 24 Ov. met. 2, 843–845: dixit, et expulsi iamdudum monte iuvenci / litora iussa petunt, ubi magni filia regis / ludere virginibus Tyriis comitata solebat. (»Er sagte es, und schon waren die Jungstiere vom Berge vertrieben und zogen wie befohlen zur Küste, wo sich die Tochter des großen Königs mit den Mädchen aus Tyros zu vergnügen pflegte«). Dass Merkur sich tatsächlich außerordentlich beeilt, zeigt die knappe Diktion zu Beginn: dixit, et iamdudum […]. 25 Ov. met. 2, 846–851: »Schlecht nur passen zusammen und bleiben auch nicht beiein­ ander / Hoheit und Liebe: Er legt sein erhabenes Zepter beiseite, / er, der Götter Vater und Herr, dessen Hand mit dem dreifachen / Blitzstrahl bewehrt ist und dessen Nicken den Erdkreis erschüttert, / nimmt eines Stieres Gestalt an, und mitten unter den Rindern / muht er, und wohlgestaltet stolziert er auf zarten Gräsern.« 26 Dass es sich bei den Versen um eine Kommentierung und nicht um einen Bestandteil der Erzählung handelt, scheint mir unabweisbar; anders z. B. Moore-Blunt 1977, 167 und Anderson 1997, 334, der meint: »Ovid wittily sets up an ethical dilemma for Jupiter, which the god will solve in his own predictable manner, as he did those involving Io in 1, 617 ff. [… ].« Aber in der Io-Erzählung gibt der Erzähler die Überlegungen Jupiters in einer Entscheidungssituation wieder, ohne selbst Stellung zu nehmen (dazu Heldmann 2014, 338–341), hier ist es gerade umgekehrt. 27 Erst sehr viel später hat sich das Begriffspaar in diesem Sinne verselbständigt; Belege aus den lateinischen Sprichwörtern und Sentenzen des Mittelalters zitiert Moore-Blunt 1977, 167.

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zu würdigen, benutzt man am besten als Folie die entsprechende Perikope in der Europa des Moschos. Der Abschnitt der Erzählung, der in dem hellenistischen Epyllion der Entführung vorausgeht, ist dreifach gegliedert: zuerst die Selbstverwandlung des Zeus (V. 79), dann die Beschreibung des Stiers (V. 80–88) und erst danach das Erscheinen auf der Wiese und die Wirkung auf die Mädchen (V. 89–107). Die ersten beiden Worte der Perikope, κρύψε θεόν,28 geben das Leitmotiv für die Beschreibung des Stiers an, die sich unmittelbar anschließt: Zeus verbarg seine Göttlichkeit, als er sich in einen Stier verwandelte, aber er gab sie nicht preis.29 Seinen konkreten Ausdruck findet das darin, dass dieser Stier vollkommen anders war als jeder wirkliche Stier (V. 80–88), und daraus wiederum erklärt sich die im dritten Teil geschilderte faszinierende Wirkung, die der Zeus-Stier sofort bei seinem Erscheinen auf alle Mädchen und insbesondere auf Europa ausübt, bis hin zur Musikalität seiner Stimme. Dass der Zeus-Stier nicht nur visuell, sondern auch akustisch als Stier wahrnehmbar sein müsste, ist eine für die hellenistische Dichtung typische Idee. Die Gefahr der unfreiwilligen Komik, die hier besonders groß war, hat Moschos dadurch gemeistert, dass er den Zeus-Stier erst ganz zum Schluss der Szene seine Stimme ertönen lässt, und zwar als letztes Zeichen dafür, dass er eben kein gewöhnlicher Stier ist: Er antwortet auf Europas zärtliche Zuwendung wie mit Flötentönen,30 so dass sie sich nun endgültig dessen gewiss ist, dass sie diesem Stier ganz unbesorgt vertrauen kann. Die humoristischen Untertöne in der Schilderung sind unverkennbar, aber sie wirkt nicht lächerlich. Ovid hat die Intention radikal ins Gegenteil verkehrt, und er hat das von Anfang an fast überdeutlich gemacht. Wenn sein Jupiter die Gestalt eines Stiers annimmt (induitur faciem tauri), dann nicht, um zu verbergen, dass er ein Gott ist, sondern indem er sich in einen Stier verwandelt, entledigt er sich seiner Göttlichkeit (V. 847b–849). Mit dem Begriff maiestas, so stellt sich nun heraus, ist die ehrfurchtgebietende Würde des Götterkönigs im antiken Epos gemeint,31 die in seinem Zepter und seinem Blitzebündel sinnfällig zum Ausdruck kommt, 28 Mosch. Eur. 79: κρύψε θεὸν καὶ τρέψε δέμας καὶ γίνετο ταῦρος (»er verbarg den Gott, verwandelte seine Gestalt und wurde ein Stier«). 29 Expliziert wird das auch in den Schlussversen, in denen Zeus seine wahre Identität offenbart: Als der Gott Zeus könne er jede beliebige Gestalt annehmen, und auch jetzt sehe er nur aus der Nähe wie ein Stier aus (Mosch. Eur. 155–158; zitiert o., S. 102). 30 Der süße Klang des Muhens gehört seit der hellenistischen Dichtung zum Grundbestand der Erzählung; vgl. Luc. dial. mar. 15,2 (ἐμυκᾶτο ἥδιστον) und Nonn. Dion. 1, 47 (ἱμερόεν μύκημα νόθῳ μυκήσατο λαιμῷ). 31 Dass »Ovids Mythenerzählung in der Tradition des epischen Erzählens gelesen werden muss«, betont zu Recht Graf 1994, 25. Bömer 1969, 435 widerspricht dem Bezug von ­maiestas auf Jupiter im Thesaurus (TLL VIII 153, 14) zu Unrecht, denn dass solche Begriffspaare idiomatisch sind, schließt ihre Individualisierung durch einen konkreten Bezug in ihrem jeweiligen Kontext nicht aus.

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vorzüglich jedoch die einzigartige Gebärde, mit der er das Weltall zum Beben bringt.32 Darauf verweist unmissverständlich die Formelsprache, derer Ovid sich bedient und durch die er das Bild des großen Götterkönigs heraufbeschwört, das dem Leser aus Homer, aber auch aus Ennius und Vergil vertraut war. Dieser pater rectorque deum stolziert in Gestalt eines Stiers muhend inmitten einer Rinderherde auf der Wiese herum.33 Besser könnte man nicht vorführen, was daraus wird, wenn der Göttervater sich von seiner Liebeslust beherrschen und erniedrigen lässt.34 Damit wird aber auch klar, was den Erzähler auf die bizarre Idee gebracht hat, Jupiter nicht allein, sondern inmitten einer ganzen Rinderherde in Stiergestalt auftreten zu lassen. Die Erfindung ist schon für sich genommen boshaft genug, entfaltet ihre ganze Wirkung aber erst dadurch, dass Ovid zugleich die Reihenfolge der Erzählmotive umgekehrt hat. Moschos beginnt damit, dass Zeus seine Göttlichkeit nur verborgen und trotz seiner Verwandlung ganz anders ausgesehen habe als ein wirklicher Stier; erst danach schildert er die Epiphanie des Zeus-Stiers auf der Blumenwiese und seine faszinierende Wirkung auf die Mädchen, bis hin zu dem wundervollen Klang seiner Stimme. Ovid dagegen beginnt mit einer Szene, in der Jupiter als Stier unter Rindern muht wie unter seinesgleichen – eine wahrhaft animalische Epiphanie,35 mit der der Erzähler seine Deutung der Geschichte vorwegnimmt, bevor er sie überhaupt zu erzählen begonnen hat.36 Damit hat die Rinderherde ihren Zweck erfüllt, und da sie den Fortgang der Handlung empfindlich stören würde, ist sie nun mit 32 Belegstellen in den Kommentaren, z. B. bei Moore-Blunt 1977, 168. Vgl. auch Landolfi 1994, 501. 33 Vgl. Anderson 1997, 335: »the animal bellowing further conveys the god’s degradation.« Illustrative Belege bei Moore-Blunt 1977, 168. 34 Anders Kuhlmann 2012, 485. Er geht zwar zu Recht davon aus, dass es sich bei den Worten non bene conveniunt nec in una sede morantur / maiestas et amor um einen Erzählerkommentar (und nicht um die Wiedergabe von Überlegungen des Protagonisten Jupiter) handelt, meint aber, der Erzähler wolle damit eine neue Erklärung des für die Verwandlung maßgeblichen Motivs geben, nämlich nicht Täuschung und List, sondern die Befürchtung des Göttervaters, dass er in seiner wahren Gestalt (maiestas) keine Chance bei Europa hätte: »the narrator obviously wants to explain why Jupiter has turned himself into a bull and does not approach Europa as the father of gods.« Freilich sei diese neue Interpretation des Erzählers sinnlos, denn noch grotesker als die Liebe eines majestätischen Gottes sei die Liebe eines (ebenfalls majestätischen) Stiers zu einer jungen Frau. 35 Dazu passt auch formosus obambulat. Vgl. Moore-Blunt 1977, 168 f.: »This use of for­ mosus to describe animals is technical: […]« (mit Belegen; aber das Wort ist natürlich auch als Attribut für schöne junge Männer und Mädchen in der Liebeselegie geläufig: Reeves 2003, 178 f.); obambulare ist unpoetisch: Moore-Blunt ibid. 169. 36 Genau die entgegengesetzte Interpretation bei Heinze 1919, 58, Anm. 1 (= 1960, 351, Anm. 79): »Sehr mit Bedacht […] hat Ovid den Zeusstier sich unter die königliche Herde mischen lassen, die er an den Strand treiben läßt; und dann wartet er artig, bis Europa sich das Herz faßt, an ihn heranzugehen.« Bei Moschos sei Zeus im Vergleich dazu »ein recht täppischer zudringlicher Liebhaber, wird Ovid gedacht haben.«

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einem Mal verschwunden, so als ob es sie nie gegeben hätte. Erst die bildenden Künstler der Neuzeit, die ihren Ovid genau gelesen hatten, haben sie zurückgeholt und ihr eine neue Aufgabe gegeben. Die Rinder beleben nun das bukolische Idyll, in dem diese Europa zu Hause ist, und deshalb sind auf der Wiese nicht nur Rinder zu sehen, sondern auch deren Hirte Merkur findet dort seinen Platz und darf auf der Panflöte musizieren.37 Die Liebe als Motiv für die Selbstverwandlung und damit zugleich für die beschämende Selbsterniedrigung eines Gottes  – das ist ein geläufiges Thema der Philosophen,38 aber es ist nicht das Thema Ovids. Nicht um ein grundsätzliches Anliegen geht es hier, sondern um die Destruktion des überlieferten Mythos, in dem der Göttervater in Liebe zu Europa entbrennt und sie in seine Heimat entführt, um sich dort mit ihr zu vermählen. Auch die Beschreibung des Stiers ist bei Ovid ganz anders konzipiert als bei Moschos. Wir haben gesehen, dass in dem hellenistischen Epyllion alles darauf angelegt ist, die Vorstellung von einem gewöhnlichen Stier gar nicht erst aufkommen zu lassen. Abgesehen von seiner Farbe erfährt der Leser nichts darüber, wie er aussah, aber um so mehr darüber, welch faszinierende Wirkung er auf Europa und ihre Freundinnen ausübte. Bei Ovid ist der Stier zwar schön (formosus), aber er hat – das ist die zwingende Konsequenz aus den vorhergehenden Versen – nichts Wunderbares. Sein Fell ist makellos weiß wie eine unberührte Schneedecke, aber anders als bei Moschos ist die Farbe nicht die einzige konkrete Information über das Aussehen des Stiers,39 sondern es folgen noch anschauliche Details über den Hals, die Muskeln und die Wamme, die ebensogut in einem zoologischen Handbuch stehen könnten. Den Abschluss bilden zwei Verse über die Hörner: Sie waren klein, aber so schön, als wären sie von einem Künstler geschaffen worden.40 Da es zu den unveränderlichen Zügen des Mythos gehörte, dass Europa sich freiwillig auf den Stier setzte, musste er einen sanftmütigen Eindruck machen. So ist es auch bei Ovid, aber das ist abgesehen von seiner Schönheit auch das einzige Besondere an ihm. Europa gerät darüber ins Staunen, doch der Gedanke, dass er ein wunderbares Wesen sein könnte, beinahe so etwas wie ein Mensch, liegt hier ganz fern: 37 Einige Darstellungen bei Mundt 1988a, 17 und Mundt 1988b, 112, 116, 117 u. ö. Die meisten Künstler haben sich mit zwei oder drei Tieren begnügt, dafür aber gelegentlich noch Schafe oder Ziegen hinzugefügt; ein regelrechtes Gedränge von Rindern herrscht dagegen auf dem nach einer Vorlage von Raffael 1546 geschaffenen Kupferstich von G. Bonasone (1546; Mundt 1988b, 116). 38 Eine ganze Beispielreihe findet sich in einem Chorlied Senecas; dazu s. o., S. 25 f. 39 In der Vulgata war der Stier wie bei Ovid weiß, goldbraun ist er nur bei Moschos; auf zahlreichen Vasenbildern ist er schwarz. 40 Die Farbe wird met. 2, 852 f. beschrieben, die Wamme 854, die Hörner 855 f.; der Vergleich mit einem Kunstwerk ist topisch und in der Forschung oft erörtert worden.

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        miratur Agenore nata, quod tam formosus, quod proelia nulla minetur;41

Trotz seiner offensichtlichen Friedfertigkeit fürchtet Europa sich vor dem Stier. Sie will ihn zunächst nicht einmal berühren: metuit contingere primo (V. 860).42 Eine ungewöhnliche Reaktion ist das zwar nicht, aber der Kontrast zu der entsprechenden Situation bei Moschos ist doch bemerkenswert. Dort spiegelt sich die Furchtlosigkeit Europas und ihrer Freundinnen, wie wir gesehen haben, darin wider, dass sie gleich bei seinem Erscheinen von dem Verlangen ergriffen werden, ihn zu berühren.43 Aber schließlich wagt auch Ovids Europa sich doch näher heran und streckt ihm Blumen entgegen – sie gibt ihm also etwas zu fressen: mox adit et flores ad candida porrigit ora. gaudet amans et, dum veniat sperata voluptas, oscula dat manibus; vix iam, vix cetera differt! 44

Die Szene erinnert bis in die Formulierungen hinein an die Begegnung der in eine Kuh verwandelten Io mit ihrem Vater Inachus, wie Ovid sie im ersten Buch der Metamorphosen geschildert hat: Auch Inachus streckt der unerkannten Kuh Gräser entgegen (porrexerat herbas), und die unglückliche Io küsst ihm daraufhin seine Hände (patriisque dat oscula palmis).45 Der Erzähler zitiert sich selbst, freilich mit sarkastischem Witz, denn gegenüber dem Prätext ist alles ins Gegenteil verkehrt. Der Jupiter-Stier freut sich über die Geste, weil er sich nun des Erfolgs seiner ›Werbung‹ sicher ist: Der Begriff voluptas steht für die Freuden im erotischsexuellen Bereich,46 bedeutet also Liebeslust, und in seiner Vorfreude darauf 41 Ov. met. 2, 858 f.: »Da staunt die Tochter Agenors, dass er so schön ist, dass er gar nicht mit Angriff droht.« Für die Schönheit wird erneut, wie schon in V. 851, das für schöne Tiere spezifische Wort formosus verwendet. 42 Ganz anders Stirrup 1977, 174. Sie schließt aus den Versen 858–860 »Europa […] falls in love with the bull [sic!] because of his beauty and gentleness, and after initial timidity proceeds to woo [sic!] him.« 43 Mosch. Eur. 89–91: οὐκ ἐφόβησε φαανθεὶς / παρθενικάς, πάσῃσι δ’ ἔρως γένετ’ ἐγγὺς ἱκέσθαι / ψαῦσαί θ’ἱμερτοῖο βοός; in V.95 heißt es, dass Europa den Stier ringsum betastet. 44 Ov. met. 2, 861–863: »Dann kommt sie näher, streckt Blumen zum weißen Maul ihm entgegen./ Froh macht’s den Liebenden, und die erhofften Wonnen erwartend /küsst er die Hände; er kann kaum, kann kaum noch das Weitre verschieben.« 45 Ov. met. 1, 645 f. (vgl. dazu Landolfi 1994, 515). Europa streckt dem Stier zwar Blumen statt Gräsern entgegen (met. 2, 861), aber wenn es ausdrücklich heißt »zum Maul hin« (ad ora), dann spricht das klar gegen die übliche Auffassung, dass sie ihn damit schmücken wollte. Eine Europa, die dem Stier auf der Fahrt über das Meer etwas aus ihrem Blumenkorb zu fressen gibt, ist auf einem um 400 n. Chr. entstandenen Mosaik in Djemila/ Algerien (LIMC IV, Europe I, Nr. 164) dargestellt. 46 Näheres (mit Belegen) bei Moore-Blunt 1977, 171 und Anderson 1997, 336.

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›küsst‹ der Gott Europas Hände – im Gegensatz zum Epyllion des Moschos, in dem es Europa ist, die den Stier küsst.47 Freilich tut sie das ganz unschuldig und naiv, während der stiergestaltige Jupiter bei seinen Küssen bereits an den Geschlechtsverkehr (cetera) denkt, den er kaum noch erwarten kann.48 Hier wird erneut klipp und klar ausgesprochen, was den Iupiter amans in Ovids EuropaGeschichte auszeichnet, nämlich seine Lüsternheit.49 Um so mehr sollte man sich deshalb darüber wundern, dass Jupiter »das­ Übrige« verschiebt. Schließlich pflegt er sonst nicht so viel Geduld aufzubringen  – schon gar nicht bei Ovid. Aber auch bei anderen Erzählern treibt der Götter­könig niemals viel Aufwand, wenn es ihm darum geht, eine Liebesleidenschaft zu befriedigen. Warum also macht er sich überhaupt die Mühe, als Stier mit der begehrten Frau auf dem Rücken durchs Meer bis nach Kreta zu schwimmen, um dort das zu tun, was er auch an Ort und Stelle tun könnte? Der einzige Grund dafür ist die Überlieferung, durch die nun einmal festgelegt war, dass Zeus Europa in seine Heimat Kreta gebracht hatte, um sich dort mit ihr zu vermählen. Oder anders und aus der Perspektive des MetamorphosenErzählers gesagt: Ein Iupiter amans, dem es immer nur darum geht, seinen Geschlechtstrieb zu befriedigen, dem kann es auch bei Europa nicht darum gegangen sein, sie zu seiner Gattin zu erheben, sondern das wahre Motiv für die Entführung in seine Heimat muss seine Lüsternheit und sein Sexualtrieb gewesen sein. Nachdem Europa also ihre erste Furcht vor dem Stier überwunden hat, muss er sie nur noch dazu bringen, dass sie sich auch auf seinen Rücken setzt. Um das zu erreichen, führt er ein sonderbares Schauspiel auf: et nunc adludit viridique exsultat in herba, nunc latus in fulvis niveum deponit harenis50

Quicklebendig wird er nun angesichts der bevorstehenden Freuden. Mal springt er auf der Wiese herum wie ein ungebärdiges Kalb, mal legt er seinen »weißen Leib«51 auf dem Küstensand nieder. Hier wird dem Leser nach allen Regeln der Kunst vorgeführt, wie es aussieht, wenn der Göttervater sich von seinem maß-

47 Mosch. Eur. 96. 48 Mit dem Begriff cetera (V. 863) wird auch sonst gern der Beischlaf umschrieben; dazu Bömer 1969, 438 und ibid. 439 der Hinweis, dass auch differre in den erotischen Bereich gehört; vgl. auch Moore-Blunt 1977, 171; und Anderson 1997, 336. 49 Auf diese vor allem im Kontrast zu Moschos auffällige Besonderheit hat schon Bühler 1960, 169 und 1968, 27 hingewiesen. 50 Ov. met. 2, 864 f.: »Mal kommt er spielerisch heran und springt auf dem grünen Gras herum, mal legt er seine schneeweiße Flanke in den gelben Sand.« 51 Bei Horaz ist es Europa, von deren niveum latus gesprochen wird (Hor. c. 3, 27, 25 f.); das »Zitat« aus dem Prätext verweist auf den konzeptionellen Gegensatz.

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losen Liebesverlangen dazu verleiten lässt, seine göttliche Würde, seine maiestas und seine gravitas, preiszugeben. Damit aber noch nicht genug: paulatimque metu dempto modo pectora praebet virginea plaudenda manu, modo cornua sertis inpedienda novis.52

Auch hier erschließt sich die ungleiche Rollenverteilung am besten durch den Kontrast zum Verhalten Europas im Epyllion des Moschos. Dort sucht Europa von sich aus den Körperkontakt, weil sie so fasziniert ist von dem Stier,53 in Ovids Erzählung kommt das Wenige, das Europa tut, nur durch die Initiative des Stiers zustande. Er streckt ihr seine Brust hin, damit sie sie tätschelt, und sogar auf die Idee, ihm die Hörner mit Kränzen zu umwinden, kommt sie erst, als er sie ihr hinhält. Kurz gesagt: Während Europa bei Moschos von Anfang an als eine unbewusst Liebende erscheint, die von Aphrodite geleitet wird, bleibt sie bei Ovid sehr zurückhaltend, und wenn sie doch etwas tut, dann nicht von sich aus, sondern von Jupiter geleitet. Aber warum setzt Europa sich eigentlich auf den Rücken des Stiers? Bei­ Moschos tut sie es, weil sie von einer unerklärlichen Sehnsucht ergriffen worden ist und weil er, wie sie sagt, einen rechtschaffenen Sinn habe und fast so etwas wie ein Mensch sei. Auch bei Horaz hat sie sich, so viel ist aus ihrem großen Monolog zu entnehmen, intuitiv zu ihm hingezogen gefühlt.54 In Ovids Version der Erzählung gibt es nichts von alldem, und das Geschehen ist auf die nackte Logik einer Entführungsstrategie reduziert. Jupiter will eine begehrte Frau zu etwas animieren, wozu sie von sich aus keine Neigung verspürt, und deshalb versucht er, wenigstens ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen und ihr nach und nach ihre Furcht zu nehmen, damit er sie über das Meer davontragen und »das Übrige« (cetera) tun kann:       ausa est quoque regia virgo nescia, quem premeret, tergo considere tauri, cum deus a terra siccoque a litore sensim falsa pedum primis vestigia ponit in undis.55

52 Ov. met. 2, 866–868: »Und als ihre Furcht sich allmählich verliert, bietet er ihr bald seine Brust dar, sie mit jungfräulicher Hand zu tätscheln, bald die Hörner, sie mit frischen Girlanden zu umwinden.« 53 Mosch. Eur. 95: »Sie betastet ihn, wischt den vielen Schaum von seinem Maul ab und küsst ihn.« 54 Mosch. Eur. 102–107; Hor. c. 3, 27, 47. 55 Ov. met. 2, 868–871: »Es wagt die königliche Jungfrau sogar, ohne zu wissen, wen sie unter sich haben würde, sich auf den Rücken des Stiers zu setzen, als der Gott allmählich vom Land und dem trockenen Ufer hinweg seine trügerischen Fußspuren in die äußersten Wellen setzt.«

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»Sie wagt es sogar« – das klingt wie eine Mutprobe, aber darum scheint es dem Erzähler gar nicht so sehr zu gehen, denn er fährt fort: nescia, quem premeret. Erst danach wird der Hauptsatz mit tergo considere tauri vervollständigt. Das Nichtwissen Europas ist eine unabdingbare Voraussetzung für den Fortgang der Handlung und brauchte eigentlich nicht hervorgehoben werden. Bei Moschos ist dieses Nichtwissen jedoch mit dem Ahnen des Richtigen verwoben, und daraus ergibt sich der Spannungsbogen der Erzählung. Ähnlich ist es bei Horaz. Ganz anders bei Ovid. Hier ist Europa nicht nur unwissend, sondern auch völlig ahnungslos, und der besondere Reiz ihrer Ahnungslosigkeit offenbart sich in der Ambiguität des indirekten Fragesatzes (quem premeret). Europa weiß nicht, dass der, auf dem sie sitzt (quem), kein wirklicher Stier, sondern Jupiter ist (das ist ihr Nichtwissen aus intradiegetischer Perspektive), aber vor allem weiß sie nicht (das ist ihr Nichtwissen aus heterodiegetischer Perspektive), dass dieser Jupiter ein von seinem Geschlechtstrieb beherrschter Gott ist, der sie entführen will, um seine Liebesleidenschaft zu befriedigen. In dem Augenblick, in dem Europa, ohne zu wissen, was sie damit tut, sich auf den Stier zu setzen wagt, ist Jupiter am Ziel. In der Wortwahl wird das dadurch abgebildet, dass es der Stier ist, auf dessen Rücken sie sitzt, aber der Gott, der sie vom Ufer zum Meer hin trägt (tergo tauri V. 871, deus V. 872). Die Europa-Erzählung in Ovids Metamorphosen endet mit der Beschreibung eines Bildes, auf dem wir den Entführer und die Entführte auf hoher See er­ blicken. Ob hier ein von einem Maler geschaffenes oder ein imaginiertes Bild beschrieben wird,56 können wir offenlassen, denn nicht auf das Sujet als solches, sondern auf dessen Deutung durch den Erzähler kommt es an: inde abit ulterius mediique per aequora ponti fert praedam. pavet haec litusque ablata relictum respicit et dextra cornum tenet, altera dorso inposita est. tremulae sinuantur flamine vestes.57

Die entführte Frau als Beute eines lüsternen Gottes: Das ist exakt das Gegenteil von einem Brautraub, bei dem der künftige Gatte eine Frau zur Vermählung in seine Heimat entführt. Nachdrücklich betont wird das durch die Formulierung fert praedam, denn damit wird die Vorstellung einer Frau evoziert, die in einem Krieg zur Beute des Siegers geworden ist.58 Das verweist zurück auf die­

56 Dazu z. B. Bühler 1960, 165 ff. 57 Ov. met. 2, 872–875: »Dann geht er weiter, und mitten durch die Meeresfläche trägt er seine Beute. Die ängstigt sich und blickt, entführt, zu der von ihr zurückgelassenen Küste zurück und hält sich mit der rechten Hand an einem Horn fest, die andere ist auf seinen Rücken gestützt. Flatternd bauscht ihr Gewand sich im Winde.« 58 Dazu s. o. Kap.  2.1. Moore-Blunt 1977, 173 zitiert ad loc. Ov. a.a. 1, 125 (ducuntur raptae, genialis praeda, puellae), aber das ist gerade keine Parallele, denn der Vers steht in

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Callisto-Erzählung Ovids, in der Jupiter die Vergewaltigte »als Sieger« verlässt, um zum hohen Äther zurückzukehren.59 Durch ihre Entführung gerät Europa erneut in Furcht (pavet), und in der Juxtaposition von praedam und pavet spiegelt sich wider, dass es im Gegensatz zu anderen Darstellungen nicht nur das Meer ist, vor dem sie Angst hat.60 Das Bild von der Meerfahrt Europas war in der Antike bei den Malern und wohl auch bei den Dichtern ein besonders beliebtes Motiv,61 und auch in der Malerei der Neuzeit ist die Szene, in der Europa sich als geschmückte Braut von ihren Freundinnen das Geleit geben lässt, unzählige Male dargestellt worden.62 Von diesem Bildtypus unterscheidet sich die Schilderung in Ovids Metamor­ phosen sehr deutlich. Alle literarischen Darstellungen (aus der Zeit vor Ovid kennen wir nur die des Moschos63) und die meisten Vasenbilder64 stimmen darin überein, dass Europa sich mit einer Hand am Horn des Stiers (oder an seiner Mähne) festhält. Daher geht es den Kommentatoren bei der Debatte über die ikonographischen Unterschiede immer nur um die Frage, ob das die rechte oder die linke ist und (das vor allem) was sie mit der anderen Hand tut: ob sie ihr Gewand hochzieht, damit es nicht nass wird, oder es festhält, um es aus Keuschheit gegen den Wind zu sichern. In der Metamorphosen-Erzählung dagegen hat Europa gar

der Geschichte vom Raub der Sabinerinnen, die auch in der frivolen Version des Liebeslehrers ein Raub zwecks Eheschließung, also eine Brautraub-Erzählung ist. Deshalb werden die puellae nicht einfach als praeda, sondern als genialis praeda bezeichnet (ibid. 114 praeda ohne Attribut, aber durch den Kontext auf dieselbe Bedeutung festgelegt). In der erotischen Dichtung ist der Begriff jedoch auch ohne erklärendes Attribut keineswegs a priori negativ konnotiert, sondern wird immer dann verwendet, wenn jemand zur Beute des Liebesgottes wird, und kann sich deshalb ebensogut auf einen Mann wie auf eine Frau beziehen (so z. B. Ov. am. 1, 2, 19 und a.a. 3, 84). Anders, aber kaum richtig Anderson 1997, 336 f. 59 Ov. met. 2, 437 f.: superum petit aethera victor / Iuppiter. 60 Anderson 1997, 337: »ablata: follows up fert. Passive implies her role as victim.« 61 Beide Darstellungsformen konvergieren in der ›Erzählung‹ des Achilleus Tatios (Ach. Tat. 1, 1), bei der es sich aber ja um nichts anderes als um eine Bildbeschreibung handelt; dazu Jahn 1870, 6.  62 Danach folgt im Zyklus der bildlichen Darstellungen der Hochzeitsthiasos, der aber mit Ovids Konzeption ohnehin nicht vereinbar gewesen wäre. 63 Bei Moschos ist die Szene Europa auf dem Stier in die Schilderung des Hochzeitsthiasos integriert, d. h. sie befindet sich bereits auf hoher See (V. 125–129). Ausführlich dazu und zu der Bildtradition Bühler 1960, 165 ff. 64 Die archäologischen Denkmäler bieten eine größere Vielfalt, aber die Vasenmaler halten sich ja auch sonst nicht immer an die literarische Überlieferung und nehmen sich größere Freiheiten; ein gutes Beispiel dafür ist das Vasenbild auf der apulischen Amphora (LIMC IV, Europe I, Nr. 7), auf dem sich Europa und ihre Freundinnen die Zeit mit dem Ballspiel statt mit Blumenpflücken vertreiben, was literarisch für diesen Mythos nicht belegt und dennoch sehr gut begründet ist (Abb. 3; s. o., S. 68).

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keine Hand frei,65 weil sie sich aus lauter Furcht mit beiden Händen am Stier festklammert.66 Damit konvergiert die Beschreibung des Gewands. Bei Moschos ist es weit und wird deshalb vom Winde wie ein Segel gebauscht. Vom Winde gebauscht wird es auch in den Metamorphosen, aber hier ist nicht von einem weiten Gewand die Rede, sondern es heißt tremulae vestes. Das ist der Sache nach zwar ungefähr das Gleiche, aber die Wortwahl ist sehr ungewöhnlich, denn mit dem Begriff tremulae wird im normalen Sprachgebrauch kein Flattern, sondern ein Zittern beschrieben, so wie zitternde Hände (tremulae manus) zu den Symptomen gehören, an denen man erkennt, dass jemand Angst hat.67 Nimmt man alles zusammen, dann wird man sagen müssen, dass Ovid hier ein Gegenmodell zu dem konventionellen Bildtypus Europa auf dem Stier geschaffen hat, der durch seine »lieblichen Züge« berühmt geworden ist,68 ein Gegenmodell aber auch zu seiner eigenen Darstellung in den Fasti, in der wir Europa in Anmut und Schönheit auf dem Meere davonfahren sehen:69 In den Metamorphosen sitzt eine Europa auf dem stiergestaltigen Jupiter, die offensichtlich keinerlei Grund zu Freude und Zuversicht hat. Genau an dieser Stelle aber bricht der Erzähler seine Schilderung ab, und damit endet auch das zweite

65 Auch in Ovids Fasti hält sie sich nur mit einer Hand fest (an der Mähne des Stiers) und hat die andere frei, um ihr Gewand zurückzuziehen (f. 5, 607). Bühler 1960, 167 ff. hat die unterschiedlichen Möglichkeiten Europas, »die einzige freie Hand« so oder so für ihr Gewand zu benutzen, ausführlich erörtert, wobei ihm der besondere Fall, dass sie beide Hände braucht, um sich festzuhalten, entgangen ist. 66 Schon im 6. Jh. v. Chr. wird Europa auf dem Stier hin und wieder ganz freihändig dargestellt (LIMC IV, Europe I, Nr. 27 und 29; dazu Blüher 1968, 52). Beliebter ist freilich der Bildtypus, bei dem sie sich mit einer Hand am Horn (oder an der Mähne) festhält, während die andere auf den Rücken gestützt ist (ibid. Nr. 42, 45, 46, 47, 52 und 55, alle 5. Jh. v. Chr.; so aber auch schon die Metope aus Selinunt aus dem 6. Jh., ibid. Nr. 78); zum Typus s. auch Jahn 1870, 15). Zum Bildtypus, bei dem die freie Hand das Gewand hält, s. Jahn 1870, S. 15 ff.; Beispiele dafür: LIMC ibid. Nr.  24 und 56. Auf dem berühmten Vasenbild aus Tarquinia (ibid. Nr. 2, um 480 v. Chr.) sitzt Europa nicht auf dem Stier, sondern läuft neben ihm her und hält sich mit der linken Hand an seinem Horn fest, während der rechte Arm nach hinten gestreckt ist. Hierher gehört auch das weißgrundige Rundbild in der Münchner Antikensammlung (Abb. 4, LIMC ibid. Nr. 44; s. o., S. 70). 67 Bömer 1969, 441: »tremulus verwendet Ovid in dieser Weise anderweitig nicht; üblich sind Verbindungen wie tremulae manus«. 68 Für Bühler 1960, 169 ist das Anheben des Gewandes (Mosch. Eur. 127) ein besonders lieblicher Zug, dessen Motivgeschichte er ausführlich darlegt. Bömer 1969, 441 hat die Charakterisierung pauschal und ohne die Divergenzen zu beachten auf die Darstellung in den Metamorphosen übertragen. Anderson 1997, 337 hebt dagegen zu Recht hervor: »Ovid seems to emphasize the insecurity of the girl by having her cling to the animal, grasping his horn with her right hand and balancing herself with her left«. 69 Ov. f. 5, 607–612. Dort fürchtet Europa sich vor dem Meer, und das macht sie erotisch besonders attraktiv, aber vor ihrem Entführer scheint sie sich nicht zu ängstigen.

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Buch der Metamorphosen. Wir werden sehen, wie er den Erzählfaden zu Beginn des dritten Buches wieder aufnimmt. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass die Geschichte, so wie sie hier wiedergegeben wird, alle Kriterien erfüllt, um typologisch zu den furta Iovis gezählt zu werden.70 Ebenso gewiss ist, dass Jupiter, obwohl er in der Rolle des Verführers und nicht in der eines brutalen Vergewaltigers auftritt, auch hier alles missachtet, was nach dem Maßstab der Liebesdichtung in der und für die Liebe wesentlich ist. Während ein Liebender sich darum bemühen muss, der Frau, die er begehrt, selbst liebenswert zu erscheinen,71 will Jupiter nichts weiter, als dass sie auf seinen Rücken steigt, damit er sie davontragen kann. In der Logik dieser Darstellung kann die Antwort auf die Frage »Was geschah danach?« nur lauten, dass Jupiter gleich nach der Ankunft auf Kreta die Entführte dazu benutzt, seinen Sexualtrieb zu befriedigen, also das zu tun, was er schon auf der Blumenwiese mit Ungeduld herbeigewünscht, aber nolens volens noch aufgeschoben hatte (V. 863), und genau so ist die Schlussszene in der Neuzeit immer extrapoliert worden, auch von den professionellen Lesern.72 Man könnte sogar noch ein weiteres intratextuelles Argument für eine solche Deutung hinzufügen, weil die beiden vorausgehenden Erzählungen über Callisto und Io und die über Europa im Hinblick auf das Verhalten und die Mentalität des Protagonisten vollkommen miteinander kongruieren und gemeinsam das Jupiterbild der beiden ersten Metamorphosen-Bücher konstituieren. Indessen wird die skizzierte Lesart höchst fragwürdig, sobald man außer den intratextuellen auch die intertextuellen Bezüge berücksichtigt und bedenkt, dass das allen Lesern vertraute Sujet der antiken Europa-Erzählungen ein Braut­ raub des Zeus war. Die Vermählung mit der entführten Heroine gehörte zum Kernbestand des Mythos, ebenso selbstverständlich wie bei Hektor der Tod durch Achill oder bei Oedipus der Sieg über die Sphinx. Kein antiker Leser hätte das ausblenden, aber auch kein Erzähler hätte hier nach eigenem Gutdünken ändern können. Eines jedoch stand ihm frei, und das war nicht wenig: Er konnte die Motive des Protagonisten in Frage stellen. Diese Möglichkeit hat Ovid, wie wir gesehen haben, konsequent genutzt und die Selbsterniedrigung und Lüs 70 Dazu s. o. Kap. 1.2. 71 Dass man selbst liebenswert sein müsse, wenn man geliebt werden möchte, ist eine der wichtigsten Vorschriften in Ovids Liebeslehre (a.a. 2, 107: ut ameris, amabilis esto). Sie steht in Einklang mit dem von Tibull formulierten Lehrsatz. blanditiis volt esse locum Venus ipsa:/ illa querelis supplicibus, miseris fletibus illa favet. (Tib. 1, 4, 71 f.: »Venus will, dass es Gelegenheit für Schmeichelworte gibt: Sie schenkt flehenden Klagen und schmerzlichem Weinen ihre Gunst.«). Bei Sappho ist es noch die personifizierte Peitho, die die Liebenden zusammenführt (s. o., S. 50, Anm. 52). Der Gedanke ist aber wohl schon früh zum Topos geworden, denn er ist in unterschiedlichen Varianten vielfach belegt. 72 Repräsentativ für die communis opinio ist die Bemerkung von Anderson 1997, 332: »[…] Ovid stops before the predictable rape and the despair of Europa that ensues.«

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ternheit Jupiters zum eigentlichen Thema seiner Metamorphosen-­Erzählung gemacht. Aber was war damit gewonnen, wenn feststand, dass Jupiter sich mit Europa vermählt und mehrere Kinder mit ihr gezeugt hatte? Letztlich war es dann doch ziemlich gleichgültig, ob der Sexualtrieb bei der Entführung eine besondere Rolle gespielt hatte oder nicht. Um diesem Dilemma zu entgehen, hat Ovid den ebenso einfachen wie genialen Kunstgriff angewandt, die allbekannte Geschichte nicht zu Ende zu erzählen. Folglich brauchte er weder zu berichten noch zu bestreiten, dass Jupiter Europa zu seiner Gattin erhoben hatte, und in der Tat endet die Geschichte bei ihm auf zweierlei Weise. Das eigentliche Ende, die Vermählung des Göttervaters, war durch die Überlieferung vorgegeben, und wer wollte, konnte es sich auch hier hinzudenken. Aber alle Leser, die sich für die Deutung hatten gewinnen lassen, dass es sich bei der Entführung Europas um ein Liebesabenteuer (furtum) des lüsternen Jupiter gehandelt hatte, waren damit unausweichlich zum Komplizen des Erzählers geworden und konnten die Geschichte nur noch in dem Sinne zu Ende denken, den er ihr mit seiner Schilderung gegeben hatte. Auf diese Weise erhielt die Erzählung von der Entführung Europas ein alternatives Ende, das sich, wiewohl nur imaginiert, als überaus wirkungsmächtig erweisen sollte. Indessen wäre es abwegig zu vermuten, Ovid hätte die Geschichte vom Braut­ raub des Zeus allen Ernstes und im Widerspruch zur gesamten Überlieferung für die Leser der Nachwelt in eine Affäre des lüsternen Götterkönigs umgestalten wollen. Ganz im Gegenteil, wir werden hier zu Zeugen eines virtuosen literarischen Spiels. Das Spielmaterial ist ein allen Lesern vertrauter Mythos, und die selbstgestellte Aufgabe des Erzählers besteht darin, dessen Intention allein durch Mittel der Erzähltechnik zu konterkarieren und eine virtuelle Alternative vorzuführen, die der überlieferten Intention entgegengesetzt ist. Bei dem Europa-Mythos ist dieses Spiel durch die Überlieferungsgeschichte gewissermaßen zum Ernstfall geworden: Weil sich von den antiken Erzählungen so wenig erhalten hatte, dass der Brautraub des Zeus keine fabula nota mehr war, wurde die ursprüngliche Intention der Geschichte im Bewusstsein der Neuzeit durch die virtuelle, in Ovids Metamorphosen imaginierte Alternative verdrängt und nahm deren Platz ein. Ovid hat ein solches Verfahren aber nicht nur einmal angewandt, um die überkommene Botschaft einer fabula nota im stillschweigenden Einverständnis mit dem Leser und zu dessen Vergnügen in ihr Gegenteil zu verkehren. Mindestens ebenso berühmt wie die Geschichte von der Entführung Europas war die vom Ehebruch Aphrodites mit Ares, die in der Odyssee von dem Sänger Demodokos vorgetragen wird,73 und weil in diesem Fall die ursprüngliche literarische Fas 73 Hom. Od. 8, 266–366. Dazu grundlegend: Burkert 1960.

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sung und deren Intention bis in unsere Gegenwart hinein präsent geblieben ist, lässt sich der Wirkungsmechanismus hier noch sehr viel deutlicher erkennen. Wir müssen uns an dieser Stelle, obwohl das Thema eine eingehendere Behandlung verdiente, auf das Nötigste beschränken. Für die Odyssee-Erzählung sind folgende Handlungselemente konstitutiv: (1) Aphrodite, die Gattin des wenig angesehenen und hinkenden Gottes He­ phaistos, unterhält ein ehebrecherisches Verhältnis mit dem mächtigen und ›schnellen‹ Ares. (2) Die beiden werden vom Sonnengott verraten. (3) Hephaistos macht sie durch ein unsichtbares Netz zu seinen Gefangenen und ruft die Götter als Zeugen des Ehebruchs herbei. (4) Die Reaktion der Götter ist zwiespältig: einerseits brechen sie in Gelächter aus und machen frivole Bemerkungen, andererseits zitieren sie die Spruchweisheit, dass Übeltaten zu nichts Gutem führen, und äußern die Erwartung, dass Ares nicht ohne Ehebruchbuße davonkommen werde.74 (5) Hephaistos lässt die beiden Gefangenen erst frei, als seine Forderung erfüllt wird und Poseidon ihm garantiert, dass er die von Ares geschuldete Ehebruchbuße bekommen werde. Zusammenfassend kann man sagen »Im Mittelpunkt steht nicht die Frivolität, sondern der Sieg der τέχνη, der Klugheit über die simple Natur.«75 Ovid hat die Geschichte zweimal nacherzählt, zuerst in der Ars amatoria und dann noch einmal, deutlich knapper, in den Metamorphosen. In der Ars ama­toria hat er einerseits den besonderen Ruhm der Geschichte hervorgehoben76 und sie andererseits dazu benutzt, in seiner Rolle als Liebeslehrer das prae­ceptum zu illustrieren, dass man es in der Liebe hinnehmen müsse, betrogen zu werden und keinesfalls dagegen einschreiten dürfe.77 Folglich kann die Geschichte nur damit enden, dass der Ehemann Vulcanus seinen Verstoß gegen das praeceptum büßen muss (quod erat demonstrandum), und sie endet mit einer Szene, die ganz darauf angelegt ist, das Mitleid der Leser mit den Ehebrechern zu erwecken, weil sie vor den Göttern bloßgestellt worden sind: Venus kann die Tränen kaum zurückhalten, und die Fesseln machen es den beiden Liebenden unmöglich, ihr Gesicht zu verdecken oder doch wenigstens ihre Geschlechtsteile vor den Blicken der Zuschauer zu verbergen.78 So sind aus den überführten Tätern des Demodokos-Liedes die unschuldigen Opfer einer schändlichen Demütigung geworden, und indem der Leser Mitgefühl für sie

74 Hom. Od. 8, 329–332; dort auch die Charakterisierung des Hephaistos auch als des langsamen und des lahmen Gottes und des Ares als des schnellsten der Götter. 75 Burkert 1960, 142. 76 Ovid nennt sie a.a. 2, 561 eine fabula notissima; ähnlich schon am. 1, 9, 40 und dann wieder met. 4, 189 (notissima fabula). 77 Ov. a.a. 2, 539: rivalem patienter habe. Diese Kunst wird im Folgenden ausführlich entfaltet (ibid. 539–560) und erst danach durch die Ehebruchsgeschichte exemplifiziert. 78 Ov. a.a. 2, 581–584.

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empfindet, macht er sich ihre Perspektive, also die Perspektive der verliebten Ehebrecher, zu eigen. Den Schluss der überlieferten Geschichte hat Ovid nicht weggelassen, aber er hat ihn ausgehöhlt und dadurch denselben Effekt erzielt. Vulcanus erfüllt die Bitte Neptuns, die beiden freizulassen, ohne dass von einer Ehebruchbuße auch nur die Rede wäre, er erhält also keinerlei Genugtuung. Doch damit noch nicht genug. Venus und Mars haben nun überhaupt keinen Grund mehr, ihre Liebesbeziehung zu verheimlichen und setzen sie ungeniert und in aller Offenheit fort, während Vulcanus seine Dummheit zugibt und bereut, das raffinierte Netz über sie geworfen zu haben.79 Ovids zweite Nacherzählung der fabula notissima vom göttlichen Ehebruch in den Metamorphosen80 ist demgegenüber fast so knapp gehalten wie eine Inhaltsangabe. Der Fokus ist jedoch derselbe wie in der Ars amatoria. Die Übeltäter sind nicht die Ehebrecher, sondern diejenigen, von denen sie gestört und an den Pranger gestellt werden, also der Ehemann Vulcanus und Sol als der kleinliche Verräter. Da die Geschichte in den Metamorphosen aber als Einleitung zu den Liebschaften des Sonnengottes fungiert,81 liegt der Akzent nicht auf Vulcanus, sondern auf Sol und seiner Bestrafung: Seine unglücklichen Liebschaften hat er der Rache der Venus für seinen Verrat zu verdanken.82 Das ist die Pointe der Erzählung, und diesmal hat Ovid den Schluss, so wie in der Europa-Erzählung, ganz weggelassen. Die Geschichte endet mit den lachenden Göttern, von denen sich manch einer gewünscht hätte, an der Stelle des Mars und gemeinsam mit Venus gefesselt im Bette zu liegen.83 Mit dem Blick auf eine Europa, die von dem lüsternen Jupiter übers Meer entführt wird und ihm hilflos ausgeliefert ist, verabschiedet sich der Metamor­ phosen-Dichter von den Lesern seines zweiten Buches, aber nur, um zu Beginn des dritten Buches den Erzählfaden wider Erwarten noch einmal aufzunehmen: Iamque deus posita fallacis imagine tauri se confessus erat Dictaeaque rura tenebat, cum pater ignarus Cadmo perquirere raptam imperat et poenam, si non invenerit, addit exilium, facto pius et sceleratus eodem. orbe pererrato (quis enim deprendere possit

79 Ov. a.a. 2, 587–592. 80 Ov. met. 4, 171–189. Die Geschichte ist in den Metamorphosen eine Binnenerzählung und wird von den Minyaden vorgetragen. 81 Ov. met. 4, 170: Solis referemus amores; im unmittelbaren Anschluss daran folgt die Ehebruchsgeschichte. 82 Ov. met. 4, 190–192. 83 Ov. met. 4, 187 f.

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furta Iovis?) profugus patriamque iramque parentis vitat Agenorides Phoebique oracula supplex consulit et quae sit tellus habitanda requirit.84

In der Gesamtstruktur der Metamorphosen fungieren die Verse als Überleitung zum thebanischen Sagenkreis. Vor allem aber verwischen sie die Buchgrenze, indem sie inhaltlich direkt an die Europa-Erzählung am Ende des zweiten Buches anschließen.85 Die ersten beiden Verse sind ein denkbar knappes und zudem unvollständiges Resümee der dramatischen Wende, die der Erzähler dort übergangen hatte. Nun wird zwar erwähnt, dass Jupiter nach der Landung auf Kreta die Stiergestalt abgelegt und sich als Göttervater zu erkennen gegeben hatte (se confessus erat), aber offenbar nur, um den Zeitpunkt zu umschreiben, zu dem die Folgehandlung beginnt, der sich der Erzähler jetzt zuwenden möchte (iam – cum). Kein Wort verliert er darüber, auf welche Weise Jupiter sich der Entführten zu erkennen gab, aber auch kein Wort über die Liebesvereinigung, die ja doch das eigentliche Ziel und der Fokus der ganzen Erzählung ist und in der Vulgata mit der Ankündigung verbunden war, dass Europa dem Göttervater berühmte Söhne gebären werde.86 Es wäre naiv zu glauben, der Erzähler hätte hier aus Nachlässigkeit keine Klarheit geschaffen. Die feierliche Formulierung Dictaea rura, mit der er die Heimat des Gottes umschreibt, verweist ganz unübersehbar auf die mythologische Überlieferung, also darauf, dass Europa von Zeus als Braut in seine Heimat entführt worden war.87 Gleich danach aber ist von den furta Iovis die Rede, und das ist ein ebenso klarer Rückverweis des Dichters auf seine eigene Version, in der er den Brautraub als ein Liebesabenteuer erzählt hatte. Das sind die beiden miteinander unvereinbaren Alternativen, die wir schon kennen, und die Entscheidung zwischen ihnen, also zwischen einem bloß imaginierten und dem überlieferten Ziel und Ende der Entführung Europas, bleibt dem Leser überlassen. Freilich wird sie nun zu einem Vexierspiel. 84 Ov. met. 3, 1–9: »Und schon hatte der Gott die trügerische Stiergestalt abgelegt, hatte sich zu erkennen gegeben und hatte das Diktäische Land inne, als ihr nichtsahnender Vater dem Cadmus befahl, nach der Entführten zu suchen, und ihm als Strafe, falls er sie nicht finden sollte, Verbannung androhte, wodurch er sich zugleich als fürsorglich und als frevelhaft erwies. Nachdem der Agenor-Sohn den Erdkreis durchirrt hatte – denn wer könnte die Liebschaften (die Geliebten) Jupiters entdecken? –, mied er sein Vaterland und seines Vaters Zorn, und demütig flehend bat er das Orakel des Phoebus um Rat und fragte, welches Land er bewohnen solle.« 85 Vgl. Solodow 1988, 13 f.; Ziogas 2013, 74–81 hat wahrscheinlich gemacht, dass Ovid hier der genealogischen Struktur von Hesiods Frauenkatalogen folgt. 86 Man kann die Wendung se confessus erat natürlich als einen Euphemismus verstehen, der zugleich auch die Liebesvereinigung einschließt (so Wheeeler 2000, 84); indessen ist die Frage, warum davon nicht explizit berichtet wird, damit nicht beantwortet. 87 S. o., S. 74 zu Bakchylides (Ida-Gebirge), 102 zu Moschos (Kreta) und 112 zu Lukian (Diktäische Grotte).

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Um dieses Vexierspiel würdigen zu können, müssen wir uns daran erinnern, dass die Dichter und Mythographen zwar allesamt darin übereinstimmten, dass Zeus Europa zu seiner Gattin erhoben hatte, dass sie der Frage nach dem Zusammenleben der beiden aber wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatten. Man war sich darin einig, dass Europa nach der Vermählung auf Kreta geblieben war und dort ihre Kinder geboren hatte, und das genügte. Wenn man es jedoch als Mangel empfand, dass es über ein Zusammenleben des Zeus mit Europa nichts zu berichten gab, dann füllte man die Leerstelle damit, dass man erzählte, Zeus habe Europa später mit Asterion, dem König von Kreta, vermählt und dadurch in der bestmöglichen Weise für sie gesorgt.88 In den Metamorphosen ist es genau umgekehrt: Jupiter ist wieder in seiner ›diktäischen‹ Heimat Kreta (Dictaeaque rura tenebat), also nicht im Olymp),89 aber offenbar ist nur er selbst dort, und nicht auch Europa. Sie ist verschwunden. Nach dem Wortlaut des Textes ist sie zwar nur durch die Entführung und nur für ihren Vater Agenor verschwunden, doch wenn sie sich nicht bei Jupiter auf Kreta befindet, dann ist sie nach dem Ende der Entführung auch für alle anderen verschwunden, auch für den Leser. Aber wenn sie wirklich zum Opfer von Jupiters Lüsternheit und nicht zu seiner Gemahlin geworden sein sollte, also nur eine seiner Liebschaften war – welchen Ort gäbe es dann, an dem sie sich befinden könnte, und was könnte man über sie dann überhaupt erzählen? Das ist ein unlösbares Problem, das der Erzähler seinen Lesern bewusst macht, indem er seine Darstellung des Geschehens mit der rhetorischen Frage quis enim deprendere possit / furta Iovis? unterbricht. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass Agenor befohlen hätte, den Stier zu suchen oder gar Jupiter auf frischer Tat zu ertappen, denn er hat ja gar nichts mitbekommen von der Entführung (pater ignarus), sondern Cadmus soll seine spurlos verschwundene Schwester finden und nach Phönizien zurückbringen,90 und deshalb kann die rhetorische

88 Zur Vermählung mit Asterion s. o., S. 82 f. 89 Ov. met. 3, 2.  Das Wort tenere ist dieser Wendung mehrdeutig. Vordergründig bedeutet tenere hier sicherlich ›bewohnen‹  – das ist die übliche Auffassung der Übersetzer und Kommentatoren –, aber gerade bei Göttern dient das Wort oft dazu, ihren spezifischen Machtbereich zu umschreiben, so z. B. bei Apoll (Hor. c. 3, 4, 62), bei Venus (Hor. c. 3, 28, 14) und bei Diana (Hor. c.s. 69). Demnach ist Jupiter nicht nur in seine ›Heimat‹ zurückgekehrt, sondern die Liebesaffäre, um derentwillen er seine Würde abgelegt hat, ist vorbei, und er ist wieder der Gott, dessen Geburtsmythos mit der Diktäischen Höhle verknüpft ist. 90 Das ist in der Vulgata nicht anders. Auch bei Apollod. bibl. 3, 1, 1 ist die Suche des Kadmos und seiner Brüder ganz ziellos, weil man nichts weiter weiß, als dass Europa verschwunden ist (ἀφανοῦς δὲ Εὐρώπης γενομένης). Erst bei Nonnos wird berichtet, dass Europas Vater die Entführung durch den falschen Stier mitbekommen habe (Nonn. Dion. 3, 312–325), und deshalb sucht Kadmos nach seiner Schwester, indem er die Spuren dieses mysteriösen Stiers verfolgt (ibid. 1, 139 u. ö.). Dass der Stier in Wahrheit Zeus ist, erfährt er aber auch bei Nonnos erst ganz zuletzt, und zwar vom delphischen Orakel (ibid. 4, 293–302).

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Frage nur bedeuten: »Wer könnte denn Jupiters Liebschaften, d. h. seine Geliebten entdecken?«91 Intradiegetisch wird damit nur daran erinnert, dass Cadmus keine Chance hatte, die aus Phönizien verschwundene Europa aufzuspüren, heterodiegetisch thematisiert der Halbvers die Macht des Erzählers, der seine Protagonisten nach Belieben auf- und wieder abtreten lassen, also auch aus seiner Geschichte verschwinden lassen kann. Das ist nicht ohne Witz, und die Erfindung des Asterion als eines Ersatzgatten, die mit Ovids Version der Europa-Erzählung inkommensurabel gewesen wäre, wird dadurch a limine entbehrlich. Es ist verlockend anzunehmen, dass Ovid sich dazu durch die Ariadne-Geschichte hat anregen lassen, in der vom unerklärlichen Verschwinden der Heroine nach der Vermählung mit Dionysos berichtet wurde.92 So endet denn die Europa-Erzählung der Metamorphosen damit, dass Jupiter Europa in seine Heimat Kreta gebracht hat, so wie es im Brautraub-Mythos vorgegeben war, aber was aus ihr geworden ist und wo sie sich jetzt aufhält, ist unbekannt.

91 Ov. met. 3, 6 f.; die Übersetzer und Kommentatoren setzen voraus, dass mit furta die Liebesaffären Jupiters gemeint seien. Das kann jedoch auch deshalb nicht richtig sein, weil es voraussetzen würde, dass Cadmus den Auftrag erhielte, Jupiter in flagranti zu ertappen (Anderson 1997, 375: »the narrator used this word [sc. deprendere] to ask who could catch Jupiter in the act«; vgl. auch Bömer 1969, 447). Ganz offensichtlich muss furta hier metonymisch (concretum pro abstracto) verstanden werden, ähnlich wie das auch bei dem deutschen Wort ›Liebschaft‹ möglich ist, und auch in diesem Falle gilt, dass man die furta Jupiters nicht entdecken kann. Auch sonst ist deprendere in einem solchen Kontext immer auf ein konkretes Objekt bezogen, denn es ist natürlich immer die Person, die entdeckt wird (oder auch nicht); so ist es z. B. Ov. met.1, 606 (deprensi furta mariti). Übrigens hat auch Seneca, der die Wendung Ovids mit leichter Variation zitiert, furta als concretum pro abstracto verstanden: ut primum magni natus Agenoris / fessus per orbem furta sequi Iovis (Sen. Oed. 715 f.). Damit ist die gelegentlich gewählte Notlösung, furta ganz allgemein als Jupiters Heimlichkeiten zu verstehen, entbehrlich. 92 Vgl. dazu o. Kap. 3.3.

5. Europa in den Dionysiaka des Nonnos: Eine Theogamie des Zeus unter den Augen Heras

Zum letzten Male begegnet uns die Erzählung von der Entführung Europas in dem spätantiken Epos Dionysiaka, das der aus dem ägyptischen Panopolis stammende Dichter Nonnos in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts nach Christus, also fast ein halbes Jahrtausend nach Ovids Metamorphosen, verfasst hat. Da in den Dionysiaka aufgrund der Konzeption dieses Werkes alle Ereignisse und damit auch sämtliche Liebschaften des Zeus in der Zeit seiner Ehe mit Hera stattfinden, hat die Entführung Europas hier zum ersten und einzigen Mal ihren Charakter als Brautraub verloren und ist zu einer der zahlreichen Liebesaffären geworden, mit denen der Göttervater seine Gattin zu betrügen pflegt. Da der Europa-Mythos jedoch, wie wir gesehen haben, mit dem Stereotyp der Rache Heras nicht kommensurabel ist, muss die gedemütigte Gattin sich mit der Rolle einer ohnmächtigen Zuschauerin begnügen, wofür es in der gesamten antiken Überlieferung kein anderes Beispiel gibt. In den Dionysiaka werden, anders als der Titel vermuten lässt, nicht nur das Leben und die Taten des Gottes Dionysos dargestellt, sondern das Thema dieses auf 48 Bücher angelegten gewaltigen Epos sind sämtliche Sujets der mythologischen Überlieferung, die sich in irgendeiner Weise, und sei es auch nur assoziativ, mit Dionysos in Verbindung bringen ließen. Mit anderen Worten: Die Dionysiaka sind nicht nur ein Epos zum Ruhme des Dionysos, sondern sie sind auch eine Enzyklopädie der antiken Mythologie.1 Folglich entspricht das Epos des Nonnos im Hinblick auf sein Sujet den mythographischen Handbüchern der Antike, von denen es sich jedoch durch seine Konzeption und Intention grundlegend unterscheidet. Die Mythographen schrieben ihre Werke, um mythologische Kenntnisse zu vermitteln oder aufzufrischen, mithin zur Belehrung der Leser. Nonnos dagegen wendet sich an ein Publikum, das mit den behandelten Gegenständen bereits vertraut ist. Folglich konnte er mit dem Stoff, der in den Handbüchern systematisch zusammengestellt und möglichst übersichtlich aufbereitet werden musste, nach Belieben schalten und walten. Weder im Einzelnen noch insgesamt geht es ihm um die kontinuierliche Erzählung, bei der eins aus dem anderen folgt, und er hat in seinen Dionysiaka verschiedene Traditionsstränge des Mythos ohne Rücksicht auf die Chronologie und die Folgerichtigkeit der Hand 1 Den enzyklopädischen Charakter der Dionysiaka hat besonders Shorrock 2001, 25 hervorgehoben; vgl. aber schon Fauth, 1981, 19 f. und andere.

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lung miteinander verknüpft, »sans considération de l’ ἀκολουθία πραγμάτων.2 Die Vielfalt und Vielgestaltigkeit, die ποικιλία ist sein Ziel, und zu diesem Ideal bekennt er sich, indem er im Proömium die Musen darum bittet, ihm den vielgestaltigen Gott Proteus als Helfer zu senden.3 Der verwirrende Eindruck, der daraus entsteht – ganz zu schweigen von den zahllosen Widersprüchen im Einzelnen wie im Ganzen  –, muss den modernen Leser befremden. Er ist jedoch, wie die neuere Forschung herausgearbeitet hat, durchaus beabsichtigt, eben weil Nonnos sich dem Ideal der ποικιλία verschrieben hat und sich nicht an den ästhetischen Idealen früherer Dichter orientiert. Er wird noch verstärkt durch die Einfügung zahlreicher Episoden, die den Fortgang der Handlung immer wieder unterbrechen, ohne dass ihr Zusammenhang mit dem Kontext gleich erkennbar wäre, zumal auch die eingelegten Erzählungen oft nicht als Ganzes geschildert, sondern unvermittelt durch andere Erzählungen unterbrochen und dann ebenso unvermittelt wieder aufgenommen werden.4 Sie werden jedoch durchaus nicht um ihrer selbst willen behandelt, sondern gehören gleichfalls zum wohlbekannten Repertoire der mythologischen Überlieferung, dem der Dichter den Stoff für sein Werk entnommen hat. Das erste Beispiel dafür (und für das eigentümliche Kompositionsprinzip der Dionysiaka) ist der Europa-Mythos, der den Auftakt des Epos bildet, obwohl er eigentlich nicht am Anfang der von Nonnos behandelten mythologischen Ereigniskette steht. Wir beschränken uns bei der Erläuterung der epischen Erzählung, in die er eingefügt ist, auf das, was zum Verständnis unbedingt erforderlich ist. Nonnos hat in den ersten sieben Büchern der Dionysiaka das Geschehen behandelt, das zur Vereinigung des Zeus mit Semele führt, und die Geburt des Gottes, dem er mit seinem Werk huldigen will, erst im achten Buch dargestellt. Die Liebesvereinigung des Göttervaters mit Semele ist jedoch, weil sie dadurch zur Mutter des Dionysos wird, nicht nur Vorgeschichte, sondern zugleich schon Teil der ›Heilsgeschichte‹. Diesem ersten Telos der epischen Handlung gilt der Musenanruf, mit dem das Proömium beginnt: Εἰπέ, θεά, Κρονίδαο διάκτορον αἴθοπος εὐνῆς, νυμφιδίῳ σπινθῆρι μογοστόκον ἄσθμα κεραυνοῦ, καὶ στεροπὴν Σεμέλης θαλαμηπόλον· εἰπὲ δὲ φύτλην 2 Vian 1976 I, 12. 3 Nonn. Dion. 1,14 f.: στήσατέ μοι Πρωτῆ­α πολύτροπον, ὄφρα φανείη / ποικίλον εἶδος ἔχων, ὅτι ποικίλον ὕμνον ἀράσσω (»lasst den vielgestaltigen Proteus für mich erstehen, damit er erscheint in der Vielfalt seiner Erscheinungen, da ich ein vielfältiges Lied erklingen lasse«). Zu den literarischen Anspielungen in diesen bildungsgesättigten Versen s. Vian 1976 I, 8 f. und 133 f.; Gigli Piccardi 2014, 121 f.; zu Proteus in 1, 14 f. s. auch Fauth 1981, 35–37. 4 Vgl. dazu v. a. Shorrock 2001.

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Βάκχου δισσοτόκοιο, τὸν ἐκ πυρὸς ὑγρὸν ἀείρας Ζεὺς βρέφος ἡμιτέλεστον ἀμαιεύτοιο τεκούσης, […].5

Die Europa-Geschichte ist bei Nonnos auf zweierlei Weise auf Semele als Mutter des Dionysos bezogen und dadurch zweifach in die epische Erzählung ein­ gebettet. Erstens ist die Entführung Europas das auslösende Moment für die Irrfahrten des Kadmos, die ihr glückliches Ende dadurch finden, dass er Harmonia zur Gattin gewinnt, mit der er Semele zeugen wird. Dieser Zusammenhang entspricht der Vulgata, die bei Nonnos jedoch inhaltlich, wie wir gleich sehen werden, tiefgreifend umgestaltet ist. Zweitens gehört die Entführung Europas zu den zwölf Theogamien des Zeus, in deren Mittelpunkt die mit Semele steht. Der Begriff bezeichnet Liebesvereinigungen von Göttern mit sterblichen Frauen, die dadurch zu Müttern großer Helden werden. Nonnos hat das Konzept nach einhelliger Forschungsmeinung von Peisandros aus Laranda übernommen, der im frühen dritten Jahrhundert nach Christus ein gigantisches Epos in sechzig Büchern verfasst hatte, das den Titel Ἡρωϊκαὶ θεογαμίαι trug und in dem er die ›Geschichte der Welt‹ in dem Zeitraum von der Vermählung des Zeus mit Hera bis zu Alexander dem Großen behandelte.6 Die überragende Bedeutung der Theogamien für das Thema und die Botschaft der Dionysiaka ist schon aus dem Kontext ersichtlich, in dem sie verankert sind. Der Gott Aion schildert seinem ›Bruder‹ Zeus in einer langen Rede das trübe und freudlose Schicksal der Sterblichen und bittet ihn, sich ihrer zu erbarmen. Daraufhin beschließt Zeus, den Menschen die göttliche Gabe des sorgenlösenden Weins zu schenken, und dafür muss Dionysos geboren werden, der »Schützer des Menschengeschlechtes«.7 Zeus beendet seine Rede mit einem feierlichen Hymnus auf den künftigen Gott, und die Moiren stimmen seinem Beschluss zu. Danach kehrt Zeus zurück in den prächtigen Palast Heras (ποικίλον ἐς δόμον ῞Ηρης).8 5 Nonn. Dion. 1, 1–5. Die Verse sind so reich an ungewöhnlichen Wortbedeutungen und Metaphern, dass sie sich nicht unmittelbar in verständliches Deutsch übertragen lassen. Wir folgen deshalb – nicht nur hier – dem Beispiel der kommentierten zweisprachigen Ausgaben von Vian (1976) und von Gigli Piccardi (2014) und geben den Text mit den für das Verständnis erforderlichen Freiheiten wieder: »Nenne mir, Göttin, den Donnerhauch, den Boten der in Flammen getauchten Vereinigung des Kroniden, der mit den Funken seiner Brautfackel eine schmerzensreiche Geburt bewirkte, und den Blitz, der zu Semeles Kammerdienerin wurde; nenne mir auch die Erzeugung des zweifach geborenen Bakchos, den Zeus noch feucht aus dem Feuer emporhob, ein halbfertiges Kind einer Mutter ohne Niederkunft.« 6 Keydell 1935; Vian 1976 I, XLIV f.; Shorrock 2001, 30 f. 7 Für die Aretalogie des Dionysos gibt es zahllose Belege in der älteren Literatur, aber manche Formulierungen in den beiden Reden erinnern besonders an die Rede des Teiresias in den Bakchen des Euripides (Bacch. 272–285). 8 Nach der im sechsten Buch geschilderten großen Flut erwacht die Welt im siebten Buch zu neuem Leben, aber die Menschen werden ihres Daseins nicht froh, weil sie die Gabe

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Sofort danach ergreift Eros ganz von selbst die Initiative: »Eros, weise ohne Belehrung, Hüter des Lebens«. Er schießt aus seinem Köcher zwölf Pfeile ab, deren Bestimmung es ist, Zeus in Liebe zu sterblichen Frauen zu entflammen.9 Auf dem Köcher steht für jeden Pfeil ein Vers, in dem seine Bestimmung genannt wird. Die ersten vier Pfeile erwecken die Liebe des Zeus zu Io, zu Europa, zu Pluto (einer Tochter des Kronos) und zu Danaë. Erst der fünfte Pfeil ist dazu bestimmt, die Liebe des Zeus zu Semele zu erwecken. Danach werden noch sieben weitere sterbliche Geliebte des Zeus aufgezählt, nämlich als sechste­ Aigina, als siebte Antiope, als achte Leda, als neunte Dia, als zehnte Alkmene, als elfte Laodameia, die Tochter Bellerophons, und als zwölfte Olympias. Wenn Nonnos die zwölf Theogamien, wie allgemein angenommen, in dieser Zusammensetzung und dieser Reihenfolge dem Werk des Peisandros entlehnt hat, dann braucht man sich nicht darüber zu wundern, dass sie mit dem von ihm selbst behandelten Stoff nicht ganz in Einklang stehen.10 Die eigenartige Konstruktion jedoch, dass der Göttervater eine wohlüberlegte und ausführlich begründete Entscheidung fällt, die dann nicht von ihm selbst, sondern von Eros aus eigenem Antrieb in die Tat umgesetzt wird, lässt sich damit nicht erklären. Sie resultiert offenbar daraus, dass Eros aus seinem Köcher nicht nur den Pfeil für Semele hervorholt, der für die Geburt des Dionysos sorgen soll, sondern darüber hinaus noch elf weitere Pfeile, die nichts mit dem Ratschluss des Zeus zu tun haben. Das muss man wohl als Ausdruck der Autonomie dieses Gottes verstehen, der »weise ist ohne Belehrung«, und es manifestiert sich darin die überwältigende Macht, die Eros bei Nonnos innehat und die an die Macht Aphrodites erinnert, wie sie im homerischen Hymnus besungen wird: Auch dort muss sich selbst Zeus der Göttin Aphrodite unterwerfen.11 Unter diesem Aspekt erweckt die lange Reihe der Zeus-Geliebten den Eindruck, dass der Erzähler die Perspektive für einen kurzen Moment erweitern und wie in einer Rückblende das frühere Geschehen einbeziehen wollte, um sogleich danach durch eine unerwartete Wende den Faden der Handlung wieder aufzunehmen: Obwohl Eros die vier ersten Pfeile ja eigentlich schon abgeschossen haben müsste und die

des Weins noch nicht kennen: Nonn. Dion. 7, 1–28; Rede (Gebet) des Aion an Zeus: ibid. 7, 29–66; Antwort des Zeus: ibid. 7, 73–105; als den »Schützer des Menschengeschlechtes« (ἀνδρομέης ἀλεξητ­ρα γενέθλης) bezeichnet Zeus Dionysos ibid. 7,96; Zustimmung der Moiren und Rückkehr des Zeus in den prächtigen Palast Heras: ibid. 7,106–109. 9 Nonn. Dion. 7, 110–128. Das Zitat (V. 110): καὶ σοφὸς αὐτοδίδακτος ῎Ερως αἰῶνα νομεύων (αἰῶνα statt Αἰῶνα mit Gigli Piccardi 2014, 542). 10 Besonders auffällig in der Liste ist Olympias, die Mutter Alexanders des Großen, zu der es im Epos des Nonnos keinen inhaltlichen Bezug gibt, während der Name bei Peisandros den historischen Endpunkt des Werkes ankündigt. 11 [Hom.] h. Ven. 38–41. Anders Kuhlmann 1999, 405, der meint, dass dadurch »eine mögliche Entscheidungskompetenz des Zeus in dieser Angelegenheit ad absurdum geführt« werde.

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Theogamien mit Io, Europa, Pluto und Danaë in der Chronologie der Handlung vor der mit Semele liegen, sieht der Gott sich alle zwölf genau an, nimmt aber nur den für Semele heraus und legt die anderen beiseite.12 Die entscheidende Änderung gegenüber der Überlieferung besteht jedoch darin, dass durch diese Szene die Chronologie des göttlichen und die des menschlichen Geschehens, die eigentlich nicht miteinander kommensurabel sind,13 verflochten und sämtliche Liebschaften des Zeus mit sterblichen Frauen gleichsam datiert und in die Zeit seiner Ehe mit Hera verlegt werden.14 Das ergibt sich zwar schon aus der Konzeption des Werkes, weil die Vermählung des Zeus mit Hera in den Dionysiaka bereits vorausgesetzt wird, aber es wird hier nachdrücklich dadurch betont, dass Zeus nach seiner Entscheidung, den Menschen durch die Geburt des Dionysos die Gabe des Weins zu schenken, »in den schimmernden Palast Heras« zurückkehrt. Damit aber ist die grundlegende typologische Unterscheidung zwischen den Liebesbeziehungen des verheirateten und denen des nicht verheirateten Zeus aufgehoben. In der mythologischen Überlieferung kam Hera in den Erzählungen von der Liebe des Zeus zu Europa, zu Leda und zu Danaë gar nicht vor, weil sie dort nicht als seine Gattin galt. Folglich konnte sich die Göttin dort auch nicht in ihrer Ehre gekränkt fühlen oder gar auf Rache sinnen. Ganz anders in den Diony­ siaka. Hier wird die Liebe des Zeus zu Semele immer wieder mit der zu Europa, mit der zu Danaë und sogar mit der zu Leto verglichen.15 Das bedeutet jedoch nicht, dass der Dichter sich des strukturellen Unterschieds nicht bewusst gewesen wäre, ganz im Gegenteil. Das zeigt eine Perikope im vierten Buch. Dort führt Aphrodite als Beispiele für die Eifersucht Heras die Geschichten von Europa und Io an, aber während sie bei Io daran erinnert, wie grausam Hera sie

12 Nonn. Dion. 7, 129–135; vgl. dazu auch Chuvin 1992, 175. 13 Dazu Vian 1976 I, 18: »L’histoire des dieux et celle des hommes se déroulent sur deux plans différents: la juxtaposition est manifest dans la Bibliothèque d’Apollodore et déjà dans le corpus hésiodique.« Das einzige Gegenbeispiel ist, wie Vian ibid. feststellt, Ovid. 14 Die übliche Vorstellung lässt sich am bequemsten bei Apollodor nachlesen. Er berichtet in seiner ›Theogonie‹ (=bibl. 1, 1–6), dass Zeus sich nach seiner Vermählung mit Hera noch mit vielen sterblichen und unsterblichen Frauen vereinigt habe, aber namentlich genannt werden dort nur die unsterblichen (ibid. 1, 3, 1). Die Liebschaften mit sterblichen Frauen werden erst nach Abschluss der ›Theogonie‹ in ihrem jeweiligen genealogischen Kontext behandelt, so dass der Leser für jede dieser Liebschaften erst an Ort und Stelle erfährt, ob er sich Zeus als verheiratet vorzustellen hat oder nicht. 15 Zur Trias der Zeus-Geliebten Europa, Danaë und Leda s. o., S. 21 f. mit Anm. 29. Bei Nonnos wird Semele in ihrer Rolle als Geliebte des Zeus mehrfach mit Danaë und mit Europa verglichen: Dion. 7, 355–358 (von Zeus selbst), ibid. 8, 253–260 (von Hera; der Vergleich wird von Semele ibid. 362–366 aufgenommen); ibid. 8, 136–149 verweist Hera außer auf Danaë und auf Europa auch auf Leto. Hinzuzunehmen sind die Vergleiche mit den jeweiligen Söhnen als tertium comparationis (Dionysos vs. Perseus). Die Liebesbeziehung des Zeus zu Leda wird in den Dionysiaka, abgesehen von der Liste der Theogamien, ignoriert.

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verfolgt habe, spricht sie bei Europa nur vom Groll der Göttin gegen ihre sterbliche Rivalin.16 Damit ist der entscheidende Unterschied auf den Punkt gebracht: Dass Hera auch wegen der Liebe des Zeus zu Europa eifersüchtig gewesen sei und Groll empfunden habe, konnte der Erzähler unterstellen, wenn er diese Liebe in die Zeit seiner Ehe mit Hera verlegte, aber eine Geschichte dazu erfinden konnte er nicht. Mit anderen Worten: Erst wenn man die Geschichten von Europa, von Danaë und von Leda auch entfalten und nicht bloß erwähnen wollte, ergaben sich narratologische Konsequenzen aus deren struktureller Besonderheit, und erst dann stellte sich die Frage, ob und in welcher Weise die betrogene Hera sich an den Geliebten ihres Gatten gerächt haben könnte. Das Musterbeispiel dafür ist (nicht nur bei Nonnos) die Semele-Geschichte. In den Dionysiaka wird aber weder die Geschichte von Danaë noch die von Leda erzählt, sondern nur die von Europa, und dieser Geschichte kommt bei Nonnos herausragende Bedeutung zu: Mit ihr hat er sein Epos begonnen, und sie hat er zum Präludium der Erzählung von der Liebe des Zeus zu Semele gemacht.17 Deshalb musste er hier und nur hier den Hiat zwischen der Überlieferung und der Konzeption seines Epos zu überwinden versuchen. Das übergreifende Thema der ersten fünf Bücher der Dionysiaka, die mit der Europa-Erzählung eingeleitet werden, sind die Irrfahrten des Kadmos.18 Deren besondere Bedeutung hat Nonnos dadurch hervorgehoben, dass er ihrem Protagonisten, direkt im Anschluss an das Proömium, einen neuen Musenanruf und einen eigenen Titelvers gewidmet hat: ἀλλά, θεά, μαστῆρος ἀλήμονος ἄρχεο Κάδμου.19

Die Erzählungen über Kadmos gehören zu den zentralen Themen des antiken Mythos, und dass er in der Welt umherirrt, weil ihm sein Vater unter Androhung lebenslanger Verbannung befohlen hat, seine Schwester Europa zu suchen und sie nach Phönizien zurückzubringen,20 brauchte Nonnos ganz gewiss nicht

16 Nonn. Dion. 4, 166–170; 168: Εὐρώπῃ κεχόλωτο καὶ ἤκαχεν ἄστατον Ἰώ. In den beiden folgenden Versen fügt sie hinzu, Hera habe selbst göttliche Rivalinnen nicht verschont und deshalb Leto von Ares verfolgen lassen. 17 Ob Peisandros die Europa-Geschichte nur erwähnt oder auch erzählt hat, ist ungewiss, und für die Semele-Geschichte gilt das gleiche; vgl. Vian 1976 I, XLV. 18 Grundlegend zu den Kadmos-Geschichten: Edwards 1979. 19 Nonn. Dion. 1, 45: »So beginne denn, Göttin, mit dem umherwandernd suchenden Kadmos!« 20 So z. B. Ov. met. 3, 3–5. Bei Nonnos ist stillschweigend die auch bei Apollodor bibl. 3, 1, 1 belegte Variante vorausgesetzt, dass nicht nur Kadmos, sondern auch seine Brüder auf die Suche geschickt werden (vgl, dazu Fletcher 2013, 143); das ergibt sich aus der Dankesrede des Zeus, in der er Kadmos über deren Schicksal unterrichtet (Nonn. Dion. 2, 679–689; vgl. auch 3, 316–319).

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zu entfalten.21 Und wenn er gleich nach dem Musenanruf, der auf den »umherwandernd suchenden Kadmos« bezogen ist, ohne Überleitung mit der Geschichte der Entführung Europas durch Zeus beginnt, dann ist auch das ein deutliches Zeichen dafür, dass wir die Irrfahrten des Kadmos nicht bloß als ein Folgegeschehen der Entführung Europas verstehen sollen, sondern als das eigentliche Hauptgeschehen, auf das vor allem es ihm ankommt und zu dem die Europa-Geschichte nur die Vorgeschichte darstellt. Narratologisch kommt das darin zum Ausdruck, dass er sie nicht in einem Zuge wiedergegeben, sondern in zwei Abschnitte aufgeteilt und durch ein Ereignis ganz anderer Art unterbrochen hat. Dieses Ereignis ist die Revolte Typhons gegen Zeus, die Nonnos während der Irrfahrten des Kadmos stattfinden lässt.22 In der mythologischen Überlieferung der Antike hatte die Typhonie in einer viel älteren Zeit stattgefunden und war ein Teil  der Theogonie gewesen, die Kadmos-Geschichte dagegen – ebenso wie alle anderen Ereignisse, die Nonnos in seinem Epos behandelt – gehörte in die Zeit, in der Zeus bereits völlig unangefochten als König über die Götter herrschte und als Gatte Heras auf dem Olymp residierte. So wird Zeus in der einschlägigen Darstellung Hesiods von den olympischen Göttern erst nach seinem Sieg über Typhon zum König gewählt, und auch die Ehen des Zeus, von denen die letzte die mit Hera ist, folgen bei ihm erst nach dem Ende der Typhonie.23 In der Bibliothek Apollodors ist die Reihenfolge dieser Ereignisse zwar nicht ganz die gleiche (zuerst die Vermählung des Zeus mit Hera, dann der Kampf der Giganten gegen die Götter und danach die Revolte Typhons), aber auch dort, und allein darauf kommt es an, gehört die Typhonie selbstverständlich noch zur Theogonie, und deren Ende wird durch den Sieg des Zeus über Typhon markiert. Die Kadmos-Geschichten dagegen werden, eben weil sie erst nach dem Ende der Theogonie beginnen und schon zu den genealogischen Helden-Erzählungen gehören, bei Hesiod überhaupt nicht und in Apollodors Handbuch erst sehr viel später, nämlich im Bericht über das Haus des Agenor wiedergegeben.24 Indessen hat Nonnos die Typhonie nicht nur vorverlegt und mit den Irrfahrten des Kadmos verflochten, sondern er hat sie ihnen auch in der Hierarchie der behandelten Themen untergeordnet. Während Zeus nämlich in der V ­ ulgata 21 Vgl. Braden 1974, 856: »All those connections are there, somewhere in the background, in Nonnos, but to the speaker of the poem they seem sufficiently familiar to be treated with contempt.« Anders Kuhlmann 2012, 487: »The narrator acts awkwardly insofar as he does not mention anywhere whom Cadmus is seeking and what relationship there is between Cadmus and Europa – the reader has to work about all this for himself.« 22 Vielleicht ist Nonnos auch darin Peisandros von Laranda gefolgt (Vian 1976 I, XLIV f.). 23 Aufstand des Typhon: Hes. theog. 836–868; Zeus wird zum Götterkönig gewählt: ibid. 881–885; die Ehen des Zeus (Metis, Themis, Demeter, Mnemosyne, Leto, Hera): ibid. ­886–923. 24 Vermählung des Zeus mit Hera: Apollod. bibl. 1, 3, 1; Gigantenkampf: ibid. 1, 6, 1–2; Aufstand des Typhon: ibid. 1, 6, 3. Agenor und Kadmos: ibid. 3, 1–7.

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Typhon aus eigener Kraft besiegt, verliert er in den Dionysiaka seine Macht an den Unhold und kann die Herrschaft nur dank der Hilfe des Kadmos zurückgewinnen. Dadurch hat Nonnos die Gestalt des suchenden Helden Kadmos entscheidend aufgewertet – so sehr, dass der Leser nicht nur an Jason und das Umherirren der Argonauten25 erinnert wird, sondern die Gestalt des Kadmos vielleicht sogar als eine Präfiguration des Dionysos verstehen kann.26 Zeus verleugnet die bedeutsame Rolle keineswegs, die Kadmos bei der Rettung seiner Herrschaft gespielt hat, ganz im Gegenteil, er spricht ihm in einer großen Rede seinen Dank dafür aus und verheißt ihm zum Lohn dafür ein eigenes Reich und die Vermählung mit Harmonia, der Tochter des Ares und der Aphrodite.27 Freilich erfüllt sich die Verheißung nicht sofort, sondern Kadmos hört auch nach dem Ende der Typhonie, das im zweiten Buch geschildert wird, nicht auf, den Spuren eines Stiers zu folgen. Das nämlich ist das Leitmotiv seiner Suche bei Nonnos, und darin ist impliziert – auch das ist wichtig –, dass Kadmos weiß, dass seine Schwester von einem Stier entführt worden ist.28 Eigentlich müsste die Rede des Zeus genügen, ihn von der weiteren Suche abzubringen, einmal wegen der wunderbaren Verheißungen, durch die das eigentliche Motiv für die Irrfahrten, nämlich die ihm von seinem Vater angedrohte Verbannung, hinfällig geworden ist, dann aber auch deshalb, weil Zeus ihm versichert, dass er den Stier niemals finden könne und dass seine Schwester Europa als Gattin des Königs Asterion auf Kreta lebe. Indessen schließt Zeus seine Rede mit der Aufforderung, Kadmos solle sich nach Delphi begeben, wo er von Apollon alles weitere erfahren werde, und dadurch wird ein Spannungsbogen für die Irrfahrten-Erzählung aufgebaut, der bis zum vierten Buch reicht, in dem die Ankunft des Kadmos in Delphi und die Befragung des Orakels geschildert werden.29 25 Shorrock 2001, 39–41. 26 So Gigli Piccardi 2014, 128. Nach Fauth 1981, 23 beginnt das Epos des Nonnos, verstanden als Universalgeschichte, »auf menschlicher Ebene mit Kadmos, dem ›wandernden Sucher‹ […], auf göttlicher mit dem Räuber Europas, dem auf das Meer sich verirrenden Zeus-Stier«, und damit antizipieren beide Vorfahren des Dionysos die für ihn »charakteristischen Merkmale der ruhelosen Bewegung, des Irrens und Suchens […].« 27 Dankes- und Verheißungsrede des Zeus an Kadmos: Nonn. Dion. 2, 663–698. In der Vulgata ist es nicht Zeus, sondern Athene, die ihm das Königtum verschafft (Apollod. bibl. 3, 4, 1). 28 Gleich der erste Kadmos-Teil beginnt mit den Versen Κάδμος ὅθεν περίφοιτος ἀπὸ χθονὸς εἰς χθόνα βαίνων / ἄστατα νυμφοκόμοιο μετήιεν ἴχνια ταύρου (Nonn. 1, 138 f.: »Deswegen wanderte Kadmos von Land zu Land und ging den unsteten Spuren des hochzeitenden Stiers nach«). 29 Aufforderung des Zeus: Nonn. Dion. 2, 696–698. In Delphi erfährt Kadmos so viel mehr über den Stier, dass er der Mahnung des Orakels, die Suche abzubrechen, befolgt (ibid. 4, 293–306). Sehr tragfähig ist der Spannungsbogen freilich nicht. In dem Bericht, den Kadmos Elektra von seiner Suche nach Europa gibt (Nonn. Dion. 3, 316–324), ist die Rede des Zeus ganz ausgespart, so als ob er völlig vergessen hätte, was ihm dort offenbart worden war. Die Belege ließen sich vermehren.

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Bei Nonnos bricht die Europa-Erzählung unvermittelt in dem Moment ab, in dem die Entführte sich, auf dem Rücken des Stiers sitzend, mitten auf dem Meer befindet und ihre Situation in einem Klagemonolog reflektiert, und es beginnt der erste Erzählblock der Kadmos-Geschichten, der etwa doppelt so lang ist und ausschließlich vom Aufstand des Typhon handelt.30 Durch die einleitenden und abschließenden Verse wird er jedoch unmissverständlich dem Thema Kadmos zu- und untergeordnet. Im ersten Vers wird gesagt, Kadmos sei auf der Suche nach Europa zur Höhle der Arimer nach Kilikien gekommen, als Typhon sich gegen die Herrschaft des Zeus erhoben habe, und analog dazu heißt es am Schluss, während Kadmos das Land der Arimer durchwandert habe, sei der Zeus-Stier mit Europa in Kreta angelangt.31 Kadmos ist also gleich nach seinem Aufbruch aus Phönizien bereits in Kili­ kien angelangt, seiner, wie es scheint, ersten Station. Das widerspricht jeder Wahrscheinlichkeit und ist ein besonders gutes Beispiel dafür, dass der epische Erzähler keine Rücksicht auf die ἀκολουθία πραγμάτων nimmt. Der Grund dafür ist in diesem Falle ganz evident, denn in Kilikien befand sich die Höhle Ty­ phons, so dass Kadmos an Ort und Stelle ist, als der Göttervater seiner Hilfe bedarf. Wie wir jetzt erfahren, hatte Typhon den Blitz des Zeus gestohlen, um die Herrschaft des Götterkönigs an sich zu reißen, und die olympischen Götter hatten bereits die Flucht ergriffen. Auch dass die Revolte überhaupt erst möglich geworden war, weil Zeus mit Pluto geschlafen und Typhon dadurch die Gelegenheit verschafft hatte, den Blitz zu stehlen,32 ist mit der Chronologie der Ereignisse unvereinbar, da die Liebesbeziehung zu Pluto die dritte in der Reihe der Theogamien des Zeus ist und erst nach der mit Europa stattfindet. Der Zusammenhang der Typhonie mit der Entführung Europas wird also nur suggeriert, und er wird, weil es darauf nicht ankommt, nicht einmal besonders überzeugend suggeriert. Mithin ist die Europa-Geschichte das erste Beispiel für die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen bei Nonnos und für die Vernachlässigung einer folgerichtigen Chronologie. Der zweite Teil  der Europa-Geschichte beginnt mit der Ankunft in Kreta. Dargestellt wird zuerst sehr ausführlich die Reaktion Heras und danach viel knapper die Liebesvereinigung, die Einsetzung des Asterion als Gatte Europas und der Katasterismos des Stiers. Der Katasterismos markiert aber auch schon den Beginn des zweiten Teils der Typhonie und nimmt den Sieg über Typhon vorweg, denn, so heißt es hier, Zeus habe nach der Verstirnung des Stiers zusammen mit Eros den Himmel verlassen, sei dem suchenden Kadmos

30 Erster Teil der Europa-Geschichte: 1, 46–137; erster Teil der Typhonie: ibid. 1, 138–320. 31 Nonn. Dion. 1, 138–145a und 1, 321–323. 32 Nonn. Dion. 1, 145–147. Zum Verhältnis von Chronologie und Erzählung dieser Ereignisse s. auch Shorrock 2001, 35 f.

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­ egegnet und habe einen klugen Plan entwickelt, wie Kadmos Typhon überlisb ten könnte.33 Die Europa-Geschichte, die Nonnos in diesen großen epischen Kontext eingefügt hat, war von anderen Dichtern schon so oft erzählt worden, dass sich dem Sujet an sich nicht mehr viel Neues abgewinnen ließ. Nonnos hatte also allen Grund, auf eine kontinuierliche und vollständige Wiedergabe zu verzichten und konnte sie gleichsam als Spielmaterial benutzen, um seine Darstellungskunst vorzuführen. Besonders rigoros hat er in den Anfangspartien der Europa-Geschichte gekürzt. Während die Liebesdichter gerade auf die Szene, in der der verliebte Zeus auf der Blumenwiese erscheint und Europa dazu verlockt, auf seinen Rücken zu steigen, besonderen Wert gelegt und sie, jeder auf seine Weise, wirkungsvoll ausgeschmückt hatten, rekapituliert Nonnos das alles nur mit wenigen Worten, setzt zugleich aber auch ganz andere Akzente: Σιδονίης ποτὲ ταῦρος ἐπ’ ᾐόνος ὑψίκερως Ζεὺς ἱμερόεν μύκημα νόθῳ μιμήσατο λαιμῷ καὶ γλυκὺν εἶχε μύωπα· μετοχμάζων δὲ γυναῖκα, κυκλώσας παλάμας περὶ, γαστέρα δίζυγι δεσμῷ, βαιὸς ῎Ερως κούφιζε· καὶ ἐγγύθεν ὑγροπόρος βοῦς κυρτὸν ὑποστορέσας λοφίην ἐπιβήτορι κούρῃ, δόχμιος ὀκλάζων, κεχαλασμένα νῶτα τιταίνων, Εὐρώπην ἀνάειρε.34

Mit dem ersten Vers spielt Nonnos auf die Darstellungen des Moschos und des Achilleus Tatios an,35 aus denen seine Leser all das kannten, was er selbst übergeht: wie sehr dieser Stier sich von allen gewöhnlichen Stieren unterschied und wie schön er war, wie Europa und der Zeus-Stier bei der Begegnung auf der Blumenwiese mit und ohne Worte miteinander kommunizierten (nur das sehnsüchtige Muhen ist geblieben), und wie sehr sich Europa zu ihm hingezogen

33 Zweiter Teil  der Europa-Geschichte: Nonn. Dion, 1, 321–362a; mit den referierten Überleitungsversen 362b–367 beginnt der zweite Teil der Typhonie, der bis zum Ende des ersten Buches (1, 534) reicht und die im zweiten Buch dargestellte Wiederherstellung der ZeusHerrschaft vorbereitet. 34 Nonn. Dion. 1, 46–53a: »An der sidonischen Küste ließ einst Zeus als hochgehörnter Stier aus falscher Kehle ein sehnsüchtiges Muhen ertönen, und eine süße Stechfliege beherrschte ihn. Doch der kleine Eros nahm eine Frau (vom Boden) hoch, sie mit den doppelten Fesseln seiner Arme umschlingend, und hob sie empor; und der meerfahrende Stier ließ direkt daneben seinen gewölbten Rücken hinab, damit das Mädchen darauf steigen konnte, und indem er seitwärts in die Knie ging und seinen entspannten Rücken ausstreckte, nahm er Europa darauf.« Zu den intertextuellen Bezügen vgl. Gigli Piccardi 2014, 129. 35 Vgl. Vian 1976 I, 137; Shorrock 2001, 34; Gigli Piccardi 2014, 128. Grundsätzlich zur Nachwirkung des Moschos auf das Epos des Nonnos: Bühler 1960, 27 f. und 207.

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fühlte.36 Bei Nonnos dagegen ist von den Empfindungen Europas überhaupt nicht die Rede, und um so mehr wird schon hier die besondere Rolle deutlich, die der Gott Eros in den Dionysiaka spielen wird. Er ist die Stechfliege,37 die Gewalt über Zeus hat, und er ist es, der »eine Frau« umschlingt und emporhebt. Wenn dann aber auch noch detailliert geschildert wird, wie der Stier sich niederlegt, damit er diese Frau auf seinen Rücken nehmen kann (dass sie Europa ist, wird erst nachträglich hinzugefügt), dann könnte man meinen, der Erzähler wollte ein Bild beschreiben, so wie Achilleus Tatios seinen Roman mit einer Bildbeschreibung eröffnet hatte. Die Fahrt Europas auf dem Rücken des Stiers dagegen nimmt bei Nonnos breiten Raum ein, und dieser Handlungsabschnitt ist in Wahrheit das einzige Thema des ersten Erzählblocks. Er wird jedoch nicht zusammenhängend dargestellt, sondern in drei Szenen aufgefächert, und zwar nach dem Prinzip, dass zunächst das Geschehen selbst geschildert und im Anschluss daran in seiner Wirkung auf miterlebende Zuschauer und Zeugen gespiegelt wird.38 Diese Spiegelungen werden in recht unterschiedlicher Weise vorgeführt und geben dem Leser einen ersten Eindruck von der im Proömium angekündigten ποικιλία. Im Einzelfall können sie den Charakter einer breit angelegten Musterrede annehmen. Am Anfang steht der Moment, in dem der Stier zum Meer läuft und geräuschlos über das Wasser eilt, auf seinem Rücken Europa, die bleich ist vor Furcht, unbewegt und vom Wasser unbenetzt.39 Die Wirkung dieses Bildes wird in vier knappen Reaktionen nachgezeichnet, beginnend mit der Perspektive eines bloß virtuellen Zuschauers, der zugleich die Gesamtheit repräsentiert: 36 Die Beschreibung des göttlichen Stiers wird bei Nonnos in einem ganz anderen Kontext nachgeholt, nämlich in dem Spruch des delphischen Orakels, in dem Kadmos aufgefordert wird, nicht länger nach diesem Stier zu suchen (Nonn. Dion. 4, 293–302): Dieser Stier entstamme keiner Kuh, kein Sterblicher könne den Stier des Olymps finden und kein Rinderhirt könne den Liebhaber Europas treiben; er suche keine Weiden und Wiesen auf und lasse sich von keiner Peitsche zwingen, sondern trage nur das sanfte Joch Aphrodites und beuge den Nacken allein vor Eros, aber nie vor Demeter. Die Pointe ist also wie bei Moschos das totaliter aliter dieses Stiers (Mosch. Eur. 80–88 und dazu o., S. 92 f.). Aber obwohl der Stier in der Sprache des Orakels noch geheimnisvoller wirkt als in der sublimierenden Beschreibung des hellenistischen Epyllions, und obwohl dem umherirrenden Kadmos die wahre Identität des Stiers auch in Delphi nicht offenbart wird, kommt er nun doch zu der Erkenntnis, dass er ihn niemals finden wird, und er beendet seine Suche. 37 Zur Stechfliege als Liebesgott und Liebestrieb in der antiken Literatur s. Vian 1976 I, 137. 38 Zur Funktion der (Zuschauer-) Reden bei Nonnos s. Krafft 1975, 109–131, aber auch Kuhlmann 1999, 398, Anm. 16. 39 Nonn. Dion. 1, 53b–57a. Dass der Stier bei der Berührung mit dem Wasser kein Geräusch macht, steht in V. 54 (ἄψοφον ὕδωρ), mit dem Begriff ἀστεμφής (V. 57) ist wohl nicht gemeint, dass Europa selbst sich nicht bewegte und regungslos saß, sondern dass sie von den Bewegungen des schwimmenden Stiers unberührt blieb.

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Er hätte die Frau auf dem Stier wohl für Thetis gehalten oder für Galatea oder auch für Poseidons Gattin Amphitrite, vielleicht aber auch für Aphrodite, sitzend auf den Schultern eines Tritonen.40 Es folgen die drei ›realen‹ Zuschauer Poseidon, Proteus und Nereus, also Meeresgottheiten, die am Ort des Geschehens gleichsam zu Hause sind. Poseidon, der bei Moschos als Herrscher über die Meere und zugleich als Geleiter des Hochzeitszuges eine bedeutende Rolle gespielt hatte, bleibt hier ganz unbeteiligt und gerät einfach nur ins Staunen.­ Triton durchschaut die Verwandlung des Zeus-Stiers und stimmt als Antwort auf dessen Muhen mit seinem Muschelhorn ein Hochzeitslied an. Zum aktiven Teilnehmer eines Brautzuges wie bei Moschos wird er dadurch natürlich nicht, aber das musikalische Duett ist ein gutes Beispiel für die humoristischen Züge in den Dionysiaka. Nereus schließlich betrachtet das Schauspiel mit einer Mischung von Verwunderung und Furcht, und wenn er seine Gattin Doris dar­auf aufmerksam macht, dann ist das fast schon eine Rezeption zweiten Grades.41 Erst in der zweiten Szene wird der Blick auf das Geschehen, das mit dem Kürzel Europa auf dem Stier umschrieben werden kann, vollständig freigegeben: Die »junge Frau« (νύμφη) hält sich furchtsam am Horn des Stiers wie an einem Steuerruder fest, die Liebessehnsucht persönlich ( Ἵμερος) wirkt als Matrose mit, und Boreas bläst in ihr Gewand, um lüstern mit ihren Brüsten zu spielen.42 Den epischen Vergleich, der sich daran anschließt  – der Stier trägt Europa so über das Wasser, wie eine Nereide auf einem Delphin reitet – können wir übergehen; sehr viel wichtiger sind für uns die darauf folgenden Verse: Der Stier drängt vorwärts über das Meer, Eros peitscht seinen Sklavenrücken und treibt den Gatten Heras auf Poseidons feuchte Gefilde. Durch die Pluralität der Akteure entspricht dieses Bild dem Brautzug im Epyllion des Moschos, aber durch die ungeheure Dynamik, die sich in der Gewalttätigkeit des Gottes Eros manifestiert (die keusche Athene schämt sich, als sie sieht, dass der Kronide von einer Frau geritten wird),43 stellt er geradezu einen Gegenentwurf dazu dar.44

40 Nonn. Dion. 1, 57b–59; die Anonymität des virtuellen Betrachters: ἰδὼν δέ μιν (ibid. 1, 57). 41 Nonn. Dion. 1, 60–65a. 42 Nonn. Dion. 1, 65b–71. Hier hat Nonnos das konventionelle Motiv des vom Wind gebauschten Gewandes nicht nur personifiziert, sondern auch voyeuristisch erotisiert; Boreas bläst eifersüchtig mit »hochzeitlichem Wehen« (γαμίῃ αὔρῃ, V. 69) gezielt auf die nackte Brust. Vgl. auch Gigli Piccardi 2014, 131. 43 Vergleich mit der Nereide auf dem Delphin: Nonn. Dion. 1, 72–79a; Zeus wird von Eros über das Meer getrieben: ibid. 1, 79b–83 (dazu vgl. Gigli Piccardi 2014, 132 f.); Athene wird schamrot bei dem Anblick: ibid. 1, 83b–85. 44 Das soll natürlich nicht heißen, dass die Gewalt, die Eros über den Stier ausübt, ohne Beispiel wäre. Ikonographisch ist sie z. B. durch die Darstellung auf dem oben beschriebenen apulischen Krater belegt (Abb. 3; s. o. S. 68). Dort sitzt der geflügelte Eros auf dem Stier und schlägt auf ihn ein, während er vor Europa auf die Knie geht.

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Die beiden Worte den »Gatten Heras« (νυμφίον ῞Ηρης, V.82) verdienen mehr Beachtung, als ihnen bisher zuteil geworden ist. Dass Zeus in den Dionysiaka bei allen seinen Liebesbeziehungen verheiratet ist, gehört, wie wir gesehen haben, zu den Grundvoraussetzungen des Werkes, wird jedoch erst im siebten Buch bei der Darstellung der zwölf Theogamien thematisiert. Wenn der Entführer Europas aber schon hier mit einer Antonomasie explizit als »Gatte H ­ eras« bezeichnet wird, dann wird damit gleich zu Beginn der Erzählung angekündigt, dass die Geschichte im Gegensatz zur gesamten übrigen Überlieferung nicht als ein Brautraub, sondern als eine der Liebesaffären des mit Hera verheirateten Zeus erzählt werden soll. Der Leser darf gespannt darauf sein, wie Heras Reaktion auf ihre Demütigung aussehen könnte.45 Beinahe verstörend wirkt die drastische Beschreibung der Gewalt, mit der der »doppelgestaltige« Eros46seine Herrschaft über den verliebten Zeus wie über einen Sklaven ausübt. Daraus folgt jedoch nicht, dass man der Liebe des Götterkönigs und seiner Unterwerfung unter Eros mit den Kategorien von freiwilligem vs. unfreiwilligem Handeln gerecht werden könnte. Das Verhältnis zwischen Eros und Zeus in den Dionysiaka lässt sich ohnehin mit einer so einfachen Formel nicht erfassen, und dass eine solche Vorstellung im Hinblick auf die Europa-Geschichte erst recht verfehlt wäre, zeigen die folgenden Verse. Dort kommentiert der Erzähler die Knechtung des Zeus-Stiers durch Eros nämlich, indem er daran erinnert, dass das Wasser des Meeres einst den Samen des Uranos empfangen und daraus die Göttin Aphrodite geboren habe, und deshalb, so seine Überzeugung, habe dieses Wasser auch die Liebesglut, die in dem Gatten Heras bei der Entführung Europas brannte, nicht kühlen können.47 Aber so eindringlich der Erzähler auch schildert, wie Eros den Sklaven­ rücken des Zeus-Stiers peitscht und ihn über das Meer jagt, so sollen wir dies doch offenbar nicht als einen für jedermann sichtbaren Anblick verstehen, sondern als Imagination und Deutung des Geschehens, als eine allegorische Verfremdung des Bildes Europa auf dem Stier.48 Deshalb lenken die beiden Verse, 45 Reeves 2003, 43 hat konstatiert, dass die Einführung Heras in die Europa-Geschichte eine Neuerung ist, sie ist sich der Bedeutung ihrer Beobachtung aber nicht bewusst geworden. 46 Vgl. Vian 1976 I, 12 f.: Die Gestalt des Eros etabliert die »union entre l’Europie et la­ Typhonie«. Eros ist διφυής wie bei Longos: der Knabe und zugleich »premier principe des unions créatrices« (1, 398), der πανδαμάτωρ, der, wie Zeus selbst zu ihm sagt, ebenso Typhon zu bezwingen vermag, wie er in Zeus die Liebessehnsucht zu Europa erregte (1, 398–407). 47 Nonn. Dion. 1, 86–88. Im 42. Buch erinnert eine Quellnymphe Dionysos daran, dass das Feuer der Liebe niemals durch kaltes Wasser gelöscht werden kann, nicht einmal durch ein ganzes Meer, und sie illustriert das (ohne das Uranos-Mythologem) mit der Liebesglut des Zeus-Stiers: Nonn. Dion. 42, 94–98 und dazu Fauth 1981, 74. 48 Die Verfremdung verdient um so mehr Beachtung, als es sich um ein allen Lesern aus der Malerei wohlvertrautes Bild handelt; auch der Beschreibung bei Achilleus Tatios (1, 1, 13) liegt eine solche Darstellung zugrunde. Aber das Thema der nachfolgenden Rede sollte eben Europa und der Stier auf dem Meer und sonst nichts sein.

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die die Perikope abschließen, zurück zu dem aus zahllosen anderen Darstellungen geläufigen Bild: So fuhr Europa auf dem Stier über das Meer und war zugleich seine Steuerfrau und seine Ladung.49 Auch dies ist schon ein sehr ungewöhnliches Bild. Es erinnert an den Flug des Ikarus, und gespiegelt wird seine Wirkung aus der Perspektive eines namenlosen griechischen Seemanns, der sich dadurch zu ausführlichen Reflexionen anregen lässt.50 Sie sind zwar ein illustratives Beispiel für die kaiserzeitliche Rhetorik des fünften Jahrhunderts51 und verdienen darüber hinaus auch im Hinblick auf die Intention und den Charakter der Dionysiaka besondere Aufmerksamkeit,52 für unsere Fragestellung sind sie jedoch weniger relevant. Im der dritten und letzten Szene der Darstellung Europa auf dem Meer sind die Schilderung des Geschehens und die seiner Wirkung miteinander verschlungen, und die Protagonistin ist nicht mehr nur Gegenstand der Betrachtung, sondern sie erhält nun selbst das Wort.53 Europa ahnt, was ihr bevorsteht, rauft sich das Haar und bricht in Wehklagen aus.54 In dieser Szene hat Nonnos zwei konträre literarische Konzeptionen miteinander verquickt. Im Hinblick auf den äußeren Ablauf des Geschehens ist das dieselbe Situation wie bei Moschos, denn auch dort wird Europa sich mitten auf dem Meer unversehens ihrer Situation bewusst und reflektiert sie in einem ausführlichen Monolog. Aber die Europa des Moschos ist alles andere als verzweifelt, und ihre Rede ist kein Selbstgespräch, sondern sie stellt Fragen an den seltsamen Stier, der sie über das Meer zu tragen vermag, und Zeus selbst gibt ihr Antwort darauf und verkündet ihr, dass er sie zu seiner Gattin erwählt hat. Deshalb entspricht die Rede Europas 49 Nonn. Dion. 1, 89–90a. Eine sehr interessante, aber ganz andere Deutung der Verse Nonn. Dion. 1, 80–85 bei Krafft 1975, 124. 50 Nonn. Dion. 1, 90b–126a. Das wohl bekannteste Beispiel für diesen Typus sind die namenlosen Beobachter bei Ovid – ein Angler, ein Hirte und ein Bauer –, die Dädalus und Ikarus am Himmel fliegen sehen und sie für Götter halten (Ov. met. 8, 217–220). Das reizvolle Motiv ist öfter in das Medium der Malerei umgesetzt worden; besonders berühmt ist das Gemälde von P. Brueghel d. Ä. (1555/58). 51 Zum Redetypus (τίνας ἂν εἴποι λόγους ὁ δεῖνα;) s. Vian 1976 I, 140, der die Stelle mit der Rede Europas an den Stier bei Moschos (Typ: τίς ἔπλεο;) vergleicht. Aber auch wenn Nonnos einzelne Motive dem Epyllion des Moschos entlehnt hat (dazu auch Gigli Piccardi 2014, 135), so sind die beiden Monologe doch grundverschieden. Die Rede des griechischen Seemanns ist eine für den Hergang des Geschehens irrelevante Deklamation über das Thema Europa auf dem Stier als Paradoxon, mit Illustrationen aus dem Repertoire der griechischen Mythologie. Als Beispiel für die kaiserzeitliche Rhetorik hat Minuto 2012 die Rede analysiert. 52 Darüber vorzüglich Fauth 1981, 23 f., der u. a. »die Ununterscheidbarkeit von Wirklichem, Möglichen und Unmöglichen« hervorhebt. Ganz andere Akzente setzt Kuhlmann 1999, 398, der die Rede des Seemanns (und die Europas) als Hinweis auf eine »Monstrosität von Zeus’ Handeln« versteht, aber selbst mit Recht hervorhebt, dass das Handeln des Zeus nicht im Mittelpunkt der Darstellung steht. 53 Nonn. Dion. 1, 126b–137. 54 Nonn. Dion. 1, 126b–127: βοέους δὲ γάμους μαντεύσατο κούρη, / καὶ πλοκάμους τίλλουσα γοήμονα ῥ­ῆξεν ἰωήν.

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in den Dionysiaka typologisch nicht der Rede Europas bei Moschos, sondern den Verzweiflungsreden der verlassenen Heroinen, wie wir sie aus der EuropaOde des Horaz und aus den Darstellungen der Ariadne-Geschichte kennen.55 Bemerkenswerter als das, was die Europa des Nonnos sagt, ist jedoch das, worüber sie schweigt: Der Monolog enthält nicht den leisesten Hinweis darauf, dass sie irgendeine Zuneigung zu dem Stier empfunden haben könnte, ganz im Gegenteil. Damit aber steht diese Rede in klarem Gegensatz zur literarischen Tradition, und zwar auch dann, wenn man von dem Epyllion des ­Moschos absieht, in dem die unbewusste Zuneigung Europas zu dem Stier schon in der Eingangsszene ein Leitmotiv ist. Da Nonnos gerade die Eingangsszene so stark verkürzt hat, bietet es sich an, die Europa-Ode des Horaz zum Vergleich heranzuziehen, in der der erste Teil der Geschichte ganz ausgespart ist. Bei Horaz blickt Europa in ihrer langen Rede auch auf ihre erste Begegnung mit dem Stier auf der Blumenwiese zurück, und hier zeigt sich, dass sie gerade deshalb, weil sie so wütend ist auf den Stier, sich vollkommen dessen bewusst ist, wie sehr sie ihn anfangs geliebt hat.56 Bei Nonnos dagegen gibt es nichts dergleichen, sie erscheint nirgendwo als eine Liebende. Weder erfahren wir in der Szene, in der sie von dem Allbezwinger Eros auf den Rücken des Stiers gesetzt wird, etwas darüber, was sie in diesem dramatischen Moment empfunden und ob sie überhaupt bei all dem etwas empfunden hat, noch sagt Europa in ihrem Klagemonolog darüber auch nur ein einziges Wort. Die einzige Gefühlsbewegung, von der sie bei Nonnos spricht, ist ihre Befürchtung, dass der Entführer mit ihr schlafen werde. Aber auch insgesamt hat der Monolog Europas substantiell und in seiner literarischen Gestalt nicht allzu viel gemein mit den Klage- und Verzweiflungsmonologen der antiken Dichtung, zu denen er gehört. In vier Apostrophen wendet sich die Entführte mit dramatischen Bitten und Aufträgen zuerst an das Wasser und an die Küsten, dann nochmals an die Küsten, danach an die Winde und schließlich an Boreas, den personifizierten Nordwind. In der ersten und vierten Apostrophe äußert sie den Wunsch, das Befürchtete doch noch abwenden zu können, die Bitten und Aufträge in der zweiten und dritten ergeben sich daraus, dass dieser Wunsch unerfüllbar ist. Charakteristisch für die rhetorischen Pointen dieses Monologs ist gleich in der ersten Apostrophe die Aufforderung an das Wasser und an die Küsten, dem Stier zu sagen, dass er doch barmherzig sein möge – obwohl, wie sie selbst hervorhebt, das Wasser und die 55 Zur Bedeutung der Rede für das Epos insgesamt s. Braden 1974, 860: »The Europa­ passage is the first of the poem’s numerous discursive trances, and it demonstrates the terms of much of what is to follow.« 56 Hor. c. 3, 27, 47 (modo multum amati). In Ovids Metamorphosen ist von den Gefühlen Europas keine Rede, weil das alleinige Thema Jupiters Liebeslust ist, aber selbst dort setzt Europa sich dann doch ohne fremdes Zutun und aus eigenem Entschluss auf den Rücken des Stiers.

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Küsten, an die sie sich wendet, nicht sprechen können, und auch dass Rinder überhaupt etwas vernehmen können, hält sie für unwahrscheinlich.57 In der zweiten Apostrophe bittet Europa die Küsten, ihrem Vater die Kunde von ihrer Entführung zu überbringen.58 Dieses Motiv erinnert an die Ode des Horaz, in der Europa ihrem Vater die Aufforderung in den Mund legt, sie solle sich von den Klippen in den Tod stürzen.59 Der Mutter aber sollen die Winde – das ist die dritte Apostrophe – gleichsam als Weihgeschenk eine Locke der Entführten überbringen.60 In der vierten Apostrophe schließlich wird, ähnlich wie in der ersten und wiederum im rhetorischen Gewand des Absurden und Paradoxen, noch einmal vorgeführt, dass und warum sich das Befürchtete nicht abwenden lässt: Boreas soll sie aus der Gewalt des Räubers befreien und in die Lüfte entführen, so wie er ja auch Oreithyia entführt habe – eine wahrhaft groteske Bitte, die Europa nur aussprechen kann, um sie sogleich wieder zurückzunehmen, denn der Windgott Boreas ist ja, wie sie sehr wohl weiß, erst recht wegen seiner unbeherrschten Liebesleidenschaft berüchtigt.61 Mit den Worten »So sprach das Mädchen, als es auf dem Stierrücken gefahren wurde« endet die Rede und damit auch der erste Teil  der Europa-Erzählung, also mit einem offenen Schluss. Danach richtet sich der Blick erstmals auf Kadmos, dessen Irrfahrten der Erzähler einleitend zur Europa-Geschichte als sein eigentliches Thema angekündigt hatte und zu der die Entführung Europas nur die Vorgeschichte sein sollte. Das wird mit dem Überleitungsvers »Deswegen wanderte Kadmos […]« noch einmal bekräftigt, und es beginnt der erste Teil 57 Nonn. Dion. 1, 128 f.: κωφὸν ὕδωρ, ῥηγμῖνες ἀναυδέες, εἴπατε ταύρῳ, / εἰ βόες εἰσαΐουσιν: ἀμείλιχε, φείδεο κούρης (»Stummes Wasser, sprachlose Küsten, sagt dem Stier, falls Rinder etwas vernehmen: ›Du unbarmherziger, verschone das Mädchen!‹«). Die humoristische Wirkung dieser Rhetorik auf den heutigen Leser steht außer Frage, aber ob das auch ihrer Intention entspricht, lässt sich schwerlich entscheiden. 58 Nonn. Dion. 1, 130–132: εἴπατέ μοι, ῥηγμῖνες, ἐμῷ φιλόπαιδι τοκῆ­ι / Εὐρώπην λιπόπατριν ἐφεζομένην τινὶ ταύρῳ / ἅρπαγι καὶ πλωτῆ­ρι καί, ὡς δοκέω, παρακοίτῃ. (»Ihr Küsten, sagt meinem sein Kind liebenden Vater: Europa hat ihr Vaterland verlassen und sitzt auf einem Stier, einem Räuber und Meerfahrer und, wie ich glaube, Beischläfer.‹«). 59 Hor. c. 3, 27, 61–63: sive te rupes et acuta leto / saxa delectant, age te procellae / crede­ veloci! Wenn hier eine Anspielung auf Horaz vorliegt (worüber man nur spekulieren kann), dann hat Nonnos das Motiv dadurch, dass er die Rollen (Subjekt bzw. Objekt der Rede) vertauscht hat, erneuert. 60 Nonn. Dion. 1, 133: μητέρι βόστρυχα ταῦτα κομίσσατε, κυκλάδες αὖραι. (»Bringt meiner Mutter, ihr kreisenden Winde, diese Locken!«). Vgl. dazu Gigli Piccardi 2014 ad loc. (p. 138 f.). 61 Nonn. Dion. 1, 134–136: ναί, λίτομαι, Βορέης, ὡς ἥρπασας Ἀτθίδα νύμφην, / δέξο με σαῖς πτερύγεσσι μετάρσιον· ἴσχεο, φωνή, / μὴ Βορέην μετὰ ταῦρον ἐρωμανέοντα νοήσω. (»Wirklich, ich flehe dich an, Boreas, so wie du das Mädchen aus Attika geraubt hast, heb mich mit deinen Flügeln empor – halt inne, meine Stimme, damit ich nicht nach dem Stier auch noch Boreas als liebesrasenden sehe!«). Der Leser erinnert sich daran, dass Boreas seine Lüsternheit gerade eben erst unter Beweis gestellt hatte, indem er durch sein Wehen Europas Brust entblößte (Nonn. Dion. 1, 69).

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der Typhonie, die, wie wir gesehen haben, bei Nonnos den Kadmos-Geschichten hierarchisch untergeordnet ist.62 Danach kehrt der Erzähler mit derselben Verknüpfungstechnik zur Europa-Geschichte zurück, aber jetzt werden nicht die Irrfahrten des Kadmos durch die Entführung Europas motiviert, sondern die Ankunft Europas auf Kreta wird auf die Zeit datiert, zu der Kadmos bei den Arimern umherirrte,63 und dadurch diesem Thema auch formal untergeordnet. Indessen schildert der Erzähler jetzt nicht etwa das, was nach der Landung auf Kreta geschah, sondern nun kommt es erst einmal zu einem Intermezzo: Hera tritt auf. Angesichts des von Liebesleidenschaft erregten Kroniden habe sie, rasend vor Eifersucht, mit grimmigem Lachen ihre Stimme erhoben.64 Dass die betrogene Hera reagiert, bevor der Betrug überhaupt stattgefunden hat, ist ohne Beispiel.65 Hier wird mit aller Klarheit das Dilemma sichtbar, das sich aus der Prämisse ergab, dass Zeus Europa während seiner Ehe mit Hera entführt haben sollte. Einerseits ließ sich das stereotype Handlungsmuster, nach dem man solche Liebesaffären zu erzählen pflegte – die Göttin kompensiert ihre Erniedrigung mit einer erbarmungslosen Verfolgung ihrer Rivalin –, nicht auf die Europa-Geschichte übertragen, andererseits war eine Hera, die eine solche Demütigung einfach hingenommen und nicht mit Erbitterung und Zorn darauf reagiert hätte, erst recht unvorstellbar. Wir haben bereits gesehen, dass sich dieses Dilemma, solange die Geschichte nur beiläufig erwähnt wurde, durch eine geschickte Formulierung überspielen ließ, nicht jedoch, wenn sie auch entfaltet und wirklich erzählt werden sollte.66 Nonnos hat das Problem durch ein fast bizarres Konstrukt zu lösen versucht. Erstens hat seine Hera überhaupt nicht die Absicht, sich an ihrer Rivalin zu rächen, und ihr sprichwörtlicher Groll (γελόωντι χόλῳ) gilt auch gar nicht Europa, sondern ausschließlich ihrem Gatten Zeus (Κρονίδην ὁρόωσα), und zweitens – das ist die zwingende Konsequenz daraus – reagiert die Göttin nur 62 »So sprach das Mädchen …«: Nonn. Dion. 1, 137 (ὣς φαμένη ῥαχίῃσι βοὸς πορθμεύετο κούρη). »Deswegen wanderte Kadmos«: ibid. 1, 138 (Κάδμος ὅθεν …; s. o., S. 189, Anm. 28). Das ὅθεν muss man wohl zugleich temporal und kausal verstehen. 63 Nonn. Dion. 1, 321–323. Bei Ovid ist es noch umgekehrt: Die Cadmus-Geschichten werden als Folgehandlung auf den Zeitpunkt datiert, zu dem der Jupiter-Stier sich Europa zu erkennen gegeben hatte: met. 3, 1–4 (dazu s. o. am Ende von Kap. 4). 64 Nonn. Dion. 1, 324 f. (καὶ Κρονίδην ὁρόωσα πόθῳ δεδονημένον ῞Ηρη / ζηλομανὴς γελόωντι χόλῳ ξυνώσατο φωνήν·). 65 Krafft 1975 hat (in Auseinandersetzung mit Wifstrand)  zu Recht zweierlei hervorgehoben: erstens geht die Handlung während der Rede Heras nicht weiter (110 f. und 124), und zweitens hat man sich die Rede, wenn man sie denn im Ablauf des Geschehens fixieren will, in dem Moment der Ankunft an der Küste vorzustellen, also schon vor der Liebesvereinigung und nicht erst danach (ibid. 124). 66 S. o., S. 187 mit Anm. 16 zu Nonn. Dion. 4, 166–170: Aphrodite unterscheidet bei ihren Beispielen für Heras Eifersucht zwischen dem bloßen Groll gegen Europa und der grausamen Verfolgung Ios.

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mit Worten statt mit Taten. Anders gesagt: Weil in der Europa-Geschichte eine Folgehandlung wie in den Liebesgeschichten, die von Semele oder von Alkmene handeln, nicht möglich war, lässt Nonnos seine Hera ersatzweise ein grimmiges Selbstgespräch über den verliebten Zeus führen.67 Dabei hat sie sich aber so gut in der Gewalt, dass man diesen Monolog nicht einmal zum konventionellen Typus der Affektreden Heras rechnen kann, der im antiken Epos und in der Tragödie so beliebt war. Das Leitmotiv der Rede ist der falsche Stier. Dies jedoch nicht etwa in dem Sinne, dass Zeus sich verwandelt haben könnte, um nicht von Hera ertappt zu werden, wie das erstmals in dem interpolierten Vers bei Moschos zum Ausdruck gebracht und in der Neuzeit zur communis opinio geworden ist,68 sondern ganz im Gegenteil: Auch in den Dionysiaka des Nonnos, der einzigen Version der Europa-Erzählung, in der Zeus mit Hera verheiratet ist, kommt nicht einmal die betrogene Gattin auf die Idee, dass die List des Zeus ihr selbst gegolten haben könnte.69 Vielmehr konkretisiert sich im Motiv des falschen Stiers der Gegensatz von Schein und Wirklichkeit, und zum Leitmotiv dieser Rede wird es, weil Hera sich vorzustellen versucht, wie übel es dem stiergestaltigen Zeus ergehen könnte, wenn er nicht nur von Europa, sondern auch von anderen für einen echten Stier gehalten würde. Diesen Gedanken kann man gewiss für lächerlich und vielleicht sogar für eine Karikatur halten,70 aber damit ist die Pointe noch nicht erfasst, denn Heras grimmiges Lachen entspricht inhaltlich exakt der scharfen Kritik antiker Autoren an den Göttern der mythologischen Überlieferung, die sich selbst erniedrigen, indem sie unter der Übermacht der Liebe ihre göttliche Gestalt ablegen,71 nur dass Hera zugleich das Opfer einer solchen Erniedrigung ist. Entfaltet wird die Wunschvorstellung, der Zeus-Stier könnte für einen echten Stier gehalten werden, in Heras Rede durch Rekurs auf einschlägige Mythologeme, die von Stieren oder von Kühen handeln. Die rhetorische Form ist zu 67 Krafft 1975, 124 f. meint zwar, Heras Affekt sei »nicht Zorn angesichts der flagranten Untreue des Gatten«, sondern »ein γελόων χόλος beim Anblick des verwandelten Kroniden«, aber da sich in der Verwandlung die Untreue manifestiert, wird man das kaum voneinander trennen können. 68 Mosch. Eur. 77 und dazu o. Kap. 3.2. 69 In der modernen Nonnos-Forschung spielt die irrige communis opinio der altertumswissenschafltichen Literatur, dass Zeus sich bei seinen Liebschaften zu verwandeln pflege, um seine Gattin Hera zu täuschen, keine Rolle und ist, soweit ich sehe, nicht auf die EuropaErzählung der Dionysiaka appliziert worden. Wenn man das aber doch tut, dann kommt man unter dieser Prämisse zwangsläufig zu der Schlussfolgerung, dass die Täuschung misslungen, die Verwandlung ohne Funktion und die Rede Heras sinnlos sei (so Kuhlmann 2012, 488). Umgekehrt ist der vermeintliche Anstoß beseitigt, sobald man auf die falsche Prämisse verzichtet. 70 Diesen Aspekt hat vor allem Krafft 1975, 125 f. herausgearbeitet. 71 Einer der besten Belege dafür ist Sen. Phaedr. 274–324; dazu s. o., S. 28 f.

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nächst, ebenso wie schon in der Europa-Rede, die Apostrophe, und zwar der Apostrophe an die bloß imaginierten Adressaten72 Apollon und Zeus. Erst in den letzten Versen wird die Rede zu einem Selbstgespräch im engeren Sinn, beginnend mit einer Anrede Heras an sich selbst. Ganz am Anfang steht die Aufforderung an Apollon, er solle Zeus helfen, damit er nicht von einem Bauern vor den Pflug gespannt werde – oder es wäre noch besser, wenn dies doch geschehe, denn dann könnte sie ihn mit den Worten verspotten: »Ertrage zweifach den Stachel, den der Bauern und den der Eroten!«73 Damit beweist die Göttin zugleich ihre vorzüglichen literarischen Kenntnisse, denn die Anspielung auf den Zeus-Stier vor dem Pflug und unter der Knute des Eros bezieht sich auf ein in der hellenistischen Literatur beliebtes Motiv, das auch durch ein Epigramm des Moschos belegt ist.74 Das zweite Mythologem – es gehört ebenfalls noch zu der Apostrophe an Apoll – ist kaum weniger erlesen und enthält den gleichen Grundgedanken: Apollon möge als Nomios auf Zeus aufpassen, denn sonst würde ihn wohl die Rindertreiberin­ Selene einschirren und seinen Rücken mit schonungsloser Peitsche markieren, wenn sie es eilig habe, zu Endymion zu kommen.75 Im zweiten Teil der Rede, der durch die Apostrophe an Zeus bestimmt ist, stammt das erste der beiden Mythologeme aus der Io-Geschichte. Hera bedauert sarkastisch, dass Zeus sich nicht in Stiergestalt mit der kuhgestaltigen Io vereinigt habe, denn dann hätte er einen Stier mit ihr gezeugt.76 Mit dem zweiten warnt sie ihn ebenso sarkastisch davor, dass Hermes einen neuen Rinderdiebstahl verüben könnte, denn dann wäre sein eigener Vater, also Zeus selbst, das Opfer, und er würde den »geraubten Räuber« bei seinem Sohn Apoll zum Tauschgeschenk für die Kithara machen.77

72 Vgl. Braden 1974, 865 und Krafft 1975, 126; generell zu den Reden ohne Zuhörer bei Nonnos: Wifstrand 1933, 142. 73 Mythologem Stachel der Liebe: Nonn. Dion. 1, 326–329; das Zitat (V. 329): »τέτλαθι διπλόα κέντρα καὶ ἀγρονόμων καὶ Ἐρώτων.« 74 Moschos: Anth. Plan. (= Anth. Pal. 16), 200 (s. dazu o., S. 93, Anm. 128). Weiteres zu den literarischen Anspielungen in Nonn. Dion. 1, 326–329 bei Vian 1976 I, 155 und Gigli­ Piccardi 2014 ad loc. (p. 160 f.). 75 Mythologem Selenes Rindergespann: Nonn. Dion. 1, 330–333; das Rindergespann ist eine später beliebt gewordene Variante zum Pferdegespann Selenes. 76 Mythologem Vereinigung des Zeus mit Io: Nonn. Dion. 1, 334–336; hier wird um der Pointe willen vorausgesetzt, dass Io schon eine Kuh war, als Zeus sich mit ihr vereinigte. Der Einfall ist zwar nicht besonders geschmackvoll, aber naheliegend, und schon Martial hat ihn in seinen Apophoreta für ein Epigramm benutzt (Mart. 14, 180). 77 Mythologem Tausch des geraubten Räubers (ἅρπαγος ἁρπαμένου) gegen die Kithara: ibid. 1, 337–340a; so wie Hermes seinem Bruder Apollon die Rinder geraubt hatte, könnte er nun den Zeus-Stier rauben, der als Entführer Europas selbst ein Räuber ist. Der Vergleich ist reichlich schief, denn der Zeus-Stier hat, anders als die Rinder des Apollon, keinen Eigen­ tümer, den der Meisterdieb Hermes mit der Leier entschädigen könnte.

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Die Verse zeichnen das Bild einer Göttin, die sich über ihre Situation vollkommen im klaren ist. Dass sie Zeus nicht daran hindern kann zu tun, was ihm beliebt, versteht sich von selbst, und sie verschwendet keinen Gedanken daran.78 Aber ebenso gut weiß sie natürlich – das zeigen die mythologischen Adynata –, wie unrealistisch ihre Wunschvorstellung ist, ihr Gatte könnte seiner eigenen Verwandlungslist zum Opfer fallen.79 Hier fehlen alle die typischen Merkmale der Affektmonologe, in denen die Göttin sonst ihren Zorn zum Ausdruck zu pflegen bringt: statt assoziativ gelenkter Gedankenführung klarer rhetorischer Aufbau,80 statt maßloser Ichbezogenheit und Steigerung in den Affekt desillusionierter Sarkasmus. Fast könnte man meinen, die Hera des Nonnos sollte das Geschehen aus der Perspektive einer unbeteiligten Zuschauerin kommentieren, um nicht zu sagen: einer gebildeten Literatin. Dass sie sich, anders als etwa bei der Liebesbeziehung des Zeus zu Semele, nicht in ihrer Ehre als Gattin und Schwester des Götterkönigs gekränkt fühlt, lässt sich dagegen wohl eher mit einem bewussten oder auch unbewussten Zugeständnis des Erzählers an die Vulgata der Europa-Geschichte erklären. An dieser Stelle müsste die Hera, die wir aus den typischen Affektmonologen kennen, innehalten, und es würde ein Umschwung erfolgen: Der Göttin würde plötzlich bewusst, dass ihr doch noch eine Möglichkeit bleibt, ihre Demütigung zu rächen, und sie würde mit Lust und Wonne ihren Racheplan entfalten.81 In der Tat hält auch die Hera des Nonnos hier inne, aber einen Umschwung gibt es nicht. Vielmehr zieht sie aus all dem bisher Gesagten das Fazit mit der rhetorischen Frage »Aber was soll ich tun?«82 Die darin schon enthaltene Antwort, dass sie eben gar nichts tun kann, wird in dem letzten Mythologem entfaltet, wiederum einem Adynaton, und hier wird 78 Es ist also nur konsequent, dass es Hera nicht nur völlig fernliegt, Zeus jetzt in fla­ granti ertappen zu wollen, sondern dass sie nicht einmal auf die Idee kommt, sie könnte ihn danach zur Rede stellen. 79 Es ist bezeichnend, dass einer von den vier irrealen Wünschen (Zeus hätte sich in Stiergestalt mit Io vereinigen sollen) sogar ein Irrealis in der Vergangenheit ist. 80 Die beiden Apostrophen an Apollon (Nonn. Dion. 1, 326–333) und an Zeus (ibid.­ 334–340a) füllen jeweils etwa sieben Verse, von denen je drei Verse dem ersten und je vier Verse dem zweiten Mythologem gewidmet sind. 81 Zu den Stereotypen eines Affektmonologs gehört auch, dass die Gottheit sich trotz ihrer Ohnmacht doch zu irgendetwas, und wäre es nur eine Ersatzhandlung, durchringt. Schon Vergils Juno ist ein eindrucksvolles Beispiel für gefühlte und tatsächliche Machtlosigkeit, weil sie, wie sie selbst erkennt, nichts ausrichten kann gegen das, was durch die fata vorherbestimmt ist (Verg. Aen. 1, 38: quippe vetor fatis). Aber eines kann sie eben doch, nämlich die Erfüllung des Schicksals für Aeneas so schrecklich wie möglich zu gestalten, und indem sie das tut, kann sie ihren Affekt ausleben und ihre Zurücksetzung gegenüber anderen Gottheiten relativieren. 82 Nonn. Dion. 1, 340b: »ἀλλὰ τί ῥέξω;« mit derselben Formulierung stellt kurz danach (ibid. 1, 381 f.) Zeus fest, dass seine Aigis ihm nach dem Verlust des Blitzes nichts hilft: »ἀλλὰ τί ῥέξει αἰγὶς ἐμὴ […];«.

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noch einmal mit der Möglichkeit gespielt, der falsche Stier könnte für einen echten gehalten und als solcher behandelt werden. Es stammt aus der Geschichte von Argos und Io, die zu den Beispielen für die Macht der Götterkönigin gehört. Sie selbst hatte den vieläugigen Argos zur Bewachung der kuhgestaltigen Io eingesetzt, und wenn er noch am Leben wäre, dann hätte er den Zeus-Stier auf eine unwegsame Weide ziehen, hätte ihm die Flanken schlagen können. Aber Argos war von Hermes mit einem Stein erschlagen worden, und mit der resignierenden Feststellung, dass »der Rinderhirt Heras« nicht mehr lebt, schließt das Selbstgespräch Heras.83 Damit ist das Intermezzo beendet, Hera verschwindet so unvermittelt, wie sie aufgetreten war, und ihr Selbstgespräch bleibt ganz ohne Wirkung auf den Fortgang der Handlung. Das mag an die anderen eingelegten Reden und besonders an die des griechischen Seemanns erinnern, aber es gibt einen fundamentalen Unterschied, und der liegt in der Person der Redenden: Anders als der namenlose Seemann ist Hera in das Geschehen involviert, sie ist als betrogene Gattin des Zeus eine wenn auch nur virtuelle Akteurin, und deshalb stellt sie ja die rhetorische Frage »Aber was soll ich tun?« (ἀλλὰ τί ῥέξω;), die im Munde des Seemanns völlig absurd wäre.84 Ein größerer Gegensatz zu den Erzählungen, in denen Hera die Demütigung durch ihren Gatten mit der Vernichtung seiner Geliebten kompensiert und am Ende den Triumph über ihre Rivalin feiert, ist nicht vorstellbar. Um so mehr Gewicht hat es, wenn die Erzählung in den ­Dionysiaka nun genau an der Stelle, an der sie für Heras Rede unterbrochen worden war, fortgesetzt wird, als Manifestation der Ohnmacht, der die Göttin sich nur allzusehr bewusst ist: Zeus vollzieht die Theogamie mit Europa unter den Augen seiner Gattin Hera. Nonnos hat diese Szene sehr viel detaillierter als Moschos und mit unverkennbar voyeuristischen Zügen geschildert, und er hat keinen Zweifel daran gelassen, dass es Zeus um nichts anderes als darum geht, seine sexuellen Wünsche zu befriedigen.85 Um so knapper gibt er die beiden Nachrichten wieder, die zum Kernbestand der mythologischen Überlieferung gehörten, nämlich, dass Zeus drei hochberühmte Söhne mit Europa gezeugt und dass er sie später mit Asterion, dem König von Kreta, vermählt habe.86 Die Nachricht von der Geburt von 83 Mythologem Io und Argos: Nonn. Dion. 1, 341–343; die beiden Worte »Rinderhirt­ Heras« (βουκόλος ῞Ηρης) bilden die Schlusspointe. Zur literarischen Tradition dieser Erzählung: Heldmann 2015. 84 Das ist übersehen in der im übrigen sehr treffenden Analyse von Krafft 1975, 123 ff., mit Nachdruck hervorgehoben dagegen von Braden 1974, 865: »it has no hope of persuading anyone, of changing anything, […] Her speech is of no narrative consequence […].« 85 Nonn. Dion. 1, 344–351; im Vergleich zu der Schilderung in den Dionysiaka ist selbst die frivole Darstellung Lukians diskret (dial. mar. 15, 4; zitiert o., S. 111, Anm. 203). Zur Vorliebe des Nonnos für voyeuristische Erzählelemente s. Kuhlmann 2012, 487 f.; anders Reeves 2003, 43: »it is a very tender and romantic scene.« 86 Zur Vermählung mit Asterion s. o., S. 82.

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drei Söhnen setzt, wie wir gesehen haben, voraus, dass Zeus länger bei Europa geblieben war, und das war, wenn er bei der Entführung mit Hera verheiratet war, natürlich  a priori unmöglich. Deshalb gibt es bei Nonnos nur eine einmalige Liebesvereinigung, bei der Europa Zwillinge von Zeus empfängt. Danach übergibt er sie dem Asterion als Gattin.87 Das ist wie in der Vulgata ein Akt der Fürsorge, weil die schwangere Europa nur dadurch eine gesicherte Zukunft erhält.88 Die Bestätigung dafür findet sich in der Dankesrede des Zeus an Kadmos im zweiten Buch der Dionysiaka, die wir schon einmal erwähnt haben: Kadmos solle, so heißt es dort, nicht weiter nach dem Stier suchen, der Europa entführt habe, da Asterion, der König von Kreta, sie unter dem Joch Aphrodites zur Gattin genommen habe.89 Den Schluss der Erzählung bildet auch bei Nonnos der Katasterismos, der mit detaillierten astronomischen Angaben beschrieben wird, und damit kehrt der Erzähler zur Typhonie zurück: Zeus verlässt zusammen mit Eros den Himmelspol, trifft den umherwandernden Kadmos, und damit ist die Niederlage des Typhon eingeläutet.90

87 Nonn. Dion. 1, 352–355a. Dass Zeus in diesem Zusammenhang als ›Gatte‹ (Ζεὺς πόσις, V. 355) bezeichnet wird, ist keineswegs ein Sarkasmus. In den Dionysiaka wird Zeus auch sonst nicht nur mit Bezug auf Hera πόσις genannt. Semele verwendet in ihrer Bittrede an Zeus die Anrede »gehörnter Gatte Europas« (Εὐρώπηs κερόεις πόσις, Nonn. Dion. 8, 291), und der Erzähler selbst nennt Zeus ibid. 8, 370 den πόσις Semeles. Der feierliche Ton ist an beiden Stellen unverkennbar, und um einen feierlichen Akt handelt es sich ja auch bei der Vermählung mit Asterion, zu dem nur Zeus als der πόσις Εὐρώπηs die Legitimation besitzt. 88 Anders Kuhlmann 1999, 399; er meint, dass es Zeus darum zu tun wäre, Europa »an einen anderen Mann abzuschieben«, obwohl er »eben noch so leidenschaftlicher Liebhaber« gewesen sei, aber »nur bis zur Liebesvereinigung Gefühle für Europa« gehabt habe, dass also mit dem Hinweis, dass er dies als Gatte Heras tue, »die vermeintliche Liebe des Zeus als bloße Triebhaftigkeit entlarvt« werde. 89 Nonn. Dion. 2, 693–696. Man sollte nicht daran Anstoß nehmen, dass Zeus hier verschweigt, welche Rolle er selbst bei der Vermählung Europas mit Asterion gespielt hat, denn er will Kadmos darüber natürlich nur so viel wie unbedingt nötig offenbaren. 90 Katasterismos des Stiers: Nonn. Dion. 1, 355b–362a; das Ende Typhons naht, da Zeus nun den Himmelspol verlässt und Kadmos begegnet: ibid. 1, 362b–367. Dass der Zeus-Stier sich in menschliche Gestalt zurückverwandeln und zugleich an den Himmel versetzt werden kann, ist wohl nur aus moderner Perspektive ein Widerspruch (s. Kuhlmann 2012, 488 f.); Ovid jedenfalls hat es in den Fasti schon ganz ähnlich dargestellt (Ov. f. 5, 616 f.).

Zusammenfassung

(1.) In den antiken Erzählungen über die Liebschaften des Zeus sind die Kränkungen Heras ursprünglich nicht durch eine Demütigung der betrogenen Gattin, sondern allein dadurch motiviert, dass Zeus hochberühmte Nachkommen zeugt, ohne sie daran zu beteiligen. Dieses Kriterium hat auch für die anderen Götter entscheidende Bedeutung, wenn sie der Macht Aphrodites unterliegen (Beeinträchtigung des Prestiges durch sterbliche Kinder). Erst in den jüngeren Erzählungen seit hellenistischer Zeit fühlt Hera sich zusätzlich auch als Gattin gedemütigt und rächt sich dafür an ihren Rivalinnen. Aufgrund der Asymmetrie der Macht nimmt weder Zeus Rücksicht auf ­Heras Eifersucht noch stellt sie ihn zur Rede. Die Selbstverwandlungen des Zeus sind nicht der Versuch, sich nicht ertappen zu lassen, sondern dienen, wie bei den anderen Göttern auch, als strategisches Mittel zur Verführung der G ­ eliebten. Bei den Liebschaften des Zeus gibt es zwei Erzähltypen, die sich grundsätzlich voneinander unterscheiden. Das Kriterium dafür ist, ob man sich Zeus als nicht verheiratet vorgestellt hat oder ob er sich als Gatte Heras verliebt hatte. Bei dem ersten Typus (Beispiel Danaë) ist die Erzählung mit der Liebesvereinigung beendet, beim zweiten Typus (Beispiel Semele) schließt sich eine Erzählung von Heras Rache an (zweiteilige Erzählstruktur). Da die Rache Heras in der jüngeren Dichtung ein besonders attraktives Thema war (ira Iunonis), trat der zweite Teil der Handlung bei diesem Erzähltypus (Hera vernichtet ihre Rivalin oder deren Nachkommen) immer mehr in den Mittelpunkt des Interesses (Beispiel Callisto). In der Europa-Erzählung fehlen die dafür erforderlichen Voraussetzungen.

(2.) Der Brautraub ist in der Antike eine Sonderform der Eheschließung und unterscheidet sich dadurch grundsätzlich sowohl von einer Vergewaltigung als auch von allen anderen Formen eines Frauenraubs: Der Bräutigam entführt die Braut aus der Obhut ihrer Eltern in seine Heimat und gibt ihr dort ein neues Zuhause. Die Regeln und die möglichen Regelverstöße sind besonders gut an den antiken Berichten vom Raub der Sabinerinnen (kollektiver Brautraub) erkennbar. Voraussetzung ist normalerweise die Zustimmung der Brauteltern, die den Brautwerber aber nicht willkürlich abweisen dürfen. Die beiden wichtigsten Kriterien

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für die Legitimation eines Brautraubs im Konfliktfall sind der Rang und das Ansehen des Brautwerbers sowie das Einverständnis der Braut; sie spielen in der Argumentation des Romulus eine herausragende Rolle. Das berühmteste, aber nicht einzige mythologische Beispiel für einen Braut­ raub ist der Raub der Persephone (Homerischer Demeterhymnus, Ovid): Der König der Unterwelt entführt Persephone in sein Reich, um dort die Ehe mit ihr zu schließen. Er tut dies heimlich vor der Brautmutter Demeter, aber im Einvernehmen oder sogar auf Befehl des Brautvaters Zeus, der es für ausgeschlossen hält, dass sie dieser Verbindung zustimmen würde. Auch er rechtfertigt den Raub (gegenüber Demeter) mit dem besonders hohen Rang des Schwiegersohns. Das zweite Argument für die Legitimation dagegen fehlt in diesem Falle: Persephone ist gegen ihren Willen entführt worden, und das ist v. a. in der späteren (Liebes-)Dichtung thematisiert worden. Es wird jedoch im Fortgang der Handlung dadurch irrelevant, dass Persephone in der Unterwelt Speise zu sich genommen und sich damit in das Haus ihres Entführers integriert hat. Das gleiche Handlungsmuster liegt der Erzählung vom Raub Oreithyias durch Boreas und der von der Entführung Helenas zugrunde.

(3.) (3.1) Dass die Antike die Entführung Europas als einen Brautraub verstanden hat, ist schon an der Bildsprache der archäologischen Denkmäler abzulesen: Europa wird ikonographisch als eine Braut dargestellt, und Zeus entführt sie in seine Heimat Kreta, um dort die Ehe mit ihr zu schließen. Von den literarischen Darstellungen der älteren griechischen Literatur ist nur wenig erhalten, nämlich ein mythographisches Kurzreferat der Erzählung Hesiods in den Frauenkatalo­ gen und einige wenige Verse aus einer verlorenen Aischylos-Tragödie. Der Text des Kurzreferats beginnt mit der Selbstverwandlung in einen Stier, die als List des verliebten Zeus zur Täuschung Europas erscheint (von Hera ist gar keine Rede); in der Gestalt eines Stiers trägt Zeus Europa über das Meer und bringt sie in seine Heimat Kreta, wo er sich mit ihr vereinigt und drei Söhne mit ihr zeugt. Die Legitimation des Brautraubs durch Zustimmung des Brautvaters erübrigt sich, weil der Schwiegersohn Zeus ist. Ein Teil der von dem Mythographen referierten Erzählung ist bruchstückhaft auf einem Papyrusfragment erhalten, und dort wird berichtet, dass Zeus von Hephaistos ein wunderbares Schmuckstück für Europa anfertigen ließ, das sie, wie wir aus anderen Quellen erfahren, ihrem Bruder Kadmos als Hochzeitsgeschenk für Harmonia weitergab. Wenn den antiken Erzählungen nichts über das spätere Schicksal Europas zu entnehmen ist, bedeutet das nicht, dass Zeus sie so wie bei anderen Liebschaften verlassen hätte. Gefüllt wird die Leerstelle durch die auch in dem mythographischen Kurzreferat belegte Überlieferung, Zeus habe später für Europa durch ihre Vermählung mit dem Kreterkönig Asterion gesorgt.

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Der dramatische Zeitpunkt der Europa-Tragödie des Aischylos liegt nach diesen Ereignissen: Europa blickt zurück auf ihre Entführung durch einen von Zeus gesandten Stier, mit dem er ihren Vater überlistet und sie nach Kreta habe bringen lassen. Der Fokus ihres Rückblicks aber liegt auf den drei Söhnen, die sie dem Göttervater geboren hat und die mittlerweile zu Helden herangewachsen sind. Die Dreizahl der gemeinsamen Söhne entspricht der Vulgata und setzt, ebenso wie die Rede der aischyleischen Europa insgesamt voraus, dass Zeus Europa nicht nach einem einmaligen Liebesakt verlassen haben kann, wie das von der Forschung für zwingend gehalten wird. Da es dafür keinen Beleg gibt, hat man postuliert, dies müsse in Hesiods Frauenkatalogen, und zwar in den verlorenen Versteilen des Papyrusfragments, berichtet worden sein. Dafür gibt es im Text jedoch keinen Anhaltspunkt. (3.2) Der Europa-Mythos war in der hellenistischen Dichtung schon vor der Zeit des Moschos ein beliebtes Sujet, aber wir besitzen nur noch sein Epyllion Europa. Dies ist die einzige erhaltene Darstellung überhaupt, in der die Geschichte vollständig behandelt wird. Das Epyllion beginnt mit einem Traum der Protagonistin, dem der Leser entnehmen kann, dass Aphrodite das Geschehen lenken und dass Europa sich ihrem Entführer (anders als Persephone) gern hingeben wird. In der ersten Szene erscheint Zeus, von den Geschossen des Kypris bezwungen, in Gestalt eines Stiers auf der Blumenwiese bei Europa und ihren Freundinnen. Seine Selbstverwandlung wird in zwei Versen doppelt begründet, nämlich mit dem Wunsch, dem Zorn Heras zu entgehen, und mit der Absicht, Europa zu täuschen, um sie entführen zu können. Indessen kann der erste der beiden Verse ursprünglich nicht im Text gestanden haben, sondern er ist erst von späterer Hand hinzugefügt worden. Damit entfällt der einzige vermeintliche Hinweis auf die Furcht des Zeus vor dem Zorn Heras, den es in den Europa-Erzählungen vor dem spätantiken Epos des Nonnos gibt. Europa setzt sich furchtlos und mit einem Lächeln auf den Rücken des Stiers und lässt sich gern von ihm davontragen. Das Hochzeitsgeleit geben die Meeresgötter, und das unbewusste Einvernehmen der Entführten mit ihrem Entführer zieht sich wie ein roter Faden durch die Erzählung des Moschos. Auch die Szene, in der sich Europa mitten auf dem Meer ihrer Situation bewusst wird und den Stier fragt, was mit ihr geschieht, ist davon geprägt (Europa hat das Haus ihres Vaters verlassen, um dem Stier zu folgen). Dass Zeus ihr schon hier, also auf hoher See und vor der Ankunft auf Kreta, seine Identität offenbart, ist besonders auffällig und vermutlich erst von Moschos in die Geschichte eingeführt worden: Zeus verkündet ihr, dass er sie in seine Heimat Kreta bringen werde, um sich dort mit ihr zu vermählen und sie zur Mutter seiner Kinder zu machen. Die Erfüllung der Ankündigung wird nur noch ganz knapp berichtet, und das­ Epyllion endet mit dem Wort Mutter (μήτηρ).

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In der Vulgata war Europa dagegen durchaus nicht furchtlos, und Zeus offenbarte ihr seine Identität erst nach der Ankunft auf Kreta. Dadurch bot sich den Dichtern die Gelegenheit, Europa nach dem Muster der verlassenen Heroine (Ariadne) in einen Klagemonolog ausbrechen zu lassen. Genaueres darüber wissen wir zwar nicht, aber wichtige Hinweise lassen sich anderen Texten entnehmen, die unter dem Einfluss der Vulgata entstanden sind (insbesondere Lukians Kurzfassung in den Seegöttergesprächen und Ovids Fasten). (3.3) Das Verständnis der Geschichte von der Entführung Europas durch Zeus wird erleichtert durch einen Blick auf die Ariadne-Erzählung, die in entscheidenden Punkten mit ihr verwandt ist. Auch Ariadne ist eine Sterbliche, auch sie wird (in manchen Versionen durch eine Entführung) von einem Gott zur Gattin erhoben, auch sie gebiert ihm mehrere Kinder, und dennoch gilt auch bei ihr das Interesse der Autoren allein ihrer Vermählung mit einem Gott und nicht ihrem späteren Schicksal. Besondere Aufmerksamkeit verdient die durch eine Kurzfassung kenntliche hellenistische Erzählung, in der berichtet wird, als Ariadne bemerkt habe, dass sie (von Theseus) verlassen worden sei, da habe sie ihrer Verzweiflung in einem Klagemonolog Ausdruck verliehen, aber Aphrodite habe sie mit der Ankündigung getröstet, dass Dionysos sie zu seiner Gattin machen und dass sie dadurch höchsten Ruhm erlangen werde. (3.4) Die Europa-Ode des Horaz ist ein Widmungsgedicht an eine Frau namens Galatea, in dem die weitaus größere zweite Hälfte dem Thema Europa vorbehalten ist. Sie gilt sowohl im einzelnen als auch insgesamt als eines der schwierigsten Gedichte des Horaz. Auf die Frage, wie sich die Botschaft der an Galatea gerichteten Strophen mit der Botschaft der Europa-Erzählung in Einklang bringen lässt, also auf die Frage nach der organischen Einheit des Gedichts, hat die Forschung keine überzeugende Antwort finden können. Entweder werden die Galatea- Strophen als ein Propemptikon an eine scheidende junge Frau verstanden, getragen von dem Wunsch, dass sie das Ziel ihrer Reise unversehrt erreichen und fern von der Heimat das erhoffte Glück finden möge, oder aber als der Versuch, eine Geliebte durch eindringliche Warnungen und Drohungen davon abzuhalten, den ›Sprecher‹ zu verlassen und übers Meer einem Rivalen zu folgen. Beide Deutungen gehen von der Prämisse aus, dass der Jupiter des Horaz an Europa nur seine Liebeslust befriedigen wolle, um sie danach ihrem Schicksal auf der fremden Insel zu überlassen, obwohl die Göttin Venus der Entführten am Schluss des Gedichtes verkündet, dass sie zur Gattin des unbesiegten Jupiter erhoben werden solle (uxor invicti Iovis). Das führt bei der einen Deutung dazu, dass das für die Adressatin gewünschte Glück nicht mit dem Schicksal der mythologischen Gestalt in Einklang zu bringen ist, das ihr als Beispiel vor Augen gestellt wird, während bei der Deutung der guten Wünsche als Warnung und Drohung angenommen werden muss, dass die Verse sarkastisch

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gemeint seien, was im Einzelnen und insgesamt zu unlösbaren Schwierigkeiten führt. Ähnliches gilt für eine dritte Deutung, die das Gedicht als ein allegorisches Propemptikon für den Weg einer puella und virgo zu einer uxor und ma­ trona verstehen möchte und gleichwohl nicht mit der Möglichkeit rechnet, dass auch Europa von Jupiter zur uxor erhoben worden sein könnte. Wenn man dagegen den von Horaz nicht linear erzählten, sondern als Exemplum im Sinne der antiken Rhetorik und Poetik verwendeten Europa-Mythos als mythologisches Beispiel für eine glückliche Vermählung versteht, dann erledigen sich die zahllosen von der Forschung aufgehäuften sprachlichen und sachlichen Probleme (bis hin zu der Frage, wann und wo Jupiter sich in Stiergestalt mit Europa vereinigt habe), von selbst, und die Europa-Ode erweist sich als der ebenso anspruchsvolle wie geistreiche Versuch, die allzu bekannte Geschichte vom Brautraub des Zeus mit literarischem Witz zu erneuern.

(4.) So wie bei Horaz Europa, so steht in Ovids Metamorphosen-Erzählung allein Jupiter im Mittelpunkt, und nun wird der Brautraub erstmals so dargestellt, als ob es dem Göttervater um nichts anderes als um die Befriedigung seiner sexuellen Wünsche ginge. Ein Brautraub bleibt es freilich auch bei Ovid, denn auch bei ihm ist Jupiter nicht verheiratet und entführt die Heroine in seine Heimat Kreta. Seine Lüsternheit ist, ganz im Einklang mit den anderen einschlägigen Erzählungen über Jupiters amores in den Metamorphosen, das zentrale Thema und wird sogar explizit zum Gegenstand eines Erzählerkommentars gemacht. Das entscheidende erzähltechnische Mittel aber, mit dem Ovid die Geschichte umgedeutet hat, ist der Abbruch der Erzählung genau an der Stelle, an der Jupiter sich am Ziel seiner sexuellen Wünsche sieht, weil Europa sich auf seinen Rücken gesetzt und dadurch in seine Gewalt begeben hat. Da aber jeder Leser wusste, dass das vom Erzähler verschwiegene (und erst zu Beginn des nächsten Buches knapp erwähnte) Ziel der Reise Kreta war, bleibt es bei einer virtuellen Umdeutung, und erst die Leser der Neuzeit haben sich vom erzählerischen Raffinement Ovids dazu verleiten lassen, die Geschichte als eine flüchtige Liebesaffäre zu deuten und diese Fehldeutung auch auf alle früheren Europa-Erzählungen zu übertragen.

(5.) Zum letzten Male begegnet uns die Erzählung von der Entführung Europas in den Dionysiaka des Nonnos, einem im fünften nachchristlichen Jahrhundert verfassten Epos, das in achtundvierzig Büchern alles behandelt, was sich in irgendeiner Weise mit Dionysos verbinden ließ, und deshalb so etwas wie eine Enzyklopädie des antiken Mythos in Versen darstellt. Sie nimmt dort eine pro-

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minente Stellung gleich zu Beginn des Werkes ein, wird aber nicht linear wiedergegeben, sondern durch Musterbeispiele der für die Zeit charakteristischen prunkvollen Rhetorik angereichert und mehrfach unterbrochen, ist also mit der Haupthandlung – das sind die Kadmos-Geschichten und der Aufstand des Typhon gegen Zeus – kunstvoll verschlungen und ihr untergeordnet. Wichtiger aber als der besondere Charakter dieser Version im Kontext des spätantiken Epos ist, dass die Entführung Europas durch Zeus hier zum ersten und einzigen Mal in die Zeit seiner Ehe mit Hera verlegt wird und dadurch ihren Charakter als Brautraub verliert. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine vom Erzähler intendierte, sondern um eine durch die besondere Konzeption dieses Epos erzwungene Änderung, weil in den Dionysiaka die Ehe des Zeus mit Hera im Gegensatz zur sonstigen Überlieferung von allem Anfang an vorausgesetzt ist. Deshalb gibt es bei Nonnos nur noch den Typus von Liebschaften des Zeus, mit denen er seine Gattin betrügt. Dadurch entstand die Notwendigkeit, eine Reaktion der betrogenen Ehefrau für eine Geschichte zu erfinden, in der alle Voraussetzungen dafür fehlten, weil es niemanden gab, an dem Hera hätte Rache üben können. Nonnos hat das narratologische Problem auf zweierlei Weise zu lösen versucht. Erstens lässt er die Göttin mit einem Monolog auftreten, in dem sie ihren Zorn nicht gegen ihre Rivalin, sondern gegen ihren Gatten richtet und zugleich ihre eigene Ohnmacht offenbart. Zweitens bringt Europa bei Nonnos, weil es in einer Liebesgeschichte, die ihren Charakter als Brautraub verloren hatte, nur eine einmalige Liebesvereinigung geben konnte, nicht drei, sondern nur zwei Söhne zur Welt (Zwillingsgeburt). Danach aber, und damit kehrt Nonnos zur literarischen Überlieferung der Europa-Erzählung zurück, sorgt Zeus für seine Geliebte, indem er sie dem König Asterion zur Gemahlin gibt.

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Abbildungsverzeichnis (Bildteil S. 57–64)

Abb. 1 (zu S. 65): Seite A: Europa wird von dem Stier über das Meer getragen; Seite B: Zeus mit Zepter, Europa mit Grußgestus erwartend. Attisch-rotfigurige Amphora. St. Petersburg, Ermitage 1564; um 500 v. Chr. Literatur: J. D. Beazley, Attic red-figure Vase-Painters. 2. Aufl., Oxford 1963, 245, Nr. 3; LIMC IV (1988), Europe I, Nr. 38. Bildnachweis: Compte-Rendu de la Commission Impériale Archéologique pour l’année 1866. St. Petersburg 1867, Taf. 5, 1–2. Abb. 2 (zu S. 66 f. und 163): Europas Brautfahrt zu Zeus nach Kreta unter dem Schutz Aphrodites. Paestanisch-rotfiguriger Kelchkrater des Asteas. Paestum, Museo Nazionale; um 330 v. Chr. Literatur: A. D. Trendall, The red-figured Vases of Paestum. Rom 1987, 92–94 Taf. 51b. LIMC IV (1988), Europe I, Nr. 74. M. Cipriani, Il Cratere di Assteas con Europa sul Tauro. Paestum 2009. Bildnachweis: Foto J. P. Getty Museum, Malibu. Abb. 3 (zu S. 68–71, 110, 173, 193): Europa und der Stier unter der Obhut ihres Pädagogen und inmitten ihrer Freundinnen. Apulisch-rotfigurige Amphora des Darius-Malers. Neapel, Mus. Naz. 81952; um 330 v. Chr. Literatur: A. D. Trendall, The red-figured Vases of Apulia II. Oxford 1982, 497, Nr. 46. LIMC IV (1988), Europe I, Nr. 7. Bildnachweis: O. Jahn, Die Entführung der Europa auf antiken Kunstwerken. Wien 1870, Taf. 1a. Abb. 4 (zu S. 70 und 174): Europa auf dem Stier, festlich als Braut geschmückt. Innenbild einer attisch-weißgrundigen Schale. München, Antikensammlung 2686; um 470 v. Chr. Literatur: I. Wehgartner, Attisch weißgrundige Keramik. Mainz 1983, 70, Nr. 77, Taf.  24. LIMC IV (1988), Europe I, Nr. 44. Bildnachweis: A. B. Cook, Zeus. A Study in Ancient Religion I (Cambridge 1914), Taf. 32. Abb. 5 (zu S. 70 f.): Europa vollzieht unter dem Schutz Aphrodites den Brautgestus der Anakalypsis (Entschleie­ rung). Apulisch-rotfiguriger Glockenkrater. Paris, Louvre K 3; um 360 v. Chr. Literatur: A. D. Trendall, The red-figured Vases of Apulia I. Oxford 1978, 195, Nr. 17, Taf. 62, 1–2. LIMC IV (1988), Europe I, Nr. 4. Bildnachweis: J. Overbeck, Atlas der griechischen Kunstmythologie. Leipzig 1873, Taf. 6, 12. Abb. 6 (zu S. 70 f. und 79): Europa vollzieht auf dem Stier sitzend den Brautgestus der Anakalypsis (Entschleierung); links und rechts ihre erwachsenen Söhne. Kampanisch-rotfiguriger Glockenkrater. Paris, Louvre K 239; um 350/340 v. Chr.

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Abbildungsverzeichnis

Literatur: A. D. Trendall, The red-figured Vases of Lucania, Campania and Sicily I. Oxford 1967, 250, Nr. 150, Taf. 100, 1–2. LIMC IV (1988), Europe I, Nr. 75. Bildnachweis: A.-L. Millin, Peintures de vases antiques, vulgairement appelés étrusques II. Paris 1810, Taf. 12. Abb. 7 (zu S. 162) Paolo Veronese, Der Raub der Europa. Öl auf Leinwand, 240x307 cm; letztes Viertel des 16. Jhs. Venedig, Palazzo Ducale, Sala dell’Anticollegio. Literatur: Terisio Pignatti / Filippo Pedrocco, Veronese. Milano 1995, S. 358. Bildnachweis: akg-images / Cameraphoto.

Indizes

1. Index nominum Aufgenommen sind die Namen aller im Text und in den Fußnoten erwähnten mythologischen sowie die Namen der in den Mythos integrierten Personen (die besonders häufig g­ enannten wie Europa und Zeus ohne Seitenzahlen), geographische Namen nur in Auswahl (z. B. Kreta). Die griechischen und die ihnen entsprechenden römischen Gestalten des ­Mythos sind unter dem griechischen Namen zusammengeführt (Diana unter Artemis, Pro­ serpina unter Persephone). Bei divergierender Schreibweise wird in der Regel die griechische bevorzugt (Alkestis, nicht Alcestis, aber Oedipus, nicht Oidipous). Achilleus  75, 88, 163, 175 Admetos 28 Adonis  18, 30, 66 Aeneas  31, 47, 52, 118, 141, 201 Aetna  22, 45 Agamemnon  18, 98 Agenor  14, 78, 109, 161, 169, 179–181, 188 Aglauros 27 Aidoneus s. Hades Aigina (Asopi filia)  69, 74, 185 Aiolos / Aeolus  30 Aion 184 Aithra 54 Akrisios  13, 153 Alexander Magnus  184 f. Alkestis 28 Alkmene  13 f., 26, 185, 199 Amata 47 Amor s. Eros Amphitrite  44, 50, 76, 103, 153, 193 Amphitryon 26 Anapis  49 f. Anchises  19, 24–27, 103 f. Andromache 149–151 Andromeda 69 Antigone 69 Antikleia 69 Antiope 185 Aphidna 54 Aphrodite (und Venus) passim Apollon / Phoibos  17 f., 27 f., 33, 73, 160, 163, 180, 189, 200 f.

Arachne  22, 110 Ares (und Mars)  19, 31, 176–178, 187, 189 Arethusa 148 Argonauten  81, 189 Argos (Agenoris filius)  87 f., 149, 202 Ariadne  44, 69, 76, 78, 83, 99, 114–122, 127, 137, 140 f., 144, 146 f., 149–153, 156, 159, 181, 196, 207 Arimer  190, 198 Arkas 34 Artemis (und Diana)  26, 29 f., 34–36, 45 f., 115 f., 161, 180 Asterios / Asterion  72, 82 f., 122, 180 f., 189 f., 202 f., 205 Athene (und Minerva)  17 f., 22, 32, 45 f., 117, 189, 193 Atlas 50 Bacchus s. Dionysos Bellerophon 185 Boreas  53, 75, 193, 196 f., 205 C… s. K … Ceres s. Demeter Daedalus 195 Danaë  13 f., 21 f., 26, 32 f., 37, 69, 92, 153, 185–187, 204 Daphne  27, 73, 160 Deianeira  70, 147 Delos  17, 31, 33 Delphi  70, 180, 189, 192 Delphinos 50

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Indizes

Demeter (und Ceres)  14, 24, 44–53, 78, 83, 148, 188, 192, 205 Demodokos  176 f. Dia (Ixionis uxor)  13 f., 185 Dia (insula) s. Naxos Diana s. Artemis Dido  21, 118, 141 f. Diktegebirge / Diktäische Grotte / Höhle  74 f., 111 f., 179 f. Dionysos (und Bacchus)  14, 30, 69, 115–122, 146, 181–186, 189, 194, 207 f. Dioskuren  50, 69 Doris  46, 193 Echo  31 f. Eileithyia 17 Elektra 189 Endymion  28, 200 Enipeus  19, 26 Erechtheus 53 Eros (und Amor) passim Erysichthon 24 Europa passim Eurynome 14 Eurystheus 18 Galateia / Galatea (Nereide)  132, 135, 193 Ganymedes  75, 77 Giganten  81, 188 Gortyn 83 Hades / Aidoneus (und Pluto)  43–54, 75, 148 Harmonia  76, 184, 189, 205 Hektor  149, 175 Helena  24 f., 47, 49, 54 f., 69 f., 98, 112, 148, 205 Helios / Phoibos (und Sol)  27 f., 30, 51, 151, 177 f. Hephaistos (und Vulcanus)  17, 32, 44, 75 f., 81, 87 f., 120 f., 177 f., 205 Hera (und Juno) passim Herakles (und Hercules)  13 f., 18, 28, 31 Hermes (und Merkur)  16, 27, 51, 66, 88, 162–165, 168, 200, 202 Herse  27, 163 Hesione 69 Hippodameia  55, 69 Horai / Horen  104 Idagebirge  74 f., 179 Ikaros  120, 195

Ilia 19 Inachos 169 Ino 32 Io  20–22, 27–30, 47, 49, 73, 87 f., 99, 160, 163, 165, 169, 175, 185 f., 200–202 Ion (Apollinis filius) 20 Iris 51 Ixion 13 Jason  78, 115, 164, 189 Juno s. Hera Jupiter s. Zeus Kadmos / Cadmus  76, 78, 109, 114, 178–181, 184, 187–192, 197 f., 203, 205, 209 Kalliope 44 Kallisto / Callisto  26–36, 38, 73, 81, 92, 160, 173, 175, 204 Kephalos 53 Kos 44 Kreta  9, 65, 67, 72–78, 81–85, 101–104, 107, 110–115, 117, 122, 126 f. 135, 137–139, 155, 170, 175, 179–181, 189 f., 198, 202 f., 205–208 Kreusa 20 Kyane  49, 54 f., 148 Laertes 69 Laodameia  79 f., 185 Latinus 47 Latona s. Leto Leda  21 f., 26, 28, 32 f., 37, 92, 185–187 Leto (und Latona)  14, 17 f., 22, 31, 33, 70, 186–188 Leukippiden  46, 50, 69 f. Leukothoe  27, 30 Libye 76 Luna s. Selene Lykaon 36 Maia  16, 29, 164 Mars s. Ares Medea  49, 78, 81, 88 f., 99, 115, 141, 164 Menelaos  54, 98 Merkur s. Hermes Mestra  44, 103 Metis  14, 188 Minerva s. Athene Minos  13 f., 72, 79, 81, 105, 115, 117, 121, 137, 151 Minotauros  78, 115, 117

221

Indizes Mnemosyne  14, 22, 188 Moiren  184 f. Myrrha 18 Myrtilos 55

Pothos  66, 70, 86, 102 Priamos  54, 98, 163 Proteus  183, 193 Python 160

Nausikaa  68, 86, 99 Naxos (Dia)  44, 115–118, 137, 140 Neoptolemos 149 Nereiden  46, 50, 67, 96, 106, 132, 193 Nereus  46, 193

Rhadamanthys  13 f., 72, 79, 105 Romulus  40–43, 45, 48 f., 52–55, 78, 205

Oedipus 175 Oinaros 122 Oinomaos 55 Okeanos 32 Olympias (Alexandri mater) 185 Omphale 28 Oreithyia / Orithyia  53, 69, 75, 197, 205 Paris  24, 47, 54 f., 70, 98, 112 Parzen 52 Pasiphaë (Phoebi/ Solis filia)  139, 151 Peirithoos  13 f., 54, 69 Peitho  50, 175 Peleus 46 Pelops  55, 69 Persephone (und Proserpina)  43–55, 66, 69 f., 73, 75, 78, 86 f., 95, 112, 148, 205 f. Perseus  13 f., 186 Phaidra 27 Phoibos s. Apollon, s. Helios Phoinix  13 f., 72, 75–78 Phoinikia / Phönizien  39, 67, 73, 76, 85, 112, 155, 180 f., 187, 190 Pieriden 44 Pluto (Iovis frater) s. Hades Pluto (Croni / Saturni filia)  185 f., 190 Poseidon (und Neptunus)  19, 26, 31, 43 f., 50, 55, 67, 76, 96 f., 100 f., 103 f., 106, 177, 193

Sabiner(innen)  40, 45, 48–55, 78, 173, 204 Sarpedon  72, 79 f., 105 Satyr(i) 65 Selene (und Luna)  28, 200 Semele  13 f., 18, 22, 25 f., 29–32, 37, 164, 183–187, 199, 201, 203 f. Sizilien  45 f. Skylla 66 Sol s. Helios Sparta  54, 112 Talos 81 Teiresias 184 Telephassa 76 Tereus 53 Tethys 32 Themis  14, 188 Theseus  44, 54, 76, 78, 115–119, 121, 137, 140 f., 144, 146, 150 f., 207 Thetis  16, 46, 70, 193 Triton(en)  66, 96, 106, 193 Typhon  18, 188–191, 194, 198, 203, 209 Tyro  19, 26, 103 f. Tyros  39, 113, 165 Venus s. Aphrodite Vulcanus s. Hephaistos Zeus (und Jupiter) passim

2. Index auctorum et locorum Alle antiken Autoren in der lateinischen Namensform, Abkürzungen der Werktitel nach DNP bzw. LSJ. Neuzeitliche Namen am Schluss. Achilles Tatius 1, 1 1, 1, 7–8 1, 1, 13

173 109 106, 194

[Acro] ad Hor. ad c. 3, 27, 25 ad c. 3, 27, 33–36

136 138 f.

222 Acusilaus (FGrHist 2) F 29

Indizes

76

Aeschylus TrGF 3, F 99 76–80, 105, 130 Alcaeus (ed. Voigt) 283, V. 5

55

Anthologia Palatina (AP) s. Moschus; s. Palladas Apollodorus bibl. 1, 1–6 186 1, 3, 1 186, 188 1, 5, 1 45 1, 6, 1–2; 1,6,3 188 1, 9, 8 19 2, 29 76 3, 1–7 188 3, 1, 1 79, 180, 187 3, 1, 2 82 f. 3, 4, 1 189 3, 4, 3 25 f., 29 3, 8, 2 29, 34 epit. 1, 9

Berliner Maler

67

Callimachus fragm. 632 Pf.

34

hymni 4, 55–58 6, 42–49; 57 f. 6, 55–58

31 24 33

Catullus 7, 8 64, 54 und 94 64, 124 f. 64, 130 64, 157 64, 158–163 64, 164; 64, 194 64, 197 65, 2

20 140 141 141, 152 140 150 152 141 163

Cicero div. 1, 28 inv. 1, 49 nat. deor. 1, 78 off. 1, 90

131 127 128 157

Claudianus rapt. Pros. 44

117, 120

Darius-Maler

68, 71

Apollonius Rhodius 1, 211–218 3, 997–1004 3, 1133 f. 4, 185–186 4, 1638–1644

53 120 88 99 81

Diodorus Siculus 4, 60, 2–3 4, 60, 2–5 4, 61, 5 4, 63 5, 51, 4

83 82 117 54 117, 121

Aratus phaenom. 72

121

As(s)teas (pictor)

66, 163

Augustinus civ. 2, 17

41

Bacchylides dith. 17 dith. 17, 114 fr. 10 Maehler

Eratosthenes cat. 33, 1

73–76, 179 153 72

Euripides Bacch. 272–285 184 Ion 20

Dionysius Halicarnassensis ant. 1, 77 19 2, 30, 2 41, 45 2, 30–31 40–45 82

223

Indizes Eusthatius Schol. ad Hom. Od. 3,91

44

Fabius Pictor

41

Hellanicus Lesbius FGrHist 4: F 134 (323a, F 20 = Schol. ad Hom. Il. 3, 144) 54 FGrHist 323a: F 18 54 Herodotus 1, 1–4 1, 4, 2 2, 50, 3 8, 46, 1

39 39, 49 76 74

Hesiodus 70 cat. fr. 25, 18 MW 74 fr. 30–31 MW 19 fr. 43 MW 44 fr. 140 MW 72–74, 79 f., 92 fr. 141 MW 74 f., 79, 81, 92 theog. 250 132 477–480 73 836–868; 881–885 188 886–923 14 913 f. 45 924–929 18 930–933 44 947–949 121 Homerus Ilias 1, 562–567 16 3, 163–180 98 3, 172–180 54 3, 385–387; 396–398 24 4, 1–67 16 6, 345–348 148 6, 450–465 149 14, 312–328 13–15 14, 321 f. 74, 79

14, 341–353 14, 347 ff. 18, 482 19, 91–133 24, 331–338

75 105 88 18, 31 163

Odyssee 5, 282 ff. 6, 25–40 6, 99–118 8, 266–366 11, 235–252 11, 245 11, 321–325 15, 126

31 86 68 176 f. 19 104 115 f. 104

[Homerus] hymni Homerici h. Ap. 30–87, 95–115 17 305–339 18 h. Cer. 2 f. 45 5 ff. 47 9; 30 45 32 47 39 ff.; 72 f. 45 74–86 51 77 ff. 45 314–447 51 f. 417 ff.; 431 f. 47, 49 h. Merc. 6–9 16 h. Ven. 34–41 15 f., 89, 160 38–41 185 45–56 18 f. 81–142 25 164 104 177–190 25 192–290 19 Horatius carmina 1, 5 1, 17, 7 2, 13 3, 3, 14 f. 3, 4, 62 3, 11, 33 (ff.)

134 156 123 146 180 124

224

Indizes

3, 16, 5–7 153 3, 27 (Europa-Ode) 123–158 3, 27, 1–8 130 f. 3, 27, 13–24 132–134 3, 27, 25–28 135 f. 3, 27, 25 f. 132, 148, 170 3, 27, 28 108 f. 3, 27, 29–32 136 f. 3, 27, 33 f. 138 3, 27, 34–36 138–141 3, 27, 37–48 144 3, 27, 47 171, 196 3, 27, 49 f. 142 f., 145 3, 27, 50–56 146 f. 3, 27, 57–66 147 3, 27, 61–63 197 3, 27, 62–66 148 f. 3, 27, 66–69 152 f. 3, 27, 69–72 154 3, 27, 70 141 3, 27, 73–76 154–158 3, 27, 73 125, 152, 154–157, 207 3, 27, 75 f. 120 3, 28, 14 180 3, 29 124 c. s. 69 180 epist. 1, 3, 13 131 serm. 2, 3, 325 140 Hyginus astronomica 2, 1 2, 1, 4 2, 5 2, 17

29 29, 37 76 50

fabulae 145, 3 29 146 45 177 36 Ibycus (PMG Page) fr. 282 fr. 288

55 50

Licinius Calvus

87

Livius 1, 8–10

40–43

Lucianus dialogi marini 15 106–113, 138, 159 15, 1 107 15, 2 107, 166 15, 3 96, 106 15, 4 75, 111, 179, 202 Manilius astr. 4, 681–685

113

Martialis 14, 180

200

Moschus epigr. AP 16, 200

60, 200

Europa 1–15 85 f., 153, 161 8–15 86 11 f. 98 13 f. 86 25 86, 102 28–36 87 34 88 37–42 76, 87 43–62 87 f. 69–79 91 72 f. 88, 98 75 f. 89, 153 77–79 89–92, 199 79 166 80–88 92, 166, 192 84 107 84–88 93 89–107 166 89–91 94, 109, 169 91 f. 94 93 ff. 145 94–100 94 95 171 96 170 102–112 95, 108 102–107 171 105–107 95, 97 109–112 109 113 f. 95 115–124 96, 106 125–130 96, 173 127 174

225

Indizes 131–134 96 f., 137 133 137 135–145 97 136 f. 101 140 97 146–148 98 146 100 149–152 100 f. 154–161 91, 101–103, 166, 179 155–158a 117 157 86 158b-160a 102 159 85, 104 160b-161 102 164–166 104 166 148 Nonnus Dionysiaca 1, 1–5 1, 14 f. 1, 45 1, 46–137 1, 46–53a 1, 47 1, 53b-59 1, 60–71 1, 69 1, 72–83 1, 80–137 1, 128 f. 1, 130–138 1, 138–320 1, 138 f. 1, 139 1, 145–147 1, 321–362a 1, 321–323 1, 324 f. 1, 324 1, 326–340a 1, 341–351 1, 352–355a 1, 352 1, 355b-362a 1, 362b-367 1, 381 f. 1, 398–407 1, 534 2, 663–698

184 183 187 190 191 f. 166 192 f. 193 193, 197 193 194 f. 197 197 f. 190 189 180 190 191 190, 198 198 90 200 f. 202 203 80 203 191, 203 201 194 191 189

2, 679–689 2, 693–696 2, 696–698 3, 312–325 3, 316–324 3, 316–319 4, 166–170 4, 293–306 4, 293–302 7, 1–66; 73–128 7, 129–135; 355–358 8, 136–149; 253–260 8, 362–366 8, 291; 8, 370 42, 94–98 47, 387–405 Ovidius amores 1, 2, 9 f. 1, 2, 19 1, 3, 22 1, 9, 40 1, 10, 4 2, 2, 47 f. 2, 11, 37

187 203 189 180 189 187 187, 198 189 180, 192 185 186 186 186 203 194 151

157 172 22 177 22 146 133

ars amatoria 1, 114; 1, 125 1, 527–564 1, 549 f.; 1, 555–560 1, 556–558 2, 107 2, 539–592 3, 84

172 119 146 119 f. 175 177 f. 172

epistulae (EH) 9, 146 10, 85–96 10, 89–92

147 146 151

fasti 2, 162 3, 459–516; 511–514 3, 513 f. 3, 608; 3, 612 3, 875 f. 4, 417–618 4, 418 4, 425 f. 4, 589 4, 591 4, 596

34 121 76 110 113 44 112, 128 47 48 47 52

226 4, 597–600 4, 597 4, 602 4, 615 f. 4, 720 5, 603 f. 5, 604 5, 605–614 5, 607–612 5, 615–618 5, 616 f. 5, 618

Indizes 51 48 52 53 90 112 84 113 174 113 203 120

met. 1, 452–567 160 1, 504–524 27 1, 568–600 160 1, 589–597 27 1, 599 f. 27, 30, 47 1, 606 181 1, 617 ff. 165 1, 645 f. 169 2, 401–440 160 2, 423 f. 19, 35 2, 425–437 30 2, 432 f. 34 2, 433 27 2, 435 35 2, 437 f. 172 2, 438–440 38 2, 441–463 36 2, 460–465 35 2, 464 f.; 466–530 36 2, 466 f. 35 2, 471–475 31 f.; 35 2, 505–507 29 2, 508–530 36 2, 512–530 32 2, 676–707 163 2, 731 27 2, 836–3,9 (Europa) 159–191 2, 836–842 162 2, 838; 839–845 164 2, 844 161 2, 846–851 165–167 2, 851 169 2, 852–869 108 2, 852 f. 168 2, 854–865 168–170 2, 854 und 855 f. 168 2, 858 161, 169

2, 865 2, 866–871 2, 872–875 2, 873b-875 3, 1–9 3, 1–4 3, 1 f. 3, 3–5 3, 3 3, 6 f. 3, 199–246 3, 253–315 3, 261 3, 262–272 3, 266–270 3, 273–278; 3, 285 f. 3, 362–365 4, 170–192 4, 215–233 4, 226–228 4, 422–431 5, 341–461 5, 360 f. 5, 364–379 5, 391 ff.; 395 f. 5, 403–408 5, 414–418 5, 469 f.; 507 f. 5, 514–522 5, 523–526 5, 526–529 5, 526 5, 531–542 6, 103–133 6, 105–107 6, 113 6, 332–334; 337 6, 675–722 7, 47 f. 7, 473 f. 8, 217–220 10, 525–528 10, 529–707

107 171 172–174 109 78, 178–181 198 114, 180 187 161 21, 181 26 25 32 29, 32 31 26 32 178 27 30 32 44 47 47, 160 47 47 49 148 47 48 51 48 52 22 110 74 33 53 164 74 195 18 30

Palladas AP 5, 258

37

Pausanias 10, 29, 4

117

227

Indizes Petronius 94, 8–15

147

Pherecydes (FGrHist 3) F 89 F 148 (=Schol. ad Hom. Od. 11, 322)

117 f., 152

Pisander Larandensis

184–188

76

Plutarchus Moralia (ed. Sandbach) fr. 157, 3 43 quaest. Romanae 42 Romulus 1, 6 14, 1 f .

42 41

Theseus 20, 1 115, 122 20, 2 121 20, 4 115 31 54 Porphyrio ad Hor. ad c. 3, 27, 49 f.

143

Quintilianus i. o. 8, 3, 73

127 f.

Sappho (ed. Voigt) 1, 18–20 50, 175 94 133 Schol. ad Hom. Il. 3, 144 s. Hellanicus 12, 292 s. Hes.140 MW Schol. ad Hom. Od. 3, 91 s. Eusthatius 11, 322 s. Pherecydes F 148 Seneca epist. 12, 10 Herc. f. 1–124 Oed. 715 f. Phaedr. 274–324

147 31 181 27 f., 199

Sophocles TrGF 4, F 773 18 Tyro-Tragödien 103 Terentius Andr. 260–264

142

Tibullus 1, 4, 71 f.

175

Valerius Maximus 2, 1, 1

131

Vergilius Aeneis 1, 20 1, 36 ff. 1, 38 4, 171 f. 4, 376 4, 427 7, 362

52 31 200 2 141 142 47

[Vergilius] Aetna 87 ff.

22

Beckmann, Max Raub der Europa 162 Blechen, Karl Raub der Europa 106 Bonasone, Giulio Europa 168 Brueghel d. Ä., Pieter Sturz des Ikarus 195 Raffael Europa 168 Schiller, Friedrich Semele

26, 37

Veronese, Paolo Raub der Europa 162