Europa – Herkunft und Zukunft: Momente kultureller Transformation vom Mittelalter bis zur Gegenwart 9783110793062, 9783110791785

Europe is a network of cultural transformations. This volume brings together contributions on the origin and future of E

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Europa – Herkunft und Zukunft: Momente kultureller Transformation vom Mittelalter bis zur Gegenwart
 9783110793062, 9783110791785

Table of contents :
Inhalt
Europa, woher und wohin?
Ein römischer Feldherr und seine fränkischen Verwandten
Spaniens verschwundene Muslime
Zwischen Religion und Naturwissenschaft
Die particulair-gelehrte Historie Europas: Ja, wohin gehören sie denn?
Europa ist kein Paradies
Vom Morgen des Abendlandes
„Aber Heimat fand ich nirgends“
Europa als Massenveranstaltung
„Zuviel Abendland, verdächtig.“
From where I’m standing…
Dank
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Index

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Europa – Herkunft und Zukunft

Europa – Herkunft und Zukunft Momente kultureller Transformation vom Mittelalter bis zur Gegenwart Herausgegeben von Sebastian Hansen und Oliver Victor

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Anton-Betz-Stiftung der Rheinischen Post e.V. und des Dekanats der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

ISBN 978-3-11-079178-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-079306-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-079311-6 Library of Congress Control Number: 2023934990 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston d|u|p düsseldorf university press ist ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH Umschlagabbildung: Holzstich aus der Serie von Roof van Europa: „Mythologische voorstellingen in landschappe“, Rijksmuseum Amsterdam, RP-P-1926-643 Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com dup.degruyter.com

Inhalt Sebastian Hansen / Oliver Victor Europa, woher und wohin? Annäherungen an ein kulturelles Gebilde im Wandel der Zeiten

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Sebastian M. Ostmeyer Ein römischer Feldherr und seine fränkischen Verwandten Der christianisierte Caesar als Idealbild und Erinnerungsort mittelalterlicher 13 Herrschaft in der Kaiserchronik Gero Faßbeck Spaniens verschwundene Muslime Die Ricote-Episode und die Vertreibung der Morisken im zweiten Teil des Don Quijote 37 Julia Mutzenbach Zwischen Religion und Naturwissenschaft Bildungswege jüdischer Gelehrter im frühneuzeitlichen Europa

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Tobias Winnerling Die particulair-gelehrte Historie Europas: Ja, wohin gehören sie denn? Bio-bibliographisches Schreiben im 18. Jahrhundert zwischen res publica litterarum und nationaler Verortung 81 Sebastian Hansen Europa ist kein Paradies Eobald Tozes skeptischer Blick auf die Verwirklichung einer europäischen Einigung in der Aufklärung 101 Hans-Georg Pott Vom Morgen des Abendlandes Oliver Victor „Aber Heimat fand ich nirgends“ Nietzsches wandernder Europäer

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Inhalt

Dennis Sölch Europa als Massenveranstaltung Ortega y Gasset und die Zukunftsfähigkeit der europäischen Kultur Sieglinde Borvitz / Sonja Klein „Zuviel Abendland, verdächtig.“ Europa im Spiegel Roms 191 Friederike Danebrock / Arne Leopold From where I’m standing… Vom realistischen Standpunkt in Daniel Defoes Robinson Crusoe zur 227 posthumanen Umwelt mit Ursula Damms Turnstile Dank

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Index

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Europa, woher und wohin? Annäherungen an ein kulturelles Gebilde im Wandel der Zeiten Mit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022 ist die Diskussion rund um die Zukunft Europas wieder ungewollt eindringlich und teils unausweichlich in das Alltagsbewusstsein vieler Europäerinnen und Europäer gerückt. Nicht zuletzt dieses jüngste Ereignis verdeutlicht einmal mehr, dass Fragen nach der Zukunft nur unter Rekurs auf ein ausgeprägtes Problembewusstsein für die jeweilige Gegenwart gehaltvoll beantwortet werden können und ebenso wenig ohne eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auskommen. Die Frage nach der Zukunft Europas verweist stets unmittelbar auf die Frage nach dessen Herkunft. In diesem Kontext lässt sich an die allgemeinere und grundlegendere These des Philosophen Odo Marquard, „Zukunft braucht Herkunft“¹, anknüpfen, die er auch mit den Worten, Neues sei nicht ohne Altes möglich, anschaulich umschreibt. Dass Zukunft auf Herkunft angewiesen ist, zeigt sich am Beispiel Europas im Besonderen: Möchte man der Frage nachgehen, was aus Europa werden soll, so muss zunächst gefragt werden, was Europa ist, und dafür muss wiederum zuallererst gefragt werden, was Europa bislang überhaupt war. Welche kulturellen Entwicklungen, Vorstellungen, Ideen und Erfahrungen verbergen sich hinter dem Schlagwort ‚Europa‘, dessen Bedeutungsspektrum weit über die seit der Antike anzutreffenden Versuche einer geographischen Bezeichnung eines Kontinents hinausgeht? Dass sich die Frage nach der Herkunft Europas keineswegs leicht und unkontrovers beantworten lässt, offenbart bereits ein Blick in die griechische Mythologie samt der berühmtberüchtigten Geschichte rund um den ‚Raub der Europa‘. Schon in der mythologischen Gestalt der Europa spiegelt sich die Ungewissheit von Herkunft und Zukunft. Die rätselhafte Herkunft des Namens sowie der Aufbruch in ein fremdes Land und damit eine gänzlich unbekannte Zukunft werden durch die Entführung der aus dem vorderasiatischen Phönizien stammenden Europa nach Kreta symbolisiert. Ohne an dieser Stelle näher hierauf einzugehen, zeigt diese tradierte Anfangsgeschichte bereits, dass das Schicksal einer nicht klar definierbaren Herkunft und einer nicht festgelegten Zukunft Europa gewissermaßen in die Wiege gelegt wurde. Ausgehend von der Grundüberzeugung, dass Zukunft nicht ohne Herkunft, aber auch Herkunft nicht ohne Zukunft adäquat verstanden beziehungsweise entworfen werden kann, möchte der vorliegende Band Europa – Herkunft und Zukunft. Mo Marquard 2016, 66. https://doi.org/10.1515/9783110793062-001

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mente kultureller Transformation vom Mittelalter bis zur Gegenwart aufzeigen, dass die Bedeutung, die Herkunft und Zukunft in und für Europa hatten und haben, stets auf eine historische Rückschau wie auch eine prospektive Sichtweise angewiesen ist. Europa erlebte als historischer, politischer, kultureller, religiöser, wirtschaftlicher und nicht zuletzt ideengeschichtlicher Ort im Laufe der Zeit immer wieder unterschiedlichste Transformationen. Eine historische Betrachtung solcher Prozesse verdeutlicht, dass die Diskussionen rund um die gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklungen Europas von einer Analyse der unterschiedlichen Entwicklungen und Diskurse, die im Laufe der Jahrhunderte mit Europa verbunden wurden, profitieren können – ja letztlich sogar auf sie angewiesen sind. Entsprechend ist es ein zentrales Anliegen des Bandes, Momente kultureller Transformationen europäischer Geschichte zu untersuchen und zugleich auf ihre Bedeutung für die Zukunft hin zu befragen. Ein besonderes Augenmerk liegt hierbei auf einem interdisziplinären Ansatz, welcher der mit dem Begriff ‚Europa‘ assoziierten Vielfalt Rechnung tragen soll. Zeitlich decken die Beiträge den Zeitraum vom Mittelalter bis in unsere Gegenwart ab. Die interdisziplinäre Ausrichtung ermöglicht es, ‚Europa‘ zugleich aus historischer, kunsthistorischer, literaturwissenschaftlicher und philosophischer Perspektive auszuleuchten. Gerade angesichts der meist geschichts- und politikwissenschaftlich dominierten Diskussionen über Europa vermag ein solches Projekt in dieser Hinsicht ergiebige und wichtige Ergänzungen beizusteuern. Dadurch sollen einschlägige Studien zum Ursprung Europas, die einen primär geschichtswissenschaftlichen Fokus einnehmen,² natürlich keineswegs geschmälert, sondern die kulturelle Vielfalt Europas anhand von Beiträgen aus weiteren geisteswissenschaftlichen Disziplinen ergänzend und weiterführend herausgearbeitet werden. Forciert wird der interdisziplinäre Ansatz einmal mehr, indem in einigen Beiträgen selbst wiederum verschiedene Disziplinen samt ihren unterschiedlichen Perspektiven auf die jeweilige Thematik zusammengebracht werden. Damit wird ferner den inzwischen auch in den Geisteswissenschaften zunehmend zu konstatierenden Spezialisierungstendenzen entgegengearbeitet, wobei ‚Europa‘ nahezu als ein Paradebeispiel für die Notwendigkeit fächerübergreifender Zusammenarbeit erscheint. Da Europa eben nicht nur ein geographischer, sondern auch und vor allen Dingen ein gewachsener kultureller Raum und ein diskursives Gebilde ist, mitunter sogar für ausgewanderte, geflüchtete, vertriebene Europäerinnen und Europäer ein geistiger Ort, eine ferne Heimat war und ist, fordert es geradezu zu einer interdisziplinären Betrachtung heraus. Die unter Jüngst ist Bernhard Braun aus (kultur‐)historischer Perspektive den Ursprüngen des europäischen Kulturraumes in seinem Buch mit dem sprechenden Titel Die Herkunft Europas. Eine Reise zum Ursprung unserer Kultur detailliert und mit einem Fokus auf die Wurzeln abendländischer Kultur im Orient nachgegangen, siehe Braun 2022.

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schiedlichen Sichtweisen vereint dabei ein, der jeweiligen Fachdisziplin gerecht werdender, historisch fokussierter Ansatz, der von der Überzeugung getragen wird, dass das Bewusstsein für die historisch entstandenen kulturellen Grundlagen Europas in unser heutigen Zeit wieder neu geschärft werden muss – und das eben nicht ‚nur‘ um seiner selbst willen, sondern insbesondere um einen Beitrag zur Gestaltung der Zukunft Europas zu leisten. Eben ganz getreu dem Motto: ‚Zukunft braucht Herkunft‘. Die Frage, was Europa überhaupt ist und auszeichnet, ist sicherlich so alt wie die abendländische Geistesgeschichte selbst. Schon der griechische Geschichtsschreiber Herodot (ca. 484–425 v.Chr.) konstatierte: „Von Europa aber weiß offenbar niemand etwas Genaues“³. Dieser überspitzt wirkende Satz führt eindrücklich vor Augen, dass Europa seit seinem Gründungsmythos in der griechischen Antike den Menschen Rätsel aufgibt.⁴ Allerdings mit dem bemerkenswerten Unterschied, dass der Begriff erst seit dem Spätmittelalter neue Konturen gewann und nachfolgend auch politisch eine größere Rolle zu spielen begann. Im lateinischen Mittelalter diente Europa hauptsächlich noch als Name eines Erdteils und hatte damit eine Orientierung und Ordnung stiftende Funktion.⁵ Die phasenweise stärkere, inhaltlich substanziellere Verwendung, zu der mitunter Apelle gehörten, die in Momenten der Krise oder der Bedrohung wie etwa durch Mongolen oder Osmanen auftraten, führte noch nicht zu einem ausgeprägten politischen Begriff von Europa. Dies änderte sich erst in der Frühen Neuzeit. Zur bislang vorherrschenden Vorstellung einer christlichen Gemeinschaft (Christianitas) gesellte sich nicht zuletzt durch die neuen medialen Möglichkeiten eine andere kulturelle und politische Perspektive auf Europa.⁶ Bildliche Darstellungen, Flugblätter und Zeitungen, aber auch historische und politische Bücher ließen Europa im alltäglichen Sprachgebrauch präsent werden und versahen diesen Begriff mit verschiedenen Bedeutungen. Das Theatrum Europaeum mag an dieser Stelle nur als frühes und eindrückliches Beispiel für ein 1635 von Matthäus Merian (1593–1650) begonnenes Projekt genannt werden, in dem sich ein gebündelter Blick auf die historischen und gegenwärtigen Geschehnisse in den europäischen Ländern zeigte. Zudem nahmen im ausgehenden 17. Jahrhundert das Interesse und die Bemühungen zu, einerseits die Beziehungen zwischen den europäischen Staaten rechtlich verbindlicher zu regeln und stärker miteinander zu verschränken (Jus Publicum Europaeum) und andererseits die

 Herodot Historien, IV, 45.  Für einen Überblick über das ‚Rätsel Europa‘ von einer geschichtsphilosophischen Warte aus, siehe Thies 2021, 105–121.  Vgl. Oschema 2013, 511–512.  Vgl. hierzu, insbesondere mit Blick auf die deutsche Europa-Literatur, Detering 2017.

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permanenten Kriege und drohende Hegemonien durch eine geeinte europäische Staatenwelt zu verhüten. Da die Fragen rund um eine gemeinsame europäische Identität, ein allgemein anerkanntes europäisches Selbstverständnis oder geschweige denn solche über die zukünftige Gestalt einer politischen Gemeinschaft Europas allerdings nach wie vor offen sind beziehungsweise kontrovers diskutiert werden, scheint auch heute über Europa das ‚letzte Wort‘ noch nicht gesprochen worden zu sein. Überdies hat es den Anschein, als verweise bereits das Herodot-Zitat auf die Unmöglichkeit einer abschließenden und definitiven Antwort auf derartige Fragen. Vielleicht ist es ja vielmehr auch unsere Aufgabe als heutige Europäerinnen und Europäer, die Frage nach Europa, seiner Herkunft, seiner Gegenwart und seiner Zukunft immer wieder von Neuem zu stellen, statt zu versuchen, sie ein für alle Male zu beantworten. Damit ist freilich nicht gesagt, dass diese ‚offene Geschichte‘ Europas keine Fortschritte kennt oder gar kennen kann, sondern vielmehr, dass eine stets erneuerte, den zeitgenössischen Gegebenheiten angepasste, kritische Auseinandersetzung und Beschäftigung mit den kulturellen Grundlagen Europas für eine positive Zukunftsgestaltung fruchtbar ist. Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge behandeln Fragen nach einer möglichen – teils auch konstruierten und idealisierten – europäischen Identität, nach politischen Einigungsplänen sowie Visionen einer europäischen oder gar ‚übereuropäischen‘ Kulturgemeinschaft in Geschichtsschreibung, Kunst, Literatur und Philosophie. Klassiker der europäischen Geistesgeschichte – wie etwa Cervantes, Goethe oder Nietzsche – kommen dabei ebenso zur Sprache wie weniger im Fokus gegenwärtiger Forschungen stehende Gelehrte, Gemeinschaften und Denkfiguren, hier insbesondere mit einem Schwerpunkt auf der Epoche der Neuzeit. Thematisch reicht das Spektrum von in der Literatur aufgegriffenen und thematisierten konfliktreichen Beziehungen unterschiedlicher kultureller Räume – etwa der Vertreibung der ‚Mauren‘ im mittelalterlichen Spanien – bis hin zum epochenübergreifenden Spannungsverhältnis von Religion und (Natur‐)Wissenschaft. Ebenso werden grundlegende Fragen etwa nach der Zukunftsfähigkeit des Abendlandes und einer europäischen Kultur, wie immer diese letztlich auch inhaltlich besetzt sein mag, diskutiert. Der zeitliche Rahmen der Betrachtungen reicht dabei vom Mittelalter bis in unsere Gegenwart, wobei auch Bezüge zur antiken griechischen Mythologie nicht fehlen. Darüber hinaus geht der Blickwinkel weit über den geographischen Raum Europa hinaus, indem der vielfältige Austausch von Politik, Religion und Wissenschaft zwischen Orient und Okzident zur Sprache kommt. Schnell zeigt sich, dass eine klare Grenze, wo das Europäische beginnt beziehungsweise seine Herkunft nimmt, sich verfestigt und aufhört, wohl nicht zu ziehen ist. Ein Blick in die europäische Wissenschaftsgeschichte etwa offenbart sogar, dass es selbst kontrovers ist, welche Gelehrte überhaupt als ‚europäisch‘ klassifiziert

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werden können. Schlicht zu komplex und vielschichtig erscheinen der gegenseitige Austausch und die Verflechtung der unterschiedlichen Kulturen in und außerhalb Europas im Laufe der Jahrhunderte. Gerade deshalb ist es aber so reizvoll und wichtig, Europa in seiner kontingenten Prägung einerseits und seiner diskursiven Selbstausbildung andererseits zu betrachten. Europa mag eine Zukunft haben, indem es aus vernünftigen Gründen zu einem Ort wird, der sich durch ein gemeinsames Recht auszeichnet, dem sich alle an diesem Ort lebenden Menschen verpflichtet fühlen.⁷ Doch das allein wäre zu wenig. Europa braucht auch das große gemeinsame Gespräch über seine komplexe, rätselhafte Biographie, Tage und Nächte hindurch. Das schließt auch ein Bewusstsein dafür ein, dass Europa als ein diskursiv entstandener kultureller Begriff neben einer identitätsstiftenden, einenden Dimension immer auch eine ausschließende Komponente hat. Die Frage, was die eigene Identität ausmacht, verweist unmittelbar auf ihr Gegenteil, nämlich die Frage, was nicht dazu gehört.⁸ Ziel des Bandes ist es demnach auch weniger, die Frage nach der Herkunft und Zukunft Europas abschließend zu beantworten – dies dürfte wohl ohnehin unmöglich sein – als vielmehr den Facettenreichtum der mit Europa assoziierten Ideale, Vorstellungen, Visionen et cetera herauszustellen. Dabei zeigt sich, dass Europa von Beginn an ein Geflecht kultureller Wandlungen war und auch weiterhin ist. Die Vorstellungen und Konzepte von beziehungsweise für Europa haben sich im Laufe der Zeit stets verändert und weiterentwickelt. Zugleich kristallisiert sich etwa die Sehnsucht nach Frieden oder das Verlangen nach einer identitätsstiftenden Kultur(‐gemeinschaft) sowie einer ‚geistigen Heimat‘ als ein verbindendes und sich durch die Zeit hindurch erstreckendes Motiv heraus. Diesen Entwicklungen korrespondieren meist Momente kultureller Transformation, die mal mehr, mal weniger im Gedächtnis der abendländischen Geistesgeschichte verhaftet geblieben sind. In der Gesamtschau versammeln und analysieren die hiesigen Beiträge letztlich zentrale Topoi und Gestalten aus Geschichte, Kunst, Literatur und Philosophie, die wesentlich zum europäischen Selbstverständnis beigetragen haben und befragen sie zugleich kritisch auf ihre Leistungsfähigkeit und ihren Mehrwert angesichts gegenwärtiger Herausforderungen. Dabei zeigt sich, dass Fragen der Herkunft und Zukunft in und für Europa in jeder Epoche neu zu stellen und hierfür ein ausgeprägtes historisches Problembewusstsein sowie eine interdisziplinäre Herangehensweise wegweisend sind. Angesichts dessen wird die Forschung zur europäischen Ideen- und Kulturgeschichte wohl kaum an ein Ende gelangen können,

 Vgl. Hasse 2021, 101.  Vgl. dazu auch Hasse 2021, 18.

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was selbstverständlich aufgrund der damit einhergehenden vielversprechenden Themenvielfalt positiv zu verstehen ist. *** Im ersten Beitrag beleuchtet Sebastian M. Ostmeyer am Beispiel der Darstellung des römischen Feldherrn Iulius Caesar in der um 1150 entstandenen Kaiserchronik, wie im Mittelalter durch die Transformation einer bekannten heidnischen Persönlichkeit in eine besondere Gestalt des christlichen Heilsplans eine sinnstiftende Kontinuität zwischen der eigenen Gegenwart und der vergangenen Antike hergestellt wurde. Caesar wird in diesem Werk als erster Kaiser vorgestellt und steht so am Beginn der dargebotenen Herrscherbetrachtung, die von der römischen Antike bis zum römisch-deutschen Kaiser Karl III. und damit zur eigenen Gegenwart des oder der Chronisten reicht. Der Beitrag zeigt auf, wie der römische Feldherr zu einer heldenhaften Gestalt idealisiert wurde, die dazu diente, mittelalterliche Herrschaftsansprüche und Reichslegitimationen mit dem antiken Reichskonzept der Römer zu verbinden. In Caesar, dem der zentrale Übergang von der Römischen Republik zum Römischen Kaiserreich zugeschrieben wurde, werde die Vorstellung einer translatio imperii personalisiert und mit Motiven ausgestattet, die schließlich bei Karl dem Großen wieder auftauchten und ihre Erfüllung fänden. Die Heroisierung Caesars steigere sich zur Heiligkeit Karls. Das fränkische Reich erweise sich aus Sicht der Kaiserchronik entsprechend als legitimer Erbe der mit Caesar begonnenen Kaiserherrschaft und Reichseinheit. Indem Ostmeyer die beiden Herrschergestalten mit Pierre Nora und Aleida Assmann als Erinnerungsfiguren beziehungsweise mit Blick auf das geeinte Reich als prägenden Erinnerungsort liest, wirft er zugleich einen Blick auf die Frage, welche Rolle Herkunft und Zukunft bei der Erzeugung von Einheit und Identität in Europa spielen. Die religiöse Herkunft ist auch im Beitrag von Gero Faßbeck ein zentrales Thema. Er richtet den Blick auf die Vertreibung der konvertierten spanischen Muslime, den Morisken, in der Frühen Neuzeit, indem er sich mit der zentralen Frage befasst, wie Miguel de Cervantes im zweiten Teil seines Don Quijote diese Vertreibung und die damit verbundenen Probleme beurteilt. Cervantes war Zeitzeuge jenes Edikts, das 1609 vom spanischen König Philipp III. erlassen wurde und alle Morisken dazu zwang, das Land zu verlassen. Der zweite Teil seines Don Quijote erschien 1615. Anhand einer genauen Untersuchung der Geschichte des Morisken Ricotte, der Spanien verlassen hatte und wenig später mit einer Gruppe Pilger wieder zurückkehrte, zeigt Faßbeck, dass Cervantes die Vertreibung trotz gewisser ambivalenter Züge im Roman kritisch betrachtete. Insbesondere die mit Ricottes Freund und Gesprächspartner Sancho Panza verbundene Gegenüberstellung von guter und schlechter Herrschaft führe dies vor Augen. Ein vorbildlicher Regent, so

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lege der Text nahe, hätte in der Frage des Umgangs mit den Morisken anders entschieden als der spanische König. Mit der Geschichte von Ricottes Tochter Ana Félix, die zusammen mit ihrer Mutter nach Nordafrika geflohen war und von Don Gregorio begleitet wurde, einem jungen Edelmann und Christen, der sich in Ana verliebt und schließlich in Algier versteckt und immer wieder seine Identität wechselt, biete Cervantes zudem einen literarischen Gegendiskurs zur Vertreibung der Morisken. Seine Funktion liege in der Wiederherstellung eines harmonischen Idealzustandes, der die trennende Unterscheidung von Altchristen und Neuchristen (Konvertiten) aufhebe. Indem der Roman die Problematik von Gemeinschaftsbildung und Herkunftsfragen behandele, erweise er sich auch heute noch als relevant und lehrreich für die Zukunft Europas. Julia Mutzenbach setzt sich in ihrem Beitrag anhand von Bildungswegen jüdischer Gelehrter mit dem Spannungsverhältnis von Religion und Naturwissenschaft im frühneuzeitlichen Europa auseinander. Ausgehend vom Fortschritt der modernen Naturwissenschaften zu Beginn der Neuzeit geht sie der Frage nach, inwiefern jüdische Wissenschaftler an den damaligen Entwicklungen überhaupt partizipieren konnten und welche Rolle dabei europäischen Universitäten zukam. Es zeigt sich, dass die im Vergleich zur späteren Wissenschaftsgeschichte marginale Bedeutung jüdischer Gelehrter in der Frühen Neuzeit vor allem auf gesellschaftliche Hürden sowie Spezifika der Bildungswesen zurückzuführen ist, mit denen Juden konfrontiert wurden. Die Position der damaligen jüdischen Bildung zeichne sich durch eine starke Isolation aus, deren Gründe zum einen innerhalb der jüdischen Gesellschaft, die profanen Wissenschaften eher kritisch gegenüberstand, zum anderen in den judenfeindlichen Umgebungsgesellschaften, die Juden eine Partizipation am christlich geprägten Bildungskanon überwiegend verwehrten, zu lokalisieren seien. Eine Betrachtung von vier exemplarischen Bildungsbiographien zeigt, dass einige jüdische Intellektuelle trotz alledem keine Kosten, Mühen und Ausgrenzungen scheuten, um sich profane Bildung anzueignen – meist über das Studium der Medizin. Dass ein Festhalten an traditionellen religiösen Inhalten in der jüdischen Gesellschaft länger zu konstatieren sei als in der christlichen, liege primär, so das Fazit, sowohl an der permanenten Untergrabung jüdischer Identität durch die Mehrheitsgesellschaft als auch an den Zugangsbeschränkungen zu den christlich dominierten Bildungseinrichtungen. Mit der Welt des Wissens und der Gelehrten befasst sich auch Tobias Winnerling, der in seinem Beitrag einem Problem nachgeht, das schon zu Beginn der Frühen Neuzeit vorhanden war, aber erst im ausgehenden 17. und anschließenden 18. Jahrhundert besonders in Erscheinung trat: Dem Anspruch, eine vollumfängliche, universale Beschreibung von Gelehrsamkeit zu geben, stand die ernüchternde Erkenntnis einer zunehmenden Ausdifferenzierung der Wissenschaft und damit verbunden der Wissensgeschichte gegenüber. Winnerling untersucht entsprechend,

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welche Perspektiven und Kriterien bei der zunehmenden bio-bibliographischen Beschäftigung mit Gelehrten zum Tragen kamen. So zeigt er zum Beispiel, dass bereits die Unterteilung nach Ländern nicht nur eine nationale Ordnungskategorie entwarf, sondern angesichts der ‚biographischen Mobilität‘ vieler Gelehrter noch weitere Optionen bestanden und Festlegungen erfolgten. Mochte also die Vorstellung einer übernational gedachten europäischen Gelehrtenrepublik, einer res publica litterarum, ein zentraler Bezugspunkt sein, weil sie ein wichtiger Bestandteil des Selbstverständnisses in der Gelehrtenwelt dieser Zeit war, zeigte sich bei der konkreten Erfassung von Gelehrten ein anderes Bild. Der Vorstellung, die einzelnen Beiträge – die ‚particulair-gelehrten‘ Historien – seien harmonisch zusammenfügbare Elemente einer Gesamterzählung über die europäische Geistesgeschichte, stand die immer stärker werdende Ausbildung eines Referenzsystems gegenüber, das national kodiert war. Unter dem sprechenden Titel „Europa ist kein Paradies“ geht Sebastian Hansen skeptischen Blicken hinsichtlich der Realisierbarkeit einer politischen europäischen Einigung zur Zeit der Aufklärung nach. Obwohl sich in dieser Epoche die Kriege auf dem europäischen Kontinent gewissermaßen aneinanderreihten, mangelte es dieser Zeit nicht an Plänen, Europa zu einen. Zugleich ließ die Kritik an solchen Visionen nicht lange auf sich warten. Der Beitrag untersucht die zeitgenössische kritische Bewertung von Friedens- und Europaplänen des heute eher unbekannten Historikers Eobald Toze, der sich dabei vor allem an den Ausführungen des Herzogs von Sully sowie des Abbé de Saint-Pierre orientierte. Diskutiert werde dort stets die Idee eines europäischen Staatenbündnisses, nicht aber die eines europäischen Staates, da eine Aufhebung der Souveränität der einzelnen Staaten zu dieser Zeit schlicht unvorstellbar gewesen sei. Zunächst zeige sich Toze noch euphorisch und erkenne die Vorteile eines solchen Bündnisses an, es sei letztlich aufgrund realpolitischer sowie anthropologischer Gegebenheiten aber nicht realisierbar. Dabei zeigt sich, dass Tozes in Zügen destruktive Kritik wesentlich durch ein nüchternes, wenn nicht gar pessimistisches, Menschbild getragen wird. Hansen fasst Tozes Kritik pointiert in fünf zentrale Punkte zusammen: das Problem der Souveränität, den Krieg als Leidenschaft, die Natur des Menschen, die uneinheitliche Rechtskultur und die Naivität des Friedens. Europa sei eben kein Paradies und solle nach Toze auch kein Paradies werden. Dennoch bleibe auch er nicht bei einem rein destruktiven Ansatz stehen: Sein Vorschlag sei das zu seiner Zeit bereits etablierte Prinzip eines Gleichgewichts der Kräfte, das anerkenne, dass ein vereintes Europa in einem Zustand ewigen Friedens eine Utopie bleiben müsse. Wie sehr zur Perspektive auf die Gestalt und Gestaltung von Gegenwart und Zukunft auch der Blick auf die kaum ergründbare, immer von Setzungen bestimmte Vergangenheit gehört, verdeutlicht der Beitrag von Hans-Georg Pott, der sich dem „Morgen des Abendlandes“ widmet. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen zwei

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Werke, die im Sinne einer zeitlosen Gültigkeit als klassisch zu betrachten seien: Goethes Westöstlicher Divan und Nietzsches Geburt der Tragödie. Goethes allegorische Reise, die über den Okzident hinaus in den Orient führt, entwerfe eine kulturgeschichtliche Topographie. Es sei keine Reise zu verlorenen, sondern zu immer fortwirkenden Ursprüngen, eine ästhetische Begegnung mit Natur, Sinnlichkeit und dem Erlebnis des Augenblicks (Augen-Blicks), die genau dort nicht mehr zugänglich seien, wo die nördlich der Alpen entstandenen Abstraktionen des Verstandes wirkten. Der Divan bilde somit einen Gegenentwurf zum Gelehrten Faust. Mit Nietzsches Kritik am idealistischen Bild der griechischen Antike, das im 18. Jahrhundert Winckelmann und die deutsche Klassik entworfen habe, gehe die folgenreiche Sichtbarmachung eines anthropologischen Grundmusters von Konflikten wie etwa zwischen Verstand und Gefühl hervor. Welche Folgen dies für den Humanismus hatte, verfolgt Pott über die Zäsur des Ersten Weltkriegs bis zu Edmund Husserls in den 1930er Jahren diagnostizierter Krisis des europäischen Menschentums und verknüpft sie mit einer kritischen Perspektive auf unsere Gegenwart und das Morgen. Inwieweit Nietzsche ein europäischer Denker war und welche Vorstellungen er mit seinem Entwurf eines ‚guten Europäers‘ verband, beleuchtet Oliver Victor in seinem Beitrag zu „Nietzsches wanderndem Europäer“. Im Angesicht einer Welt, die einerseits vom nationalen Denken bestimmt werde, andererseits aber auch den kulturellen Austausch erlebe und besonders durch die Industrie und den Handel immer enger miteinander verflochten werde, erweise sich der ‚gute Europäer‘ als jener moderne Mensch, der keine geographischen oder geistigen, politischen oder kulturellen Grenzen kenne. Durch die Freiheit der Vernunft, die ihm eine Loslösung von alten Gewohnheiten und Werten ermögliche, vermöge er sich vielmehr immer weiter zu entwickeln und sich immer wieder neu zu überwinden. Er sei ein heimatloser Wanderer, der sich nur momentweise eine Heimat in seiner nicht endenden kulturellen und geistigen Weiterentwicklung geben könne. Nietzsches ‚guter Europäer‘ erteile somit Begrenzungen jeglicher Art eine Absage. Mit Blick auf den politischen Bereich betreffe dies nationale Grenzen, aber genauso Grenzen größerer Einheiten wie etwa einer Vereinigung aller europäischen Staaten. Auch eine solche Weiterentwicklung sei zu überwinden. Der Mensch lege folglich in seinem Selbstwerdungsprozess einen Weg zurück, den Nietzsche mit der Trias der drei Adjektive national, europäisch und übereuropäisch beschreibe. Der ‚gute Europäer‘ stelle damit letztlich eine Etappe zum Weltbürger dar und distanziere sich nicht zuletzt vom ‚überstolzen Europäer‘, zu dem Nietzsche mit seinem gewählten Begriff eine Kontrastfigur entwerfe. Von einer kulturphilosophischen und anthropologischen Warte aus thematisiert Dennis Sölch Ortega y Gassets Überlegungen zur Zukunftsfähigkeit der europäischen Kultur. Ausgehend von dem Befund einer im Zuge der Industrialisierung zuneh-

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menden ‚Vermassung‘ des Menschen wird Ortegas Europabild sowohl unter Rekurs auf seine kritischen Zeitdiagnosen als auch auf seine Reflexionen hinsichtlich einer wirklichen Vielfalt an Lebensformen hin untersucht. Im Anschluss an einen philosophiehistorischen Abriss über den Begriff der Masse seit dem 19. Jahrhundert steht Ortegas Werk Der Aufstand der Massen im Mittelpunkt. Der Aufstieg der Massen sei für Ortega Gefahr und Chance zugleich: Zwar führe die zunehmende Technisierung zu einer wachsenden Entfremdung des Menschen, sie eröffne jedoch ebenso einen größeren zeitlichen Spielraum für Muße und Innovation. Es gelte, den Kontakt zum Leben, den die europäische Kultur verloren habe – so die zeitkritische Diagnose Ortegas –, wiederherzustellen und Europa (immer wieder) neu zu denken. Ortegas lebensphilosophischem Ansatz zufolge entspreche der Mensch erst dann seiner Bestimmung, wenn er dem Anspruch des Lebens Folge leiste und frühere Ideen verwirkliche, wobei Veraltetes abzustoßen und Neues hervorzubringen sei. Nach Ortega mangele es Europa gerade an ebendieser Bereitschaft zur Selbsterneuerung, für die er seine Zeitgenossen wieder sensibilisieren wolle. Europa sei ihm Patient und Medizin gleichermaßen. Die Zukunftsfähigkeit der europäischen Kultur bestehe für Ortega in der Vision, eine in Vielfalt geeinte Pluralität der Kulturen und Lebensformen neu zu gestalten – eine wohl nie endende Aufgabe. Dass verschiedene Europabilder sich auch im Lichte einer einzigen Stadt amalgamieren können, veranschaulicht die Studie von Sieglinde Borvitz und Sonja Klein. Europa wird dort im Spiegel deutsch- und italienischsprachiger literarischer Rom-Texte ausgehend vom 18. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart hinein betrachtet. Beginnend bei der anhaltenden Vorstellung Roms als caput mundi, die strenggenommen die einer caput Europae sei, werden so anhand der Rom-Literatur unterschiedliche Schichten europäischen Selbstverständnisses freigelegt. So werde bei Goethe Rom zur Hauptstadt der Liebe, indem er der Stadt ein ästhetisches Manifest dichte, das eine gelungene Vereinigung von Körper und Geist sowie eine Synthese von Vergangenheit und Gegenwart zeichne. Bei Goethes italienischem Zeitgenossen Giuseppe Gioacchino Belli finde sich dagegen ein völlig andersartiges Rom-Bild, das ein durch den Dekadenztopos dominiertes Sittenbild der römischen Bevölkerung skizziere. Giosuè Carducci wiederum knüpfe an den WelthauptstadtTopos an und stilisiere Rom nicht nur zur Wiege Italiens, sondern gar zur Wiege der westlichen Zivilisation insgesamt. Rom fülle gewissermaßen die Leerstelle für einen Staat ohne Nation aus. In Elsa Morantes Roman La Storia hingegen begegne uns Rom dann als Gedächtnisort all derjenigen, die im Zweiten Weltkrieg zum Spielball europäischer Geschichte wurden. Ein ähnlicher Wandel sei nach 1945 in der deutschsprachigen Rom-Literatur zu konstatieren: Vom Ideal und Knotenpunkt europäischer Kultur werde Rom zum Sinnbild jüngster Gräueltaten – und damit für Günter Eich ‚verdächtig‘ wie das gesamte Abendland. Die Ausführungen schließen in der Gegenwartsliteratur mit Durs Grünbein, wo sich Rom nicht mehr zwischen

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Barbarei und antiker Größe entscheiden müsse, sondern seine – und damit auch europäischen – Motive des Ruhms und des Ruinösen, die ohnehin von Anbeginn präsent gewesen seien, nebeneinanderstünden. Der Band schließt mit einem Beitrag von Friederike Danebrock und Arne Leopold, die die epistemologischen Implikationen der je eigenen Situiertheit und Standortgebundenheit thematisieren. Anhand von Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe und Arbeiten der Gegenwartskünstlerin Ursula Damm bringen sie dabei literaturwissenschaftliche und kunsthistorische Perspektiven in einen Dialog miteinander und spiegeln den allgemeinen interdisziplinären Ansatz des vorliegenden Bandes in ihrem Beitrag im Besonderen wider. Der realistische Standpunkt, den der europäische Westen so gerne als Errungenschaft der Aufklärung für sich reklamiere, stelle sich in Damms Arbeit Turnstile als ein Potenzial heraus, das sich zuallererst in der Interaktion menschlicher und nichtmenschlich-digitaler Akteure entwickeln lasse. Turnstile offenbare, dass Darstellungsformen die Wahrnehmung und Aufnahme von Wissen maßgeblich beeinflussen. Die in Turnstile realisierte, virtuelle Installation lege den Betrachtenden eine Vogelperspektive dar, die diese aus sich selbst heraus jedoch niemals einnehmen könnten, und stelle damit das Verständnis von Objektivität überhaupt infrage. Die Installation mache dem Betrachtenden bewusst, dass Wahrnehmung und Wissen stets im wahrsten Sinne des Wortes standortgebunden sind. Das Bestreben Crusoes, eine Vogelperspektive über seine Umwelt, seine Insel, zu gewinnen, entlarve Damm indirekt in ihrem Werk mittels des Paradigmas einer posthumanen Umwelt, in der Wissensgenerierung immer schon situiert und kollektiv begriffen werde. So könne das Versprechen des Realismus, einen allumfassenden Blick from nowhere einzunehmen, als ‚Alibi‘ entpuppt und verhindert werden, das Problem der Positionalität zu kaschieren.

Literaturverzeichnis Braun, Bernhard. Die Herkunft Europas. Eine Reise zum Ursprung unserer Kultur. Darmstadt: WBG Theiss, 2022. Detering, Nicolas. Krise und Kontinent. Die Entstehung der deutschen Europa-Literatur in der Frühen Neuzeit. Köln, Weimar und Wien: Böhlau, 2017. Hasse, Dag Nikolaus. Was ist europäisch? Zur Überwindung kolonialer und romantischer Denkformen. Stuttgart: Reclam, 2021. Herodot. Historien. Herausgegeben und übersetzt von Josef Feix. Düsseldorf und Zürich: Patmos und Artemis & Winkler, 2004. Marquard, Odo. „Herkunft braucht Zukunft. Philosophische Betrachtungen über Modernität und Menschlichkeit“. In: Ders. Philosophie des Stattdessen. Studien. Stuttgart: Reclam, 2016, 66–78. Oschema, Klaus. Bilder von Europa. Ostfildern: Jan Thorbecke, 2013. Thies, Christian. Geschichte (Grundthemen Philosophie). Berlin und Boston: De Gruyter, 2021.

Sebastian M. Ostmeyer

Ein römischer Feldherr und seine fränkischen Verwandten Der christianisierte Caesar als Idealbild und Erinnerungsort mittelalterlicher Herrschaft in der Kaiserchronik

1 Die Kaiserchronik als Erinnerungsort Durch alte Fotoalben zu blättern, scheint in einer hochtechnisierten Welt ein etwas aus der Mode gekommenes, nostalgisches Vergnügen zu sein. Die Menschen und Momente, die man auf den Bildern sieht, sind wie kurze Schlaglichter in die Vergangenheit oder die Geschichte der Familie. Sie evozieren so manch schöne Erinnerung, lassen vergangene und vergessen geglaubte Momente wieder lebendig werden und transportieren diese in die Gegenwart. Unsere bebilderten Familienchroniken werden so durch das Betrachten und Vergegenwärtigen zu begreifbaren Erinnerungs- und Zeitkapseln der eigenen Biographie. Was für die persönliche Biographie, für die eigenen Fragen nach der Herkunft gilt, gilt für den größeren Zusammenhang eines allgemein-kollektiven Fragens nach der Herkunft und Zukunft, ja einer europäischen Identität umso stärker.¹ Diese konstruiert und profiliert ihr Selbstverständnis und ihre „Wesensart“² in der jeweiligen Gegenwart gleichfalls aus bestimmten Personen, Momenten, Ereignissen und Orten. Durch die kollektive Erinnerung bestimmter, als zu tradierende und memorisierende distinkte Parameter, entsteht folglich kulturelle Identität.³ Dieses Inventar einer europäischen Identitäts-memoria kann man nach Pierre Nora zusammenfassend als Erinnerungsorte – lieux de mémoire – bezeichnen.⁴ Identität entsteht somit dort, wo Erinnerung und Tradierung einer gemeinsamen – auch inszenierten – Vergangenheit stattfindet, wie George Steiner resümiert: „Die Kultivierung eines geübten, gemeinsamen Erinnerungsvermögens setzt eine Gesellschaft in ein natürliches Verhältnis zu ihrer eigenen Vergangenheit.“⁵

    

Eingehender zur mittelalterlichen Identitätsfrage siehe Dartmann und Meyer 2007. Assmann 2022, 37–39. Vgl. Herweg 2008, 306. Vgl. Nora 1997, 17–18. Steiner 1990, 22.

https://doi.org/10.1515/9783110793062-002

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Doch nicht nur Bilder können solche „Erinnerungsorte“ oder „Fixpunkte des kollektiven kulturellen Gedächtnisses“⁶ sein. Besonders Texte, wie die mittelalterliche Kaiserchronik, speichern und materialisieren kollektives Wissen sowie kollektive Identität.⁷ Dadurch aktualisieren sie zudem eine kollektive Kultur und Vergangenheit für die jeweilige Gegenwart. In diesem Prozess von Kontinuität und Aktualisierung der Vergangenheit in der jeweiligen ‚neuen‘ Gegenwart werden Texte ihrerseits wieder zu lieux de mémoire. ⁸ Ebenso wie durch die persönlichen Fotoalben die eigene biographische Identität ‚erinnert‘ und gestiftet wird, so konstruiert und deutet jede Gesellschaft gleichzeitig diskursiv ihre kollektive Geschichte und Kultur. Die mittelalterliche Kaiserchronik operiert nach dem gleichen Prinzip wie die eigenen ‚Chroniken‘. In ihr gibt es zwar keine Bilder, aber in der Komposition unterschiedlichster Textgattungen mit den verschiedensten historischen Figuren und Kontexten, zum Beispiel antiken Kaisern und Feldherren, mittelalterlichen Kaisern, Sagen, Legenden sowie christlichen, heidnischen, biblischen Figuren und Texten, wird nicht nur die ‚eigene Geschichte‘ der mittelalterlichen ‚Gegenwart‘ erzählt, sondern sie wird in einen gesamtgeschichtlich-eschatologischen, das heißt christlich-heilsgeschichtlichen Zusammenhang eingewoben, wie der Prolog berichtet: Ein buoch ist ze diute getihtet, daz uns Rômisces rîches wol berihtet, gehaizzen ist iz crônicâ. iz chundet uns dâ von den bâbesen unt von den chunigen, baidiu guoten unt ubelen, die vor uns wâren unt Rômisces rîches phlâgen unze an disen hiutegen tac. ⁹ Ein Buch ist in deutscher Sprache gedichtet, das uns sehr gut über das Römische Reich berichtet, es wird ‚Chronica‘ genannt. Es erzählt uns darin von Päpsten und von Königen, sowohl vortrefflichen, als auch schlechten, die vor uns gelebt haben

 Herweg 2008, 306.  Eingehender zum identitätsstiftenden Moment von Chroniken und Herkunftserzählungen siehe Plassmann 2006; Wolf und Ott 2016.  Vgl. Nora 1997, 17–18.  Die Kaiserchronik 2014,V. 15–23. Im Folgenden werden die Nachweise der zitierten Verse direkt im Text angeführt. Die neuhochdeutschen Übersetzungen in diesem Text stammen von mir.

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und das Römische Reich beherrschten bis an diesen heutigen Tag.

Die Zeit beziehungsweise die damit einhergehende erzählte Geschichte hat einen Anfangs- und einen Endpunkt, innerhalb derer es sich als (christlicher) Mensch sowie (christlicher) Herrscher zu bewähren gilt: von den bâbesen unt von den chunigen, baidiu guoten unt ubelen, die vor uns wâren. (V. 19–21) von Päpsten und von Königen, sowohl vortrefflichen als auch schlechten, die vor uns gelebt haben.

Das den Rezipienten inkludierende Reflexivpronomen uns (V. 21) markiert genau diesen identitäts- und sinnstiftenden Gegenwartsanspruch der Kaiserchronik und lässt sich als Scharnier zwischen den Personen und Geschichten der Vergangenheit sowie der aktuellen Gegenwart des hörenden oder lesenden uns (V. 21) deuten. Doch nicht nur christliche Menschen müssen sich in diesem von Gott geschaffenen Zeitenlauf bewähren. Auch heidnische Protagonisten sind ebenfalls Teil – so das Programm der Kaiserchronik – des göttlichen Heilsplanes. Im Prolog der Kaiserchronik wird bereits in den ersten Versen diese Programmatik in nuce entfaltet: (1) Die Kontinuität der eigenen Geschichte und Gegenwart (unze an disen hiutegen tac // „bis zu diesem heutigen Tag“, V. 23) wird verknüpft mit der Antike, genauer gesagt mit der Geschichte des antiken Römischen Reiches, die sich über das römische Volk, die römischen Kaiser, die Franken und Päpste entwickelt; (2) Diese historische Kontinuität, die eine Konstruktion und Deutung der eigenen Vergangenheit darstellt, steht im Kontext antiker Vorbilder und im Spiegel der mittelalterlichen Gegenwart des Chronikschreibers sowie in der Tradition einer mittelalterlichen translatio-Idee (translatio imperii ad Francos);¹⁰ (3) Die translatio-Idee, das

 Der Begriff der translatio imperii illustriert die mittelalterliche Vorstellung einer Übertragung von Herrschaftsansprüchen beziehungsweise Herrschaftsvollmachten von einem Volk oder einem Herrscher auf ein anderes Volk oder Herrscher. Konkret wird hier der Übergang der Herrschaftslegitimation des antiken Römischen Reiches auf das fränkische Kaisertum verstanden, im Zuge dessen sich die fränkischen Kaiser als direkte Nachfolger der römischen Caesaren begreifen. Der Gedanke der translatio imperii beruht auf der politischen Vorstellung, dass Zeit und somit auch Historie linear und untrennbar von göttlicher und weltlicher Bestimmung geprägt verlaufen: Auf das regnum eines Herrschers, Landes oder Volkes folgt stets die Folgeherrschaft eines anderen Herrschers, Landes oder Volkes. Eingebunden ist die politische translatio imperii in die christliche Eschatologie, welche durch die Vier-Reiche-Lehre der biblischen Daniel-Prophetie (Dan 7,1–7,28) ihre

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heißt die Vorstellung eines teleologischen Transformationsprozesses vom Beginn der Geschichte, über das Römische Reich bis hin zur Frankenherrschaft (kondensiert in der vorbildlichen, Christus gleichen Person Karls des Großen) bildet einen Herrschaftsanspruch beziehungsweise eine Herrschaftslegitimation mittelalterlicher Reichspolitik aus, die (4) im Endeffekt die Nobilitierung der eigenen Geschichte in Abgrenzung zu den scophelîchen worte // „Worten der Heldenlieddichter“ (V. 31) der mittelalterlichen Heldenlieddichter bedeutet.¹¹ Die Geschichte und Gegenwart, der hiutege tac // „heutige Tag“ (V. 23), und die konkreten ‚Erinnerungsorte‘ der Kaiserchronik werden durch die eschatologische Deutung zum allgemeingültigen und gottgewollten (in des almähtugen gotes minnen / so will ich des liedes beginnen // „In der Gnade des allmächtigen Gottes / will ich mit diesem Lied beginnen“,V. 11–12) Wahrheitsanspruch und in der Überzeitlichkeit der historia transzendiert: sô lêret man diu liuge diu chint: die nâch uns chunftich sint, die wellent si alsô behaben unt wellent si iemer fur wâr sagen. (V. 35–38) So lehrt man Kinder die Lüge: Die, die nach uns kommen werden, die werden sie [die Lüge] genau so überliefern, und werden sie immer als Wahrheit ausgeben.

Alle Rezipienten, die also in der Kaiserchronik ihre Geschichte ‚durchblättern‘ beziehungsweise diese hören und etwas von der eigenen Vergangenheit, den prägenden Ereignissen, Personen und Orten erfahren wollen, werden den ‚Erinne-

bildliche Entsprechung findet. Auch die Kaiserchronik greift diese Vorstellung auf, indem sie innerhalb der Caesar-Episode auf die alttestamentliche Vier-Reiche-Lehre des Buches Daniel Bezug nimmt. Eingehender zur Idee der translatio imperii vgl. Brüggen 2019; Gellinek 1971; Goez 1958; Podskalsky 1972; Rubel 2001, insbesondere 152; Worstbrock 1965.  Für den Chronikschreiber (oder die Chronikschreiber, die genaue Verfasserschaft bleibt unklar) der Kaiserchronik hat die unbedingte Erfüllung der christlichen Heilsgeschichte oberste Priorität in seiner programmatischen Textdramaturgie. Damit grenzt er sich stark von den scophelîchen worten der laikalen Sänger ab, die mit ihrer oral-poetischen Dichtungstradition den göttlichen ordo durch ihre erfundenen und historisch nicht verifizierbaren Erzählungen, so die Polemik des Chronikschreibers, in Gefahr bringen. Die Kaiserchronik versteht sich folglich als Gegenentwurf zur mündlichen Dichtung, indem sie fabula und historia unter dem Rubrum der christlichen Eschatologie vereint. Dass der Chronikschreiber dabei ähnliche literarische Strategien verfolgt (zum Beispiel die Heroisierung seiner Akteure) wie die Heldenlieddichter, wird im weiteren Verlauf der Studie noch zu zeigen sein. Vgl. dazu Herwegs Abschnittskommentar zum Prolog der Kaiserchronik 2014, 397–398; Weddige 1989, 119–140.

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rungsort‘ Kaiserchronik als wahre Deutungsinstanz ihrerseits wiederum als ‚Erinnerungsort‘ in der Geschichte und in der jeweiligen Gegenwart weitertragen: Solche Akte der Kritik und Selbstkritik innerhalb des kritischen moto spirituale vollziehen die ureigene Funktion jeder Lektüre, die ihrer Mühe wert ist. Sie machen den Text der Vergangenheit zu einer gegenwärtigen Gegenwart.¹²

Die Kaiserchronik will somit als Text Identität und historische Legitimation für die jeweilige (zukünftige) Gegenwart stiften. Sie nimmt dabei immer wieder neu die jeweiligen Rezipienten und ihre Gegenwart in das Heilsmysterium eines (christlichen) göttlichen Endziels (τέλος). Vor diesem Horizont einer kulturellen Identitätsstiftung und historischen Legitimationstransformation der mittelalterlichen Reichspolitik soll in dem vorliegenden Beitrag die Figur des antiken römischen Feldherrn Iulius Caesar analytisch in den Blick genommen werden. Er ist der erste Kaiser, mit dem die Kaiserchronik ¹³ ihre Herrscherrevue beginnt. Dass Caesar an diesem neuralgischen Punkt zu Beginn der Chronik positioniert wird, mag irritieren, ist Caesar doch ein antiker römischer Feldherr und auf den ersten Blick alles andere als der Prototyp eines vorbildlichen, christlichen mittelalterlichen Kaisers. Doch es wird zu zeigen sein, dass in seiner idealisierenden Darstellung als eben heldenhafte und christliche (sic!) Herrscherfigur sich der Transformationsprozess einer antiken translatio imperii in der mittelalterlichen Kaiserchronik im Feldherrn Iulius Caesar personalisiert. Im Bewusstsein einer mittelalterlichen Reichs-, Kultur- und Herrschaftslegitimation nimmt Caesar daher in letzter Konsequenz, das sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen, somit als ‚originärer‘ fränkischer Kaiser in seiner christianisierten und heroisierten Tugendhaftigkeit Karl den Großen – den „Vater Europas“¹⁴ – vorweg.

2 Die ‚protochristlichen‘ Römer und Iulius Caesar Bevor nun die Caesar-Figur genauer betrachtet wird, muss das narrative Umfeld, aus welcher Ausgangslage heraus diese überhaupt eingeführt wird, zuvorderst

 Steiner 1990, 26.  Die Überlieferung der Kaiserchronik ist mit ca. 40 Überlieferungsträgern erstaunlich reichhaltig und lang anhaltend. Sie ist in drei verschiedenen Rezensionen (A–C) überliefert, hinzukommen eine Prosafassungen (D) sowie Überlieferungen von Einzelepisoden (E). Eingehender dazu Müller 1999; Nellmann 1983; Ohly 1968.  Vgl. dazu Barbero 2007; Schneebeli 2014.

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sondiert werden. Der Caesar-Episode geht ein kurzer Verweis auf den Gründungsmythos Roms durch die beiden Brüder Romulus und Remus voraus: daz tâten zwên bruoder rîche, sagent diu buoch wærlîche: der aine hiez Rômulus, der andere Rêmus. (V. 51–54) Das taten zwei mächtige Brüder, wie uns die Bücher wahrheitsgemäß berichten: Der eine hieß Romulus, der andere Remus.

Die Stadt Rom wird Hie bevor bi der haiden zît // „früher, zu Zeiten der Heiden“ (V. 43) von den beiden wolfsgesäugten Brüdern, so die Legende, gegründet und nach deren Ableben vom römischen Senat regiert: driu hundert althêrren / phlâgen ir zuhte unt ir êren // „Dreihundert Senatoren / kümmerten sich um ihre [Roms] Ordnung und Ehre“ (V. 57–58). Der religiöse cultus der Römer wird durch die sieben Abgötter (abgot sibeniu, V. 65) konstituiert, indem er jeden Tag der Woche einen entsprechenden Gott zuordnet. Es zeigt sich bereits an dieser Stelle, dass die Römer ein ganz besonderes Volk sein müssen: Wenn sie auch den wâren got // „wahren Gott“ (V. 64), das heißt den christlichen Gott in der Logik der Kaiserchronik, weder erkannt noch anerkannt haben (si erchanden des wâren gotes niet // „sie erkannten den wahren Gott nicht“, V. 74), so ähnelt ihre Sieben-Tage-Woche in Ausgestaltung und Feierlichkeit doch sehr stark der christlichen Woche, beginnend mit dem Sonntag als erstem Tag der Woche:¹⁵ Swenne in chom der sunnentach, sô vlîzte sich ze Rôme elliu diu stat, wie si den got mahten geêren. (V. 75–77) Wenn der Sonntag kam, so befleißten sich alle in Rom, wie sie den Gott [des Sonntags] ehren könnten.

 Dies verwundert nicht, da sich die christliche Religion in ihrer antiken Etablierungsphase bestimmte römische Traditionen (hier den prominenten römischen Sonnenkult des sol invictus) zunutze gemacht und diese für die Akzeptanz ihrer religiösen Ideologie in der römischen Gesellschaft umgedeutet hat. Vgl. zur kulturell-religiösen Transformation des sol invictus: Berrens 2004; Gaier 2017 (insbesondere 101–150); Wallraff 2001.

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Ebenso ähnelt die feierliche Begehung dieses Tages an die sonntägliche beziehungsweise Fronleichnamsprozession mit der Ausstellung der konsekrierten Hostie als Sinnbild für den im Brot anwesenden christlichen Gott: die aller wîsisten hêrren vuorten einez alumbe die stat, daz was gescaffen als ain rat mit brinnenden liehten. (V. 78–81) Die allerweisesten Herren trugen ein Bildnis um die ganze Stadt, das wie ein Rad gefertigt war mit brennenden Lichtern.

Gleich zu Beginn der Römer-Episode wird also die distinkte Vortrefflichkeit des römischen Volkes (jâ hêten Romære / vil harte grôz êre // „Ja, die Römer / standen in größtem Ansehen“,V. 211–212) verknüpft mit bestimmten Prädikaten der politischen Befähigung zur Beherrschung der Welt: swaz si ze Rôme gerieten daz hiezzen si gebieten uber elliu diu lant. (V. 59–61) Was sie in Rom berieten das ließen sie zum Gesetz werden über alle Länder.

Ebenso werden die Römer als ‚Protochristen‘ inszeniert, die zwar den christlichen Gott noch nicht kennen, aber als Heiden christlich leben beziehungsweise dem Christentum ähnliche Riten vollziehen, wie zum Beispiel die christliche Sieben-TageWoche: ze êren den siben tagen der woche // „Zu Ehren der sieben Tage der Woche“ (V. 67). Eine invasive Expansionspolitik sowie der religiöse (christliche) cultus der vermeintlichen Heiden werden somit schon zu Beginn der Kaiserchronik zu Legitimationsprädikaten gelungener und vorbildlicher (Reichs‐)Herrschaft des römischen Volkes bestimmt: sît dienten dar vorhtlîche / elliu diu rîche // „Später sollten ihrer Stadt / alle Reiche in Furcht dienen“ (V. 55–56). Anhand einer Bronzekarte ihres Reiches, welche die Römer erstellen, können diese am Läuten von angebrachten Glocken erkennen, wann sich eines ihrer Hoheitsgebiete der römischen Herrschaft zu widersetzen beginnt: Duo hiezen Rômære giezen ûzzer êre elliu diu lant diu si hêten bidwungen in ir gewalt.

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dar uber hiengen duo die snellen ir guldîne schellen iechlîchem lande. (V. 217–223) Damals ließen die Römer für alle Länder, die sie mit ihrer Gewalt bezwungen hatten, Bilder aus Erz gießen. Darüber hängten die Tapferen eine goldene Schelle für jedes Land.

Während einer Sitzung des Senats, der driu hundert althêrren // „dreihundert Senatoren“ (V. 57), beginnt eine der Glocken zu läuten und signalisiert, dass daz Dûtisc volch wider si ûf gestanden was // „dass sich das deutsche Volk gegen sie erhoben hatte“ (V. 246). In diese Ausnahmesituation der Bedrohung von außen durch daz Dûtisc volch // „das deutsche Volk“ (V. 246) – was auch immer dies historisch genau bezeichnet, denn strenggenommen gibt es zu dieser Zeit kein ‚deutsches Volk‘, keine klar abzugrenzende deutsche Nation beziehungsweise eine historische Eigenbezeichnung, sondern nur unterschiedliche Volksstämme, die einem deutschsprachigen Raum zugeordnet werden können¹⁶ – wird nun in der Inszenierung der Kaiserchronik der Feldherr Iulius Caesar hineingestellt. Er ist somit schon, bevor er überhaupt konkret und aktiv in Erscheinung tritt, als Teil eines besonderen und vortrefflichen Volkes inszeniert: jâ hêten Rômære / vil harte grôz êre // „Ja, die Römer / standen in größtem Ansehen“ (V. 211–212). So nimmt es nicht wunder, dass die Kaiserchronik mit Beginn der Caesar-Episode das vortreffliche römische Volk (Die chuonen Rômære // „Die kühnen Römer“,V. 247) mit dem besonders begabten Feldherrn Caesar (ain vermezzen helt / von dem daz buoch michil tugent zelt // „einen verwegenen Held / von dem das Buch sehr viele Tugenden berichtet“, V. 248–249) kombiniert: Ein besonderes Volk wählt sich einen besonderen Feldherrn (ein helt guot // „ein guter Held“, V. 256) im Kampf gegen das aufbegehrende Dûtisc volch // „deutsche Volk“ (V. 246). Dass die Kaiserchronik Caesar in den einleitenden Versen gleich dreimal als helt apostrophiert und das auch noch mit unterschiedlichen Attributen (vermezzen helt // „verwegener Held“,V. 249; jungen helt // „junger Held“,V. 253; helt guot // „guter Held“,V. 256),¹⁷ lässt sich nicht allein als

 Eingehender zur realhistorischen Verfasstheit des antiken Römischen Reiches, seinen Volksstämmen und Sprachen vgl. Heuß 2007; Hölkeskamp und Stein-Hölkeskamp 2006; Jarnut 2004; König 2007; Pohl 2004. Herweg hat in seiner Kaiserchronik-Ausgabe auf die intertextuellen Bezüge der Volksdarstellungen in Annolied und Kaiserchronik hingewiesen, vgl. Herweg 2014, 429.  Wenngleich das Attribut vermezzen im Kontext der Heroisierung Caesars als ‚verwegen‘ und ‚kühn‘ gedeutet worden ist, so birgt es doch auch kritisches Potenzial in sich und verweist mögli-

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bloße Kampfrhetorik deuten, sondern öffnet vielmehr den literarischen Rahmen: Der realhistorische antike Feldherr Iulius Caesar wird gleich zu Beginn seiner Episode im Sinne einer mittelalterlich-heroischen Inszenierung der Kaiserchronik als junger Held gedeutet, der nicht nur mit heldenhaften Qualitäten ausgestattet ist (er hêt ain stætigen muot // „er hatte eine feste Gesinnung“,V. 255), sondern ebenso – wie noch zu zeigen sein wird – wie die Heroen der Heldenlieddichtung auf Bewährungsfahrt gehen wird. In der Kaiserchronik bedeutet dies den Feldzug gegen das Dûtisc volch // „deutsche Volk“ (V. 246), um sich im Kampf als potentieller Herrscher zu bewähren (Duo frouwete sih der junge man, / daz er diu rîche elliu under sih gewan // „Da freute sich der junge Mann, / dass er alle Reiche unter sich vereinigen konnte“, V. 515–516). Diese Inszenierungsstrategien von Antizipation und Kontamination, dies meint hier die Christianisierung und Heroisierung genuin heidnischer Akteure, wie sie sich bereits in der Rom-Episode zu Beginn der Kaiserchronik vollziehen, bestimmen ebenso die Darstellung Iulius Caesars beziehungsweise seine Funktionalisierung als ausgezeichneter (heldenhaft-christlicher) Feldherr. Waren die Römer durch ihre Begehung der sieben Wochentage noch protochristlich inszeniert, so wird Caesar zu Beginn seiner Episode auf der einen Seite als jugendlicher Held charakterisiert und auf der anderen Seite durch die in die chronikalische Erzählhandlung eingefügte biblische Daniel-Prophetie (V. 526– 590)¹⁸ eindeutig christlich-religiös aufgeladen. Dieser Prophetie-Einschub tritt jedoch erst nach der Einigung und Unterwerfung der deutschen Volksstämme durch Caesar (Duo frouwete sih der junge man, / daz er diu rîche elliu under sih gewan // „Da freute sich der junge Mann, / dass er alle Reiche unter sich vereinigen konnte“, V. 515–516) in die eigentliche narrative Handlung ein und wird durch das temporale Adverbial in den zîten // „zu jenen Zeiten“ (V. 526) mit derselben verknüpft. Die christliche Daniel-Prophetie erfüllt sich somit einerseits zur Zeit Caesars, der die verschiedenen Reiche unter sich vereint, und andererseits in der Figur Caesars selbst: si [die Römer] begunden irrizen den hêrren. daz vunden si im aller êrist ze êren, want er aine habete den gewalt der ê was getailet sô manicvalt. (V. 520–523)

cherweise schon zu Beginn der Caesar-Episode auf das tragische Ende Caesars, zwar auf der einen Seite die deutschen Volksstämme besiegt und geeint zu haben, jedoch auf der anderen Seite für seine vermezzenheit vom römischen Volk umgebracht worden zu sein (V. 601–602).  Eingehender zur Stoffgeschichte der Daniel-Prophetie siehe Marsch 1972. Zur Deutung der Daniel-Episode in der Kaiserchronik vgl. Fiebig 1995.

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Sie begannen, den Herrn mit ‚Ihr‘ anzusprechen. Das führten Sie ihm zu Ehren ein, da er nun alleine die Macht besaß, die vorher auf so viele verteilt gewesen war.

Die geteilte Herrschermacht (getailet sô manicvalt // „auf so viele verteilt“,V. 523) der unterworfenen deutschen Völker personalisiert sich nun in der Figur Caesars (want er aine habete den gewalt // „da er nun alleine die Macht besaß“, V. 522). Genau nach diesem Moment einer (vorläufigen) Reichseinigung setzt die Daniel-Prophetie ein und nobilitiert den zu Beginn heroisierten Caesar ein weiteres Mal, indem sie ihn in die göttliche Eschatologie, das Heilsgeschehen des christlichen Schöpfergottes, integriert und sich in seiner realhistorischen Person emblematisch kristallisiert: Die antiken Herrschaftsvorstellungen, ein antiker römischer Feldherr und die christlich-biblische Eschatologie verbinden sich in der Caesar-Episode zur Inszenierung eines mittelalterlichen Kontinuitätsanspruchs auf antike Reichskonzepte beziehungsweise mittelalterliche Herrschafts- und Reichslegitimationsstrategien.¹⁹ Die Caesar-Episode markiert folglich eine der ersten wichtigen und entscheidenden Weichenstellungen innerhalb der Erzählchronologie der Kaiserchronik. Auf narrativer Ebene illustriert sie das Ende der antiken Römischen Republik und die Entstehung des römischen Kaiserreiches (Rômâre in ungetrûweclîche sluogen, / sîn gebaine si ûf ain irmensûl begruoben // „Die Römer erschlugen ihn treulos, / seine Gebeine bestatteten sie auf einem Obelisken“,V. 601–602). Diese Institutionalisierung der antiken römischen Herrschaftsmacht setzt sich bis unze an disen hiutegen tac // „bis zu diesem heutigen Tag“ (V. 23) in die mittelalterliche Gegenwart der Kaiserchronik fort – das Konzept der translatio imperii wird hier zwar nicht terminologisch angeführt, jedoch ideologisch aufgegriffen und aufbereitet. Caesar wird zum ersten einer langen Reihe von antiken bis mittelalterlichen monarchischen Herrschern, die ein in Personalunion geeintes Reich beherrschen. Dies alles sind Motive, die in der Episode von Karl dem Großen wieder aufgenommen und sich dort erfüllen werden.²⁰ In der Caesar-Episode lassen sich darüber hinaus erstmals drei Konstanten eines stabilen und geeinten Reiches finden, derer es nicht nur für die Einheit des Römischen Reiches bedarf, sondern ebenso in der Fortführung der Reichseinheit durch die Franken bis in die Gegenwart des Chronikschreibers. Denn schließlich sind in der Argumentation der Kaiserchronik Caesar und Franken miteinander verwandt, so dass die Übergabe des antiken römischen Reichsherrschaftsanspru-

 Nellmann 1963, 148–149.  Vgl. Rubel 2001, 160–163.

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ches nicht nur historisch und eschatologisch begründet ist, sondern sich ebenso auf einer genealogischen Ebene legitimiert: Cêsar begunde dô nâhen zu sînen alten mâgen, ze Franken den vil edelen. (V. 343–345) Caesar begann sich nun, seinen alten Verwandten zu nähern, den viel edelen Franken.

Denn die Franken stammen ihrerseits wiederum von den Trojanern ab, so die Kaiserchronik, die ja in der Rezeption der Aeneis Vergils die Stadt Rom gegründet haben und somit Caesar wie die Franken dem gleichen Geschlecht angehören:²¹ ir biderben vorderen kômen von Trôje der alten di di Chrîchen zervalte. (V. 346–348) Ihre vortrefflichen Vorfahren kommen von dem alten Troja, das die Griechen zerstört hatten.

Die (mittelalterliche) Reichsherrschaft und -einheit benötigt drei konstitutive ‚Säulen‘, welche nicht nur die politische Verfasstheit des Reiches begründen, sondern stets vielmehr als ideelle Matrize einer ‚Reichsidentität‘ mitbedacht werden müssen. Im weiteren Verlauf der Kaiserchronik benötigt das ungeeinte, führungslose Reich (diu rîche stuonden lære // „die Reiche standen leer“, V. 7806) folgende Voraussetzungen: (1) Ein einheitliches Territorium und ein geeintes Volk (daz Dûtisc volch // „das deutsche Volk“, V. 246), (2) eine einheitliche und einigende Ideologie beziehungsweise Religion (die heidnischen Römer und Caesar werden protochristianisiert) und (3) eine einigende Person, die an der Spitze das Reich regiert und leitet: si [die Römer] begunden irrizen den hêrren. daz vunden si im aller êrist ze êren, want er aine habete den gewalt der ê was getailet sô manicvalt. (V. 520–523) Sie begannen, den Herrn mit ‚Ihr‘ anzusprechen. Das führten Sie ihm zu Ehren ein,

 Vgl. Rubel 2001, 156–157.

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da er nun alleine die Macht besaß, die vorher auf so viele verteilt gewesen war.

Hier kommt Iulius Caesar als erstem Kaiser in der Kaiserchronik die typologische Präfigurierung eines realen christlichen Herrschers, nämlich Karls des Großen, zu: Karlen lobete man pillîche in Rômiscen rîchen vor allen werltkunigen. (V. 15084–15086) Karl lobte man in angemessener Weise im Römischen Reich vor allen Königen der Welt.

Sind diese Konstanten erst einmal expliziert, zeitigen sie Konsequenzen für die weitere Inszenierung und Rezeption Caesars in der Kaiserchronik. Diese Inszenierung vollzieht sich nach folgender Strategie und soll nun genauer betrachtet werden: (1) die Heroisierung Caesars, (2) seine kämpferische Bewährung beziehungsweise invasive Außenpolitik und (3) in letzter Konsequenz die Christianisierung des antiken heidnischen Feldherrn und Kaisers.

3 Die Inszenierung des ‚christlichen‘ Caesars Caesar ist ein vermezzen helt (V. 249), der von einem ebenso kühnen Volk zum Feldherrn gewählt wird: Die chuonen Rômære rewelten ainen hêrren, ain vermezzen helt, von dem daz buoch michil tugent zelt. (V. 247–250) Die kühnen Römer wählten einen Herrn, einen verwegenen Helden, von dem das Buch sehr viele Tugenden berichtet.

Er soll in die Schlacht gegen das aufrührerische Dûtisc volch // „deutsche Volk“ (V. 246) ziehen und dieses wieder in die römische Herrschaftsordnung eingliedern: si santen den helt jungen / ze Dûtiscen landen // „sie schickten den jungen Held / in die deutschen Lande“ (V. 253–254). Caesar wird dabei vom Chronikschreiber mit vielen Tugenden und besonderen Qualitäten ausgestattet, die ihn für diese schwierige Aufgabe auszeichnen (dô wesser wol, daz iz henain frum was // „So wusste er sehr

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wohl, dass Schweres bevorstand“, V. 265).²² Diese Inszenierung als starker Held zu Beginn der Caesar-Episode erinnert an die Erzählmuster der mittelhochdeutschen Heldenepik (wie zum Beispiel dem Nibelungenlied): Ein mit besonderen Tugenden (michil tugent // „vielen Tugenden“, V. 250) ausgezeichneter Held – hier Iulius Caesar – muss auf kriegerische Erprobungsfahrt gehen, um das eigene Land, den eigenen Herrschaftsbereich, vor einer (fremden) Bedrohung zu schützen beziehungsweise zu verteidigen.²³ Somit wird Caesar ausgesendet und seine heldenhafte Vortrefflichkeit vom Chronikarius bekräftig: er hêt ein stætigen muot, / en allen wîs was er ein helt guot // „er hatte eine feste Gesinnung, / und war in jeder Hinsicht ein ausgezeichneter Held“ (V. 255–256). Friedrich Ohly hat bereits gleichfalls auf die weiteren Tugenden Caesars hingewiesen, wenn er ihm als einem edele unt kuone // „edelen und kühnen“ (V. 437) Held stæte // „Ausdauer“ (V. 255), milte unde guot // „Freigebigkeit und Edelmut“ (V. 450), tugent // „Tugend“ (V. 571), diemuot // „Demut“ (V. 449) sowie einen tiurlîch // „herrlichen“ (V. 572) Charakter attestiert.²⁴ Diese angedeutete Tugendrevue und panegyrische Einhegung der Caesar-Figur (vil grôz lop si im sungen // „Loblieder sangen sie auf ihn“, V. 251) findet im Karls-Panegyrikos am Schluss der Karl der Große-Episode (V. 15069–15091) nicht nur ihre Entsprechung, sondern vielmehr ihre Erfüllung: Die Tugenden Karls finden nicht allein in den schon in Caesar implementierten Herrschertugenden ihr Pendant, sondern werden darüber hinaus in der Heiligkeit Karls gesteigert und hypostasiert.²⁵ Der christliche Karl kann somit die im heidnischen Caesar angelegte Reichs- und Heilseschatologie erfüllen und die translatio imperii, also die Übergabe der antiken Herrschaftslegitimation des Römischen Reiches, als mittelalterlicher Herrscher vollziehen.²⁶ Mit dieser Heroisierung des heidnischen Caesars verfolgt der Chronikschreiber zwei wichtige Absichten für seinen Text. Auf der einen Seite gelingt ihm über das Spiel mit bekannten literarischen Erzählmustern (der Heldenepik) eine sichere Anknüpfung an den kulturell-literarischen Hintergrund beziehungsweise die kulturellen ‚Erinnerungsorte‘ seiner mittelalterlichen Rezipienten. Auf der anderen

 Die Kaiserchronik verweist mit ihrer Inszenierung Caesars als vortrefflicher Held und späterer Herrscher einerseits auf die Tradition der antiken Herrschertugenden, andererseits werden hier – dem Anspruch des Prologes, gegen die Lügen (V. 29) der scophelîchen worte (V. 31) mit der Kaiserchronik (daz guote liet, V. 42) vorzugehen, zum Trotz –, die Tugenden und Qualitäten der Heroen der Heldenepik evoziert. Dies mag im Spiel des Chronikschreibers mit dem literarischen Horizont und den damit verbundenen Erwartungshaltungen seines Publikums an seinen Text begründet sein. Eingehender zu den sogenannten Herrschertugenden vgl. Goetz 2007.  Eingehender zur Heldenepik vgl. Beck 1988; Lienert 2015.  Vgl. Ohly 1968, 45.  Rubel hat hier bereits auf die jeweiligen Entsprechungen der Tugenden bei Caesar und Karl dem Großen hingewiesen (vgl. Rubel 2001, insbesondere 158–160).  Vgl. Rubel 2001, 160.

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Seite wird die Caesar-Figur schon gleich zu Beginn ihrer Episode ‚heroisch‘ aufgeladen und für den weiteren Verlauf der Kaiserchronik sowie die Gegenwart des Schreibers aktualisiert und folglich als „Erinnerungsfigur“²⁷ installiert. Die Heroisierung Caesars bildet also hier die Grundvoraussetzung für alle weiteren narrativen Entwicklungen des Textes – sogar noch vor einer genealogischen Verbindung von Römern und Franken! Sie präfiguriert dabei bereits Karl den Großen, der ebenfalls ‚heroisiert‘ zum Kampf ziehen muss, um seinen Bruder (Papst) Leo in Rom zu beschützen: Alse der junchêrre urloubes pat, der vater ez im vil gerne gap, den sun frumt er dane, so iz aim rîchen chunige wol gezam, mit der aller maiste gebe. der kint huop sich ze wege. (V. 14328–14333) Als der junge Herr um das Einverständnis bat, gewährte es ihm der Vater bereitwillig, den Sohn stattete er dann, wie es einem reichen König wohl anstand, mit allergrößtem Reichtum aus. Das Kind machte sich auf den Weg.

Caesar fährt nun als helt // „Held“ (V. 429) in die Dûtiscen lande // „deutschen Lande“ (V. 263) und muss sich im Kampf gegen ebenfalls vortreffliche Völker (V. 257–360) bewähren. Dass hier ain vermezzen helt // „ein verwegener Held“ (V. 249) nur gegen ebenfalls herausragende Völker kämpfen kann (und er ir ellen wol rekande // „und er ihre Stärke sehr gut kannte“, V. 264), so zum Beispiel gegen die Schwaben, die Bayern, die Sachsen und die Thüringer, liegt in der Logik sowie Inszenierung der Kaiserchronik begründet, welche die moralische und kämpferische Vorbildlichkeit Caesars kontinuierlich zu exemplifizieren und zu steigern sucht.²⁸ Deutlich zeigen sich Caesars Macht und Stärke, die aus seinen Tugenden resultieren, auch in der Daniel-Prophetie (V. 526–590), die den Eber als den tiurlîchen Juljum // „herrlichen Iulius“ (V. 572) deutet. Mit jedem neuen besiegten Volksstamm kann Caesar nun seine unterschiedlichen Herrschertugenden als rex iustus offenbaren und unter Beweis stellen.²⁹ In dieser Kampfpassage fällt jedoch ein Passus besonders auf, der

 Assmann 2022, 37–39; vgl. Rubel 2001, 160.  Im Gegensatz zum Annolied, welches die antagonistischen deutschen Völker generalisiert und anonymisiert.  Vgl. Rubel 2001, 158.

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ein delikates Detail im Verhältnis zwischen Caesar und den deutschen Volksstämmen preisgibt: Cêsar begunde dô nâhen zu sînen alten mâgen, ze Franken den vil edelen. ir biderben vorderen kômen von Trôje der alten di di Chrîchen zervalten. (V. 343–348) Caesar begann sich nun, seinen alten Verwandten zu nähern, den viel edelen Franken. Ihre vortrefflichen Vorfahren kommen von dem alten Troja, das die Griechen zerstört hatten.

Caesar, ein antiker römischer Feldherr mit fränkischen Verwandten, die ihrerseits von den Trojanern abstammen? Auch der Chronikarius scheint die Unglaubwürdigkeit dieser ungeheuerlichen Idee mit Wahrheitsbekundungen und einem Exkurs in die griechische Mythologie (Odysseus-Sage) ausgleichen zu wollen, wenn er für sein Publikum bekräftigt: Ob ir iz gelouben wellent, daz ich iu will rehte zellen, wi des herzogen Ulixes gesinde ain cyclops vraz in Sicilje. (V. 349–351) Falls ihr es glauben wollt, so werde ich euch wahrheitsgemäß erzählen, wie des Herzogs Ulixes’ Gefolgschaft von einem Zyklopen auf Sizilien aufgefressen wurde.

In jener Passage werden nicht nur der mittelalterliche Gesellschaftskontext und eine vermeintliche genealogische Verwandtschaftslinie in der Figur des Iulius Caesar zusammengeführt, sondern vielmehr zwei der für das Mittelalter wichtigen Diskurse aktualisiert: die Literatur und Kultur des Hofes sowie die mittelalterliche Herrschaftslegitimation beziehungsweise translatio imperii. Was bedeutet dies nun genau? Die Legitimationsbestrebungen mittelalterlicher Herrschaftsvorstellungen personalisieren sich in der Kaiserchronik unmittelbar in der Figur des Iulius Caesar. Dieser wird ‚heroisiert‘, das bedeutet der mittelalterlichen Gegenwart und dem literarischen Gedächtnis des Chronikschreibers angeglichen. Er stammt aus einem besonderen Volk, den chuonen Rômære // „kühnen Römern“ (V. 247), die ihrerseits protochristlich inszeniert sind. Caesar ist von seiner

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Abstammung her ein genuiner Franke – dies wird schlichtweg behauptet und es gibt nur die Wahrheitsbekundung des Chronikschreibers (V. 349–350) – und diese Franken sind allerdings ihrerseits wiederum eigentlich Abkömmlinge der Trojaner, die Rom nach dem trojanischen Krieg gegründet haben. Hier wird also der Bogen geschlagen von der Herrschaft der Franken zurück zu den mythischen Wurzeln des Römischen Imperiums. Caesar und die Franken werden somit eingebunden und remythisiert in einen eschatologischen Geschichtszusammenhang, der wiederum die ‚zeitgenössische‘ mittelalterliche Herrschaftsdynastie des Chronikschreibers legitimiert und zeitlich abschließt. Die Gegenwart der Kaiserchronik begreift sich somit als letztes Weltzeitalter und lebt in stetiger Parusieerwartung, das bedeutet die unmittelbare Wiederkunft Gottes am Ende der Zeit.³⁰ Die translatio imperii erfüllt sich also nicht, wie etwa der spätantike Kirchenvater Hieronymus ausführt,³¹ im antiken Römischen Reich, sondern im fränkischen Kaiserreich, das als direkter Erbe die in Iulius Caesar grundgelegte Kaiserherrschaft, Reichseinheit und Reichskontinuität legitimiert.³² Im Zuge der Daniel-Prophetie vollzieht sich auch ein weiterer Aspekt der mittelalterlichen Caesar-Rezeption,³³ nämlich seine Christianisierung, die sich wiederum als Präfiguration Karls des Großen verstehen lässt. Caesar ist zwar nicht getauft und hat den wâren got // „wahren Gott“ (V. 74), den christlichen Gott, noch nicht erkannt, doch als Römer – das ist bereits in der Römer-Episode implementiert – und auch als genuiner Franke, lebt und handelt Caesar in seinen Tugenden nach christlichen Maßstäben und Maximen. Er ist somit vor seinem Auftritt bereits eingebunden in die eschatologische Weltdeutung und den göttlichen Heilsplan.³⁴ Die Daniel-Apokalypse illustriert den Traum des alttestamentlichen Propheten Daniel (Dan 7,1–7,28): Am Tag des Jüngsten Gerichts entsteigen nacheinander vier große Tiere (Löwe, Bär, Leopard, Tier mit zehn Hörnern) dem aufgewühlten Meer und kündigen damit das Ende der immanenten Welt und das Kommen des Reiches Gottes an.³⁵ In der Kaiserchronik hingegen erfährt die Dramaturgie der biblischen

 Vgl. Rubel 2001, 151–152. Ausführlicher zur mittelalterlichen Parusieerwartung siehe Angenendt 2009, 221.  Vgl. Fiebig 1995, 31–33.  Vgl. Rubel 2001, 148.  Eingehender zur Rezeption der Caesar-Figur im Mittelalter siehe Schulze 1983, 1355–1356; Suerbaum 2013.  Vgl. Rubel 2001, 148–149.  Diese vier Tiere repräsentieren die vier biblischen Weltreiche. Beschrieben werden sie als ein aufrechtstehender Löwe mit den Flügeln eines Adlers sowie dem Herzen eines Menschen. Als Bär mit drei Rippen zwischen den Zähnen, als ein Panther mit vier Flügeln und vier Köpfen sowie zuletzt als ein nicht näher definiertes Tier mit eisernen Zähnen und zehn Hörnern. Ein alter Mann auf einem Thron aus Flammen flankiert ebenfalls dieses apokalyptische Panorama. Im Anschluss an

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Prophetie eine stark veränderte Ausgestaltung: Hier ist das geflügelte Tier ein Leopard (Daz êrste tier was ain liebarte; / der vier arenvetech habete // „Das erste Tier war ein Leopard; / mit vier Adlerflügeln“, V. 536–537) und Sinnbild des griechischen Königs Alexander (der bezaichninet den Chrîchisken Alexandrum // „der steht für den griechischen Alexander“, V. 538), das zweite Tier ist ein wilder, dreifach gezähnter Bär (Daz ander tier was ain pere wilde, / der habete drîvalde zende // „Das zweite Tier war ein wilder Bär, / der hatte dreifache Zähne“, V. 565–566), der drei sich bekämpfende Königreiche darstellt (der bezaichenet driu kunikrîche, / diu wider aim sollten grîfen // „der steht für drei Königreiche, / die einander bekämpften“, V. 567– 568). Das dritte Tier ist ain fraislich eber // „ein schrecklicher Eber“ (V. 571), der als Entsprechung für Iulius Caesar steht (den tiurlîchen Juljus bezaichenet daz // „das bezeichnet den herrlichen Iulius“,V. 572). An dieser Stelle zeigt sich deutlich, wie die alttestamentliche Prophezeiung im Sinne der Christianisierungsstrategien der Kaiserchronik verändert wird. Der Eber wird mit zehn Hörner beschrieben, mit denen er alle seine Feinde bezwingt und beherrscht: Der selbe eber zehen horn truoc, / dâ mit er sîne vîande alle nider sluoc // „Dieser Eber trug zehn Hörner, / mit denen er alle seine Feiner niederschlug“ (V. 573–574). Folglich werden hier das dritte und vierte Tier samt ihrer Attribute der Daniel-Prophetie kombiniert und neu gedeutet. Die Kaiserchronik inszeniert somit die unterschiedlichen Attribuierungen und Deutungskontexte der vier Tiere für die eigene mittelalterliche Reichs- und Herrschaftslegitimation, an deren Ende immer noch – ganz im Sinne einer translatio imperii – die überzeitliche Macht und Stärke des (antiken) Römischen Reiches stehen. Caesar, der Eber, vereint folglich in persona die danielische Prophetieerfüllung, den antik-mittelalterlichen Herrschaftsanspruch und die göttliche Heilseschatologie: wol bezaichenet uns daz wilde swîn / daz daz rîche ze Rôme sol iemer frî sîn // „Das wilde Schwein bezeichnet uns sehr gut, / dass das Römische Reich für immer frei sein soll“ (V. 576–577). Die Prophetie-Episode in der Kaiserchronik beginnt daher auch genau ab dem Zeitpunkt, an dem Caesar die deutschen Völker besiegt und geeint hat: Duo frouwete sih der junge man, / daz er diu rîche elliu under sih gewan // „Da freute sich der junge Mann, / dass er alle Reiche unter sich vereinigt hatte“ (V. 515–516). Nach dem Prophetie-Exkurs setzt wieder die eigentliche narrative Handlung ein, da die Inszenierung Caesars als christlicher Herrscher abgeschlossen ist. Mit dem Reichtum der Römer (Juljus di triskamere ûf prach // „Iulius brach zu den Schatzkammern auf“, V. 591) beschenkt Caesar die deutschen Völker (er gebete Dûtisken holden / mit silber unt mit golde // „Er beschenkte seine deutschen Getreuen / mit Silber und Gold“, V. 593–594), was eine Nobilitierung und Anerken-

diese Eingangsszenerie erscheint der Menschensohn, welcher dem Propheten Daniel die Bedeutung der vier Tiere auseinandersetzt und deutet. Vgl. Fiebig 1995, 32.

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nung der Dûtiske man // „deutschen Männer“ (V. 595) in Rom zur Folge hat: von diu wâren Dûtisken man / ze Rôme ie liep unt lobesam // „von da an waren deutsche Mannen / in Rom immer beliebt und hoch geehrt“ (V. 595–596). Es sei noch einmal an die drei Konstanten der Reichseinheit erinnert: ein einheitliches Volk und Territorium, eine einheitliche Ideologie beziehungsweise (christliche) Religion sowie eine einigende Person. In Caesar finden sich jetzt alle Konstanten vorgebildet und entfaltet. Er hat die aufrührerischen deutschen Volksstämme besiegt und die Einheit des Römischen Reiches wieder restituiert, so dass er am Ende der Caesar-Episode als der alleinige Herrscher dieses durch ihn geeinten Reiches triumphiert: diu rîche er mit michelem gewalte habete / die wîle daz er lebete // „Caesar regierte die Reiche mit froßer Gewalt, / so lange wie er lebte“ (V. 597–598). Das deutsche Reich und die deutschen Volksstämme sind durch Caesar geeint und somit nobilitiert im römischen Ansehen (V. 591–602). Allerdings bleibt ein Manko bestehen: Caesar bleibt ungetauft. Diesen Makel wird erst Konstantin beheben und schließlich Karl der Große als potenter christlicher Herrscher endgültig überwinden. So steht zwar am Ende der Caesar-Episode ein vortrefflicher Herrscher, ausgezeichnet mit allen Herrschertugenden, die es nach mittelalterlicher Vorstellung zu entwickeln gilt (milte, zuht et cetera), doch Caesars Regierungszeit währt nur fünf Jahre (niewan fiunf jâr // „nur fünf Jahre“, V. 600), bis er von den Römern erschlagen wird: Rômâre in ungetrûweclîche sluogen, / sîn gebaine si ûf ain irmensûl begruoben // „Die Römer erschlugen ihn treulos, / seine Gebeine bestatteten sie auf einem Obelisken“ (V. 601–602). Die Zukunft des Reiches ist also wieder offen und bedroht – sie bleibt es bis zu Karl dem Großen.

4 Eschatologische Erfüllung in Karl dem Großen Gleich der Herrschaft Iulius Caesars lässt sich die Herrschaft Karls des Großen nicht nur als Wendepunkt, sondern vielmehr als Höhepunkt in der Geschichte des Römischen Reiches in der Perspektivierung der Kaiserchronik deuten. Die Karl-Episode beginnt mit der Geburt von Karl und Leo als Söhne Pippins von Karlingen: Duo kom iz alsus, daz von Karlingen Pippînus, ain chunich rîche, hête zwêne sune hêrrlîche. der ain hiez Lêô: […] Karl dannoch dâ haime was. (V. 14308–14315) Nun kam es so, dass ein mächtiger König, Pippin von Karlingen,

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zwei herrliche Söhne hatte. Der eine hieß Leo: […] Karl war zu dieser Zeit noch in der Heimat.

In der narrativen Logik der Kaiserchronik ist die Genealogie und dyadische Verwandtschaft zwischen Leo und Karl zwingend erforderlich, da diese das spätere Gleichgewicht zwischen regnum und sacerdotium in der Person und Herrschaft Karls gewährleisten und somit auch die Einheit und den Frieden des Reiches garantieren.³⁶ Doch nicht allein die verwandtschaftliche Verbindung von Papsttum und weltlicher Macht bilden hier den Wendepunkt. Vielmehr wird dieser dadurch konstituiert, dass Karl der Große der erste ‚deutsche‘ Kaiser ist, welcher durch den Papst (also seinen Bruder Leo) am Ende eines langwierigen Interregnums gekrönt wird: der [Karl] gewan den namen scône daz er der êrste kaiser wart ze Rôme von Diutiscen landn. (V. 14817–14819) Er bekam den höchsten Titel, dass er der erste römische Kaiser war, der aus Deutschland kam.

Nach der negativen Episode mit Constantius treffen die chuonen Rômære // „kühnen Römer“ (V. 247) die Entscheidung, keine Herrscher mehr aus Griechenland zu approbieren: si wollten kunige haben ûz anderen rîchen, die von in mahten entwîchen. (V. 14293–14295) Sie wollten Könige aus anderen Reichen haben, die sie wieder wegschicken konnten.

Nachdem Karl nun seinem Bruder gegen die aufbegehrenden Römer militärisch zu Hilfe kommt, wird Karl von Leo zum Kaiser gekrönt. Dieser Ablauf erinnert stark an den Heroisierungsprozess, in den schon Caesar in seiner Episode bereits zu Beginn der Kaiserchronik hineingenommen scheint: Der nun christliche, heroisierte Held Karl muss sich in Kriegssituationen bewähren, um dann zum Herrscher erhoben zu werden. Die Reformen, die Karl als neuer Kaiser im Römischen Reich erlässt, sind  Vgl. Pellens 1973, 98–100. Weiterführend dazu siehe Erkens und Wolff 2002.

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die mittelalterlichen Rechtsregalia und Vorstellungen einer hierarchischen Gesellschaft: Es ist die mittelalterliche Stände- und Lehensordnung, die im Gewand einer höfischen Kultur implementiert wird. Ganz im Sinne der translatio imperii wird folglich das antike und originär heidnische Römische Reich (si erchanden des wâren gotes niet, // „sie erkannten den wahren Gott nicht“ V. 74) durch die Figur Karl den Großen als rex christianus und seine Reformen endgültig zu einem (proto-europäischen) christlichen Feudalreich organisiert.³⁷ Als wârer gotes wîgant // „wahrhaftiger Gotteskrieger“ (V. 15073) erweist sich Karl als vorbildlicher christlicher Herrscher und Eroberer im Dienste Gottes und als Vollzieher der göttlichen Heilsgeschichte: Dannen sciet der gotes dienestman, / dô er daz liut unserem hêrren gewan // „Gottes Dienstmann zog fort, / nachdem er das Volk für unseren Gott gewonnen hatte“ (V. 14909–14910). Somit wird die Karl-Episode mit einem Karl-Panegyrikos beschlossen, welcher alle vortrefflichen Tugenden, Qualitäten und Verdienste Karls auflistet: vor allen werltkunigen: / er habete di aller maisten tugende // „Vor allen Königen der Welt: / Er besaß die allermeisten Tugenden“ (V. 15086–15087). Karl der Große steht folglich am Endpunkt einer historisch-eschatologischen Entwicklung, die mit Iulius Caesar als idealtypischem Herrscher (rex iustus) ihren Anfang genommen hat.³⁸ Die Karl-Episode spiegelt auf mehreren Achsen die CaesarPassage und kulminiert im Herrscherpreis beziehungsweise im Karl-Panegyrikos, der mit vereinzelten Abstrichen – Caesar ist kein offensiver Missionar oder Verteidiger des christlichen Glaubens – ebenso auf Caesar zutreffen kann:³⁹ Karl hât ouch anderiu liet. Karl was ain wârer gotes wîgant, die haiden er ze der cristenhaite getwanc. Karl was chuone, Karl was scône, Karl was genædic, Karl was sælic, Karl was treumuote, Karl was stæte, unt hête iedoch die guote. Karl was lobelîch, Karl was vorhtlîch, Karlen lobete man pillîche in Rômiscen rîchen vor allen werltkunigen: er habete di aller maisten tugende. (V. 15072–15085)

 Vgl. Rubel 2001, 158.  Vgl. Rubel 2001, 158.  Vgl. Rubel 2001, 158.

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Es gibt auch andere Dichtungen über Karl. Karl war ein wahrhaftiger Gotteskrieger, der die Heiden zum Christentum bezwang. Karl war kühn, Karl war edelmütig, Kar war gnädig, Karl war selig, Karl war ehrfürchtig, Karl war ausdauernd und besaß auch Güte. Karl war ruhmreich, Karl war furchteinflößend, Karl lobte man in angemessener Weise im Römischen Reich Vor allen Königen der Welt: Er hatte die allermeisten Tugenden.

Caesar wird somit in letzter Konsequenz in Karl dem Großen zur „Erinnerungsfigur“⁴⁰ und zur Matrize eines idealtypischen Herrschers für ein geeintes Reich und zum prägenden „Erinnerungsort“⁴¹ eines prä-europäischen ‚Familienalbums‘. Denn die Fragen nach den Bedingungen einer (europäischen) Einheit und Identität, nach der Herkunft Europas beziehungsweise nach sinnstiftenden Symbolen und Personen, nach gemeinsamen europäischen ‚Erinnerungsorten‘ in unserer Gegenwart, sind nicht nur in der mittelalterlichen Kaiserchronik virulent, sie bedrängen und fordern uns auch gerade heute in der „gegenwärtigen Gegenwart“⁴² immer noch heraus und berühren somit auch die Zukunft Europas.

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Gero Faßbeck

Spaniens verschwundene Muslime Die Ricote-Episode und die Vertreibung der Morisken im zweiten Teil des Don Quijote

1 Die Figur des ‚Mauren‘ und die literatura morisca Die Figur des ‚Mauren‘ hat eine lange Tradition in der Geschichte der spanischen Literatur. Seitdem arabische Muslime im 8. und 9. Jahrhundert auf der iberischen Halbinsel gelandet waren, hatten sich zahlreiche Legenden um die muslimischen Eroberer gebildet. So etwa jene vom Verrat des Grafen Don Julián, der sich an dem letzten Westgotenkönig Roderich (Rodrigo) für die Vergewaltigung seiner Tochter rächt, indem er ein Bündnis mit den Mauren schließt – um den Preis, dass diese nahezu 800 Jahre im Land bleiben sollten.¹ Nicht weniger berühmt ist die Legende des christlichen Überläufers und späteren Nationalhelden Ruy Díaz de Vivar, genannt el Cid, der in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts im Dienste sowohl des christlichen Königs Alfons VI. von Kastilien als auch des maurischen Königs von Zaragoza stand und mehrfach die Seiten wechselte. Ihren literaturgeschichtlichen Ort haben diese Legenden im altspanischen Heldenepos (cantares de gesta) und in der volkstümlichen Romanze (romance). Letztere verbreitete sich in Spanien seit dem Spätmittelalter in unterschiedlichsten Variationen.² Mit zum Kernbestand der Gattung zählen Grenzromanzen (romances

 Wie populär diese Legende bis weit ins 16. Jahrhundert hinein war, belegt das Gedicht Profecía del Tajo des spanischen Humanisten und Theologen Fray Luis de Léon (1527–1591), in der nach dem lateinischen Muster der Prophezeiung des Nereus an Paris, den Entführer der Helena, aus Horazʼ Ode (I, 15) die Fehlbarkeit des Gotenkönigs zum Anlass genommen wird für eine ausführliche Schilderung des Kampfes zwischen den christlichen Heeren Roderichs und den auf Geheiß des ehrverletzten Grafen Julian herbeigerufenen ‚Barbaren‘, die Spanien in Schutt und Asche legen. Vgl. Léon 1984, 87–90.  Nach der allgemein akzeptierten Theorie von Menéndez Pidal liegt der Ursprung der Romanze in der epischen Dichtung des Mittelalters. Demnach handelt es sich bei den frühesten Romanzen um Überbleibsel oder Reste ‚zersungener‘ Heldenlieder, die von fahrenden Sängern (sogenannten juglares oder trobadores) zu Unterhaltungszwecken vorgetragen wurden, vgl. Díaz Mas 1994, 13. Zu den ältesten überlieferten Texten gehören die Romanze Fernando el Emplazado, die von dem plötzlichen https://doi.org/10.1515/9783110793062-003

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fronterizos) wie die Romanze von der Einnahme der Alhambra (Pérdida de Alhama) oder diejenige von den Mauren der Stadt Granada, die sich dem ‚guten‘ König Juan II. von Kastilien widersetzen und eine ‚Vermählung‘ mit ihm ablehnen (Abenámar). Thematisch handeln diese Romanzen zumeist von Bruderkämpfen, Stadtbelagerungen und Eroberungen. Eine Untergattung dieser Romanzenform, die sich nach der Eroberung Granadas als der letzten maurischen Bastion auf der iberischen Halbinsel entwickelte, ist die sogenannte ‚Maurenromanze‘ (romance morisco). Darin wird der ehemalige Gegner verniedlicht und idealisiert, was in der Forschung mit dem Begriff der ‚Maurophilie‘ umschrieben wird.³ Mit der novela morisca entstand im 16. Jahrhundert eine Gattung, die diese Tradition fortsetzt, indem sie historische Ereignisse aus der Zeit der Reconquista aufgreift und diese mit Geschichten von Freundschaft oder Liebe zwischen Christen und Muslimen verknüpft. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde die Moriskenerzählung zu einer regelrechten Modeerscheinung. Zu den prominentesten Beispielen gehört die Historia del Abencerraje y la hermosa Jarifa, ein anonymer Text aus dem Jahr 1561, der die Geschichte des maurischen Ritters Abindarráez aus dem vornehmen Adelsgeschlecht der Abincerrajes erzählt. Ferner die Historia de los bandos de Zegríes y Abencerraje aus dem zweiten Band der 1595 erschienenen Guerras civiles de Granada von Ginés Pérez de Hita, einem historischen Roman über den Bürgerkrieg der Stadt Granada und den Machtkampf zweier maurischer Familien.⁴ Mit der Belagerung der Stadt Granada beginnt auch die in Mateo Alemáns Schelmenroman Guzman de Alfarache (1599) eingestreute Novelle über das Liebespaar Ozmín und Daraja. Die beiden Helden, ein junger Maure und eine Maurin, werden im Zuge der Belagerung getrennt, finden nach mehreren komplizierten Abenteuern wieder zusammen und dürfen schließlich auf Geheiß der christlichen Königin heiraten, obwohl sie nicht bekehrt sind. Auch im Werk des spanischen Nationaldichters Miguel de Cervantes finden sich Anklänge an die Mode der literatura morisca. Beispielhaft dafür ist die Geschichte

Tod des Königs Fernando IV. von Kastilien im Jahre 1312 berichtet, sowie die Romanze Cerco de Baezo über die Belagerung der andalusischen Stadt Baeza im Jahr 1368. Vgl. Menéndez Pidal 1973, 18.  Vgl. hierzu etwa Georges Cirot 1938. Francisco López Estrada (1982, 80–88) definiert das „género morisco“ als „idealización poética“ der Maurenfigur. Einen weiteren interessanten Hinweis liefert Christian Grünnagel, wenn er feststellt, dass der Muslim in Texten dieser Zeit zum „edlen, ritterlichhöfischen Mauren stilisiert und damit letztlich in den christlich-okzidentalen Wertekanon integriert“ werde. Vgl. Grünnagel 2010, 62.  In der Historia del Abencerraje ist die Tendenz zur Idealisierung sehr deutlich zu erkennen. Der Maure Abindarráez gerät in Gefangenschaft, nachdem er von einem christlichen Ritter im Duell bezwungen wurde. Er darf sein Gefängnis jedoch zeitweise verlassen, um die schöne Jarifa zu heiraten. Auf sein Ehrenwort hin kehrt er anschließend zurück zu seinem christlichen Bezwinger, der ihm daraufhin die Freiheit schenkt.

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des Morisken Ricote und seiner Tochter Ana Félix aus dem zweiten Teil des Don Quijote (1615). Darin wird die Vertreibung der konvertierten spanischen Muslime angesprochen, die in Folge eines Edikts von 1609 das Land verlassen mussten. Mit der Morisken-Problematik beschäftigt sich Cervantes auch an anderen Stellen seines Werkes.⁵ Nirgendwo sonst allerdings wird das Schicksal der vertriebenen moriscos eindrucksvoller und unmittelbarer geschildert als in der kurzen Episode aus dem Don Quijote. In der Forschung wurde ausgiebig darüber spekuliert, welche Gründe Cervantes dazu bewogen haben könnten, das Thema in seinem Roman anzusprechen.⁶ Ich werde mich im Folgenden auf die Frage konzentrieren, wie die Ereignisse, die zur Vertreibung der Morisken führten, im Roman beurteilt werden. Lässt sich aus der Darstellung des Textes eine Bewertung hinsichtlich der MoriskenProblematik ableiten? Kann man dem literarischen Text gar eine versteckte politische Haltung unterstellen? Bevor ich mich diesen Fragen zuwende, gilt es jedoch, die historische Situation der Morisken im Spanien des 16. Jahrhunderts zu skizzieren. Wer also waren jene Menschen, deren Schicksal Cervantes in der Ricote-Episode thematisiert? Und welche Gründe führten dazu, dass sie vertrieben wurden?

2 Etappen der Vertreibung Mit dem Begriff morisco wurden seit dem 16. Jahrhundert getaufte Muslime bezeichnet, die zum Christentum konvertiert waren. Muslime lebten auf der iberi-

 Im Colloquio de los perros aus den Novelas ejemplares (1613) lässt Cervantes den Hund Berganza eine ganze Reihe von anti-morisken Vorurteilen aussprechen, die wohl dem zeitgenössischen Bild der getauften Muslime in den Augen vieler Spanier entsprachen. Die Morisken werden in Berganzas Rede für alle möglichen Übel verantwortlich gemacht: Sie seien allesamt religiöse Heuchler, die ihren christlichen Glauben nur zum Schein vorleben würden; unter ihnen gebe es keine Keuschheit, sie vermehrten sich allzu schnell und sie seien einzig darauf aus, die Spanier zu bestehlen und Geld anzuhäufen. Man darf jedoch nicht übersehen, dass dem gesamten Diskurs eine ironische Intention zugrunde liegt. Die Morisken, bei denen Berganza in Granada eine Zeit lang lebt, behandeln ihn sehr viel besser als seine christlichen Herren. Die Forschung hat nachgewiesen, dass Cervantes im Colloquio zeitgenössische Hetzschriften nachahmt, die gegen die Morisken im Umlauf waren, insbesondere die Expulsión justificada de los moriscos de España (1612) von Pedro Aznar Cardona. Vgl. Dadson 2006, 15–16.  Zentrale Referenz hierfür ist das Kapitel „El morisco Ricote o la hispana razón de estado“ aus dem erstmals 1975 erschienenen Buch Personajes y temas del Quijote von Francisco Márquez Villanueva. Vgl. Márquez Villanueva 2011.

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schen Halbinsel seit dem frühen 8. Jahrhundert.⁷ In den knapp 700 Jahren bis zu ihrer Vertreibung entwickelten sich auf dem Gebiet des heutigen Spanien komplexe Formen des Zusammenlebens zwischen Juden, Christen und Muslimen, die in der Forschung mit dem Begriff der convivencia umschrieben werden. Man darf diese Situation allerdings nicht mit den modernen Vorstellungen von Religionsfreiheit und Toleranz gleichsetzen. Über das gesamte Mittelalter hinweg gab es auf dem Gebiet des historischen Al-Andalus sowohl friedliche als auch kriegerische Phasen. Territorien und Städte wechselten zwischen Herrschaftsgebieten hin und her. Es gab Christen, die unter muslimische Herrschaft gerieten und zum Islam konvertierten (muwalladun, sp. muladíes). Andere hingegen blieben ihrer Religion treu, passten sich aber in Kultur und Sprache der Lebensweise ihrer muslimischen Herrscher an (musta’ribun, sp. mozaraber). Umgekehrt gab es auch Mauren, die unter christlicher Herrschaft Muslime blieben (mudéjares). Und schließlich gab es Muslime, die ihren alten Glauben aufgaben und – oft unter Zwang – zum Christentum konvertierten (moriscos). Vielerorts gab es zudem Mischehen zwischen Angehörigen der drei Religionen. Diese waren sogar keine Seltenheit.⁸ Differenzen bestanden auch in den Freiheiten, die man den jeweiligen Religionsgemeinschaften zubilligte. In Städten wie Toledo, das 1085 unter christliche Herrschaft geriet, konnten Muslime ihre Religion weiterhin ausleben. Andernorts wurde der Alltag der Menschen durch eine Vielzahl an formalen und informellen Arrangements bestimmt.⁹ Nicht immer wurden diese auch eingehalten. Aus heutiger Perspektive ist es darum schwierig, eine allgemeine Bewertung der convivencia vorzunehmen. Was sich jedoch mit Gewissheit sagen lässt, ist, dass die räumliche Nähe zwischen Juden, Christen und Muslimen eine für Europa beispiellose Ausnahme darstellt. Der Romanist Georg Bossong fasst diese Situation wie folgt zusammen: Die historische Besonderheit, ja Einmaligkeit des Maurischen Spanien liegt genau darin begründet, daß hier Angehörige der drei monotheistischen Religionen zwar nicht konfliktfrei, aber doch über lange Zeiträume hinweg kooperativ zusammenlebten. […] Nirgendwo sonst in Westeuropa kam es zu so einem engen Kontakt zwischen den drei „Religionen des Buches“. All dies hat die Geschichte Spaniens tief geprägt.¹⁰

 Zur Geschichte des Islam auf der iberischen Halbinsel und seiner Wechselbeziehung zu den anderen beiden monotheistischen Religionen vgl. etwa die beiden grundlegenden Studien von Catlos 2019 und Menocal 2002.  Vgl. Clot 2002, 201.  Teilweise galten für Angehörige der religiösen Minderheit besondere Vorschriften wie Steuerabgaben oder die Pflicht zum Militärdienst; vereinzelt existierten aber auch innerhalb einer Religionsgemeinschaft spezielle Regeln wie Kleider- und Essensvorschriften und eine mehr oder weniger streng gehandhabte Ehe- und Sexualpolitik. Vgl. hierzu Abate 2015, 232–277.  Bossong 2010, 9.

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Mit dem Beginn der Reconquista änderte sich die Situation der spanischen Muslime (wie übrigens auch diejenige der Juden) grundlegend. 1492 fiel das muslimische Granada unter christliche Hoheit. Im selben Jahr endete offiziell die christliche ‚Rückeroberung‘¹¹ Spaniens durch die ‚katholischen Könige‘ (reyes católicos) Isabella I. von Kastilien (1451–1504) und Ferdinand II. von Aragón (1452–1504). Deren Nachfolger Philipp II. (1527–1598) und Philipp III. (1578–1621) führten das Projekt einer ethnisch-religiösen Homogenisierung fort, indem sie das Christentum zur alleinigen Grundlage der Monarchie erklärten. Es folgte eine Politik der Ausgrenzung und Diskriminierung, die mit der nahezu vollständigen Vertreibung aller in Spanien lebenden Juden und Muslime endete. Anders als bei den spanischen Juden, deren Ausweisung in relativ kurzer Zeit erfolgte, zog sich die Vertreibung der Muslime über einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren hin.¹² Bereits 1502 wurde die maurische Bevölkerung vor die Wahl gestellt, entweder das Land zu verlassen oder zum Christentum zu konvertieren. Diejenigen unter ihnen, die konvertierten, wurden fortan als moriscos bezeichnet. Ein Abkommen, das Karl V. 1526 mit den Mauren aus Granada abschloss, sicherte diesen (gegen Bezahlung einer hohen Geldsumme) eine Übergangszeit von 40 Jahren zu, um sich mit den Gebräuchen des Christentums vertraut zu machen.¹³ 1567 erließ König Philipp II. eine Reihe von Dekreten, die diese Regelung außer Kraft setzte und den getauften Muslimen vorschrieb, sich in Sprache, Lebensweise und Kleidung anzupassen. Als Reaktion darauf brach in den Bergen der Alpujarras ein Aufstand der Morisken aus (1568–1571), woraufhin die maurische Bevölkerung Granadas in einer Strafmaßnahme über das Land verteilt wurde. 1609 schließlich

 Der Begriff Reconquista ist problematisch, weil er den Eindruck vermittelt, „es habe von spanisch-christlicher Seite von Anfang an ein klar umrissenes Projekt gegeben, die Muslime als fremde Eindringlinge wieder aus Spanien zu vertreiben und im Sinne des Neogotismus ein ‚christliches‘ Spanien wiederherzustellen“ (Tietz 2011, 9). Es wird also eine vermeintliche Kontinuität zwischen den frühen Hispano-Romanen und den spanischen Christen des 15. Jahrhunderts angenommen, die durch die muslimische Herrschaft lediglich unterbrochen und in Folge der christlichen ‚Rückeroberung‘ wiederhergestellt wurde. In Wirklichkeit kam es im gesamten Mittelalter aber zu vielfältigen Akkulturationsprozessen, in deren Folge sich die drei Religionsgemeinschaften vermischten.  Dass die Ausweisung der Morisken so lange dauerte, liegt vor allem darin begründet, dass sie rein technisch betrachtet Christen waren. Nach dem Abkommen von 1502 waren viele spanische Muslime zum Christentum übergetreten. Ihre spätere Vertreibung war somit streng genommen eine Vertreibung von Christen, wie Francisco Márquez Villanueva anmerkt, wohingegen Juden im mittelalterlichen Europa als ‚Privateigentum‘ des jeweiligen Landesherren betrachtet wurden, weshalb ihre Vertreibung kein ernsthaftes Problem für das kollektive Gewissen darstellte. Vgl. Márquez Villanueva 2011, 272.  Im Folgenden nach Edelmayer 2017, 174–184. Eine knappe Übersicht zur Situation der Morisken ab 1492 liefert das Kapitel „Das Ende muslimischen Lebens in Spanien“ bei Clot 2002, 260–270.

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erließ König Philipp III. (auf maßgebliches Betreiben des Herzogs von Lerma und des Erzbischofs von Valencia) jenes fatale Edikt, das alle spanischen moriscos anwies, binnen drei Tagen das Land zu verlassen. Man schätzt, dass zwischen 200.0000 und 300.000 Menschen in Folge des Edikts aus Spanien vertrieben wurden.¹⁴ Das Edikt zur Ausweisung der spanischen Morisken fiel in eine Zeit, in der vielerorts in Europa nach einem Ausgleich zwischen den Konfessionen gesucht wurde. Beispiele dafür sind der Augsburger Religionsfrieden (1555), der es den deutschen Landesherren erlaubte, die Religionszugehörigkeit ihrer Untertanen zu bestimmen (cuius regio, eius religio), sowie das Edikt von Nantes (1598), das den verfolgten Hugenotten im katholischen Frankreich volle Bürgerrechte zugestand. In Spanien war die Situation der religiösen Minderheiten zu diesem Zeitpunkt eine andere. Ab etwa 1580 verschlechterte sich die Lage der konvertierten Juden (conversos) und Muslime (moriscos) drastisch. Zwei Faktoren spielten dabei eine Rolle: zum einen die militärische Bedrohung durch die Türken und zum anderen die in Spanien nahezu übermächtige Rolle der Inquisition. Der Konflikt mit dem Osmanischen Reich beförderte in Spanien zahlreiche antimuslimische Reaktionen. Hardliner am Hof von König Philipp III. wie der einflussreiche Herzog von Lerma, sein wichtigster Berater, befürchteten, die Morisken würden dem Feind als „fünfte Kolonne“ im eigenen Land dienen und bezichtigten sie des „Hochverrats“.¹⁵ Unter dem Vorwand der „nationalen Sicherheit“¹⁶ wurden die Morisken zu Staatsfeinden erklärt. Ein weiterer Vorwurf lautete, die Morisken würden ihren alten Glauben im Geheimen weiter ausüben. Um dem Problem Herr zu werden, begann die mit der Überprüfung von Glaubensfragen beauftragte Inquisition, eine Definition von Christentum zu propagieren, die auf dem Konzept der genealogischen Abstammung beruhte.¹⁷ Personen, deren Aufrichtigkeit in Glaubensfragen angezweifelt wurde, hatten sich einer strengen Gewissensprüfung zu unterziehen und einen offiziellen Nachweis ihrer ‚Blutreinheit‘ (limpieza de la sangre) zu erbringen. Man kann sich vorstellen, wie schwierig ein solcher Nachweis zu liefern war in einem Land, in dem Mischehen zwischen den Religionen zwar nicht an der Tagesordnung, doch aber seit vielen Jahrhunderten auch nicht unüblich gewesen waren.¹⁸ Für die zum Christentum konvertierten Juden und Muslime

 Vgl. Bossong 2010, 65; sowie Edelmayer 2017, 176; Clot 2002, 263.  Edelmayer 2004, 170.  Clot 2002, 262.  Vgl. Root 1988, 130.  Teilweise wurde die Frage der Abstammung gezielt dazu verwendet, politische Konkurrenten oder Mitbewerber um lukrative Ämter zu verleumden. Umgekehrt ließen sich solche Bescheinigungen der ‚Blutsreinheit‘ auch durch Gefälligkeiten erwirken. Cervantes und sein Vater mussten

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wurde die Frage ihrer Abstammung zum Problem, da sie sich fortwährend rechtfertigten mussten, keine ‚Altchristen‘ (cristianos viejos) zu sein, obwohl viele von ihnen den christlichen Glauben längst übernommen hatten. Genau diese Problematik steht auch im Mittelpunkt der Geschichte des Morisken Ricote und seiner Tochter Ana Félix aus dem zweiten Teil des Quijote.

3 Ein unerwartetes Wiedersehen Die Ricote-Episode beginnt in Kapitel 54 des zweiten Teils des Romans und wird nach einer kurzen Unterbrechung in Kapitel 63 fortgesetzt.¹⁹ Unmittelbar zuvor haben sich Don Quijote und sein Knappe Sancho Panza getrennt. Inzwischen ist Sancho auf dem Weg zurück zu seinem Herrn, nachdem er sein Amt als Gubernator einer fiktiven Insel namens Barataria wieder aufgegeben hat. Unterwegs stößt er auf eine Gruppe Pilger, allesamt junge Burschen und „Auswärtige“ (estranjeros), die ihn in einem fremdländischen Akzent um Almosen bitten. Unter den Pilgern befindet sich auch ein älterer Mann, der freudig auf Sancho zustürmt und ihn mit „urspanischer Stimme“ (466) // en voz alta y muy castellana (477) mit seinem Namen anspricht. Es ist sein alter Freund und guter Nachbar Ricote, der aus demselben Dorf wie Sancho stammt, aber aufgrund des Ediktes von 1609 das Land verlassen musste. Sancho ist einigermaßen überrascht, Ricote an diesem Ort (und noch dazu in Pilgertracht) vorzufinden. Sein anfängliches Staunen weicht jedoch schnell der Besorgnis, fürchtet er doch, dass es dem Freund übel ergehen könnte, sollte man ihn in Spanien als Morisken erkennen: Wie zum Teufel sollte ich dich wiedererkennen, Ricote, wo du so ein Narrenkostüm trägst? Sag, was hat dich in solch fremden Vogel verwandelt? Und dass du es wagst, nach Spanien zurückzukommen! Wenn man dich schnappt und erkennt, ergeht es dir doch übel. (467) ¿Quién diablos te había de conocer, Ricote, en ese traje de moharracho que traes? Dime: ¿quién te ha hecho franchote, y cómo tienes atrevimiento de volver a España, donde si te cogen y conocen tendrás harta mala ventura? (448)

Im anschließenden Gespräch berichtet der Moriske, wie es ihm seit dem Erlass ergangen ist, den Seine Majestät mit solcher Strenge „über die Unglücklichen meiner Art“ (467) // con tanto rigor a los desdichados de mi nación (448) verhängt hat. Die

sich diese Dokumente offenbar ebenfalls beschaffen, weshalb mitunter spekuliert wird, ob der Autor möglicherweise selbst ein converso war. Vgl. Neumahr 2015, 22.  Die Zitierweise erfolgt auf der Grundlage der Ausgabe von Luis Andrés Murillo (vgl. Cervantes 2010). Die deutschen Zitate folgen der Übersetzug von Susanne Lange (vgl. Cervantes 2019).

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Gefahr vorausahnend, hat er Vorkehrungen getroffen, um sich und seine Familie in Sicherheit zu bringen. Er hat sein Heimatdorf verlassen und ist nach Deutschland gezogen, wo er in der Nähe von Augsburg ein Haus gemietet hat. Nun ist er auf dem Weg zurück nach Spanien, um seine Frau und Tochter nachzuholen. Zudem möchte er einen wertvollen Schatz (tesoro) ausgraben, den er vor seiner Flucht wohlweislich dort vergraben hat. Einen Teil davon bietet er Sancho an, falls er ihm hilft, den Schatz außer Landes zu schmuggeln. Dieser lehnt das Angebot jedoch ab, da er befürchtet, seinen König zu verraten, indem er dessen Feinden hilft (como por parecerme haría traición a mi rey en dar favor a sus enemigos, 452). Bei Sonnenaufgang trennen sich die beiden und ziehen unterschiedlicher Wege. Soweit die Handlung der Ricote-Episode. Erstaunlich ist, dass Cervantes seiner Romanfigur Worte in den Mund legt, die wie eine Rechtfertigung des Ediktes von 1609 klingen. Ausgerechnet der Moriske Ricote meint, dass die Strafe der Vertreibung „zu Recht“ (con justa razón) erfolgte und dass es „göttliche Eingebung“ (inspiración divina) gewesen sei die seine Majestät bewogen hat, einen so beherzten Entschluss in die Tat umzusetzen, nicht etwa, weil wir alle schuldig gewesen wären, nein, manche unter uns waren aufrechte, wahre Christen, doch so wenige, dass sie gegen die nicht ankamen, die es nicht waren, und eine Schlange nährt man nicht am Busen, Feinde hält man sich nicht im eigenen Haus. Kurzum, zu Recht war unsere Strafe die Vertreibung, leicht und mild nach mancher Leute Ansicht, für uns jedoch die grausamste, die man über uns verhängen konnte. (469–470) la que movió a Su Majestad a poner en efecto tan gallarda resolución, no porque todos fusémos culpados, que algunos había cristianos firmes y verdaderos; pero eran tan pocos, que no se podían oponer a los que no lo eran, y no era bien criar la sierpe en el seno, teniendo los enemigos dentra de casa. Finalmente, con justa razón fuimos castigados con la pena del destierro, blanda y suave al parecer de algunos, pero al nuestro, la más terrible que se nos podía dar. (450–451)

Wie soll man eine solche Aussage – noch dazu aus dem Mund eines der Opfer des Ediktes – verstehen? Muss man daraus etwa schließen, dass der gläubige Katholik Cervantes mit der Entscheidung seines Königs einverstanden war? Die Literaturkritik hat diese Frage in der überwiegenden Mehrheit verneint.²⁰ Und auch der Text

 Beispielhaft sei hier noch einmal auf Francisco Márquez Villanueva verwiesen, der in dieser Frage die wohl differenzierteste Perspektive einnimmt. Ihm zufolge vertrat Cervantes eine ‚gemäßigte‘ Position, da er die Vertreibung der Morisken nicht etwa deshalb ablehne, weil sie ein Angriff auf die Religionsfreiheit darstellte; seine Bedenken bezögen sich vielmehr darauf, dass das Edikt auch Unschuldige traf und eine Vielzahl an getauften Christen das Land verlassen musste. Márquez Villanueva betont zu Recht, dass man dem Autor nicht vorwerfen könne, er habe die Vertreibung der Morisken nicht entschieden genug kritisiert. Ein solcher Vorwurf sei zwar aus heutiger Sicht nachvollziehbar, verkenne aber die historische Situation im 16. Jahrhundert. Wenn Cervantes dem

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selbst legt einen anderen Schluss nahe, wenngleich er in der Bewertung des historischen Geschehens ambivalent bleibt. Zwar wird die Entscheidung Philipps III. nicht unmittelbar kritisiert; gleichzeitig lässt sich aus der Figurenrede jedoch eine gewisse Skepsis ablesen, ob die Entscheidung des Königs in dieser Form gerechtfertigt gewesen ist. Ricote hält die königliche Resolution für unausweichlich, zweifelt aber an ihrer Rechtmäßigkeit. Denn das Edikt bestraft eben auch jene, die schuldlos waren, weil sie sich nicht an den „niederen, sinnlosen Anschläge[n] unseres Volkes“ (469) // los ruines y disparatados intentos que los nuestros tenían (450) beteiligt haben,²¹ sondern aufrichtige und ehrliche Christen waren. Was in Zweifel gezogen wird, ist die Legitimität eines Gesetzes, das Unrecht gegenüber einigen Wenigen in Kauf nimmt, um Schaden von der Allgemeinheit abzuhalten. Ein solches Gesetz widerspricht dem Ideal eines ‚weisen‘ und ‚gerechten‘ Herrschers, der nach dem Grundsatz der Barmherzigkeit entscheidet, wie noch zu zeigen sein wird. Nichtsdestotrotz bleiben die Worte des Morisken fragwürdig, wenn er das königliche Vertreibungsedikt gutheißt. Man kann nur spekulieren, was den Autor zu einem solchen Schritt veranlasst hat. Möglicherweise wollte sich Cervantes auf diese Weise vor der Zensur schützen. So zumindest lässt sich die ironische Kapitelüberschrift deuten (Que trata de cosas tocantes a esta história y no a otra alguna, 446), die sich von den Ereignissen der ‚wahren‘ Geschichte zu distanzieren vorgibt. Der Text selbst enthält indes noch eine Reihe weiterer Indizien, die den Schluss nahelegen, dass Cervantes mit der Entscheidung seines Königs keineswegs einverstanden war und die Vertreibung der Morisken für einen Fehler hielt. Da ist zunächst der gesellige Rahmen zu nennen, der das entsprechende Romankapitel einleitet. Nach dem zufälligen Wiedersehen der zwei Freunde ziehen sich Ricote, Sancho und die Pilger in ein benachbartes Pappelwäldchen zurück, das ein gutes Stück abseits der königlichen Hauptstraße (bien desviados del camino real, 448–449) gelegen ist. Die räumliche Distanz lässt sich als eine Form der Abwendung von der offiziellen Politik des Staates interpretieren. Die Romanfiguren entfernen sich von der Hoheitsgewalt der Monarchie und damit auch von dem Erlass des Königs. Bezeichnenderweise herrscht unter den Pappelbäumen ein ganz anderes geistiges Klima als im Rest des Landes. Es gelten die Gesetze der Freundschaft, Geselligkeit und Harmonie. Man teilt das Essen miteinander und verfällt in herzhaftes Gelächter. Herkunft und Religion spielen am Ort dieser Zusammenkunft keine Rolle: Die Unterscheidung zwischen Christen und Morisken, zwischen Aus-

königlichen Edikt ablehnend gegenüberstand, so konnte er dies aufgrund der allgegenwärtigen Zensur nur implizit äußern. Vgl. Márquez Villanueva 2011, 321.  Gemeint ist der Aufstand der Morisken von Granada in den Bergen der Alpurjarras (1568–1571).

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ländern und Spaniern ist aufgehoben. Sogar die religiösen Essensvorschriften sind außer Kraft gesetzt, denn es wird fleißig Schinken gegessen und Wein getrunken: Doch auf dem Feld ihres Banketts wurde alles von sechs stämmigen Weinschläuchen geschlagen; jeder zog einen aus seinem Knappsack, sogar der brave Ricote, der sich von einem Morisken in einen Deutschen oder Sachsen verwandelt hatte, und sein Weinleder konnte an Größe sehr wohl mit den anderen fünf wetteifern. (468) Pero lo que más campeó en el campo de aquel banquete fueron seis botas de vino, que cada uno sacó la suya de su alforja; hasta el buen Ricote, que se había transformado de morisco en alemán o en tudesco, sacó la suya, que en grandeza podía competir con las cinco. (449)

Die Szene erinnert an den geselligen Rahmen von Platons Symposium, dessen Thema bekanntlich um die Liebe und die Freundschaft kreist. Auch das Wiedersehen zwischen Sancho und Ricote wird zu einer regelrechten Feier der Freundschaft. Unter den Teilnehmern des Banketts wandern die Weinschläuche von Mund zu Mund, ganz so wie die Freundschaftsbecher unter den Anwesenden des griechischen Gastmahls. Beim Trinken sind die Augen zum Himmel gewandt, als zielten sie geradewegs auf ihn (clavados los ojos en el cielo, no parecía sino que ponían en él la puntería, 449).Wenn schon nicht vor dem Gesetz, so doch zumindest vor Gott sind alle Menschen gleich, unabhängig von ihrem Glauben. Im völligen Kontrast dazu steht der erschütternde Bericht über den Abschied der Morisken aus dem Dorf. Sancho, der zugegen war als der königliche Erlass umgesetzt wurde, schildert seinem Freund, wie sich die Dorfbewohner versammelt haben, um Ricotes Tochter und ihrer Mutter Lebewohl zu sagen: [Ich] kann dir sagen, deine Tochter sah so schön aus, dass alle im Dorf zusammengelaufen sind und sich nicht satt sehen konnten und gesagt haben, sie wär das schönste Geschöpf auf Erden. Sie hat geweint, ihre Freundinnen und Bekannten umarmt, ja alle, die sie verabschieden kamen, und einen jeden hat sie gebeten, zum Herrgott und zur heiligen Muttergottes für sie zu flehen, so schmerzlich, dass mir die Tränen in die Augen kamen, wo ich gewiss kein Tränensack bin. Und glaub mir, viele hätten sie zu gern versteckt oder unterwegs entführt, nur die Angst, gegen den königlichen Befehl zu verstoßen, hat sie zurückgehalten. (473) séte decir que salió tu hija tan hermosa, que salieron a verla cuantos había en el pueblo, y todos decían que era la más bella criatura del mundo. Iba llorando y abrazaba a todas sus amigas y conocidas, y a cuantos llegaban a verla, y a todos pedía la encomendasen a Dios y a Nuestra Señora su madre; y esto, con tanto sentimiento, que a mí me hizo llorar, que no suelo ser muy llorón. Y a fee que muchos tuvieron deseo de esconderla y salir a quitársela en el camino; pero el miedo de ir contra el mandado del rey los detuvo. (453–454)

Es ist nicht klar, inwiefern dieser fiktive Augenzeugenbericht den historischen Zeitumständen entspricht. Möglicherweise spiegeln die Reaktionen der Dorfbewohner zumindest teilweise die tatsächliche Gemütslage vieler zeitgenössischer

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Spanier wider. Cervantes jedenfalls ist sehr darum bemüht, die universellmenschliche Dimension dieser Abschiedsszene in den Vordergrund zu rücken. Unter den Dorfbewohnern herrscht keineswegs Erleichterung oder gar Freude darüber, dass die Morisken das Dorf verlassen. Im Gegenteil, es überwiegen Trauer und Schmerz. Einzig die Angst, gegen das königliche Edikt zu verstoßen, hält die Bewohner davon ab, die beiden Frauen zu verstecken. Wir können aus den Reaktionen schließen, dass Ricote und seine Familie bestens in die Dorfgemeinschaft integriert sind. Sie werden von den Bewohnern nicht als Fremde wahrgenommen, sondern als Spanier, die sie de facto auch sind. Ricote selbst redet wie ein echter Kastilier, „ohne je in seine Moriskensprache abzugleiten“ (469) // sin tropezar nada en su lengua morisca, en la pura castellana (450). Auch in der Frage der Religionszugehörigkeit unterscheiden sich die Morisken nicht von ihren Nachbarn. Ricotes Frau und Tochter teilen den religiösen Eifer der Neubekehrten, denn sie sind aufrechte católicas cristianas (452). Ricote selbst sagt über sich, er habe mehr von einem Christen als von einem Mauren (más de cristiano que de moro, 452). Im Grunde spielt die Religion in seinem Leben jedoch keine große Rolle. Was für ihn zählt, sind die Familie und das Land, in dem er geboren wurde. Umso schmerzhafter ist es, dass er die angestammte Heimat nun verlassen muss: Wir haben nicht gewusst, was für einen Schatz wir hatten, bis wir ihn verloren, und so übermächtig ist bei fast allen der Wunsch, nach Spanien zurückzukehren, dass die meisten, die die Sprache so gut sprechen wie ich, und das sind viele, hierher zurückkommen und ihre Frauen und Kinder drüben im Stich lassen: so groß ist ihre Liebe zu diesem Land, und jetzt weiß ich aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, wenn man sagt, süß ist die Liebe zur Heimat. (470) No hemos conocido el bien hasta que le hemos perdido; y es el deseo tan grande que casi todos tenemos de volver a España, que lo más de aquellos, y son muchos, que saben la lengua como yo, se vuelven a ella, y dejan allá sus mujeres y sus hijos desamparados: tanto es el amor que la tienen; y agora conozco y experimento lo que suele decirse: que es dulce el amor de la patria. (451)

Den Schmerz, den der Verlust der Heimat mit sich bringt, kann wohl nur derjenige nachempfinden, der wie Ricote selbst einmal in einer solchen Lage war. Die Romanfiguren empfinden die Entscheidung vor allem deshalb als ungerecht, weil ihre Liebe zu Spanien aufrichtig ist und sie sich selbst als Spanier definieren.

4 Von guten und schlechten Herrschern Die Vertreibung der Morisken, die Cervantes im zweiten Teil seines Quijote so offen thematisiert, muss den Leserinnen und Lesern seines Romans sechs Jahre nach dem Edikt von 1609 noch sehr gut in Erinnerung gewesen sein. Man kann davon aus-

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gehen, dass dem Autor die Entscheidung, die zur Ausweisung der Morisken führte, fragwürdig erschienen sein muss. Letzten Endes entbehrte sie schließlich jeder Rechtsgrundlage, waren die Morisken doch formal betrachtet nicht nur Spanier, sondern auch Christen. Nun wäre es dem Einzelnen kaum möglich gewesen, die königliche Resolution öffentlich zu kritisieren. Cervantes wäre aber nicht Cervantes, wenn er seine Kritik nicht auf andere Weise zum Ausdruck bringen würde. So kann eine textimmanente Lektüre zeigen, dass die historischen Umstände der Moriskenvertreibung im Roman durchaus kritisch bewertet werden. Aus Sicht des Textes erscheint die Vertreibung der Morisken weder gerecht (in ethisch-moralischer Hinsicht) noch legitim (aus Gründen der Staatsräson). Cervantes formuliert seine Kritik an der Entscheidung von König Philipp derweil nicht direkt, sondern über den Umweg einer Gegenüberstellung von ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Herrschaftspraktiken. Die volle Tragweite dieser impliziten Herrschaftskritik wird allerdings erst dann ersichtlich, wenn man den näheren Kontext der Romanhandlung miteinbezieht, in der sich die entsprechende Episode abspielt. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich nachvollziehen, weshalb Cervantes die Entscheidung seines Königs für ungerecht und falsch erachtet haben muss. Die Geschichte des Morisken Ricote steht, wie schon erwähnt, am Ende einer längeren Kapitelsequenz, die von Sanchos Aufenthalt im Haus des Herzogs und der Herzogin berichtet, wo er für eine Dauer von zehn Tagen das Amt des Gubernators ausüben durfte (wenngleich auch nur zum Spaß, denn die Ereignisse sind Teil der Scherze, die seine Gastgeber mit ihm und Don Quijote machen). Im Laufe dieser zehn Tage muss Sancho mehrere Gerichtsverfahren leiten, was ihm zur Überraschung aller anwesenden Personen in eindrucksvoller Weise gelingt. Ganz gleich, wie kompliziert die Fälle sind, am Ende findet Sancho immer eine Lösung, die sein Geschick als Gubernator unter Beweis stellt.²² Im Laufe seiner Amtszeit erweist sich Sancho im wahrsten Sinne des Wortes als ein ‚weiser‘ Herrscher. Nicht nur regiert er mit Klugheit und Verstand, sondern er versteht es darüber hinaus, alle Argumente sorgfältig gegeneinander abzuwägen: Verhängt er eine Strafe, so ist sie dem Vergehen angemessen; zeigen die Beklagten Reue, berücksichtigt er dies in seinem Urteil; und lässt sich eine Schuld nicht nachweisen, so spricht er sie umgehend frei. In seiner Strenge ist Sancho ebenso gerecht wie in seiner Nachsicht. Die Personen seines Gerichtshofes sind entzückt

 Was seine Gastgeber am meisten überrascht, ist der Umstand, dass Sancho jeden Betrüger umgehend entlarvt, ohne die Täuschung als solche zu durchschauen. Denn die Fälle, die man um seinetwillen vor Gericht inszeniert, sind allesamt vom Herzog und der Herzogin erfunden.

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von seiner ‚sanften‘ Art des Gubernierens.²³ Sogar der Tafelmeister, der in den Streich des Herzogs und der Herzogin eingeweiht ist, muss eingestehen, dass seine Urteile voll ‚weiser‘ Sprüche sind.²⁴ Die Herzogin selbst verfasst einen Brief an Sanchos Frau, um dieser zu berichten, mit welcher herausragenden „Herzensgüte“ (bondad) und „Geisteskraft“ (ingenio) ihr Mann sein Amt ausübe, und fügt hinzu, dass es recht mühsam sei, einen guten Gubernator auf Erden zu finden (que con dificultad se halla un buen gobernardo en el mundo, 418). Man kann hierin eine versteckte Kritik an der Regierungspraxis Philipps III. erkennen. Tatsächlich erweist sich Sancho während seiner Zeit als Gubernator in vielerlei Hinsicht als der bessere Monarch. Seine Pläne für das Eiland, die er nach Antritt seines Amtes präsentiert, lesen sich wie das Regierungsprogramm eines Herrschers, der bei allen seinen Entscheidungen nach dem Prinzip der Gerechtigkeit handelt und stets das Wohlergehen des Gemeinwesens (república) im Blick hat.²⁵ Der Wahlspruch seiner Regentschaft lautet, ein jeder solle leben und „in Eintracht und Frieden essen, denn die Sonne scheint für alle Leut“ (418) // vivamos todos, y comamos en buena paz compaña, pues cuando Dios amanece, para todos amanece (405). In der historischen Wirklichkeit der Regierungszeit von Philipp III. scheint die Sonne dagegen keineswegs für alle Menschen, sind die Morisken doch  „[U]nd so erkläre ich im Namen aller Eiländer dieses Eilands, dass man Euch mit größter Gewissenhaftigkeit, Liebe und Bereitschaft dienen wird, denn schon zu Anfang habt Ihr eine so sanfte Art des Gubernierens an den Tag gelegt, dass man unmöglich etwas tun oder denken könnte, was Euch zum Nachteil gereicht.“ (419) // „yo ofrezco en nombre de todos los insulanos desta ínsula que han de servir a vuestra merced con toda puntualidad, amor y benevolencia, porque el suave modo de gobernar que en estos principios vuesa merced ha dado no les da lugar de hacer ni de pensar cosa que en deservicio de vuesa merced redunde.“ (405).  „[I]ch kann nur staunen, dass ein so ungebildeter Mann wie Ihr […] so viele derart weise Sprüche und Ratschläge von sich geben kann, himmelweit entfernt von allem, was die, die uns hergeschickt haben, und wir, die wir hergekommen sind, von Eurem Verstand erwartet hatten.“ (419) // „estoy admirado a ver que un hombre tan sin letras como vuesa merced […] diga tales y tantas sentencias y de avisos, tan fuera de todo aquello que del ingenio de vuesa merced esperaban los que nos enviaron y los que aquí venimos.“ (406).  „[I]ch habe vor, das Eiland von allem Unrat zu säubern, von Herumtreibern, Faulenzern und Stromern. Die Müßigen und Faulwänste sind dem Land, was die Drohnen dem Bienenkorb, meine Freunde, sie fressen den Honig, den die Arbeitsbienen sammeln. Den Bauern will ich helfen, den Hidalgos ihre Vorrechte lassen, die Tugendhaften belohnen und vor allem Religion und Würde der Kirchenmänner achten. Wie klingt das Freunde? Klingt das gescheit oder nach Holzkopf?“ (419) // „que es mi intención limpiar esta ínsula de todo género de inmundicia y de gente vagamunda, holgazanes y mal entretenida; porque quiero que sepáis, amigos, que la gente baldía y perezosa es en la república lo mesmo que los zánganos en las colmenas, que se comen la miel que las trabajadoras abejas hacen. Pienso favorecer a los labradores, guardar sus preeminencias a los hidalgos, premiar los virtuosos, y, sobre todo, tener respeto a la religión y a la honra de los religiosos. ¿Qué os parece desto amigos? ¿Digo algo, o quiébrome la cabeza?“ (406).

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gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und dorthin auszuwandern, wo sie freier leben können.²⁶ Inwiefern die narrative Vorgeschichte der Ricote-Episode dazu dient, das königliche Austreibungsedikt zu kritisieren, zeigt sich am Ende der entsprechenden Kapitelsequenz, als Sancho in seiner Eigenschaft als Gubernator mit einem komplizierten Fall konfrontiert wird.Vier Richter haben nach dem Gesetz zu richten, ob ein Mann sterben oder leben soll, nachdem er einen Fluss überquert hat. Dem Gesetz zufolge darf er den Fluss nur überqueren, wenn er die Wahrheit sagt; lügt er aber, so soll er am Galgen aufgehängt werden. Die Aporie besteht darin, dass der Mann vor seiner Flussüberquerung schwört, er werde am Galgen sterben, was Sancho vor ein unlösbares Problem stellt: Spricht der Mann nämlich die Wahrheit und stirbt am Galgen, so müsste er nach dem Gesetz freigesprochen werden und dürfte den Fluss überqueren; hängt man ihn jedoch nicht auf, so hat er die Unwahrheit gesagt und verdient nach eben jenem Gesetz, dass man ihn aufhängt.²⁷ Die Parallelen zwischen dem fiktiven Gerichtsszenario und der historischen Situation der Moriskenvertreibung, die einige Kapitel später in der Ricote-Episode aufgegriffen wird, stechen ins Auge. Die Ausgangslage ist in beiden Fällen eine ähnliche: Im Kern geht es um die Frage, wie man aufrichtiges von unaufrichtigem Verhalten unterscheiden kann. Die Befürworter einer harten Exilpolitik am Hof von König Philipp III. argumentierten, die Morisken seien nur dem Anschein nach zum Christentum konvertiert und würden ihren alten Glauben im Geheimen weiter praktizieren. Ihre vermeintliche Unaufrichtigkeit in Glaubensfragen diente den Agitatoren gegen die Morisken als Vorwand, um ihre Ausweisung zu legitimieren.²⁸ Der Roman greift diesen historischen Umstand auf, wobei der Fluss stellvertretend für die Grenze zwischen den Religionen steht, die mit der Taufe symbolisch überschritten wird. Rechtlich haben die Morisken durch die Taufe ihrem muslimischen Glauben abgeschworen und sich zum Christentum als ihrer neuen Religion bekannt. Die Flussüberquerung symbolisiert diesen Konversionsvorgang, den die

 Sancho nimmt hier – ohne es zu wissen – genau jene Worte vorweg, die sein Freund Ricote bei späterer Gelegenheit sagen wird, was abermals auf die enge Verknüpfung zwischen den beiden Episoden hinweist. Nach seinem Wiedersehen mit Sancho berichtet der Moriske Ricote von seinem Aufenthalt in Augsburg, wo die Leute nicht allzu empfindlich seien, denn „jeder lebt, wie er mag, nach eigenem Gusto und Gewissen“ (470). Der spanische Text ist in diesem Punkt sogar noch präziser, betont er doch eigens die Gewissensfreiheit in religiösen Angelegenheiten: „cada uno vive como quiere, porque en la mayor parte della se vive con libertad de consciencia“ (451).  Vgl. Cervantes 2019, 441 (Kap. 51); Cervantes 2010, 425.  Zur Debatte um die Scheinkonversion der Morisken siehe die Ausführungen bei Root 1988. Vereinzelt wird in Bezug auf jene Gruppe von Muslimen, die nur vordergründig zum Christentum konvertiert waren, in der Forschung auch von „Kryptomuslimen“ gesprochen. Vgl. etwa Bossong 2010, 58.

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Morisken (teils freiwillig, größtenteils aber durch Zwang) mit ihrem Taufschwur vollzogen haben. In der Romanfiktion sieht sich der Gubernator Sancho also mit einem ähnlichen Problem konfrontiert wie König Philipp in der historischen Wirklichkeit seiner Regierungszeit: Beide müssen entscheiden, ob Personen die Unwahrheit gesprochen haben (das heißt nur zum Schein konvertiert sind). Wie aber lässt sich diese Frage klären, da die Beschuldigten doch einen Eid geschworen haben? Für welche Lösung der Monarch votierte, hat die Geschichte eindrücklich gelehrt. Sancho hingegen entscheidet anders, handelt er doch nach dem Grundsatz, den ihm sein Mentor Don Quijote eingebläut hat, nämlich dass man, „wenn es beim Richten Zweifel gebe“, stets der Barmherzigkeit den Vorzug geben solle.²⁹ Daher gelangt Sancho am Ende zu dem Urteil, man möge den Mann ungestraft vorüberziehen lassen, da sich die Gründe für eine Begnadigung und eine Strafe die Waage hielten, „denn es ist immer lobenswerter Gutes als Schlechtes zu tun, das würde ich mit meinem Namen unterschreiben, wenn ich unterschreiben könnte“ (443) // pues siempre es alabado más el hacer bien que mal, y esto lo diera firmado de mi nombre, si supiera firmar (427; Hervorhebungen G.F.) Deutlicher als durch den Gebrauch des pretérito imperfecto de subjuntivo hätte Cervantes seine Kritik an der Entscheidung des Königs kaum hervorheben können. Sanchos Name firmiert auf keinem offiziellen Dokument, doch wenn es so wäre, dann sicherlich nicht auf einem Edikt, das die Vertreibung getaufter Christen anordnet. Ein vorbildlicher Regent, so die zugrunde liegende Botschaft des Textes, hätte sich in der Frage, wie mit den spanischen Morisken umzugehen sei, anders entschieden als der König.³⁰

 „Dabei habe ich diesmal nicht aus eigener Weisheit gesprochen, sondern an eines der vielen Gebote gedacht, die mir mein Herr Don Quijote mit auf den Weg gegeben hat, am Abend, bevor ich hergekommen bin, um dies Eiland zu gubernieren, nämlich wenn es beim Richten Zweifel gebe, solle ich mich immer für Barmherzigkeit und Gnade entscheiden.“ (443) // „y yo en este caso no he hablado de mío, sino quese me vino a la memoria un precepto, entre otros muchos qué me dio mi amo don Quijote la noche antes que viniese a ser gobernador desta ínsula: que fue que cuando la justicia estuviese en duda, me decantase y acogiese a la misericordia; y ha querido Dios que agora se me acordase, por venir en este caso como de molde.“ (427).  Es entbehrt nicht der Ironie, dass Sancho nach getaner Arbeit den Nachmittag mit einer Reihe weiterer Erlasse zum guten Regieren (ordenanzas tocantes al buen gobierno, 432) verbringt, in denen er unter anderem Maßnahmen gegen die steigenden Lebensmittelpreise anordnet, höhere Löhne für Dienstleistungsberufe festlegt, dem grassierenden Betrugswesen im Handel einen Riegel vorschiebt und strenge Qualitätsstandards für Waren einführt. Man kann diese Ordonanzen als ironische Antwort auf die verfehlte Wirtschaftspolitik Philipps III. interpretieren. Der Erzähler jedenfalls schwärmt in höchsten Tönen von den Erlassen, die Sancho als Gubernator erlässt: „Kurzum, er entwarf so treffliche Erlasse, dass man sie in dem Ort bis zum heutigen Tag noch einhält, wo sie den Namen tragen: ‚Die Verordnungen des großen Gubernators Sancho Panza‘.“ (450) // „En resolu-

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5 Der Gegendiskurs der Literatur Die Vorgeschichte der Ricote-Episode lässt die historische Realität der Moriskenvertreibung in einem neuen Licht erscheinen. Durch den Kontrast zwischen der harten Entscheidung König Philipps, die Morisken aus dem Land zu weisen, und der sanften Regierungsweise des ‚großen Gubernators Sancho Panza‘ tritt die Kritik an dem Vertreibungsedikt umso deutlicher hervor. Diese Kritik steht freilich unter dem Vorzeichen der Ironie, damit sie nicht Gefahr läuft, von der Zensur bemerkt zu werden. Man muss den Text deshalb sehr genau lesen, um seine tatsächliche Bedeutung zu erfassen. Dafür gilt es, nicht nur die einleitende Vorgeschichte der Ricote-Episode zu berücksichtigen, sondern auch ihre Fortsetzung einige Kapitel später. Nachdem Sancho und sein Herr wieder zusammen sind, besichtigen sie auf Einladung von Don Antonio in Barcelona eine Galeere. Auf See werden sie von einer Korsarenbrigantine unter Beschuss genommen. Es kommt zu einem Scharmützel, in dessen Folge das Schiff erobert und die feindliche Besatzung festgesetzt wird, darunter auch ein spanischer Renegat, der wieder zurück in die Heimat möchte. Der Kapitän der Brigantine, ein junger Bursche in türkischer Tracht, soll auf Befehl des Generals am Schiffsmast aufgehängt werden. Doch zuvor bittet er darum, seine Geschichte erzählen zu dürfen. Wie sich herausstellt, ist der Kapitän in Wahrheit eine Frau und noch dazu die Tochter des Morisken Ricote, der in Pilgertracht verkleidet ebenfalls an Bord der christlichen Galeere ist und sein Glück, die Tochter Ana Félix so unerwartet wiederzusehen, kaum fassen kann. Diese war in Folge des Edikts von 1609 gemeinsam mit ihrer Mutter nach Nordafrika geflohen, wo es den beiden jedoch kaum besser ergangen ist als in Spanien. Begleitet wurden sie von Don Gregorio, einem jungen Edelmann, der zuvor in Liebe zu Ana Félix entbrannt war und nun in Algier seiner Rettung harrt. Gerührt von der Geschichte, beschließen die anwesenden Würdenträger, der schönen Moriskin und ihrem Vater zu helfen. Der Vizekönig, immerhin der Stellvertreter des Königs in den spanischen Verwaltungsgebieten, löst eigenhändig den Strick um ihren Hals. Don Antonio nimmt Ricote und Ana Félix bei sich zu Hause auf und schlägt vor, an den Hof nach Madrid zu reisen, um mit Geschenken und Gefälligkeiten ihr Bleiberecht zu erwirken.³¹ Derweil segelt ein Schiff unter dem Kommando des geläuterten Renegaten nach Algier, um Don Gregorio aus der Gefangenschaft zu befreien.

ción: él ordenó cosas tan buenas, que hasta hoy se guardan en aquel lugar, y se nombran: Las constituciones del gran gobernador Sancho Panza.“ (433). Hervorhebung G.F.  Ricote lehnt dieses großzügige Angebot ab, da er keinerlei Hoffnung hegt, den Grafen von Salazar mit eindringlichen Bitten und Geschenken zu erweichen. Bernadino de Velasco, Graf von Salazar,

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Auch wenn der Ausgang der Geschichte offenbleibt, so sticht ihr versöhnlicher Charakter doch unmittelbar ins Auge. Hans-Jörg Neuschäfer hat zu Recht auf den ‚literarischen‘ Charakter dieser Wiedererkennungsszene hingewiesen, die durch das Zusammenspiel von wundersamen Ereignissen, schicksalhaften Begegnungen und Zufällen an eine byzantinische Novelle erinnere.³² Die Episode ähnelt außerdem einer novela morisca nach dem Vorbild der Historia de Abencerraje. Gemeinsamkeiten bestehen auch zu der eingestreuten Novelle über das Liebespaar Ozmín und Daraja aus dem Guzman de Alfarache. Sind es dort zwei Muslime, die in Folge der Belagerung der Stadt Granada getrennt werden, später wieder zusammenfinden und dank des Wohlwollens der spanischen Königin heiraten dürfen, so sind es bei Cervantes eine Moriskin (Ana Félix) und ein Altchrist (Don Gregorio), die dank des Rechtsempfindens der spanischen Autoritäten ihre lang ersehnte Verbindung eingehen können. Mit der Historia de los dos enamorados Ozmín y Daraja verbindet die Liebesgeschichte von Ana Félix und Don Gregorio darüber hinaus der Umstand, dass die Figuren fortwährend ihre Identität wechseln. Genau wie Ozmín, der im Verlauf der Novelle mehrfach seinen Namen ändert und in unterschiedliche Rollen schlüpft, tritt auch der Liebhaber von Ana Félix abwechselnd als Don Gregorio, Don Gaspar oder Don Pedro in Erscheinung. Die Rollenwechsel steigern sich bis zur Travestie, wechseln doch die Figuren nicht nur ihre Namen, sondern auch ihre Kleider, Geschlechterrollen und Religionszugehörigkeit. Nachdem Ana Félix und ihre Mutter das Land verlassen haben, mischt sich Don Gregorio unbemerkt unter die Morisken und folgt ihnen ins Exil. Der Majoratserbe eines christlichen Edelmannes beherrscht die arabische Sprache ebenso gut wie Ana Félix das Kastilische. In Algier steckt man Don Gregorio in Frauenkleider, um ihn als Maurin auszugeben. Ana Félix wiederum tritt erstmals in Gestalt eines Türken auf, bevor sie ihre eigentliche Identität preisgibt. Auf die Frage, ob sie Türke, Maure oder Renegat sei, antwortet sie mit einer dreifachen Verneinung. Und auf die erstaunte Nachfrage des Vizekönigs „Was bist du dann?“ (Pues ¿qué eres?) erwidert sie im besten Spanisch, sie sei eine „Christenfrau“ (Mujer cristiana, 526). Nichts ist, wie es scheint. Die Identitäten

wurde von König Philipp III. mit der Ausführung des Vertreibungsedikts beauftragt und ging dabei offenbar mit solcher Strenge vor, dass Ricote im Roman die Bemerkung fallen lässt, der Graf wolle Spanien von den Morisken ‚säubern‘, indem er lieber die Wunde ausbrenne, als eine heilende Salbe aufzutragen. Gleichzeitig wiederholt er sein früheres Lob des Monarchen, benutzt dabei aber nahezu dieselbe Formulierung wie der Erzähler kurz zuvor im Fall des „großen Gubernators Sancho Panza“, was die Ironie seiner Aussage zusätzlich unterstreicht: „¡Heroica resolución del gran Filipo Tercero, y inaudita prudencia en haberla encargado al tal don Bernadino de Velasco!“ (540). Hervorhebung G.F.  Vgl. Neuschäfer 1998, 65.

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lösen sich auf und verschwimmen, bis nicht mehr klar ist, was Türken, Christen und Morisken voneinander unterscheidet. Fragt man nach der Funktion dieses abschließenden Teils im Verhältnis zu den zwei vorangehenden Episoden, so stellt man fest, dass sich die Fortsetzung spiegelbildlich zum ersten Teil verhält. Statt Trauer und Schmerz wie in der Abschiedsszene dominiert nun die Freude über das unerwartete Wiedersehen von Vater und Tochter. Die Ricote-Episode thematisiert das Schicksal der Morisken, die sich verkleiden müssen, um nach Spanien zurückzukehren; die Ana Félix-Episode enthält die Geschichte von Don Gregorio und dem Renegaten, die beide Christen sind, ihre Religionszugehörigkeit aber verbergen müssen, um in Algier nicht aufzufallen. Zeigt der erste Teil, wie es den spanischen Morisken in ihrer Heimat geht, so kehrt der zweite Teil die Perspektive um, indem er die Situation der Christen in der Fremde darstellt.³³ Nimmt man die narrative Vorgeschichte hinzu, die diese beiden Episoden einleitet und gewissermaßen vorbereitet, so lässt sich eine dreiteilige Konstruktion erkennen: Die Barataria-Sequenz beschreibt, wie ein guter Herrscher handeln sollte. Dieser normative Zustand wird in der Ricote-Episode mit der tatsächlichen Entscheidung König Philipps III., die Morisken aus dem Land zu weisen, kontrastiert. Die Ana Félix-Episode wiederum entwirft einen literarischen Gegendiskurs zu der historischen Realität der Moriskenvertreibung. Dieser Gegendiskurs hat die Form einer literarischen Utopie und endet mit der Wiederherstellung eines harmonischen Idealzustands, in dem die Unterscheidung zwischen Altchristen und Neuchristen nicht länger existiert. Aus Sicht von Cervantes, so lässt sich zusammenfassend schließen, war das königliche Ausweisungsedikt von 1609 weder gerecht noch klug. Ethisch-moralische Gründe sprachen ebenso gegen eine Vertreibung wie die Staatsräson. Tatsächlich war die Vertreibung der Morisken – genauso wie diejenige der Juden ein Jahrhundert zuvor – für Spanien nicht nur in menschlicher Hinsicht eine „große moralische Tragödie“³⁴, sondern auch eine wirtschaftliche Katastrophe. Ähnlich wie in Frankreich, wo die Vertreibung der protestantischen Hugenotten nach dem Edikt von Fontainebleau (1685) dazu führte, dass eine gut ausgebildete Bevölkerungsgruppe das Land verließ, ging der spanischen Wirtschaft nach dem Edikt von 1609

 Ana Félix erklärt im Roman, der spanische Renegat sei während seiner Gefangenschaft in Algier ein „cristiano encubierto“ (528–529) gewesen. Wie Odile Lasserre-Dempure erläutert, verwendeten Altchristen in Spanien den Ausdruck „encubierto“ zur Bezeichnung der Morisken, denen sie vorwarfen, heimliche Muslime zu sein. Cervantes greift diesen Diskurs auf und widerlegt ihn, indem er die Relativität der Perspektiven aufzeigt. Vgl. Lasserre-Dempure 2016, Paragraph 27.  María Menocal 2003, 211.

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ein erheblicher Teil ihrer Produktivkraft verloren.³⁵ Im Königreich Granada beispielsweise brach durch die Ausweisung der spanischen Morisken binnen weniger Jahre die Seidenproduktion nahezu vollständig zusammen und konnte auch durch die hinzugezogenen Siedler aus Kastilien nicht wiederhergestellt werden, da diese mit den notwendigen Techniken nicht vertraut waren.³⁶ Nach der Ausweisung von Juden und Muslimen erlebte die spanische Wirtschaft im 17. Jahrhundert einen dramatischen Niedergang – und dies trotz der reichhaltigen Gold- und Silberströme, die aus den westindischen Kolonien nach wie vor ins Land kamen. Cervantes selbst scheint dies geahnt zu haben. So jedenfalls lässt sich der Umstand deuten, dass sein Ricote nicht nur Frau und Tochter außer Landes schaffen möchte, sondern auch seinen wertvollen Schatz. Es mag Zufall sein, dass dieser Schatz ausgerechnet im Zusammenhang mit dem Gold der Kolonien erwähnt wird.³⁷ Man kann darin aber auch eine versteckte Kritik sehen: Denn genauso wie der Goldreichtum der Kolonien nicht im Land blieb, sondern in die übrigen europäischen Monarchien abfloss, verlor auch Spanien mit der Vertreibung der Morisken einen Teil seines kulturellen Reichtums. Nicht zufällig trägt Ricote diesen Reichtum bereits in seinem Namen. Was den Roman heute noch aktuell erscheinen lässt, ist seine überzeitliche Dimension. Denn in der Geschichte des Morisken Ricote und seiner Tochter Ana Félix spiegelt sich nicht nur das Schicksal der spanischen Muslime, die über lange Zeit hinweg wie selbstverständlich zu Europa gehört haben, sondern auch das Los derer, die ihre Zugehörigkeit zur Gemeinschaft aufgrund von Abstammung und Herkunft rechtfertigen müssen. Dabei zeigt doch das Beispiel Spaniens mit seiner islamischen-jüdisch-christlichen Vergangenheit, dass eine Kultur nicht von der Differenz bedroht wird, sondern von dem Bestreben, diese Differenz zu tilgen. Mit

 Genau wie die Juden, die seit jeher eine der am besten ausgebildeten Bevölkerungsgruppen waren, hatten sich die unter christlicher Herrschaft lebenden Muslime (mudéjares) einen ausgezeichneten Ruf als Handwerker gemacht und die getauften Muslime (moriscos) waren unverzichtbare Arbeitskräfte in der Landwirtschaft. Unter den aristokratischen Großgrundbesitzern herrschte daher die Sorge einer Entvölkerung ganzer Landstriche. Francisco Márquez Villanueva erinnert daran, dass die adligen Landbesitzer insbesondere in der Region Valencia, wo die zahlenmäßig größte Population von Morisken lebte, die Vertreibung ihrer Untertanen um jeden Preis verhindern wollten. Vgl. Márquez Villanueva 2011, 293.  Vgl. Edelmayer 2017, 182.  Ricote erwähnt gegenüber Sancho, dass viele Pilger Jahr für Jahr nach Spanien kommen, um dessen Heiligtümer zu besuchen, „die für sie sind, was für uns die westindischen Länder, nämlich ein reicher Erntesegen und eine sichere Quelle des Gewinns“ (470) // „que los tienen por sus Indias, y por certísima granjería y conocida ganancia“ (451). Hervorhebung G.F. Während ihrer Reise machen die Pilger – auf nicht immer ganz legale Art und Weise – reichen Gewinn und schmuggeln diesen in ihren Pilgerkleidern außer Landes.

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Blick auf Europa, dessen Reichtum gleichfalls in seiner Vielfalt liegt, kann dieses Beispiel eine Lehre für die Zukunft sein.

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Zwischen Religion und Naturwissenschaft Bildungswege jüdischer Gelehrter im frühneuzeitlichen Europa

1 Einleitung Bahnbrechende Entdeckungen und Erfindungen der Astronomie, Physik und Medizin leiteten zu Beginn der Neuzeit die Wende zu den modernen Naturwissenschaften ein. Etablierte Denkmuster, die den Erkenntnisgewinn auf göttliche Offenbarungen zurückführten, wurden sukzessive von rationalistischem Denken und empirischer Forschung abgelöst. Ablehnungen und Infragestellungen der neuen Erkenntnisse, die sich besonders in den christlichen beziehungsweise christlich geprägten Institutionen des frühneuzeitlichen Europas zeigten, konnten diese Entwicklung nicht aufhalten. Beobachtungen und Ideen bedeutender Wissenschaftler wie Nikolaus Kopernikus, Tycho Brahe oder Galileo Galilei wurden allmählich akzeptiert und weiterverfolgt. Dieser Beitrag geht der Frage nach, welche Möglichkeiten Juden hatten, an den wissenschaftlichen Entwicklungen dieser Zeit teilzuhaben. Auch sie mussten religiöse Denkmuster ablegen, um sich naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zuwenden zu können. Der Historiker David Ruderman, der sich intensiv mit der jüdischen Teilhabe an naturwissenschaftlichen Entdeckungen in der Frühen Neuzeit befasst hat,¹ kommt zu dem ernüchternden Schluss, dass die Errungenschaften jüdischer Naturwissenschaftler in dieser Zeit unbedeutend gewesen seien.² Diese Feststellung steht im starken Kontrast zum weiteren Verlauf der Wissenschaftsgeschichte, denn seit dem 19. Jahrhundert leisten jüdische Wissenschaftlerinnen³ und Wissenschaftler bis heute einen beachtlichen Beitrag zum naturwissenschaftlichen Fortschritt. Als Indikator für diesen Erfolg wird häufig die Zahl jüdischer Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträger herangezogen: 20 Prozent der Nobelpreise

 Siehe dazu Ruderman 1995.  Vgl. Ruderman 2011, 131.  Frauen erhielten erst im Laufe des 19. Jahrhunderts vereinzelt Zugang zum akademischen Wissenschaftssystem. Daher werden in Bezug auf die Entwicklungen in der Frühen Neuzeit nur männliche Akteure genannt. https://doi.org/10.1515/9783110793062-004

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in den Naturwissenschaften wurden bisher an Jüdinnen und Juden⁴ verliehen.⁵ Das entspricht etwa dem Hundertfachen des proportionalen Anteils der jüdischen Weltbevölkerung. Diese hohe Beteiligung an naturwissenschaftlichen Disziplinen wie Medizin, Chemie, Physik und Mathematik ist daher ein viel diskutiertes Phänomen. Als Erklärungsansatz ist beispielsweise verbreitet, dass das Studium der jüdischen Traditionsliteratur, das bereits mit dem Lesenlernen im Kindesalter beginnt und ein ständiges Hinterfragen von etablierten Lehrmeinungen fördert, eine besonders gute Voraussetzung für eine Beschäftigung mit komplexen intellektuellen Inhalten lege.⁶ Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, warum sich die jüdische Beteiligung am naturwissenschaftlichen Fortschritt in der Frühen Neuzeit noch nicht einstellt. Im Folgenden wird deshalb zunächst erörtert, unter welchen Voraussetzungen Juden die Möglichkeit hatten, sich überhaupt mit profanen Inhalten zu befassen und sich eine naturwissenschaftliche Bildung anzueignen. Dazu werden die Widerstände gegen und Argumente für das Studium profaner Wissenschaften aus jüdischer Sicht beleuchtet. Anschließend wird gezeigt, welche Rolle die europäischen Universitäten für den Erwerb von profaner Bildung für Juden gespielt haben. Anhand von Bildungsbiografien herausragender jüdischer Intellektueller – Amatus Lusitanus, David Gans, Josef Delmedigo und Tobias Kohen – wird deutlich, welche Hindernisse überwunden werden mussten, um profane Bildung zu erlangen, und welche Motivationen dazu führten, dass trotz aller Schwierigkeiten ein Streben nach naturwissenschaftlicher Bildung vorhanden war.

2 Gesellschaft und Bildungswesen Neben revolutionären Entwicklungen in den Wissenschaften kam es in der frühneuzeitlichen Gesellschaft zu einer sozialen Neuordnung, die sich auf das Leben der jüdischen Gemeinden innerhalb der Mehrheitsgesellschaften Europas auswirkte.

 Eine genaue Definition, wer nach dem jüdischen Gesetz als jüdisch gilt, wird bei dieser Zahl nicht berücksichtigt. Diese Zahl inkludiert sämtliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die einen jüdischen Familienhintergrund haben.  Vgl. Solomon 2005, 960.  Siehe hierzu Eckstein und Botticini 2015; Deichmann 2015. Eckstein und Botticini argumentieren in ihrer Studie, dass das Studium der jüdischen Gesetzesliteratur einen Bildungsvorteil für einen urbanen Lebensstil bot und die jüdische Bevölkerung somit besser auf intellektuelle Berufe vorbereitete. Ute Deichmann zeigt, in welchen naturwissenschaftlichen Disziplinen Juden besondere Erfolge erzielen konnten. Außerdem führt sie verschiedene Theorien auf, die diese Erfolge erklären sollen. Vgl. Deichmann 2015, 211–212.

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Für die jüdische Bevölkerung verschlechterten sich überwiegend die Lebensbedingungen. Auf immer repressivere Gesetzeslagen und judenfeindliche Ausschreitungen, die bis hin zu Pogromen reichten, folgte eine Verschiebung der jüdischen Siedlungsstruktur aus dem urbanen in den ländlichen Raum. Die jüdischen Zentren in Westeuropa wurden weitestgehend vernichtet, neue Zentren etablierten sich erst langsam, vorwiegend im östlichen Europa. Einschneidend war 1492 die Vertreibung der gesamten jüdischen Bevölkerung aus dem Territorium der spanischen Könige, sofern sie nicht zum Christentum übertrat. Damit endete die fast achthundertjährige Geschichte der Sefarden⁷ in alAndalus, die unter der Herrschaft der Muslime auf der iberischen Halbinsel eine kulturelle Blütezeit erlebt hatten. Über lange Zeiträume war es Muslimen, Juden und Christen in al-Andalus möglich gewesen, kooperativ zusammenzuleben. Das sefardische Judentum konnte in diesem Umfeld zahlreiche Ärzte, Philosophen und Übersetzer naturphilosophischer Texte des Hellenismus hervorbringen.⁸ Mit der christlichen Eroberung der iberischen Halbinsel endete diese kulturell fruchtbare Epoche. Einige Sefarden konvertierten zum Christentum, andere flohen und gründeten neue Gemeinden in verschiedenen Städten Europas und Nordafrikas. Auch die aschkenasischen Gemeinden,⁹ die im Mittelalter eine reiche Kultur in mitteleuropäischen Städten ausgeprägt hatten, waren zu Beginn der Neuzeit aufgrund von Ausweisungen und Vertreibungen größtenteils aufgelöst. So zeichnet sich diese Zeit aus jüdischer Perspektive durch einen politischen, ökonomischen und kulturellen Niedergang aus.Wie die Geschichte von al-Andalus zeigt, war gerade der Austausch der Kulturen ein Motor für den wissenschaftlichen Fortschritt gewesen. Im christlichen Umfeld wurde die jüdische Bevölkerung jedoch häufig rigoros aus dem Wirtschafts- und Wissenschaftsbetrieb ausgeschlossen. Diese Tendenz zog eine stärkere Isolation der jüdischen Bevölkerung nach sich, sodass sich kulturelle Entwicklungen nun verstärkt nach innen richteten.¹⁰ Für die große Mehrheit der jüdischen Bevölkerung in der Frühen Neuzeit bedeuteten diese Entwicklungen also

 Das sefardische Judentum ist eine kulturelle Hauptströmung des Judentums, die unter muslimischer Herrschaft auf der iberischen Halbinsel entstanden ist. Der Name leitet sich vom hebräischen Wort Sefarad ab, das im Mittelalter die iberische Halbinsel bezeichnet.  Vgl. Kruse und Engelmann 1992, 21; Bossong 2010, 7, 9. Bossong weist auch darauf hin, dass das Zusammenleben zwischen den religiösen Gruppen nicht konfliktfrei ablief. Er betont jedoch, dass die muslimische Herrschaft lange Perioden des kulturellen Austausches ermöglicht habe.  Das aschkenasische Judentum ist eine kulturelle Hauptströmung des Judentums, die im frühen Mittelalter in deutschsprachigem Gebiet unter christlicher Herrschaft ihren Anfang nahm und sich im weiteren Verlauf von West- bis Osteuropa erstreckte. Der Name leitet sich von hebräischen Wort Aschkenas ab, das im Mittelalter das deutschsprachige Gebiet, insbesondere das Rheinland, bezeichnete.  Vgl. Ruderman 1995, 60–61.

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zunächst den vorübergehenden Verlust der Anbindung an Infrastruktur und Institutionen der Städte. Damit wurde auch die Teilnahme am wissenschaftlichen Diskurs maßgeblich erschwert.

2.1 Jüdische Bildungsideale Die kulturelle Isolation der jüdischen Bevölkerung zeigte sich deutlich an der Ausrichtung des jüdischen Bildungssystems. Ein Studium der traditionellen Religionsliteratur gehörte für alle männlichen Juden zur Pflicht.¹¹ Schon im Kindesalter erwarben sie Kenntnisse der hebräischen Sprache, um Gebete und die hebräische Bibel eigenständig lesen zu können. Weiter fortgesetzt wurde die Bildungslaufbahn mit dem Studium der rabbinischen Traditionsliteratur. Um die Religion praktizieren zu können, also um ein nach dem jüdischen Gesetz, der Halacha, korrektes Leben zu führen, war es Voraussetzung, dass jeder jüdische Mann über die grundlegende Bildung verfügte. In der Praxis konnte dieser hohe Bildungsanspruch zwar nicht immer eingehalten werden, denn insbesondere kleine jüdische Gemeinden, die womöglich fern einer großen Stadt in armen Verhältnissen lebten, konnten dieses Bildungsideal oft nicht verwirklichen. Jedoch blieb der Anspruch einer jüdischen Gelehrsamkeit in allen Gesellschaftsschichten bestehen.¹² Die Gelehrsamkeit als ein Grundpfeiler des jüdischen Lebens wurde daher auch nicht als Teil einer Berufsausbildung verstanden.¹³ Das Lernen als religiöses Gebot konnte wegen seiner besonderen Stellung in der jüdischen Kultur sowohl ein Hindernis als auch die Grundlage einer anschließenden weltlichen Bildung darstellen. Unter jüdischer Gelehrsamkeit ist ausschließlich das Studium der Traditionsliteratur – der hebräischen Bibel und der rabbinischen Literatur – zu verstehen. Dahinter steht die Überzeugung, dass die Torah alle Wahrheiten, das allumfassende Wissen der Welt, enthalte. Vor allem im aschkenasischen Kulturraum stand man daher profanen Inhalten, der ḥokhma ḥiẓonit, der äußeren Weisheit, lange sehr kritisch gegenüber.¹⁴ Das Studium dieser aus jüdischer Sicht ‚fremden‘ Wissenschaften wurde häufig als Frevel ausgelegt, weil man es als

 Auch Mädchen erhielten eine grundlegende Bildung, indem sie hebräische Texte lesen lernten, um sich notwendiges Wissen über religiöse Vorschriften aneignen zu können. Der Unterricht war jedoch weniger institutionalisiert. Die meisten Mädchen lernten von ihren Müttern. In der Oberschicht erhielten aber auch Mädchen eine intensivere Ausbildung, sogar in weltlichen Fächern wie Fremdsprachen. Vgl. Litt 2009, 62.  Vgl. Litt 2009, 60–61.  Vgl. Litt 2009, 63.  Vgl. Freudenthal 2016.

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überflüssig oder sogar gefährlich ansah, da es vom rechten Weg der Torah ablenken könne. Dem entgegen steht die Überzeugung, dass jedes Wissen, das durch rationalistisches Denken erschlossen worden sei, sich auch in der Torah wiederfinden lasse. Ein hypothetisch betrachtet perfekter jüdischer Gelehrter, der alles Wissen aus der Torah herauslesen kann, hätte folglich ein Studium fremder Wissenschaften nicht nötig,¹⁵ jedoch könnten sie dabei helfen, die Weisheiten der Torah besser zu verstehen. Im Alltag waren Kenntnisse außerhalb der jüdischen Lehre überlebenswichtig. Verbreitet waren Grundkenntnisse in Mathematik, die man für den Handelsbetrieb benötigte. Die Beschäftigung mit Astronomie wurde häufig akzeptiert, da sie hilfreich war, um die komplizierten Berechnungen des jüdischen Kalenders durchführen zu können.¹⁶ Anknüpfend an diese Disziplinen verbreitete sich die Idee, dass die profanen Wissenschaften auch eine Bereicherung für die jüdische Lehre darstellen konnten. Im aschkenasischen Judentum in Mittel- und Osteuropa dominierte in Gelehrtenkreisen jedoch lange eine reine Beschäftigung mit Torah- und Talmudstudium sowie mit mystischen Inhalten. Hier war man deutlich seltener an Naturforschung außerhalb der jüdischen Lehren beteiligt als in Süd- oder Westeuropa.¹⁷ Im sefardischen Kulturkreis war die Einstellung zu profanen Lehren hingegen viel offener. Ein enger Kontakt mit ihren Umgebungskulturen sowie ihr allgemein höherer sozialer Status führte unter den sefardischen Juden zu einem selbstverständlicheren Umgang mit weltlichem Wissen. Die Einflüsse des sefardischen Kulturkreises machen daher einen wichtigen Anteil der jüdischen Beteiligung an den frühneuzeitlichen Naturwissenschaften aus. Neben den Disziplinen Mathematik und Astronomie, die für den jüdischen Alltag eine wichtige Rolle spielten und deshalb häufig akzeptiert wurden, war insbesondere die Medizin jene Disziplin, welche jüdischen Studenten einen Eintritt in die Naturwissenschaften ermöglichte. Auch hier nahmen sefardische Ärzte eine führende Rolle ein. Sie hatten sich schon im mittelalterlichen al-Andalus einen exzellenten Ruf erarbeitet, behielten diesen auch im christlichen Umfeld und trugen so zur Sonderstellung jüdischer Ärzte bei.¹⁸ Sogar in den Gemeinden, die nach streng orthodoxer Tradition ausschließlich das Studium jüdischer Lehren guthießen, erfreute sich das Medizinstudium eines hohen Ansehens.¹⁹ Damit nahm die Medizin einen Sonderstatus unter den nicht-

 Zu finden ist diese Ansicht beispielsweise bei Jehuda Messer Leon (1420–1498). Vgl. Veltri 2002, 150.  Vgl. Litt 2009, 61.  Vgl. Ruderman 2011, 124.  Vgl. Treue 1998, 391–392.  Vgl. Deichmann 2015, 207; Barzilay 1974, 39.

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jüdischen Wissenschaften ein.Wolfgang Treue, der die Situation der jüdischen Ärzte im frühneuzeitlichen Frankfurt am Main untersucht hat, zeigt, dass sich die Medizin zu einer beruflichen Nische entwickelte, die einigen wenigen gebildeten Juden eine vergleichsweise privilegierte Stellung einbrachte. Während sich Juden anderer Berufsgruppen in den frühneuzeitlichen Städten wirtschaftlich kaum eine Existenz aufbauen konnten, ihnen sogar der Zutritt zu den Städten untersagt wurde, hatten jüdische Ärzte eine Möglichkeit gefunden, die ihnen ein Auskommen ermöglichte. Als Ärzte, die auch christlichen Kranken halfen und bei besonders hoher Qualifizierung auch als Leibärzte der Herrscher angestellt wurden, hatten sie im Vergleich zu ihren Glaubensgenossen besondere Freiheiten und relative soziale Sicherheit. Dennoch war die Situation der jüdischen Ärzte in Europa keine einfache. Ein fachliches Problem bestand darin, dass die jüdischen Ärzte in den Städten des 15. und 16. Jahrhunderts fast alle Praktiker waren, also keine akademische Ausbildung hatten.²⁰ Das galt vor allem für aschkenasische Ärzte. Sie hatten ihren Beruf meist bei ihrem Vater oder Schwiegervater gelernt. Für die christlichen Kollegen begann im 15. Jahrhundert bereits die Akademisierung, ab dem 16. Jahrhundert war für sie das Studium mit Promotion der Normalfall. Auch weil die Dienste studierter Ärzte für die ärmere Bevölkerung unerschwinglich waren, blieben die Praktiker dennoch ein wichtiger Bestandteil des Gesundheitssystems.²¹ Die praktisch ausgebildeten Ärzte – die Wundärzte und die jüdischen Ärzte – wurden jedoch zunehmend von promovierten Ärzten verunglimpft. Die Angriffe trafen überwiegend die jüdischen Ärzte, weil sie als besonders starke Konkurrenz wahrgenommen wurden. Sie wollten sich aber unter keinen Umständen von der studierten Ärzteschaft als Ärzte zweiter Klasse behandeln lassen. Ihr hohes Ansehen gab ihnen das Selbstbewusstsein, sich gegen die Angriffe zu wehren.²² Trotz grundsätzlich fehlender universitärer Ausbildung konnte sich der gute Ruf der jüdischen Ärzteschaft zunächst halten, auch weil sie allen Gesellschaftsschichten ihre Dienste anboten.Wenn sich jedoch die Möglichkeit eines Studiums bot, versuchte man, die Gelegenheit wahrzunehmen, um den eigenen Status zu verbessern und neben den promovierten christlichen Ärzten bestehen zu können.²³ Aufgrund dieser Entwicklungen ließ sich in jüdischen Kreisen mit guten Argumenten ein Studium an einer christlichen Universität rechtfertigen. So konnten innerjüdische Widerstände gegen ein Studium an einer nichtjüdischen Lehrinstitution über den Weg des Medizinstudiums überwunden werden.

   

Vgl. Treue 1998, 376. Vgl. Treue 1998, 375. Vgl. Treue 1998, 375, 377. Vgl. Treue 1998, 376.

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Um für die Aufnahme an einer christlichen Universität gut vorbereitet zu sein, musste schon das innerjüdische Bildungssystem profane Inhalte vermitteln. Dazu waren bereits tiefgreifende Erneuerungen nötig. Immer häufiger wurden jüdische Schulen eingerichtet, die neben den traditionellen, rabbinischen Studien, die auf Hebräisch unterrichtet wurden, auch naturwissenschaftliche Fächer und die lateinische Sprache lehrten. Es gibt Hinweise darauf, dass solche Lehrangebote seit Mitte des 16. Jahrhunderts verfügbar waren.²⁴ Die Privilegiertesten der Oberschicht erhielten diese Bildung durch Privatunterricht. Wollte man also als Jude profane Bildung erwerben, musste man enorme Kosten und Mühen aufwenden.

2.2 Juden an europäischen Universitäten Die weitaus größeren Widerstände erwarteten die jüdischen Studenten allerdings im europäischen Wissenschaftssystem selbst. Juden war zu fast allen europäischen Universitäten der Zugang versperrt. Konfessionelle Konflikte bewirkten eine strikte Trennung sämtlicher religiöser Gruppen, so auch innerhalb des universitären Systems. Da Universitäten in ganz Europa kirchliche Institutionen waren, waren sie meist einer Konfession vorbehalten und für Studenten anderer Konfessionen nicht zugänglich. Schon dadurch waren Juden bereits indirekt vom Studium ausgeschlossen.²⁵ Juden wurde aber auch unmittelbar die Teilhabe am akademischen Leben erschwert, denn nach einem Beschluss des Konzils von Basel (1431–1449) durfte ihnen kein akademischer Grad verliehen werden. Jedoch widersetzte man sich vereinzelt diesem Verbot, sodass bereits im 15. Jahrhundert einige Juden ein Universitätsstudium abschließen konnten. Dies war aber mit vielfach höheren Gebühren für das Studium und für die Verleihung eines Abschlusszertifikats verbunden.²⁶ Obwohl die Universitäten Juden den Zugang grundsätzlich verwehrten, nahm man ihr wissenschaftliches Potential zur Kenntnis. Bezeichnend ist beispielsweise, dass im Jahr 1518 der Rektor der Leipziger Universität, Mosellanus, seinen Studenten in einer Ansprache folgenden Rat gab:

 Vgl. Ruderman 1995, 258.  Vgl. Litt 2009, 79.  Vgl. Friedenwald 1967, 224. In Statuten aus Rom aus dem 17. Jahrhundert findet man die Bestimmung, dass Juden nur mit Zustimmung des Papstes und gegen eine Gebühr, die dem Dreifachen der Summe entsprach, die christliche Studenten zahlen mussten, einen akademischen Grad erlangen konnten.

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In den jüdischen Bibliotheken steckt ein so großer Schatz an medizinischem Wissen, den man unmöglich übergehen kann, auch wenn man sich Werke anderer Sprachen bedient. Ohne Kenntnisse des Hebräischen kann man sich diesen Schatz nicht zu Nutze machen. Ich hätte das selbst nicht geglaubt, aber christliche Gelehrte, die in diesem Fachgebiet spezialisiert waren und Hebräisch konnten, haben mich darauf aufmerksam gemacht und außerdem habe ich festgestellt, daß die großen Persönlichkeiten unserer Zeit sich meist an jüdische Ärzte wandten. Warum soll also unsere so intelligente christliche Jugend nicht einige Jahre auf die hebräische Sprache verwenden, wo sie doch für diesen medizinischen Beruf so unerläßlich ist? Wenn sie sehr daran interessiert sind, können sie sogar in wenigen Monaten genügend studiert und gelernt haben, um diese Schrift zu verstehen.²⁷

Die Aussage macht den Stellenwert jüdischer Medizin auch im christlichen Bereich deutlich, deren Ruf maßgeblich dem Erbe der sefardischen Kultur zu verdanken war. Die wichtigsten medizinischen Schriften lagen damals in hebräischer Übersetzung aus dem Arabischen vor oder waren sogar von sefardischen Ärzten verfasste hebräische Originale. Zu den Inhalten dieser Schriften zählten Erkenntnisse über ansteckende Krankheiten und Vorgehensweisen, um Ansteckungen zu verhindern, sowie Beschreibungen chirurgischer Eingriffe, wie zum Beispiel Kaiserschnitte an lebenden Frauen.²⁸ Trotzdem ließen deutsche Universitäten Juden erst Jahrhunderte später zu einem Studium zu. Die ersten Universitäten Europas, die Juden zum Studium aufnahmen, waren die Universitäten Italiens. Verglichen mit anderen Universitäten dieser Epoche zeichneten sie sich durch größere kulturelle Offenheit aus. Sie standen in der Tradition der ersten Universität des christlichen Europas, der Medizinschule von Salerno, die ihre Blütezeit schon im Mittelalter, vom 10. bis zum 13. Jahrhundert, erlebt hatte. Gemäß ihrer Ursprungslegende sollen vier Gelehrte die Schule gegründet haben: der Jude Elisäus, der Grieche Pontus, der Araber Abdalla und der Lateiner Salernus. Jeder soll in seiner Sprache gelehrt haben. Dieser Gründungsmythos der Universität beruht nicht auf Tatsachen, spiegelt aber die Einstellung der italienischen Universitäten gegenüber kultureller Vielfalt wider. Auch wenn es sich nur um eine Legende handelt, belegt die Geschichte, dass sich die Tradition der italienischen Universitäten auf die kulturellen Einflüsse griechischer, lateinischer, arabischer und hebräischer Forschung gründete.²⁹ Für die akademische Ausbildung jüdischer Studenten in der Frühen Neuzeit war die Universität in Padua mit ihrer angesehenen medizinischen Fakultät der wichtigste Standort. Von 1517 bis 1619 absolvierten hier 80 Juden ein Medizinstudi-

 Zitiert nach: Toellner 1992, 848.  Vgl. Kruse und Engelmann 1992, 35.  Vgl. Toellner 1992, 838; Friedenwald 1967, 223.

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um; von 1619 bis 1721 waren es 149 Juden.³⁰ In der damaligen Zeit waren diese Zahlen beträchtlich. Für die Studenten bot das Studium aber mehr als nur die medizinische Ausbildung. Sie bekamen in Padua die Gelegenheit, säkulare Kultur zu erfahren und Kontakte zu den besten europäischen Wissenschaftlern zu knüpfen.³¹ Das Medizinstudium bot also einen der wichtigsten Anknüpfungspunkte zwischen jüdischer Tradition und modernen Naturwissenschaften. Die Studenten mussten Kenntnisse der lateinischen Sprache erwerben, um an der Lehre teilnehmen zu können. Diese Kenntnisse konnten nur erlangt werden, wenn Literatur außerhalb des jüdischen Bildungskanons studiert wurde.³² Schon durch den Erwerb der lateinischen Sprachkenntnisse kamen Juden so mit Wissen in Kontakt, das über die traditionellen jüdischen Inhalte hinausging und somit ihren Bildungshorizont erweiterte. Aus diesem Grund stieß das Studium an der katholischen Universität Padua bei rabbinischen Autoritäten – insbesondere des aschkenasischen Kulturkreises – auf Ablehnung. Sie stuften das Studium an der christlichen Bildungseinrichtung als sittengefährdend ein.³³ Diese Ängste waren nicht unberechtigt, denn die Universitäten verlangten in der Regel eine Anpassung an christliche Traditionen, was die Gefahr für Juden barg, die jüdischen Werte und Glaubensinhalte verleugnen zu müssen. An der Universität Padua herrschte allerdings ein für diese Zeit erstaunlich weltoffenes Klima. Das lässt sich beispielsweise an Abschlusszeugnissen, die Juden ausgestellt wurden, ablesen.Während Zeugnisse an Christen mit dem Satz ‚In Christi Nomine Amen‘ verliehen wurden, gab es für Juden ausgestellte Zeugnisse, die mit ‚In Nomine Dei aeterni‘ eingeleitet wurden. Auch Jahreszahlen am Ende der Dokumente wurden bei einigen jüdischen Absolventen mit ‚currente anno‘ angegeben, wohingegen die Jahresangaben auf Zeugnissen christlicher Absolventen mit Formulierungen wie ‚Anno a partu Virginis‘ oder ‚Anno a Christi Nativitate‘ eingeleitet wurden.³⁴ Diese offensichtliche Beachtung der religiösen Zugehörigkeit der Studenten ist für diese Zeit bemerkenswert und kann ein Zeichen für die außergewöhnliche Toleranz sein, die an der Universität Padua herrschte. Aufgrund dieser besonderen Verhältnisse in Kombination mit ihrem exzellenten Ruf wurde die Universität Padua zum Zentrum profaner, nichtjüdischer Bildung für die jüdischen Studenten Europas. Die Studenten stammten aus sefardischen und italienischen Familien, nicht wenige kamen auch aus weit entfernten mittel- und osteuropäischen Gemeinden. Eine nicht zu vernachlässigende Zahl der     

Vgl. Friedenwald 1967, 227. Vgl. Ruderman 1995, 104–105. Vgl. Litt 2009, 79. Vgl. Treue 2002, 191. Vgl. Friedenwald 1967, 255.

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jüdischen Studenten in Padua kam aus Polen.³⁵ Das ist bemerkenswert, wenn man die innerjüdischen Widerstände und den enormen Kostenaufwand bedenkt, die diese Studenten bewältigen mussten. Über einen langen Zeitraum blieb Juden kaum eine andere Möglichkeit, wenn sie ein Studium absolvieren wollten, als nach Padua zu ziehen. Erst allmählich öffneten sich weitere europäische Universitäten für jüdische Studenten. Ab dem 17. Jahrhundert studierten die ersten Juden an der Universität in Leiden in den Vereinigten Provinzen der Niederlande.³⁶ Die Universitäten im deutschsprachigen Raum zeichneten sich lange durch eine feindselige Einstellung gegenüber Juden aus. An der medizinischen Fakultät in Wien herrschte die Vorstellung, jüdische Mediziner würden gemäß jüdischer Gesetzesvorschrift jedes zehnte christliche Leben mit Medikamenten zerstören.³⁷ Im Heiligen Römischen Reich war die Universität Frankfurt an der Oder die erste, die Juden zum Studium der Medizin zuließ. Allerdings konnten sie hier zunächst nur studieren, durften aber keinen Abschluss erwerben. Darauf folgten Halle und Marburg, die Juden schließlich im 18. Jahrhundert zu einer vollen akademischen Ausbildung der Medizin zuließen.³⁸ In Halle verlieh man ihnen den Doktortitel, verlangte aber von ihnen das Versprechen, dass sie nicht in Preußen praktizieren werden.³⁹ Bemerkenswert ist, dass die ersten Universitäten, die Juden zum Studium zuließen, fast ausschließlich protestantisch waren. Das kann man einerseits auf aufklärerische Tendenzen zurückführen, andererseits auf pietistische, die das Ziel der Bekehrung der Juden verfolgten.⁴⁰ Auch hier bildet die Universität von Padua, die als katholische Universität sowohl Juden als auch Protestanten ein Studium ermöglichte, einen Sonderfall.⁴¹ In Spanien, Frankreich und England konnten Juden die Universitäten nur dann besuchen, wenn sie zum Christentum konvertierten. In Spanien war unter den Conversos, den unter Zwang zum Christentum konvertierten und im Land verbliebenen sefardischen Juden, die Universität von Salamanca die beliebteste.⁴² Auch in Frankreich stellte man Juden in Aussicht, studieren zu dürfen, wenn sie sich taufen ließen. Einige Juden nahmen mangels Alternative dieses Angebot an.⁴³ An der Universität von Oxford mussten die Mitglieder der Kirche Englands angehören,

        

Vgl. Friedenwald 1967, 227. Vgl. Litt 2009, 79. Vgl. Friedenwald 1967, 235. Vgl. Litt 2009, 79–80. Vgl. Friedenwald 1967, 237. Vgl. Litt 2009, 80. Vgl. Ruderman 1995, 105–106. Vgl. Friedenwald 1967, 233. Vgl. Friedenwald 1967, 232.

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um einen akademischen Grad erhalten zu können. Juden durften zwar studieren, ein Abschlusszertifikat wurde ihnen aber bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht verliehen. Auch lehren durften Juden in England ausschließlich, wenn sie zum Christentum konvertierten. Selbst dann jedoch waren sie häufig auf das Unterrichten der hebräischen Sprache festgelegt. Hebräisch nahm man in England – wie auch in Deutschland – gerne in das Curriculum der Universitäten auf und benötigte dafür fähiges Lehrpersonal.⁴⁴ Juden, die an einer der europäischen Universitäten studieren wollten, hatten also vielerlei Hürden zu überwinden. Sie brachten sich gegenüber Glaubensgenossen in eine unsichere Lage, mussten mit Ablehnung, Anfeindungen oder sogar Verbannung aus der Gemeinde rechnen und hatten darüber hinaus auch noch mit ihrem eigenen Gewissen zu kämpfen. Zudem waren finanzielle Mittel und Kontakte nötig, um überhaupt an den Universitäten aufgenommen zu werden. Insbesondere für Studenten aus den von den Universitäten weit entfernten Gemeinden waren gute Kontakte und Finanzstärke essenziell. So ist es nicht verwunderlich, dass das Studium nur einer ausgesprochen kleinen, privilegierten Schicht möglich war. Nach Vertreibung und Pogromen waren die jüdischen Gemeinden geschwächt und Familien, die ihren Kindern eine umfangreiche Bildung bieten konnten, waren noch rarer als im Mittelalter. Deshalb legt schon die geringe Zahl der Juden, die eine Universität besuchen konnten, nahe, dass der jüdische Anteil am wissenschaftlichen Fortschritt der Frühen Neuzeit sehr gering ausfiel. Die wenigen privilegierten jüdischen Studenten stammten meist aus einer Stadtgemeinde oder stadtnahen Gemeinde.⁴⁵ Nicht nur die finanziellen Möglichkeiten mussten gegeben sein, sondern vor allem gute Kontakte, damit die christlichen Institutionen sich ausnahmsweise jüdischen Studenten öffneten. An den Gegebenheiten des frühneuzeitlichen Bildungssystems ist also deutlich erkennbar, dass die geringe jüdische Beteiligung an den Naturwissenschaften von den strukturellen Möglichkeiten sowie von den wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen abhing. Die generelle Situation der frühneuzeitlichen jüdischen Bildung zeichnet sich durch eine starke Isolation aus. Die Gründe dafür liegen sowohl innerhalb der jüdischen Gesellschaft, die den profanen Wissenschaften skeptisch gegenüberstand, als auch in der Umgebungsgesellschaft, die Juden eine Teilhabe an einer akademischen Ausbildung fast unmöglich machte. Dennoch gab es jüdische Intellektuelle, die enorme Kosten und Mühen aufwanden und Hindernisse überwanden, um sich profanes Wissen anzueignen. Erst eine detaillierte Betrachtung  Vgl. Friedenwald 1967, 235.  Vgl. Richarz 1974, 67–68. Ein Beispiel ist die Hofjudengemeinde der bergischen Residenz Düsseldorf: Sie bestand nur aus etwa 100 Mitgliedern, doch unter ihnen gab es mehr Studenten als unter den 15.000 Juden aus Ober- und Mittelfranken.

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einzelner Persönlichkeiten verschiedener kultureller Hintergründe kann Aufschluss über die Motivationen für einen solchen Bildungsweg geben.

3 Vier exemplarische Bildungsbiografien 3.1 Amatus Lusitanus Aus dem sefardischen Judentum stammte der berühmte Arzt João Rodriguez de Castelo Branco, der unter dem Namen Amatus Lusitanus (1511–1568) bekannt wurde. Seine Familie waren portugiesische Conversos, sefardische Juden, die zum Übertritt zum Christentum gezwungen worden waren.⁴⁶ Dieser Umstand verschaffte ihm die Möglichkeit, früh eine akademische Bildungslaufbahn einzuschlagen. Er ging nach Salamanca mit der Absicht, dort bei den angesehensten Ärzten Spaniens dieser Zeit Medizin zu studieren. Seine Studien fielen allerdings viel umfangreicher aus. Neben der Medizin widmete er sich auch den Disziplinen Mathematik, Metaphysik, griechische Logik, aristotelische Naturphilosophie, Musik und Ethik. Außerdem interessierte er sich für Chirurgie, obwohl dieses Fach kein gutes Ansehen genoss. Zwar wusste er die Ausbildung in Salamanca sehr zu schätzen, kritisierte aber dennoch den Umgang mit der Anatomie, die nur mangelhaft gelehrt wurde, weil das Sezieren als Sünde galt.⁴⁷ Lusitanus wurde zu einem der bekanntesten Ärzte seiner Zeit und verfasste mehrere vielbeachtete medizinische Werke, in denen er seine anatomischen Entdeckungen veröffentlichte. Seine Bibliothek, in der sich auch seine eigenen Manuskripte befunden hatten, wurde auf Befehl von Papst Paul IV. und aufgrund einer Beschuldigung eines christlichen Hofarztes, der die Konkurrenz durch Lusitanus fürchtete, zerstört. Am Ende seines Lebens zog er nach Saloniki, wo er zum Judentum zurückkehrte.⁴⁸ Als Jude orientierte sich Lusitanus an den Vorschriften der Torah, als Arzt folgte er den neuesten medizinischen Erkenntnissen. Die Bemühung um die Vereinbarkeit dieser beiden Welten zeigt sich insbesondere an dem von ihm verfassten Eid, der dem Eid des Hippokrates ähnelt. Der Eid verpflichtete den Arzt in der Verantwortung vor Gott, seine Arbeit für Juden, Christen und Muslime in gleicher Weise zu

 Vgl. Friedenwald 1967, 332.  Vgl. Friedenwald 1967, 227, 334–335. Das Sezieren wurde sowohl in christlichen als auch in jüdischen Kreisen abgelehnt. Jüdische Medizinstudenten verwendeten für ihre anatomischen Studien meist jüdische Leichen, die sie allerdings oftmals gegen vehemente Widerstände der Gemeinden von den jüdischen Friedhöfen holten, da die Totenruhe besonders streng beachtet wurde.  Vgl. Veltri 2002, 151–152.

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leisten. Im 16. Jahrhundert war diese interreligiöse Verpflichtung keine Selbstverständlichkeit.⁴⁹ Seine wissenschaftliche Tätigkeit zeichnete sich durch empirische Methoden aus, mit denen er wichtige Erkenntnisse über den menschlichen Körper gewann. Er entdeckte und beschrieb die Funktion der Venenklappen und erforschte den Aufbau der Gebärmutter, die Funktion der Milchdrüsen und die Veränderung der Milz bei Erkrankungen.⁵⁰ Lusitanus steht beispielhaft für die sefardischen Ärzte seiner Zeit, die im Bereich der Medizin wichtige Beiträge zum wissenschaftlichen Fortschritt leisten konnten. Seine spätere Rückkehr zum Judentum belegt, dass er stets an der jüdischen Tradition festhielt. Somit zeigt sich in seiner Person, dass religiöse und wissenschaftliche Überzeugungen keine Gegensätze darstellen mussten.

3.2 David Gans Dass es im aschkenasischen Raum unüblicher war, eine akademische Ausbildung an einer nichtjüdischen Einrichtung zu erhalten, zeigt das Beispiel des berühmten Gelehrten David Gans (1541–1613). Im mittel- und osteuropäischen Raum waren die Möglichkeiten für Juden, mit profanen Wissenschaften in Kontakt zu kommen, viel schwieriger als in Spanien oder Italien. Rabbinische Gelehrsamkeit und die Kabbalah dominierten hier das intellektuelle Leben der Juden. Doch mit der Verbreitung von Wissen durch den Buchdruck gelangten auch die Ideen sefardischer Wissenschaftler vermehrt nach Osteuropa.⁵¹ Die Intellektuellen dort zogen immer häufiger zu ihren traditionellen Lehren naturwissenschaftliche Erkenntnisse, insbesondere aus der Astronomie, ergänzend hinzu. So gelang es David Gans, der seinen religiösen Bildungsweg in Bonn und Frankfurt am Main begann, sich später in Krakau und Prag auch naturwissenschaftliches Wissen anzueignen. In Krakau studierte er bei Moses Isserles und in Prag bei Jehuda Löw, die beide zu den berühmtesten rabbinischen Gelehrten ihrer Zeit zählten.⁵² Beide zogen naturwissenschaftliche Erkenntnisse zur Auslegung religionsgesetzlicher Texte heran. Isserles stellte seinen Studenten dafür sogar hebräische Texte über Astronomie zur

 Vgl. Veltri 2002, 152.  Vgl. Leibowitz 2007, 35.  Vgl. Ruderman 2011, 124–125, 131. Die Vernetzung jüdischer Subkulturen in Europa in der Frühen Neuzeit konnte durch den Buchdruck beschleunigt und intensiviert werden. Jüdische Gemeinden und Lehrschulen konnten sich zum ersten Mal in größerem Umfang intellektuell austauschen und so ein jüdisches Zusammengehörigkeitsgefühl über unterschiedliche Kulturkreise hinweg entwickeln.  Vgl. Ruderman 2011, 126.

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Verfügung und forderte Gans dazu auf, sich mit Naturwissenschaften zu beschäftigen, weil er einer allumfassenden Bildung eine große Bedeutung für das Verständnis der Torah zuschrieb.⁵³ Rabbi Löw befürwortete die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften, lehnte jedoch jede Kritik an den rabbinischen Lehren ab. Zugrunde liegt dieser Einstellung der Glaube, dass die Torah die Quelle aller Weisheit ist und das Ereignis ihrer Offenbarung am Sinai den Zeitpunkt größtmöglicher Erkenntnis darstellt. Deshalb sei es nicht zulässig, die Lehren der alten Weisen der rabbinischen Tradition aufgrund neuer, empirischer Erkenntnisse anzuzweifeln. Diese Auffassung von Erkenntnis setzt voraus, dass die früheren Einsichten der Wahrheit immer näher waren als die späteren. Damit lehnte Rabbi Löw die empirischen Wissenschaften nicht ab, ordnete sie jedoch dem Studium der Traditionsliteratur unter. In den Fällen, in denen rabbinische Aussagen empirischen Erkenntnissen widersprechen, führte Rabbi Löw dies auf die Unfähigkeit zur tieferen Einsicht zurück.⁵⁴ Anschaulich wird seine Einstellung in folgenden Ausführungen zur Astronomie: Sonnenfinsternisse werden aus vier Gründen verursacht: wegen der mangelhaften Fürbitte für den Toten seitens des Oberhaupts des Sanhedrins; wegen Mangel an Hilfe für eine Verlobte, die um Hilfe inmitten der Stadt bittet, wenn sie im Begriff ist, vergewaltigt zu werden; wegen Homosexualität; wegen der gleichzeitigen Ermordung zweier Brüder. Mond- und Sternenfinsternisse werden auch aus vier Gründen verursacht: wegen derjenigen, die Akten (oder Unterschriften) fälschen; wegen derjenigen, die falsche Zeugen hervortreten lassen; wegen derjenigen, die Kleinvieh im Land Israel züchten; wegen derjenigen, die Bäume in gutem Zustand fällen. Diese Ursachen, die die Rabbinen nach ihrer Kenntnis für Sternenfinsternisse benennen, werden von dem Menschenverstand (ha- ush ha-nigle) widersprochen. Denn es ist bekannt, daß die Sternenfinsternisse von dem Gestirnenlauf abhängig sind, von der Konjunktion und Opposition, von ihrer Entfernung oder Nähe, in ihrer Länge oder Breite.Wie kann man also sagen, daß die Finsternisse von solchen Dingen abhängig sind, da wir den genauen Zeitpunkt aufgrund einer Berechnung kennen? Auf welche Weise wollen die Rabbinen diese Dinge von bestimmten Sünden abhängig machen? Das ist eine die [sic] falsche Fragestellung. Denn es lag nicht in dem Interesse der Rabbinen, die causa proxima (ha-sibba ha-qeruva) festzustellen – denn es ist eine Binsenweisheit, daß die Gestirnenfinsternisse von ihrem Lauf beeinflußt werden –, sondern sie haben die causa causarum angegeben. Hätten wir keine Sünde in der Welt, so hätten wir keine Sternenfinsternis. Denn es besteht kein Zweifel, daß die Sternenfinsternis eine Unvollkommenheit und ein Mangel in dem Universum ist. Gäbe es keine Sünde, würde die Ordnung der Schöpfung nicht zulassen, daß es Finsternisse gäbe, weil sie eine Unvollkommenheit und ein Mangel in dem Universum darstellen, wie jeder erkennt.⁵⁵

 Vgl. Ruderman 2011, 126–127; Veltri 2002, 154.  Vgl. Veltri 2002, 156–157.  Zitiert nach: Veltri 2002, 157–158.

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David Gans war von diesen Ideen beeinflusst. Er lernte aber nicht nur bei Isserles und Rabbi Löw, sondern kam auch mit den führenden Prager Wissenschaftlern Johannes Kepler und Tycho Brahe, die durch genaue Beobachtungen des Himmels die Theorien des heliozentrischen Weltbildes von Kopernikus mit empirischen Methoden überprüften. Diese Begegnungen mit Gelehrten außerhalb der jüdischen Lehrtradition beeinflussten Gans’ intellektuelle Arbeit, sodass er sein eigenes astronomisch-geographisches Werk Nechinad we-Na’im verfasste. Darin verteidigt er allerdings das ptolemäische, geozentrische Weltbild gegen die kopernikanische Theorie. Er argumentiert für eine Überlegenheit der jüdischen Lehren gegenüber den profanen Wissenschaften und folgt damit den Beispielen seiner Lehrer Isserles und Rabbi Löw. Gans war davon überzeugt, dass die alten Israeliten die ersten waren, die Astronomie und Mathematik studiert hatten, ihre Kenntnisse später an die Ägypter weitergegeben hatten, die sie dann wiederum den Griechen überlieferten.⁵⁶ So rechtfertigte er die Beschäftigung mit der hellenistischen Philosophie damit, dass sie ursprünglich aus jüdischer Tradition hervorgegangen sei. Gans ist einer der wenigen jüdischen Gelehrten der Frühen Neuzeit, die ohne eine Beschäftigung mit medizinischen Themen zur Naturwissenschaft gefunden hatten. Obwohl er nie ein Studium an einer Universität absolviert hatte, ermöglichten ihm seine engen Kontakte zu den führenden Wissenschaftlern seiner Zeit die Auseinandersetzung mit profanen Inhalten.

3.3 Josef Delmedigo Ein jüdischer Arzt und Wissenschaftler, der seinen Bildungsweg von der Insel Kreta aus nach Mitteleuropa einschlug, ist Josef Salomon Delmedigo (1591–1655). Seine religiösen Studien absolvierte er unter anderem bei dem berühmten Leone Modena⁵⁷ aus Venedig, einem jüdischen Gelehrten, der sich stark mit profanwissenschaftlichen Ideen auseinandergesetzt hatte. Im Alter von 15 Jahren begann Delmedigo sein Studium der Astronomie, Mathematik, Medizin und Philosophie in Padua.⁵⁸ Aufgrund seiner Studien und seiner kretischen Herkunft beherrschte er die Sprachen Hebräisch, Lateinisch, Griechisch,

 Vgl. Veltri 2002, 154.  Modena bewunderte die Weisheit seines jungen Schülers Delmedigo, wurde aber später zum Kritiker von Delmedigos Positionen zur Kabbalah.Vgl. Barzilay 1974, 42; außerdem das Kapitel „Can a Scholar of the Natural Sciences Take the Kabbalah Seriously?“ in Ruderman 1995, 118–152.  Vgl. Barzilay 1974, 36. Sein junges Alter von 15 Jahren zu Beginn seines Studiums war zu seiner Zeit keine Seltenheit. Wahrscheinlich war er damit nicht der jüngste Student in Padua.

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Spanisch und Italienisch.⁵⁹ Diese umfangreiche Bildung und sein Arztberuf eröffneten ihm die Welt der Naturwissenschaften. In den sieben Studienjahren in Padua beschäftigte er sich gleichermaßen mit jüdischen Lehren als auch mit profanen Studien, denn obwohl in der italienischen jüdischen Gesellschaft im Laufe der Frühen Neuzeit die profanen Wissenschaften einen weitaus höheren Stellenwert einnahmen als in Osteuropa und einen selbstverständlichen Bestandteil der Bildung ausmachten, wurde streng darauf geachtet, dass das Studium der traditionellen Inhalte nicht vernachlässigt wurde, dass die profanen Studien zweitrangig behandelt wurden.⁶⁰ Doch durch das Medizinstudium, das, obwohl es außerjüdisches Wissen vermittelte, ein hohes Ansehen innerhalb der jüdischen Gesellschaft genoss, kam Delmedigo intensiv mit profanen Inhalten in Kontakt. Nur wenige seiner nichtjüdischen Lehrer in Padua machten so großen Eindruck auf ihn, dass er sie in seinen späteren Werken erwähnte. Eine Ausnahme ist Galileo Galilei, bei dem Delmedigo astronomische Studien mit Teleskop durchführte. Er erwähnt diese Erfahrung in seinem Werk Sefer Elim, wobei er die kritische Anmerkung hinzufügt, dass jüdische Eltern eine Gefahr eingingen, wenn sie ihre Kinder zu früh und in der jüdischen Tradition noch nicht ausreichend gefestigt nach Padua schickten, da die rationalistische Denkweise die jüdische Religion untergraben könne.⁶¹ Neben seinen Studien an der Universität sowie bei wichtigen jüdischen Gelehrten, wie zum Beispiel dem angesehenen Arzt Elijah Montalto, eignete sich Delmedigo sein breites Wissen über eine stattliche Sammlung von Büchern an. Er profitierte maßgeblich von der neuen Technik des Buchdrucks, auch wenn er in seinem Werk Sefer Elim zur Einsicht gelangte, dass nur eine Stunde direkter Austausch zwischen Meister und Schüler viele Stunden des Lesens in Büchern ersetzen könne.⁶² Delmedigo führte ein ruheloses Leben, wechselte ständig seinen Aufenthaltsort.⁶³ Er praktizierte kurz in seiner Heimat, auf Kreta, zog aber schon bald durch ganz Europa. Er bereiste den Orient und Osteuropa, wo er auch als Leibarzt eine Anstellung fand. In Hamburg und in Amsterdam hielt er sich auf, bekam aber keine Anstellung als Arzt, weil es dort zu viele sefardische Ärzte gab. 1630 kam er nach Frankfurt am Main, wurde dort als Arzt zugelassen und blieb zwölf Jahre. Um seinen Beruf ausüben zu dürfen, verpflichtete er sich, die Armen kostenlos zu behandeln,

 Vgl. Litt 2009, 76.  Vgl. Barzilay 1974, 39.  Vgl. Barzilay 1974, 43.  Vgl. Barzilay 1974, 45–46.  Er hielt sich u. a. in Kairo, Konstantinopel, Vilna, Hamburg, Amsterdam, Frankfurt am Main und Prag auf.

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von besser Gestellten nur das zu nehmen, was sie geben wollten, und nur mit Reichen ein gutes Honorar auszuhandeln.⁶⁴ Von seinen Zeitgenossen wurde Delmedigo als Arzt und rabbinischer Gelehrter verehrt. Wegen seiner außergewöhnlichen Reputation wurde er sogar von der Universität Padua mit Zustimmung des Senats als Schlichter in einer Auseinandersetzung zwischen Professoren und Studenten in einer philosophischen Streitfrage eingesetzt. Er hatte zwar keine offizielle Professorenstelle an der Universität, lehrte aber Philosophie in Padua sowie in Florenz, Venedig, Perugia und Bassano.⁶⁵ Sein wissenschaftliches und philosophisches Gesamtwerk ist komplex und stieß von vielen Seiten auf Ablehnung: In seinem Werk Sefer Elim behandelte er, inspiriert von seinem einstigen Lehrer Galileo Galilei, die modernsten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden seiner Zeit. Sein zweites Hauptwerk Ta’alumot Ḥokhma ist hingegen eine Verteidigung der jüdischen Mystik, der Kabbalah, und enthält zahlreiche kabbalistische Abhandlungen.⁶⁶ So erscheint er als ein widersprüchlicher Gelehrter und sein Denken als Schwanken zwischen Rationalismus und Mystik.

3.4 Tobias Kohen Tobias Kohen (1653–1729) war einer der ersten jüdischen Studenten an der Universität Frankfurt an der Oder. Sein Vater war 1648 vor den Pogromen des Chmelnyzkyj-Aufstandes aus Polen nach Metz geflohen. Dort wuchs Kohen auf, zog in seiner Jugend für seine religiösen Studien an einer Jeschiwa aber wieder Richtung Osten, nach Krakau.⁶⁷ Im Jahr 1678 wurden er und sein Freund Gabriel Felix Moschides, obwohl es gegen die Statuten der Universität verstieß, zum Medizinstudium in Frankfurt an der Oder zugelassen. Dies geschah auf Drängen des Kurfürsten von Brandenburg. Die Universität äußerte die Sorge, dass die christlichen Studenten durch den Kontakt mit jüdischen Kommilitonen der Gefahr eines Einflusses der jüdischen Religion ausgesetzt seien. Der Kurfürst argumentierte jedoch, dass im Gegenteil den jüdischen Studenten so zur Einsicht verholfen werden könne, das Christentum anzunehmen und sich taufen zu lassen. Daraufhin wurde Kohen an der Universität zugelassen, der Verleih eines akademischen Grades wurde ihm jedoch verwehrt. Um seine Studien abschließen zu können, ging auch er – wie Delmedigo und viele andere jüdische Studenten seiner Zeit – an die Universität    

Vgl. Treue 1998, 383. Vgl. Friedenwald 1967, 225. Vgl. Ruderman 2011, 4. Vgl. Ruderman 1995, 230.

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Padua.⁶⁸ Kohen praktizierte im Osmanischen Reich als Leibarzt verschiedener Sultane und verbrachte die letzten 14 Jahre seines Lebens in Jerusalem, um sich dort dem religiösen Studium hinzugeben.⁶⁹ Sein Denken war also von der kulturellen Vielfalt des europäischen Kontinents geformt worden. Sein wichtigstes Werk ist das auf Hebräisch verfasste Lehrbuch Ma’aseh Tuviyyah. Oberflächlich betrachtet handelt es sich um ein medizinisches Nachschlagewerk, das aktuelle naturwissenschaftliche Erkenntnisse zusammenfasst und sie so aufbereitet wiedergibt, dass die Inhalte sowohl für Ärzte als auch für ein breiteres jüdisches Publikum verständlich waren. Zur Veranschaulichung der Inhalte ist das Werk mit zahlreichen Illustrationen versehen.⁷⁰ Es beinhaltet Ausführungen zu theologischen, astronomischen, geografischen, botanischen und medizinischen Themen.⁷¹ Kohens tiefere Intention, ein solch umfangreiches Werk auf Hebräisch zu verfassen, scheint eine Reaktion auf die Erniedrigungen der jüdischen Kultur und Gelehrsamkeit durch die Mehrheitsgesellschaft gewesen zu sein. Er schreibt, er wolle einen verschiedene Wissenschaftsdisziplinen umfassenden Text verfassen, „to respond to those abusers and to demonstrate to them that they were not the only beneficiaries of these sciences, that even though we are presently living in the darkness of this bitter exile, God is still a light unto us and we still have among us wise and righteous men, mathematicians [scientists].“⁷² Mit diesem Ziel vor Augen schaffte er ein Werk, das einzigartig in der frühneuzeitlichen hebräischen Literatur blieb. Es wurde aufgrund seiner enormen Popularität in zahlreichen Auflagen gedruckt.⁷³ Im Vergleich zum wissenschaftlichen Werk von Gans, das zu seinen Lebzeiten nie und später nur einmal gedruckt wurde, und Delmedigo, das nur zweimal gedruckt wurde, gelang seinem Werk eine enorme Verbreitung.⁷⁴ Bemerkenswert ist auch Kohens unbedingtes Streben nach dem Erwerb profanen Wissens, obwohl er die Gefahren und Mühen des wissenschaftlichen Studiums für Juden als sehr groß einschätzte. In der Einleitung zum medizinischen Kapitel im Maʼaseh Tuviyyah schreibt er: if there were no need for this [that is for such academic credentials] why would a Jewish physician waste his time and his finances to inflict his body with pain and to endanger himself through studying in the universities of the Gentiles, who abuse Jewish students? […] But don’t the unintelligent realize that a person is not called a scholar without knowledge, nor a doctor

      

Vgl. Friedenwald 1967, 236; Kisch 1934, 354. Vgl. Litt 2009, 77. Vgl. Ruderman 1995, 235. Vgl. Litt 2009, 77. Kohen Maʼaseh Tuviyyah, 2a, zitiert nach Ruderman 1995, 236. Vgl. Ruderman 1995, 229. Vgl. Ruderman 1995, 254.

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without a doctorate, nor distinguished or ordained without rabbinical ordination? Moreover, no Jew in all of Italy, Poland, Germany, and France would ever consider studying the science of medicine without first stuffing himself with the written and oral Torah as well as the other sciences⁷⁵.

Kohen versuchte, das traditionelle jüdische Denken mit den neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen in Einklang zu bringen. Beispielsweise beschäftigte er sich in dem astronomischen Teil seines Werks mit den kopernikanischen Thesen, wollte das heliozentrische Weltbild jedoch letztendlich nicht anerkennen, weil es biblischen Darlegungen widersprach. Er bezeichnete Kopernikus sogar als ‚Erstgeborenen des Teufels‘⁷⁶. Kohens Werk gibt in weiten Teilen moderne Erkenntnisse und Methoden der Naturwissenschaften wieder, solange sie nicht wesentlichen Glaubensinhalten des Judentums widersprachen. So zeigt sich in der Person Tobias Kohen besonders deutlich der Zwiespalt zwischen traditioneller Religionslehre und rationalistischer Naturbetrachtung in der frühneuzeitlichen jüdischen Gesellschaft. An ihm wird deutlich, wie schmerzhaft die Ausgrenzungen seitens der Mehrheitsgesellschaft für jüdische Studenten gewesen sind. Daher ist anzunehmen, dass die Ablehnung profaner, nichtjüdischer Inhalte seitens der jüdischen Gesellschaft nicht primär auf einem weltabgewandten Traditionalismus beruhte, sondern vorrangig als Wehrhaftigkeit gegen die Attacken auf die jüdische Identität zu verstehen ist.

4 Schlussbetrachtung Der Beitrag jüdischer Gelehrter an der naturwissenschaftlichen Wende der Frühen Neuzeit wird – insbesondere verglichen mit anderen Epochen – als gering und wenig signifikant eingeschätzt. Die Gründe dafür sind im Bildungssystem, das Juden zu dieser Zeit zur Verfügung stand, zu finden. Die jüdische Gesellschaft stand den profanen Wissenschaften lange skeptisch gegenüber. Eine hohe Bildung wurde in jüdischen Kreisen sehr geschätzt, jedoch bezog sich das fast ausschließlich auf das Studium der Traditionsliteratur. Dennoch legen die hohen Bildungsansprüche nahe, dass das Interesse daran, Prozesse in der Natur zu verstehen und überlieferte Erklärungen zu hinterfragen, unter Juden verbreitet war. So trifft man an den Naturwissenschaften interessierte Gelehrte in verschiedenen Subkulturen der jüdischen Gesellschaft an. Zunächst wurde aber nur das Fach Medizin als nützlich erachtet und war somit der wichtigste Berührungs Kohen Maʼaseh Tuviyyah, 82b, zitiert nach Ruderman 1995, 237–238.  Vgl. Ruderman 1995, 240.

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punkt der jüdischen Studenten mit den modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden. Die Herausforderung für jüdisches Denken war, die Stellung der von Gott offenbarten Torah als identitätsstiftendes Element mit den neuen naturwissenschaftlichen Theorien in Einklang zu bringen. Man findet die Tendenz, die biblische Sicht auf die Dinge zu verteidigen und rationale und empirische Herangehensweisen an Naturphänomene abzulehnen, ebenso in der christlichen Gesellschaft. In der jüdischen Gesellschaft kann man allerdings ein längeres Festhalten an religiösen Vorstellungen beobachten. Das kann damit erklärt werden, dass die jüdische Identität schon durch die ständigen Beschränkungen und Diskriminierungen seitens der Mehrheitsgesellschaft bedroht war. Daher war man nur zögerlich bereit, sich neuen Ideen, die traditionellen Gegebenheiten widersprachen, zu öffnen. Im Allgemeinen kann man aber beobachten, dass sowohl unter Christen wie auch Juden in der Frühen Neuzeit ein Umdenken stattfand und Naturwissenschaften und Religion häufiger getrennt voneinander betrachtet und die Entwicklungen der Wissenschaften als Bereicherung eingeordnet wurden, auch wenn unter Juden die Angst, den Glauben und damit die jüdische Identität zu verraten, länger bestehen blieb. Der wichtigste Faktor für die Beteiligung an den Naturwissenschaften ist jedoch der Zugang zum universitären Bildungssystem. Es ist einleuchtend, dass jüdische Subkulturen, denen der Zugang zu den Universitäten ermöglicht wurde, sich deutlich häufiger mit naturwissenschaftlichen Themen befassten und auch bedeutendere Beiträge leisten konnten. Auffällig ist, dass insbesondere die sefardischen Ärzte einen offeneren Umgang mit profanen Inhalten hatten. Sie scheinen in ihrem jüdischen Selbstverständnis gefestigt, nahmen für ihre medizinische Ausbildung sogar eine Konversion zum Christentum in Kauf, um sie unter günstigeren Umständen wieder rückgängig zu machen. Dass der Zugang zu den Bildungsinstitutionen der wesentliche Faktor für eine Beteiligung am naturwissenschaftlichen Fortschritt ist, wird spätestens ab dem 18. Jahrhundert mit der breiteren Öffnung der Universitäten für Juden ersichtlich. Damit setzt nämlich eine quantitativ und qualitativ überdurchschnittliche Beteiligung jüdischer Studenten in den Naturwissenschaften ein.⁷⁷ Auch Ruderman kommt zu dem Schluss, dass fehlende Unterstützung durch akademische Institutionen Juden daran hinderte, neue Erkenntnisse selbst zu produzieren.⁷⁸ Aus diesem Grund blieben sogar solche Wissenschaftler, die sich intensiv mit Astronomie, Mathematik und anderen Disziplinen beschäftigten, eher Konsumenten oder Kommentatoren, als dass sie diese

 Vgl. Richarz 1974, 43–67.  Vgl. Ruderman 2011, 131.

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Disziplinen produktiv betrieben. Ausgenommen davon ist das Fach Medizin, zu dem insbesondere die sefardischen Ärzte einschlägige Beiträge leisten konnten. Der revolutionären Entdeckungen der Wissenschaften waren schließlich nur durch Austausch verschiedener Denkschulen und Persönlichkeiten untereinander möglich. Für Juden bedeutete das, dass sie ihre auf der Torah aufbauenden Lehrtraditionen durch profane Lehren erweitern und Kontakte mit nichtjüdischen Gelehrten knüpfen mussten. An Orten wie Padua und später auch an anderen europäischen Universitäten nahm diese Begegnungen ihren Anfang und legten den Grundstein für den späteren Verlauf der jüdischen Wissenschaftsgeschichte, die eine eindrucksvolle Erfolgsgeschichte werden sollte.

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Die particulair-gelehrte Historie Europas: Ja, wohin gehören sie denn? Bio-bibliographisches Schreiben im 18. Jahrhundert zwischen res publica litterarum und nationaler Verortung Seit dem späten 17. Jahrhundert sah sich die europäische Wissens- und Wissenschaftsgeschichte zunehmend vor ein Problem gestellt: Der – immer mehr oder weniger stillschweigend eurozentrische – universalistische Anspruch, alles zu beschreiben, was zur Gelehrsamkeit gehörte, ließ sich praktisch kaum mehr einlösen. Das galt besonders für die Geschichten derjenigen, die diese Wissenschaften betrieben hatten: die Gelehrten Europas. Der lothringische Jurist und preußische Hofhistoriograph Charles Ancillon (1659–1715) fasste die dahinterstehenden Schwierigkeiten 1709 wie folgt zusammen: Seitdem sind berühmte Schriftsteller aufgetreten, die in der Ausführung eines einzigen Entwurfs fast alle verschiedenen Visionen, die ihre Vorgänger einzeln hatten, zusammengefasst haben. Aber da ist eins, das diese Vorhaben immer unvollkommen macht, wie groß und ausgezeichnet sie auch sein mögen, nämlich die Unmöglichkeit. […] Auf der einen Seite gibt es unendlich viele vergessene Gelehrte, auf der anderen Seite werden zu jeder Zeit welche geboren, die einer ewigen Erinnerung würdig sind. Das Werk ist also sozusagen unendlich, und das Leben eines oder mehrerer Menschen reicht nicht aus, um es zu vollenden; es ist ein periodisches Werk, das immer wieder neue Ergänzungen braucht.¹

Dementsprechend unterschied er diese Projekte und Ergänzungen in „alle generellen Bibliographien & [alle] die besonderen der Autoren einer bestimmten Nation, eines bestimmten Standes, oder einer bestimmten Fakultät“². Für sein eigenes Werk setzte er sich dann auch lediglich als Ziel, die vom französischen Juristen und Historiker Jacques-Auguste de Thou (1533–1617) erstmals Anfang des 17. Jahrhunderts

 Ancillon 1709, xiii. „Il est venu depuis, des Ecrivains célébres qui ont compris dans l’execution d’un même dessein presque toutes les differentes vûës que ceux qui les ont précédez ont euës séparément. Mais il y a une chose qui rendra toûjours ces projets imparfaits, tout vastes, & tout excellens qu’ils sont; c’est l’impossibilité. […] D’un côté il y a une infinité de Savans oubliez, & de l’autre il en naît à tout moment qui sont dignes d’un éternel souvenir. L’Ouvrage est donc, pour ainsi dire, infini, & la vie d’un homme ni de plusieurs ne suffisent pas pour l’achever; c’est un Ouvrage périodique qui aura toûjours besoin de supplémens.“ Alle Übersetzungen in diesem Text stammen von mir [T.W.].  Ancillon 1709, xiv. „toutes les Bibliothéques générales & particuliéres des Ecrivains d’une certaine Nation, d’un certain ordre, ou d’une certaine faculté“. https://doi.org/10.1515/9783110793062-005

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als Teil seiner Zeitgeschichte³ vorgelegten und seit 1640 als selbstständiges Werk zirkulierenden gelehrten Lebensbeschreibungen⁴ auf Französisch zu komplettieren.⁵ Das Problem war dabei durchaus kein neues. Gelehrtenlexika und biographische Nachschlagewerke waren seit Beginn des Buchdrucks Teil der Buchproduktion gewesen.⁶ Bereits der Humanist und Benediktinerabt Johannes Trithemius (1462– 1516) hatte Ende des 15. Jahrhunderts einen Katalog nur der deutschen Gelehrten vorgelegt, der durch den Heidelberger Humanisten Jacob Wimpfeling (1450–1528) in den Druck gegeben worden war.⁷ Begründet hatte Trithemius seine Arbeit damit, dass „[e]s einige gibt, die in völlig verblendeten Spottgeschichten unser Deutschland als sozusagen unfruchtbar und von schönen Künsten leer verachten“, und dem solle nun abgeholfen werden.⁸ Der universellen Geschichte der gesamten Gelehrsamkeit stand bereits zu Beginn der Frühen Neuzeit die politisch oder ethnisch grundierte Teilbetrachtung der Wissensgeschichte gegenüber: „Diese nämlich haben wir, soweit es uns möglich war, mit entschlossenster Absicht zum Lob unseres Volkes erarbeitet.“⁹ An dieser Stelle möchte ich die Linien aber gar nicht so weit ziehen, sondern mich vor allem auf das 18. Jahrhundert konzentrieren, denn hier trat das durch diesen Dualismus aufgeworfene Problem in verschärfter Form in Erscheinung, parallel zur verstärkten Verwendung des Begriffs der res publica litterarum als Selbstbezeichnung seit dem späten 17. Jahrhundert.¹⁰ Einerseits differenzierten sich die europäischen Wissenskulturen stärker untereinander aus, nicht nur in sprachlicher Hinsicht, und andererseits geriet die Gelehrtengeschichte im Rahmen der Verwissenschaftlichung der Geschichte als Disziplin stärker in den Fokus,¹¹ befördert durch die zunehmende bio-bibliographische Befassung mit der noch lebenden gelehrten Mitwelt. Sie fügte sich damit in die generelle Tendenz zur breiten publizistischen Darstellung der Gelehrtenkultur um 1700 ein,¹² deutet aber zugleich

 Vgl. De Thou 1609–1614.  Vgl. Barksdale/de Thou 1640.  Vgl. Ancillon 1709, xxiv.  Vgl. Schneider 2013a, 202.  Vgl. Trithemius 1495.  Trithemius 1495, Brief Trithemius’ an Wimpfeling, [1]: „Quoniam sunt nonnulli […] qui temporum historias cecutiendo calcantes, germaniam nostram quasi sterilem et bonis artibus vacuam despiciunt“.  Trithemius 1495, [180]: „Hos enim quantum nobis licuit pro laude nationis nostre animo promptissimo laboravimus.“  Vgl. Bots 1971, 26.  Vgl. Badea 2014, 187.  Vgl. Füssel 2016, 21.

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auf den steigenden Konkurrenzdruck unter den Gelehrten hin, der unterschiedliche Formen der Perspektivierung als Möglichkeiten zur Differenzierung sowie zur Inund Exklusion bestimmter Teile der Gelehrtenrepublik hervorbrachte. Selbst das umfangreichste enzyklopädische Projekt des 18. Jahrhunderts, Johann Heinrich Zedlers Grosses Vollständiges Universal-Lexicon,¹³ konstatierte 1735, die „allgemeine Gelehrten-Historie“, die umfassende Zusammenschau der Geschichte der Gelehrsamkeit, sei nicht zu leisten, da sie das Menschenmögliche übersteige. Es bliebe also nur, das zu betreiben, was es als „particulair-gelehrte Historie“ beschrieb: Die Abhandlung einzelner Teilstücke dieser Geschichte.¹⁴ Um die allgemeine Gelehrten-Historie sachgerecht zerlegen zu können, wurde sie dazu bevorzugt in räumlich definierte Einheiten unterteilt: „Zu dieser particulair-gelehrten Historie gehören ferner die Abhandlungen, da von den Gelehrten eines gewissen Landes oder Ortes gehandelt wird“¹⁵. Ganz ähnlich hatte 20 Jahre zuvor bereits der Leipziger Polyhistor Christian Gottlieb Jöcher (1694–1758) geurteilt, als er das vom sächsischen Hofrat, Professor der Geschichte und Zeitschriftenherausgeber Johann Burchard Mencke (1674/75– 1732) angestoßene Compendiöse Gelehrten-Lexicon in den Druck brachte: Weil aber die Gelehrte Historie eine von denen allerweitläuffigsten Wissenschafften in der Welt bleibt: so ist man vielfältig besorgt gewesen, denen Liebhabern derselben ihre Bemühung zu erleichtern. Einigen haben sich nach denen Facultäten, Orden und Lebens-Arten gerichtet, und Verzeichnisse berühmter Gottes-Gelehrten, J[uris]c[onsul]torum, Medicorum, Philosophorum, Scholasticorum, Poeten etc. Gelehrter Fürsten, Kauff-Leute, Weiber, Bauren etc. zusammen getragen. Andere sind nach der Ordnung derer Länder und Nationen gegangen; daher sie von Gelehrten Deutschen, Engelländern, Italiänern, Jüden etc. geschrieben.¹⁶

Oder, um es etwas kürzer, aber analytisch präziser mit dem lutherischen Kirchenund Wissenschaftshistoriker Jacob Friedrich Reimmann (1668–1743) zu formulieren: „Die Historia Literaria Particularis ist eine Historia, darinn das Schicksal einer gewissen Science oder eines gewissen Volcks, sofern dasselbe ad Rempubl. Literariam gehöret, vorgestellet“¹⁷. Damit war zugleich gesagt, dass es Völker gebe, die nicht zur Gelehrtenrepublik gezählt werden könnten, und zwar, „[i]mmassen denn nicht alle Völcker einerley Saporem oder Geschmack, und also auch nicht einerley Sapientiam oder Geschmack von der Weißheit haben.“¹⁸ Einig waren sich die Au-

     

Universal-Lexicon 1732–1754. Anonymus 1735, 726. Anonymus 1735, 726. Mencke und Jöcher 1715, 4. Reimmann 1721, 15. Reimmann 1721, 67.

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toren der historia litteraria aber darin, dass ihr heimatlicher Kontinent selbstverständlich auf diese Zugehörigkeit Anspruch habe, auch wenn der Begriff selten definiert wurde. Das gelehrte Europa blieb ein unscharfer Raum, der an den Rändern ausfranste. Die Kurzgefaßte Curieuse Historie derer Gelehrten des hanauischen Archivars Johann Adam Bernhard (1688–1771) begriff 1718, ebenso wie Jöchers Lexikon, wie selbstverständlich ganz Europa und dessen gesamte Geschichte mit ein. In Abschnitten wie „Von Gelehrten/ die ihr Vatterland berühmt gemacht“ sprang Bernhard von italienischen Juristen Giulio Pacio de Beriga (Julius Pacius, 1550–1635) zu Homer und von Luther zum reformierten Schweizer Theologen und Gräzisten Isaac Casaubon (1559–1614), und ganz ähnlich breit gestreut stellte sich die Auswahl im Pendant „Von Gelehrten/ welche in ihrem Vatterland nicht unterkommen können“ dar.¹⁹ Bernhards topisch organisiertes Werk zeigt an solchen Stellen allerdings bereits die Ambivalenz auf, die in der Verschränkung von Wissensgeschichte und ‚national‘ definierten Referenzrahmen beschlossen war. War einerseits die res publica litterarum, die übernational gedachte, gesamteuropäische Gelehrtenrepublik, der naheliegendste Bezugspunkt, traten daneben immer auch die realweltlichen Orte und politischen Gebilde, die mit den einzelnen Lebensläufen verknüpft waren. Die wichtigste sich anschließende organisatorische und diskursive Frage war, welcher dieser Kategorien die Präzedenz gebührte. Im die Kurzgefaßte Curieuse Historie abschließenden „unmaßgebliche[n] Vorschlag/ wie die Historia Literaria curiosa mit Nutzen zu treiben, und in eine bessere Verfassung zu bringen seye“²⁰, schrieb Johann Adam Bernhard denn auch: „Die Benennung des gegenwärtigen seculi schicket sich nicht allein auf unser Teutschland, sondern auch auf Franckreich, Italien, Engelland, Holland und andere Reiche mehr. Ein jedes derselben ist bishero besorget gewesen, die Literatur besser zu excoliren.“²¹ Gleich danach schloss er allerdings an, dass für seinen Vorschlag diese erweiterte Perspektive nicht gelte: „Ich will mich anitzo um auswärtige Reiche nicht bekümmern, sondern allein bey unserm Teutschland bleiben, und die merita derer Teutschen, nur so in weit, als es diese Sache leyden will, kürtzlich berühren.“²² Diese räumliche Teilung provozierte allerdings die Einbettung in ein lokal- oder nationalpatriotisches Narrativ, das darauf angewiesen war, die Gelehrsamkeit nicht nur räumlich zu lokalisieren, sondern auch lokal oder national zu identifizieren. Johann Adam Bernhard wies deutlich darauf hin, dass die daraus resultierenden  Bernhard 1718, 576–578 und 721–724. Die hier getroffenen geographischen Zuschreibungen sind allerdings diskutabel.  Bernhard 1718, 851.  Bernhard 1718, 859.  Bernhard 1718, 859.

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Deutungskonflikte der Grund sei, der ihn bewogen habe, seine Gelehrtengeschichte auf als deutsch empfundene Personen auszurichten: Es haben also einige Ubelgesinnten unter denen Frantzosen nicht Ursach gehabt, die Teutschen zu verachten und als schmierer [sic] auszuschreyen, welche nur gewohnt wären, alte und schon bekandte Dinge auf neu Papier drucken zu lassen. Diesen Malevolis ist aber zum Theil von ihren eigenen Leuthen, am meisten aber von denen Teutschen selbst das Maul gestopffet worden.²³

Das lag, Bernhard zufolge, allerdings auch mit an der Praktik gelehrten Arbeitens, die er selbst mobilisieren wollte, um diesem Missstand abzuhelfen. Die Gelehrtengeschichte sei Teil des Problems, vor allem, wenn sie in einer Art und Weise betrieben werde, die dem Gegenstand nicht gerecht werde: Und bishero haben fremde Nationen denen Teutschen höchst Unrecht gethan, wenn sie ihnen ihr erhaltenes Lob in denen studiis disputirlich machen, ja gar rauben wollen. Ich weiß aber nicht, ob sie inskünfftige und auch schon jetzo, nicht mehrere Uhrsach und Gelegenheit finden solten, den Teutschen Nahmen mit besserem Recht zu verkleinern. Es scheinet als ob sie schon würcklich die Teutschen heimlich auslachten, weilen sie durch derselben viele Bemühungen in re Literaria curiosa, welches bey vielen nur auf ein Geschmier hinauslaufft, sich bisher noch nicht wollen aufftreiben lassen, in dergleichen Materien ihre Federn einzutuncken.²⁴

Dieser von Bernhard als Defizit angesprochenen Facette der Gelehrtengeschichte, die sich vor allem auf die Zusammenstellung und Mitteilung von Curiosa gründete – mochten diese gut belegt sein oder nicht – und dabei, wie Jöcher es ausgedrückt hatte, „von berühmten Männern, so einerley Vornahmen geführt, böse Weiber gehabt, mords, misantrop etc. gewest,“²⁵ geschrieben hatte, galt es also Bernards Ansicht nach zu wehren, wenn es gelingen sollte, den Anspruch der Wissenschaftsgeschichte, ein ernstzunehmendes Fach zu sein, zu verwirklichen. Auch Reimmann forderte in ganz ähnlicher Weise eine Professionalisierung und Institutionalisierung des Fachs ganz in der Logik der allmählichen Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Disziplinen, sonst sei von ihm wenig zu erwarten: „Es wird bleiben wie es daher gewesen ist. Und wir werden von diesem studio entweder gar nichts oder nichts rechtes, nichts zulängliches, nichts hinreichendes wissen.“²⁶ Um dem zu entgehen, bot die Teilung in die universale Geschichte der Gelehrsamkeit, die vor allem auf der abstrakten Ebene von Disziplinen, Theoremen und Institu-

   

Bernhard 1718, 860. Bernhard 1718, 861–862. Mencke und Jöcher 1715, 4. Reimmann 1721, [A6 v].

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tionen angesiedelt sein sollte,²⁷ und die partikuläre Gelehrtengeschichte, die einen stärkeren Fokus auf die handelnden Personen und damit den bio-bibliographischen Aspekt legte,²⁸ ein beliebtes Mittel. Jöchers Werke wurden dabei als Referenzpunkte dafür angesehen, wie man es handwerklich richtig machen könne.²⁹ Mit der Akteurfokussierung der gelehrten Partikulargeschichte traten allerdings gleich mehrere anhängige Probleme auf den Plan. Zunächst war mit der Aufnahme in eine Sammlung, die mit dem Anspruch eines Referenzwerks auftrat, immer eine Würdigung der zur Aufnahme ausgewählten Personen verbunden,³⁰ die es kritisch zu reflektieren galt. Der lutherische Theologe und Polyhistor Christoph August Heumann (1681–1764) hatte in seinem das ganze 18. Jahrhundert hindurch stets neu aufgelegten Conspectus reipublicae literariae 1718 bereits eingangs apodiktisch festgestellt: Große Männer benennen heißt sie zu loben. Was aber die Götter der kleineren Geschlechter betrifft, so steht es mir nicht zu, gleichsam aus der Mittelmäßigkeit Große zu machen, wenn ich sie auch priese als Gelehrtere denn Aristoteles, Berühmtere als Plato, Scharfsichtigere als Argus, ja schließlich als Vortrefflichere denn die Vortrefflichkeit selbst.³¹

Mit dem Rühmenden, das der Erwähnung innewohnte, war die Frage verbunden, ob es jenseits der konkreten Einzelpersonen noch Instanzen gab, die sich damit schmücken konnten. Das wiederum verknüpfte sich mit dem Organisationsprinzip, das für die jeweilige Partikulargeschichte gewählt wurde. Berichtete sie von Gelehrten einer Disziplin, einer Institution, eines Zeitraums, eines Ortes oder denen eines räumlich-politisch gedachten Teilbereichs der europäischen Wissensgeschichte – also Bereichen, die mit der Herausbildung nationaler Denkmuster zunehmend eben als einzelne Nationen gedacht wurden? Der katholische süd-niederländische Privatgelehrte Isaac Bullart (1599–1672) und sein Sohn Jacques-Ignace Bullart (um 1700) hatten sich Ende des 17. Jahrhunderts ausdrücklich gegen eine solche national bedingte Einflussnahme auf Vater Bullarts postum herausgegebene Sammelbiographie zur Gelehrtengeschichte verwehrt: „Da ich die Gelehrten von ganz Europa lobe, habe ich keine größere Vorliebe für eine Nation als für eine andere: Ich gebe den Preis dem Verdienst, auf den ich

 Vgl. Eyring und Heumann 1791, 52–53.  Vgl. Eyring und Heumann 1797, 6.  Vgl. Götten 1735, [A5].  Vgl. Cole 2008, 122.  Heumann 1718, [6v]–[6r]. „Nominare magnos viros est eos laudare. Ad minorum autem gentium deos quod attinet, eos mea quidem mediocritas magnos facere non valet, licet vocarem Aristotele eruditiores, Platone celebriores, Argo oculatiores, excellentia denique ipsa excellentiores.“

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stoße“³². Das war durchaus keine Ausnahme; auch Charles Ancillon hatte als Bezugspunkt für sein Werk allein auf die Res Publica Litterarum abgehoben. Die Fokussierung auf die „historia literaria universalis“³³, die zumindest theoretisch den gesamten Gegenstandsbereich der Gelehrsamkeit zu überblicken in Angriff nahm, war im Gegensatz zur Partikulargeschichte nicht begründungsbedürftig. Das galt sowohl für kleinere und heutzutage wenig bekannte Werke wie Friedrich Caspar Hagens (1681–1741) Memoriae Philosophorum, Oratorum, Poetarum, Historicorum et Philologorum, nostrae aetatis clarissimorum,³⁴ aber auch für bekanntere und erfolgreichere wie Peter Dahlmanns (um 1700) Schauplatz der masquirten und demasquirten Gelehrten. ³⁵ Vor allem galt dies für die größer dimensionierten Sammlungen wie Jöchers Gelehrten-Lexicon oder die Memoires pour servir a l’histoire des hommes illustres dans la Republique des lettres des französischen Geistlichen Jean-Pierre Niceron (1685–1738), die gar keine paratextuelle Rahmung des Inhaltes vorzunehmen brauchten.³⁶ Auch das Jeztlebende gelehrte Europa des lutherischen Theologen Gabriel Wilhelm Götten (1708–1781) und seine das halbe 18. Jahrhundert überspannenden Nachfolgetitel betrieben die Gelehrtengeschichte in gesamteuropäischer Betrachtungsweise.³⁷ Jacob Friedrich Reimmann stellte 1721 in seinem Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam eine der wenigen expliziten Listen auf, was denn nun alles in diesen weiten Begriff falle, also „ad Rempubl[icam] Literariam gehör[te]“: Portugal, Spanien, Frankreich, England (was die ganzen britischen Inseln einbezog), die Niederlande, Italien, die Schweiz, Deutschland, Dänemark, Schweden, Polen, Ungarn, Griechenland und „Moscau“, also Russland: „Das wäre nun eine Handleitung zum Erkänntniß derer Scriptorum Europaeorum“³⁸. Das untermauerte seiner Ansicht nach allerdings vor allem seine bereits eingangs aufgestellte These: „Wer hat denn dergleichen Historie unter denen Gelehrten beschrieben? Noch Niemand.“³⁹ Denen, die das ernsthaft bezweifeln wollten, riet Reimmann, die Probe aufs Exempel zu machen: Und kann derjenige, der uns hierinn seinen Beyfall zu geben in Bedencken (b) ziehet, nur etwa erstlich an einer Historia Literaria particulari z. E. Aegyptiaca, Sinica, Graeca, Peruviana, u. d.

 Bullart und Bullart 1682, [4]. „Comme je loüe les Sçavans de toute l’Europe, je n’ay point d’attechement à une Nation plus qu’à l’autre: je donne le prix au merite où je le rencontre“.  Heumann 1718, 3.  Hagen 1710.  Vgl. Dahlmann 1710, [10]–[12].  Niceron 1727–1741.  Vgl. Götten 1735–1740; vgl. Strodtmann 1748, [1]–[6]; vgl. Strodtmann und Stosch 1752, [1]–[4].  Reimmann 1721, 300–388.  Reimmann 1721, 4.

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g. sein Heyl versuchen; So wird er die Ursachen in eigener Erfahrung vor Augen haben, warum bis dato noch Niemand unter den Gelehrten an die Historiam Literariam universalem Hand anzulegen sich erkühnet hat.⁴⁰

Die Hinderungsgründe wurden dabei nicht nur in abstrakten Darlegungen der prinzipiellen Undurchführbarkeit des Vorhabens gesucht, sondern durchaus auch in konkreten Lebensumständen, die eine vorurteilsfreie Ausführung verhinderten. Der reformierte Theologe und Chronist Friedrich Lucae (1644–1708) wurde seitens seines Sohns Carl Lucae (1677–1712) als jemand charakterisiert, der zwar den weiten Blick auf Europa als Fokus seines Europäische[n] Helicon[s] anlegte, aber wegen seines räumlichen Standorts innerhalb des Buchs eine deutliche Schwerpunktsetzung vornehmen musste, sozusagen aus einer gelehrten ‚Froschperspektive‘ heraus: jedanuoch wird ausser Zweiffel auff deß Lesers Verstand und unpassionirtem Urtheil viel beruhen/ bevorab wann er in reiffliche Erwegung ziehet/ daß der seel. Herr Autor deß Lyncei Fern-Gläser entrathe/ und mit seinen Augen unmöglich auß hiesigem Hessen-Land auff alle Hohe Schulen reichen/ und derselben tägliche Veränderungen wahrnehmen mögen⁴¹.

Lucae gab keine Definition des Europabegriffs, den er anlegte, an, arbeitete aber ähnliche Einheiten ab wie Reimmann. Er unterteilte sein gelehrtes Europa in Italien, Spanien, Frankreich, Britannien (England, Schottland, Irland), Schweden, Dänemark (mit Island), Polen, Preußen, Ungarn/Siebenbürgen, Burgund (FrancheComté, Lothringen, spanische Niederlande), die Schweiz, die (nördlichen) Niederlande und Deutschland. Extensiv beleuchtet wurden davon allerdings nur Deutschland, innerhalb Deutschlands vor allem Mitteldeutschland, und die Niederlande. In diese als national begriffenen Ordnungskategorien galt es also, die aufzuführenden Sachverhalte und Personen einzuordnen. Vor dem Hintergrund biographischer und akademischer Mobilität war das weder einfach noch unproblematisch: Es warf unweigerlich die Frage auf, wo Gelehrte aufgrund welcher Kriterien zugeordnet werden sollten. Was war ausschlaggebend? Der Geburtsort? Der familiäre, sprachliche oder konfessionelle Hintergrund? Die jeweilige Selbstidentifikation? Der oder die Orte, an dem oder denen sie geforscht, gearbeitet, gelehrt hatten oder gestorben waren? Für Gabriel Wilhelm Götten galt in seiner Sammelbiographie der Gelehrten seiner Zeit die „Geographische Ordnung“, was bei ihm tatsächlich rein örtlich gemeint war: „Daß ist, ich bemerckte nicht nur die Gelehrten nach ihren verschiedenen Ländern, sondern auch nach den Oertern und Städten in diesen Ländern,

 Reimmann 1721, 5.  Lucae und Lucae 1711, [3].

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darinn sie sich ietzo aufhalten, nicht aber nach denen, darinn sie gebohren sind.“⁴² Götten ging auch wirklich nach diesem Muster vor. In der Beschreibung Mathurin Veyssière de la Crozes (1661–1739), zu diesem Zeitpunkt preußischer Hofbibliothekar in Berlin, führte er zwar dessen französische Herkunft auf, nahm aber keinerlei nationale Verortung vor, lediglich eine konfessionelle – was für den zur reformierten Kirche konvertierten Ex-Mauriner de la Croze durchaus zutreffend war.⁴³ Das hieß aber nicht, dass Götten keine Verwendung für den Nationenbegriff hatte; im Gegenteil, er nutzte ihn nicht nur, sondern lieferte auch gleich eine Rechtfertigung für die eurozentrische Perspektive seines Werks: In jedem Theile werde ich nach der Hübnerschen Eintheilung der Länder die Gelehrten eines ganzen Volkes, z. E. die Franzosen, Engländer etc. zusammen fassen. Doch werden meine Deutschen Herren Landes-Leute, als die, so mir die nächsten, den Inhalt des ersten Theils ausmachen. Je eher dieser zu Stande kommt, desto eher werden auch die übrigen folgen. In einem Anhange des ganzen Werks werden einige ausser Europa lebende Gelehrte vorkommen. In einigen Ländern sind eben nicht gar viele Gelehrte, die können also in einen Theil zusammen genommen werden.⁴⁴

Der im ersten Teil aufgeführte de la Croze zählte für Gabriel Wilhelm Götten also unter dessen „Deutschen Herren Landes-Leute“ ungeachtet seiner französischen Herkunft. Eine solch inklusive Verortung war durchaus nicht jedermanns Sache. Beim Mauriner Jean Liron (1665–1749) klang das in der Widmung des ersten (und einzigen je erschienenen) Bandes seiner Bibliothéque generale des auteurs de France an den Justizminister, den Marquis d’Argenson (Marc René de Voyer de Paulmy, 1652–1721), wenige Jahre zuvor ganz anders: Unser Frankreich, mein Herr, hat neben vielen anderen Vorzügen, die es zur mächtigsten und blühendsten Monarchie des Universums machen, noch den Vorteil, dass es seine übrigen Nachbarkönigreiche in der Zahl und dem Verdienst der Gelehrten, die es hervorgebracht hat, übertrifft.⁴⁵

Da „nichts glorreicher für einen Staat ist, als große Männer hervorzubringen“⁴⁶, habe er sich nach anfänglichen Bedenken an die Arbeit gemacht, diesen Ruhm für Frankreich zu beanspruchen, indem er die Gelehrten aufschriebe, die es hervor Götten 1735, [9].  Vgl. Götten 1735, 313–317.  Götten 1735, 15.  Liron 1719, [1]–[2]. „Nôtre France, Monseigneur, parmi tant d’autres prérogatives qui la rendant la pluis puissante & la plus florissante Monarchie de l’Univers, a encore cét avantage de surpasser les autres Roiaumes ses voisins, par le nombre & le mérite des Savans qu’elle a produits.“  Liron 1719, [2]. „n’est rien de plus glorieux à un Etat, que de produire de Grands Hommes.“

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gebracht habe: „Doch nach vielfachen Verzögerungen haben die Liebe zum Vaterland und der Ruhm der Nation alle diese Schwierigkeiten verschwinden lassen und eine gewisse skrupulöse Scheu, die man zuvor hatte, endlich zerstreut.“⁴⁷ In einem bemerkenswerten Wechsel der Register schwenkte Liron an anderer paratextueller Stelle, nämlich der „Preface générale“, wieder auf die intellektuell satisfaktionsfähigere Begründung für die national sortierte Auswahl seines Werks um. Sinnvoll sei diese/sie, „weil sich heute die Autoren und die Bücher so enorm vermehrt haben, dass es ohne den Kurs, um den es hier geht, fast nicht möglich ist, sie alle zu kennen.“⁴⁸ Daher habe er Frankreich nach Provinzen aufgeteilt, denen er jeweils einen Band widmen wolle, um „die großen Männer, die sie der République des Lettres geschenkt haben,“ angemessen zu würdigen.⁴⁹ Ganz ähnlich wie Liron ging auch der Verfasser der umfangreichsten Partikularbibliographie des 18. Jahrhunderts argumentativ vor. Der Leuvener Theologe, Hebräist und Historiker Jean-Noël Paquot (1722–1803) veröffentlichte in den 1760er Jahren seine Mémoires pour servir à l’histoire litteraire des dix-sept provinces des Pays-Bas in 18 Bänden.⁵⁰ Paquot zog die Traditionslinie seiner Arbeit an der „Histoire Littèraire des Provinces Belgiques“ bis ins 16. Jahrhundert; im Vergleich mit Johannes Trithemius und Melchior Adam (†1622) berief er sich vor allem auf den reformierten Theologen Gerhard Geldenhauer (1482–1542)⁵¹ und den katholischen Theologen Cornelis Loos (1546–1595)⁵² als Begründer der niederländischen Gelehrtengeschichte.⁵³ Trotz vieler Vorarbeiten sei aber, so klagte Paquot, immer noch keine Zusammenschau „sur nôtre Histoire Littèraire“ vorhanden, und außerdem seien die vorhandenen Arbeiten alle fehlerhaft.⁵⁴ Paquot war sich der Größe der Aufgabe und der Menge des vorhandenen Materials sehr wohl bewusst und wie Liron zog er daraus den Schluss, dass eine Provinzialisierung des Fokus notwendig sei. Allerdings wollte er den so gewonnenen Raum dafür nutzen, explizit auch den vergessenen und mittelmäßigen Ge-

 Liron 1719, [2]–[3]. „Cependant aprés plusieurs delais, l’amour de la Patrie & la gloire de la Nation ont fait disparoître toutes leces difficultez, & dissipent enfin une certaine timidité scrupuleuse qu’on avoit euë auparavant.“  Liron 1719., i. „parce qu’aujourd’hui les Auteurs & les livres se sont multipliez si prodigieusement, qu’il n’est presque pas possible de les connoître tous, sans le scours dont il s’agit ici.“  Liron 1719, iv-v. „Les Provinces seront ravies d’avoir séparément en un même volume les grands Hommes qu’elles ont donnés à la République des Lettres“.  Paquot 1763–1770.  Vgl. Geldenhauer 1533.  Vg. Loos 1581.  Vgl. Paquot 1763, I–II.  Paquot 1763, VI–VII; XI.

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lehrten der Niederlande Aufmerksamkeit zu schenken.⁵⁵ Das entsprach keineswegs der üblichen Vorgehensweise. Ganz im Gegenteil, es ging zumeist darum, in einer Art postumer Bestenauslese nur diejenigen aufzunehmen, die dessen ganz besonders würdig wären. Wie der französische Prosopograph Louis Mayeul Chaudon (1737–1817) wenig später festhielt, wäre es „nutzlos, unser Wörterbuch mit den vergessenen Namen schlechter Autoren aufzublähen. Wir werden unter den Schriftstellern diejenigen auswählen, die der Gelehrsamkeit und ihrem Jahrhundert die größte Ehre erwiesen haben.“⁵⁶ Auch der Philologe Gottlieb Christoph Harless (1738–1815) bestand 1767 auf der Notwendigkeit der Auswahl/des Auswahlprinzips.⁵⁷ Der Lexikograph Friedrich Karl Gottlob Hirsching (1762–1800), der Ende des 18. Jahrhunderts ein ebenso monumentales Werk in Angriff nahm wie Paquot, hielt gleichfalls an der Notwendigkeit strikter Selektion fest: Man fordere aber nicht von mir, daß ich alle und jede nur einigermaßen verdiente Männer hätte aufnehmen sollen; sondern man erwarte hier nur eine Auswahl der edelsten, und blos durch eigene Kraft und Thätigkeit grosser Männer dieses Jahrhunderts. Zu wie vielen Bänden würde nicht dieses Werk anschwellen, wenn ich nicht mit sparsamer Auswahl dabey zu Werke gieng.⁵⁸

Neben dieses rein quantitative Element, wie es bereits zu Anfang des Jahrhunderts von Charles Ancillon angeführt worden war, trat aber auch noch eine soziale Komponente. Das war vor allem der Fall, wenn es die Interessen selbst noch lebender Gelehrter oder ihrer Nachkommen betraf. Gabriel Wilhelm Götten sah die Notwendigkeit, die damit einhergehenden Befindlichkeiten zu thematisieren, weil er sich dadurch mehr Einsendungen für seine Lieferungen erhoffte: Man siehet nun die Proben, wie ich mit dem umgehe, was mir zugeschicket wird. Grosse Gelehrte dürfen sich nicht mehr befürchten, daß ich ohne Unterscheid einen jeden ihnen an die Seite stellen werde. Ich werde jederzeit solche Gelehrte wählen, an deren Beschreibung vielen Lesern gelegen ist.⁵⁹

Solche Befürchtungen waren durchaus nicht aus der Luft gegriffen: Göttens Vorbild Jöcher hatte in seinem Lexikon mit der strikten Befolgung der alphabetischen An-

 Vgl. Paquot 1763, XVI–XVII.  Chaudon et al. 1772, ix. „Il seroit inutile d’enfler notre Dictionaire des noms oubliés des mauvais Auteurs. Parmi les Ecrivains, nous choisirons ceux qui ont fait le plus d’honneur aux Lettres, & à leur siécle.“  Vgl. Harless 1767, [1]–[6].  Hirsching 1794, vi.  Götten 1735, [22].

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ordnung genau das getan und unterschiedslos antike und moderne, ‚große‘ und ‚kleine‘ Gelehrte nebeneinandergestellt.⁶⁰ Die Gelehrtenrepublik war aber nicht nur ein von der Gelehrtengeschichte zu beforschender Raum, sondern auch ein soziales System, das hierarchisch strukturiert war und innerhalb dessen Präzedenz und Konkurrenz neben anderen Konfliktpotentialen eine gewichtige Rolle spielten. Diese soziale Struktur spiegelte sich in der Struktur der Beschreibungen dieses Systems wider.⁶¹ Wer neben wem im Gelehrtenlexikon zu stehen kam, war immer auch eine Statusfrage. Ebenso waren die Aufnahme in den Kreis der zu Erwähnenden und die einordnende Beschreibung ein Vorgang, durch den sich die Urteilenden den elitären Status derer zuschrieben, die über die Ruhmwürdigkeit anderer entscheiden konnten,⁶² und damit ein Teil der Produktion der Kanonisierung von Wissen und Wissensträger:innen.⁶³ Götten bemühte sich daher, dem Publikum öffentlichkeitswirksam seine Neutralität darzulegen: „Ich will sagen, niemand meyne, daß ich andere Gelehrten mit denen er etwa um den Vorzug eifert auch nach seiner Art angesehen und mit ihm verglichen habe.“⁶⁴ Auch solche wissenschaftsexternen Kriterien flossen in die Auswahl der zu Beschreibenden – und damit zu Rühmenden – ein. Götten gab bereitwilliger als andere diese weichen Faktoren auch in den Druck, was aber nicht dazu führen sollte, zu schließen, sie hätten für andere Auswählende keine Rolle gespielt. Paquot hingegen priorisierte die Vollständigkeit, was ihn dazu führte, einige mittlerweile etablierte Konventionen bio-bibliographischer Nachschlagewerke zu ignorieren, beispielsweise die alphabetische Anordnung, die er durch eine chronologische ersetzte. Denn: Es scheint mir jedoch, dass der Nutzen nur dann spürbar ist, wenn man sich an die berühmten Schriftsteller aller Zeiten und Nationen hält, und dass dieser Vorteil nicht in der Bibliothek – selbst wenn sie vollständig ist – einer bestimmten Nation zu finden ist, die manchmal mehrere Jahrhunderte benötigt hat, bevor sie einen jener Gelehrten hervorbrachte, die für ihre Zeitgenossen den Ton angeben. Unsere Niederlande hatten vor dem 16. Jahrhundert weder einen halbwegs bekannten Rechtsgelehrten noch Arzt.⁶⁵

 Vgl. Schneider 2013a, 198.  Vgl. Shapin 1995, 302.  Vgl. Papenheim 1992, 200.  Vgl. Bourdieu 1998, 60.  Götten 1735, [30].  Paquot 1763, XXXII–XXXIII. „Il me semble toutefois que l’utilité n’en est bien sensible, que lorsqu’on s’attache aux Ecrivains célèbres de tous les tems & de toutes les nations: & que cet avantage ne se trouveroit pas dans la Bibliothèque, même complette, d’une nation particulière, qui aura quelquefois attendu plusieurs siècles avant de produire aucun de ces savans, qui donnent le ton à leurs contemporains. Nos Pay-Bas n’ont eu ni Jurisconsulte, ni Médecin un peu célèbre avant le XVI. siècle.“

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Paquots ausführliche, programmatisch und methodisch sehr reflektierte Vorrede hob dabei nicht auf den Ruhm der Nation ab, deren Gelehrte er versammeln wollte. Da er sich auf die 17 Provinzen der Niederlande bezog und damit auf eine territoriale Einheit, die nicht nur erst unter Kaiser Karl V. geschaffen worden war, sondern zu Paquots Zeiten schon längst nicht mehr bestand, und da er gleichermaßen die nördlichen wie südlichen Niederlande betrachtete, unabhängig von der Konfession und politischen Zugehörigkeit, wäre ihm das praktisch auch nicht leichtgefallen. Es begründete sich allerdings theoretisch aus seiner Herangehensweise. In einem weiteren engagierten Plädoyer für den Einschluss auch der Unbekannten und Mittelmäßigen in sein Werk argumentierte Paquot, schließlich seien auch Landkarten, die nur die bedeutendsten Städte eines Landes zeigten, viel weniger nützlich als die, in denen auch noch der kleinste Weiler eingezeichnet sei.⁶⁶ Es ging ihm also vor allem darum, keine statistische Verzerrung aufkommen zu lassen, sondern nach Möglichkeit das gesamte Panorama der niederländischen Gelehrtengeschichte darzubieten, so dass die Leserschaft selbst darüber urteilen könne. Und das sei nur möglich, wenn sie umfassend informiert sei: Man kennt eine Provinz nicht, wenn man nur ihre großen Villen und ihre schönen Bauwerke gesehen hat; und man darf sich nicht schmeicheln, mit der République des Lettres bestens vertraut zu sein, wenn man nichts kennt als ihre Helden. Die Kenntnis der Details entwürdigt den Gelehrten nicht mehr als den Politiker oder den General. Nichts zu wollen als das Große, das heißt klein sein.⁶⁷

In Lirons Modell war die nationale Provinzialisierung der Gelehrtenrepublik dagegen nicht nur eine abstrakte Hilfskonstruktion, um die Komplexität der universalen Wissensgeschichte angemessen reduzieren zu können, sondern entsprach einer gefühlten Realität der Verhältnisse. In ähnlicher Weise argumentierte der Oxforder Orientalist Thomas Smith (1638–1710) in seinen Lebensbeschreibungen einiger höchstgelehrter und berühmter Männer, die 1707 in London erschienen: Es gelte, auf britischer Seite endlich dem nachzueifern, was de Thou für Frankreich, Paolo Giovio (1483–1552) für Italien und Melchior Adam für Deutschland geleistet hätten.⁶⁸ Smith schloss dabei eng an seinen Oxforder Kollegen Anthony Wood (1632– 1695) an, der seine Sammelbiographie der Oxforder Gelehrten 1691 auch schon mit der Notwendigkeit, international aufzuschließen, begründet hatte:

 Vgl. Paquot 1763, XXXIX.  Paquot 1763, XL. „On ne connoit pas une Province, pour en avoir vû les grandes villes, & les beaux édifices: & l’on ne doit pas se flatter d’étre fort habitue dans la République des Lettres, quand on n’en connoit que les héros. La science des détails n’avilit non plus le Savant, que l’homme d’Etat, ou le Génèral d’armée. Ne vouloir que du grand, c’est étre petit.“  Vgl. Smith 1707, iii.

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In other Countries, particularly in France, Italy, and the Northern Nations, now above fifty years, the most famous Writers have employ’d their care in the account of Authors and Books, and have thought it more necessary to number and marshal than to increase the Forces of the Commonwealth of Learning. In England in the mean time an Account of Learning was more defective even than our Civil History⁶⁹.

Wood war dabei bemüht, diese Angleichung an das, was er als internationalen Standard in der Wissensgeschichte beschrieb, nicht lediglich als Beitrag zum Forschungsstand einzuordnen, sondern im Gegenteil im Hinblick auf den Ruhm Englands zu perspektivieren. Es sei schließlich bekannt, dass er als Autor ausschließlich „according to his abilities, endeavour’d to promote the honour and glory of that Nation where he had been born; and more especially of that University wherein he was educated.“⁷⁰ Solche Übertragungen konnten zu seltsamen Beurteilungen führen. Nur wenige Jahre früher hatte der umtriebige Polyhistor Christian Franz Paullini (1643–1711) die Neuauflage seines hoch- und wohl-gelahrte[n] teutsche[n] Frauen-Zimmer[s] in der Vorrede dem geneigten Publikum empfohlen in der festen Hoffnung lebende/ du werdest es ja nicht verschmähen/ sondern vielmehr daraus sehen/ wie unser geliebtes Teutschland weder den hochtrabenden Spaniern/ noch den Ehrgeitzigen Welschen/ oder aufgeblasenen Frantzosen/ dißfals im geringsten nachzugeben habe/ sintemahl hierin solche Pierinnen gezeigt werden/ die viele Ausländerinnen in den Winckel jagen.⁷¹

Hing die Größe des nationalen Ruhms zumindest teilweise daran, wie viele namhafte Gelehrte (auch, wie in Paullinis Fall, weibliche) das jeweilige Land hervorgebracht hatte, dann konnte das in Versuchung führen, diejenigen anderer Nationen abzuwerten und auf dem Papier einen internationalen Wettbewerb zu konstruieren. Da solche Narrative nur für einen jeweils recht spezifischen Teil der europäischen Gelehrtenschaft attraktiv waren, trugen sie ihren Teil zur Ausbildung „partikuläre[r] Adressatenkreise“ im Zuge der fortschreitenden Nationalisierung und Binnendifferenzierung der Gelehrtenrepublik bei.⁷² Reimmann etwa hielt dafür, dass sich die Wissensgeschichte relativ leicht periodisieren ließe, denn ihm schien klar:

   

Wood 1691, [2]. Wood 1691, [1]. Paullini 1705, [1]. Vgl. Dascal 2011, 147.

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Daß in den sechstehalb tausend Jahren, da die Welt gestanden, nicht mehr als sechs hundert gewesen seyn, da die menschlichen Wissenschafften recht excoliret worden, α) 200. Jahr bey denen Griechen, β) 200. Jahr bei denen Römern, γ) 200. Jahr bey denen Teutschen.⁷³

Das Stichwort ‚Europa‘ fehlte konsequenterweise in Reimmanns Index. Die diskursive Konstruktion eines solchen Wettbewerbs um den Lorbeerkranz innerhalb der Gelehrsamkeit musste aber nicht notwendigerweise mit derartigen Überlegenheitsgesten einhergehen. Der Jenaer Politikprofessor Gottlieb Stolle (1673–1744) urteilte in seiner Kurtze[n] Anleitung zur Historie der Gelahrtheit in seiner Kritik am französischen Dichter und académien Charles Perrault (1628–1703) zwar auf der Basis national konstruierter Kategorien und dadurch inflektierter Vorurteile, aber deutlich abgewogener: Daß er von denen Teutschen und anderen Völckern meinet: sie hätten in ihrer Sprache noch nicht viel gethan, und seine Frantzosen allein über alles erhebet, ist ein Fehler, der ihm von dem Hochmuth seiner Nation anhengt. Wir Teutschen wissen: Daß Leute, die unsre Sprache nicht verstehen, auch von denen darinn geschriebnen Büchern nicht raisoniren können. Es ist genug, daß einige Frantzosen zugestanden, daß, ob ihre Nation schon an beaux Esprits eine grössre Anzahl aufweisen könne, die Teutschen dennoch mehr judicieuse Scribenten haben.⁷⁴

Getroffen hatte Stolle auf jeden Fall den Punkt, dass Perrault seine Gelehrtengeschichte in besonders stark national perspektivierter Weise schrieb.⁷⁵ Nichtsdestotrotz war auch Gottlieb Stolle in spiegelgleicher Herangehensweise der Meinung, „[u]m die Historiam & Notitiam rei literariae haben sich die Teutschen zuerst verdient gemacht/ wie sie denn auch noch keiner Nation in diesem Studio was nachgeben.“⁷⁶ Dabei begann er seine Ahnenreihe nicht wie andere mit Johannes Trithemius, sondern mit Conrad Gesner (1516–1565), Christophe de Molin (Mylaeus, †1570) und Bartholomäus Keckermann (1571/73–1608/09).⁷⁷ Der wahrscheinlich aus Estavayer-le-Lac am Schweizer Lac de Neuchâtel stammende de Molin⁷⁸ war in diesem Kontext durchaus eine interessante Wahl. Aus dem französischsprachigen Teil der Schweiz stammend, hatte der Philologe Mylaeus unter anderem in Lyon, Istanbul und Italien gelebt und gelehrt und, wie zeitüblich, lateinisch veröffentlicht. Welches unter den verschiedenen Kriterien, mittels derer er unter eine der infrage kommenden Nationen subsumiert hätte werden können, für Gottlieb Stolle

     

Reimmann 1721, 140. Stolle 1718, 21. Vgl. Papenheim 1992, 126. Stolle 1718, 29–30. Vgl. Stolle 1718, 30. Vgl. Foerster 2009.

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ausschlaggebend war, um ihn unter die „Teutschen“ zu zählen, machte dieser nicht explizit. Allerdings war das einzige, das sich halbwegs plausibel in Anschlag bringen ließ, die bloße Zugehörigkeit seines Geburtsgebiets zum Heiligen Römischen Reich – was üblicherweise nicht genügte, um eine nationale Verortung zu treffen. Stolles Umgang mit dem wenig bekannten de Molin⁷⁹ ist damit zwar ein weitreichendes, aber kein außergewöhnliches Beispiel für derartige Zuordnungen. Wenig überraschend wählten die Historiker:innen und Lexikograph:innen gern diejenigen Kriterien aus, die ihnen gerade am besten zupasskamen, was zu deutlich unterschiedlichen Verortungen, Beschreibungen und Einordnungen derselben Person und ihrer Erkenntnisse führen konnte. Solche divergierenden Inanspruchnahmen produzierten und reproduzierten innereuropäische Spannungen in der Wissenschaftsgeschichte bis in die großen, nationalstaatlich organisierten Sammelbio-bibliographien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts hinein. Der diskursiv konstruierte Wettstreit um den Ruhm, der von den gelehrten Leistungen auf die jeweiligen Nationen abstrahlen sollte, projizierte national konnotierte Friktionen und Vorurteile in die Wissenschaftsgeschichte hinein. Diesen Spannungen entgegen stand während des 18. Jahrhunderts aber immer noch der überwölbende Gedanke, dass diese ‚particulair-gelehrten‘ Historien nur Bestandteile einer großen Erzählung über die europäische Geistesgeschichte sein und sich daher auch mehr oder weniger harmonisch zusammenfügen lassen sollten. Wie Friedrich Karl Hirsching – als durchaus emphatischer Aufklärer in dieser Hinsicht dem allgemeinen Typus der enzyklopädisch Schreibenden nicht unbedingt entsprechend⁸⁰ – es zu Ende des 18. Jahrhunderts ausdrückte: Man müßte sehr klein denken, wenn man nur für die Verehrung seiner wohlthätigen Landsleute ein Gefühl hätte; man müßte vor jedem fremdem Verdienste Herz und Sinn verschlossen haben; man müßte nicht wissen, daß die Aufklärung, deren sich eine Nation rühmen kann, aus einer mehr oder weniger fremden Lichtmasse besteht.⁸¹

Der Versuch, die eine übergreifende Gesamtdarstellung zu liefern, wurde daher auch nicht aufgegeben, sondern immer wieder unternommen und führte dabei zu zunehmend umfangreicheren Sammelwerken. Auch Hirschings Äußerung fiel im Kontext einer Sammlung, die nur die wichtigsten Gelehrten des 18. Jahrhunderts versammeln sollte und die schlussendlich auf 17 Bände anwuchs, deren Fertigstel-

 Vgl. Jöcher 1751, 788.  Vgl. Schneider 2013b, 218–219.  Hirsching 1794, iii–iv.

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lung Hirsching selbst schon nicht mehr erlebte. Die Größe des Projekts erlaubte es ihm, seinen gesamteuropäischen Standpunkt auch praktisch mit Inhalt zu füllen. Bei aller emphatisch betonten Überparteilichkeit lieferten derartige Projekte dennoch immer eine durch Bearbeiter- und Herausgeberschaft kuratierte Auswahl, deren Kriterien oft genug implizit durch partikuläre Tendenzen geformt wurden. Einzelne Stimmen wie die Paquots, die innerhalb eines explizit partikulären Rahmens auf Vollständigkeit abzielten und kein Interesse an einer Verknüpfung ihrer Befunde mit nationalen Perspektiven hatten, waren zwar möglich, blieben aber die Ausnahme. Die allmähliche Provinzialisierung der république des lettres im Verlauf des 18. Jahrhunderts durch die Ausdifferenzierung stärker national kodierter Referenzsysteme – ein Prozess, der als Niedergang gedeutet werden kann,⁸² was mir aber fraglich scheint – spiegelte sich auch in ihren biographischen Werken.

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 Vgl. Levine 2011, 140–142.

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Europa ist kein Paradies Eobald Tozes skeptischer Blick auf die Verwirklichung einer europäischen Einigung in der Aufklärung

1 Europa zwischen Krieg und Frieden Am 24. Februar 2022 zeigte sich auf besonders tragische Weise, dass Europa auch im 21. Jahrhundert kein Kontinent des Friedens ist. An diesem Tag begann mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ein Krieg, der vielen Menschen längst unvorstellbar erschien. Rund zehn Jahre nach der Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union, mit dem 2012 die Transformation „from a continent of war to a continent of peace“¹ gewürdigt worden war, erlebten die Europäerinnen und Europäer schlagartig, dass der Friede im „gemeinsamen europäischen Haus“² – um eine Formulierung Michail Gorbatschows aufzugreifen, die er als sowjetischer Parteigeneralsekretär in seiner Rede Für ein gesamt-europäisches Haus am 10. April 1987 in Prag verwendet hatte – keineswegs dauerhaft und selbstverständlich ist. Gleichsam über Nacht veränderte das russische Handeln die politische Ordnung in Europa und auf der ganzen Welt. Allein die europäischen Staaten sahen sich durch den völkerrechtswidrigen Überfall herausgefordert, neu über den Umgang mit Moskau sowie die Sicherheit und Entwicklung in Europa nachzudenken. In einer Sondersitzung des Deutschen Bundestags sprach Bundeskanzler Olaf Scholz drei Tage nach Kriegsausbruch von einer „Zeitenwende“³, die sich vollziehe. Der russische Staatspräsident Wladimir Putin „zertrümmere die europäische Sicherheitsordnung, wie sie seit der Schlussakte von Helsinki fast ein halbes Jahrhundert Bestand hatte“, und drohe mit seiner Machtpolitik „die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts“. Die düsteren Stunden der beiden letzten Jahrhunderte scheinen in den frühen 2020er Jahren plötzlich nicht mehr fern und völlig vergangen, sicher geglaubte Erfolge wirken wieder fragiler und weniger endgültig. Die alte Hoffnung auf einen beständigen Frieden, die besonders nach dem

 Nobelpreiskomitee 2012.  Zitiert nach Kreis 2012, 577. Vgl. auch zur Rezeption sowie zum Gebrauch dieser Metapher in Russland seit den frühen 1950er Jahren Kreis 2012, 578–583.  Scholz 2022, 1350. Die beiden nachfolgenden Zitate an gleicher Stelle. https://doi.org/10.1515/9783110793062-006

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„Höllensturz“⁴ des Zweiten Weltkrieges zu einer neuen politischen Zusammenarbeit in Europa geführt hatte und aus der Schritt für Schritt die 28 beziehungsweise seit dem Austritt Großbritanniens 27 Länder umfassende Europäische Union erwuchs, bleibt nicht nur bestehen, sondern hat eine neue Bedeutung erhalten. Wieder einmal steht die gesamte europäische Staatenwelt vor der Herausforderung, die Zukunft des Kontinents unter den veränderten Vorzeichen eines eingetretenen Krieges mit seinen Leid und Tod, Entzweiung und Zerstörung bringenden Folgen zu gestalten. Wenn wir auf die Epoche der Aufklärung blicken, also auf das späte 17. Jahrhundert und vor allen Dingen das 18. Jahrhundert, treffen wir auf eine Zeit, in der Kriege noch weit alltäglicher waren. Es gab kaum ein Jahr, in dem die europäischen Staaten nicht an einem Ort miteinander kämpften.⁵ Der Westfälische Friede von 1648, der den Dreißigjährigen Krieg beendete und von beteiligten Zeitgenossen wie etwa dem venezianischen Diplomaten Alvise Contarini als einmaliges Ereignis in der Weltgeschichte wahrgenommen wurde,⁶ war kein ‚ewiger Friede‘. Er brachte zwar dem stark verwüsteten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation den erhofften Frieden und veränderte die europäische Staatenwelt, indem er durch die Aufwertung der souveränen Einzelstaaten zu gleichrangigen Vertragspartnern das politische Modell der Universalmonarchie vorerst verabschiedete und damit dem komplexen Prozess der frühneuzeitlichen Staatsbildung – einem der treibenden Faktoren des Dreißigjährigen Krieges – Rechnung trug.⁷ Doch dem Friedensvertrag fehlte zum einen die angestrebte universale Dimension. Bei den Verhandlungen konnten nicht alle Konflikte beigelegt werden. Insbesondere der Krieg zwischen Frankreich und Spanien ging noch bis zum Pyrenäenfrieden von 1659 weiter.⁸ Zum anderen schuf er keine gemeinsam institutionalisierten Einrichtungen, die die unterschiedlichen Staaten in ein verbindlich-wirksames Reglement der einzelnen Interessen und Entwicklungen einbetteten. Angesichts der noch unvollkommenen Staatenbildung wurde dadurch „die 1648 anhebende Epoche anerkannter Mehrstaatlichkeit in Europa gerade auch zu einem Zeitalter des frühstaatlichen Bellizismus.“⁹

 Kershaw 2016.  Vgl. die tabellarische Übersicht zur Zahl der Kriege in Europa zwischen 1480 und 1940 bei Wright 1942, 626.  Vgl. Kampmann 2013, 178.  Vgl. Schilling 1998, insbesondere 24–27; zum Dreißigjährigen Krieg als Staatenbildungskrieg vgl. grundlegend Burkhardt 1992 sowie zuletzt Burkhardt 2018.  Vgl. Tischer 2007; Malettke 2012, 276–289.  Burkhardt 2018, 257.

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Betrachten wir nur eine Auswahl der Kriege bis zum Ende des 18. Jahrhunderts – und unabhängig von den einzelnen Motiven, denn allein jenes der Staatsbildung ist nicht durchweg dominant und bedürfte einer näheren, hier jedoch nicht weiter relevanten Diskussion –, treffen wir auf eine Vielzahl, in die entweder zwei Parteien involviert waren – wie zum Beispiel die englisch-niederländischen Kriege ab den frühen 1650er Jahren –, oder die direkt einen Großteil des Kontinents betrafen. Hierzu gehören die Kriege, die vom französischen König Ludwig XIV. ausgingen und auch als zweiter Dreißigjähriger Krieg (1667–1697) zusammengefasst werden,¹⁰ jene mit dem Osmanischen Reich seit dem zweiten Versuch der Eroberung Wiens (1683– 1699), der Nordische Krieg (1700–1721), mit dem unter anderem der Niedergang Schwedens und der Aufstieg Russlands unter Zar Peter verbunden waren, sowie der ebenfalls zu Beginn des 18. Jahrhunderts geführte Spanische Erbfolgekrieg (1701– 1713), in dem Österreich und Frankreich mit gleichen Ansprüchen um das spanische Reich des kinderlos verstorbenen Königs Karl II. rangen. Solche Erbfolgekriege durchzogen nachfolgend in unterschiedlicher Dimension das ganze Jahrhundert. Hinzu kamen Konfrontationen zwischen europäischen Staaten, die in anderen Teilen der Welt ausgetragen wurden. Der 1755 beziehungsweise 1756 begonnene Siebenjährige Krieg war ein global geführter Krieg und firmiert je nach Perspektivierung unter völlig verschiedenen Bezeichnungen: als ‚Dritter Schlesischer Krieg‘ bezogen auf Österreich und Preußen, als ‚French and Indian War‘ hinsichtlich Nordamerikas oder als ‚Third Carnatic War‘ mit Blick auf Indien.¹¹ Und schließlich standen am Ende dieses Jahrhunderts, nach dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1775–1783), die 1792 begonnenen Revolutions- beziehungsweise Koalitionskriege, die Europa noch unter Napoleon Bonaparte zu Beginn des 19. Jahrhunderts über Jahre in Atem hielten und erst mit dem Wiener Kongress und der endgültigen Niederlage des französischen Kaisers bei Waterloo 1815 endeten. Alle diese Kriege ließen Frieden nicht von langer Dauer sein. Doch aus dieser Unsicherheit heraus erwuchsen zugleich verschiedene Versuche, Europa zusammenzuführen, um einen wirklichen, einen ewigen Frieden zu ermöglichen. Unter den Verfassern solcher Versuche stechen seit dem Dreißigjährigen Krieg besonders Émeric Crucé (ca. 1590–1648) und Maximilien de Béthune, Herzog von Sully (1559– 1641), sowie William Penn (1644–1718) und Charles Irénée Castel, Abbé de SaintPierre (1658–1743), hervor. Sie haben Vorstellungen formuliert, die teilweise in den angedachten Strukturen ähnlich sind oder sogar aufeinander aufbauen, teilweise aber auch voneinander abweichen. Auch ihre Rezeption fiel verschieden aus. Während Crucé mit seinem 1623 in Paris publizierten Le Nouveau Cynée, in dem er

 Vgl. Burkhardt 2009, 78–88; mit anderer Akzentuierung zuletzt auch Walther 2021, 101–120.  Vgl. generell Füssel 2019.

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unter anderem einen internationalen Fürstenbund vorschlug, der sich in Gestalt einer Botschafterversammlung mit Sitz in Venedig um eine gemeinsame Rechtssetzung bemühen sollte, genauso rasch in Vergessenheit geriet wie 70 Jahre später Penn mit seinem 1693 in London veröffentlichten Essay towards the Present and Future Peace of Europe by the Establishment of an European Dyet, Parliament or Estates, in dem er einen europäischen Staatenbund mit einem 80 Sitze umfassenden Parlament vorschlug, dessen Zusammensetzung sich an der politischen, ökonomischen und militärischen Größe der einzelnen Staaten orientieren sollte,¹² brauchten Sully und der Abbé de Saint-Pierre nicht bis zu einer Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert zu warten, sondern erhielten bereits von Anfang an Aufmerksamkeit und wurden besonders in der Aufklärung intensiver rezipiert.¹³ Gerade SaintPierres Überlegungen, die während des Spanischen Erbfolgekrieges heranreiften und nach einer ersten anonymen Publikation schließlich 1713 unter seinem Namen in Utrecht erschienen – gefolgt von späteren Ergänzungen und Bearbeitungen –, riefen Interesse, aber auch deutliche Kritik hervor. Während der preußische König Friedrich II. über das Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe spottete und Voltaire ein solches Vorhaben als Chimäre betrachtete, konnte sich Jean-Jacques Rousseau noch Jahrzehnte nach der ersten Veröffentlichung hierfür begeistern und fertigte 1756 eine erneute, allerdings ausgewählte und mit eigenen Bemerkungen versehene Veröffentlichung an, die auch Immanuel Kant kannte, der 1795 mit seiner Schrift Zum ewigen Frieden einen gewichtigen philosophischen Beitrag zur allgemeinen Friedensdiskussion leistete.¹⁴ Doch worin genau bestand eigentlich die Kritik an den Plänen des Abbé de Saint-Pierre und der anderen Verfasser? Welche Gründe wurden bei der Infragestellung vorgebracht? Und gab es aus Sicht der Kritiker Alternativen? Bei Voltaire und Friedrich II. treffen wir nur auf Bemerkungen, nicht auf eine eingehendere Auseinandersetzung. Wir finden sie allerdings bei dem heute kaum noch bekannten Historiker Eobald Toze (1715–1789), der sich in seinem 1752 vorgelegten Buch Die allgemeine Christliche Republik in Europa, nach den Entwürfen Heinrichs des Vierten, Königs von Frankreich, des Abts von St. Pierre, und anderer vorgestellet, nebst einigen Betrachtungen über diese Staatsverfassung, worin die Möglichkeit untersucht, und von den guten und bösen Folgen, die daraus entstehen würden, gehandelt wird umfassender mit den beiden genannten Plänen des Herzogs von Sully und des Abbé de Saint-Pierre sowie zwei weniger bekannten Wortmel Vgl. zu Crucé und Penn näher Lauer 2014a; Böttcher 2014; eine deutsche Übersetzung beider Texte bietet Raumer 1953, 289–320 (Crucé) und 321–340 (Penn).  Vgl. Walter 2014, 131; Lauer 2014b, 185–186.  Vgl. Lauer 2014b, 185–186; Rousseau 2009; Kant 1992; ferner generell zur Kritik an den Friedensund Europaplänen dieser Zeit Burgdorf 2002 und Burgdorf 1999, 49–73.

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dungen befasste.¹⁵ Im Folgenden werde ich diese Arbeit näher betrachten, um exemplarisch die Beschäftigung und Bewertung von Friedens- und Europaplänen in der Epoche der Aufklärung aufzuzeigen. Damit die Bezugspunkte von Tozes Kritik nachvollziehbar sind, stelle ich zuvor einige zentrale Aspekte der beiden bis heute Interesse hervorrufenden Pläne des Abbés und Sullys knapp vor.

2 Die Europapläne des Herzogs von Sully und des Abbé de Saint-Pierre Sullys Überlegungen zur institutionalisierten Zusammenarbeit der europäischen Staaten und einem hieraus hervorgehenden ewigen Frieden sind nicht in einer griffigen Abhandlung, sondern in verschiedenen Passagen seiner Memoiren, den Économies Royales, zu finden.¹⁶ Die ersten beiden Bände erschienen noch zu Lebzeiten des Herzogs im Jahr 1638, der dritte und vierte Band wurden erst posthum 1661 veröffentlicht. Da Sully den sogenannten Grand Dessein, den Großen Plan, in seinen Memoiren auf Heinrich IV. (1553–1610) zurückführte, mit dem er seit seiner Jugend befreundet und dessen Finanzminister er unter anderem war, gingen die Leserinnen und Leser gemeinhin lange Zeit davon aus, dass dieser tatsächlich vom französischen König stammte. Eine bekannte Ausnahme bildete Voltaire, der dies gegenüber dem preußischen König Friedrich II. anzweifelte.¹⁷ Auch Toze nennt in seinem Buch Heinrich IV. als Verfasser und weist die Behauptung Voltaires zurück.¹⁸ Allerdings haben die eingehenderen Forschungsarbeiten von Theodor Kükelhaus und Christian Pfister am Ende des 19. Jahrhunderts gezeigt, dass vornehmlich Sully diese Gedanken in den 1630er Jahren – und damit während des Dreißigjährigen Kriegs – entwickelt hatte.¹⁹ Wenngleich es vereinzelt Widersprüche und Veränderungen beim Grand Dessein gibt, lassen sich mehrere grundlegende Gedanken ausmachen. Hierzu gehört

 Vgl. Toze 1752. Zu Toze, dessen Name immer wieder auch Totze geschrieben wird, vgl. Hoffmeister 1894. In der Forschung spielt er keine größere Rolle und findet nur vereinzelt etwas mehr Aufmerksamkeit. So vor allen Dingen in unserem Zusammenhang besehen bei Duchhardt 1992, 127–130 und Burgdorf 1999, 57–59.  Vgl. für nähere Angaben zur Veröffentlichung sowie zur kritischen Neuausgabe von David Buisseret und Bernard Barbiche Walter 2014, 131 und 135; zur deutschen Übersetzung aus dem 18. Jahrhundert vgl. Sully 1783–1786. Eine Zusammenstellung der relevanten Passagen bietet Puharré 2002, 99–154; in Auszügen auch Foerster 1963, 60–72.  Vgl. Voltaire und Friedrich der Große 2011, 268–269 (Brief Voltaires an Friedrich II., März 1742).  Vgl. Toze 1752, 88–104.  Vgl. Kückelhaus 1893, Pfister 1894.

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zunächst einmal, dass Sully an eine Konföderation der europäischen Staaten dachte, die er als „Familie“²⁰ begreift und als rein christlich bestimmt betrachtet. Damit verfolgt er einen anderen Ansatz als Émeric Crucé, der einige Jahre früher in seinem Nouveau Cynée an eine internationale Organisation gedacht hatte, bei der auch außereuropäische Staaten wie Äthiopien, China oder Persien eingebunden sein sollten.²¹ Davon ist bei Sully keine Rede. Er konzentrierte sich auf Europa allein, genauer gesagt auf ein Europa, in dem nur die römisch-katholische, die lutherische und die reformierte Konfession vorherrschten. Das Osmanische Reich, dessen Herrschaftsgebiet sich auch auf einen Teil des Kontinents erstreckte, gehörte ausdrücklich nicht dazu. Und auch Russland, das seiner Auffassung nach aus genauso vielen Gründen zu Asien gerechnet werden können wie zu Europa, wurde nicht automatisch einbezogen. Dieses große Land werde zum Teil noch von Götzendienern bewohnt, zum Teil auch von schismatischen Griechen und Armeniern, deren Gottesdienst mit tausenderlei abergläubischen Gebräuchen vermischt ist und dem unsrigen eben deswegen sehr wenig Ähnlichkeit hat.²²

Als „unzivilisiertes Land“ gehöre es noch „mit der Türkei in eine Klasse“. Allerdings konnte sich Sully im Falle Russlands durchaus noch eine Aufnahme vorstellen. Seine Bedingung hierfür war die Konversion zu einem der drei genannten christlichen Bekenntnisse.²³ Unübersehbar spielte also die Religion in diesem Entwurf eine entscheidende Rolle. Das hing zweifelsohne mit der Erfahrung der französischen Bürger- und Religionskriege (Hugenottenkriege) des 16. Jahrhunderts zusammen, die mit dem Edikt von Nantes 1598 unter Heinrich IV. vorerst ein Ende fanden. Angesichts der virulenten Religionsfragen im Dreißigjährigen Krieg war Sullys Ansatz also vor allen Dingen davon geleitet, das keineswegs selbstverständliche Miteinander von Katholiken und Protestanten durch eine institutionalisierte Zusammenarbeit der Staaten zu befördern. Zudem sollte dieser christliche Staatenbund eine politische Balance schaffen. Er sollte die Souveränität der einzelnen Staaten wahren, aber ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen ausgleichen. Wie das konkret umzusetzen sei, lässt sich bei Sully nur begrenzt herausfiltern. Ihm schwebte eine Ratsversammlung vor, die sich aus den Vertretern der einzelnen Mitgliedsstaaten zusammensetzt. Bereits bei der Größe und der Bezeichnung machte Sully allerdings zwei unterschiedliche

   

Sully wiedergegeben in: Foerster 1963, 60. Vgl. Crucé wiedergegeben in: Raumer 1953, 306–309. Sully wiedergegeben in: Foerster 1963, 64. Nachfolgendes Zitat an gleicher Stelle. Vgl. Sully wiedergegeben in: Foerster 1963, 65.

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Angaben. Während er zunächst von einem „Gemeinsamen Rat“ („conseil commun“) mit 66 Mitgliedern sprach, wobei die Zahl der Vertreter sich an der Bedeutung der einzelnen Länder orientierte, sah er in seinen weiteren Ausführungen dann vielmehr einen „Allgemeinen Rat“ („conseil général“) von 40 Mitgliedern vor, die zur Hälfte von Seiten der fünf Großmächte gestellt werden – Sully nennt hier den Papst, den Kaiser des Heiligen Römischen Reichs sowie die Könige von Frankreich, Großbritannien und Spanien – und deren andere Hälfte sich aus den Vertretern der übrigen Mitgliedsstaaten zusammensetzt.²⁴ Diese allgemeine Ratsversammlung sollte regelmäßig in 15 verschiedenen Städten tagen und mit sechs Einzelräten zusammenarbeiten, die an anderen Orten ihren Sitz hatten.²⁵ Die Aufgabe dieser Einzelräte bestand zum einen darin, sich um bestimmte Bereiche wie zum Beispiel eine gemeinsame europäische Armee zu kümmern. Zum anderen sollten sie für regionale Angelegenheiten zuständig sein. Gemeint war damit eine Zuordnung mehrerer Staaten zu einem Einzelrat. Wie im Einzelnen diese Arbeit jedoch aussehen sollte und welche Kompetenzen damit verbunden waren, führte Sully nicht aus. Sein Entwurf blieb dadurch nur eine vage Vorstellung von einem europäischen Staatenbund. Beim Abbé de Saint-Pierre sah dies deutlich anders aus. Er legte 1713 unter seinem Namen einen klar gegliederten Plan vor.²⁶ Da er einige Überlegungen Sullys aufgriff, fallen sogleich ähnliche Elemente auf. Auch er spricht zum Beispiel von einem Bund der europäischen Staaten, der nicht an der Souveränität der einzelnen Staaten rütteln soll. Gleich in Artikel 2 seiner ersten zwölf Grundartikel heißt es: „Der europäische Bund mischt sich nicht in die Regierung der einzelnen Staaten.“²⁷ Doch die Absichten und Ansätze unterscheiden sich zugleich. Während Sully auf einen spezifischen christlichen Staatenbund zielte, stand der Abbé einer internationalen Organisation offen gegenüber. In seinem Vorwort hielt er fest, dass sein Plan ursprünglich „alle Staaten der Erde“ umfasst habe, am Ende aber seine Absicht zunächst auf Europa begrenzt werden musste, weil das Vorhaben sonst „in so weiter Ferne liegt und so viel Schwierigkeiten bietet, daß sie dem ganzen Plan den Charakter des Unmöglichen gäbe“²⁸. Auch hinsichtlich der Einbeziehung der Staaten ging der Abbé einen anderen Weg. Sully scheute nicht davor zurück, bei seinem Vorhaben territoriale Veränderungen vorzunehmen, um dem Staatenbund das Gesicht zu geben, das ihm vor-

 Vgl. Walter 2014, 134. Zitate an gleicher Stelle.  Vgl. Walter 2014, 134. Auch zum Nachfolgenden.  Vgl. als Faksimile-Ausgabe von 1713 Abbé de Saint-Pierre 1981; in deutscher Übersetzung Abbé de Saint-Pierre 1922.  Abbé de Saint-Pierre 1922, 89 (Grundartikel, Art. 2).  Beide Zitate: Abbé de Saint-Pierre 1922, 9.

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schwebte. Denn die vorgesehenen 15 Länder, die Sully als christliche Mitgliedsstaaten nannte, waren, wie zum Beispiel die Italienische Republik, erst noch durch Zusammenlegungen zu erschaffen oder aber durch territoriale Veränderungen neu zuzuschneiden.²⁹ Der Abbé de Saint-Pierre hingegen sah vor, dass bei der Gründung des Bundes der Status quo festzuschreiben sei. Das hieß, es musste nicht zuerst eine möglicherweise mit Gewalt erzwungene Neuordnung geschaffen werden. Zudem sollten die Mitglieder die Garantie erhalten, dass auch zukünftig alle grundsätzlich auf weitere territoriale Veränderungen verzichteten: Alle europäischen Mächte bleiben stets in ihrem jetztigen Besitzstand und in ihren heutigen Grenzen. Kein Gebiet kann abgetrennt oder durch Erbfolge, Hausverträge, Wahl, Schenkung, Abtretung, Verkauf, Eroberung, freiwilligen Übertritt der Untertanen oder auf andere Weise hinzugefügt werden. Kein Herrscher oder Mitglied eines Herrscherhauses kann Herrscher eines Staates werden, der heute nicht zum Besitz seines Hauses gehört.³⁰

Einzig durch Zustimmung der anderen Länder war noch eine Veränderung herbeiführbar: „Ohne die Zustimmung der Dreiviertelmehrheit des Völkerbundes dürfen die Herrscher keinerlei Gebiete miteinander austauschen noch Verträge miteinander abschließen.“³¹ Anders als bei Sully, sah der Abbé in seinem Entwurf auch eine gleichrangige Stellung der Mitglieder vor. Im „Bundesrat der europäischen Gesellschaft“³², in dem die 24 entscheidenden Bevollmächtigten saßen, hatte jedes Mitglied lediglich eine Stimme. Die namentliche Nennung dieser 24 Staaten zeigt, dass der Abbé fast alle Staaten des Kontinents einbezog, darunter auch Russland. Ausgenommen war das Osmanische Reich, mit dem der Staatenbund, der, wie es zu Beginn der Grundartikel hieß, „ein dauerndes, ewiges Bündnis zum Zweck der Erhaltung eines ununterbrochenen Friedens in Europa“ sein sollte, zur Wahrung dieses Anliegens „Schutzund Trutzbündnisse“ abschließen sollte.³³ Viel detaillierter als bei Sully fallen in diesem Plan auch die Aufgaben, Strukturen und Mechanismen aus, um Beschlüsse zu fassen, umzusetzen, Streitigkeiten und Verstöße zu regeln, überhaupt den Bund zu finanzieren sowie nicht zuletzt die vor Gewaltanwendung nicht zurückscheuende Konstituierungsbedingung dieses ‚Völkerbundes‘. Denn zu seiner Verwirklichung sah der Abbé wenigstens 14 Mitglieder vor und schrieb ihnen zugleich das Recht zu, einen Herrscher, der seinen Beitritt verweigere, „für einen Feind der Ruhe Europas“ zu erklären und zu be    

Vgl. Sully wiedergegeben in: Foerster 1963, 70; Bois 2004, 191. Abbé de Saint-Pierre 1922, 90–91 (Grundartikel, Art. 4). Abbé de Saint-Pierre 1992, 91 (Grundartikel, Art. 4). Abbé de Saint-Pierre 1992, 100 (Grundartikel, Art. 9). Beide Zitate: Abbé de Saint-Pierre 1922, 87 und 88 (Grundartikel, Art. 1).

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kriegen, „bis er entweder dem Bund beigetreten oder völlig aus seinem Besitz verdrängt ist.“³⁴ Doch diesen und die genannten anderen Aspekte können und brauchen wir hier nicht eingehender verfolgen. Vielmehr wollen wir uns nun der Kritik an den Vorschlägen zuwenden.

3 Eobald Tozes Kritik Tozes Buch erwuchs aus einer Enttäuschung. Nach eigenem Bekunden hatte er bei der Lektüre der 1745 erschienenen Schrift Projet d’un nouveau Système de l’Europe, préférable au System de l’Equilibre entre la Maison de France et celle d’Autriche feststellen müssen, dass der vom anonymen Verfasser erweckte Eindruck, einen neuen und noch nicht gekannten Plan verfasst zu haben, der geeignet sei, „dem ganzen Europa einen ewigen und allgemeinen Frieden“³⁵ verschaffen zu können, trog. Denn er sage „nichts neues und von des Abts von St. Pierre so häufig an das Licht gestelleten Entwürfen unterschiedenes“. Das habe ihn, Toze, dann dazu bewogen, eine kleine Geschichte der Konzeptionen zu schreiben, die seit Heinrich IV. zur Herstellung eines dauerhaften Friedens und einer „allgemeinen Christlichen Republik in Europa“³⁶ ersonnen wurden. Allerdings musste er schnell einsehen, dass seine erste Idee, die einzelnen Pläne vorzustellen, zu vergleichen und mit einigen Anmerkungen zu versehen, nicht ganz einfach und geeignet war, weil „diese hin und wieder eingestreuten Anmerkungen ein verwirretes und dem Leser vielleicht unangenehmes Werk seyn würden.“ Aus diesem Grund gliederte er schließlich sein Buch in zwei Teile. Im ersten Abschnitt präsentierte er die historischen Pläne, im zweiten Abschnitt behandelte er allgemein die Idee einer christlichen Republik. Es ist entsprechend auch dieser zweite Teil, in dem die Realisierungschance eines europäischen Staatenbundes kritisch diskutiert wird. In der gedruckten Fassung umfasst dieser für uns im Folgenden relevante Abschnitt annähernd die Hälfte der 352 Textseiten. Toze sieht in einem europäischen Staatenbund zunächst einmal zwei große Vorteile: erstens die Schaffung und Gewährleistung von Sicherheit sowie zweitens die Schaffung und Gewährleistung von Wohlstand. Beide Ziele sind aus seiner Sicht das grundlegende Anliegen aller Staaten, weil sie der Sinn eines Staates schlechthin sind. Denn der Staat sei, so lautet Tozes vorgestellte Vertragstheorie, „die Vereinigung einer hinlänglichen Anzahl in der natürlichen Freiheit lebender Menschen,

 Beide Zitate: Abbé de Saint-Pierre 1922, 98 (Grundartikel, Art. 8).  Toze 1752, Vorrede, 3. Nachfolgendes Zitat an gleicher Stelle. Vgl. auch Anonymus 1745.  Toze 1752, Vorrede, 3. Nachfolgendes Zitat an gleicher Stelle.

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welche sich unter eine gemeinsame Oberherrschaft begeben, um ihre allseitige Sicherheit und Wohlfahrt zu befördern.“³⁷ Deshalb habe der europäische Staatenbund auch die Souveränität der Staaten zu achten und könne sie nicht aufheben. Ein einheitlicher europäischer Staat war für Toze – und genauso für die anderen genannten Verfasser von europäischen Vereinigungsplänen – völlig unvorstellbar. Denn dieser Staat hätte, mit Tozes vertragstheoretischer Logik besehen, ein Zusammenschluss aller „in der natürlichen Freiheit“ lebender Menschen Europas sein und folglich die bisherige Souveränität der einzelnen Staaten beenden müssen. Aber ein solcher Gedanke wurde von ihm gar nicht erst erwogen. Toze geht in seiner Betrachtung von der historisch gewachsenen und naturrechtlich legitimierten Vielzahl nicht sonderlich veränderbarer Staaten aus. Der europäische Staatenbund steht für ihn nicht vollkommenen im Widerspruch hierzu. Vielmehr erscheint er eine wünschenswerte, weil letztlich logisch erforderliche Ergänzung zu sein. Denn erst durch einen Bund aller Staaten böte sich eine vollständige Verwirklichung von Sicherheit und Wohlstand an. Zum einen durch das endgültige Ende von Kriegen, das nur so herbeiführbar sei. Durch das gemeinsame Band könnten schließlich alle europäischen Völker von Portugal bis Russland „gleichsam zu einer Familie, die sich von Herzen liebte, gemacht werden“³⁸. Zum anderen würde der erlangte Frieden die Wissenschaft, die Kunst und den Handel befördern. Dadurch wäre eine Entwicklung möglich, die ganz im Sinne der Aufklärung sei, die zu verwirklichen Toze ein Anliegen war. Eine prosperierende Wissenschaft würde nämlich „den Verstand aufklären und die Menschen fähig machen die Vernunft zu ihrem Besten zugebrauchen, daß sie dem Willen Bewegungsgründe zur Ausübung des guten geben und daß sie also wohlgesittete und gesellige Bürger machen.“³⁹ Der europäische Staatenbund bot aus seiner Sicht also nicht nur die Chance auf ein politisches Instrument, um Sicherheit herzustellen und zu gewährleisten, sondern auch die Chance, eine bürgerliche Gesellschaft auszubilden – und zwar auf dem gesamten Kontinent. Toze zeigt sich angesichts dieser Perspektive einen Moment lang auffallend optimistisch und euphorisch. Plötzlich erscheint eine Welt vor seinen Augen, in der es kaum noch ernstzunehmende Feinde gibt. Bereits die gegenwärtige Entwicklung zeige, dass durch die gewonnene Macht Österreichs und Russlands eine immer geringer werdende Gefahr vom Osmanischen Reich – das heißt dem einzigen nicht christlichen Land auf dem Kontinent – ausgehe und sogar die Gelegenheit zu be-

 Toze 1752, 187–188.  Toze 1752, 229.  Toze 1752, 229–230.

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stehen scheine, die Türken aus Europa zu vertreiben.⁴⁰ Nur noch die „Africanischen Seeräuber“ schienen ein noch verbleibendes größeres Problem, das dieser europäische Staatenbund zu lösen hätte und für das er geradezu notwendig sei, weil die Piraterie eine den Handel und damit alle Staaten betreffende Angelegenheit sei: „Es müßte demnach der ganze Europäische Staatskörper seine Macht vereinigen und diese Räuber mit zusammen gesetzten Kräften vertilgen.“⁴¹ Am Ende würde folglich ein vereintes Europa den Kontinent in einen Zustand überführt haben, der ihn zu einer „Wohnung des Vergnügens und der Freude, ein[em] Tempel der Glückseligkeit und ein[em] irdisch[en] Paradies“⁴² mache. Aber mit dem Paradies auf Erden ist das so eine Sache. Da zeigt sich auch Toze sogleich höchst skeptisch. Nach den Vorteilen geht er nämlich auf die Nachteile des europäischen Staatenbundes ein und legt anschließend mit Blick auf die bisherigen Vorschläge, aber auch grundsätzlich dar, warum eine solche Einrichtung unmöglich realisierbar sei. Seine Kritik lässt sich auf fünf zentrale Punkte konzentrieren. Erstens: das Problem der Souveränität. Für Toze ist die Zustimmung der Herrscher zu einem Staatenbund unrealistisch, weil sie dann politische Macht und Möglichkeiten abgeben müssten und folglich teilweise ohnmächtig wären. Da Europa hinsichtlich der vorherrschenden Regierungsformen überwiegend aus Monarchien bestehe, müssten sie alle jeweils einen persönlichen Vorteil davon haben, ihre bisherige Macht abzugeben. Die vergangenen beiden Jahrhunderte führten jedoch vor Augen, dass die Regentinnen und Regenten vielmehr „ihre Macht allezeit gebraucht haben um eine größere zu erlangen, und daß aus dieser Ursache bis zu unsern Zeiten die meisten Kriege entstanden sind, die Europa so oft verheeret haben.“⁴³ Zudem widerspräche die Preisgabe von Macht grundsätzlich der Definition von Souveränität, die sich aus zwei Komponenten zusammensetze. Nämlich zum einen aus der inneren Souveränität, mit der insbesondere das Recht der Gesetzgebung, die höchste Gerichtsbarkeit sowie das Recht auf Anordnung von Steuern und Auflagen verbunden sei (Montesquieus 1748 in der Abhandlung De l’esprit des loix eingebrachte Gewaltenteilung berücksichtigte Toze noch nicht).⁴⁴ Zum anderen der äußeren Souveränität, zu der vor allen Dingen das Recht gehöre, „Krieg zu führen und Frieden zu schließen, Gesandte zu schicken, Verträge und Bündnisse mit anderen Völkern zu machen.“ Ein Staatenbund, der allein den einzelnen Staaten die Möglichkeit nähme, nach eigenem Willen über Krieg und Frieden zu entscheiden, würde     

Vgl. Toze 1752, 236. Beide Zitate: Toze 1752, 237 und 238. Toze 1752, 240. Toze 1752, 261. Vgl. Toze 1752, 190. Nachfolgendes Zitat an gleicher Stelle.

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die äußere Souveränität, also die Unabhängigkeit der Herrscher, nicht nur erheblich einschränken, sondern im Kern auflösen. Sie verlören nämlich die Autonomie über das zuerkannte eigene Gewaltmonopol.⁴⁵ Welcher Staat und vor allem welcher Herrscher würde aber von seiner Macht lassen? Insbesondere, wenn der Krieg für die Regierenden eine hohe Bedeutung hat. Und damit kommen wir zum zweiten Punkt: der Krieg als Leidenschaft. Toze konstatiert, dass der Krieg die „herrschende Leidenschaft der gegenwärtigen Zeiten“⁴⁶ sei. Nicht nur, dass Herrscher kriegerische Auseinandersetzungen suchten, weil sie beleidigt wurden oder sich beleidigt fühlten (anstatt auf eine Konfliktlösung durch Recht und Gesetz zu setzen).⁴⁷ Vor allen Dingen sei der Krieg ein „Handwerk des Adels“⁴⁸, das Ehre, Ruhm und Reichtum bedeute. Toze hält es deshalb für abwegig, dass Herrscher auf ihre Armee, in die sie viel investiert hätten und mit der sie die Vollkommenheit ihrer Kriegskunst unter Beweis stellen können, verzichten würden. Die Kriegskunst verschaffe ihnen bis in den Namen hinein die Zuerkennung von Größe, gegen die andere Zuschreibungen – wie etwa Weisheit oder Gerechtigkeit – nicht den gleichen Wert hätten: Die Vorfälle des Krieges, so erschrecklich und verderblich sie auch dem menschlichen Geschlechte sind, haben dem ungeachtet so was glänzendes, welches man in andern Handlungen, wenn sie gleich aus der reinsten Quelle der Tugend herfließen, nicht antrifft, oder nicht wahrnimmt. Bezwungene Völker und verwüstete Länder erregen die allgemeine Bewunderung weit mehr, als alles was zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit im Frieden gethan wird. Der prächtige Zuname des Großen, welchen die Prinzen allen anderen Benennungen, welche die Tugend oder das Glück ihnen geben kann, immer vorgezogen haben, wird vornehmlich durch die Waffen erworben.⁴⁹

Zudem zehrten die Geschichtsschreibung und die Kunst unablässig von den Schlachten, dem Blut, dem Tod, den Niederlagen und den Siegen. Ein Hannibal, Cäsar und Alexander wären vergessen, wenn sie nicht durch ihre Kriegstaten – und das heißt letztlich durch die Überlieferung dieser Kriegstaten und der darin ausgemachten Fähigkeiten wie Mut oder Geschicklichkeit – fest in das Gedächtnis eingerückt wären.⁵⁰ Viele Meisterwerke der Dichtung widmeten sich Schlachten und besängen Könige und Heerführer als Helden.⁵¹ Anders formuliert: Es ist der

      

Vgl. Toze 1752, 199. Toze 1752, 272. Vgl. Toze 1752, 279. Toze 1752, 272. Toze 1752, 284–285. Vgl. Toze 1752, 285–289. Vgl. Toze 1752, 289–291.

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Krieg, der Helden und Götter in zukünftige Gegenwarten hinein leben lasse und die Kultur besonders präge. Drittens: die Natur des Menschen. So wie der Krieg zu den Leidenschaften der Menschen gehöre, weil sie nach Ehre und Ruhm verlangten, gebe es noch vier weitere Leidenschaften, die der Mensch in sich trage: die Herrschsucht, den Neid, den Hass und die Rachgier.⁵² Die Herrschsucht sei ein „Verlangen sich andere Menschen unterwürfig zu machen und ihnen zu befehlen.“⁵³ In der Vergangenheit habe sich dies bereits oft bewahrheitet. Cäsar habe die freien Römer zu Sklaven gemacht, und Alexander der Große sei noch mit seinen Siegen, die ihn bis an das Ende der Welt gebracht hätten, nicht zufrieden gewesen. Kaum anders sehe es bei allen anderen Erbauern großer und berühmter Reiche aus. Daher könne man ohne Furcht eines Irrthums sagen, daß die Herrschsucht bey allen Völkern, und in allen verschiedenen Ständen der Menschen immerfort geschäftig sey, und daß sie folglich bey den Prinzen und Staaten eben so sehr zu unsern Zeiten eine Neigung zum Kriege wirken können, als sie es vormahls gethan hat.⁵⁴

Der Neid resultiere wiederrum aus dem „Mißvergnügen über eines andern Glückseeligkeit“⁵⁵ und werde zu Hass, wenn ein Mensch „Vergnügen über des andern Unglückseeligekeit“⁵⁶ empfinde. Beides zeige sich auch im Staatenleben: Die Größe, die Macht und der Reichthum eines Staats, das Kriegsglücke, der dadurch erlangte Ruhm und das Ansehen eines Fürsten sind die Merkmahle der Glückseeligkeit, welche die Nachbaren in Betrachtung ihrer selbst für etwas böses halten, und welche ihnen Unruhe erwecken. Sie werden also einen Staat oder einen Prinzen, der sich in diesen beglückten Umständen befindet, beneiden; sie werden ihn folglich hassen, und der Haß wird bey Gelegenheit in offenbare Feindschaft und Thätlichkeit, d. i. in Kriege ausbrechen.⁵⁷

Die Rache sei schließlich die Folge solcher Handlungen. Denn bei Menschen – und genauso bei Staaten –, die um ihre „Glückseeligkeit“ gebracht worden seien, würde wiederrum das Verlangen geweckt werden, „andere das böse wieder empfinden zu lassen, was man von ihnen erlitten hat.“⁵⁸ Diese Rache kenne aber kein Maß mehr und überschreite nicht nur „die Grenzen des Rechts, der Billigkeit und der Men-

      

Vgl. Toze 1752, 291–298. Toze 1752, 292. Toze 1752, 293. Toze 1752, 293. Toze 1752, 294. Toze 1752, 294. Toze 1752, 296.

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schenliebe“, sondern lasse sogar die eigene Wohlfahrt und Existenz vergessen, „wenn sie nur andern schaden kann; sie läuft selbst in die Flammen, wenn andere nur mit darin verbrennen; sie stürzet sich mit Freuden in das Verderben, wenn die Feinde nur mit unter dem Schutte begraben werden.“⁵⁹ Gegen alle diese Eigenschaften, die Spiralen der Gewalt und größter Zerstörung loszutreten vermögen, käme die Vernunft nicht an.⁶⁰ Selbst in einem Europa, das keine Kriege mehr führe, seien diese Leidenschaften nicht verschwunden und könnten diese fatalen, blutigen Konflikte grundsätzlich wieder aufkommen lassen. Eine permanente Verhütung beziehungsweise ein ewiger Friede erschien Toze geradezu unmöglich. Denn diese Leidenschaften des Menschen ließen sich niemals aufheben. Nicht einmal in einer gesetzlich geregelten und noch weiter aufgeklärten Welt: Es ist ebenso unmöglich in der sittlichen Welt die Leidenschaften, welche Feindseeligkeiten unter den Menschen erregen, auszutilgen, als es in der Natur unmöglich seyn würde, das Auffsteigen der Dünste und Dämpfe zu verhindern, welche auf unsrer Erdkugel Regen, Stürme und Ungewitter hervorrufen.⁶¹

Der Mensch war aus Tozes Sicht nicht vollkommen gut. Wer dies ändern wollte, müsste die menschliche Natur grundlegend verändern. Die Menschen müssten dazu bewogen werden, ihren Eigennutz zugunsten des Rechts und der gemeinen Wohlfahrt aufzugeben, ihre Leidenschaften „den Ansprüchen der Tugend und Gerechtigkeit völlig unterwerfen“ sowie alle Pflichten erfüllen, „welche ihnen die Wohltätigkeit und die Menschenliebe vorschreibet“⁶². Doch wann werde der Mensch so denken und handeln? Toze hatte keine optimistische Antwort hierauf. Für ihn war deshalb klar: Man kann daher mit einem großen Grade der Gewißheit behaupten, daß ein Zustand unsers Welttheils, worin sich die Staaten des Rechts gegen einander Krieg zu führen begeben sollen, in die Anzahl der Dinge gehöre, welche niemahls zur Wirklichkeit kommen werden.⁶³

Viertens: die uneinheitliche Rechtskultur. Da der europäische Staatenbund kein einheitlicher Staat sei, könne es mit Blick auf die Souveränität der einzelnen Staaten keine übergeordnete Instanz geben, in der menschlich erdachte Gesetzte allgemein bestimmend seien. Dies hält Toze nur mit Blick auf das Naturrecht und ein hierauf     

Beide Zitate: Toze 1752, 296. Vgl. Toze 1752, 291. Toze 1752, 298. Beide Zitate: Toze 1752, 312. Toze 1752, 298.

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basierendes Völkerrecht für möglich.⁶⁴ Allerdings stellt er infrage, ob es jenseits der Theorie überhaupt möglich sei, mit Vernunft allgemeine Grundsätze abzuleiten. Die bisherige Auslegung der Naturrechtslehre habe so viele Widersprüche produziert, dass es „eben so viele unbestrittene und zweifelhafte Sätze, als ausgemachte Wahrheiten“ gebe, weshalb nüchtern zu konstatieren sei: „Alle Regeln, welche die Vernunftlehre hierbey an die Hand giebt, sind ohne Wirkung und helfen nichts.“⁶⁵ Jeder Hof habe nämlich „sein eigenes Lehrgebäude des Natur- und Völkerrechts“⁶⁶, das bestimmten Traditionen und Interessen folge. Wenn folglich in einem europäischen Senat, der sich aus Abgeordneten der verschiedenen Staaten zusammensetze, Gesetze erlassen oder Urteile in Streitfragen gesprochen werden müssten, hätten diese europäischen Abgeordneten beziehungsweise Richter, deren Entscheidungen an das Recht der Natur gebunden sei, aber „gar keine gewisse Regel“⁶⁷. Angesichts ihrer unterschiedlichen Herkunft und Prägung würde der eine „diesen, der andere jenen Grundsatz annehmen und auf die vorkommenden Fälle anwenden.“⁶⁸ Darüber hinaus sei es kaum vermeidbar, dass die Abgeordneten bei der Gesetzgebung und bei der richterlichen Entscheidung in einen Konflikt mit den einzelnen europäischen Staaten gerieten. Denn als Bevollmächtigter verträte jeder Abgeordnete beziehungsweise jeder Richter die Interessen des Landes, das ihn entsandt habe. Ein europäischer Richter könne nicht unabhängig agieren. Disparate Interessen, Vorstellungen und Prägungen – wie zum Beispiel die unterschiedlichen religiösen Bekenntnisse – würden zwangsläufig die Institutionen des europäischen Staatenbundes entzweien: Der Europäische Staatskörper würde demnach aus Gliedern bestehen, die theils übereinstimmende, theils einander entgegen gesetzte Absichten haben, und folglich unter einander theils Freunde, theils Feinde seyn würden. Ihre Freundschaft und Feindschaft aber würde gewiß einen großen Einfluß in die gerichtlichen Entscheidungen des Europäischen Senats haben und veranlassen, daß die gevollmächtigten Richter ihre Aussprüche in gewissen Fällen nach der Liebe oder dem Hasse, so ihre Oberherren gegen einander trügen, einrichteten und also parteiisch wären.⁶⁹

Nicht zuletzt sei völlig unklar, welche Konsequenzen ein erlassenes Urteil habe. Denn wer besitze überhaupt die Autorität und die Mittel, es zu vollstrecken? Hierin

     

Vgl. Toze 1752, 319. Beide Zitate: Toze 1752, 320. Toze 1752, 321. Toze 1752, 321. Toze 1752, 321. Toze 1752, 326.

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sah Toze nicht nur einen weiteren Grund für die Ohnmacht eines europäischen Staatenbundes, sondern auch einen Kriegsgrund. Allein die Möglichkeit, dass die europäischen Staaten zur Durchsetzung getroffener Entscheidungen jenen Staat, der diese Entscheidung nicht anerkenne, zu einem Feind erklären und gegen ihn vorgehen könnten – so sah es der Entwurf des Abbé de Saint-Pierre vor, um Handlungslosigkeit zu verhindern⁷⁰ –, öffnete der Gewalt neue Türen, „durch welche unser Welttheil eben so sehr, und vielleicht noch ärger zerrüttet werden könnte“⁷¹. Fünftens: die Naivität des Friedens. Nach seinen ausführlich vorgetragenen Kritikpunkten lässt sich Eobald Toze auf ein Experiment ein.Was wäre eigentlich, so seine Frage, wenn all die genannten Probleme behoben wären? Anders gefragt: Was wäre, wenn die Europäer doch noch „in den paradiesischen Stand der Unschuld versetzet und mit allen Tugenden, die darin möglich waren, ausgerüstet“⁷² wären? Auch hier bleibt Toze skeptisch und zeichnet ein düsteres Bild. Europas Paradies wäre ein Europa im „Schlaf“: Eigenschaften wie Tapferkeit und Mut würden verloren gehen, Kriegskünste vergessen und „die Gemüther der Völker träge und weichlich“⁷³ werden. Dies hätte zur Folge, dass andere Völker sich dies zunutze machen und Europa bedrohen oder letztlich zerstören könnten. Toze greift wieder einmal zur Geschichte als Lehrmeisterin und entwirft das düstere Bild einer möglichen Völkerwanderung, gegen die sich Europa im Fall des Falles nicht wehren könnte: und wenn so vielen barbarischen Nationen in den beyden nächsten Welttheilen die Luft ankäme ihre alten Sitze zu verändern und neue zu suchen? würde es ihnen alsdann vielleicht nicht eben so leicht seyn einen großen Theil von Europa mit Feuer und Schwert zu verwüsten, als es den Hunnen und so vielen andern Völkern in dem letzten ohnmächtigen Zustande des Römischen Kayserthums war. […] [E]s könnte die Zeit wiederkommen, daß ungeheure Schwarme von Tartaren, die schon ehemals bis in Schlesien gestreift haben, neue Einfälle in die Länder unsers Welttheils thäten. […] Ist es also nicht möglich, daß der ewige Friede in der Europäischen Christenheit gefährliche Folgen haben, und die Quelle eines eben so großen, oder noch größern Uebels, als die jetzigen häufigen Kriege unter uns sind, werden können?⁷⁴

Europa ist kein Paradies. Europa kann und soll auch kein Paradies werden. So lässt sich Tozes Auseinandersetzung mit den bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts gemachten Vorschlägen zu einem vereinten Europa bilanzieren. Aus diesem Grunde

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Vgl. Abbé de Saint-Pierre 1922, 98 (Grundartikel, Art. 8). Toze 1752, 339. Zum gesamten Aspekt vgl. Toze 1752, 325–340. Toze 1752, 344. Beide Zitate: Toze 1752, 347. Toze 1752, 347–348.

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könne auch ein gemeinsames europäisches Gebilde letztlich nur „ein sehr unvollkommenes und fehlerhaftes Werk seyn“⁷⁵. Aber was bleibt dann übrig? Welche Lösungen bot der wenige Jahre später als Professor für Geschichte an der neu geschaffenen Universität von Büzow lehrende Toze an, der auch die Vorteile einer organisierten europäischen Zusammenarbeit erkannt und sie mit den Zielen von Sicherheit und Wohlstand, Aufklärung und bürgerlicher Gesellschaft verbunden hatte? Sein Ansatz war schlicht und wenig originell: Nicht ein europäischer Staatenbund war seine Empfehlung, sondern das längst zu dieser Zeit etablierte Prinzip eines Gleichgewichts der Kräfte.⁷⁶ Ein ewiger Friede würde dadurch zwar nicht erreicht. Aber der Wechsel von Krieg und Frieden, der mit dem dauerhaften Streben nach Balance verbunden sei, würde die Wertschätzung des Friedens in wachsendem Maße befördern – und letztlich, so lässt sich der Ansatz des recht nüchtern auf den Menschen blickenden Tozes deuten, dem irdischen Paradies bei Weitem etwas näher kommen: Da nun in der Staatsverfassung des Gleichgewichts Krieg und Friede abwechseln; so können so wohl die Völker in Europa, welche das Ungemach und die Wut des Krieges selbst empfunden haben, aus ihrem eigenen Unglücke, als diejenigen, welche von dem Getümmel der Waffen entfernet sind, aus dem Unglück der anderen den Werth und die Vortrefflichkeit des Friedens lebhafter erkennen. Sie können sich von der Glückseeligkeit, deren sie darin genießen, klarere und deutlichere Vorstellungen machen; und die Anzahl derselben muß um so viel größer seyn, je häufiger und mannigfaltiger die Drangsale des Krieges gewesen sind. Die angenehmen Empfindungen also, welche aus dem Genusse des Friedens bey beyden entstehen, bekommen durch die Vorstellung desjenigen, was sie entweder selbst in dem Kriege litten, oder was sie andere darin leiden sahen, nicht nur eine größere Stärke, sondern werden auch zahlreicher, als sie sonst seyn würden.⁷⁷

Für Toze war ein vereintes, dauerhaft von Frieden geprägtes Europa nur eine Utopie. Seine Kritik scheint eher destruktiv. Und doch stimmt sie nachdenklich, weil Toze Fragen und Probleme ansprach und mit Argumenten diskutierte, die Europa und die europäische Einigung noch heute beschäftigen und fordern. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 steht die Zukunft eines einigen Europas und einer friedlicher werdenden Welt wieder ganz neu und drängend auf der Tagesordnung. Allerdings unter veränderten Vorzeichen. Nicht verändert hat sich hingegen wohl eine Eigenschaft des Menschen, die in der Epoche der Aufklärung und bei Toze eine Rolle spielte: die Hoffnung.

 Toze 1752, 340.  Vgl. allgemein zur Philosophie und Politik des Gleichgewichts, die sich seit dem späten 17. Jahrhundert zu etablieren begann, Malettke 2012, 27–31 und Duchhardt 1997, 11–19.  Toze 1752, 349–350. Hervorhebung im Original.

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Europa ist kein Paradies

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Hans-Georg Pott

Vom Morgen des Abendlandes O, die bittere Stunde des Untergangs, Da wir ein steinernes Antlitz in schwarzen Wassern beschaun. (G. Trakl, Abendländisches Lied) In my end is my beginning. (T.S. Eliot, Four Quartets)

Der Titel Vom Morgen des Abendlandes verschränkt Zeit und Raum. Das Frühe und das Späte oder Spätere. Aber um welches Land handelt es sich? Um Europa? Nietzsche nennt es „die kleine Halbinsel Asienʼs“: [N]amentlich gehört Amerika hinzu, soweit es eben das Tochterland unserer Cultur ist. Andererseits fällt nicht einmal ganz Europa unter den Cultur-Begriff „Europa“; sondern nur alle jene Völker und Völkertheile, welche im Griechen-, Römer-, Juden- und Christenthum ihre gemeinsame Vergangenheit haben.¹

Ernst Robert Curtius, der nach 1945 für eine europäische Literatur als „Sinneinheit“ anstelle der Nationalliteraturen eintritt, lässt diese mit Homer beginnen und im Grunde mit Goethe als letztem universalem Autor enden.² So markant solche Markierungspfosten sich ausnehmen, so erweist sich bei näherem Hinsehen eine Unbestimmtheit, die entfernt an die der Quantenphysik erinnert; je genauer eine Grenze oder ein Punkt bestimmt wird, desto unbestimmter erscheint seine Umgebung. Setzt man Homer als Beginn, so stößt man auf Einflüsse der mykenischen Kultur und deren Verbindungen nach Ägypten, die indoeuropäischen Wanderungen, die Hethiter und Assyrer und so weiter. Wir stoßen also immer auf ein Maß willkürlicher Setzungen, die im besten Fall einen ordnungspolitischen Sinn haben und der Selbstverständigung von Menschengruppen (Europäer, Asiaten, …) dienen, im schlechtesten Fall ideologisch motiviert sind. Orientierung ist aber vonnöten. Kulturgeschichtlich geht die Sonne des Abendlandes, von Mitteleuropa aus gesehen, im Südosten auf. Sagen wir: auf Kreta. Da sind wir in der Antike und im Mythos der Entstehung Europas, aber keineswegs an den Quellen des Christentums. Wenn das Abendland die kulturelle Einheit eines durch Antike und Christentum geformten Europa bedeutet, wie der Duden von ‚heute‘³ bestimmt, so muss weiter in den Osten reisen, wer etwas über die Quellen Europas oder des Abendlandes aus-

 Nietzsche Menschliches, Allzumenschliches II, KSA 2, 650 („Der Wanderer und sein Schatten“, 215).  Curtius 1948, 24.  Duden 2001. https://doi.org/10.1515/9783110793062-007

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kundschaften will. Und wenn der neueste Online-Duden dem Eintrag ‚Abendland‘ hinzufügt: veraltet⁴, verbirgt sich dahinter eine ganze Geschichtsphilosophie, die erst einmal aufzudecken ist. ‚Quellen‘ nennen wir Geistesarbeiter die schriftlichen Urkunden. Sind sie räumlich nahe in einer Bibliothek, so brauchen wir nicht allzu weit zu reisen, um in die ferne Vergangenheit zu gelangen. Die Metaphern ‚Morgen‘ und ‚Quelle‘ anstatt ‚Anfang‘ und ‚Ursprung‘ weisen auf die fiktionale Form hin (wie etwa auch der ‚Brunnen der Vergangenheit‘ in Thomas Manns Joseph und seine Brüder), die die Konstruktion der Vergangenheit aus dem Geist der Gegenwart kennzeichnet. So bezeichnet Nietzsche seine Geburt der Tragödie von 1872: ein Zeugnis für die Zeit des deutsch-französischen Krieges, in der es und trotz der es entstand.⁵ Dabei geht es nicht um müßige Spielereien der Phantasie, sondern um die besondere Form des literarischen Wissens und der ästhetischen Wahrheit, deren Ausweisung im besseren Verständnis der Gegenwart besteht.⁶ Und es geht nicht um ein erneutes Resümieren der Touristenattraktionen gebildeter Leute, die immer wieder und mit Gewinn wieder und wieder aufgesucht werden: Moses und Abraham, Thales und Anaximander, Platon und Aristoteles und so weiter.⁷ Und es geht auch nicht darum, immer tiefer in den Brunnen hinabzusteigen zu den Sumerern, dem Homo sapiens, dem Urknall. Vielmehr fragen wir nach Formen und Gestalten, die bis in unsere Gegenwart prägend sind, wie ein klassisches Werk, das gleichsam überzeitlich gültig bleibt, in dem – wie Nietzsche schreibt – „Europa aber noch in dreissig sehr alten, nie veralteten Büchern l e b t : in den Classikern.“⁸ Zwei klassische Bücher im Sinn einer Metonymie sollen uns zunächst beschäftigen: Goethes Westöstlicher Divan und Nietzsches Geburt der Tragödie. Reisen und Schreiben sind für den Dichter Metaphern füreinander. „Am liebsten aber wünschte der Verfasser vorstehender Gedichte als ein Reisender angesehen zu werden“⁹, heißt es in den Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans. Dabei wird ihm die Aneignung des Fremden nur „bis auf einen gewissen Grad“¹⁰ gelingen. Er wird als Fremdling kenntlich bleiben. „Damit aber alles, was der Reisende zurückbringt, den Seinigen schneller behage, über-

 Duden online 2022.  Vgl. Nietzsche Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechentum und Pessimismus, KSA 1, 11.  Auf diesbezügliche erkenntnistheoretische Fragen kann ich hier nicht eingehen.  Vgl. Pott 2005.  Nietzsche Menschliches, Allzumenschliches II, KSA 2, 608. Klassik ist hier keine Epochenbezeichnung.  Goethe West-östlicher Divan, HA 2, 127 („Noten und Abhandlungen“).  Goethe West-östlicher Divan, HA 2, 127 („Noten und Abhandlungen“).

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nimmt er die Rolle eines Handelsmanns, der seine Waren gefällig auslegt“¹¹. Der Doppelsinn von ‚auslegen‘ verweist schon auf einen hermeneutischen Gestus. Ebenso das Spiel mit dem übertragenen Sinn von ‚Quelle‘: „Er wird vielmehr die Quellen und Bäche leicht bezeichnen, deren erquickliches Naß ich auf meine Blumenbeete geleitet.“¹² Im Divan (1819) ist Goethe Dichter und Philologe. Wenn schreiben reisen bedeutet und reisen schreiben, sind Goethes Reisen nicht auf Europa beschränkt. Er reist weit über die Alpen, Rom, Neapel und Sizilien, also den Okzident, in die klassische Antike („Nordwestlich, Satan, ist dein Lustrevier / Südöstlich diesmal aber segeln wir“, heißt es vor dem Abflug in den Helena-Akt in Faust II) und darüber hinaus – tief in den Orient hinein. Im West-östlichen Divan gestaltet er eine allegorische Reise und entwirft eine kulturgeschichtliche Topographie. Nebenbei bemerkt, zum Teil auf einer Reise in die Rhein-Main-Gegend im Jahr 1814, für Goethe eine Reise „ins Geburtsland“, wo er dereinst, wie Dichtung und Wahrheit erinnert, das Alte Testament studierte.¹³ Herder hatte die Bibel als Kulturgeschichte des alten Orients gelesen und damit neben dem klassischen Altertum den Blick auf die Kulturen der Juden, Araber und Perser gerichtet. Den Divan des Hafis in der Übersetzung von Josef von Hammer lernte Goethe 1814 kennen.¹⁴ Er studierte weitere Werke der Orientalistik. Er reist zur Quelle der Dichter und der Dichtung, eine Reise, die eine Einkehr und Rückkehr beinhaltet: „Wer das Dichten will verstehen, / Muß ins Land der Dichtung gehen“¹⁵. Es handelt sich zu Beginn um eine Flucht: Hegire Nord und West und Süd zersplittern, Throne bersten, Reiche zittern, Flüchte du, im reinen Osten Patriarchenluft zu kosten, Unter Lieben, Trinken, Singen, Soll dich Chisers Quell verjüngen. Dort, im Reinen und im Rechten, Will ich menschlichen Geschlechten In des Ursprungs Tiefe dringen, Wo sie noch von Gott empfingen

 Goethe West-östlicher Divan, HA 2, 127 („Noten und Abhandlungen“).  Goethe West-östlicher Divan, HA 2, 127 („Noten und Abhandlungen“).  Goethe Dichtung und Wahrheit, HA 9, 125–143.  Zu den Details vgl. den Kommentar Goethe West-östlicher Divan, HA 2, 537–704. Die Übersetzung erschien 1812/13.  Goethe West-östlicher Divan, HA 2, 126 („Noten und Abhandlungen“).

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Himmelslehrʼ in Erdesprachen, Und sich nicht den Kopf zerbrachen. Wo sie Väter hoch verehrten, Jeden fremden Dienst verwehrten; Will mich freun der Jugendschranke: Glaube weit, eng der Gedanke, Wie das Wort so wichtig dort war, Weil es ein gesprochen Wort war. Will mich unter Hirten mischen, An Oasen mich erfrischen, Wenn mit Karawanen wandle, Schal, Kaffee und Moschus handle; Jeden Pfad will ich betreten Von der Wüste zu den Städten. Bösen Felsweg auf und nieder Trösten, Hafis, deine Lieder, Wenn der Führer mit Entzücken Von des Maultiers hohem Rücken Singt, die Sterne zu erwecken Und die Räuber zu erschrecken. Will in Bädern und in Schenken, Heilʼger Hafis, dein gedenken, Wenn den Schleier Liebchen lüftet, Schüttelnd Ambralocken düftet. Ja, des Dichters Liebeflüstern Mache selbst die Huris lüstern. Wolltet ihr ihm dies beneiden Oder etwa gar verleiden, Wisset nur, daß Dichterworte Um des Paradieses Pforte Immer leise klopfend schweben, Sich erbittend ewʼges Leben.¹⁶

Gleich das erste Gedicht Hegire (französisch für Hedschra: Bezeichnet die Flucht Mohammeds von Mekka nach Medina 622 und die metaphorische Flucht Goethes vor den Revolutions- und Befreiungskriegen mit den Umwälzungen in Europa) weist den Weg zu den Quellen: den Quell des Lebendigen (Chisers Quell), die Ursprünge  Goethe West-östlicher Divan, HA 2, 7–8 („Buch des Sängers“, Hegire).

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von Religion und Dichtung, durchströmt von einer Lebenslaune des Liebens, Trinkens, Singens. Dazu gehören einige der Elemente, die gewissermaßen quer zur damaligen und auch heutigen Lebenswirklichkeit Europas stehen. Da ist die Geltung der Worte der Patriarchen, der Tradition überhaupt, sowie ein Glaube, der durch rationale Erwägungen nicht ‚angekränkelt‘ ist. Das gilt für das Volk, nicht für den Dichter. Wie man Glaubenszweifel austricksen kann, zeigt auf geniale Weise das Eingangsgedicht zum Buch des Paradieses: Vorgeschmack Der echte Moslem spricht vom Paradiese, Als wenn er selbst allda gewesen wäre, Er glaubt dem Koran, wie es der verhieße, Hierauf begründet sich die reine Lehre. Doch der Prophet, Verfasser jenes Buches, Weiß unsre Mängel droben auszuwittern Und sieht, daß trotz dem Donner seines Fluches Die Zweifel oft den Glauben uns verbittern. Deshalb entsendet er den ew’gen Räumen Ein Jugendmuster, alles zu verjüngen; Sie schwebt heran und fesselt, ohne Säumen, Um meinen Hals die allerliebsten Schlingen. Auf meinem Schoß, an meinem Herzen halt ich Das Himmelswesen, mag nichts weiter wissen; Und glaube nun ans Paradies gewaltig, Denn ewig möcht ich sie so treulich küssen.¹⁷

Das ist „Glaube weit, eng der Gedanke“¹⁸, ohne doch zum einfachen schlichten Glauben zurück zu kehren. Die dichterische Einbildungskraft erzeugt einen feinen ironischen Riss im Paradies, wie denn auch die Dichterworte vor des „Paradieses Pforte / Immer leise klopfend schweben, / Sich erbittend ew’ges Leben.“¹⁹ Das „Jugendmuster“, die „Jugendschranke“: Sie bezeichnen ein Zeitliches, Vorgängiges im Leben des Einzelnen wie der Völker, eine Zeit, in der man sich nicht den Kopf zerbricht. „In the juvescence of the year / Came Christ the tiger“, heißt es in dem

 Goethe West-östlicher Divan, HA 2, 107 („Noten und Abhandlungen“).  Goethe West-östlicher Divan, HA 2, 7 („Buch des Sängers“, Hegire).  Goethe West-östlicher Divan, HA 2, 8 („Buch des Sängers“, Hegire). Nachfolgendes Zitat Goethe West-östlicher Divan, HA 2, 7 („Buch des Sängers“, Hegire).

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Gedicht Gerontion von T. S. Eliot.²⁰ Auch Goethe ist zur Zeit des Erstdrucks 1819 ein Geras, ein Alter, der in die Jugend reist, die Frühe des Morgens. Aber auch in dieser Hinsicht bleibt eine Schranke als feiner Riss bemerklich. Die Schwelle zu imaginären Räumen wird nicht überschritten, weder zur Darstellung eines Paradieses oder Goldenen Zeitalters noch zu einem wie immer gearteten Jungbrunnen. Goethe bleibt ganz und gar im Diesseits des Lebens, er bleibt Übersetzer und navigiert in hermeneutischen Fahrwassern. Das zeigt sich unter anderem in der politischen Dimension im Divan: „Doch sein Lied, man läßt es immer walten, / Da es doch dem Koran widerspricht. […] Hafis insbesondre schaffet Ärgernisse, / Mirza sprengt den Geist ins Ungewisse, / Saget, was man tun und lassen müsse?“²¹ Die folgenden zwei Gedichte mit dem Titel „Fetwa“ (auch Fatwa) führen zwar ins Mittelalter zurück, die Gedichte werden verbrannt, nur der Dichter nicht (ein Zeichen von Toleranz!); sie weisen dennoch, wie das eingeschobene Gedicht „Der Deutsche dankt“ bezeugt, auf verstörende Weise in die Gegenwart Goethes und unsere; denn die religiöse Autorität und Macht wird nicht infrage gestellt. In den Noten und Abhandlungen geht Goethe unter dem Titel Despotie auf das westlich-weltliche Befremden gegenüber der geistigen und körperlichen Unterwürfigkeit der Morgenländer ein. Sie ist schlechthin unerträglich. Er bemüht sich aber um eine rationale Erklärung: dass ein friedliches, geschütztes Leben nur unter einem starken Herrscher möglich gewesen sei: Fühllos gegen den Wert der Freiheit, unbekannt mit allen übrigen Regierungsformen, rühmen sie ihren eigenen Zustand, worin es ihnen weder an Sicherheit ermangelt noch an Behagen, und sind nicht allein willig, sondern stolz, sich vor einem erhöhten Manne zu demütigen, wenn sie in der Größe seiner Macht Zuflucht finden und Schutz gegen größeres unterdrückendes Übel.²²

Freilich war um 1817 die Zeit der Könige von Gottes Gnaden und von Gottes Stellvertreter auf Erden als uneingeschränkte Autoritäten vorbei. Es bleibt aber bis heute gültig, was Goethe im Hinblick auf die propagandistisch missbrauchte Funktion der Parolen ‚Freiheit‘, ‚Gleichheit‘, ‚Brüderlichkeit‘ schreibt: Überhaupt pflegt man bei Beurteilung der verschiedenen Regierungsformen nicht genug zu beachten, daß in allen, wie sie auch heißen, Freiheit und Knechtschaft zugleich polarisch existiere. Steht die Gewalt bei einem, so ist die Menge unterwürfig; ist die Gewalt bei der Menge, so steht der Einzelne im Nachteil; dieses geht denn durch alle Stufen durch, bis sich vielleicht irgendwo ein Gleichgewicht, jedoch nur auf kurze Zeit, finden kann. […] Wie man

 Eliot 1988, 48.  Goethe West-östlicher Divan, HA 2, 21 („Buch Hafis“).  Goethe West-östlicher Divan, HA 2, 172 („Noten und Abhandlungen“).

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denn niemals mehr von Freiheit reden hört, als wenn eine Partei die andere unterjochen will und es auf weiter nichts angesehen ist, als daß Gewalt, Einfluß und Vermögen aus einer Hand in die andere gehen sollen. Freiheit ist die leise Parole heimlich Verschworner, das laute Feldgeschrei der öffentlich Umwälzenden, ja das Losungswort der Despotie selbst, wenn sie ihre unterjochte Masse gegen den Feind anführt und ihr von auswärtigem Druck Erlösung auf alle Zeiten verspricht.²³

Goethe unternimmt keine nostalgische Reise zu den Ursprüngen, die verloren sind, sondern zu denen, die fortwährend wirken. Das betrifft in erster Linie die Sprache. Goethe teilt die seit dem 17. Jahrhundert verbreitete Auffassung vom Ursprung der Sprachwerdung des Menschen im Orient. Zudem geht es um die Einflüsse des Klimas und anderen Naturgegebenheiten.²⁴ Bei Rousseau wird das Südländische überhaupt zu einer erotologischen und topologischen Sprachursprungstheorie geformt. Im Südosten (Orient) waltet die Liebe, im Norden (Königsberg, Kant) die kalte Vernunft: „In den südlichen Gegenden waren die ersten Reden Liebesgesänge, in den nördlichen Gegenden‚ hieß … das erste Wort nicht aimez-moi, sondern aidezmoi‘.“²⁵ Über die Liebe im Divan und die Sprache wären ausführliche Erörterungen notwendig. Hier nur einige Andeutungen. Was für ein Unterschied von den Schriftzeichen als Buchstaben, über deren ‚Geist‘ man sich in hermeneutischen Debatten streitet, zu den Zeichen, die auf der Haut zu tragen sind – wie den ‚Segenspfändern‘ (Talismane, Amulette, Inschriften, Abraxas, Siegelringe); Zeichen, die nichts ‚hinter sich‘ haben, in denen Wirkung und Bedeutung zusammenfallen. In diesen Zeichen sind auch Sein und Schein nicht unterschieden, wie in Smaragden: Als Zeichen der Liebe liegt seine Bedeutung nicht im Jenseits der Materialität, sondern der Bedeutungs-Wert liegt in der Materialität selbst – weswegen auch bei Liebeserklärungen Diamanten überzeugender wirken sollen als Worte. Das gilt auch für Blumen und die Blumensprache. Worte im Ursprungssinn sollen nicht verstanden werden, sondern ihren Zweck erfüllen: „Ja des Dichters Liebeflüstern / Mache selbst die Huris lüstern.“²⁶ Der Übergang über die Alpen, nun von Süden aus gesehen, stellt die gesprochene Sprache, die ursprünglich Poesie als ‚Gesang der Seele‘ war, immer mehr in die Dienste von Bedürfnis und Vernunft, wobei die Schrift als ein vorzügliches Medium dieser Entwicklung dient. Die Gesellschaften der Schrift- und Buchkulturen haben sich weit von ihren Ursprüngen entfernt, die im mündlichen Sprachgebrauch

   

Goethe West-östlicher Divan, HA 2, 175 („Noten und Abhandlungen“). Vgl. Trabant 2019. Über Rousseau hat uns Jacques Derrida belehrt: Derrida 1974, Zitat 374. Goethe West-östlicher Divan, HA 2, 8 („Buch des Sängers“, Hegire).

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liegen.²⁷ Die historisch-allegorische Topographie imaginiert die Kolonialisierung des Geistes im Medium der Schrift als Bewegung vom Ursprung zur Gegenwart, wobei die Quellwasser des Ursprungs weiterhin rauschen; man muss nur den Sinn dafür schärfen. Es sind die ‚nordischen Abstraktionen‘ des Verstandes, die eine Entsinnlichung betreiben. Dagegen bilden die Liebe und das Anschauen der Natur für Goethe den Ursprung einer hoch-, wenn nicht höherwertigen ‚naiven‘ Religion und Dichtung: Naive Dichtkunst ist bei jeder Nation die erste, sie liegt allen folgenden zum Grunde; […]. Da wir von orientalischer Poesie sprechen, so wird notwendig, der Bibel, als der ältesten Sammlung, zu gedenken. […] so gedenken wir eines hohen Genusses, dem reinen orientalischen Sonnenaufgang zu vergleichen.²⁸

So wird der Sonnenaufgang, die Morgenröte zum Sinnbild der Schöpfung und der Natur schlechthin. „Auf das Anschauen der Natur gründete sich der alten Parsen Gottesverehrung. Sie wendeten sich, den Schöpfer anbetend, gegen die aufgehende Sonne, als der auffallend herrlichsten Erscheinung.“²⁹ Der Niedergang in einen „umständlichen Kultus“ beginnt schon früh im Orient selbst (von Goethe dem Zoroaster zugeschrieben); aber auch die Griechen waren einer Religion ergeben, in der man „die Götter in Wohnungen einsperrte, sie unter Dach anbetete.“³⁰ Immerhin waren die Vorhallen der antiken Tempel noch dem Licht und der Luft geöffnet. Vollends eingemauert und von der Natur ausgesperrt wird dann der christliche Gott in den Gebäuden der christlichen Kirchen. Das Licht dringt gefiltert, gedämpft, verwandelt herein. Morgenlicht, Abendlicht, Morgenland, Abendland. Das bedeutet Mangel, Differenz, Trennung – Trennung von Natur und Kultur und Versammlung der Menschen im Kulturraum, der eine Trennung von Innen und Außen betont. Aus Neapel schreibt Goethe an Herder: „[J]e mehr ich die Welt sehe desto weniger kann ich hoffen, daß die Menschheit je eine weise, kluge, glückliche Masse werden könne.“³¹ Und gegen Herders und anderer Zeitgenossen Vorstellungen einer Verbesserung der Menschheit wendet er sich mit Ironie: „Auch muß ich selbst sagen halt ich es für wahr daß die Humanität endlich siegen wird, nur fürcht ich daß zu gleicher Zeit die Welt ein großes Hospital und einer des andern humaner

 Im Anschluss an Derrida 1974 und den ‚Phono- und Logozentrismus‘ haben die medialen Formen der Sprache in Stimme und Schrift und ihre jeweilige Bedeutung für Kultur und Gesellschaft eine verstärkte Aufmerksamkeit erhalten. Vgl. dazu Wiethölter, Pott und Messerli 2008.  Goethe West-östlicher Divan, HA 2, 128 („Noten und Abhandlungen“).  Goethe West-östlicher Divan, HA 2, 135 („Noten und Abhandlungen“).  Goethe West-östlicher Divan, HA 2, 140 („Noten und Abhandlungen“).  Goethe an Johann Gottfried Herder, HA 11, 322 (Neapel, 17. Mai 1787).

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Krankenwärter werden wird.“³² Die Versöhnungsrhetorik von Kultur und Natur und eines allzu optimistischen Humanismus findet sich auch bei Rousseau im ‚zweiten‘ Discours: Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit von 1755 nicht mehr. Die Aufklärer des 18. Jahrhunderts waren sich der Unumkehrbarkeit der Entwicklung bewusst. Einzig Dichten und Reisen vermögen mit dem verlorenen Ursprung für Augen-Blicke (die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung wird noch besonders zu betonen sein) zu versöhnen. Gehörten unter der Vorherrschaft der Oralität, des gesprochenen Wortes, Predigen und Gehorchen zu den bevorzugten Mitteln der gesellschaftlichen Sozialisation, so treten unter der Vorherrschaft der Bücher abstraktere Regelsysteme in Kraft. „Die Sinnflut [sagen wir auch: Sintflut] der Druckpresse macht es unmöglich, das Gewußte [und das Gesollte, können wir hinzusetzen] wirklich zu wissen, das heißt: in laufende Kommunikation umzusetzen. Was sich daraufhin als Kommunikation realisiert, kann schwer vorausgesehen werden.“³³ Den Verweisen auf die Gegenwart werden wir noch nachgehen.³⁴ Auch Goethe beschwört das lebendige Wort, die Stimme als unmittelbaren Ausdruck der Leidenschaften und der Liebe. Und auch er überquert dafür die Alpen, was sich in der hermeneutischen Arbeit des eigenen gebildeten Kommentars zu ‚besserem Verständnis‘ bewährt. In der hermeneutischen Kolonie Europa lässt sich Ursprüngliches nicht anders reinszenieren.³⁵ Der Okzident ist ein vom Orient her kolonisiertes Land. Ex oriente lux: Aufgang des Lichtes der Schöpfung, Morgenglanz der Ewigkeit und des Heils. Aber wie die Kolonien Nordamerikas hat sich Europa selbständig gemacht und vom Mutterland gelöst, das zugleich Vaterland, das Land der Patriarchen und Propheten ist, und ist dann seinerseits zur Kolonisierung des Orients angetreten. Das beginnt – um ein markantes Datum zu nennen – mit Napoleons Feldzug nach Ägypten (1798/99), der zugleich eine diskursstrategische Kampagne ist. Es ist auch die Geschichte der Rückkehr der Schrift an ihren Ursprungsort. Als ein Feld des westlichen Wissens wird der Orient zum Projektionsraum der eigenen Fremde und Alterität – zwischen seligem Paradies und einem Ort exzessiver ‚Babylonischer‘ Ausschweifungen für die verklemmten Puritaner. Die westliche Ideologie des Orientalismus ist seit Edward Said³⁶ allgemein bekannt geworden. Goethe ist selbstverständlich frei von einem überlegenen Dünkel gegenüber Orientalen und Arabern, die despotisch, faul und zu logischem Denken

 Goethe an Charlotte von Stein, Goethe 2012, 158 (Rom, 8. Juni 1787).  Luhmann 1992, 157.  Vgl. ausführlich Wiethölter, Pott und Messerli 2008.  Vgl. Timm 1996, 190–194.  Vgl. Said 1981. Es geht hier nicht um einen Beitrag zu Thema Orientalismus, zu dem es eine umfangreiche Literatur gibt. Vgl. die vorzügliche Arbeit von Polaschegg 2005.

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nicht fähig seien. Er wertschätzt vielmehr das Fremde in seiner Andersheit, ohne Gleichheit zu postulieren: Ohne Bedenken verknüpfen sie die edelsten und niedrigsten Bilder, an welches Verfahren wir uns nicht so leicht gewöhnen. / Sprechen wir es aber aufrichtig aus: ein eigentlicher Lebemann, der frei und praktisch atmet, hat kein ästhetisches Gefühl und keinen Geschmack, ihm genügt Realität im Handeln, Genießen, Betrachten ebenso wie im Dichten; und wenn der Orientale, seltsame Wirkung hervorzubringen, das Ungereimte zusammenreimt, so soll der Deutsche, dem dergleichen wohl auch begegnet, dazu nicht scheel sehen.³⁷

Wie denn auch der ‚Orientale‘ unter den deutschen Schriftstellern, Jean Paul, würdevoll wertgeschätzt wird: Ein so begabter Geist blickt, nach eigentlichst orientalischer Weise, munter und kühn in seiner Welt umher, erschafft die seltsamsten Bezüge, verknüpft das Unverträgliche, jedoch dergestalt, daß ein geheimer ethischer Faden sich mitschlinge, wodurch das Ganze zu einer gewissen Einheit geleitet wird.³⁸

Goethe war es im Divan um die Präsenz des gelebten und erfüllten Augenblicks zu tun. Insofern entfaltet der Divan den großen Gegenentwurf zum ewigen Streben des Gelehrten Faust: Werd’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehen!³⁹

Im Divan geht Goethe zum Grund, zum Augen-Blick, zum erfüllten Dasein, das der strebende Faust immer nur verfehlt. Dieser fürchterliche abendländische Mensch kennt ja die Liebe nur als und im Entzug, weil er ein Bild, ein Idol liebt. „Du siehst mit diesem Trank im Leibe, / Bald Helenen in jedem Weibe.“⁴⁰ Es ist dann aber nur Margarete. Und im zweiten Teil wird dann Helena als Fiktion, Übersetzung und hermeneutisches Überlieferungsgeschehen vorgeführt: Ich seh’, die Philologen, Sie haben dich so wie sich selbst betrogen. Ganz eigen ist’s mit mythologischer Frau,

   

Goethe West-östlicher Divan, HA 2, 162–163 („Noten und Abhandlungen“). Goethe West-östlicher Divan, HA 2, 184 („Noten und Abhandlungen“). Goethe Faust I, HA 3, 57. Goethe Faust I, HA 3, 84.

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Der Dichter bringt sie, wie er’s braucht, zur Schau: Nie wird sie mündig, wird nicht alt, Stets appetitlicher Gestalt, Wird jung entführt, im Alter noch umfreit; Gnug, den Poeten bindet keine Zeit.⁴¹

Um 1800 ist die Bewegung der Schrift, wie sie sich in der ‚hermeneutischen Kolonie‘ Europas durchgesetzt hat, nicht mehr auszulöschen. Goethe hat den Gewinn und Verlust deutlich hervorgehoben: Wenn jemand Wort und Ausdruck als heilige Zeugnisse betrachtet und sie nicht etwa wie Scheidemünze oder Papiergeld nur zu schnellem, augenblicklichem Verkehr bringen, sondern im geistigen Handel und Wandel als wahres Äquivalent ausgetauscht wissen will, so kann man ihm nicht verübeln, daß er aufmerksam macht, wie herkömmliche Ausdrücke, woran niemand mehr Arges hat, doch einen schädlichen Einfluß verüben, Ansichten verdüstern, den Begriff entstellen und ganzen Fächern eine falsche Richtung geben.⁴²

Um die falsche Richtung zu korrigieren, dazu bedarf es des Kommentars, der Kritik und der Deutung: „daß gepfleget werde / Der veste Buchstab, und bestehendes gut / Gedeutet“⁴³, heißt es in Hölderlins Patmos-Hymne, einem der letzten ‚heiligen‘ Zeugnisse deutscher Dichtung. Auch Hölderlin war dichterisch nach Asien gereist: so kam Das Wort aus Osten zu uns, Und an Parnassos Felsen und am Kithäron hör‘ ich, O Asia, das Echo von dir und es bricht sich Am Kapitol und jählings herab von den Alpen Kommt eine Fremdlingin sie Zu uns, die Erweckerin, Die menschenbildende Stimme.⁴⁴

‚Hinüberzugehen und wiederzukehren‘, das war Hölderlins abendländische Sendung. Der alte Goethe nahm es heiter, als Schweben zwischen zwei Welten, dem Orient und Okzident, der Stimme und der Schrift, der erfüllten Präsenz des gelebten liebenden Augenblicks und dem ewigen Aufschub der Erfüllung. In einem Brief an Zelter schreibt Goethe:  Goethe Faust II, HA 3, 227.  Goethe West-östlicher Divan, HA 2,186 („Noten und Abhandlungen“).  Hölderlin 1992, 453 („Patmos“, 1. Fassung).  Hölderlin 1992, 351 („Am Quell der Donau“). Ich gebe zu Hölderlin nur diesen knappen Hinweis. Sein ‚Osten‘ ist ein eigenes großes Thema.

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Diese mohammedanische Religion, Mythologie, Sitte geben Raum einer Poesie, wie sie meinen Jahren ziemt. Unbedingtes Ergeben in den unergründlichen Willen Gottes, heiterer Überblick des beweglichen, immer kreis- und spiralartig wiederkehrenden Erdetreibens, Liebe, Neigung, zwischen zwei Welten schwebend, alles Reale geläutert, sich symbolisch auflösend – Was will der Großpapa weiter?⁴⁵

In Poesie gefasst: Wer sich selbst und andere kennt, Wird auch hier erkennen: Orient und Okzident Sind nicht mehr zu trennen. Sinnig zwischen beiden Welten Sich zu wiegen, lass’ ich gelten; Also zwischen Ost und Westen Sich bewegen, sei’s zum Besten!⁴⁶

Die doppelte Bewegung von Ost nach West und West nach Ost ereignet sich bereits in der Antike. Trotz seines apollinisch-dionysischen Dualismus ist Nietzsche ein Denker der Anfänge Europas als hybride Kultur. Alles vermischt und verwandelt sich. Insofern gehören Ovids Metamorphosen zu den oben erwähnten 30 klassischen Werken. Historisch wird die Mischkultur auf Alexander zurückgeführt: Die Hellenisirung der Welt und, diese zu ermöglichen, die Orientalisirung des Hellenischen – die Doppel-Aufgabe des grossen Alexander – ist immer noch das letzte grosse Ereigniss; die alte Frage, ob eine fremde Cultur sich überhaupt übertragen lasse, immer noch das Problem, an dem die Neueren sich abmühen. Das rhythmische Spiel jener beiden Factoren gegen einander ist es, was namentlich den bisherigen Gang der Geschichte bestimmt hat. Da erscheint zum Beispiel das Christenthum als ein Stück orientalischen Alterthums, welches von den Menschen mit ausschweifender Gründlichkeit zu Ende gedacht und gehandelt wurde.⁴⁷

So selten sich Christen bewusst machen, dass ihre Religion zutiefst im Judentum verwurzelt ist, so wenig wird das Orientalische bedacht. Es bekundet sich vor allem im Alten Testament, von dem Nietzsche sagt: Im jüdischen „alten Testament“, dem Buche von der göttlichen Gerechtigkeit, giebt es Menschen, Dinge und Reden in einem so grossen Stile, dass das griechische und indische Schriftenthum ihm nichts zur Seite zu stellen hat. Man steht mit Schrecken und Ehrfurcht vor diesen ungeheuren Überbleibseln dessen, was der Mensch einstmals war, und wird dabei über das alte

 Goethe an Carl Friedrich Zelter, MA 20.I., 600 (Brief Nr. 341).  Goethe West-östlicher Divan, HA 2, 121 („Aus dem Nachlaß“).  Nietzsche Unzeitgemäße Betrachtung IV, KSA 1, 446.

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Asien und sein vorgeschobenes Halbinselchen Europa, das durchaus gegen Asien den „Fortschritt des Menschen“ bedeuten möchte, seine traurigen Gedanken haben.⁴⁸

Wir müssen nicht Nietzsches ‚traurige Gedanken‘ nachvollziehen, um mit der geographischen Lage eine geistige zu verbinden. Es handelt sich um eine Sinnlandschaft und auf dem „Kap“⁴⁹ Europa eine Bewegung von Süd nach Nord, von Genua nach Königsberg (Kant, szientifischer Rationalismus); denn für Nietzsche beginnen der Süden und der Orient in Genua: Im Norden imponirt das Gesetz und die allgemeine Lust an Gesetzlichkeit und Gehorsam, wenn man die Bauweise der Städte ansieht: man erräth dabei jenes innerliche Sich-Gleichsetzen, Sich-Einordnen, welches die Seele aller Bauenden beherrscht haben muss. Hier aber findest du, um jede Ecke biegend, einen Menschen für sich, der das Meer, das Abenteuer und den Orient kennt, einen Menschen, welcher dem Gesetze und dem Nachbar wie einer Art von Langerweile abhold ist und der alles schon Begründete, Alte mit neidischen Blicken misst: er möchte, mit einer wundervollen Verschmitztheit der Phantasie, diess Alles mindestens im Gedanken noch einmal neu gründen, seine Hand darauf-, seinen Sinn hineinlegen – sei es auch nur für den Augenblick eines sonnigen Nachmittags, wo seine unersättliche und melancholische Seele einmal Sattheit fühlt, und seinem Auge nur Eigenes und nichts Fremdes mehr sich zeigen darf.⁵⁰

Der Orient verwandelt sich in ein Wunschbild der Tagträumereien, mit anderen Worten in Kunst und Literatur. Das von Winckelmann und der deutschen Klassik entworfene idealistische Bild der griechischen Antike wird von Nietzsche, wie man heute sagen würde, dekonstruiert. Das Begriffspaar ‚apollinisch/dionysisch‘ wird fortan zu einem Grundschema der Kulturphilosophie und Kunstkritik – und nicht zu Unrecht. Es bezeichnet ein anthropologisches Grundmuster, das den Urkonflikt zwischen Verstand und Gefühl, Kultur und Natur aller Zivilisation bezeichnet. Mit Blick auf das heutige Europa des 20. und 21. Jahrhunderts lässt er sich am Schicksal des Humanismus⁵¹ erörtern, der einmal ein Wertideal des aufgeklärten Europas war. Schauen wir etwas genauer hin. Benennt man das Apollinische in der Entwicklung als Denkfigur des europäischen Rationalismus, so bleibt das Dionysische, gestaltet im Satyr als „Sinnbild der

 Nietzsche Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, 72.  Derrida 1992a.  Nietzsche Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 532.  Begriffe wie ‚Humanismus‘ oder ‚Christentum‘ werden immer schon nach Weltanschauungen und Interessenlagen ideologisiert. Ich verwende sie mit der Kraft der‚bestimmten Negation‘ im Sinn von Adornos Negativer Dialektik (vgl. Adorno 1970). Beispiele wider den Identitätszwang finden sich in Pott 2013, insbesondere 105–130.

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geschlechtlichen Allgewalt der Natur“⁵², als offene Wunde einer humanen Kultur, verwahrt und gestaltet in Formen des Religiösen, des Mythos, des magischen Denkens, der Dichtung (vor allem der Romantik). Ohne Nietzsches Durchgang durch die einzelnen Stationen altgriechischer Kultur hier zu verfolgen, gelangen wir zu Sokrates als eine Lichtgestalt, der den „Geiste der Wissenschaft“ als „Glauben an die Ergründlichkeit der Natur und an die Universalheilkraft des Wissens“⁵³ verkörpert. Auch damit bleiben Gefahren für die human zivilisierte Menschheit, die in der Gestalt des Faust, der sich dem Teufel ergeben hat, deutlich werden. Und auch eine humane Kultur, die an das Erdenglück aller, die Würde des Menschen und der Arbeit glaubt, bedarf der Sklaven, die zu Nietzsches Zeit Proletarier hießen: „Es giebt nichts Furchtbareres als einen barbarischen Sclavenstand, der seine Existenz als ein Unrecht zu betrachten gelernt hat und sich anschickt, nicht nur für sich, sondern für alle Generationen Rache zu nehmen.“⁵⁴ Die Zeiten der Sklavenaufstände und der Klassenkämpfe sind keineswegs vorüber, nur die Namen haben sich geändert. Kulturen entstehen und vergehen. Was so kurz und knapp bezeichnet wird, zieht sich oftmals über, an Menschenleben gemessen, lange Zeiträume hin. In Wirklichkeit handelt es sich um Verwandlungen, Metamorphosen, Transformationen. Ob zum Besseren oder Schlechteren ist damit nicht gesagt. Auch wenn von Fortschritt die Rede ist, sollte man genau hinschauen und vergleichend die jeweilige Sache beurteilen. Der Untergang des Abendlandes begann 1914 und es ist nach 1918 nicht wiederauferstanden. Im Folgenden erwähne ich zunächst Symptome und Diskurse einer Krisis. Die starke Behauptung von einem Ende oder einer Zäsur nach dem Ersten Weltkrieg resultiert aus der hier nicht weiter begründeten Einsicht, dass die Gleichung von Europa = das Abendland in der Gegenwart nicht mehr aufgeht. Über Brüche und (imaginäre) Restbestände wäre eigens nachzudenken. Die Frage lautet dann: Was hat im heutigen Europa vom Abendland überlebt und vor allem wie hat es überlebt? In Georg Trakls Gedicht Abendland (es gibt davon fünf Fassungen⁵⁵) heißt es: Gewaltig ängstet Schaurige Abendröte Im Sturmgewölk. Ihr sterbenden Völker!

   

Nietzsche Die Geburt der Tragödie, KSA 1, 58. Nietzsche Die Geburt der Tragödie, KSA 1, 111. Nietzsche Die Geburt der Tragödie, KSA 1, 117. Trakl 1972, 76–77, 219–221.

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Wo Kultur ist, da ist auch κρίσις/krísis. Egon Friedells bewunderungswürdige Kulturgeschichte der Neuzeit (1927–1931 erschienen) trägt den Untertitel Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg. Es handelt sich um eine europäische Kulturgeschichte, die sich zurecht als Kulturgeschichte der gesamten Welt betrachten darf, weil in dem Zeitraum von 1348 bis 1914, im winzigen Bruchteil „der Geschichte dieses winzigen Sterns“⁵⁶, Europa der Nabel der Welt war. Friedell betrachtet den Ausgang der Geschichte, angesichts der Zustände im Europa seiner Gegenwart, kaum verwunderlich, pessimistisch: „Und nun fällt eine schwarze Wolke über Europa; und wenn sie sich wieder teilt, wird der Mensch der Neuzeit dahingegangen sein“⁵⁷. Das heißt auch: Der europäische Mensch wird dahingegangen sein. Und nahezu prophetisch liest sich im heutigen Zeitalter des Virtuellen (des Digitalen) ein Satz wie: „Den Ausklang der Neuzeit bezeichnet die Erkenntnis: Es gibt keine Realien.“⁵⁸ In der Fortsetzung: „Es gibt keine Realitäten mehr, sondern nur noch Apparate: eine Welt von Automaten“⁵⁹. Erstaunlich hellsichtig beurteilt er Phänomene seiner Zeit und erkennt nahezu prophetisch, was im weiteren Verlauf der Geschichte Realität geworden ist. Ohne ideologische Scheuklappen stellt Friedell schon um 1930 fest: In der inneren Politik ist der Bolschewismus nichts als ein linker Zarismus mit Terror, Sibirien, Tscheka (die genau der früheren Ochrana entspricht), drakonischer Zensur, Index, einer höchst unduldsamen Staatsreligion (nur ist eben an die Stelle der Orthodoxie der marxistische Materialismus getreten)⁶⁰.

Und was damals als die Herrschaft der Trusts, Syndikate, Kartelle gegeißelt wird, lässt sich zwanglos auf die heutigen globalen Konzerne übertragen, die subtiler und effektiver die Menschen kontrollieren und manipulieren als je zuvor. Brüderlich ist ihm Oswald Spengler zuzugesellen, dessen Untergang des Abendlandes er eine „hinreißende Fiktion“⁶¹ nennt. Beide Denker, so darf man sie bezeichnen, erheben nicht den Anspruch auf methodisch fundierte Geschichtswissenschaft. Ihre Werke sind vielmehr wie auch die Dichtung, wenn man zum Beispiel an Robert Musil denkt, in vieler Hinsicht erhellend und belehrend, indem sie offizielle Ansichten und mancherlei Lehrbuchwissen als einseitig und bedingt entlarven, indem sie die Dinge in einem anderen Licht sehen und zeigen. Nicht

     

Friedell 1927–1931, 3. Friedell 1927–1931, 1490. Friedell 1927–1931, 1493. Friedell 1927–1931, 1513. Friedell 1927–1931, 1514. Friedell 1927–1931, 46.

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verschwiegen sei der rätselhafte Schluss von Friedells Buch. Abgesehen von der Beurteilung der Physik und Psychologie seit Einstein und Freud, die ich ausklammere, lauten die Sätze: „Die Seele ist überwirklich, die Materie unterwirklich. Zugleich aber erscheint ein schwacher Lichtschimmer von der anderen Seite. Das nächste Kapitel der europäischen Kulturgeschichte wird die Geschichte dieses Lichtes sein.“⁶² Der Ausdruck ‚Seele‘ ist nicht identisch mit dem der Psyche der objektivistischen Psychologie. Die Seele im Sprachgebrauch der Jahrhundertwende um 1900 bezeichnet als Metonymie die Gesamtheit des personalen Lebens in der Welt, bedeutet also nicht nur Innerlichkeit, Subjektivität. Heidegger spricht von der Transzendenz des Daseins, in dem ein Selbst ‚existiert‘: „Nur Seiendes, zu dessen Seinsverfassung die Transzendenz gehört, hat die Möglichkeit, dergleichen wie ein Selbst zu sein.“⁶³ Was also bleibt von der bis dato europäischen Seele? Sie ist tot, wenn sie nur in den großen Versprechen und Verheißungen leben konnte, die dem Dasein Sinn geben; seien es religiöse oder säkulare Heilsversprechen inklusive der Apokalypsen, sei es der Glaube (!) an die (wissenschaftliche) Vernunft und den technischen Fortschritt – aber wohin führt das alles?⁶⁴ Für Egon Friedell gab es keinen Ausweg aus der Härte der Realität, die 1938 in Gestalt der SA vor seiner Tür stand. Auf der Suche nach einer Antwort, was denn wohl das ‚zukünftige Licht‘ sein könnte, möchte ich ein anderes Zeugnis betrachten, das in der Zeit um 1930 verfasst wurde. Es war Edmund Husserl, der die wissenschaftliche Vernunft einer kritischen Analyse unterzog und eine Krisis des europäischen Menschentums erkannte. Wir dürfen darin durchaus die Krisis der europäischen Seele und des Begriffs der Humanität sehen. Edmund Husserls berühmter Vortrag von 1935 im Wiener Kulturbund trägt den Titel: Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie, der als Beilage Eingang fand in Husserls große letzte Abhandlung Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Das Europäische an Europa war bis dato auf der kulturellen Seite neben der Evolution der szientifischen Rationalität⁶⁵ das Christentum und der Humanitätsgedanke der Aufklärung; auf der politischen Seite der Wille zur Nation, zum Nationalstaat. Das ändert sich um 1900 – hier ist Nietzsche als die große Gestalt zu nennen – mit der radikalen Entlarvung und Destruktion der Wertgefüge des 19. Jahrhunderts, die der Erste Weltkrieg endgültig zerstörte. Man konnte nicht länger auf eine Wohlstand und Frieden stiftende segensreiche Ausbreitung von Vernunft und Wissenschaft  Friedell 1927–1931, 1523.  Heidegger 2018 [1927], 425.  Es bleibt die Frage nach dem Transzendenzbezug in einer säkularen Welt. Dazu habe ich einen weitläufigen Beitrag geliefert in Pott 2021.  Vgl. Luhmann 1992, 549–615.

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hoffen und auf eine wie immer geartete Erziehung des Menschengeschlechts. Stattdessen musste man einen Rückfall in die Barbarei erleben, die sich nach der Oktoberrevolution und nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten noch steigerte. Das Christentum und die Humanitätsreligion der Vernunft hatten dem nichts entgegen zu setzen. Man kann Husserls Vortrag nur aus der Zeitsituation heraus verstehen. Die ökonomischen Krisen, die Kämpfe zwischen Faschisten und Kommunisten, die Machtergreifung der Nationalsozialisten, all das musste von einem kritischen Geist als Krisis und Bedrohung des ‚europäischen Menschentums‘ wahrgenommen werden. Während die Naturwissenschaften Triumphe feierten, versagten die Geisteswissenschaften. Unter Nichtbeachtung aller Realität bestimmt Husserl die „geistige Gestalt Europas“ völlig idealistisch als „Epoche der Menschheit, die nunmehr bloß leben will und leben kann in der freien Gestaltung ihres Daseins, ihres historischen Lebens aus Ideen der Vernunft, aus unendlichen Aufgaben.“⁶⁶ Diese sind näher bestimmt mit der universalen Kritik alles Lebens und aller Lebensziele, aller aus dem Leben der Menschheit schon erwachsenen Kulturgebilde und Kultursysteme, und damit auch eine Kritik der Menschheit selbst und der sie ausdrücklich und ausdrücklich leitenden Werte; und in weiterer Folge eine Praxis, die darauf aus ist, durch die universale wissenschaftliche Vernunft die Menschheit nach Wahrheitsnormen aller Formen zu erhöhen, sie zu einem von Grund aus neuen Menschentum zu wandeln, befähigt zu einer absoluten Selbstverantwortung aufgrund absoluter theoretischer Einsichten.⁶⁷

Dieser Idealismus einer absoluten Vernunft muss uns heute befremden. Die Frage nach der Technik wird nicht einmal berührt. Und die Versuche der Verwirklichung eines neuen Menschen im Zuge der russischen Revolution endeten in den Gulags. Während eine bestimmte Form der wissenschaftlichen Rationalität von Europa aus die Welt erobert hat und universell geworden ist, so bleibt doch Kants Maxime der Aufklärung: Bediene dich deines eigenen Verstandes, bei Husserl gesteigert zu absoluter Selbstverantwortung, schlichtweg uneingelöst und unabgegolten. Der zweite Teil von Husserls Vortrags widmet sich nun aber einem „verirrenden Rationalismus“ und stellt die Ausführungen des ersten Abschnitts durchaus infrage als „intellektualistischen Snobismus“: „Wer wird solche Gedanken heute noch ernst nehmen?“⁶⁸ Husserls Kritik an der mathematischen und insgesamt methodischen Objektivierung richtet sich auf das Vergessen oder Ausblenden der

 Husserl 1954, 319.  Husserl 1954, 329.  Husserl 1954, 337.

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„leistenden Subjektivität“⁶⁹, der lebensweltlichen Bedingungen des Forschens und der Forscher. Einstein reformiert „nicht den Raum und die Zeit, in der sich unser lebendiges Lebens abspielt.“⁷⁰ Niklas Luhmann hat auf Husserl in seinem eigenen Wiener Vortrag 60 Jahre später in Form einer rettenden Kritik geantwortet. Auch Luhmann verkündet implizit den Untergang des Abendlandes in Form des europäischen Menschentums, wenn er konstatiert, dass dessen Krisis nicht „durch sich selbst“ behoben werden kann, wie Husserl noch glaubte.⁷¹ Die mörderischen Ideologien des 20. Jahrhunderts hatten Technik und Wissenschaft in ihren Dienst gestellt. Will man den europäischen ‚Geist‘ nach dem Untergang der Einheit von Judentum/Christentum und Antike, dem semitisch-orientalischen und dem antiken Ursprung, der in der hermeneutischen Übersetzung von Hebräisch ruah, in das Griechische pneuma, in Lateinisch spiritus, bis zum Geist und den Geistern beruhte (spirit, mind, ghost, spectre etc. in allen europäischen Sprachen), recht bezeichnen, so muss man wohl von seiner Austreibung sprechen, die Nietzsche in der Heraufkunft des Nihilismus beschwor: „Die Weltverdüsterung schließt eine Entmachtung des Geistes in sich, seine Auflösung, Auszehrung, Verdrängung und Mißdeutung.“⁷² Wir erkennen die Ab- und Umwertung alteuropäischer Werte wie Nation, Geschlecht, Religion, Volk, öffentliche Meinung. Selbst Demokratie und Freiheit werden zu leeren Vokabeln oder falschen Spielmarken im Spiel der Interessen und der Machtpolitik.⁷³ Wenn im 21. Jahrhundert eine Form von technologischer Rationalität viele Lebensbereiche ergreift und formt, die mit den digitalen Medien und Computertechniken verbunden sind, so bleibt doch die Macht des appetitus naturalis unangefochten. Man kann ihn mit dem Dionysischen identifizieren, es theologisch und moralisch als das Böse bezeichnen; es durchkreuzt jedenfalls all unsere schönen Vorstellungen von einer humanitären Weltordnung. Und so bleibt die ‚unendliche Aufgabe‘ (Husserl) der Vernunft, ohne den Husserlschen Idealismus, mit der abgeklärten Aufklärung eines Niklas Luhmann: „die Entlarvung und Diskreditierung

 Husserl 1954, 342.  Husserl 1954, 343.  Luhmann 1996, 18.  Vgl. Derrida 1992b, 72. Man müsste auch von der Destruktion und der Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik reden, von Derridas Heidegger-Lektüre also.  Es kann hier nicht darum gehen, den ‚heutigen‘ Geist Europas zu diskutieren. Man müsste von den wertvollen Beiträgen Jacques Derridas zu Europa 1989/1991 ausgehen. Siehe Derrida 1992a. Die Jahre der ‚Wende‘, das damalige Heute, sind zwar vergangen, die Essays sind aber nach wie vor hochaktuell. Einzig die gigantische Ausweitung des Medialen konnte noch nicht in den Focus geraten. Vgl. auch mit Bezug zu Derrida meinen Beitrag Pott 2007.

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offizieller Fassaden, herrschender Moralen und dargestellter Selbstüberzeugungen“⁷⁴. Das ist nur scheinbar ein Minimalprogramm. Angesichts der schrecklichen Folgen einer Politik der Verwirklichung (zugleich Vernichtung) von ‚großen‘ Ideengebäuden in Faschismus und Nationalsozialismus empfiehlt es sich, auf die großen Entwürfe für die Zukunft zu verzichten. Die tägliche Kleinarbeit der Vernunft, das Kesselflicken an Missständen, ist mühevoll genug, und es bedarf immer des Mutes, sich seines Verstandes zu bedienen, um die Hydraköpfe der Ideologien abzuschlagen, die sich aus einer Enttäuschungsresistenz von Idealen und Ideen an ihrem Scheitern in der Lebenswirklichkeit erheben. Es gibt keinen Grund für Pessimismus, denn man kann nicht beklagen, was man nicht kennt: das Morgen …

Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W. Negative Dialektik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1970. [Original 1966]. Curtius, Ernst Robert. Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern und München: Franke, 1948. Derrida, Jacques. Grammatologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974 [Original 1967]. Derrida, Jacques. Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992a. Derrida, Jacques. Vom Geist. Heidegger und die Frage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992b. Duden. Deutsches Universalwörterbuch. Mannheim, Leipzig, Wien und Zürich: Dudenverlag, 2001. Duden online. https://www.duden.de/rechtschreibung/Okzident [Abruf: 03. 02. 2022]. Eliot, Thomas Stearnes. Gesammelte Gedichte 1909–1962. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988. Friedell, Egon. Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg. 3 Bde. München: C. H. Beck, o. J. [Original 1927–1931]. Goethe, Johann Wolfgang von. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden (HA). Hg. Erich Trunz. München: C. H. Beck, 1949–1972. Goethe, Johann Wolfgang von. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe (MA). Hg. Karl Richter. München: Carl Hanser, 1985–2014. Goethe, Johann Wolfgang von. Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 7.I. Hg. Georg Kurscheidt. Berlin: Akademie Verlag, 2012. Heidegger, Martin. Gesamtausgabe. Bd. 2: Sein und Zeit. Hg. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2018 [Original 1927]. Hölderlin, Friedrich. Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 2. Hg. Michael Knaupp. München: Carl Hanser, 1992. Husserl, Edmund. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Hussaliana VI. Haag: M. Nijhoff, 1954. Luhmann, Niklas. Soziologische Aufklärung 1. 3. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1972. Luhmann, Niklas. Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992.

 Luhmann 1972, 69.

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Luhmann, Niklas. Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie. Vortrag im Wiener Rathaus am 25. Mai 1995. Wien: Picus, 1996. Nietzsche, Friedrich. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA). Hg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: dtv, 1999. Polaschegg, Andrea. Der andere Orientalismus: Regeln deutsch-morgenländischer Imaginationen im 19. Jahrhundert. Berlin und New York: De Gruyter, 2005. Pott, Hans-Georg. Kurze Geschichte der europäischen Kultur. Paderborn: Fink, 2005. Pott, Hans-Georg. „‚Feinde, es gibt keine Feinde!‘ – Derridas Politiques de l’amité als Replik auf die Wende 1989/90“. In: Die ‚Wende‘. Hg. Izabela Surynt und Marek Zybura. Hamburg: DOBU, 2007, 42–50. Pott, Hans-Georg. Kontingenz und Gefühl. Studien zu/mit Robert Musil. München: Fink, 2013. Pott, Hans-Georg. Aufklärung über Religion. Berlin: Schwabe, 2021. Said, Edward. Orientalismus. Berlin: Ullstein, 1981 [englisches Original 1978]. Timm, Hermann. Dichtung des Anfangs. Die religiösen Protofiktionen der Goethezeit. München: Fink, 1996. Trakl, Georg. Das dichterische Werk. München: dtv, 1972. Trabant, Jürgen. „Alexander von Humboldt über Erdgewalt und Geisteskraft in der Sprache“. In: Wort Macht Stamm. Hg. Markus Messling und Ottmar Ette. Paderborn: Fink, 2019, 137–151. Wiethölter, Waltraud; Pott, Hans-Georg und Alfred Messerli. Stimme und Schrift. München: Fink, 2008.

Oliver Victor

„Aber Heimat fand ich nirgends“ Nietzsches wandernder Europäer

1 Nietzsche, Europa und Wanderschaft Friedrich Nietzsche zählt unbestritten zu den festen Größen der europäischen Geistesgeschichte, insofern sich das Adjektiv ‚europäisch‘ auf den geographischen Raum des Kontinents Europa bezieht und Nietzsche zum einen sowohl ein in Europa lebender als auch wirkender Denker, zum anderen aber auch ein inhaltlich an die Diskurse der Geistesgeschichte Europas anknüpfender Philosoph war. Dass Nietzsche darüber hinaus in einem tiefergehenden und inhaltlich-philosophisch gehaltvolleren Sinne als ein europäischer Denker, ja sogar Klassiker des europäischen Denkens bezeichnet werden kann, zeigt seine Vision von beziehungsweise für Europa als kulturelles oder im weitesten Sinne auch politisches Gebilde, als dessen Konstituens und Leitfigur Nietzsche den von ihm so titulierten ‚guten Europäer‘¹ konzipiert. Hierbei – und das sei bereits an dieser Stelle vorangeschickt – unterscheidet Nietzsche zwischen einem geographischen und einem kulturellen Europabegriff, wobei letzterer sich ausdrücklich nicht auf geographische oder kontingente Landesgrenzen beschränken muss oder gar sollte, sondern vielmehr losgelöst von diesen zu denken sei. Indem er seinen kulturellen Europabegriff mit dem Begriff der Moderne verbindet, merkt er beispielsweise einerseits an, dass ein solcher Europabegriff über die Grenzen des Kontinents hinausgeht – dabei rekurriert er unter anderem auf Amerika als ‚Tochter-Kultur‘ Europas –, andererseits jedoch nicht eo ipso der gesamte Kontinent ‚Europa‘ unter diesen europäischen Kulturbegriff zu subsumieren ist.² Die in seinem Sinne verstandene europäische Moderne

Ich danke Matthias Ernst Bähr für die kritische Durchsicht des Manuskripts.  Der Ausdruck ‚guter Europäer‘ taucht bei Nietzsche zum ersten Mal bereits in seinem frühen Werk Menschliches, Allzumenschliches I auf; siehe Nietzsche Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, 309. Auf den dortigen Aphorismus Nr. 475 werden wir detaillierter in Abschnitt 3. des vorliegenden Beitrags eingehen.  Siehe Nietzsche Menschliches, Allzumenschliches II, KSA 2, 650: „Hier, wo die Begriffe ‚modern‘ und ‚europäisch‘ fast gleich gesetzt sind, wird unter Europa viel mehr an Länderstrecken verstanden, als das geographische Europa, die kleine Halbinsel Asien’s, umfasst: namentlich gehört Amerika hinzu, soweit es eben das Tochterland unserer Cultur ist. Andererseits fällt nicht einmal ganz Europa unter https://doi.org/10.1515/9783110793062-008

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zeichne sich vor allem durch „die Ablehnung der nationalen, ständischen und individuellen Eitelkeit“³ aus. Das Zusammenbringen von ‚modern‘ und ‚europäisch‘ veranschaulicht Nietzsche in Menschschliches, Allzumenschliches II anhand der Mode und des modernen Kleidungsstils, welcher Nationaltrachten immer mehr hinter sich lasse und sich somit auf diesem Gebiet vom Gedanken des Nationalen verabschiede.⁴ Möchte man Nietzsche zu den Klassikern des europäischen Denkens zählen, so muss hinzugefügt werden, dass man keinesfalls mit der Erwartung an sein Werk herantreten sollte, dort ein ausgearbeitetes, einheitliches, konsistentes und in naher Zukunft realisierbares Konzept für Europa als politisches Gebilde vorzufinden. Nietzsche zählt nicht zu den Denkern, die einen konkreten Plan zur europäischen Einigung mit einem genuin politischen Interesse, wie wir ihm etwa beim Herzog von Sully im 17. Jahrhundert begegnen,⁵ entwerfen möchten. Die Bezeichnung ‚Klassiker‘ möchte ich hier in dem weiten Sinne verstanden wissen, wie sie auch Winfried Böttcher in seinem Lexikon Klassiker des europäischen Denkens gebraucht: Demnach ist ein Klassiker „eine Persönlichkeit, die in ihrer Zeit mit innovativen Gedanken diese geprägt, Diskurse angestoßen hat, aber deren Gedanken auch bis in unsere Zeit Wirkung zeigen.“⁶ Zu Klassikern europäischen Denkens werden solche herausragenden Persönlichkeiten, insofern sich ihre innovativen Gedanken auf Europa als geographischen, historischen, kulturellen, politischen oder auch ideengeschichtlichen Ort beziehen. Nietzsches Beschäftigung mit Europa ist vielfältig und durchzieht sein gesamtes Werk: Mal geht es um die Wirkungsgeschichte des Christentums und dessen Moral, mal um das Verhältnis des Judentums zu Europa, mal um die Tradition des Platonismus, an anderer Stelle wiederum um das Zeitalter der Renaissance oder auch die soziokulturellen und politischen Ereignisse seiner Zeit mit einem besonderen Augenmerk auf die Bildung von Nationalstaaten im 19. Jahrhundert. Freilich bedarf es demnach einer inhaltlichen Fokussierung, möchte man sich der Thematik ‚Nietzsche und Europa‘ in dem hier begrenzten Rahmen annehmen. Im vorliegenden Beitrag soll das Thema ‚Europa‘ zu einem weiteren, für das Œuvre Nietzsches zentralen Sujet in Beziehung gesetzt werden: dem Motiv des Wanderers beziehungsweise der Wanderschaft. Letzterer Topos nimmt insbesondere in Nietzsches

den Cultur-Begriff ‚Europa‘; sondern nur alle jene Völker und Völkertheile, welche im Griechen-, Römer-, Juden- und Christenthum ihre gemeinsame Vergangenheit haben.“  Nietzsche Menschliches, Allzumenschliches II, KSA 2, 650.  Vgl. Nietzsche Menschliches, Allzumenschliches II, KSA 2, 650.  Zum politischen Plan einer europäischen Einigung des Herzogs von Sully siehe den Beitrag von Sebastian Hansen im vorliegenden Band.  Böttcher 2014, 13.

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Anthropologie eine wesentliche Funktion ein und wurde zu einem Charakteristikum des nietzscheschen Menschenbildes.⁷ Im Folgenden soll dafür argumentiert werden, dass gerade das In-Beziehung-Setzen dieser zwei Sujets es ermöglicht, Nietzsches Vision von Europa als kulturelles Gebilde auch für heutige Fragen nach der Herkunft und Zukunft Europas fruchtbar zu machen. Was verbindet also die drei Lemmata ‚Nietzsche‘, ‚Europa‘ und ‚Wanderschaft‘? Nietzsches Europabild ist nicht losgelöst von seinen metaphysischen, anthropologischen und kulturphilosophischen Prämissen zu denken. Dass der Kulturphilosoph Nietzsche zu Recht als ein Klassiker des europäischen Denkens im oben genannten Sinne verstanden werden kann, hat die Forschung in den letzten Jahrzehnten vermehrt herausgearbeitet.⁸ Nietzsche ist eben nicht nur in der Hinsicht mit dem Kontinent Europa und dem Motiv der Wanderschaft verbunden, als dass er gewissermaßen ein europäisches Nomadenleben und eine Wanderexistenz im wahrsten Sinne des Wortes führte – auch wenn das ebenso zutrifft. So ist Nietzsches Leben geprägt durch ständige Ortswechsel: Basel, Sils Maria, Turin, Naumburg, Nizza,Weimar – um hier nur einige wenige Stationen zu nennen.⁹ Diese Orte stehen nicht zuletzt in direkter Verbindung zu seiner Philosophie selbst – man denke allein an seinen allseits bekannten Gedanken der Ewigen Wiederkunft des Gleichen, den Nietzsche expressis verbis an den Ort und die Landschaften von Sils Maria knüpft. So merkt er in einer Notiz zum Wiederkunftgedanken an: „Anfang August 1881 in Sils-Maria, 6000 Fuss über dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen! —“¹⁰ Topographische, geographische sowie historische Gegebenheiten und Umstände nehmen bei Nietzsche Einfluss auf das Philosophieren selbst. Bestimmte Orte sind somit nicht nur für seinen persönlichen Lebensweg, sondern auch für seine Denkerbiographie von Relevanz. Nietzsches Philosophie wurde geboren aus dem Geist und den Stationen eines philosophischen Nomadenlebens in Europa.¹¹ Solchen Motiven geht unter anderem die sogenannte ‚Geophilosophie‘ nicht zuletzt anhand von Nietzsche nach.¹² Das durch die Vereinnahmung des Nationalsozialismus forcierte Bild eines vermeintlich ‚germanischen‘ oder nationalistischen Nietzsche sowie die biologistische Interpretation der Übermenschenkonzeption im Kontext des Darwinismus

 Vgl. Victor 2020.  Exemplarisch sei hier nur auf den jüngst erschienenen Band mit dem programmatischen Titel European/Supra-European: Cultural Encounters in Nietzsche’s Philosophy hingewiesen. Vgl. Brusotti et al. 2020.  Bei Bernet 2009, 241 findet sich eine „Philosophische Reisekarte“ zu Nietzsche.  Nietzsche Nachlass, KSA 9, 494.  Vgl. Ebeling 2007, 253.  Vgl. Günzel 2001.

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gehören mittlerweile größtenteils der Vergangenheit an. So vermag es heute auch nicht mehr zu überraschen, Nietzsche gerade nicht einem nationalistischen Denken, sondern vielmehr einem übernationalen, einem europäischen, ja letztlich sogar – wie im Laufe des Beitrags zu zeigen sein wird – einem übereuropäischen Denken zuzuordnen. Natürlich soll dadurch nicht geleugnet werden, dass sich bei Nietzsche durchaus ebenso streitbare, teils irritierende oder mitunter sogar für die heutige Leserschaft abstoßende Aussagen finden, insbesondere was seine Äußerungen zur Herren- und Sklavenmoral in Zur Genealogie der Moral betrifft.¹³ Jener Passagen zum Trotz möchte hiesiger Beitrag Nietzsche als Klassiker des europäischen Denkens in den Mittelpunkt rücken, wobei nicht zuletzt deutlich wird, dass sein Konzept einer nationenübergreifenden, europäischen Kultur verteilt über sein gesamtes Werk und die Grenzen der drei verschiedenen Schaffensphasen hinaus zu finden ist. Vorangeschickt werden muss noch, dass in der vorliegenden Untersuchung der Interpretation der sogenannten ‚Lehren‘ Nietzsches (Ewige Wiederkunft des Gleichen, Übermensch, Wille zur Macht, große Politik et cetera) als ‚Anti-Lehren‘¹⁴ gefolgt wird. Unter einer Anti-Lehre wird dabei das Lehren gegen das Lehren überhaupt im Sinne eines Verkündens allgemeingültiger Ideale verstanden. Wir werden darauf an den relevanten Stellen eigens zu sprechen kommen. In einem ersten Schritt wird nun den anthropologischen und metaphysischen Prämissen von Nietzsches Philosophie, insofern sie für unsere Überlegungen hier von Bedeutung sind, nachgegangen. Dabei wird freilich bereits vorausblickend auf seine Kulturphilosophie sowie seine politische Philosophie Bezug genommen. Daran anknüpfend, soll Nietzsches Bild des Menschen als Wanderer ohne Ziel mit seinem Konzept des ‚guten Europäers‘ in Verbindung gebracht werden, um abschließend die Trias ‚übernational, europäisch, übereuropäisch‘ zu analysieren. Nietzsches Bild des guten Europäers wird so anhand seiner Wanderer-Metaphorik, die sich wie ein Ariadnefaden durch sein Œuvre hindurchzieht, ausgeleuchtet.

 Man denke zum Beispiel an das Schlagwort der ‚blonden Bestie‘; siehe Nietzsche Zur Genealogie der Moral, KSA 5, 275. Dieses Schlagwort sollte jedoch nicht voreilig rassistisch oder biologistisch interpretiert werden, sondern vielmehr vor dem Hintergrund von Nietzsches gesamter Philosophie und der in ihr verwendeten vieldeutigen Figuren, Metaphern und Symbole gelesen werden. Siehe dazu Brennecke 1976.  Diese Interpretation geht auf Stegmaier 2000a, 191–211 zurück. Eine kurze Darstellung dazu findet sich auch bei Stegmaier 2013, 160–161.

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2 Der Mensch: ein heimatloser Wanderer Nietzsches Menschenbild bewegt sich fernab jeglicher präfixierten und allgemeingültigen Idealbilder des Mensch-Seins sowie einer festen Wesensbestimmung des Menschen. Für ihn gibt es weder ein vorherbestimmtes Ziel, das für den einzelnen Menschen oder gar die gesamte Menschheit anzustreben wäre, noch eine für alle Menschen gleichermaßen ideale und vollkommene Lebensform. Auch angesichts der zentralen Frage der Anthropologie ‚Was ist der Mensch?‘ scheitern nach Nietzsche klassische Wesensbestimmungen des Menschen, was nicht zuletzt in seiner weit über die Nietzscheforschung hinaus bekannt gewordenen Umschreibung des Menschen als „ n i c h t f e s t g e s t e l l t e [ s ] T h i e r “¹⁵ paradigmatisch zum Ausdruck kommt. Der Mensch, genauer gesagt jeder einzelne Mensch, ist insofern ‚nicht-festgestellt‘, als er nicht auf eine bestimmte inhaltliche Lebensweise, die ihm vonseiten einer höheren metaphysischen oder religiösen Instanz vorgegeben wäre, hin festgelegt ist. Damit wird selbstverständlich nicht bestritten, dass es gewisse Eigenschaften oder Merkmale etwa biologischer Natur gibt, die uns allen als Menschen gemeinsam sind. Bei diesen handelt es sich jedoch um eine rein formelle Grundlage, vor deren Hintergrund jeder einzelne Mensch seine Existenz frei gestalten kann, ja sogar muss. Nietzsche legt den Fokus auf das einzelne Individuum, dessen Bedürfnisse und spezifische Lebenssituationen. Im Sinne eines Individualismus muss jeder Einzelne sein Leben selbst gestalten, sich eigene Ziele setzen, diese realisieren und dafür die Verantwortung übernehmen. In Nietzsches Metaphorik gleicht der Mensch so einem Wanderer ohne Ziel: Weder der Lebensweg selbst noch das Lebensziel sind a priori festgelegt. Diese basale Beschreibung der conditio humana im Allgemeinen schlägt sich – wie wir sehen werden – auch in Nietzsches Konzept des guten Europäers und seiner damit einhergehenden Vorstellung eines kulturell geeinten Europas im Besonderen nieder. Werfen wir einen Blick auf folgenden Passus aus der Fröhlichen Wissenschaft, welcher zunächst ganz grundlegend die Situation des Menschen in der Welt nach dem Tod Gottes, der hier symbolisch für ein Hinter-sich-Lassen metaphysischer Wahrheiten überhaupt steht,¹⁶ beschreibt: „Wir Kinder der Zukunft, wie v e r m ö c h t e n wir in diesem Heute zu Hause zu sein! Wir sind allen Idealen abgünstig, auf welche hin einer sich sogar in dieser zerbrechlichen, zerbrochenen Ueber-

 Nietzsche Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, 81.  So richtet sich Nietzsches Diagnose vom Tod Gottes nicht in erster Linie und ausschließlich an einen personalen Gott der monotheistischen Religionen, sondern steht für die Negation, „überhaupt die Möglichkeit einer transzendenten, objektiven Sicht auf die Wirklichkeit, die jenseits unserer menschlich-all-zu-menschlichen Perspektiven liegt“ (Braver 2017, 67), einnehmen zu können.

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gangszeit noch heimisch fühlen könnte“¹⁷. Die Situation des Einzelnen in der Welt wird in Nietzsches bildreicher Sprache vergleichbar mit der eines Wanderers ohne Heimat und ohne ein vorherbestimmtes oder endgültig zu erreichendes Ziel: „Wer nur einigermaassen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als Wanderer, – wenn auch nicht als Reisender n a c h einem letzten Ziele: denn dieses giebt es nicht.“¹⁸ Der Mensch wird zu einem Wanderer ohne Ziel, der sich und sein Leben weder auf ein allen Menschen gemeinsames Wesen stützen noch auf ein objektiv zu erreichendes Telos, das dem Leben als Ganzem oder seinem eigenen, individuellen Leben einen universellen Sinn verleihen würde, hin ausrichten kann. Einmal zur Freiheit der Vernunft gelangt, das heißt sich der Entwertung der alten Werte bewusst geworden, ist dem Menschen kein universeller Sinn als Orientierungspunkt für sein Handeln und Leben mehr gegeben. Die Freiheit der Vernunft steht am Ende eines mühsamen Befreiungsprozesses der Vernunft, zu dem jeder Einzelne sich eigens aufschwingen muss, indem er bisher unhinterfragte und tradierte ‚Wahrheiten‘ europäischer Philosophie als Scheinwahrheiten entlarvt und sich so von nicht durch ihn selbst gesetzten Idealen und Werten befreit. In einem Gedicht aus den Fragmenten des Jahres 1884 heißt es in Bezug auf den Typus des freien Geistes, das heißt ebenjenes Menschen, der zur Freiheit der Vernunft gelangt ist: „Wer Das verlor, Was du verlorst, macht nirgends Halt.“¹⁹ Mit diesem „Das“ spielt Nietzsche dort auf eine metaphysische, positiv ausformulierbare Wesensbestimmung des Menschen an, die dem freien Geist nicht mehr zur Verfügung steht, da er sich ihrer Illusionshaftigkeit bewusst geworden ist.²⁰ Im Zuge einer fundamentalen Kritik klassischer Wesensphilosophie und abendländischer Metaphysiktradition überhaupt läutet folglich Nietzsche – mit Jürgen Habermas gesprochen – das im Duktus eines ‚nachmetaphysischen Denkens‘²¹ philosophierende 20. Jahrhundert ein. Im Rahmen seiner umfassenden Kritik an absoluten Wahrheiten initiiert Nietzsche demnach eine Umwertung tradierter Werte auf den Gebieten der Metaphysik, Anthropologie, Moral und Religion, die ebenso in seine im weiten Sinne als kulturphilosophisch und politisch zu verstehenden Reflexionen zu einer möglichen europäischen Kultur der Zukunft Einzug erhält. Der bereits angesprochene Aphorismus 377 der Fröhlichen Wissenschaft bringt nun die anthropologischen Aspekte mit den kulturphilosophischen und politischen Motiven zusammen. Der Mensch ist ohne Heimat, das heißt ohne festen, objektiven     

Nietzsche Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 628–629. Nietzsche Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, 362–363. Nietzsche Nachlass, KSA 11, 329. Vgl. Victor 2021, 195–199. Vgl. Habermas 1988.

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Anker- und Orientierungspunkt für sein Denken und Handeln, auf sich selbst zurückverwiesen, aller alten Ideale und Normen – wobei Nietzsche vor allem die abendländisch-christliche Moral vor Augen hat – abtrünnig, da er sich ihrer als Illusionen bewusst geworden ist. Jedes normative ‚Du sollst‘ vermeintlicher Autoritäten, das ein Idealbild des Menschen zeichnet, verkennt die mannigfaltige Wirklichkeit individueller Lebensentwürfe und gilt es demnach zu überwinden.²² Genauso wie sich Nietzsche von Allgemeinbegriffen wie ‚Menschheit‘ oder ‚Mensch überhaupt‘ distanziert, so auch von politischen Abstrakta wie Nationalismen – egal welcher Couleur: Nein, wir lieben die Menschheit nicht; andererseits sind wir aber auch nicht ‚deutsch‘ genug, wie heute das Wort ‚deutsch‘ gang und gäbe ist, um dem Nationalismus und dem Rassenhass das Wort zu reden, um an der nationalen Herzenskrätze und Blutvergiftung Freude haben zu können, derenthalben sich jetzt in Europa Volk gegen Volk wie mit Quarantänen abgrenzt, absperrt. Dazu sind wir zu unbefangen, zu boshaft, zu verwöhnt, auch zu gut unterrichtet, zu „gereist“²³.

Unabhängig von den Assoziationen, die solche Sätze im Hinblick auf die europäische Politik zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie hervorzurufen vermögen, zeigt sich, wie der weitere Verlauf des Aphorismus verrät, dass sich hinter dem ‚wir‘ Nietzsches Schlagwort des ‚guten Europäers‘ verbirgt. Wir, das sind die „Heimatlosen“, die Wanderer ohne präfixierte Ziele, die „modernen Menschen“, die Nietzsche dem Wahn der „Rassen-Selbstbewunderung“ seiner deutschen Zeitgenossen gegenüberstellt: „Wir sind, mit Einem Worte – und es soll unser Ehrenwort sein! – g u t e E u r o p ä e r “²⁴. Dieser gute Europäer – und natürlich auch diese gute Europäerin²⁵ – ist gewissermaßen das Pendant des freien Geistes auf der Ebene der Kultur und des Politischen. Ebenso wenig wie es einen ‚Menschen überhaupt‘ gibt, so fußen die zu seiner Zeit sich konstituierenden und allzu häufig umjubelten Nationalstaaten nach Nietzsche auf illusionären Vorstellungen fester Nationalitäten – metaphysischen Scheinwahrheiten eben –, von denen der gute Europäer sich nicht

 Siehe dazu Nietzsche Götzen-Dämmerung, KSA 6, 86–87: „Erwägen wir endlich noch, welche Naivetät es überhaupt ist, zu sagen ‚so und so s o l l t e der Mensch sein!‘ Die Wirklichkeit zeigt uns einen entzückenden Reichthum der Typen, die Üppigkeit eines verschwenderischen Formenspiels und -Wechsels: und irgend ein armseliger Eckensteher von Moralist sagt dazu: ‚nein! der Mensch sollte a n d e r s sein‘?… Er weiss es sogar, wie er sein sollte, dieser Schlucker und Mucker, er malt sich an die Wand und sagt dazu ‚ecce homo!‘…“.  Nietzsche Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 630.  Nietzsche Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 631.  Bei der Bezeichnung ‚guter Europäer‘ sind im Folgenden alle Geschlechter mitzudenken. Der Lesbarkeit halber wird auf das explizite Gendern bei jeder einzelnen Nennung verzichtet.

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(mehr) blenden lässt. Es gibt weder ein Wesen des Menschen noch ein Wesen des Deutschen oder auch des Französischen. Für Nietzsche sind Nationalismen – wie Allgemeinbegriffe insgesamt – nur künstliche Konstrukte des menschlichen Geistes, die lediglich einen scheinbaren Halt gewähren und gemäß der anthropologischen Figur des Wanderers im Sinne eines ständigen Unterwegsseins überwunden werden müssen, damit der Mensch als Individuum seine Potenziale frei entfalten kann. Nietzsche möchte den Menschen, um sich eines weiteren Bildes zu bedienen, von seinem sich selbst auferlegten metaphysischen ‚Korsett‘ befreien; und das sowohl im Bereich der Moral, der Religion als auch der Kultur und des Politischen. Dabei ist sich Nietzsche sehr wohl bewusst, dass der Weg zur Freiheit des Geistes ein langwieriger und anstrengender Prozess ist. Dies nicht zuletzt, da uns die alten, tradierten Werte, „eine Summe von kommandirenden Werthurteilen“, wie Nietzsche sich ausdrückt, „in Fleisch und Blut übergegangen sind.“²⁶ Zugleich müssen wir zuallererst durch diese Werte hindurch gehen, um das reiche Erbe Europas antreten zu können, wie Nietzsche am Beispiel der christlichen Moral veranschaulicht: So sind die guten Europäer „die reichen, überhäuften, aber auch überreich verpflichteten Erben von Jahrtausenden des europäischen Geistes: als solche aus dem Christenthum entwachsen und abhold, und gerade, weil wir a u s ihm gewachsen sind“²⁷. Nicht zufällig führt Nietzsche als Grund für die Ablehnung von Nationalismen seitens der guten Europäer an, diese seien, wie er formuliert, zu ‚gereist‘. Das Reisen beziehungsweise die Reise kann einen genuin aufklärerisch-philosophischen Anspruch und Gehalt haben, indem sie uns mit Bräuchen, Sitten und Ritualen fremder Kulturen konfrontiert und – insofern wir uns weitestgehend vorurteilsfrei auf den neuen Kulturkreis einlassen – zur kritischen Selbstreflexion der eigenen Gesellschaft und Kultur anregen kann.²⁸ In Menschliches, Allzumenschliches II unterscheidet Nietzsche zwischen fünf Graden von Reisenden, wobei er dem höchsten Grad jene gerade angesprochene Emanzipation des Geistes zuspricht: „[E]ndlich giebt es einige Menschen der höchsten Kraft, welche alles Gesehene, nachdem es erlebt und eingelebt worden ist, endlich auch nothwendig wieder aus sich herausleben müssen, in Handlungen und Werken, sobald sie nach Hause zurückgekehrt sind.“²⁹ Und gut drei Jahre zuvor notierte er bereits: „Wir modernen Men-

 Nietzsche Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 633.  Nietzsche Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 631.  Dem Reisen als einem für die Philosophie relevanten Motiv bin ich an anderer Stelle mit Blick auf die französische Aufklärung ausführlicher nachgegangen. Siehe dazu Victor 2022. Christiane Schildknecht hat sich mit dem Reisen u. a. als durch Konfrontation mit dem Fremden initiierte Selbsterfahrung auseinandergesetzt. Siehe dazu Schildknecht 1996.  Nietzsche Menschliches, Allzumenschliches II, KSA 2, 483.

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schen müssen alle viel unserer geistigen Gesundheit wegen reisen: und man wird immer mehr reisen, je mehr gearbeitet wird. An den Reisenden haben sich also die zu wenden, welche an der Veränderung der allgemeinen Ansichten arbeiten.“³⁰ Das Reisen, insofern es von ‚modernen Menschen‘ praktiziert wird, die in dem oben genannten Sinne als gute Europäer und freie Geister klassifiziert werden können, erfüllt eine aufklärerische, das heißt die Freiheit der Vernunft befördernde Funktion im Bereich des Kulturellen und Politischen. En passant lässt sich hierzu noch anmerken, dass Nietzsche dabei seinem Idol und Vorbild Michel de Montaigne folgt, für den das Reisen gleichermaßen den Geist zu schulen vermag, indem die Reise einerseits der Erweiterung des eigenen Wissens, andererseits der kritischen Selbstreflexion diene.³¹

3 Der gute Europäer als ein wandernder Europäer Die guten Europäer und freien Geister Nietzsches verstehen sich gemäß des bereits mehrfach angeführten Aphorismus 377 aus Die fröhliche Wissenschaft als ‚supranational‘, sie stehen für eine Nationen, Grenzen und Kulturen überschreitende sowie umfassende Nomaden- und Wanderexistenz. Sie sind in der Lage, in sich selbst mehrere europäische – und auch außereuropäische – Kulturen zu vereinen³² und sich ihre eigenen, höchst persönlichen Ziele und Ideale zu erschaffen, wobei sie sich an der Maxime eines „geistigen Nomadenthum[s]“³³ orientieren. Dafür müssen sie letztlich nicht nur verschiedenen europäischen, sondern auch Kulturen aus anderen Weltkreisen offen begegnen können. Im Umgang mit allen kulturellen Praktiken gilt dabei, diese stets zu hinterfragen, mitunter zu transzendieren und im Zuge dessen auch eigene Gepflogenheiten hinter sich zu lassen. Bereits die rhapsodischen Erläuterungen zu Nietzsches Anthropologie unter Rekurs auf die Wanderer-Metaphorik in Abschnitt 2. ließen erkennen, dass Nietzsche eine ständige Selbst-Überwindung, das heißt Selbsttranszendierung des Menschen zu intendieren scheint, die jeder Einzelne wiederum für sich selbst vollziehen muss, um seiner eigenen Existenz – seinem Wanderpfad, um das Bildnis erneut aufzugreifen – Ge-

 Nietzsche Nachlass, KSA 8, 473.  So lesen wir in den Essais zum Beispiel: „Ich wüßte […] keine bessere Schule, uns im Leben weiterzubilden, als ihm [dem Geist] unausgesetzt die Mannigfaltigkeit so vieler andrer Daseinsweisen, Anschauungen und Gebräuche vorzuführn und ihn an diesem ewigen Wandel der Erscheinungsformen unsrer Natur Geschmack finden zu lassen.“ (Montaigne 2002, 3. Buch, 297).  Vgl. Brusotti et al. 2020, XXI.  Nietzsche Menschliches, Allzumenschliches II, KSA 2, 469. In Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, 182 spricht Nietzsche von einer „wesentlich übernationalen und nomadischen Art Mensch“.

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stalt zu verleihen. Demnach könnte die kontrovers diskutierte ‚Lehre‘ vom Übermenschen als ein prinzipiell unabschließbares Über-sich-Hinausgehen interpretiert werden und das Präfix ‚Über‘ somit auf einen durch jeden Einzelnen zu vollziehenden Selbsttranszendierungsprozess verweisen. Einer solchen Anthropologie folgend, sind die guten Europäer in einem kulturphilosophischen und politischen Sinne übernational und letztlich sogar, wie sich zeigen wird, übereuropäisch. Hier wird deutlich, wie eng bei Nietzsche Metaphysik, Anthropologie, Kulturphilosophie und Politik miteinander verzahnt sind. Das Nationale wird Nietzsche zum Feind des guten Europäers sowie der ‚freien Geister‘ und letztlich zur Krankheit seines Jahrhunderts,³⁴ das heißt, es markiert einen Rückfall in alte Scheinwahrheiten auf dem Gebiet des Politischen. Die Bildung von Nationalstaaten ist für ihn ein Anzeichen von Dekadenz – ein Bild, das der Nietzscheaner Albert Camus in den 1930er Jahren wieder aufgriff.³⁵ Mit Damir Barbarić ist es an dieser Stelle richtig und wichtig zu betonen, dass der metaphysische und anthropologische Hintergrund bei Nietzsches Kulturkritik stets mitzudenken ist: Seine immer wieder unternommenen leidenschaftlichen, oft anscheinend nur intuitiv verfahrenden Versuche, die entscheidenden Phänomene der europäischen Gegenwart zu klären, sind in Wahrheit die ernst zu nehmenden […] Versuche, die metaphysische Grundkonstellation unserer Übergangszeit zu einer zureichenden begrifflichen Fassung zu bringen.³⁶

Der gute Europäer muss die Fähigkeit entwickeln, Distanz zu sich selbst, zu den einzelnen Nationalstaaten und letztlich zu Europa insgesamt, das heißt zu seiner eurozentristischen Perspektive, gewinnen zu können: ganz gemäß Nietzsches anthropologischem Motiv der ständigen Selbst-Überwindung und seines erkenntnistheoretischen Perspektivismus.³⁷ Selbst-Überwindung bezeichnet hier einen Prozess konstruktiver Selbstkritik, den Individuen und Kollektive gleichermaßen

 Vgl. Nietzsche Menschliches, Allzumenschliches II, KSA 2, 593. Im Nachlass lesen wir: „Giebt es irgend einen Gedanken hinter diesem Hornvieh-Nationalismus?“ (Nietzsche Nachlass, KSA 13, 92).  Vgl. Camus 2021, 14.  Barbarić 2007, 60.  Siehe u. a. Nietzsche Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, 205: „Ohne das P a t h o s d e r D i s t a n z , wie es aus dem eingefleischten Unterschied der Stände, aus dem beständigen Ausblick und Herabblick der herrschenden Kaste auf Unterthänige und Werkzeuge und aus ihrer ebenso beständigen Übung im Gehorchen und Befehlen, Nieder- und Fernhalten erwächst, könnte auch jenes andre geheimnissvollere Pathos gar nicht erwachsen, jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltnerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände, kurz eben die Erhöhung des Typus ‚Mensch‘, die fortgesetzte ‚Selbst-Überwindung des Menschen‘, um eine moralische Formel in einem übermoralischen Sinne zu nehmen.“

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vollziehen müssen,³⁸ um nicht einer erneuten Illusion so genannter absoluter Wahrheiten zu erliegen. Der gute Europäer muss also auch mit den Selbstgefälligkeiten der Europäer brechen.³⁹ Hier erweist sich Nietzsche insofern als Klassiker, als seine Mahnungen in unserer heutigen Zeit weiterhin nichts an Relevanz eingebüßt haben. Um die eigenen (europäischen) Wertvorstellungen adäquat beurteilen und einordnen zu können, müsse man sie aus der Ferne betrachten: „Dazu muss man es machen, wie es ein Wanderer macht“, so Nietzsche, „der wissen will, wie hoch die Thürme einer Stadt sind: dazu v e r l ä s s t er die Stadt.“⁴⁰ Ein guter Europäer zu sein, bedeutet für Nietzsche, sich zu entnationalisieren und alle geographischen Grenzen zu überwinden, aber auch solche Barrieren zu überschreiten, die sich in den Köpfen der Menschen verfestigt haben – geistige Grenzen gewissermaßen –, deren Interesse darauf abzielt, sich selbst als etwas Besseres zu behaupten.⁴¹ In diesem Sinne nehme er es gerne in Kauf, ein ‚schlechter‘ Deutscher zu sein, wie er in einem Brief an seine Mutter bekundete, da er darum umso mehr ein guter Europäer sei.⁴² In Nietzsches Augen zeichnete sich Europa im Laufe seiner Geschichte zuvorderst durch ein Absolut-Setzen von Werten aus, was paradigmatisch für ihn in der christlichen Moral zum Ausdruck kommt.⁴³ Der gute Europäer hat diese Werte jedoch durch seinen Sinn für das Historische entwertet und überwunden: „Wir Menschen des ‚historischen Sinns‘: […] wir sind […] voller Selbstüberwindung“⁴⁴. Der gute Europäer bedient sich der Genealogie als einer historisierenden Methode, die den Absolutheitscharakter der alten Werte dadurch als Schein entlarvt, dass sie diese Werte als geschichtlich entstandene, mithin zeitliche und gerade nicht a priori gültige und ewige ausweist.⁴⁵ Dieses Vorgehen fasst Enrico Müller pointiert wie folgt zusammen: „In der Aufdeckung verborgener oder verschleierter Ursprünge einer Kultur bzw. Moral deplausibilisieren sie [die Genealogien] deren wertsetzende

 Vgl. Rudolph 2014, 426.  Vgl. Stegmaier 2000b, 83; dort bezogen auf die europäische Moral.  Nietzsche Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 632–633.  Vgl. Pieper 1996, 190.  Vgl. Nietzsche Briefe, KSB 7, 233. In Menschliches, Allzumenschliches II heißt es: „G u t d e u t s c h s e i n h e i s s t s i c h e n t d e u t s c h e n .“ (Nietzsche Menschliches, Allzumenschliches II, KSA 2, 511). Hier lässt sich hinzufügen, dass dies auf alle Nationen zutreffen muss; siehe dazu Pieper 1996, 190.  Vgl. Stegmaier 2000b, 72.  Nietzsche Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, 159.  Die Genealogie als historisierendes Verfahren dient Nietzsche als zentrale Methode im Zuge seiner gesamten Metaphysikkritik. So geht er in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne ausführlich auf die Geschichte von Begriffen ein, um Allgemeinbegriffen so ihren in der Philosophiegeschichte weitverbreiteten zeitlosen Charakter in Abrede zu stellen. Siehe dazu ausführlicher Victor 2021, 171–173.

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Formationen und delegitimieren die mit diesen verbundenen normativen Ansprüche.“⁴⁶ Unter Bezug auf das Ideal des guten Europäers deutet Nietzsche ebenso Phänomene der geschichtlichen Entwicklungen seiner Zeit und entwirft mitunter visionäre Zukunftsprojektionen. Die Herkunft, Gegenwart und Zukunft Europas sind für Nietzsche immer zusammen zu betrachten. Manfred Riedel bemerkt hierzu, dass die Nationalismen seiner Gegenwart Nietzsche um die Zukunft Europas besorgt stimmten, wobei Nietzsche zugleich vergleichende Brücken in die griechische Antike und damit in die Herkunft Europas schlägt, indem er auf die selbstzerstörerische Wirkung der sich isolierenden Stadtstaaten verweist: „Damit ergreift Nietzsche die ihm an den Griechen aufgegangene, die bedrängende Aufgabe einer Deutung der europäischen Gegenwart und Zukunft Europas aus dem Geist seiner Herkunft.“⁴⁷ Ein Aphorismus aus Menschliches, Allzumenschliches I trägt den programmatischen Titel „Der europäische Mensch und die Vernichtung der Nationen“. Der zunehmende europäische und globale Handel sowie der damit verbundene Austausch zwischen unterschiedlichsten Kulturen, den Nietzsche als äußerst positiv und bereichernd bewertet, münde nolens volens in ein Nomadenleben einer immer größeren Anzahl von Individuen und schließlich in die Auflösung der Nationalstaaten. So leiste der gute Europäer seinen Beitrag zu der „Verschmelzung der Nationen“⁴⁸. ‚Vernichtung der Nationen‘ ist demnach positiv zu verstehen als eine Verschmelzung der Nationen, welcher der gute Europäer insofern zuarbeitet, als er die Vielfalt der Kulturen in sich spiegelt. Im Kontrast zu der kritisch bewerteten Bildung von Nationalstaaten im 19. Jahrhundert samt der deutschen Reichsgründung zeigt sich für Nietzsche gerade im „gegenseitigen Sich-Verschmelzen und -Befruchten“⁴⁹ der eigentliche Sinn und Wert einer Kultur. Das Zeitalter der Industrialisierung und dem mit diesem einhergehenden, zunehmend global werdenden Handel sind Nietzsche zufolge historische Ereignisse, die seine Vorstellung vom guten Europäer indirekt befördern: „Die wirthschaftliche Einigung Europas kommt mit Nothwendigkeit – und ebenso, als Reaktion, die F r i e d e n s p a r t e i  Müller 2020, 153.  Riedel 1992, 227–228. Im Nachlass lesen wir bei Nietzsche: „Nun wissen wir, daß Thales die Gründung einer Eidgenossenschaft von Städten vorschlug, aber nicht durchsetzte: er scheiterte an dem alten mythischen Polisbegriff. Zugleich ahnte er die ungeheure Gefahr Griechenlands, wenn diese isolirende Macht des Mythus die Städte getrennt hielt. In der That: hätte Thales seine Eidgenossenschaft zu Stande gebracht, so wäre Griechenland vom Perserkriege verschont geblieben, und damit auch vom Athener-Siege und Übergewicht. Um die Veränderung des Polisbegriffs und die Schaffung einer panhellenischen Gesinnung bemühen sich alle ältern Philosophen.“ (Nachlass, KSA 8, 118).  Nietzsche Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, 309.  Nietzsche Nachlass, KSA 13, 93.

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…“⁵⁰. Der gute Europäer lebe sodann nicht nur in einer Welt des globalen ökonomischen Austauschs und Handels, sondern führe eine Wanderexistenz, ein Nomadenleben im Bereich des Kulturellen, das sich aus dem produktiven Verkehr von materiellen Gütern sowie gegenseitiger geistiger Befruchtung der Zivilisationen speise. Nach Annemarie Pieper legt für Nietzsche die Multikulturalität der guten Europäer dadurch auch „einen fruchtbaren Boden für eine neue Genialität“⁵¹. Passend dazu deutet Nietzsche seine eigene Epoche als ein Zeitalter der Vergleichung. Der Mensch des 19. Jahrhunderts sieht sich plötzlich mit einer Pluralität von Kulturen, Religionen und Sitten konfrontiert: Für wen giebt es jetzt noch einen strengeren Zwang, an einen Ort sich und seine Nachkommen anzubinden? Für wen giebt es überhaupt noch etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der Künste neben einander nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der Moralität, der Sitten, der Culturen. – Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können; was früher, bei der immer localisirten Herrschaft jeder Cultur, nicht möglich war, entsprechend der Gebundenheit aller künstlerischen Stilarten an Ort und Zeit.⁵²

Gemäß der Wanderer-Metaphorik ermöglicht diese vergleichende Perspektive im wahrsten Sinne des Wortes eine Durchwanderung unterschiedlichster Kulturen. Im Kontext von Nietzsches Perspektivismus stellt ein solcher Vergleich freilich uneingeschränkt einen epistemischen Mehrwert und Gewinn dar. Es ist sicherlich nicht überspitzt, hier von einer Zukunftsprojektion zumindest eines wirtschaftlich und kulturell geeinten Europas zu sprechen, von dem man natürlich zu Nietzsches Zeiten noch weit entfernt ist. Dennoch scheint er in bestimmten historischen Ereignissen seiner Epoche erste Anzeichen für einen Schritt in die Richtung eines, freilich noch skizzenhaft bleibenden, Konzepts des guten Europäers zu erkennen. Der einstige Professor für Altphilologie verfolgt diese Vision einer transkulturellen Gemeinschaft bis in die griechische Antike und damit in die Wiege der europäischen Philosophie zurück: Schritt vor Schritt umfänglicher werden, übernationaler, europäischer, übereuropäischer, morgenländischer, endlich g r i e c h i s c h e r – denn das Griechische war die erste große Bindung und Synthesis alles Morgenländischen —: und eben damit der A n f a n g der europäischen Seele, die Entdeckung u n s e r e r „ n e u e n Welt“: – wer unter solchen Imperativen lebt, wer weiß, was dem eines Tages begegnen kann? Vielleicht eben – e i n n e u e r T a g !⁵³

 Nietzsche Nachlass, KSA 13, 93. Auch in Jenseits von Gut und Böse spricht Nietzsche von „Anzeichen“, dass „E u r o p a E i n s w e r d e n w i l l .“ (Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, 201).  Pieper 1996, 189.  Nietzsche Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, 44.  Nietzsche Nachlass, KSA 11, 682.

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Wir wollen und können hier nicht Nietzsches Interpretation der griechischen Antike evaluieren, sondern möchten uns vielmehr seinem Begriff des Europäischen, der hier als kultureller Begriff zu verstehen ist, noch eingehender zuwenden.⁵⁴ Inwiefern vermag die Verschmelzung der Nationen einen Aufbruch in eine neue, zugleich ungewisse Zukunft, einen ‚neuen Tag‘, um Nietzsches Formulierung aufzugreifen, zu initiieren? Die Trias ‚übernational, europäisch, übereuropäisch‘ ist hierbei von besonderem Interesse. So paradox es prima facie klingen mag, realisiert sich im Ideal des Übereuropäischen allem Anschein nach Nietzsches Typus des guten Europäers. Wie ist das zu verstehen? Nimmt das Präfix ‚über‘ in ‚übereuropäisch‘ etwa eine ähnliche Funktion ein wie in ‚Übermensch‘? Schwebt Nietzsche mittels des Konzepts vom guten Europäer gar ein übermenschliches Ideal vor,⁵⁵ das als Motiv einer ständigen Selbst-Überwindung des Menschen zum Ziel eines jeden individuellen Menschen, unabhängig aller nationalen Zugehörigkeiten werden kann? Ist Nietzsches guter Europäer also übereuropäisch und letztlich gar ein Kosmopolit? Solchen Fragen möchte ich nun in Abschnitt 4. nachgehen. Dabei wird sich einmal mehr herauskristallisieren, dass Nietzsches kultureller Europabegriff letztlich keine geographischen Grenzen mehr kennt und umfassenderer Natur ist. Als ein Phänomen des menschlichen Geistes kennt Kultur keine nationalen, physischen Grenzen: Um erneut mit dem Nietzsche affinen Camus zu sprechen: „Die geographischen Grenzen waren noch nie die Grenzen des Geistes.“⁵⁶

4 Übernational, europäisch – übereuropäisch? Um die Relation der drei Adjektive ‚übernational‘, ‚europäisch‘, ‚übereuropäisch‘ untereinander bei Nietzsche ausleuchten zu können, insofern das in dem hier begrenzten Rahmen überhaupt möglich ist, erscheint es hilfreich, zunächst das Adjektiv ‚gut‘ in ‚guter Europäer‘ näher zu betrachten. Nachdem uns Nietzsche bis hierhin als ein metaphysikkritischer, anti-essentialistischer und gegen vorab festgelegte und ausbuchstabierte Werteprinzipien opponierender Denker begegnet ist, dürfte es nun nicht mehr überraschen, dass sich ‚gut‘ hier nicht auf ein objektives, zeitloses Ideal im Sinne einer platonischen Idee des Guten bezieht. Es kann für Nietzsche genauso wenig eine a priori-Norm des guten Europäers geben, wie es eine

 Eine Untersuchung hinsichtlich der inhaltlichen Verbindung von griechischer Antike und Nietzsches Gedanken des Übereuropäischen findet sich bei Figl 2020, 238–239.  Vgl. Bianchi 2020, 284.  Camus 2021, 260.

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solche für irgendeine Nationalität oder den Menschen an und für sich geben kann. Hinter dem Wörtchen ‚gut‘ verbirgt sich also keine Vorstellung des Guten an sich. Mit Sarah Bianchi gesprochen, kann es für Nietzsche „folglich keine allgemeine Handreichung für die ‚gute[n] Europäer‘ geben, die für jedes Individuum historisch erklärt, was nun in traditioneller Weise als ‚gut‘ oder‚schlecht‘ anzusehen ist.“⁵⁷ Wie in Nietzsches Anthropologie der Mensch im Allgemeinen einem Wanderer ohne im Vorhinein festgelegte Ideale und Ziele gleicht, so auch der gute Europäer im Besonderen. Der gute Europäer steht für einen Typus Mensch, der sich an keine kontingenten Landesgrenzen mehr klammert, sich bewusst geworden ist, dass Nationen nur eine scheinbare Wahrheit zukommt, und der im Bereich der Kultur und des Politischen eigens etwas Neues aus sich selbst heraus erschafft, um seinen eigenen, höchst persönlichen Beitrag zur Förderung eines grenzüberschreitenden Individualismus zu leisten. ‚Individualismus‘ bedeutet hier natürlich nicht, dass nun ein jedes Individuum vice versa für sich selbst einen privilegierten Erkenntnisstandpunkt reklamieren kann. Hier schlägt sich die Wanderer-Metaphorik von Nietzsches Anthropologie in seiner Kulturphilosophie und im Motiv des guten Europäers nieder, der als ein Wanderer im Bereich des Kulturellen typisiert werden kann. Zum Kreis der guten Europäer gehören all diejenigen, die in der Lage sind, aus sich selbst heraus eigene kulturelle oder politische Ziele zu instanziieren.⁵⁸ So ist es einmal mehr begründet, die guten Europäer mit den ‚freien Geistern‘ in Verbindung zu bringen, die sich als auf die Zukunft hin ausgerichtet eigene Werte setzen, zugleich jedoch nicht einer kritischen Selbstreflexion entbehren und die Fähigkeit besitzen, sich immer wieder von Neuem selbst zu überwinden. Zu einer solchen Selbstdistanzierung ist auch der gute Europäer in der Lage, demnach läge es ihm fern, nun seinerseits das geographische Europa als kulturelles oder politisches Zentrum der Welt zu betrachten – wie es ihrerseits jedoch die Verfechter der Nationalstaaten jeweils für ihr Land tun. Der gute Europäer setzt das ‚Gute‘ jeweils für sich, aber niemals absolut, sondern in Form einer ständigen Selbst-Überwindung momenthaft, relational und immer wieder neu.⁵⁹ In diesem Sinne ist es gerechtfertigt, den guten Europäer mit Nietzsches Verständnis der freien Geister zu asso-

 Bianchi 2020, 286.  Vgl. Bianchi 2020, 292.  Auch Bianchi bringt diese Fähigkeiten der freien Geister mit denen des guten Europäers zusammen, wobei sie den Blick noch um Nietzsches ‚souveränes Individuum‘ erweitert. Vgl. Bianchi 2020, 286–288. Ralf Witzler hat in seiner Studie Europa im Denken Nietzsches herausgearbeitet, dass die Figur des guten Europäers noch von weiteren Zukunftsgestalten flankiert wird. Hauptsächlich nennt er den ‚freien Geist‘, den ‚Übermenschen‘ sowie den ‚Philosophen der Zukunft‘. Siehe dazu Witzler 2001, 189–212.

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ziieren, die sich wesentlich dadurch auszeichnen, von sich aus und in Relation zu sich selbst etwas als ‚gut‘ zu bezeichnen. Dass der gute Europäer nun seinerseits gerade keinen privilegierten Standpunkt sub specie aeternitatis in Fragen der Moral oder anderswo reklamiert, legt auch eine Kontrastierung mit einer anderen Figur, nämlich der des ‚überstolzen Europäers‘ aus der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung nahe. Auf diese scharfsinnige Gegenüberstellung hat Sarah Bianchi hingewiesen.⁶⁰ So spottet Nietzsche über jenen überstolzen Europäer, der meint, er stehe „auf der Pyramide des Weltprozesses“: „Dein Wissen vollendet nicht die Natur, sondern tödtet nur deine eigene.“⁶¹ Der gute Europäer hingegen nimmt für sich keine solche, das gesamte Weltgeschehen überblickende Perspektive in Anspruch, sondern lebt inmitten ebendieses irdischen Geschehens, das heißt im Werden und in der Zeit. Es dürfte sich mittlerweile beinahe von selbst verstehen, dass die Figur des guten Europäers an keine geographischen Grenzen mehr gebunden sein kann. Die Größe einer Kultur manifestiert sich für Nietzsche nicht in der territorialen Größe eines Landes.⁶² Ihm schwebt eine antideutsche oder auch antifranzösische, antienglische etc. und europäische, auf die Größe des Menschen selbst zielende Utopie vor. So lässt sich auch seine vielfach diskutierte und nicht unumstrittene Redeweise von einer ‚großen Politik‘ als die Vision einer ‚großen Kultur‘ deuten, die vom freien Geist inspiriert ist und anstrebt, Politik für gute Europäer zu sein, welche die ÜberNationalität als Größe und Chance begreifen.⁶³ Als ‚kleine Politik‘ bezeichnet Nietzsche hingegen die sich im Europa seiner Zeit etablierenden und gegeneinander abschottenden Nationalstaaten und ihre Kleinstaaterei.⁶⁴ Der gute Europäer wird zum Leitmotiv einer zumindest kulturell umfassenden Weltgesellschaft. So fasst Henning Ottmann bereits in seiner aus dem Jahr 1987 stammenden, umfangreichen Monographie Philosophie und Politik bei Nietzsche treffend zusammen: „Große Politik“ war ein ironischer Begriff, der die Größe der Kultur gegen die der Imperien ausspielte. Es war im wörtlichen Sinne ein Begriff für übernationale europäische Politik. Und es ist in entscheidender Bedeutung ein Begriff gewesen, der – über das einmal geeinte Europa hinaus – auf die „Größe“ des Menschen selbst blicken lassen sollte.“⁶⁵

     

Vgl. Bianchi 2020, 286–287. Nietzsche Unzeitgemäße Betrachtungen II, KSA 1, 313. Vgl. Ottmann 1987, 240. Vgl. Ottmann 1987, 242. Vgl. Nietzsche Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, 140. Ottmann 1987, 242.

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Das Verschwinden des Nationalen und die Heraufkunft des europäischen Menschen gehen für Nietzsche Hand in Hand.⁶⁶ So appelliert er an seine Zeitgenossen – wobei sich dieser Appell aufgrund seiner ungebrochenen Aktualität auch an eine heutige Leserschaft richten könnte –, Europa als ein kulturelles Gebilde zu verstehen, sich nicht von „nationalen Thorheiten“, das heißt Scheinwahrheiten, täuschen zu lassen, denn in der „ h ö h e r e n R e g i o n“, gemeint ist die Kultur, bestehe ohnehin „ b e r e i t s e i n e f o r t w ä h r e n d e g e g e n s e i t i g e A b h ä n g i g k e i t “⁶⁷ in Europa. Gerade in seiner Zeit, in der wie gesehen nach Nietzsche eine Vielzahl von historischen Entwicklungen den nationalstaatlichen Interessen entgegenlaufen, mutet es aus seiner Sicht geradezu paradox an, Feindseligkeiten, die auf einem künstlichen Nationalismus basieren, das Wort zu reden.⁶⁸ Freilich handelt es sich bei der Herausbildung des ‚europäischen Menschen‘ um einen lange andauernden Prozess, der nach und nach zu vollziehen und nicht ad hoc realisierbar ist. Jeder einzelne Schritt der Vereinigung kleinerer Kulturkreise ist jedoch ein Schritt in diese Richtung. So lesen wir in Nietzsches Nachlass aus dem Jahre 1876 – also nur wenige Jahre nach der deutschen Reichsgründung im Jahr 1871: „Sie nennen die Vereinigung der deutschen Regierungen zu Einem Staate eine ‚große Idee‘. Es ist dieselbe Art von Menschen, welche eines Tages sich für die vereinigten Staaten von Europa begeistern wird: es ist die noch ‚größere Idee‘.“⁶⁹ Und letztlich können auch die ‚Vereinigten Staaten von Europa‘ im Kontext der nietzscheschen Philosophie eines dauerhaften Überwindens und Werdens nur eine weitere Etappe auf dem Weg hin zu einer„umfassenden Weltgesellschaft“⁷⁰ sein, die ihre Größe aus dem ständigen gegenseitigen kulturellen und wirtschaftlichen Austausch der Gesellschaften aller Erdkreise speist. Das Zitat im Titel meines Beitrags ist Nietzsches Figur Zarathustra entlehnt. Eine dauerhafte Wanderexistenz führend, rastlos auf der Suche nach (Neu‐)Orientierung, ist Zarathustra als ‚Lehrer‘ des Übermenschen qua seiner ‚Lehre‘ einer ständigen Selbst-Überwindung ohne Heimat: Ach, wohin soll ich nun noch steigen mit meiner Sehnsucht! Von allen Bergen schaue ich aus nach Vater- und Mutterländern. Aber Heimat fand ich nirgends: unstät bin ich in allen Städten und ein Aufbruch an allen Thoren. Fremd sind mir und ein Spott die Gegenwärtigen, zu denen mich jüngst das Herz trieb; und vertrieben bin ich aus Vater- und Mutterländern. So liebe ich

    

Vgl. Nietzsche Nachlass, KSA 8, 348. Nietzsche Nachlass, KSA 11, 42. Vgl. auch Nietzsche Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, 309. Nietzsche Nachlass, KSA 8, 347–348. Pieper 1996, 192.

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allein noch meiner K i n d e r L a n d , das unentdeckte, im fernsten Meere: nach ihm heisse ich meine Segel suchen und suchen.⁷¹

Als Vertreter einer Philosophie des Werdens kann Zarathustra keine feste Heimstatt verkünden – auch und gerade nicht für den guten, sprich wandernden Europäer. In den „Vorstufen“ zum Abschnitt „Der Schatten“ des vierten Teils von Also sprach Zarathustra sagt Zarathustras „Doppelgänger und Schatten“: „[U]nd willst du einen Namen für mich, so nenne mich den guten Europäer.“⁷² Passend und ergänzend hierzu notierte Nietzsche im Kontext einiger Anmerkungen zum guten Europäer, dieser sei heimatlos und lachend über die Vaterländer.⁷³ So wird auch verständlich, warum für den guten Europäer selbst die ‚Vereinigten Staaten von Europa‘ kein neues, endgültig anzustrebendes Telos und Ideal darstellen können: Der gute Europäer ist ein wandernder, sich selbst und seine Ziele ständig transzendierender Typus Mensch, der im Laufe seiner zeitlichen Existenz niemals eine definitive Ruhestätte finden kann und will. Er ist ein beständig Werdender. Dafür vermag er jedoch die Menschen daran zu erinnern, die in ihnen schlummernden Potenziale zu nutzen, das heißt eigene Werte und Visionen zu verwirklichen, sich selbst zumindest für einen Moment lang eine Heimat zu geben. Diese anthropologische Aufgabe spiegelt sich im guten Europäer wider, der weder eine geographische noch kulturelle Heimat als gegeben vorfindet, sondern bestrebt ist, die bestehenden Grenzen stets von Neuem zu überwinden, und so die Fähigkeit besitzt, gerade ohne eine feste und letzte Identität leben zu können. Was so häufig als Belastung oder gar Gefahr verstanden wird, nämlich die Entwurzelung aus einer klar definierten geographischen oder kulturellen Heimat, stellt für Nietzsche fast uneingeschränkt einen Gewinn dar.⁷⁴ So dürfte nun auch die Interpretation von Andrea C. Bertino, Nietzsches guter Europäer sei gerade derjenige, der ohne feste europäische Identität auskomme, nachvollziehbar sein.⁷⁵ Durch das Festhalten an traditionellen Identifikationsformen würde anderenfalls der gute Europäer seinerseits Gefahr laufen, von einem Nationalismus der einzelnen europäischen Staaten zu einem Nationalismus Europas überzugehen.⁷⁶ Dass Letzteres keineswegs beabsichtigt sein kann, zeigt sich

 Nietzsche Also sprach Zarathustra, KSA 4, 155. Kursivierung O.V.  Nietzsche in KSA 14, 337. Diesen Hinweis verdanke ich Witzler 2001, 190.  Vgl. Nietzsche Nachlass, KSA 11, 404.  Vgl. Mattenklott 2008, 129.  Vgl. Bertino 2020, 83. So resümiert auch Brusotti 2006, 204: „Nietzsche n’a pas à l’esprit une Europe des patries – ni une Europe des régions. Les Européens de l’avenir sont comme lui ‚sanspatrie‘.“  Vgl. Bertino 2020, 85.

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einmal mehr, indem darauf geachtet wird, welche Figur bei Nietzsche für die SelbstÜberwindung par excellence steht: Zarathustra, eine Gestalt, deren Namen auf einen persischen Religionsstifter zurückgeht. Die permanente Selbst-Überwindung impliziert, dass es keinen Stillstand, keine neuen Ideale, denen absolute und objektive Gültigkeit zugesprochen wird, geben kann und darf. Selbst der gute Europäer und der freie Geist sind nicht vor einem „Plumps und Rückfall in alte Lieben und Engen“⁷⁷, wie Nietzsche die ‚Vaterländerei‘ nennt, gefeit. Nur eine ständig bewusste und selbstkritische Auseinandersetzung mit und Überwindung der eigens neu geschaffenen Werte vermag dem vorzubeugen. Im Hinblick auf Fragen der Moral leuchtet Werner Stegmaier die Konturen einer zukünftigen europäischen Moral, welche fähig sei, über die eigenen Werte hinauszudenken und die Normen anderer Moralen gelten zu lassen, wie folgt treffend aus: „Auch vom künftigen Europa hat Nietzsche also einen moralischen Begriff, den Begriff jedoch nun einer Moral, die sich selbst zur Disposition stellen kann.“⁷⁸ Wenn überhaupt, so bleibt dem guten Europäer allein eine kulturell-geistige Heimat, die sich in einer authentisch gelebten Selbstverpflichtung zur menschlichen Wanderexistenz äußern könnte. Er würde somit ein Kosmopoliten-Dasein in dem ursprünglichen Wortsinn führen, als dass er den ganzen Weltkreis als seine ‚Heimat‘ ansieht. So würde der gute Europäer schließlich auch das klassische Verständnis von Heimat umwerten und transzendieren, was abermals im Sinne von Nietzsches Philosophie einer Umwertung aller tradierten Werte sein dürfte. So kann man Nietzsches gute Europäer als individualistische Kosmopoliten deuten, die durch das Hinter-sich-Lassen absoluter Wahrheiten eine Umwertung überlieferter Werte initiieren und durch ihr Plädoyer für kulturellen Austausch und Offenheit gegenüber dem Fremden der Menschheit zu immer neuen Sichtweisen (im Plural!) auf die Welt verhelfen – und so ist dieses kulturelle Europakonzept dynamisch zu verstehen. Es ist ein Ausdruck der Fähigkeit, sich „neue Begehrlichkeit, eine Unbefriedigung am Eignen, eine Bewunderung des Fremden einzugestehen“⁷⁹, wobei die Freude am kulturell Fremden mit einer Freude an den Verschiedenheiten der Individuen einhergeht.⁸⁰ Nietzsches Europakonzept zeichnet so eher eine kulturelle denn eine politische Synthese aus.⁸¹

 Nietzsche Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, 180.  Stegmaier 2000b, 74. Hervorhebung O.V. Auch dabei dienten Nietzsche einmal mehr die Griechen als Vorbild: „Diese Philosophen zeigen die Lebenskraft jener Cultur, die ihre eigenen Corrective erzeugt.“ (Nachlass, KSA 8, 102).  Nietzsche Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, 158. Vgl. dazu auch Stegmaier 2000b, 82–83.  So heißt es im Nachlass: „Achtung, Freude an den Ve r s c h i e d e n h e i t e n der Indiv! Freude am Fremdartigen der Nationen und Culturen ist ein Schritt dazu“. (Nietzsche Nachlass, KSA 9, 36).

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Demnach ist es auch kein Widerspruch, Nietzsches guten Europäer als übereuropäisch zu bezeichnen. Die Trias der drei Adjektive ‚national‘, ‚europäisch‘, ‚übereuropäisch‘ beschreibt so gesehen einen geistigen Entwicklungsprozess, den ein Mensch im Laufe seines kulturellen und politischen Selbstwerdungsprozesses durchläuft und ihn, sofern er sich von dem Weg der Befreiung der Vernunft nicht abbringen lässt, auf den Weg einer Distanzierung von Nationalismen jeglicher Couleur hin zu einem Kosmopoliten- und Weltbürger-Dasein führen kann. An die ständige Selbst-Überwindung anknüpfend, ließe sich die oben genannte Trias sicherlich ebenso ihrerseits überwinden beziehungsweise fortsetzen.⁸²

5 Ausblick: Was bleibt vom guten Europäer? Doch was bleibt für die heutige Leserin und den heutigen Leser des 21. Jahrhunderts von Nietzsches Utopie des guten Europäers⁸³ – sofern man sie mit einem weit gefassten Utopie-Begriff ⁸⁴ denn als solche bezeichnen kann – übrig? Dieser Frage sollte man sich sicherlich abschließend stellen, insofern die Beschäftigung mit Nietzsches Gedanken über die Herkunft und Zukunft Europas mehr als ein ‚bloß‘ historisches Interesse verfolgt. Eine grundlegende Intention der nietzscheschen Philosophie ist es sicherlich, die Leserschaft zu einem eigenständigen Philosophieren zu animieren. So lassen sich mitunter seine anthropologischen Reflexionen, welche die Wanderer-Metaphorik eindrücklich veranschaulicht, als ein Philosophieren auf den Versuch hin verstehen. Eine solche ‚Experimentalphilosophie‘ lebte Nietzsche selbst, und er ließ sein eigenes (Philosophen‐)Dasein zum Gegenstand eines solchen Experiments werden, von dem nicht zuletzt seine Texte Zeugnis ablegen.⁸⁵ Durch seine Schriften möchte er seine Leserschaft selbst auf den Weg hin zur Freiheit der Vernunft leiten und gerade keine neue, eine Gefolgschaft inten-

 Vgl. Marti 2006, 183.  So ist u. a. Sarah Bianchi der Frage nachgegangen, ob die Aufzählung ‚europäisch, übereuropäisch‘ schließlich in ‚menschlich‘ münden könne. Insofern darunter jedoch ein an einen Allgemeinbegriff ‚Menschheit‘ gebundenes Humanitätsverständnis verstanden wäre, kommt Bianchi zu einer verneinenden Antwort, insofern es Nietzsche als einem individualistischen Denker nicht um den Menschen als Gattungswesen gehe. Siehe Bianchi 2020.  Den utopischen Gehalt von Nietzsches Zukunftsvisionen für und von Europa zeichnet Pieper 1996, 188–191 ausführlicher nach.  So verstanden, ließe sich der Utopiebegriff nicht exklusiv nur auf Texte, die ein ideales Staatsoder Gesellschaftsgebilde in topographischer oder zeitlicher Ferne entwerfen, beziehen, sondern auf Ideale und visionäre Denkfiguren insgesamt.  Zum Begriff der Experimentalphilosophie bei Nietzsche siehe die nach wie vor wegweisende Studie von Kaulbach 1980.

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dierende Lehre etablieren. Letztlich muss jeder Einzelne diesen Weg selbst gehen und vor allem eigene Ziele auf diesem anstreben und realisieren. Gleiches dürfte wohl ebenso für den guten Europäer gelten. Sicherlich gibt uns Nietzsche keinen kulturellen oder gar politischen Plan an die Hand, der konkrete Schritte hin zu einem geeinten Europa beschreibt und sich heute noch eins zu eins umsetzen ließe. Dies würde aber auch seiner Programmatik widersprechen. Mit dem guten, wandernden Europäer zeichnet Nietzsche einen exemplarischen Menschen, der im Bereich der Kultur und des Politischen als freier Geist von seiner Freiheit der Vernunft Gebrauch macht. Jenseits der alten Scheinwahrheiten, hier der Nationalismen, führt er eine geographische sowie kulturelle Grenzen überschreitende und umgreifende Wanderexistenz. Er ist auf keine feste Heimstatt oder präfixierte, starre Identität, welcher Art auch immer, mehr angewiesen, da er seine eigenen Ideale entwirft, hinterfragt und immer wieder von Neuem überwindet. ‚Europa‘ referiert hier also primär auf ein visionäres, da noch nicht realisiertes Kulturkonzept, das sich wohl am treffendsten als Utopie eines internationalen, kosmopolitischen und kulturellen Individualismus kennzeichnen ließe und das auf keine geographischen Regionen limitiert ist. Auch wenn Nietzsche seinen guten Europäer nicht an die abstrakte Vorstellung einer Menschheit oder einer Gattung ‚Mensch‘ rückkoppelt, so bleibt durchaus Spielraum für einen gemeinschaftlichen Diskurs guter Europäer untereinander, nicht zuletzt darüber, was die Werte einer solchen Kultur sein könnten. Dass Nietzsches Philosophie trotz ihres individualistischen Ansatzes diese Möglichkeit durchaus mit einschließt, legt nicht zuletzt die Fähigkeit zur kritischen Selbstdistanzierung des guten Europäers nahe, denn Selbstdistanzierung und Selbstreflexion implizieren immer auch ein Anerkennen oder zumindest eine gewisse Offenheit anderen Ansichten und Meinungen gegenüber.⁸⁶ Insofern darin zugleich der Appell zu einer geographische und physische Grenzen transzendierenden geistigen Weltgemeinschaft – einer übereuropäischen Kultur eben – liegt, scheint ein solcher Ansatz vor dem gegenwärtigen Eindruck immer stärker werdender autoritärer und nationalistischer Tendenzen in Europa und auf der ganzen Welt weiterhin hoch aktuell zu sein – und sei es, dass Nietzsche uns heutige Leserinnen und Leser lediglich über die Möglichkeit solcher guter Europäer nachdenken lässt, damit wäre aus seiner Sicht sicherlich schon das Wesentliche erreicht. So möchte ich mit einem kurzen Gedicht mit dem sprechenden Titel „ Va d e m e c u m – Va d e t e c u m “ aus der Fröhlichen Wissenschaft schließen, das auf die  An dieser Stelle können wir auf die soziale Dimension von Nietzsches Gedanken des guten Europäers nicht weiter eingehen. Siehe dazu ausführlicher Bianchi 2020, 289–292, die ebenfalls eine ähnliche Möglichkeit für einen Austausch guter Europäer untereinander bei Nietzsche zu erkennen scheint. Dies nicht zuletzt unter Rekurs auf das Motiv der Anerkennung.

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Gefahren der Orientierung an fremden, unhinterfragten Idealbildern aufmerksam macht und als eine Art Leitspruch eines Individualismus in dem oben skizzierten Sinne dienen könnte: Es lockt dich meine Art und Sprach, Du folgest mir, du gehst mir nach? Geh nur dir selber treulich nach: — So folgst du mir – gemach! gemach!“⁸⁷

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philosophische Literatur. Formen des Philosophierens von Platon bis Heidegger. Hg. Dennis Sölch und Birgit Capelle. Freiburg und Baden-Baden: Karl Alber, 2022, 49–80.

Dennis Sölch

Europa als Massenveranstaltung Ortega y Gasset und die Zukunftsfähigkeit der europäischen Kultur

1 Einleitung: Europa als Heimat kultureller Vielfalt? Schon der griechischen Mythologie zufolge lässt sich Europa als etwas verstehen, durch das Fremdes und Verschiedenes sich miteinander verbinden, verdankt der Kontinent seinen Namen doch jener sterblichen phönizischen Prinzessin, die vom unsterblichen Zeus entführt wird und unter anderem den Halbgott Minos zur Welt bringt. In Gestalt eines Tieres begegnet der Gott einem Menschen und zeugt Kinder, die Merkmale des Göttlichen und des Menschlichen in sich vereinen. Es ist folglich kein Zufall, dass die Europäische Union das Motto In Vielfalt geeint als offiziellen Leitspruch in ihre ausgearbeitete, wenngleich nie in Kraft getretene Verfassung aufgenommen hat und damit an ein griechisches Erbe anknüpft, das dem modernen europäischen Selbstverständnis nach die Wiege sowohl von Demokratie und Vernunft als auch von Toleranz und Weltoffenheit war. Das ‚Projekt Europa‘ ist gekennzeichnet von dem Bestreben, universelle Werte einerseits und die kulturell diversen Arten und Weisen, diese Werte mit Leben zu füllen, andererseits harmonisch miteinander zu verbinden. Entsprechend betont bereits der Vertrag von Maastricht, die Europäische Union zeichne sich nicht zuletzt durch ihren ‚Pluralismus‘ aus,¹ und auch der europäische Verfassungsentwurf führt die Bewahrung der kulturellen Vielfalt als explizites Ziel des supranationalen Zusammenschlusses auf.²

 In Artikel 2 der „Gemeinsamen Bestimmungen“ heißt es ergänzend zu der Auflistung der verbindlichen Grundwerte von Menschenwürde, Freiheit und Demokratie: „Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Die konsolidierte Fassung des ‚Maastricht-Vertrags‘ von 1992 findet sich im Amtsblatt C326/13 der Europäischen Union unter anderem unter https://eur-lex.europa.eu/resource.html?uri=cellar:2bf140bfa3f8-4ab2-b506-fd71826e6da6.0020.02/DOC_1&format=PDF.  In Artikel I-8 des Vertragsentwurfs wird das Motto „In Vielfalt geeint“ ausdrücklich zum Leitspruch der Europäischen Union erklärt, um darüber hinaus die kulturelle Vielfalt zu einer Maßgabe für die Bewertung unterschiedlicher Formen politischen Handelns zu machen. Exemplarisch dafür heißt es ist Artikel III-280 (4): „Die Union trägt bei ihrer Tätigkeit aufgrund anderer Bestimmungen https://doi.org/10.1515/9783110793062-009

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Das erklärte Anliegen, nationale, regionale und lokale Traditionen, Bräuche und Eigenarten zu pflegen und ihnen Raum zur Entfaltung zu bieten, wird in der alltäglichen Erfahrung gleichwohl häufig durch den Eindruck einer zunehmenden „Uniformisierung und Anonymisierung der Lebenswelt“³ konterkariert. Von Stockholm bis Barcelona, von der Algarve bis zu den Karpaten sind die Städte und ihre Fußgängerzonen einander allem Anschein nach in den vergangenen Jahrzehnten immer ähnlicher geworden, sind mit den gleichen Steinen gepflastert und werden von Filialen der gleichen Handels- und Modeketten dominiert, die in geringfügig variierter Konstellation mittlerweile an nahezu jedem anderen Ort der Welt ebenfalls frequentiert werden können. Statt Vielfalt hat das vereinte Europa in zahlreichen Hinsichten oftmals überall das Gleiche zu bieten, sodass nur die jeweilige Geschichte, die sich konkret in Form von Bauwerken, Denkmälern und Souvenirs verkörpert findet, sowie Geographie und Klima Anspruch erheben können, dem kulturellen Monismus etwas entgegenzusetzen. Während das Ziel einer Wirtschaftsgemeinschaft, zumindest aus Sicht der Konsumentinnen und Konsumenten, Realität geworden sein mag, hat gleichzeitig der Reichtum an kultureller Vielfalt augenscheinlich eher ab- als zugenommen. Es würde jedoch zu kurz greifen, die Sorge um die lebensweltliche Einebnung regionaler Besonderheiten auf ihre ökonomische Dimension zu reduzieren. Die gängige und anhaltende Kritik, das ‚Projekt Europa‘ diene primär wirtschaftlichen Interessen und führe zu einer Verschärfung von Massenproduktion, Massenkonsum und Nivellierung der kulturellen Vielfalt, hat ihr ergänzendes Gegenstück in einer existenz- und kulturphilosophischen Perspektive, die in der ökonomischen Vereinheitlichung lediglich eine, wenn auch bedeutsame, Variante einer grundlegenden Tendenz zur Anpassung an einen größten gemeinsamen Nenner sieht. Die europäische Moderne, so konstatiert schon Karl Jaspers, werde spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durch eine allgemeine Tendenz zur „Nivellierung, Maschinisierung, Vermassung“⁴ geprägt, in der nicht nur das in Massenproduktion gefertigte Konsumgut, sondern auch jede und jeder Einzelne prinzipiell ersetzbar sei. Die Vereinheitlichung der Lebenswelt ist demnach nicht erschöpfend unter Rekurs auf Monopolbildungen und die Vormachtstellung internationaler Konzerne beschreibbar. Diese sind vielmehr selbst Bestandteil einer tieferliegenden Dynamik, die, wie José Ortega y Gasset in seinem 1929 erschienenen, einflussreichen Hauptwerk Der Aufstand der Massen anmerkt, zu einem weltumspannenden Ausgleich der Verfassung den kulturellen Aspekten Rechnung, insbesondere zur Wahrung und Förderung der Vielfalt ihrer Kulturen.“ Der ausgearbeitete Verfassungstext findet sich auf der Internetpräsenz des Deutschen Bundestages unter https://dserver.bundestag.de/btd/15/049/1504900.pdf.  Schlink 2017, 21.  Jaspers 2018, 103.

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kultureller und sozialer Unterschiede führt, sodass „sich heute ein durchschnittlicher Deutscher, Spanier, Italiener in seiner Lebensführung weniger von einem Amerikaner oder Argentinier unterscheidet als vor dreißig Jahren.“⁵ Die Uniformierung betrifft demnach keineswegs nur das Wirtschaftsleben. Sie erfasst ebenso Fragen der Mode und des Geschmacks, der Bildung und der verfügbaren Technik sowie schließlich auch die Vorstellung von einem guten und gelingenden Leben. Das Individuum exemplifiziert und wiederholt ein allgemeines Muster, das zugleich durch die fortwährende wechselseitige Orientierung der Menschen aneinander konsolidiert und fortgeschrieben wird. Es ist diese sich abzeichnende Kommensurabilität von Typus und Individuum, von allgemeiner Idee und konkreter Instanziierung, die Ortega von der Masse als einer psychischen Größe sprechen lässt: „Man kann von einer einzigen Person wissen, ob sie Masse ist oder nicht.“⁶ Masse stelle nicht länger eine rein quantitative Größe dar, sondern kennzeichne die geistige Gewohnheit der Ausrichtung an einem statistischen Durchschnitt, der nicht faktisch in Form der unmittelbaren Gegenwart einer bestimmten Anzahl von Menschen manifest sein muss. Europa bildet für Ortega dabei einerseits den Raum, in dem diese Entwicklung ihren Kulminationspunkt erreicht und zum Gegenstand einer kritischen Diagnose werden kann, andererseits repräsentiert Europa für ihn ein kulturelles Ideal, für das es ein erneuertes Bewusstsein zu wecken gelte, um einer latenten Verfallstendenz entgegenzuwirken. Vor diesem Hintergrund wollen wir im Folgenden den gleichermaßen kulturphilosophischen wie anthropologischen Befund einer ‚Vermassung‘ und Selbstentfremdung des Menschen im Europa der industrialisierten Moderne philosophiegeschichtlich kontextualisieren. Insbesondere die Traditionen der Lebensphilosophie, der Ortega selbst zugerechnet werden kann, sowie der Existenzphilosophie beschränken sich in ihrer Reflexion einer veränderten sozialen Wirklichkeit nicht auf politische und ökonomische Aspekte, sondern fragen nach den Auswirkungen von Massenproduktion, Massenkonsum und dem Aufstieg der Massenmedien auf die menschliche Existenz überhaupt. Ausgehend von dieser philosophiehistorischen Genealogie der ‚Masse‘ als Referenzgröße für die Diagnose von Voraussetzungen bestimmter abendländischer Entwicklungen und Verfallserscheinungen (2.), wenden wir uns der Diagnose einer Krise der europäischen Kultur zu, wie sie in Der Aufstand der Massen als Ergebnis vorangegangener politischer und wissenschaftlich-technologischer Weichenstellungen entfaltet wird (3.). Da sich für Ortega in der Nivellierung sozialer und politischer Unterschiede, ungeachtet der damit einhergehenden zivilisatorischen Vorzüge, das Verfehlen einer anthropologischen

 Ortega 1978a, 20.  Ortega 1978a, 10.

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Bestimmung zum Ausdruck bringt, kommen wir schließlich nicht umhin, das zugrunde liegende lebensphilosophische Verständnis des Menschen als eines utopischen Wesens in groben Umrissen zu skizzieren (4.). Auf dieser Grundlage kann zu guter Letzt deutlich werden, in welchem Sinne Europa für Ortega keineswegs nur Anlass zu einer kritischen Bestandsaufnahme ist, sondern zugleich ein Ideal und eine Richtungsweisung für eine wirkliche Vielfalt an Lebensformen darstellt (5.), das auf das in den einschlägigen Dokumenten der Europäischen Union verankerte Selbstverständnis vorausweist und ihm in bisweilen durchaus streitbarem Duktus konkrete Gestalt geben will.

2 Zum Begriff der ‚Masse‘ in der Philosophie seit der späten Neuzeit Zwar verfolgt Ortega mit seiner Analyse eines Aufstandes der Massen anthropologisch und kulturphilosophisch grundsätzlich eigene Wege, doch kann er Ende der 1920er Jahre sowohl in diagnostischer wie auch in konzeptueller Hinsicht bereits auf eine etablierte philosophische und psychologische Tradition zurückgreifen, welche die Menge, die Masse oder die Vielen als negative Kontrastfolie verwendet, um bestimmte Charakteristika des Menschen und seiner Individualität herauszuarbeiten. So macht Søren Kierkegaard bereits ein knappes Jahrhundert zuvor auf die gleichermaßen in den Wissenschaften wie im alltäglichen Denken überhandnehmende Gewohnheit aufmerksam, den Menschen mittels abstrakter Kategorien zu erfassen und lediglich das gelten zu lassen, was nach Maßgabe quantitativer, mathematischer Parameter bestimmt werden kann.⁷ Qualitative Differenzen zwischen Individuen mit ihrer je einzigartigen phänomenalen Innerlichkeit würden damit zunehmend nivelliert, wobei es, qua Verinnerlichung der abstrakten Sachbestimmungen, letztlich zu einer Verarmung des subjektiven Selbsterlebens komme. Diesen Topos greift Friedrich Nietzsche auf, wenn er unter Rekurs auf das Unvermögen, sich hinsichtlich moralischer Urteile auf sich selbst zu besinnen und Handlungen individuell zu verantworten, von einer ‚Herdenmoral‘ spricht, die eine umfassende Gleichheit zur Norm erhebe und den Menschen zur Anpassung an bestehende Normalitätsvorstellungen auffordere. Zur Vermeidung individueller wie kollektiver Risiken wende sich die prinzipiell konservative Menge, die ihre eigene Durchschnittlichkeit zur Tugend stilisiert habe, gegen schöpferisches Denken und Handeln. Mithin konstituiere sich die Mittelmäßigkeit im „Zeitalter der Mas-

 Vgl. Kierkegaard 1954, 90.

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sen“⁸ gerade durch die reaktive Abwendung von all dem, was sie mit der Vorstellung von Größe verbinde. Dabei löst Nietzsche die Begriffe der Herde oder der Masse bereits von einer konkreten Vielheit einzelner Menschen ab und verwendet sie als eine psychologische Bestimmung jener Individuen, die sich die normative Orientierung an positiv bestimmbaren und leicht zu vergleichenden Kategorien zu eigen gemacht haben: „Moralität ist Heerden-Instinct im Einzelnen“⁹ und prägt die eigenen Wertvorstellungen auch dort, wo der Mensch alleine ist und prinzipiell die Möglichkeit zur Selbstbesinnung hätte. Sein eigenes Denken versteht Nietzsche daher nicht alleine als theoretisch-diagnostische Bestandsaufnahme; es ist mindestens ebenso sehr ein durchaus streitbarer Mahnruf, sich auf den beschwerlichen Weg zur Selbsterkenntnis zu begeben, in der Hoffnung auf „eine Zeit, in welcher man überhaupt nicht mehr die Massen betrachtet, sondern wieder die Einzelnen“¹⁰. Einzeln zu sein wird zum Prädikat einer geistigen, vom sozialen Stand weitgehend unabhängigen Aristokratie, während die Masse als moralphilosophischer ‚Kampfbegriff‘ zur verächtlichen Distanzierung und zur eigenen Selbstvergewisserung dient. Es ist schließlich Gustave Le Bon, der 1895 den Begriff der Masse ins Zentrum einer psychologischen Betrachtung rückt und damit für lange Zeit die Konturen einer philosophischen, politischen und psychologischen Debatte prägt. Seine als Fortführung der eigenen rassenpsychologischen Studien verstandene Psychologie der Massen nimmt ihren Ausgang von der empirischen Feststellung eines wachsenden Einflusses jener Bevölkerungsmassen, die sich spätestens mit der Französischen Revolution Gehör verschafft hatten und auf eine Ausweitung der politischen Teilhabe ebenso hinwirkten wie auf Mitbestimmungsrechte in ökonomischen und kulturellen Angelegenheiten. Die Zunahme von Menschenansammlungen, die gemeinsam Interessen durchsetzen und als fortwährende latente Revolutionsdrohung wahrgenommen werden, lässt ihn nicht nur, ebenso wie Nietzsche, vom dämmernden „Zeitalter der Massen“¹¹ sprechen, sondern wirft für ihn insbesondere die Frage nach den affektiven und intentionalen Spezifika öffentlich agierender Gruppen auf. In psychologischer Hinsicht, so Le Bon, ist eine Masse stets mehr als die Summe der einzelnen Menschen, aus denen sie sich konstituiert. Die individuellen Persönlichkeiten schwänden und organisierten sich als „Gemeinschaftsseele“¹², in der die unbewussten Triebe und Eigenschaften die Oberhand gewinnen und, unter quasi hypnotischer Ausschaltung des individuellen Entscheidungsver Nietzsche Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, 181.  Nietzsche Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 475.  Nietzsche Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, KSA 1, 317.  Le Bon 2011, 22.  Le Bon 2011, 29.

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mögens, ein beliebiges Ziel anzusteuern vermögen. Die an einem Ort zusammenströmende Menschenmenge verbindet sich, analog zu einer chemischen Reaktion, in einer unterhalb der Bewusstseinsebene ablaufenden Gleichschaltung zu einem Massensubjekt, das sich als ein einziges, mächtiges Agens empfindet. Eine solche Entfremdung des einzelnen Menschen von sich selbst bleibt in der Psychologie der Massen damit an das faktische, gegenwärtige Vorhandensein mehrerer Menschen gebunden; die entindividualisierende Wirkung der Gruppe vermag sich ebenso schnell zu verflüchtigen, wie sie sich einzustellen vermag. Die politische Macht ebenso wie die ideologische Instrumentalisierbarkeit der Masse, die keinen dauerhaften Willen besitzt, sind angewiesen auf die wiederkehrende Selbsterfahrung, die aus der kollektiven Präsenz Tausender oder Zehntausender von Menschen resultiert. Mit der notwendigen Verknüpfung von Massenpsychologie und faktischer Versammlung einer prima facie konkret bestimmbaren Anzahl von Menschen werde jedoch übersehen, so die unmittelbar an Le Bon anschließende Arbeit Sigmund Freuds, dass die Masse als internalisierter Anderer immer schon eine zentrale Rolle in der Einzelpsyche spiele. Le Bon überschätze nicht nur die Bedeutung der Anzahl, sondern bleibe eine Antwort auf die Frage nach dem Bindemittel zwischen den Mitgliedern einer psychologisch bestimmten Masse schuldig.¹³ In Massenpsychologie und Ich-Analyse von 1921 zielt Freud entsprechend darauf ab, die individualpsychologischen Abläufe bei der Entstehung und Wirkung eines Gemeinschaftssubjekts offenzulegen, die weniger über genuin neue Eigenschaften als vielmehr über den Abbau von kulturellen Hemmungen und das dadurch ermöglichte Ausagieren unbewusster Triebregungen erklärt werden. Betont Le Bon die Unbewusstheit alles Kollektiven, so verweist Freud wiederholt darauf, dass alles Kollektive dem Unbewussten entspringt.¹⁴ Gerade aufgrund ihres Mangels an Reflexion könnten kollektive Handlungen nicht nur höchst sittlich sein, sondern die Masse sei, beispielsweise in Form der Sprache, durchaus zur Hervorbringung „genialer geistiger Schöpfungen“¹⁵ fähig. Konsequenter als seine Vorgänger unterscheidet Freud darüber hinaus kurzlebige von dauerhaften, etwa militärisch oder kirchlich organisierten, Arten von Massen, wobei Letztere keineswegs in demselben

 Vgl. Freud 2010, 76–88. Georges Lefèbvre merkt in ähnlicher Weise kritisch an: „Der Terminus der Masse ist von Dr. Le Bon in die Geschichte der Französischen Revolution eingeführt worden. Dieser Begriff implizierte die Existenz eines Problems, um das man sich vor ihm überhaupt nicht gekümmert hatte. Aber wenn das Verdienst dieses Autors in dieser Hinsicht auch unbestreitbar ist, so geht es doch nicht darüber hinaus.“ Zitiert in: Moscovici 1984, 82.  Vgl. Freud 2005, 241.  Freud 2010, 89.

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Maße regressiver Natur sind, mithin also kein Zeichen kulturellen Verfalls darstellen. Mit Freud wird die Masse als Phänomen des Unbewussten, das situativ freigesetzt und kulturell eingehegt werden kann, zum latenten Aspekt einer jeden menschlichen Psyche. Diesen Gedanken greift auch Martin Heidegger auf, wenn er das Masse-Sein als uneigentlichen und unreflektierten Modus des täglichen Lebens identifiziert, der jedem schöpferischen Ausbruch aus der Durchschnittlichkeit vorangeht und den wir nie vollständig hinter uns lassen können. Wir sind immer schon von den anderen geprägt und an ihnen orientiert, folgen gewissermaßen der normativen Kraft des Faktischen, die uns von der Last befreit, wir selbst zu sein und unsere Existenz selbst verantworten zu müssen: „Diese Durchschnittlichkeit in der Vorzeichnung dessen, was gewagt werden kann und darf, wacht über jede sich vordrängende Ausnahme. Jeder Vorrang wird geräuschlos niedergehalten. Alles Ursprüngliche ist über Nacht als längst bekannt geglättet.“¹⁶ Zwei Jahre vor dem Erscheinen von Ortegas Aufstand der Massen sieht Heidegger in der Einebnung individueller Seinsmöglichkeiten das zentrale Merkmal der Öffentlichkeit, deren existenzielle Entlastungsfunktion den damit einhergehenden Verlust an schöpferischer Fülle keineswegs zu kompensieren vermöge. Mit Blick auf Europa nimmt Heideggers Diagnose der nie abschließend zu überwindenden Verfallenheit an die Masse zum Teil dezidiert kulturkritische Züge an. Durch die von der Technik verstärkte Nivellierung historischer und kultureller Unterschiede, dank der „die Millionenzahlen von Massenversammlungen“ als Triumph gefeiert werden, werde auch in Europa die entfesselte Organisation von Normalität, „die Vermassung des Menschen“¹⁷, zum allgemeinen Schicksal, dem es eine neue geistige Zielvorstellung entgegenzusetzen gelte, deren Form und Ausgestaltung – sofern man Heidegger wohlwollend auslegt – sich bislang noch nicht am Horizont abzeichnet. Die anthropologisch-kulturphilosophische Verzahnung des Begriffs der Masse findet wenige Jahre später, unabhängig von Ortegas zu diesem Zeitpunkt bereits erschienenem Werk, eine Fortsetzung bei Gabriel Marcel, der die gegenwärtige Zeit über ein „Ausufern (désorbitation) der Funktions-Idee“¹⁸ charakterisiert, die sämtliche Abläufe des menschlichen Lebens in kausalmechanisch beschreibbare Operationen übersetze. Die Betrachtung der Welt nach Maßgabe funktionaler Eigenschaften beschränke sich nicht auf die technisierte Arbeitswelt oder einen politischen Verwaltungsapparat, sondern unterwerfe soziale, vitale und schließlich auch psychologische Abläufe einer Funktionalisierung, die von objektiv definier-

 Heidegger Sein und Zeit, GA 2, 169.  Beide Zitate: Heidegger Einführung in die Metaphysik, GA 40, 41.  Marcel 1992, 60.

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baren Normalzuständen ausgeht und berufliche, existenzielle oder andere Formen von Krisen nur noch als Pathologien verstehen lässt.¹⁹ Der Mensch wird zur Masse, insofern er sich die durchgängige Funktionalisierung der Lebenswelt aneignet, in der Individualität nur noch als Konstellation allgemeiner und abstrakter Kategorien verstanden werden kann, die weder der Liebe noch dem Verstand Raum ließen. „[D]ie Massen existieren und entwickeln sich gerade – im Grunde rein mechanischen Gesetzen folgend – nur weit diesseits der Ebene, auf der der Verstand und die Liebe möglich sind.“²⁰ Zugleich werde es im Zuge des technologischen Fortschritts, der wachsenden Bedeutung von politischer Propaganda und der globalen Reduktion von Bewertungsmaßstäben für menschliches Leben und Handeln auf den gemeinsamen Nenner des Geldes immer schwieriger, einem solchen erniedrigten Zustand des Daseins zu entkommen: Als Masse sei der Mensch weder zu erziehen noch zu verbessern, es gelte daher, sich dem einzelnen Menschen zuzuwenden und ihm zugleich das Bewusstsein einer Würde wiederzugeben, die von Abstraktionen und Statistiken allzu oft verdeckt werde. Der Versuch, die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit soziokultureller Uniformisierungstendenzen und existenzieller Entfremdungserfahrungen unter Rekurs auf einen Begriff von Masse zu beantworten, ebbt auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht ab. Ihre Fortführung findet die Kritik der Masse in prominenter Form bei Elias Canetti, für den die Attraktivität und Faszination einer physischen Menschenmasse darin besteht, eine spontane Entgrenzung zu erlauben, in der das Individuum paradoxerweise jener Furcht vor Unmittelbarkeit und Berührung, die durch eine gleichförmige und anonyme Lebenswelt hervorgerufen wird, zu entkommen vermag. „Um dieses glücklichen Augenblickes willen, da keiner mehr, keiner besser als der andere ist, werden die Menschen zur Masse.“²¹ Um den Prozess der ‚Entladung‘, in dem sich alle individuellen Unterschiede auflösen, aufrechtzuerhalten, tendiere jede faktische Masse zum Wachstum, zur Zunahme von Dichte und zur Bewegung in Richtung eines, oft kaum absehbaren, Ziels. Diese Tendenz kulminiere in der Zeit des Kalten Krieges in einer beinahe religiösen Verklärung des Wachstums selbst: Kapitalismus und Sozialismus bedürfen der Menschen als Arbeiter und Produzenten, die Vermassung werde mehr und mehr zum Selbstzweck. Insofern der Wunsch, in der Masse aufzugehen, in letzter Konsequenz der Furcht vor dem Tod entspringt, sind es für Canetti lediglich ihre Erscheinungsformen, die sich historisch zu ändern vermögen, nicht jedoch Tendenz und Phänomen.

 Vgl. Sölch 2022, 71–73.  Marcel 1957, 18–19.  Canetti 1994, 17.

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Daran erinnert auch Peter Sloterdijk, der die grundlegende Verwandlung der Organisationsformen unserer Gesellschaft seit dem Erscheinen von Canettis Masse und Macht im Jahr 1960 als radikale Entkopplung von körperlicher Versammlung und medialer Kollektivität rekonstruiert. Die aktuellen Massen haben im wesentlichen aufgehört,Versammlungs- und Auflaufmassen zu sein; sie sind in ein Regime eingetreten, in dem der Massencharakter nicht mehr im physischen Konvent, sondern in der Teilnahme an Programmen von Massenmedien zum Ausdruck kommt.²²

Im inner- und außerakademischen Groll gegen die rohen und dumpfen Massen finde sich gleichwohl noch immer eine Bestätigung der anhaltenden Sehnsucht nach einer Aufhebung jener Indifferenz, mit der die „entschlossen vorrückende Einheitskultur“²³ in Europa jedes normative Kulturideal sofort wieder relativiere und an den Status Quo anpasse.

3 Ortega y Gassets Aufstand der Massen Inmitten dieser Diskurslandschaft, in der Präsenz und Wirkung von Menschenmassen zum deutungsbedürftigen Phänomen geworden sind, nimmt Ortega eine gewisse Sonderstellung ein. Nach mehreren langen Studienaufenthalten in Deutschland, insbesondere in Berlin und Marburg, war Ortega schon 1908 als Professor für Psychologie, Logik und Ethik an die Escuela Superior de Magisterio de Madrid berufen worden, um nur zwei Jahre später, im Alter von 28 Jahren, den prestigeträchtigen Lehrstuhl für Metaphysik an der Universität Complutense de Madrid zu übernehmen. Mit den Arbeiten von Le Bon und Freud zwar durchaus vertraut, fühlte er sich vor allem Nietzsche verpflichtet, dessen Moral- und Kulturkritik er weniger als zeitlose Theorie denn vielmehr als einen Beitrag zur Überwindung nihilistischer Verfallstendenzen rezipierte.²⁴ Europa im Allgemeinen und Spanien im Besonderen, so die Stoßrichtung von Ortegas kritischer Bestandsaufnahme, profitieren in einem nie dagewesenen Ausmaß von den kulturellen Leistungen der Vergangenheit, ohne sich diese Kultur jedoch in einer Weise ange-

 Sloterdijk 2020, 16.  Sloterdijk 2020, 94.  Gadamer spricht von einer unverkennbaren „Omni-Präsenz Nietzsches“ (Gadamer 1987, 440) bei Ortega in der Zeit, als der Spanier seinen eigenen philosophischen Standpunkt zu entwickeln beginnt. Zur Bedeutung Nietzsches für Ortegas philosophisches Denken, insbesondere für das Konzept einer ‚vitalen Vernunft‘, vgl. Conill-Sancho 2013, 339.

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eignet zu haben, die für ihre lebendige Weiterführung unabdingbar ist. Die Mehrheit der Menschen habe einen vorwiegend instrumentellen Bezug zu ihrer eigenen Kultur, den Wissenschaften und auch den politischen Institutionen, die sie zwar zu nutzen vermögen, ohne sie jedoch wirklich zu verstehen oder sich gar mit ihnen zu identifizieren, das heißt, in einem auch affektiv affirmativen Verhältnis zu ihnen zu stehen. Durch den wachsenden Einfluss jener Massen, die sich in die vorfindlichen soziokulturellen Gegebenheiten fügen, ohne sie zu beherrschen oder weiterzuentwickeln, befinde sich Europa in einer Situation, in der seine Zukunft ungewisser scheine denn je. Der Kontinent, so Ortega, stehe vor „einer der schwersten Krisen […], die über Völker, Nationen, Kulturen kommen kann. […] Ihre Kennzeichen und Folgen sind bekannt. Sie heißt der Aufstand der Massen.“²⁵ Mit dem Aufstand (rebelión) ist keine politische Revolution angezeigt, die auf eine grundlegende Änderung der bestehenden Verhältnisse abzielt, sondern vielmehr eine veränderte Anspruchshaltung. Eine ganze Generation maße sich an, einen völlig selbstverständlichen Anspruch auf jene Positionen und Privilegien zu haben, die durch die Leistungen herausragender Individuen und kultureller Eliten vergangener Epochen möglich geworden sind, ohne freilich über vergleichbare Qualifikationen zu verfügen: Die Menge ist auf einmal sichtbar geworden und nimmt die besten Plätze der Gesellschaft ein. Früher blieb sie, wenn sie vorhanden war, unbemerkt; sie stand im Hintergrund der sozialen Szene. Jetzt hat sie sich an die Rampe vorgeschoben; sie ist Hauptperson geworden. Es gibt keinen Helden mehr; es gibt nur noch den Chor.²⁶

Die Menge, die den bestehenden kulturellen und materiellen Reichtum als bloße Verfügungsmasse ansieht, will Ortega ausdrücklich nicht auf eine bestimmte Klasse oder Bevölkerungsgruppe bezogen wissen. Der Massenmensch ist für ihn schlicht jener gewöhnliche Mensch, der weder die Überzeugung noch das natürliche Bestreben hat, mehr zu sein und zu leisten als andere. Er sei sich seiner Durchschnittlichkeit bewusst, ohne unter dieser Einschätzung zu leiden oder sie als Makel zu empfinden. Die Einteilung der Menschen in Masse und Elite, in Chor und Held, erfolge weder nach sozialen noch nach ökonomischen oder die formale Bildung betreffenden Kriterien und Parametern, sondern beziehe sich auf die geistige Konstitution und psychische Dispositionen. Sowohl unter Arbeitern als auch unter Intellektuellen gebe es jene, die sich etwas Höherem, sei es Wahrheit, Gerechtigkeit oder Schönheit, verpflichtet wissen, wie auch solche, die sich vollkommen zufrieden  Ortega 1978a, 7.  Ortega 1978a, 9.

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mit dem Status Quo bescheiden.²⁷ Gerade die der Demut verwandte, dienende Haltung der Selbstaufopferung für Ideen und Wertvorstellungen, die den einzelnen Menschen übersteigen, kennzeichne jedoch die Mitglieder einer kulturellen Elite. Sie berge allerdings gleichzeitig die Gefahr, die Bedeutung eben dieser Ideale zu schmälern: Wie schon Platons zum Herrschen geeignete Philosophen behagt auch den „Auserlesenen“ Ortegas „keine Art von Machtstellung.“²⁸ Die Differenz von aristokratischem Individuum und allgemeiner Durchschnittlichkeit sei prima facie ebenso zeitlos wie die prekäre Balance zwischen beiden Gruppen.²⁹ Als charakteristisch für die gegenwärtige Lage erweise sich daher nicht die Unterscheidung von Masse und Elite als solche; auffällig ist für Ortega vielmehr die Tendenz, den bestehenden Durchschnitt zur Norm zu erheben und daraus einen Anspruch auf politische und andere Führungspositionen abzuleiten. Alle möchten gerne zur Elite gehören, Wohlstand und Ansehen genießen, ohne sich aber die Mühe machen zu wollen, die den geistigen Errungenschaften zugrunde liegenden Prinzipien zu verstehen und sich anzueignen. Die Eignung zum politischen Entscheidungsträger werde nicht länger an umfassende historische, kulturelle oder psychologische Kenntnisse und Fähigkeiten geknüpft, und selbst Ärzte, Ingenieure und andere Wissenschaftler übten ihr Profession zunehmend mechanisch aus, ohne Leidenschaft für und innere Beteiligung an Geschichte und Zukunft ihrer Disziplinen. „Der Europäer, der jetzt zu herrschen beginnt“, so Ortegas leitende Hypothese, „ist im Verhältnis zu der verwickelten Kultur, in die er hineingeboren wird, ein Barbar, ein Wilder, der aus der Versenkung auftaucht, ein ‚vertikaler Eindringling‘.“³⁰ Das 20. Jahrhundert stehe im Zeichen einer Konsumhaltung, die sich nicht zuletzt in einem Mangel an Selbstdisziplin und freiwilliger Verpflichtung gegenüber solchen Zielen und Idealen äußere, denen eine größere Bedeutsamkeit als dem eigenen Wohlbefinden zugeschrieben wird. Die Führung der Gesellschaft werde damit jenen überlassen, denen die Prinzipien dieser Gesellschaft fremd sind. Sie richten sich bequem in einer Welt voller Selbstverständlichkeiten ein, ohne zu ahnen, wie fragil das Netz ist, aus dem die vermeintlichen Sicherheiten gewoben sind.³¹ Der durchschnittliche Bürger ruhe etwa im Bewusstsein, die Medizin habe für jede Krankheit eine Therapie oder benötige im Zweifelsfall nur wenige Handgriffe, um für ein neues Leiden eine Arznei zu erfinden, ohne das unaufhörliche

 Vgl. Ortega 1978a, 11. Siehe dazu auch Albert 2017, 130.  Ortega 1978b, 347.  Ungeachtet der geteilten kulturhistorischen Diagnose ist Ortegas Perspektive damit weit weniger demokratisch als diejenige Jaspers’, der insistiert, dass jeder einzelne Mensch stets mehr ist und sein kann als lediglich ein Glied der Masse. Vgl. Jaspers 1999, 68.  Ortega 1978a, 69. Hervorhebungen im Original.  Vgl. Morujão et al. 2021, 64.

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Studium, den Forschungseifer und die konkreten Herausforderungen zu kennen und zu würdigen, die mit der Wissenschaft einhergehen, oder sich gar verpflichtet zu fühlen, sich selbst in den Dienst von Kultur und Wissenschaft zu stellen. Die Kritik einer Kultur der Durchschnittlichkeit, deren repräsentativer Vertreter für Ortega jener „zufriedene junge Herr“³² ist, der deutliche Züge des „ l e t z t e n M e n s c h e n “³³ trägt, den Nietzsche seinen Zarathustra verkünden lässt, stellt keine bloß theoretisierende Bestandsaufnahme dar, sondern ist zumindest auch als Appell zu verstehen. Wer sich zu schöpferischen Werken berufen fühlt und damit nolens volens zu einer europäischen wie auch kosmopolitischen Elite gehört, dürfe sich nicht dem Zeitgeist anbiedern und die Massen zu überzeugen oder zu führen versuchen.³⁴ Es sei sinnlos, sich der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung entgegenzustellen. Umso mehr komme es darauf an, alle verfügbare Energie in Kunst, Literatur und Wissenschaft fließen zu lassen, um neue Orientierungen stiften zu können, die zum passenden Zeitpunkt aus der Krise herausführen mögen. Zugleich ist Ortega in seiner Einschätzung der soziopolitischen und ökonomischen Verschiebungen allerdings weit weniger reaktionär als etwa Le Bon, und auch von der Schicksalsergebenheit eines Oswald Spengler, der im Zeitalter der Massen ein Zeichen für den unabwendbaren Niedergang der abendländischen Kultur gemäß weltgeschichtlichen Gesetzmäßigkeiten sieht,³⁵ ist Ortegas Kritik weit entfernt. Der Aufstieg der Massen ist Gefahr und Chance zugleich. Diese Ambivalenz lässt sich bereits den Ursachen ablesen, die Ortega als Ausgangspunkt der Entwicklung betrachtet, nämlich dem seit dem 19. Jahrhundert rapide zunehmenden technischen Fortschritt, verbunden mit einer umfassenden Technisierung der Lebenswelt, sowie der Ausweitung der liberalen Demokratie seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. So führe der Prozess der Industrialisierung zwar einerseits zu einer wachsenden Entfremdung vieler Menschen von einer komplex gewordenen, umfassend technisierten Lebenswelt, schaffe jedoch andererseits Freiräume für Muße und Innovation. Fortschritte in der Hygiene erhöhen die Lebenserwartung, die Mechanisierung erleichtert die Produktivität in der Landwirtschaft und die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern, die Urbanisierung sozialisiert zahlreiche Aspekte der Daseinsvorsorge und des Schutzes vor Kontingenzen. Mit den technischen Neuerungen verändern sich die sozioökonomische Zusammensetzung der Gesellschaft und die Ansprüche der unterschiedlichen Stände und Klassen,³⁶ während gleich    

Ortega 1978a, 81. Nietzsche Also sprach Zarathustra, KSA 4, 19. Vgl. Ortega 1978b, 348–350. Vgl. Spengler 2007, insbesondere 152–158. Vgl. Ortega 1978a, 94–95 sowie dazu auch Chvartsman 2008, 46.

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zeitig der körperliche und geistige Möglichkeitshorizont in einem Maße wächst, das Ortega von einer „gewaltige[n] Hebung des vitalen Niveaus“³⁷ in Europa sprechen lässt. Die Alphabetisierungsrate in allen Ländern des Kontinents lag nie höher, der Zuwachs zu Bildungsmöglichkeiten ist größer als in jeder anderen Epoche zuvor und die Menschen können auf den Erfahrungsschatz von mehr als zwei Jahrtausenden zurückgreifen: „Von dieser Seite aus gesehen, bedeutet der Aufstand der Massen einen unermeßlichen Zuwachs an Lebenskraft und -möglichkeiten, gerade das Gegenteil also von dem, was wir so oft über den Niedergang Europas hören.“³⁸ Dieser Wandel wird begleitet und forciert durch die Verbreitung des Liberalismus, der dem Individuum sukzessive größere Unabhängigkeit gegenüber der Macht des Staates garantierte. Mit der Entwicklung von allgemeinen Menschenrechten und dem Schutz vor staatlicher Willkür hin zur allgemeinen Gleichheit vor dem Gesetz und umfassenden Partizipationsmöglichkeiten sieht Ortega in durchaus prophetischer Manier das Risiko einer radikalen Verflachung der Diskussionskultur verbunden.³⁹ Meinungen ersetzten fundierte Kenntnisse und reflektierte Positionierungen, subjektive Befindlichkeiten träten an die Stelle verbindlicher Normen und einer Orientierung an objektiven Instanzen, und schließlich werde auch der kultivierte Gedankenaustausch abgelöst durch das Bestreben, die eigenen Überzeugungen und Interessen durchzusetzen. Dennoch sei nicht von der Hand zu weisen, dass die Stärkung des Individuums zu einer Besinnung auf die Unabhängigkeit des Denkens und der Haltung geführt habe. „Eines ihrer wichtigsten Ergebnisse ist die Gedankenfreiheit, die diesem Aufstand der Massen eigentlich zu verdanken ist.“⁴⁰ Damit bestehe die Möglichkeit, so Ortega, die egalitaristischen Auswüchse des Liberalismus in Europa zugunsten einer meritokratischen Form liberaler Demokratie hinter uns zu lassen.⁴¹ Das Zeitalter der Massen in Europa ist aus dieser Perspektive folglich keineswegs notwendig das Resultat einer Verfallsgeschichte. „Alles Gute und alles Böse der Gegenwart und unmittelbaren Zukunft haben ihre Ursache und Wurzel in diesem allgemeinen Steigen des historischen Pegelstandes.“⁴² Der gestiegene Lebensstandard und die Anhebung auch des intellektuellen Niveaus bergen die Gefahr einer Anspruchshaltung, die sich der Voraussetzungen der eigenen Lebensform nicht

 Ortega 1978a, 19.  Ortega 1978a, 20.  Vgl. Ortega 1978a, 56–58.  Galen 1959, 89. Die ambivalente Haltung Ortegas gegenüber dem Liberalismus findet Ausdruck in seinem Staunen darüber, dass die Menschheit mit diesem „eine so schöne, geistreiche, halsbrecherische und widernatürliche Sache“ (Ortega 1978a, 60) erfunden habe.  Vgl. auch Dobson 2009, 70.  Ortega 1978a, 18.

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länger bewusst ist, verweisen jedoch zugleich auf die Möglichkeit einer reflektierten Weiterentwicklung der liberalen Kultur selbst. Wenige Jahre vor Husserls Diagnose einer Krisis der europäischen Wissenschaften, die den Kontakt zur Lebenswelt und damit zur Sinnfrage verloren hätten, diagnostiziert Ortega eine Krise der europäischen Kultur, die den Kontakt zum Leben verloren habe. Es gelte, sich auf die Bedingung der Möglichkeit von Kultur überhaupt zu besinnen, um von dieser Warte aus einen neuen Blick auf Europa werfen zu können.

4 Zur lebensphilosophischen Grundlage von Ortegas Kulturverständnis Wie schon Le Bon oder Freud geht es auch Ortega um die Konstituierungsbedingungen von Massen. Während seine geistesgeschichtlichen Vorläufer jedoch primär auf eine Analyse der psychologischen und soziologischen Mechanismen abheben, denen das Verhalten einer Masse und ihrer Mitglieder unterworfen ist, zielt Ortega auf eine fundamentale Klärung der Beziehung von Mensch und Kultur, auf deren Grundlage zum einen die Dynamik von Masse und Elite als basaler Aspekt menschlicher Gesellschaften ausgewiesen werden soll, um zum anderen die gegenwärtige Krise Europas als Resultat einer Entwicklung zu rekonstruieren, deren Fortgang positiv beeinflusst werden kann. Ausgangspunkt ist dabei nicht der einzelne Mensch, weil dieser überhaupt nur als Teil einer Gemeinschaft sinnvoll gedacht werden könne, sondern das Leben selbst, das sich einer Reduktion auf psychologische Gesetzmäßigkeiten oder quasi-mechanische Abläufe widersetze. Als „Grundwirklichkeit“⁴³ bilde das Leben jene Bezugsgröße, auf die alle physiologischen, intellektuellen oder affektiven Aktivitäten notwendig bezogen bleiben. Es erschöpft sich nicht im Lebensbegriff der biologischen Wissenschaft, aber ebenso wenig wird es als dionysischer Urgrund oder irrationaler Willenstrieb in einer Sphäre angesiedelt, die lediglich der Intuition oder dem Gefühl zugänglich wäre. Leben umfasst das Allgemeine ebenso wie das Individuelle, insofern es als das je meinige erfahren wird, das wir tun und das uns widerfährt.⁴⁴ Insofern Leben subjektiv erfahren wird, enthält es die Idee des Bewusstseins, und insofern es sich nicht in bloßer Unmittelbarkeit erschöpft, impliziert es die Einbettung in eine Welt. Das Leben ist uns gegeben, denn wir geben es uns ja nicht selbst, sondern befinden uns in ihm ganz plötzlich und ohne zu wissen, wie uns geschieht. Aber das Leben, das uns gegeben ist, ist

 Ortega 1978c, 340.  Vgl. Marías 1952, 29.

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uns nicht als etwas Fertiges gegeben, sondern wir müssen es uns gestalten, und zwar jeder sein eigenes. Das Leben ist Aufgabe.⁴⁵

Wir finden uns stets in eine konkrete Situation gestellt, zu der wir uns verhalten müssen und die wir gestalten können. Eine solche Gestaltung beschränkt sich nicht auf ein der Sicherung des Überlebens verpflichtetes Handeln, vielmehr umfasst es die schöpferische Qualität des Daseinsvollzugs insgesamt. Leben ist damit wesentlich plastisch und transzendiert seine situative Gegebenheit in einer Weise, die weder im Rahmen einer naturwissenschaftlichen Methodik noch durch eine begrifflich-analysierende Philosophie adäquat eingefangen werden kann. Es gibt, so Ortega, keine fixe menschliche Natur oder, teleologisch gewendet, ein unentrinnbares menschliches Schicksal, die beziehungsweise das der Mensch sich nicht wieder aneignen und damit ihrer beziehungsweise seiner Notwendigkeit berauben könnte. Gerade diese Nicht-Feststellbarkeit – wiederum ein Nietzschescher Topos – mache „den entscheidenden Wesenszug des Menschen, sein ‚ontologisches Privileg‘“⁴⁶ aus. Die Unmöglichkeit einer abschließenden begrifflichen Bestimmung des Menschen wie des Lebens mündet für Ortega jedoch nicht in eine Zurückweisung von Rationalität in toto. Das Denken stehe allerdings nicht außerhalb des Lebens, um es von einem interesselosen Standpunkt aus als ein Ganzes erfassen und verstehen zu können. Vernunft und Verstand sind integrale Bestandteile des Lebens selbst, das „Denken ist eine Lebensfunktion“⁴⁷ und insofern analog zu Atmung und Verdauung, wenngleich es nicht stricto sensu auf körperliche Vorgänge reduzierbar sei.⁴⁸ Sobald das Denken seine vitalen Voraussetzungen vergesse und sich als ‚reine Vernunft‘ an die abstrakte gedankliche Vermessung der Welt mache, beginne es zu erlahmen und produziere Systeme oder Theorien, die nur noch einen abgeleiteten Bezug zum Leben haben und damit sowohl kulturell wie auch individuell wirkungslos bleiben. Richtig verstanden, ließen Leben und Vernunft sich nur begrifflich voneinander trennen, und entsprechend konstatiert Ortega, es sei an der Zeit, dass die reine Vernunft zugunsten einer ‚vitalen Vernunft‘ abdanke.⁴⁹

 Ortega 1978c, 340.  Rohmer 2008, 12.  Ortega 1978d, 99.  Vgl. Ortega 2016, 14: „Jetzt fragen wir uns: Ist der Mensch ein biologisches Individuum, ein reiner Organismus? Die Antwort ist eindeutig: Nein. Er ist nicht nur ein Fall der Biologie, denn er ist die Biologie selbst. Er ist nicht nur ein Grad in der zoologischen Skala, da er derjenige ist, der die ganze Skala errichtet.“  Vgl. Ortega 1978d, 115.

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Der mit dem Verweis auf vitale und biologische Funktionen suggerierte instrumentelle Charakter der Vernunft ist freilich in einem sehr weiten Sinne zu verstehen. Ihre Leistung besteht für Ortega wesentlich darin, dem menschlichen Leben Orientierung zu bieten und einen Standpunkt zu erschaffen, von dem aus der Prozess der spontanen und schöpferischen Selbstgestaltung seinen Fortgang nehmen kann. Mittels der Vernunft gibt sich das Leben eine Form, um sich zu stützen, sich auszuprobieren und an Intensität zu gewinnen. Diese Form bildet das Fundament, auf dem sich das Schauspiel des Lebens jeweils abspielt und allen ausdrücklichen bewussten Tätigkeiten eine selten explizit werdende Grundierung und Vorprägung verleiht. Während Ideen, etwa in Form wissenschaftlicher Aussagen oder politischer Überzeugungen, explizit ausformuliert und mit einem Wahrheitswert versehen werden können, stecken Glaubensgewissheiten den geistigen Horizont ab, innerhalb dessen wir uns in alltäglicher wie auch in intellektueller, ästhetischer oder moralischer Hinsicht bewegen. Über unsere Glaubensgewissheiten legen wir uns keine bewusste Rechenschaft ab; sie sind für uns Bestandteil der Wirklichkeit selbst, und so rechnen wir zumeist schlicht mit ihnen, ohne dass sie selbst thematisch würden. Im Unterschied zu wissenschaftlichen Erkenntnissen und Theorien liegen basalen Gewissheiten gewissermaßen paradigmatisch jenseits der Ebene von Ideen, die wir lediglich kontingenterweise haben. „[G]erade weil es fundamentale Glaubensgewißheiten sind, vermischen sie sich für uns mit der Wirklichkeit selbst – sie sind unsere Welt und unser Sein – und verlieren dadurch den Charakter von Ideen, von Gedanken, die uns ebensogut nicht hätten einfallen können.“⁵⁰ Der Mensch findet sich immer schon in Sinn- und Bedeutungszusammenhänge eingebettet, die er nicht selbst geschaffen hat. Menschliches Leben, darin stimmt Ortega mit Dilthey und Heidegger überein, ist folglich nicht nur subjektiv und plastisch, sondern geschichtlich verfasst. Jede neue Generation gründet auf den fundamentalen Gewissheiten der Vergangenheit, die sich wiederum aus sedimentierten Ideen zusammensetzen. Im Modus des Hervorbringens neuer Ideen gestaltet der Mensch seine eigene Wirklichkeit, sein Schicksal und sein wesentliches Merkmal bestehen darin, eine „lebendige Utopie“⁵¹ zu sein. Die geschichtlich-verstehende Dimension des Lebens impliziert damit eine prospektiv-entwerfende als ihr in die Zukunft gerichtetes Pendant. Mögen die konkreten gedanklichen Vorwegnahmen in der historischen Verwirklichung auch immer wieder verfehlt werden, so werde der Mensch doch erst dann seiner Bestimmung gerecht, wenn er dem Anspruch des Lebens folgt,

 Ortega 1978e, 71.  Ortega 2005, 96.

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frühere Ideen zur Entfaltung zu bringen, Veraltetes abzustoßen und Neues hervorzubringen. Die schöpferische Hervorbringung von Einsichten, die den Horizont der lebenstragenden Überzeugungen zu modifizieren und zu erweitern vermögen, ist für Ortega das wesentliche Betätigungsfeld von Kultur, der„eigentliche kulturelle Akt“⁵², der einer bewussten Gestaltung des Lebens gleichkommt. Vehement wendet er sich gegen eine Vorstellung von Kultur als späte und höchste Leistung menschlichen Geistes, der sich qua Philosophie, Kunst und Wissenschaft überhaupt erst verwirkliche. Kultur ist nichts, das vom Leben getrennt und erst durch intellektuelle Leistung anzueignen wäre. Wir haben gar nicht erst die Möglichkeit, Kultur zu erwerben oder auf sie zu verzichten.⁵³ Leben ist immer kulturell, insofern Kultur die Form darstellt, die sich das Leben selbst gibt. Kulturschöpfung kann damit weder auf einen objektiven, mittels (natur)wissenschaftlicher Methodik zu erfassenden Maßstab rekurrieren, noch kann der Mensch ad libitum Visionen entwerfen, die sich einzig einer kindlichen Vorstellungskraft verdanken. Jenseits des Gegensatzes von Rationalismus und Relativismus, so Ortega, gilt es, einerseits ein umfassendes Bewusstsein von den eigenen Lebensumständen, mithin von den historischen Voraussetzungen der eigenen Kultur zu erlangen, und andererseits in dem Wissen um und mit einem sensiblen Gespür für diese Kontinuitäten und Zusammenhänge neue Ideen und Institutionen zu erschaffen. Hier hat die Differenz von Masse und Elite ihren eigentlichen Ort: Beide empfangen die grundlegenden Voraussetzungen ihres sozialen und individuellen Lebens aus der Vergangenheit, die mit der Autorität des Bewährten und Selbstverständlichen auftritt. Während die große Mehrheit der Menschen am Hergebrachten festhalte und sich innerhalb des von ihm ermöglichten Rahmens einrichte, bilde eine kleine Minderheit „die Vorhut des Geistes“⁵⁴, die das Unbekannte als Herausforderung versteht und auszuloten sucht. Es sei die Elite dieser Wenigen, die neue Glaubensgewissheiten zu prägen vermögen,⁵⁵ ohne damit jedoch den Charakter heroischer Ausnahmenaturen oder individueller Glücksfälle des Schicksals für sich in Anspruch nehmen zu können. In seltener, wenngleich unausgesprochen bleibender Abgrenzung von Nietzsche relativiert Ortega den Sonderstatus der herausragenden Einzelnen. Zwar hätte niemand das spezifische Individuum Cäsar vorhersehen können, doch der Anbruch einer cäsarischen Ära habe in der Luft gelegen und wäre früher oder später von einem anderen Genius in vergleichbarer Weise vollbracht worden.⁵⁶ Held und Menge seien     

Ortega 1959, 50. Vgl. Ortega 2005, 83–84. Ortega 1978d, 80. Vgl. Chvartsman 2008, 33. Vgl. Ortega 1978d, 88.

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nicht radikal voneinander getrennt; jede Generation bringe die ihr angemessene Form von herausragender Qualität hervor, müsse dann aber jeweils bereit sein, in die angezeigte Richtung aufzubrechen und kulturelles Neuland zu betreten. An genau dieser Bereitschaft und Entschlossenheit zur Selbsterneuerung mangele es jedoch Europa, insbesondere seiner spanischen Heimat, so Ortegas zeitkritische Diagnose. Der selbstverständliche Glaube an die Vernunft, die Verbindlichkeit einer bestimmten Form von Kultur, sei ins Wanken geraten, und zugleich zeichne sich nirgendwo eine Alternative ab: „Der abendländische Mensch ist völlig desorientiert, er weiß nicht, für welche Sterne er leben soll.“⁵⁷ Anstatt das vorhandene Potential der politischen Institutionen und Bildungseinrichtungen, des verfügbaren Wissens und der technischen Mittel zu nutzen, begnüge man sich mit dem Ererbten und suche bequeme Genüsse, verbinde somit Konservatismus und Hedonismus zu einer verfehlten Ideologie. In diesem Sinne sei die gegenwärtige Generation Europas im Scheitern begriffen, weil sie ihrer Aufgabe, ihre utopischen Anlagen zur Entfaltung zu bringen, zugunsten von Gewohnheit und Bequemlichkeit ausweiche. Die praktische, im Leben selbst verankerte Gewissheit des Glaubens an die Vernunft, die den Einzelnen und die Gesellschaft trägt, sei ins Wanken geraten und bringe ein Gefühl der Entfremdung und Entwurzelung mit sich. Wer diesen drohenden Verlust erkenne, befinde sich gleichwohl bereits auf dem Weg, ein neues Fundament zu errichten, und so zielt Ortega auf nichts Geringeres ab als darauf, Europa eine neue Utopie zu schenken. „Sorgen wir also für seine Wiedergenesung.“⁵⁸

5 In pluribus unum? – Ortegas Blick auf das europäische Kulturbewusstsein und die kulturelle Vielfalt Europas Ähnlich wie sein Zeitgenosse Karl Jaspers wächst Ortega in einer Zeit auf, in der das lange Zeit selbstverständliche Vertrauen in ein fortschrittliches, kulturell blühendes und friedliches Europa sich unaufhaltsam weiter aufzulösen scheint. So warnt Jaspers 1931 unter dem Titel Die geistige Situation der Geist vor den Folgen der unkritisch vorangetriebenen, umfassenden Technisierung der Lebenswelt ebenso wie vor der drohenden Verführung durch Faschismus und Bolschewismus, und wie der Spanier sieht er seine kritische Bestandsaufnahme bereits als Ansatz zu einer

 Ortega 1978d, 130.  Ortega 2005, 32.

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Veränderung der Situation.⁵⁹ Ortega wiederum zeigt sich vor allem von der politischen und sozialen Zerrissenheit Europas in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg erschüttert. Sein Aufruf, für eine Genesung der europäischen Kultur zu sorgen, erscheint vor diesem Hintergrund als Bemühen darum, zum einen die nationenübergreifende Bedeutung tragender Glaubensgewissheiten zu Bewusstsein zu bringen, und zum anderen eine Verständigung über die konkret verbindenden Grundüberzeugungen im dezidiert europäischen Kontext herbeizuführen.⁶⁰ Europa ist für ihn nicht nur Patient, sondern zugleich die Medizin; eine neue Utopie für Europa bedarf einer schöpferischen Wiederherstellung und Belebung des Begriffs von Europa als einem vitalen Ganzen. Eine Kultur kann jedoch nicht ad hoc erschaffen werden, und so erfordert auch jede Utopie eine umfassende Berücksichtigung der historischen Situation. Um etwas Menschliches, ganz gleich ob persönlicher oder kollektiver Natur, zu verstehen, müsse man eine Geschichte erzählen, die sowohl die Genese wie auch die Entwicklungstendenzen der Gegenwart durchsichtig werden lasse.⁶¹ Damit Europa wieder als ein solches Orientierung stiftendes Narrativ dienen könne, gelte es folglich, sich auf jenen Anfang zu besinnen, an dem die charakteristische Eigenart Europas hervortritt. Dabei zeige sich, so Ortega in einem Vortrag, den er 1953 auf Einladung des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie in München hält, dass Europa seit jeher über ein gemeinsames Kulturbewusstsein verfügt habe. Das Zusammenleben auf einem geteilten geographischen Raum und der damit verbundene Austausch hätten einen sozialen Raum geschaffen, in dem sich sowohl gemeinsame intellektuelle als auch moralische Bräuche ebenso wie eine vorherrschende öffentliche Meinung entwickeln konnten. Auf diese Weise sei die Lebensform der Völker in Europa immer schon eine zweifache gewesen, insofern die Ausbildung eines kulturell eigenständigen Geistes zugleich vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Vorrates an Ideen und Glaubensüberzeugungen stattgefunden habe. Die beiden unterschiedlichen sozialen Räume hätten sich historisch stets in einem fruchtbaren Spannungsverhältnis befunden. So habe etwa das geteilte Christentum zur Entstehung der nationalen Kirchen geführt, ebenso wie die Wiederentdeckung des gemeinsamen antiken Erbes in der Renaissance vielfältige literarische Stile und Traditionen hervorgebracht hätte. Aufgrund der kulturellen Zweipoligkeit sei das Leben fortwährend zwischen den beiden Extremen eines

 Vgl. Jaspers 1960, 22: „Das Erfassen der Situation ist von der Art, daß es sie schon ändert, sofern es Appell an Handeln und Sichverhalten möglich macht. Eine Situation zu erblicken, ist der Beginn, ihrer Herr zu werden; sie ins Auge zu fassen, schon der Wille, der um ein Sein ringt. Wenn ich die geistige Situation der Zeit suche, so will ich ein Mensch sein.“  Vgl. Rohmer 2008, 24–25.  Vgl. Ortega 1978c, 399.

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europäischen Universalismus einerseits und eines Partikularismus andererseits hin und her gependelt, wobei innereuropäische Differenzen überhaupt erst durch das Bewusstsein einer fundamentalen Gemeinschaft hätten entdeckt werden können. Ungeachtet aller politischen Verwerfungen in der Geschichte Europas habe es „von jeher ein europäisches Kulturbewußtsein“⁶² gegeben, für das zugleich ein gelebter Pluralismus wesentlich sei. Dieses Kulturbewusstsein befände sich, wie Ortega unter implizitem Rekurs auf den Aufstand der Massen anmerkt, vor einem neuerlichen Kipppunkt, der eine schöpferische Weiterentwicklung erforderlich mache. Während die Idee verschiedener Nationen im 19. Jahrhundert als Teil dieses innereuropäischen Wettstreits im Dienste wachsender Lebensintensität gestanden habe, sei der Begriff der Nation gegenwärtig nur noch eine „alte, versteinerte Idee“⁶³, die nicht länger in neue, dynamische Beziehungen eintrete. Die Nationen hätten untereinander zwar keine militaristischen Expansionsbestrebungen mehr, aber es würde ihnen eben auch an Utopien mangeln. Man kapsele sich ab, richte die Aufmerksamkeit primär nach innen und beraube sich damit des Ansporns für weitere Entwicklungen. Wenn es eine lebendige Zukunft für Europa geben solle, müssten „die Völker Europas […] sich auf den Weg machen zu einer Über-Nation, einer europäischen Integration“⁶⁴ und die kulturell ausgeschöpfte Idee der Nation durch ein neues und beweglicheres Modell ersetzen.⁶⁵ Wenn Ortega von einem zukunftsträchtigen Modell für Europa spricht, geht es ihm nicht in erster Linie um eine konkrete politische Organisationsform, die, wie auch Verträge und andere rechtliche Vereinbarungen, vor allem den Status pragmatischer Notwendigkeiten haben. Das Zusammenleben in einem sozialen Raum, in dem sich unterschiedliche ‚Völker‘ in Form von spezifischen Bräuchen, Überlieferungen, Sprachen und anderen Formen ausdifferenzieren, ist für ihn vielmehr eine Frage nach den Bedingungen, unter denen sich Glaubensgewissheiten und Ideen fruchtbar weiterzuentwickeln und neue Erfahrungen hervorzubringen vermögen. „Die europäische Kultur ist eine immer fortdauernde Schöpfung.“⁶⁶ Dass Ortega seinen Vortrag über das europäische Kulturbewusstsein mit einem Verweis auf Cervantes schließt, ist daher auch kein Zufall, hatte er doch bereits 1914 unter dem Titel Meditationen über Don Quijote versucht, die Richtung vorzudenken, die eine neue Dynamik in Gang setzen könnte. Das Leben soll dabei nicht der Kultur untergeordnet sein, vielmehr müssten Kultur, Kunst und Ethik im Sinne einer Korrektur der mit Sokrates anhebenden Überhöhung des Intellekts gegenüber der     

Ortega 1954, 23. Ortega 1954, 32. Ortega 1954, 32. Vgl. Graupner 2009, 90 sowie Marías 1952, 16–17. Ortega 1954, 39.

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leiblichen Gesamtheit dem Leben dienen.⁶⁷ Der Maßstab einer Kultur, so lässt sich diese Forderung übersetzen, bemisst sich daran, inwieweit sie möglichst viele Facetten und Perspektiven zu integrieren vermag, um ihnen Raum zur Entfaltung zu geben. Von seiner Heimat Spanien ausgehend, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammen mit Portugal das Schlusslicht der Alphabetisierung in Europa bildete und das im Zuge der Restauration mit zahlreichen inneren Schwierigkeiten zu kämpfen hatte,⁶⁸ widmet Ortega sich der Frage, wie und auf welchem Wege die spanische Kultur zur Kultur Europas beitragen könne und wie ein Europa aussehen könnte, zu dem Spanien einen wertvollen Beitrag leistet. Spanien könne dabei nur dann zu sich selbst finden, wenn es sich europäisiert, sich also von der europäischen Kultur inspirieren lässt, für die Demokratie ein essentieller Bestandteil ist: Das ist die Tradition, die Europa uns anbietet; daher wird der Weg vom Schmerz zur Freude, den wir durchlaufen, mit einem anderen Wort „Europäisierung“ heißen. […] Regeneration kann von Europäisierung nicht getrennt werden; sobald man daher das wiederherstellende Gefühl, die Angst, die Scham und die Sehnsucht verspürt, beginnt man, über die Idee der Europäisierung nachzudenken. Regeneration ist der Wunsch, Europäisierung das Mittel, diesen zu befriedigen. In der Tat sah man von Anfang an klar, dass Spanien das Problem und Europa die Lösung war.⁶⁹

Europa steht Spanien damit nicht als etwas Fremdes und Ausländisches gegenüber, sondern repräsentiere ein Ideal und eine Zielvorstellung, von der aus auch Spanien als eine neue, europäische Möglichkeit verstanden werden kann. Relevant ist dabei weniger der geographische Raum als vielmehr das geistige Klima, das sich kontingenterweise unter gegebenen Umständen auf einem bestimmten Territorium gebildet hat. Mit dem Blick auf eine solche ‚geistige‘ Landkarte erwächst aus dieser Aufgabenstellung einer schöpferischen Wiedergewinnung eines zukunftsfähigen Begriffs von Europa der Versuch, unterschiedliche Formen der Lebenserfahrung miteinander in Beziehung zu setzen.

 Vgl. Ortega 1978d, 114.  Zur Analphabetenrate in Spanien zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Vergleich mit anderen europäischen Ländern vgl. Dobson 2009, 17 und 33. Hinsichtlich der inneren Schwierigkeiten sei hier exemplarisch verwiesen auf die sogenannte ‚Tragische Woche‘, bei der Mitte 1909 ein Generalstreik und zahlreiche weitere Proteste von der spanischen Zentralregierung blutig niedergeschlagen wurden. Hintergrund war insbesondere der signifikante Rückgang der politischen und wirtschaftlichen Bedeutung Spaniens, das sich nach der Niederlage im Spanisch-Amerikanischen Krieg und dem damit einhergehenden Verlust der verbliebenen Überseegebiete um eine verstärkte Präsenz als Kolonialmacht in Nordafrika bemüht hatte. Nach zwei militärischen Niederlagen in Marokko ordnete die spanische Regierung eine große Mobilmachung an, die auf heftigen Widerstand in der Bevölkerung stieß.  Ortega 2016, 25. Siehe dazu auch Mührel 2016.

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Die mit seiner spanischen Heimat verbundene Lebensform ist für Ortega vor allem eine sinnlich-ästhetische. In Wendungen, die Camus’ Rede von einem „mittelmeerische[n] Denken“⁷⁰ vorwegnehmen, wird Spanien dabei zum Element einer Mentalität, die den gesamten Raum des Mittelmeeres umfasst und mit dem Klima ebenso assoziiert wird wie mit der Landschaft, der Kunst und der Geschichte. Jenseits politischer Grenzziehungen sei sie gleichermaßen auf der iberischen Halbinsel, im südlichen Italien, Griechenland und den Mittelmeeranrainern Nordafrikas zuhause.⁷¹ Hier finde sich „das Gebiet mit der entschiedensten Vorherrschaft der Sinneswahrnehmung“⁷², während das Begriffliche dem dominierenden ‚impressionistischen‘ Geist eher fremd sei. Die dem Süden eigentümliche Art und Weise des In-der-Welt-Seins sei gekennzeichnet durch ein intensives Aufnehmen und Erleben von äußeren Reizen und Eindrücken, eine der Unmittelbarkeit und dem Konkreten verpflichteten Hingabe an das Leben. „Die Mittelmeerkultur ist eine unablässige, leidenschaftliche Rechtfertigung des Sinnlichen, des Offenbaren, der Oberfläche, der flüchtigen Eindrücke, welche die Dinge in unserem Nervensystem hinterlassen.“⁷³ Eine solche Oberflächenkultur sei weder besser noch schlechter als die wissenschaftlich-abstrakte Kultur des insbesondere mit Deutschland assoziierten Nordens, für die es natürlich sei, allen Dingen auf den Grund zu gehen und eine tiefe Wirklichkeit hinter der Oberfläche zu suchen, die sich dann freilich in erster Linie begrifflich fassen lasse. Jede Kultur habe einen Eigenwert als je verschiedene Facetten betonende Lebensform, die nicht an einem unabhängigen Maßstab gemessen werden könnten. Nicht die Zurückweisung oder Ersetzung einer der zwei verschiedenen Dimensionen europäischer Kultur müsse das Bestreben sein, sondern ihre Integration. Für Spanien und die lateinische Kultur des Mittelmeeres bedeute das, die Ästhetik des Spiels mit den Oberflächen durch ein größeres Bewusstsein für die darin verborgene Tiefe zu entwickeln. Der Mehrgewinn einer Orientierung an der geistigen Tradition Nordeuropas bestehe in einem wachsenden Instrumentarium, einem zusätzlichen Organ für das Erfassen

 Camus 2020, 388. Zur philosophischen Konzeption einer abstraktionskritischen, der Schönheit und dem Maß verpflichteten Mittelmeerkultur bei Camus siehe weiterführend Victor 2022.  Vgl. Ortega 1959, 88: „Wenn einige die mediterrane Welt aufspalten und die nördlichen Küsten anders bewerten wollten als die südliche, so war dies ein Irrtum in der historischen Perspektive. Die Begriffe Europa und Afrika als zwei gewaltige Zentren der Anziehungskraft haben im Denken der Geschichtsschreiber die betreffenden Küsten einfach in sich verschlungen. Man erkannte nicht, daß es, solang die mediterrane Kultur eine Realität war, weder ein Europa noch ein Afrika gab.“ Umso weniger verständlich ist, warum Ortega, der sich einem dynamischen, lebensphilosophischen Begriff von Kultur verpflichtet weiß, sich an späterer Stelle zwei Absätze lang auf ein biologistisches Vokabular einlässt, das unleugbar rassistische Züge annimmt. Vgl. Ortega 1959, 110–111.  Ortega 1959, 115.  Ortega 1959, 94.

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der Dinge. Das Sehen werde erst mit Hilfe des intellektuell geschärften Begreifens zu einem vollständigen, den physischen und geistigen Sinn erfassenden Sehen,⁷⁴ ohne dadurch seine Eigenart einzubüßen, einen lebendigen und intensiven Bezug zur Welt herzustellen. Das geistige Porträt, das Ortega von einem europäisierten Spanien zeichnet, hat nicht den Anspruch, einen Zielpunkt der kulturellen Entwicklung abzubilden. Die Utopie von einem Europa, das auf politischem, pädagogischem und gesellschaftlichem Wege eine produktive Integration und wechselseitige Bereicherung aller Gebiete und Regionen anstrebt, ist vielmehr Teil jener unablässigen Selbstschöpfung, die für Ortega zentrales und unabdingbares Moment von Kultur überhaupt ist. Zumindest vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum Ortega auch heute noch mit einigem Recht als der „Philosoph Europas“⁷⁵ gelten kann, nämlich als ein Philosoph, der ein geschichtsträchtiges und im Umbruch befindliches Europa ganz selbstverständlich als Ausgangspunkt seines eigenen Denkens versteht, um zugleich einen Beitrag dazu zu leisten, der Idee einer in Vielfalt vereinten Pluralität an Kulturen und Lebensformen eine neue Gestalt und eine zukunftsweisende Richtung zu verleihen.

Literaturverzeichnis Albert, Karl. Lebensphilosophie. Von den Anfängen bei Nietzsche bis zu ihrer Kritik bei Lukács. Freiburg i. Br. und München: Alber, 2017 [Original 1995]. Camus, Albert. Der Mensch in der Revolte. Reinbek: Rowohlt, 2020 [Original 1951]. Canetti, Elias. Masse und Macht. München und Wien: Carl Hanser, 1994 [Original 1960]. Chvartsman, Larissa. Denken ist Menschenpflicht. Die Lebensphilosophie von José Ortega y Gasset aus dem Lichte Albert Schweitzers. Marburg: Tectum, 2008. Conill-Sancho, Jesús. „Morgenröte der unreinen Vernunft. Nietzsche bei Ortega y Gasset“. In: Nietzsche-Studien 42 (2013), 330–342. Dobson, Andrew. An Introduction to the Politics and Philosophy of José Ortega y Gasset. Cambridge: Cambridge University Press, 2009 [Original 1989]. Fraile, Ramón Jiménez. „Salvador de Madariaga (1886–1978)“. In: Europa. Eine Idee nimmt Gestalt an. Hg. Marc Lepoivre et al. Baden-Baden: Nomos, 2009, 226–227. Freud, Sigmund. Der Mann Moses und die monotheistische Religion. In: Ders. Gesammelte Werke Bd. XVI. Hg. Anna Freud et al. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2005 [Original 1939], 101–246. Freud, Sigmund. Massenpsychologie und Ich-Analyse. In: Ders. Gesammelte Werke Bd. XIII. Hg. Anna Freud et al. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2010 [Original 1921], 71–161. Gadamer, Hans-Georg. „Dilthey und Ortega. Philosophie des Lebens“. In: Ders. Gesammelte Werke Bd. 4: Neuere Philosophie II. Tübingen: C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1987 [Original 1985], 436–447.

 Vgl. Ortega 1959, 106.  Fraile 2009, 226.

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Sieglinde Borvitz / Sonja Klein

„Zuviel Abendland, verdächtig.“ Europa im Spiegel Roms War hier Europa irgendwo? (R. Hochhuth, War hier Europa?)

1 Caput mundi Dass Rom die ‚Hauptstadt der Welt‘ sei, haben viele Schriftsteller:innen behauptet. Tatsächlich kommen nur wenige literarische Rom-Texte der vergangenen Jahrhunderte ohne den antiken und wohl auf Ovid und Lukan zurückgehenden Topos des caput mundi aus. Ähnlich resistent wie die ewige Rede von Roma aeterna zieht er sich als roter Faden in direkter Zitierung,Variation oder Anspielung und seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vermehrt auch in ironischer Brechung durch die zahllosen Berichte, Briefe, Tagebücher, Feuilletons, Erzählungen, Romane und Gedichte der ebenso zahllosen Romreisenden der vergangenen Jahrhunderte. Schon dem Barockdichter Andreas Gryphius ist Rom „begriff der welt“, da die Stadt alles vereine, „Was zwischen Ost vnd West / vnd Nord vnd Suden blüht“¹. Goethe schließlich, der an zentraler Stelle der Italienischen Reise (1816/1817) den im kühlverregneten Weimar zurückgebliebenen Freund:innen am 1. November 1786 brieflich verkünden kann, „Ja ich bin endlich in dieser Hauptstadt der Welt angelangt!“², und diese Ankunft mit einer geistigen wie künstlerischen „Wiedergeburt“³ verbindet, verhilft dem Welthauptstadt-Topos zu einer zweiten Klassizität, an der sich die nachfolgenden Generationen nicht nur der deutschsprachigen Autor:innen bis heute abarbeiten. Selbst Rolf Dieter Brinkmann, der doch in Rom, Blicke (1979) die über Jahrhunderte tradierten Rom-Bilder gründlich zu dekonstruieren sucht, kämpft noch gegen die „alte[] Vorstellung […] eine[r] Weltstadt“⁴ an, die Durs Grünbein dann in seinem 2017 erschienenen Gedichtband Zündkerzen zur „ältesten

 Gryphius 1963, 87.  Goethe Italienische Reise, FA I. Abt., 15.1, 134.  Goethe Italienische Reise, FA I. Abt., 15.1, 158: „[D]enn an diesen Ort knüpft sich die ganze Geschichte der Welt an, und ich zähle einen zweiten Geburtstag, eine wahre Wiedergeburt, von dem Tage, da ich Rom betrat.“  Brinkmann 1979, 16. https://doi.org/10.1515/9783110793062-010

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Weltstadt moderner Art“⁵ reaktualisiert. Ob antik oder ‚modern‘ – Rom scheint der Status des Nabels der Welt im wahrsten Sinne des Wortes eingeschrieben zu sein. Dabei mag überraschen, dass die literarische Rede von der‚Hauptstadt der Welt‘ gerade in beziehungsweise ab jenen Zeiten besonders virulent ist, in denen Rom auf den ursprünglich auf seiner territorialen Ausbreitung, politischen Machtposition und religiösen Zentralstellung beruhenden Titel längst keinen Anspruch mehr erheben durfte und vielmehr – wie unzählige Texte seit der Neuzeit es immer wieder ins Bild setzen – nur noch durch seine Ruinen an die frühere, nun aber seit Langem verlorene imperiale Größe und Bedeutung erinnerte.⁶ Schon Petrarca besingt in seinem Gedicht Spirto gentil, che quelle membra reggi (1374) die einstige Macht Roms und seinen Verfall in der Gegenwart, verbunden mit der Hoffnung, dass es einst wieder erblühen möge.⁷ Der caput mundi-Topos zielte spätestens seit dem 16. Jahrhundert also nicht mehr vornehmlich auf die Benennung der Kapitale eines politischen Weltreichs, sondern vielmehr auf deren historisch-kulturelle Bedeutung, die sich als Folge der einstigen Vormachtstellung entwickelt hatte. Wenn Goethe in der Italienischen Reise festhält, „denn an diesen Ort knüpft sich die ganze Geschichte der Welt an“⁸, so benennt er damit den entscheidenden Bedeutungswandel, den Rom als urbs und orbis erfahren hatte: Mochte die Stadt am Tiber auch nicht mehr die Hauptstadt eines weit ausgreifenden Imperiums sein, so blieb sie doch derjenige Ort, an dem die Reisenden überall mit den Zeugnissen und Spuren vergangener und vor allem künstlerischer Epochen in Berührung kamen. Letztere jedoch verwiesen nicht mehr vorrangig auf die Welt als Ganzes, sondern vor allem auf das, was ‚Welt‘ aus abendländischer Perspektive in kultureller wie historischer Hinsicht über viele Jahrhunderte meist tatsächlich meinte: Europa. In dieser Überblendung von caput mundi mit dem eigentlich gemeinten ‚caput Europae‘ entwickelt sich die Referenz auf Rom bis in die Gegenwart hinein zum Spiegel von „3000 Jahren dichtgefügter europäischer Geschichte“⁹ sowie Kultur und damit zur „Referenz par excellence“¹⁰. Rom wird zum Bild derjenigen Stadt stilisiert, in der die Reisenden „der gesamten abendländischen Geschichte und Kunst“¹¹ be Grünbein 2017, 53. Hervorhebung S.B./S.K.  Vgl. hierzu auch Gendolla 2014, 25: „‚Rom‘ und ‚Ruine‘ sind zwei Begriffe, die so eng miteinander verknüpft sind, dass sie zeitweise fast Synonyme werden.“  Vgl. Petrarca 1964, 68.  Goethe Italienische Reise, FA I. Abt., 15.1, 158.  Mahr 2012, 36.  Kasper und Wild 2015, 11.  Grimm et. al. 1990, 6. Vgl. hierzu auch Grimm et. al. 1990, 5: „Es ist noch heute so, daß Rom jede andere europäische Stadt an Vielfalt historischer und künstlerischer Eindrücke hinter sich läßt […]. Es ist eine historische Welt, der Mittelpunkt der älteren abendländischen, der römischen und der mittelalterlichen Geschichte.“

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gegnen und sich damit, wie Grünbein es in seinem Rom gewidmeten Gedichtband Aroma (2010) genannt hat, am „Knotenpunkt kollektiver Memoria in der Geschichte Europas“¹² befinden. Nicht ohne Grund werden so auch die entscheidenden europäischen Weichenstellungen der vergangenen Jahrzehnte nach Rom verlegt: Denn auch hier erklären „[n]icht mehr imperiale Konzepte, sondern die Berufung auf kulturelle Traditionen, weshalb die Römischen Verträge 1957 und der Vertrag über eine Verfassung für Europa 2004 auf dem römischen Kapitol unterzeichnet wurden“¹³. Wenn Johannes Mahr noch 2012 in einem Vorwort zu einer Anthologie literarischer Texte über die italienische Hauptstadt schreibt, „Rom zu studieren bedeutet in ganz anderer Weise, als dies in Paris oder London, in Madrid oder Wien möglich ist, sich auf die Archäologie europäischer Identität einzulassen“¹⁴, so ließe sich dem hinzufügen: Literarische Texte über Rom zu studieren bedeutet, sich auf die Archäologie des jeweiligen Europabildes einzulassen und – damit meist einhergehend – auch auf die jeweiligen, sich an der Referenz ‚Rom‘ produktiv reibenden, nationalen Identitätskonstruktionen der Autor:innen in ihrer Zeit.¹⁵ In diesem Sinne wollen die folgenden Überlegungen zu exemplarischen Texten europäischer Rom-Literatur zeigen, wie sehr – um mit Friedrich Christian Delius zu sprechen – die Referenz auf Rom auch als „blühendes Schlachtfeld der Kulturgeschichte“¹⁶ betrachtet werden kann, auf dem die verschiedenen Schichten des europäischen wie nationalen Selbstverständnisses, ihre Mythen, „Legenden und Fiktionen“¹⁷ freigelegt werden können.

2 Neues Sehen Wer sich mit dem Archiv der fiktionalen Rom-Schichtungen beschäftigt, trifft dabei auf einen schier unübersehbaren Textfundus, denn über keine andere Stadt der Welt ist so häufig geschrieben worden. Längst „überschreitet die Masse“ der Textzeugnisse, die eine „Entzifferung in nur einem Menschenleben unmöglich macht, […] die Kapazität der individuellen Daseinserwartung“¹⁸. Die zahllosen Romreisenden, die über die Jahrhunderte ihre Eindrücke in vielfältigen Genres und Aus-

 Grünbein 2010, 180.  Matheus 2012, 271.  Mahr 2012, 41.  Vgl. hierzu auch Kasper und Wild 2015, 13: „Wenn auf Rom referiert wird, wenn Rom übersetzt wird, wird stets anderes mit übertragen.“  Delius 2007, 6.  Delius 2007, 6.  Mahr 2012, 28.

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drucksformen festgehalten und dem Bild der Stadt wie durch einzelne Mosaiksteinchen stets neue Nuancen hinzugefügt haben, kommen aus unterschiedlichen Motiven in die Stadt. Im Mittelalter sind es fast ausschließlich religiöse und politische Beweggründe, die vor allem Pilger:innen und Ritter nach Rom ziehen. Ab dem 16. Jahrhundert wird die Stadt dann aufgrund ihrer Bibliotheken, Sammlungen und Kunstschätze zum Anziehungspunkt von Gelehrten und Künstler:innen aus allen Teilen Europas, denen sich bald, verstärkt ab dem 17. Jahrhundert, junge Adelige anschließen, denen der Besuch Roms zum unbestrittenen Höhepunkt ihrer Grand Tour beziehungsweise ‚Kavaliersreise‘ wird. Um Kunst oder gar antike Quellen geht es Letzteren, die sich vor allem für „weltliche Angelegenheiten, für italienische Gesellschaft und Sprache, für sportliche Ereignisse, für erotische Erlebnisse“¹⁹ interessieren, jedoch meist (noch) nicht oder nur am Rande, weshalb Johann Joachim Winckelmann 1756 in einem Brief an einen Freund bissig bemerkt: „[A]lle Cavalier kommen als Narren her und gehen als Esel wieder weg“²⁰. Für nachfolgende Generationen von Romreisenden hegt Winckelmann jedoch offenbar mehr Hoffnung, wenn er fortfährt: „Ich glaube, ich bin nach Rom gekommen, denjenigen, die Rom nach mir sehen werden, die Augen ein wenig zu öffnen“²¹. Bekanntlich wird sich diese bescheidene Hoffnung schon bald als gnadenloses Understatement erweisen. Denn Winckelmanns Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Malerey und Bildhauer-Kunst (1755) und die Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) öffnen die Augen, vor allem des seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Rom vermehrt für sich entdeckenden Bürgertums und der Künstler:innen der Zeit, nicht nur „ein wenig“, sondern gleich so sperrangelweit, dass Goethe dabei sogar ein komplett neues Sehen erlernt: „[I]ch tue nur die Augen auf, und geh’ und seh’ und komme wieder, denn man kann sich nur in Rom auf Rom vorbereiten. […] Man müsste mit tausend Griffeln schreiben, was soll hier eine Feder, und dann ist man Abends müde und erschöpft vom Schauen und Staunen.“²² Winckelmanns (Wieder‐)Entdeckung der griechisch-römischen Antike begründet das Verständnis für die historisch einordnende Beschäftigung mit Kunst und Kultur und zugleich ein neues Ideal von klassischer Schönheit, das für das 18. und 19. Jahrhundert stilbildend und für Romreisende bis in unsere Gegenwart hinein folgenreich bleiben wird.

   

Grimm http://www.goethezeitportal.de/wissen/projektepool/goethe-italien/italien-einleitung.html. Winckelmann 1952, 235. Winckelmann 1952, 235. Goethe Italienische Reise, FA I. Abt., 15.1, 139–140.

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Für Goethe entwickelt sich aus dem „unmittelbaren Anschauen“²³, das er in Rom mithilfe des ‚Augenöffners‘ Winckelmann und dessen „gegen totes Buchwissen gewendete[s] originale[s] Sehen“²⁴ erlernt, ein Bild der Stadt, das nur noch wenig mit den Betrachtungen und aufklärerischen Apodemiken seiner Vorgänger:innen gemein hat und das das Genre des Reiseberichts nachhaltig verändern wird. Denn im Gegensatz zu etwa den italienischen Reiseerinnerungen seines Vaters Johann Caspar Goethe, dessen in den 1760er Jahren entstandene Viaggio per l’Italia fatto nel anno MDCCXL noch ganz im Stil des gelehrten Reiseberichts verfasst und im Hinblick auf ein im Text auch „immer wieder beschworene[s] Nützlichkeitspostulat“²⁵ um eine klare Darstellung der als notwendig erachteten Fakten wie Daten bemüht ist, kann Goethe sich bereits „trösten, daß in unsern statistischen Zeiten dies alles wohl schon gedruckt ist und man sich gelegentlich davon aus Büchern unterrichten kann. Mir ist jetzt nur um die sinnlichen Eindrücke zu tun, die kein Buch, kein Bild gibt“²⁶. Deutlich zeigt sich hierin die Verschiebung des Fokus innerhalb der Auffassung von Reisen und der aus ihnen resultierenden Berichte, die Lawrence Sternes A Sentimental Journey Through France and Italy (1768) vorbereitet hatte und die die Reiseliteratur in der Folge bestimmen wird: Während lange Zeit vor allem der statistisch aufbereitete Wissenserwerb über neue Orte, Menschen und Kulturen das Hauptziel einer Reise darstellte, stehen für die jüngere Generation nun die Persönlichkeits- und Herzensbildung der Reisenden selbst im Vordergrund. Parallel zu den folgenreichen Entwicklungen innerhalb des Kunst- und Literaturverständnisses des ausgehenden 18. Jahrhunderts, in dem die Empfindsamkeit und die Genieästhetik die über Jahrhunderte verpflichtenden Regelpoetiken ablösten, werden nun auch innerhalb der Reiseschilderungen die besuchten Städte und Länder nicht mehr vornehmlich über Daten, Tabellen und Statistiken, sondern über ihre Spiegelung innerhalb des Subjektes erschlossen. Im Kontext der persönlichen Erfahrung, die zugleich die Anfänge des Tourismus vorbereitet, ist die Bedeutung eines Ortes nun wesentlich abhängig von den Empfindungen und Interpretationen des ihn bereisenden Individuums. Erst dessen Sinnlichkeit (vergleiche Goethes „Mir ist

 Goethe Italienische Reise, FA I. Abt., 15.1, 144: „Man habe tausendmal von einem Gegenstande gehört, das Eigentümliche desselben spricht nur zu uns aus dem unmittelbaren Anschauen.“ Vgl. auch Goethe Italienische Reise, FA I. Abt., 15.1, 232: „Wer sich mit Ernst hier umsieht und Augen hat zu sehen, muß solid werden, er muß einen Begriff von Solidität fassen, der ihm nie so lebendig ward. […] Mir wenigstens ist es, als wenn ich die Dinge dieser Welt nie so richtig geschätzt hätte als hier. Ich freue mich der gesegneten Folgen auf mein ganzes Leben.“  Schneider 2006, 19.  Meier 1986, 489.  Goethe Italienische Reise, FA I. Abt., 15.1, 28; Hervorhebung S.B./S.K.

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jetzt nur um die sinnlichen Eindrücke zu tun“) erschafft den Sinn des Betrachteten, der Akt des Beschreibens ist zugleich ein Akt der kreativen Aneignung, ein ‚Erkenne dich selbst‘ und die Erschließung der terra incognita innerhalb des eigenen Innenraums, wie sie dann vor allem für die romantischen Dichter:innen zentral werden wird.²⁷ In diesem Sinne markiert Goethes Italienische Reise wie wohl kaum ein anderes Werk der Weltliteratur den „Übergang von der [aufklärerischen] Informationsreise hin zur Inspirationsreise“²⁸ und prägt zugleich (und trotz der zunächst noch verhaltenen Aufnahme des Werks durch die Zeitgenossen²⁹) das europäische Rom-Bild nachhaltig: Die Stadt wird zum Sinnbild einer „Meisterschule der ästhetischen Erziehung und Menschenbildung“³⁰; und noch fast 40 Jahre nach seinem Italienaufenthalt und nur vier Jahre vor seinem Tod soll Goethe gegenüber Eckermann erwähnt haben: „Ja ich kann sagen, daß ich nur in Rom empfunden habe, was eigentlich ein Mensch sei.“³¹ Eben jenes Menschliche und dessen „sinnliche[] Eindrücke“, die in der Italienischen Reise im Bild der „Wiedergeburt“ ihres Protagonisten und seiner Kunst- wie Weltanschauung gerinnen,³² sind es auch, die die – knapp 20 Jahre vor Goethes einflussreichem Reisetext erstveröffentlichten – (Römischen) Elegien (1795) prägen. Letztere, von Goethe zuerst mit Erotica Romana betitelten Gedichte, erschienen den Zeitgenossen allerdings gleich derart sinnlich geraten, dass sie einen veritablen Skandal innerhalb der Weimarer Gesellschaft und über diese hinaus auslösten. Denn zwar geht es auch in den Elegien zunächst um das an Winckelmann geschulte Anschauen, die Augen und ein neues Sehen, diese sind hier jedoch stets untrennbar verknüpft mit dem Be- und Ergreifen der tastend fühlenden Hand, die die Distanz des Blicks sogleich in körperliche Nähe verwandelt. In den Elegien findet sich kein betrachteter Statuenkörper, der nicht sogleich in der Berührung des Körpers der Geliebten nachgeformt und wiederentdeckt, kaum ein Stein, der nicht im selben Moment in die organische Natur rückübersetzt, keine Vergangenheit, die nicht

 Novalis 1978, 233: „Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? […] Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg.“  Aurnhammer 2003, 82.  Vgl. hierzu u. a. Wild 1996, 367–369.  Chiarini und Hinderer 2006, 10.  Goethe Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, FA II. Abt., 39, 282.  Vgl. u. a. Goethe Italienische Reise, FA I. Abt., 15.1, 135: „Nun bin ich hier und ruhig und wie es scheint auf mein ganzes Leben beruhigt. Denn es geht, man darf wohl sagen, ein neues Leben an […] es ist alles wie ich mir’s dachte und alles neu. Eben so kann ich von meinen Beobachtungen, von meinen Ideen sagen.“

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prompt mit einer lebendigen Gegenwart des gelungenen Liebesglücks des lyrischen Ichs vereint würde. Exemplarisch hierfür steht die Fünfte ³³ Elegie, die in Hinsicht auf diese Verbindung von Körper und Kunst, Marmor und Fleisch innerhalb der Forschung große Beachtung gefunden hat: Froh empfind’ ich mich nun auf klassischem Boden begeistert, Lauter und reizender spricht Vorwelt und Mitwelt zu mir. Ich befolge den Rat, durchblättre die Werke der Alten Mit geschäftiger Hand täglich mit neuem Genuß. Aber die Nächte hindurch hält Amor mich anders beschäftigt, Werd ich auch halb nur gelehrt, bin ich doch doppelt vergnügt. Und belehr ich mich nicht? wenn ich des lieblichen Busens Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab. Dann versteh ich erst recht den Marmor, ich denk’ und vergleiche, Sehe mit fühlendem Aug’, fühle mit sehender Hand. Raubt die Liebste denn gleich mir einige Stunden des Tages; Gibt sie Stunden der Nacht mir zur Entschädigung hin. Wird doch nicht immer geküßt, es wird vernünftig gesprochen, Überfällt sie der Schlaf, lieg ich und denke mir viel. Oftmals hab’ ich auch schon in ihren Armen gedichtet Und des Hexameters Maß, leise, mit fingernder Hand, Ihr auf den Rücken gezählt, sie atmet in lieblichem Schlummer Und es durchglühet ihr Hauch mir bis ins tiefste die Brust. Amor schüret die Lampe indes und denket der Zeiten, Da er den nämlichen Dienst seinen Triumvirn getan.³⁴

Das durchgehend chiastische Prinzip des Gedichts betont den Gedanken einer alles umfassenden Vereinigung im Bild des sexuellen Akts: Vergangenheit und Gegenwart („Vorwelt und Mitwelt“) finden ebenso zueinander wie Gelehrsamkeit und Genuss („Werd ich auch halb nur gelehrt, bin ich doch doppelt vergnügt“). Die trennende Grenze zwischen den „Stunden des Tages“ und der „Nacht“ verschwimmt gleich derjenigen zwischen dem Liebesgespräch durch den sinnlichen Kuss und das sinnhafte Wort („Wird doch nicht immer geküßt, es wird vernünftig gesprochen“). Der zuvor betrachtete Statuenkörper kann erst vor dem Leib der Geliebten wirklich begriffen werden („Und belehr ich mich nicht? wenn ich des lieblichen Busens / Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab. / Dann versteh ich erst recht den Marmor“; Hervorhebung S.B./S.K.), und das Auge wird nur durch die fühlende Hand sehend und umgekehrt, wie der zehnte, mittlere und damit in doppelter Hinsicht

 Die Zählung der Elegien erfolgt hier nach dem Erstdruck in Schillers Horen.  Goethe Gedichte 1756–1799, FA I. Abt., 1, 405–407.

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zentrale Vers des Gedichtes es in der metrischen Perfektion des antiken, elegischen Versmaßes formuliert: „Sehe mit fühlendem Augʼ, fühle mit sehender Hand.“ Aus dieser Synthese heraus kann das lyrische Ich schließlich auch künstlerisch tätig werden („Oftmals hab’ ich auch schon in ihren Armen gedichtet / Und des Hexameters Maß, leise, mit fingernder Hand, / Ihr auf den Rücken gezählt“) und der Atem der Geliebten wandelt sich zum ästhetisch inspirativen Pneuma („sie atmet in lieblichem Schlummer / Und es durchglühet ihr Hauch mir bis ins tiefste die Brust“). In den Elegien – und genau dies ließ sie in den Augen mancher zeitgenössischer Kritiker:innen als so skandalös erscheinen – ereignet sich eine wortwörtlich zu nehmende „Verkörperung“³⁵ und Verlebendigung der Antike, die aus der geglückten Liebeserfahrungen der Künstler:innen von „Vorwelt“ (hier das „Triumvirn“, gebildet aus Catull, Tibull und Properz) und „Mitwelt“ (das auf dem Körper der Geliebten dichtende lyrische Ich) entsteht. Sie formulieren die gelungene Vereinigung von Geist und Körper, von Einbildungskraft und tatsächlichem Erleben, die die dichterische Kreativität hier erst bedingen. In diesem Sinne sind die Erotica Romana zwar zunächst „durchaus im Sinne einer Provokation“, aber zugleich als ästhetisches Manifest und poetisches „Konzept der Klassik“³⁶ zu lesen. Letztere bedeutet für Goethe also nicht bloße Nachahmung, sondern eine lebendige Übertragung des Vergangenen in eine Gegenwart, die den seit der Antike gültigen Zusammenhang von Kunst, Mensch und Natur dichterisch bekräftigt. Durch diese Synthese kann Rom dann auch zur Welthauptstadt der Liebe erklärt werden, wenn es bereits in der ersten Elegie in Anspielung auf den caput mundi-Topos heißt: „Eine Welt zwar bist du, o Rom; doch ohne die Liebe / Wäre die Welt nicht die Welt, wäre denn Rom auch nicht Rom.“³⁷ In der palindromischen Verbindung von Roma und Amor werden der körperliche Liebes- und der künstlerische Schaffensakt erneut in eins gesetzt, Vergangenheit und Gegenwart produktiv zusammengeführt und Rom zugleich zum exemplarischen Liebesort stilisiert.

3 Volkes Stimme Ein ganz anders geartetes Rom-Bild als das Goethes liefert uns sein Zeitgenosse Giuseppe Gioacchino Belli, um mit seinen Sonetti romaneschi (1864−1865³⁸) dem

 Vgl. hierzu Segebrecht 1984, 57.  Beide Zitate: Segebrecht 1984, 52.  Goethe Gedichte 1756–1799, FA I. Abt., 1, 393.  Die meisten Gedichte verfasste Belli zwischen 1828 und 1847, vgl. Janowski 2007, 263. Obgleich er in seinem Testament von 1848 verfügte, dass sein Werk nach seinem Tod zu vernichten sei (vgl.

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römischen Volk ein Denkmal zu errichten³⁹: ein Sittenbild, das „die Moral und das bürgerliche und religiöse Leben unseres Volks von Rom“ // la morale, la civile e la religiosa vita del nostro popolo di Roma ⁴⁰ umfasst. Das Wesen des gemeinen Römers, seine Originalität, sein Scharfsinn, seine Lebendigkeit,⁴¹ aber auch seine nicht immer systemkonformen Überzeugungen offenbaren sich in sprachlicher Kürze und einschneidenden, teils doppelbödigen Wortspielen: Sie treffen den Nagel auf den Kopf und dies oft gepaart mit Sarkasmus, mit Spöttelei oder mit sprichwörtlichen Redensarten.⁴² Belli trachtet danach, Volkes Stimme⁴³ und Sprache, das romanesco ⁴⁴, in seiner Dichtung ungeschönt einzufangen: „Rhythmus und Reim müssen sich gleichsam zufällig ergeben aus einem scheinbar natürlichen Zusammentreffen unstudierter Phrasen und alltäglicher Ausdrücke. Nichts korrigiertes, nichts modelliertes, nichts, was uns nicht schon im Ohr läge.“ // Il numero poetico e la rima debbono uscire come per accidente dall’accozzamento, in apparenza causale di libere frasi e correnti parole non iscomposte giammai, non corrette, né modellate, né acconciate ⁴⁵. Wenngleich er einräumt, dass er die Gespräche seiner Landsleute zu imitieren versuche, da sie bislang noch nicht verschriftlicht worden seien.⁴⁶ Der abgeklärte Blick seiner satirischen Dialektpoesie gilt dabei nicht nur den menschlichen Eigenheiten und Schwächen, sondern auch den gesellschaftlichen Petronio 1993, 308), erscheinen sie posthum. Die Introduzione vom 1. Dezember 1831 überarbeitet er zwischen 1843 und 1847, vgl. Vigolo 1978, 2.  Vgl. Belli 1978, 5.  Belli 1984, 45; Belli 1978, 6. Editorische Kursivsetzung aller fremdsprachlichen Zitate im Beitrag.  Vgl. Belli 1978, 5.  Vgl. Belli 1978, 9. Zur Parömiologie siehe Salvini 2009.  Vgl. Belli 1978, 9: „Ogni quartiere di Roma, ogni individuo fra’ suoi cittadini dal ceto medio in giù, mi ha somministrato episodii pel mio dramma: […]. Così accozzando insieme le varie classi dell’intiero popolo, e facendo dire a ciascun popolano quanto sa, quanto pensa e quanto opera, ho io compendiato il cumulo del costume e delle opinioni di questo volgo, presso il quale spiccano le più strane contradizioni [sic]“. Belli 1984, 46: „Jeder Stadtteil Roms, jeder einzelne seiner Bürger aus den mittleren Schichten bis zur untersten hat mir den Stoff für die Episoden meines Dramas geliefert. […] Indem ich also die verschiedenen Klassen des ganzen Volkes zusammenbrachte und jeden Bürger sagen ließ, was er weiß, denkt und arbeitet, habe ich die Sitten und Meinungen der Bevölkerung zusammengefasst, wobei die seltsamsten Widersprüche zu Tage treten.“ Ab „Indem“ Übersetzung S.B.  Belli 1978, 8.  Belli 1984, 45; Belli 1978, 6.  Belli 1978, 9−10: „Nel mio lavoro io non presento la scrittura de’ popolani. […] La scrittura è mia, e con essa tento d’imitare la loro parola“. Belli 1984, 44: „Ich will nicht etwa eine Poesie des Volks, sondern die Konversation des Volks in meinen Sonetten geben.“ Da das gesprochene Römisch weder verschriftlicht ist, noch über eine Grammatik verfügt, erklärt Belli (1978, 6) in seiner Introduzione weiter, er wolle aus dem Sprachgebrauch Regeln und eine Grammatik ableiten: „cavare una regola al caso e una grammatica dell’uso.“ Sodann folgen seine linguistischen Ausführungen, vgl. Belli 1978, 10 −15.

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Verhältnissen, und so entgegnet Belli der Zensur und all denjenigen, die sich an jenem „zuchtlosen und liederlichen Geist, der da und dort durchscheint“ // spirito insubordinato e licenzioso che qua e là ne transpare⁴⁷, an jener „entarteten und verdorbenen Redeweise“ // favella tutta guasta e corrotta ⁴⁸ stören könnten: „ich habe die Wahrheit gezeichnet“ // Io ritrassi la verità ⁴⁹. Zwar wird auch bei Belli der Ruinen-Topos aufgegriffen, etwa wenn er mit dem Kolosseum touristische Sehenswürdigkeiten erwähnt, diese dann jedoch mit ihrem für den fremden Blick pittoresken Charme verhöhnt. Dort, wo man heute harmonisch die alten Ruinen betrachte, schlugen sich früher Gladiatoren die Köpfe ein; doch so sei’s eben mit dem Spektakel: Mit den Zeiten änderten sich auch die Geschmäcker.⁵⁰ Die Rom prägenden historischen Bauten und Kulturschätze, welche für Reisende die wichtigsten Stationen der Grand Tour darstellen, finden in den Sonetti romaneschi nur sporadisch Erwähnung, zählen sie doch für die Bewohner Roms zum alltäglichen Stadtbild.⁵¹ Selbst die Spuren der Antike, wie das allgegenwärtige SPQR, bleiben für die breite Masse ohne Bedeutung, nicht nur wegen der fehlenden Bildung, sondern auch, wie uns das Sonett S.P.Q.R. (1833) nahelegt, weil der Klerus das historische Erbe zu seinen Gunsten umdeutet: Dieses Espekuär, das du eingraviert Über fast jeder Haustüre stehen siehst, Das bedeutet gar nichts, wenn du das so liest, Das ist ein Scheißdreck, wenn man’s nur buchstabiert. […] Don Fulgentius sprach: du bist sehr dumm. Die vier Buchstaben sagen, was du längst weißt: Hier regieren Pfaffen, drum Silentium!⁵² Quell’esse, pe, cu, erre, inarberate sur portone de guasi ogni palazzo, quelle sò quattro lettere der cazzo, che nun vonno dì gnente, compitate. […]

 Belli 1984, 45; Belli 1978, 7.  Belli 1984, 45; Belli 1978, 8.  Belli 1984, 45; Belli 1978, 8.  Vgl. Belli 1978, 452, Rifressione immorale sur Culiseo. Siehe zum Beispiel auch Belli 1978, 38, Er Culiseo.  In La colonna de Piazza-Colonna bestaunt das lyrische Ich die Kunstfertigkeit der antiken Bildhauer und Handwerker und erkennt sich im auf der Säule abgebildeten einfachen Volk wieder. Vgl. Belli 1978, 222. Beliebt ist auch das Kolosseum, vgl. Belli 1978, 38, 452.  Belli 1984, 100.

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Ecco che m’arispose don Furgenzio: „Ste lettere vonno dì, somarone, soli preti qui regnano: e silenzio.“ ⁵³

Dass der Dekadenztopos in seinen 2.279 Sonetten klar dominiert, zeigt sich an der Sozialkritik, die vor allem den Missständen während der Restauration gilt. Zwar hatten die Napoleonische Annektierung und das Interregnum⁵⁴ das Aufkeimen neuer politischer Ideen begünstigt – im restlichen Italien mündeten sie in das Risorgimento –, letztendlich bleibt jedoch der Kirchenstaat, selbst unter Napoleon, unangefochten. So auch bei Belli, dessen Religiosität sich trotz scharfer Kritik im humanistischen Sinne äußert, beispielsweise in La carità. ⁵⁵ Es sind der typisch römische Wortwitz und die Lust am Spott, die jenes „Sublime von unten“⁵⁶ ausmachen, die Politik und Klerus vorführen und dabei an die Tradition Quintilians, Martials oder Juvenals anknüpfen.⁵⁷ Die Hypokrisie, Prasserei und Ausschweifungen des Klerus, dessen Macht auf der Unwissenheit des Volks beruht,⁵⁸ treiben die kleinen Leute seiner Zeit um. Das Gefühl der Ungerechtigkeit steigert sich ferner durch die als zu hoch empfundene Steuerlast, gerade angesichts dessen, dass die breite Masse in Elend und Hunger lebt, während die Obrigkeit Reichtümer unter sich verteilt und mit Ämtern schachert.⁵⁹ Öffentliche Orte, wie die Piazza Navona, werden zur zentralen Bühne, auf der die Züchtigung zum Volksspektakel avanciert.⁶⁰ Sittenverfall, Machtmissbrauch, Nepotismus stehen im Widerspruch zur  Belli 1984, 100.  Siehe hierzu u. a. Testi 2009.  Vgl. Vighi 1963, 307; Gibellini 2001.  Hocke 1978, 272.  Vgl. Hocke 1978, 271−272; Hocke 1978, 272: „Der erbarmungslos sozial-kritische Realismus der altrömischen Klassiker der Satire behält in den Sonetten Bellis zwar den anti-autoritären Charakter, von Rousseau und Voltaire neu beeinflußt. Doch wandelt sich die Färbung. Jetzt geht es nicht mehr um Kaiser, sondern um Päpste. Allerdings bleibt die christliche Caritas wirksam, auch im (teilweise) noch schüchternen ‚Liberalismus‘“.  Siehe zum Beispiel Bellis (1978, 303) Sonett Er mercato de Piazza Navona: „Che ppredicava a la Missione er prete? Li libbri nun zò robba da cristiano: / Fijji, pe carità, nnu li leggete.“ // „Was predigte der Priester in der Mission? / Bücher sind nichts für Christenmenschen: / Um Gottes Willen, lest sie bloß nicht.“ Übersetzung S.B.  Siehe zum Beispiel Belli 1978, 17, 340, 341, 450, 594, die Sonette Li prelati e li cardinali, La difesa de Roma, Le speranze de Roma, Er Papa bbon’anima, Pio Ottavo sowie Er festino de giuveddì grasso in Belli 1984, 88.  Belli 1984, 89: „Se pò fregà Piazza-Navona mia / de San Pietro e de Piazza-de-Spagna. / Questa nun è una piazza, è una campagna, / un treàto, una fiera, un’allegria. […] Qua s’arza er cavalletto che dispenza / sur culo a chi le vò trenta nerbate, / e cinque poi pe la bonificenza.“ Belli 1984, 89: „Piazza Navona, das ist meine Freude! / Spanische Treppe, Petersplatz … ganz schön, / Piazza Navona aber muß man seh’n, / Ein Land, ein Schauspiel, eine Augenweide! […] Am Bock macht immer nur das

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Katholischen Kirche und dem Papst als religiösem Haupt der Welt. Einem möglichen Aufbegehren tritt die Regierung der Restauration mit Repression entgegen.⁶¹ Letztlich illustriert Bellis Lyrik vor allem eines: „den Untergang der christlich-feudalen Gesellschaft im sterbenden Kirchenstaat“⁶² und „eine Epoche, in der das politische Papsttum einen Überlebenskampf gegen Revolution und Moderne führt“⁶³. Eine Epoche, in der der europäische Völkerfrühling bereits in Blüte steht und seine Wehen auch in das Bel paese trägt und dies nicht nur in Form des Romanticismo, dessen Entdeckung des Volkes als literarisches Sujet ein Novum bildet – und auch Belli ist hier keine Ausnahme, obgleich er die Romantik entschieden ablehnt –, sondern auch in Form des Risorgimento, des italienischen Einigungsprozesses, der sich ähnlich wie in vielen anderen Staaten Europas in einer Reihe von Aufständen und Kriegen äußert. Die nationalen und patriotischen Narrative dieser Zeit werden ebenso wie die Hoffnungen und Enttäuschungen nach der erfolgten nationalen Einigung auch in der europäischen Literatur reflektiert. Mit Blick auf Rom soll im Folgenden exemplarisch der poeta vate, der „Dichter der nationalen Einheit“ // cantore dell’unità nazionale ⁶⁴ herausgegriffen werden.

4 Seelenheimat und Wiege Italiens In seiner neoklassizistischen Lyrik knüpft Giosuè Carducci vor allem an die römische Antike⁶⁵ und den caput mundi-Topos an, zeichnet jedoch, wie auch im Brief an Lidia vom 3. Februar 1878 zum Ausdruck kommt, ein sehr ambivalentes Bild jener Stadt, die seit 1871 Hauptstadt des post-risorgimentalen Italiens ist: In Rom fühle ich mich bestens. Unter diesem türkisblauen Himmel atme ich tiefer. Inmitten dieser Denkmäler und Ruinen scheine ich mein Heim gefunden zu haben. Hier fühle ich mich wirklich italienisch. Wie beschränkt sind doch diese kleinen Angestellten, die Rom nicht verstehen! Rom ist die Heimat der Seele […]. Mir scheint es gewiss, hier zu anderen Zeiten gelebt

Zuschau’n Spaß, / Da krieg’n sie dreißig auf den Arsch geschlagen / Und fünf als Spende für die Caritas.“  Im Sonett Er Boja schreibt Belli (1978, 302), es sei der Henker, der das Fortbestehen von Staaten sichere: „er boja […] è er bastone de la vecchiaja de li Stati“. Siehe hierzu auch Li Sordati in Belli 1978, 585, wo es heißt, dass eine Garde, mit welcher der Papst sich und seine Macht schützt, auch Jesus nützlich gewesen wäre: „‚Per cquesto ir Papa ha li sordati sui; / E ssi Ccristo teneva li sordati / Sarebbe stato mejjo anche pe llui‘“.  Janowski 2007, 263.  Janowski 2007, 263.  Bani 2012, 75.  Vgl. Bani 2012, 79.

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zu haben, und ich erkenne die Orte wieder, an denen ich vor nunmehr zweitausend Jahren sinnierte. Io sto benissimo in Roma. Sotto questo cielo turchino, respiro più largo. Fra questi monumenti e queste rovine mi pare di essere a casa mia. Qui mi sento veramente italiano. Come sono cretini questi impiegatucci che non capiscono Roma! Roma è la patria dell’anima, […]. Mi par certo di essere vissuto qui in altri tempi, e riconosco i luoghi ove pensai or sono duemila anni. ⁶⁶

In der Beschreibung seiner Seelenheimat („patria dell’anima“) zeigt uns Carducci, inwiefern sich hier verschiedene Rom-Topoi überlagern, gleichsam den historischen Schichten der Stadt, stellt er doch der Verherrlichung des antiken Roms und seiner historisch-kulturellen Bedeutung die klare Ablehnung des modernen Roms gegenüber und trassiert so eine Entwicklungslinie, die von Macht und Glanz hin zu Verfall und Ignoranz führt – eine für die italienische Literatur und Gesellschaft nicht untypische Auffassung, wie wir an späteren Beispielen sehen werden. Für Carducci, den verschiedene Reisen und längere Aufenthalte in die Kapitale führen, die nach der nationalen Einigung gleichsam zum Brennglas gesellschaftlicher und politischer Konflikte wird,⁶⁷ stellen Rom und die in ihren Ruinen verkörperte Idee einen Fluchtpunkt dar. Jene „impiegatucci“, die hier für die Politik und Bürokratie des Staatsapparates stehen ebenso wie für die Umformung Roms hin zur Hauptstadt nach europäischem und vor allem piemontesischem Modell,⁶⁸ verweisen auf eine realpolitische Ernüchterung und Krise einer Zeit, in der – um das Bonmot Massimo d’Azeglios aufzugreifen – Italien zwar geeint ist, die Italiener jedoch noch zu schaffen sind. Der „Mythos vergangener Größe und die Forderung nach Erneuerung in der Gegenwart“⁶⁹ finden sich auch in den bekannten Romgedichten Carduccis aus den Odi barbare (1877−1879), wovon hier zwei, Nell’annuale della fondazione di Roma (1877) und Roma (1881), herausgegriffen werden sollen. Gerade in ihrer patriotischen Überhöhung überblenden sie ebenjene politischen Konflikte⁷⁰ und sehen in

 Zitiert in: Bani 2012, 81. Übersetzung S.B.  Vgl. Bani 2012, 12.  Vgl. Bani 2012, 15.  Janowski 2007, 293.  In Roma äußert Carducci (1993, 760) auch Kritik an der Politik seiner Zeitgenossen, etwa an Depretis als dem „vinattier di Stradella / che mesce in Montecitorio celie allobroghe e ambagi“ (Carducci 1969, 173: „der gesträubte, gespenstische Weinmann Stradellas seine Allobrogerwitz’ Montecitorio erzählt“) oder an Quintino Sella, dessen politische Verstrickungen letztlich zum Scheitern führen („operoso tessitor di Biella [che] s’impiglia / […] dentre le reti sue“; Carducci 1969, 173: „der Weber Biellas […] sich fängt in seinem eigenen Netz“). Auch thematisiert er (1993, 760) den Konflikt zwischen dem Vatikan und dem Königreich Italien („al fosco Vaticano, al bel Quirinale“;

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jener personifizierten und parasakralisierten Göttin Rom („Salve, dea Roma“⁷¹) die Mutter Italiens („santa genitrice“), die ihre verlorenen Kinder nun mit offenen Armen empfängt („le braccia porgi marmoree, / a la figlia liberatrice“⁷²). Der Ruinen-Topos („ruderi“, „vestigi“) wie auch die zahlreichen Verweise auf die antiken Mythen rufen die einstige Größe als Versprechen für die Zukunft auf: Heil Göttin Roma! Betend verfolge ich Mit süßen Tränen deine verstreuten Spur’n, Geneiget auf des Forums Reste, Göttin des Vaterlands, heil’ge Mutter! Durch dich bin ich der Bürger Italiens, Durch dich Poet, o Mutter der Völker, die Du deinen Geist der Welt gabst, deinen Ruhm auf Italiens Stirne prägtest.⁷³ Salve, dea Roma! Chinato a i ruderi Del Fòro, io seguo con dolci lacrime E adoro i tuoi sparsi vestigi, patria, diva, santa genitrice. Son cittadino per te d’Italia, per te poeta, madre de i popoli, che desti il tuo spirito al mondo, che Italia improntasti di tua gloria. ⁷⁴

Rom ist nicht nur die Wiege Italiens, dessen Ruhm die junge Nation fortträgt („Dies Italien, das du zur einigen / Bezeichnung freier Völker geschaffen hast“ // tu di libere / genti facesti nome uno, Italia ⁷⁵). Mehr noch: Für Carducci ist es die Wiege der westlichen Zivilisation (madre de i popoli, desti il tuo spirito al mondo): „Und alles, was von Sitte, Größe, / Würden auf Erden spricht, ist noch römisch“ // e tutto che al mondo è civile, grande, augusto, egli è romano ancora ⁷⁶. Daher erkennt das lyrische Ich im Blick vom Giannicolo aus im Bild der Stadt ein Schiff, das einst die Welt beherrschte („Das zur Herrschaft der Welt eilende, riesige Schiff“ // nave immensa Carducci 1969, 173: „Des Vatikans Schatten, des Quirinals Schönheit“). Zur Questione romana siehe Hampel und Rill 2016, 756−757; zur Hauptstadt Rom siehe Lönne 2016, 814−815.  Carducci 1993, 735.  Carducci 1993, 736.  Carducci 1969, 161−162.  Carducci 1993, 735.  Carducci 1969, 162; Carducci 1993, 735  Carducci 1969, 161; Carducci 1993, 735.

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lanciata vèr l’impero del mondo ⁷⁷) und das nun mit der italienischen Nation zu neuen Ufern aufbricht. Italien ist nicht mehr wie bei Dante eine „nave sanza nocchiere in gran tempesta“⁷⁸, ein Schiff ohne Steuermann, es ist vielmehr die Rekonziliation mit den Schatten, mit den „spiriti magni de i padri“⁷⁹, die dazu führt, dass Gegenwart und Vergangenheit sich vereinigen und Italien in Größe auferstehen lassen und – von Carducci unter Rekurs auf die klassische Dichotomie von Licht und Dunkelheit inszeniert – dem italienischen Volk die Kraft verlieh, sich von der Fremdherrschaft zu befreien („età nera“, „età barbara“, „mostri“) und diese Größe als Erbe Roms weiterzugeben („con serena giustizia farai franche le genti“): Nein, dein Triumph, italisches Volk, allein Über die düst’re Zeit des Barbarentums Und über Ungeheuer, die du Richtend wirst reißen aus Völkermitte.⁸⁰ ma il tuo trionfo, popol d’Italia, su l’età nera, su l’età barbara, su i mostri onde tu con serena giustizia farai franche le genti. ⁸¹

„[P]atria, diva, santa genitrice“ – Die Anrufung des zur Mutter stilisierten Roms dient als ideologischer Kitt für einen Staat ohne Nation. Die zum Erinnerungsort des kulturellen Gedächtnisses stilisierte römische Antike wird in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen noch stärkeren Stellenwert einnehmen, wenn vor allem der Faschismus das nationale Narrativ der Latinität exaltiert:⁸² Rom ist unser Ausgangspunkt und unsere Referenz; es ist unser Symbol und, wenn man so will, unser Mythos. Wir träumen von einem römischen Italien und das bedeutet, einem weisen und starken, disziplinierten und imperialen Italien. Vieles, was den unsterblichen Geist Roms ausmacht, geht im Faschismus auf: römisch ist das Liktorenbündel, römisch ist unsere Kampforganisation, römisch sind unser Stolz und unser Mut: Civis Romanus Sum.

 Carducci 1969, 174; Carducci 1993, 761.  Alighieri 1994, 184. Der bekannte Passus aus dem sechsten Gesang des Purgatorio lautet: „Ahi serva Italia, di dolore ostello, / nave sanza nocchiere in gran tempesta, / non donna di provincie, ma bordello!“ (Alighieri 1994, 183−184); Alighieri 2011, 105: „O je, Dienstmagd Italien, Schmerzes Herberge, Schiff / ohne Lenker in schwerem Wetter, einstmals Beherrscherin / der Völker, jetzt nur mehr Hurenschlampe!“  Carducci 1993, 762.  Carducci 1969, 162.  Carducci 1993, 736.  Zur Vertiefung siehe Bertone 2017.

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Roma è il nostro punto di partenza e di riferimento; è il nostro simbolo o, se si vuole, il nostro Mito. Noi sogniamo l’Italia romana, cioè saggia e forte, disciplinata e imperiale. Molto di quel che fu lo spirito immortale di Roma risorge nel Fascismo: romano è il Littorio, romana è la nostra organizzazione di combattimento, romano è il nostro orgoglio e il nostro coraggio: Civis Romanus Sum.⁸³

Ein Sinngebilde, das wie die Stadt Rom zwei Jahrzehnte später, mit Ausgang des Zweiten Weltkriegs, in Trümmern liegen wird.

5 Rom in Trümmern Einen solchen Weg hin zu einer Welt und zu Ideologien in Trümmern zeichnet Elsa Morantes La Storia (1974), ein „romanzo storico“⁸⁴, der nicht nur die Verschränkung von Weltgeschichte (Storia) und Individualschicksal (storia) beleuchtet, sondern diese vor allem aus der Sicht der „umili“⁸⁵ darstellt. Die Protagonistin, die römische Witwe und Halbjüdin Ida Ramundo, „repräsentiert hier die Zivilbevölkerung insgesamt, die Opfer einer Geschichte, welche nur noch als überwältigende, von außen kommende Macht erfahren werden kann“⁸⁶. Auf diese Weise reflektiert der Roman stellvertretend europäische Entwicklungen während des Zweiten Weltkriegs und kurz danach. Auch das Rom-Bild in La Storia zeichnet eine solche Entwicklung von nationalistischer Euphorie, im Text anfangs durch Idas Sohn Nino aufgegriffen, über die Zerstörung der Stadt und Traumatisierung ihrer Bewohner bis hin zum Holocaust. Bereits die Romanstruktur ist diesbezüglich aufschlussreich, denn es stehen allen Kapiteln Zeitachsen voran, die die wichtigsten historischen Ereignisse der besagten Jahre, in denen sich die Erzählung bewegt, auflisten. Die Narration steht diesen Daten gegenüber und perspektiviert sie aus Sicht der einfachen Bevölkerung.⁸⁷ Hierzu gehört auch Gunther − ein deutscher Soldat, dessen Bataillon

 Benito Mussolini „Passato e avvenire“. In: Popolo d’Italia, 21.04.1922, zitiert nach Bertoni 2017, 109. Übersetzung S.B.  Kleinhans 2002, 119. Scharold 2002, 8: „Hinterfragung des ‚offiziellen‘ Geschichtsbildes, das nun als Reflex einer universalisierten männlichen Norm entlarvt wurde. Dies erklärt die enorme Anziehungskraft, die das Genre des historischen Romans auf Schriftstellerinnen des Novecento ausübt, zumal gerade die Geschichtsverarbeitung die Möglichkeit bietet, vom ‚Objektstatus‘ einer aus männlicher Sicht geschriebenen Geschichte zum Subjekt der ‚eigenen Geschichte‘ zu wechseln.“  Kleinert 2002, 97.  Kleinert 2002, 100.  Bezeichnenderweise spielt die Handlung in volksnahen Vierteln wie San Lorenzo, Testaccio, Tiburtino oder dem Ghetto; bürgerliche Gegenden oder die faschistische Architektur werden weitestgehend ausgelassen, vgl. Porciani 2019, 244.

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bald nach Afrika weiterreisen soll, um die Verteidigung der italienischen Kolonialgebiete zu verstärken –,⁸⁸ der zu Beginn des Romans als zufälliger Romreisender im Januar 1941 ziellos durch das Viertel San Lorenzo streift: Er konnte nicht mehr als vier Worte Italienisch, und von Rom wußte er nur das Wenige, das man im Vorbereitungslehrgang lernt. So war es denn leicht möglich, daß er in den alten und heruntergekommenen Mietskasernen von San Lorenzo die antiken Baudenkmäler der Ewigen Stadt sah. Und als er jenseits der dicken Umfassungsmauern des Friedhofs Verano die häßlichen Grabmäler sah, meinte er, daß dies die historischen Gräber der Cäsaren und Päpste seien. […] In diesem Augenblick waren das Kapitol und das Kolosseum nichts weiter als Schutthaufen. Die Geschichte war ein Fluch.⁸⁹ Sapeva esattamente n. 4 parole in tutto d’italiano, e di Roma sapeva soltanto quelle poche notizie che s’imparano alla scuola preparatoria. Per cui gli fu facile supporre che i casamenti vecchi e malridotti del quartiere San Lorenzo rappresentassero senz’altro le antiche architetture monumentali della Città Eterna! e all’intravvedere, oltre la muraglia che chiude l’enorme cimitero del Verano, le brutte fabbriche tombali dell’interno, si figurò che fossero magari i sepolcri storici dei cesari e dei papi. […] A quest’ora, per lui Campidogli e Colossei erano mucchi d’immondezza. La Storia era una maledizione. ⁹⁰

Wie das Zitat zeigt, bricht bereits das Incipit von La Storia mit gängigen Rom-Topoi – zumal es durch den Umstand, dass es sich mit Gunther um einen Deutschen handelt, bekannte deutsche Romreisende sowie literarische Vorbilder impliziert. Ferner führt es sowohl in die historische Gemengelage als auch in die Konzeption der Arbitrarität von Geschichte auf individueller Ebene ein. Werden anfangs noch das unansehnliche Arbeiterviertel mit Baudenkmälern verwechselt und die Parallelen zwischen der soziopolitischen Situation in Italien und Deutschland aufgezeigt (etwa die Rassegesetze, die Jugendorganisation etc.), fallen schon bald Bomben auf Rom. Wer kann, sucht Schutz in Kellern oder auf offener Straße.⁹¹ Wie so viele andere werden auch Ida und ihr Sohn Useppe, der aus der Vergewaltigung durch Gunther hervorgegangen ist, ausgebombt und finden Zuflucht in einer Baracke am Stadtrand. Es herrschen Hoffnungslosigkeit, Hunger und Mangel. Jetzt überschatten neue Ruinen jene der Vergangenheit und verdeutlichen zugleich die Ruinösität des faschistischen Rom-Mythos. Als Rom 1943 von den Deutschen – vorher Alliierte, nun Feinde und Besatzer – zur „Città Aperta“⁹², zur offenen, das heißt unverteidigten Stadt, erklärt wird, häufen sich sowohl die Kriegshandlungen zwischen Besatzern und Resistenza als auch die Deportationen. Während sich der deutsche Oberbe    

Vgl. Morante 2014, 16; vgl. Morante 2001, 18. Morante 2001, 20. Morante 2014, 18. Vgl. Morante 2014, 161−181. Morante 2014, 250.

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fehlshaber als „König von Rom“⁹³ gebärdet und in den konfiszierten Luxushotels die „Bluttaten des nächsten Tages“⁹⁴ plant, verkommt die Stadt zu einem Trümmerfeld: In den letzten Monaten der deutschen Besetzung sah Rom allmählich wie gewisse indische Städte aus, wo nur die Geier sich sattfressen können und keine Bestandsaufnahme der Lebenden und der Toten mehr stattfindet. Obdachlose und Bettler, die aus ihren zerstörten Dörfern geflüchtet waren, biwakierten haufenweise auf den Stufen vor den Kirchen oder vor den Palästen des Papstes. Und in den großen öffentlichen Parks weideten ausgemergelte Schafe und Kühe, die den Bomben und Razzien auf dem Land entgangen waren. Obwohl Rom zur Offenen Stadt erklärt worden war, kampierten deutsche Truppen in nächster Nähe der Wohnviertel, und ihre Kolonnen fuhren geräuschvoll über die Straßen. Und die unheilvollen Schwaden der Bombardements, die das ganze Hinterland durchzogen, senkten sich auf die Stadt wie ein großer Vorhang voller Pestilenz und Erdbeben. […] Einige verängstigte Familien hatten sich in den Luftschutzräumen oder den unterirdischen Labyrinthen der großen Baudenkmäler eingerichtet, wo der Gestank nach Urin und Fäkalien sich staute.⁹⁵ Negli ultimi mesi dell’occupazione tedesca, Roma prese l’aspetto di certe metropoli indiane dove solo gli avvoltoi si nutrono a sazietà e non esiste nessun censimento dei vivi e dei morti. Una moltitudine di sbandati e di mendicanti, cacciati dai loro paesi distrutti, bivaccava sui gradini delle chiese e sotto i palazzi del papa; e nei grandi parchi pubblici pascolavano pecore e vacche denutrite, sfuggite alle bombe e alle razzie delle campagne. Nonostante la dichiarazione di città aperta, le truppe tedesche si accampavano intorno all’abitato, correndo le vie consolari col fracasso dei loro carriaggi; e la nube disastrosa dei bombardamenti, che attraversava di continuo tutto il territorio provinciale, calava sulla città un tendone di pestilenza e di terremoto. […] Certe famiglie impaurite avevano preso dimora nei rifugi antiaerei o nei sotterranei labirintici dei grandi monumenti, dove stagnava un odore di urina e di feci. ⁹⁶

Ein emblematischer Ort, an den es Ida unbewusst im Laufe der Handlung immer wieder zieht, ist das jüdische Ghetto.⁹⁷ Dort hat sie Useppe im Geheimen zur Welt gebracht, dort hat sie von den geplanten Deportationen erfahren, auch wenn diesen Gerüchten niemand Glauben schenkte, dort fühlt sie sich aufgehoben.⁹⁸ Das leere, verwaiste Ghetto avanciert zur sprechenden Absenz. Bei einem ihrer Besuche hört sie die Stimmen der ehemaligen Bewohner:innen, bis sie instinktiv begreift: „Sie  Morante 2001, 315; vgl. Morante 2014, 325.  Morante 2001, 315; vgl. Morante 2014, 325.  Morante 2001, 315.  Morante 2014, 324–325.  Morante 2014, 337: „Riconosceva il richiamo che la tentava laggiù e che stavolta le perveniva come una nenia bassa e sonnolenta, però tale da inghiottire tutti i suoni esterni. I suoi ritmi irresistibili somigliavano a quelli con cui le madri ninnano le creature“. Morante 2001, 327: „Sie erkannte die Verlockung wieder, die sie von dort unten her in Versuchung führte und die wie ein leises, schläfriges Klagelied zu ihr drang. Sein unwiderstehlicher Rhythmus glich dem Gesang, mit dem die Mütter ihre Kinder in den Schlaf wiegen“.  Vgl. Morante 2014, 238.

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sind alle tot.“ // Sono tutti morti. ⁹⁹ Ein Satz, der ihr zufällig über die Lippen kommt und ihr die Menschen in den Sinn ruft, die sie am Tiburtina-Bahnhof in verschlossene Viehwagons gepfercht gesehen hatte.¹⁰⁰ Jene Vorahnung, jener„senso del sacro“¹⁰¹, schlägt sich auch immer wieder in Idas Träumen nieder, etwa wenn sich ihr das Schicksal der Deportierten im Bild eines großen Schuhhaufens offenbart.¹⁰² Von den 1056 deportierten Juden kehren nach Kriegsende nur 15 Überlebende zurück, doch [s]ie begriffen rasch, dass niemand ihre Erzählungen anhören wollte. Es gab solche, die sich ihnen von Anfang an entzogen, andere, die sie sofort mit einem Vorwand unterbrachen, und solche, die ihnen geradezu lachend aus dem Weg gingen.¹⁰³

 Morante 2001, 331; Morante 2014, 340. Vgl. Morante 2014, 337–343.  Vgl. Morante 2014, 238−249. Zur Darstellung der Shoah siehe zum Beispiel Kleinhans 2002; Treskow 2013.  Morante 2014, 21: „c’era una dolcezza passiva, di una barbarie profondissima e incurabile, che somigliava a una precognizione. Precognizione, invero, non è la parola più adatta, perché la conoscenza ne era esclusa. Piuttosto, la stranezza di quegli occhi ricordava l’idiozia misteriosa degli animali, i quali […] ‚sanno‘ il passato e il futuro di ogni destino. Chiamerei quel senso – che in loro è comune, e confuso negli altri sensi corporei, il senso del sacro“. Morante 2001, 23: „lag eine leidende Sanftheit von tiefer und unheilbarer Barbarei, die ein Vorauserkennen auszudrücken schien. Vorauserkennen ist jedoch nicht das geeignete Wort, denn das Erkennen war davon ausgeschlossen. Die Fremdartigkeit dieser Augen erinnerte vielmehr an den geheimnisvollen Schwachsinn der Tiere, die nicht mit dem Geist, sondern mit einem Sinn ihrer verletzlichen Körper von der Vergangenheit und der Zukunft jeden Schicksals ‚wissen‘. Ich möchte diesen Sinn […] den Sinn für das Heilige nennen“.  Vgl. Morante 2014, 342−343: „I suoi sogni, per solito, erano colorati e vivi, ma questo invece era in bianco e nero, e sfocato come una vecchia foto. Le pareva trovarsi all’esterno di un recinto, qualcosa come in un terreno di rifiuti in abbandono. Altro non c’era che delle scarpe ammucchiate, malridotte e polverose, che parevano smesse da anni. E lei, là sola, andava cercando affannosamente nel mucchio una certa scarpina di misura piccolissima, […], col sentimento che, per lei, tale ricerca avesse il valore di un verdetto definitivo. Il sogno non aveva intreccio, nient’altro che quest’unica scena; ma per quanto lasciato senza séguito [sic], né spiegazione, sembrava raccontare una lunga vicenda irrimediabile.“ Morante 2001, 332: „Gewöhnlich waren ihre Träume bunt und lebhaft. Aber dieser war ein Traum in Schwarzweiß, verblaßt wie eine alte Photographie. Ihr war, als befinde sie sich außerhalb einer Umzäunung, auf einer Art verlassener Müllhalde. Es gab nichts, außer einem Haufen lädierter, staubiger Schuhe, die aussahen, als seien sie schon seit Jahren nicht mehr getragen worden. Sie war allein dort und suchte angestrengt in dem Haufen nach einem bestimmten, winzig kleinen Schühlein […] und hatte das Gefühl, das Ergebnis dieser Suche bedeute für sie ein endgültiges Urteil. Der Traum hatte keine Handlung, bestand nur aus dieser einzigen Szene. Und obwohl er keine Fortsetzung hatte und es auch keine Erklärung gab, schien er doch eine lange, nicht wiedergutzumachende Geschichte zu erzählen.“  Morante 2001, 365.

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Presto impararono che nessuno voleva ascoltare i loro racconti: c’era chi se ne distraeva fin dal principio, e chi li interrompeva prontamente con un pretesto, o chi addirittura li scansava ridacchiando. ¹⁰⁴

Die Römer reagieren mit „disintegrazione“¹⁰⁵, mit „Ablehnung und Verdrängung“¹⁰⁶, so dass die Geschehnisse des Krieges letztlich unaufgearbeitet bleiben. Als Raum-Zeit-Gefüge des Romans,¹⁰⁷ das sowohl die Stadtwahrnehmung beeinflusst als auch die aleatorische Entwicklung der Handlung generiert, reflektiert Rom zahlreiche Facetten und Episoden der jüngsten Geschichte. War Rom noch bei Pirandello, so etwa in Il fu Mattia Pascal (1904) oder in I quaderni di Serafino Gubbio operatore (1915), Insignie der anonymen Großstadt und entfremdender Modernität, wird es in Morantes La Storia zum kollektiven Gedächtnisort, der durch Gewaltwillkür, Tod, aber auch durch unbedingten Überlebenswillen angesichts eines Ausnahmezustands gekennzeichnet ist. Es ist jedoch die sprechende Absenz, es sind jene Traumata und Leerstellen – paradigmatisch symbolisiert im verwaisten Ghetto –, die zurückbleiben und dazu bestimmt sind, künftig hervorzubrechen. Insofern zeigt uns Morante ein Rom ohne Helden, das Rom derer, die Spielball der Geschichte sind und diese allenfalls erdulden. Insofern aktualisiert sie auch den Ruinen-Topos, wobei mit der zunehmenden Zerstörung der Stadt nicht nur die Auflösung von sozialen Bindungen und Solidarität einhergeht. Der „poetische Realismus“¹⁰⁸ Morantes, der sich vor allem aus dem Welterleben Useppes speist, aus der vorsprachlichen – und somit weder definiernoch kategorisierbaren – Erfahrung des Kindes,¹⁰⁹ welches die schönen Dinge der Welt als „fragloses Glück“¹¹⁰ erlebt, übermittelt auch die „traumatische[n] Erfahrungen, denen die Sprache ausgesetzt ist“¹¹¹. Drei der vier zentralen Figuren des Romans können nicht vergessen. Ihre Sensibilität, ihr „Körpergedächtnis“¹¹² und ihre Traumata lassen sich nicht unterdrücken. Während Ida dem Wahnsinn verfällt und Cesare erst Ausflucht in Drogen und dann im Suizid sucht, ist es der Epilepsietod Useppes, der uns besonders berührt, stirbt mit ihm doch die Unschuld par excellence. Im Text zur Christusfigur stilisiert stirbt Useppe am Leid der Welt, an den Eindrücken jener unaussprechlichen Grausamkeit einer Gesellschaft, in der

        

Morante 2014, 377. Kleinhans 2002, 121. Vgl. auch Kleinert 2002, 96−97. Kleinert 2002, 98. Vgl. Porciani 2019, 243 und 246. Münchberg 2010, 171. Vgl. Münchberg 2010, 171. Münchberg 2010, 173. Münchberg 2010, 173. Münchberg 2010, 174.

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der Mensch der Wolf des Menschen ist. Rom zeigt hier sein dunkles Gesicht: Barbarei statt antiker Größe und humanistischer Werte.

6 Nach Ausschwitz Nach 1945 wandelt sich das Rom-Bild auch in der deutschsprachigen Literatur maßgeblich. Goethes berühmtes Diktum, „denn an diesen Ort knüpft sich die ganze Geschichte der Welt an“¹¹³, bedeutet den Autor:innen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Angesicht der Shoa nun vor allem eine Geschichte der Gewalt und des Krieges, die die europäische Kultur und Zivilisation grundlegend infrage stellt. Der „Knotenpunkt kollektiver Memoria in der Geschichte Europas“¹¹⁴ wird zum Sinnbild der jüngsten Vergangenheit; die jubelnde goethesche „Wiedergeburt“, die in der Folge zur Leitmetapher unzähliger europäischer Rom-Texte avanciert war, gerät zum Todesmotiv; der romantische Zauber der Ruinen mündet in den ‚Schutthaufen der Geschichte‘. Rom erscheint nun als zwar immer noch „schöne[]“, aber vor allem „grausame[] Stadt“¹¹⁵, die pars pro toto für die Kriegsgräuel des 20. Jahrhunderts steht; und Paul Heyses im 19. Jahrhundert noch ganz bildungsbürgerlich begriffenes und die abendländische Kultur fraglos bejahendes „Viel hier lehren die Trümmer“¹¹⁶ wird mit einer Bedeutung aufgeladen, die die antiken Ruinen mit jenen der durch den Krieg zerstörten Städte zusammenführt. So heißt es auch in Wolfgang Koeppens Roman Tod in Rom (1954), der Opfer und Täter kurz nach Kriegsende in der italienischen Hauptstadt aufeinandertreffen lässt: „Da [d.i. in Rom] waren Ruinen. In Berlin hatte er sich in Ruinen verkrochen.“¹¹⁷ Das Rom der unmittelbaren Nachkriegszeit wird in Koeppens Text gleich mehrfach mit dem antiken und dem faschistischen Rom sowie dem nationalsozialistischen Deutschland überblendet, die gesamte abendländische Historie anhand der Stadtgeschichte Roms zu einer über die Jahrtausende ungebrochenen Gewaltorgie stilisiert: Macht hatte diese Gärten geschaffen, Macht die Villen, Macht die Paläste, Macht die Stadt gebaut, Macht die Mauern errichtet, Macht die Schätze herbeigeholt, Macht die Kunst angeregt […], aber Macht war für die Mitlebenden stets schrecklich, war Machtmissbrauch, war Gewalt,

    

Goethe Italienische Reise, FA I. Abt., 15.1, 158. Grünbein 2010, 180. Vgl. hierzu zum Beispiel die Studie von Faber 2018. Heyse 1872, 43. Koeppen 1986, 577.

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war Unterdrückung, war Krieg, war Brandstiftung und Meuchelmord, Rom war auf Erschlagenen aufgebaut, selbst die Kirchen standen auf blutbesudelter Erde.¹¹⁸

Wenngleich Rose Ausländer in ihrem Gedicht Rom I (1957) noch einmal ein längst vergangenes, glorreiches Rom-Bild heraufbeschwört und in diesem zudem die Möglichkeit einer Überwindung der jüngsten Vergangenheit andeutet: „Rom wer kann sich mit dir messen / Und die Glocken laden alle / ein zu Einkehr und Vergessen“¹¹⁹, so wollen viele Autor:innen dieser Zeit doch gerade nicht vergessen. Eines der eindringlichsten lyrischen Zeugnisse dieses explizit abgelehnten Vergessens ist dabei sicherlich Günter Eichs Fussnote zu Rom von 1964: Ich werfe keine Münzen in den Brunnen, ich will nicht wiederkommen. Zuviel Abendland, verdächtig. Zuviel Welt ausgespart. Keine Möglichkeit für Steingärten.¹²⁰

Schon der Titel des Gedichtes formuliert die neue Sicht auf die ‚Welthauptstadt‘: Nach Jahrtausenden der Überlieferung und einer Masse von längst unzähl- wie in einem Menschenleben unlesbar gewordenen literarischen Zeugnissen über Rom ist die Stadt Eichs lyrischem Ich nur noch eine „Fussnote“ beziehungsweise sieben kurze Zeilen wert. Konsequent wird das Wort ‚Rom‘ in den Versen selbst so auch nicht mehr erwähnt und der„Brunnen“ – der das Gedicht im intertextuellen Rekurs auf die berühmten Vorgängergedichte von Rainer Maria Rilke (Römische Fontäne Borghese, 1906) und Conrad Ferdinand Meyer (Der römische Brunnen, 1882) zunächst in eine große literarische Tradition einzureihen scheint – bleibt namentlich wie räumlich ebenfalls unbezeichnet. Die Geschichte und Kultur des Abendlandes ist, wie es der mittlere und gleich in mehrfacher Weise zentrale Abschnitt des Gedichtes feststellt, durch die unmittelbare Vergangenheit „verdächtig“ geworden und wird deshalb in dem Gedicht auch nicht fortgeführt („ich will nicht wiederkommen“). Dem in Rom kulminierenden „Zuviel“ an „Abendland“ wird zu Beschluss des Textes mit den japanischen „Steingärten“ eine Perspektive auf andere Weltkulturen entgegengesetzt, die von der europäischen, die in die humane Katastrophe geführt

 Koeppen 1986, 546–547.  Ausländer 1993, 6.  Eich 2006, 235.

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hat, nicht mehr überlagert werden darf: „[N]ach Ausschwitz ein Gedicht zu schreiben“¹²¹, ist für Eich also durchaus noch möglich, aber nur dann, wenn dieses Gedicht die „Möglichkeit / für Steingärten“, den Raum für eine nicht mehr eurozentristische Sicht auf die Welt eröffnet. Rund zwanzig Jahre später wird Rolf Hochhuth in seinem Gedicht Asia (1987), das implizit auf Eichs Fussnote zu Rom Bezug nimmt, Europa dann gleich ganz verschwinden lassen, wenn eine Abbildung der römischen „Piazza di Spagna“ im Reisebüro vor dem Blick des lyrischen Ichs auf die daneben hängende „wandgroß[e] […] Asien-Karte“ nahezu unsichtbar wird. „Lang“ muss „der Blick“ so auch suchen, bis er Europa als „Halbinselchen“ am „Rahmen-Rand“, „nord-nordwärts, so entschwunden“, auf der Karte entdeckt. Der frühere „Nabel der Welt“ ist hier bedeutungslos geworden und auch das lyrische Ich hat „des Abendlandes lange Warte“ längst „überwunden“¹²². Zu Beschluss des Gedichtes erscheint Europa so auch nur noch als „Fabel“ und zukünftige „Reisende aus Japan, Indien, Borneo: / wenn sie, wo London, Zürich stand – dann stehn, / befragen ihren Guide: War hier Europa irgendwo?“¹²³

7 Verzweifelte Vitalität Während La Storia mit dem Jahr 1947 schließt, beschreiben die Kurzgeschichten Alberto Moravias, so Racconti romani (1954) sowie Nuovi racconti romani (1959), den Alltag der breiten Bevölkerung Roms in der Nachkriegszeit. Es ist allerdings der Wahlrömer Pier Paolo Pasolini, der einen Gegenentwurf zum bürgerlichen RomBild dieser Zeit liefert. Mit der Darstellung des Subproletariats und des Elends in den sogenannten borgate zeigt er die andere Seite Roms: die „disperata vitalità“¹²⁴ der Straßenjungen und Prostituierten, jener, die notgedrungen am Existenzminimum leben, oder derer, die ihr Leben durch Illegalität bestreiten. Spontan folgen sie ihren Pulsionen, sind auch sexuell freizügig. Schnell erregen Ragazzi di vita (1955), Una vita violenta (1959) oder Accattone (1961) die italienische Öffentlichkeit: Neben den Skandalen bringen sie Pasolini zahlreiche Prozesse ein und später teils auch Werkverbote. Rom ist für Pasolini eine „stupenda e misera città“¹²⁵, in der Armut und Schönheit eins werden. Mehr noch: Mamma Roma (1962) ist eine Hure. Pasolini     

Adorno 1976, 31. Alle Zitate aus Hochhuth 1987, 33. Hochhuth 1987, 33. Pasolini 2003, 1182−1202. Pasolini 2003, 834.

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führt uns in seinen Erzählungen in die engen, feuchten Gassen von Trastevere,¹²⁶ in die sich zu jener Zeit kein Tourist verirrt; das lyrische Ich seiner Gedichte, etwa aus dem Band La religione del mio tempo (1962), streift abends durch Rom bis hin zu den Caracalla-Thermen, zu einer anderen Welt mit anderen Gesetzen, wo Sex zum Trost des Alltags wird. Sex, Trost des Elends! Sex, Trost des Elends! Die Hure ist eine Königin, ihr Thron sind Trümmer, ihr Reich ein Stück beschissenen Rasens, ihr Zepter eine rote Lacktasche: sie bellt in der Nacht, schmutzig und grausam wie eine antike Mutter: sie verteidigt ihren Besitz und ihr Leben. […] Aber im Müll der Welt wird eine neue Welt geboren: werden neue Gesetze geboren wo kein Gesetz mehr ist; geboren wird eine neue Ehre, wo Ehre Schande ist … Kommen Macht und Adel auf, grausam, in den Haufen der Hütten, an den unbegrenzten Orten, von denen du denkst, dort endet die Stadt, und wo sie hingegen neu beginnt, feindlich, tausendmal wieder beginnt, mit Brücken und Labyrinthen, Baustellen und Erdarbeiten, hinter Fluten von Hochhäusern, die den ganzen Horizont bedecken. In der Einfachheit der Liebe fühlt sich der Elende Mann: begründet seinen Glauben in das Leben, bis er denjenigen, der ein anderen Leben hat, verachtet. Die Kinder ziehen ins Abenteuer in der Gewissheit, in einer Welt zu sein, die sich vor ihnen, vor ihrem Geschlecht, fürchtet. Ihr Mitleid liegt darin, dass sie keines haben, ihre Kraft in der Leichtigkeit, ihre Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit.

 Vgl. Pasolini 1998a, 1383−1386, 1887−1891; vgl. Pasolini 1998b, 395–411; vgl. Pasolini 2014, 7−11, 13 −19, 43−67.

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Sesso, consolazione della miseria! Sesso, consolazione della miseria! La puttana è una regina, il suo trono è un rudere, la sua terra un pezzo di merdoso prato, il suo scettro una borsa di vernice rossa: abbaia nella notte, sporca e feroce come un’antica madre: difende il suo possesso e la sua vita. […] Ma nei rifiuti del mondo, nasce un nuovo mondo: nascono leggi nuove dove non c’è più legge; nasce un nuovo onore dove onore è il disonore… Nascono potenze e nobiltà, feroci, nei mucchi dei tuguri, nei luoghi sconfinati dove credi che la città finisca, e dove invece ricomincia, nemica, ricomincia per migliaia di volte, con ponti e labirinti, cantieri e sterri, dietro mareggiate di grattacieli, che coprono interi orizzonti. Nella facilità dell’amore il miserabile si sente uomo: fonda la fiducia nella vita, fino a disprezzare chi ha altra vita. I figli si gettano all’avventura sicuri di essere in un mondo che di loro, del loro sesso, ha paura. La loro pietà è nell’essere spietati, la loro forza nella leggerezza, la loro speranza nel non avere speranza. ¹²⁷

Rom erscheint als ausgefranste Stadt, die vom lyrischen Ich beschriebenen Orte liegen abseits. Dort herrschen die Marginalisierten und erschaffen aus „dem Müll der Welt“ eine neue Ordnung, die die Gegenseite, das Verborgene der Mehrheitsgesellschaft darstellt und so deren Widersprüchlichkeit offenlegt. Abjektes verweist auf die Niedrigkeit, aber zugleich auch auf die Ursprünglichkeit der „diletti bassi“. Auf den vermüllten Brachen, an deren Horizont das neue Rom mit den modernen

 Pasolini 2003, 925−926. Übersetzung S.B.

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Wohnsiedlungen entsteht, in den Winkeln der Gassen „vermischen sich Gestank und Trunkenheit des Lebens, das nicht Leben ist“ // fetore si mescola all’ebbrezza della vita che non è vita ¹²⁸, trifft man auf unreine Spuren von Menschen, menschlich verderbt, hier offenbaren sie sich, heftig und stumm, diese Gestalten: ihre schäbigen, unschuldigen Vergnügungen, ihre kläglichen Ziele.¹²⁹ impure traccie [sic] Umane che, umanamente infette, son lì a dire, violente e quiete, questi uomini, i loro bassi diletti innocenti, le loro misere mete. ¹³⁰

Der hier von Pasolini aufgerufene Dekadenztopos greift jenen der Antike auf, der die verzweifelte Vitalität des sottoproletariato, (Homo‐)Sexualität und kreatürliche, instinktgebundene Lebendigkeit an bestehende Topoi rückbindet und ihnen etwas Archaisches zuschreibt, ja diese gar in Bezug zum Glück und zum Heiligen stellt. Doch auch das von Pasolini idealisierte Subproletariat ist vom Wunsch nach Reichtum und Wohlstand getrieben.¹³¹ Auch das sottoproleariato strebt nach der von Pasolini verachteten (klein‐)bürgerlichen Lebensweise, die im Zeichen der kapitalistischen Konsumgesellschaft, von Aufstiegswillen und Wirtschaftswunder steht. In ihr erkennt Pasolini eine Massenkultur amerikanischer Prägung, die kulturelle Homologation, also Uniformität und Kulturverlust, mit sich bringt und einen repressiven, neuen Totalitarismus, der eine anthropologische Mutation nach sich zieht und zu einer Leere der Geschichte führt.¹³² Mit der ihm eigenen Radikalität setzt er diese Massenkultur mit dem Faschismus gleich, so auch in Salò o le 120 giornare di Sodoma (1975), seinem umstrittensten Werk. Letzteres darf als Abgesang auf eine kapitalistische Gesellschaft gelten, die Vitalität mit Kommerz verwechselt, Kapital aus Sex und Skandal schlägt.¹³³ Der Mensch ist hier lediglich manipulierbarer Konsument und vollkommen vereinnahmt von einer ökonomischen und biopolitischen Maschine.

     

Pasolini 2010, 19; Pasolini 2003, 922. Pasolini 2010, 19. Pasolini 2003, 922. Pasolini 2003, 935−936. Vgl. zum Beispiel Pasolini 2009, 290−293, 307−312. Zur Abiura alla Triologia della vita vgl. Pasolini 2009, 599−603.

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8 Rom, Blicke Rolf Dieter Brinkmann wird an diese zivilisations- und kulturkritische Sicht Pasolinis anschließen, wenn er, fast 200 Jahre nach Goethes Italienischer Reise, mit seinem Band Rom, Blicke (1979) ein in den Augen mancher Kritiker:innen „rasendes Anti-Italienpamphlet“¹³⁴ verfasst. In der Tradition des Geschichtspessimismus’ der deutschsprachigen Rom-Literatur nach 1945 erscheint die Stadt auch hier als „Trümmerfeld der Geschichte und mit ihm das Abendland als eine Landschaft des Todes“¹³⁵. Das Motiv der Zertrümmer- und Zersplitterung wird dabei bereits durch den Titel des Bandes eingeführt. Denn ganz im Gegensatz zu dem in Rom erlernten Sehen und Anschauen des Protagonisten der Italienischen Reise, die ihn zu einer neuen Vorstellung und Erfahrung von Ganzheit führen, sind es hier nun nur noch die vereinzelten Blicke, die ausschnittartig allein Fragmente der Stadt erfassen können beziehungsweise wollen. Diese Vereinzelung wird auch durch das im Band verwendete Collageverfahren gespiegelt, das Textabschnitte, Fotographien, Post-, Eintritts- und Fahrkarten, Zeitungsausschnitte und anderes Material im Sinne des „Cut up! – Denn die Blicke machen ja ständig cut ups! –“¹³⁶ zusammenfügt. Zwar geht es auch Brinkmann um eine neue Art der Wahrnehmung, um die „geschärft[en] Sinne“¹³⁷ „und die Augen“¹³⁸, diese sind jedoch dem „kalte[n] Blick des Kamera-Objektivs“ verpflichtet, das die Disparatheit der Welt im Ganzen und „die Sprach- und Bilderflut der technisierten Millionenstadt“ Rom im Besonderen „zu beziehungslosen Versatzstücken ihrer Reizüberflutung fragmentiert“¹³⁹. In Rom, Blicke wird so ein Gegenprogramm zum klassischen Italienbild entworfen, das die von Goethe beschworene Einheit zertrümmert und die klassischen Mythen mit den Trivialmythen in Brinkmanns Gegenwart (Konsum, Pornographie, Werbung, Comic, Populäre Musik et cetera) ersetzt. Nicht ohne Grund heißt es so an zentraler Stelle des Textes: „Man müßte es wie Göthe machen, der Idiot: alles und jedes gut finden / was der für eine permanente Selbststeigerung gemacht hat, ist unglaublich, sobald man das italienische Tagebuch liest: jeden kleinen Katzenschiß bewundert der und bringt sich damit ins Gerede.“¹⁴⁰ Brinkmanns Romreisender hingegen findet „alles und jedes“ – vorsichtig formuliert – überhaupt nicht mehr „gut“ und sieht „überall

      

von Becker 1979, V. Vaßen 2004, 91. Brinkmann 1979, 93. Brinkmann 1979, 22. Brinkmann 1979, 33. Egger 2006, 130. Brinkmann 1979, 115.

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Zerfall“ und „schmutzige[] Verwahrlosung“¹⁴¹, die das Motiv der römischen „Wiedergeburt“ in eine allumfassende Desillusionierung münden lassen. Brinkmanns Rom erwächst so zum Sinnbild einer zunehmend „häßlicher und verrotteter werdenden Umwelt“, zu einem Ort des „Leben[s] in staubigen Resten der abendländischen Geschichte“¹⁴².

9 Mafiöse Unterwanderung Als Zentrum der Macht und des organisierten Verbrechens erscheint Rom in Giancarlo de Cataldos und Carlo Boninis Suburra (2013).¹⁴³ Wie bereits der Titel ankündigt, blickt der Krimi – mit den für die Gattung typischen Narrationsmustern¹⁴⁴ – hinter die Fassade Roms und hinein in dessen „schwarzes Herz“¹⁴⁵. Die Suburra, das antike Viertel der Bordelle und der Halbwelt, wie es von Petronius besungen worden war, lag vor ihnen […]. Die Suburra, das ewige Bild der Stadt ohne Erlösung. Das Zuhause eines vergewaltigten [sic] und verzweifelten Pöbels, der sich vor Jahrhunderten zum Bürgertum gewandelt hatte, und nun genau im Herzen der Stadt wohnte. Es war und blieb nämlich ihr Herz. Die Suburra, der Ursprung einer tausendjährigen Ansteckung, einer nicht rückgängig zu machenden genetischen Mutation.¹⁴⁶ La Suburra, l’antico quartiere dei lupanari cantati da Petronio, era ai loro piedi. […] La Suburra, immagine eterna della città irredimibile. Casa di una plebe violenta e disperata che secoli prima si era fatta borghesia e che della città occupava il centro geografico esatto. Perché ne era e restava il cuore. La Suburra, l’origine di un contagio millenario, di una mutazione genetica irreversibile. ¹⁴⁷

Gewalt und Unterwelt bestimmen jene „Stadt ohne Erlösung“¹⁴⁸, die dem Mythos von Romulus und Remus zufolge auf einem Verbrechen gebaut ist: Das Fundament Roms ist der Brudermord. Wie in der von Plutarch kolportierten Legende geht es auch in Suburra um die Macht über Rom und um ein Bauvorhaben, wenn auch in

 Brinkmann 1979, 16.  Brinkmann 1979, 26, 30.  Das organisierte Verbrechen der 1970er Jahre, die römische Banda della Magliana, und dessen Kollusion mit Vertretern des Staates hat De Cataldo bereits in Romanzo criminale (2002) aufgegriffen. Zum Krimiboom in Italien und dessen Regionalisierung siehe Crovi 2010.  Vgl. Genç 2018.  So auch der deutsche Untertitel des Romans, vgl. De Cataldo und Bonini 2015.  De Cataldo und Bonini 2015, 321. Sic: Es muss eigentlich „gewalttätigen“ heißen.  De Cataldo und Bonini 2013, 372.  De Cataldo und Bonini 2015, 321; vgl. De Cataldo und Bonini 2013, 372.

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Form von Boden- und Bauspekulation, Betongold und Betrug.¹⁴⁹ Man will die New City bauen, „ein Trojanisches Pferd“, das „Rom zwischen dem EUR und dem Meer in Zement ersticken wird“¹⁵⁰. Obgleich im Roman blutige Bandenkriege hinsichtlich der Vorherrschaft über Rom im Zentrum stehen, ist es doch die Kollusion von Mafia,¹⁵¹ Vatikan und Politik, die den Dekadenztopos schärft. Die im Zeichen von Klientelismus, Korruption und organisierter Kriminalität stehende Hauptstadt¹⁵² verdeutlicht, inwiefern die Zweite Republik eine Fortführung der Ersten Republik darstellt, denn diejenigen, die die Macht innehaben, sind unberührbar.¹⁵³ Zwar erkennen die Ermittler das undurchsichtige Geflecht von Interessen und Protektion, können diesem aber letztlich nicht beikommen, so dass diese Bande auch in der sich abzeichnenden Dritten Republik nicht abreißen:¹⁵⁴ Bezeichnenderweise trifft man sich bei einer Veranstaltung der Partei Neuanfang als „Exponent[em] der neuen Zivilgesellschaft“¹⁵⁵ im Millenium Pride, dem Wolkenkratzer der New City, von welchem aus man auf ganz Rom blickt – ein Symbol für die uneingeschränkte Macht über die Ewige Stadt, die ihm zu Füßen liegt und deren Schönheit im Kontrast zu seiner anonymen Architektur aus Granit steht. Der Roman zeichnet den Verfall von Moral und Sitten im großen Stil: Während Monsignore Tempesta mit seiner Schrift Moral für ein neues Jahrtausend wortreich für einen Neuanfang unter katholischer Ägide wirbt, lässt er im Hintergrund das aus Drogen- und Menschenhandel stammende Schwarzgeld der Mafia über die Vatikanbank waschen und in die Bauprojekte investieren, abgesichert über politische Strohmänner wie Malgradi. Auch Polizei und Justiz kommen in diesem Krimi nicht ungeschoren davon, sie sind durchsetzt von Faschisten, die mit der organisierten Kriminalität zusammenarbeiten, und mit Parvenüs, die lieber auf Seiten der Mächtigen stehen. Rom ist eine entgrenzte Suburra: Inzwischen sind die „lupanari“¹⁵⁶ überall. Aufschlussreich ist der Begriff lupanari dabei allemal, bezeichnet doch die lupa Plutarch zufolge nicht nur die Wölfin, sondern auch die Prostituier-

 Bereits im 19. Jahrhundert greift der sogenannte romanzo parlamentare die Korruption und die Intrigen beim Umbau Roms zur Hauptstadt auf, vgl. Bani 2012, 16−17.  De Cataldo und Bonini 2015, 299; vgl. De Cataldo und Bonini 2013, 346.  In ihrem Roman greifen die Autoren die Hintergründe der Mafia capitale fiktional auf; zur Mafia capitale siehe zum Beispiel Mazzeo 2015.  Zur Antike siehe Sommer 2022, insbesondere Kapitel VIII.  Zum Begriff der Kaste der Unberührbaren für die italienische Politik siehe Stella und Rizzo 2007.  Vgl. De Cataldo und Bonini 2015, 403; vgl. De Cataldo und Bonini 2013, 468.  De Cataldo und Bonini 2015, 404; vgl. De Cataldo und Bonini 2013, 468.  De Cataldo und Bonini 2013, 372.

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te,¹⁵⁷ die Romulus und Remus gesäugt haben könnte. Verfall und Glanz, Halbwelt und Macht zeigen sich so auch im Namen der Stadt selbst, „denn in ‚Rom‘ klingen sowohl das griechische rhome (Kraft) als auch das lateinische ruma (Brust, Zitze) an“¹⁵⁸. Und so verwundert es auch nicht, dass bereits das erste Kapitel des Romans einen Bezug zur lupa herstellt, wenn der Abgeordnete Malgradi, „ein Musterbeispiel christlicher Lebensführung“, nach kokaingeschwängertem Sex mit zwei Edelprostituierten vom Balkon eines „sündteure[n] Stundenhotel[s] der kapitolinischen Elite“¹⁵⁹ auf die Stadt uriniert, „Dächer und Passanten der Ewigen Stadt mit einem gelben Strahl [segnet]“¹⁶⁰. „Italien würde sich nie ändern. Wir werden immer oben sein, und die armen Teufel unten“¹⁶¹, sagt er mit einem Gefühl der Überlegenheit und Unantastbarkeit. Damit verweist Rom übergreifend auf Entwicklungen in den westlichen Gesellschaften: Seien es nun Lobbyismus, grenzüberschreitende mafiöse Unterwanderung, Korruption in Verwaltung und Wirtschaft, seien es sich zuspitzende gesellschaftliche Kontraste oder vom Unmut der Bevölkerung angeheizte Populismen, Europa gehört den Eliten und Mächtigen, die sich auf Kosten der Mehrheit bereichern; das Volk erscheint in Suburra allenfalls als blinder Erfüllungsgehilfe ihm obskurer Pläne.

10 Altes Europa Dass Rom „ein gefährliches Pflaster“¹⁶² ist, weiß auch Friedrich Christian Delius, der damit aber weder auf Drogenkriege, mafiöse Verstrickungen oder Blutrache anspielt, sondern auf die inzwischen alle konkrete Erfahrung und Realität überlagernde Fiktionalisierung der Stadt: Rom, die tausendfach literarisierte Kapitale, ist längst zum „Mythos seiner selbst“¹⁶³ und damit – vor allem für Literaten – zu einem äußerst unsicheren Terrain geworden. Tatsächlich haben sich, wie auch die vorangegangenen Ausführungen gezeigt haben, innerhalb der vergangenen Jahrhunderte „[v]iele literarische Schichten […] auf die Stadt gelegt und ergänzen die archäologischen“¹⁶⁴. Und während es bereits Goethe „ein saures […] Geschäft“ war,

 Vgl. Solla 2015, 25: „Das Lateinische – so schreibt Plutarch auf Griechisch – nennt ‚Wölfinnen‘ ‚Sowohl die Weiber des Wolfes als auch die Frauen, die sich prostituieren‘“.  Solla 2015, 25.  De Cataldo und Bonini 2015, 22; vgl. De Cataldo und Bonini 2013, 21.  De Cataldo und Bonini 2015, 22; vgl. De Cataldo und Bonini 2013, 21.  De Cataldo und Bonini 2015, 23; vgl. De Cataldo und Bonini 2013, 23.  Delius 2007, 13.  Delius 2007, 13.  Mahr 2012, 27.

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„das alte Rom aus dem neuen herauszuklauben“¹⁶⁵, scheint dies heute nahezu unmöglich – so sehr ist die Stadt seitdem von „Moderne auf Moderne […] in Atem gehalten“¹⁶⁶ worden. „Wer immer“ also, wie Durs Grünbein schreibt, heute „in Rom umherspaziert, ist als solcher schon Epigone“, der mit all diesen fiktionalen Schichtungen und der „stets verformende[n] Memoria, für welche die Chiffre ‚Rom‘ steht“¹⁶⁷, konfrontiert wird. Vielleicht auch aus diesem Bewusstsein heraus entwirft Grünbein in seinem Band Aroma. Ein römisches Zeichenbuch (2010) ein Bild der Stadt, das nicht mehr auf Kontingenz, sondern gerade auf seine Brüche hin ausgerichtet ist. Sein ‚Rom‘ muss sich nicht mehr entscheiden zwischen den bereits seit der Antike literarisch miteinander konkurrierenden Motiven des Ruhms oder des Ruinösen und vereint stattdessen die Stimmen vom Beginn der Aufzeichnungen bis in die Gegenwart, ohne sie miteinander versöhnen zu wollen. Auf diese Weise kann die Stadt zuletzt als eben jener „Mythos seiner selbst“ sicht- und fruchtbar werden. In dem so von Grünbein geschaffenen Dichtungsraum „Zwischen Antike und X“¹⁶⁸ steht die römische Villa neben dem Obdachlosenasyl, eröffnet sich dem Besucher gleich hinter dem Vatikan „die süße Schwärze des Averna“, spiegelt sich die Spanische Treppe in den Schaufenstern der Modeläden, mischt sich das „Löwengebrüll“ aus dem Kolosseum mit dem Geräusch eines frisierten Motorrads auf dem Corso, finden sich Najaden neben „Nymphen in Jeans“ und spricht der „Bruder Juvenal“ mit dem Romreisenden des 21. Jahrhunderts.¹⁶⁹ Aus diesem „Stimmengewirr vieler Zeiten“¹⁷⁰ entsteht in Aroma zuletzt ein ‚Rom‘, das sich nicht nur der eigenen literarischen Überformung, sondern zugleich der Tatsache bewusst ist, dass das Wissen über die kulturellen Grundlagen Europas längst im Schwinden begriffen ist. Denn das lyrische Ich – so sehr es auch selbst noch mit den Kontexten abendländischer Kultur und Geschichte vertraut ist – weiß, dass die Kenntnis der römisch-griechischen wie der christlichen Mythologie ebenso unaufhaltsam abnimmt wie das Bewusstsein für die europäische Historie insgesamt; weiß, dass gegenwärtige Romreisende mit den betrachteten Statuen, Gebäuden, Straßen, Plätzen und Kunstschätzen häufig nichts mehr verbinden, das über die Beschreibung in einem der gängigen Reiseführer hinausgeht, und dass „die Wirkmacht des Erinnerungsortes Rom in seinen bisherigen Formen und Inhalten“

     

Goethe Italienische Reise, FA I. Abt., 15.1, 139. Grünbein 2010, 179. Matheus 2012, 263. Vgl. den gleichnamigen Titel eines Essays aus Grünbein 2003, 111‒117. Grünbein 2010, 62, 176, 56 und 83–100. Grünbein 1996, 21.

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zunehmend „verblassen“¹⁷¹ wird. „Lange vorbei“, heißt es so auch in einem der Gedichte in Aroma, „sind die Zeiten der Gänsekiele, des Fackelscheins“, und nur noch „die Steine brüten nach alter Devise: Latein oder Schweigen“¹⁷². Sieben Jahre später wird Grünbein diese Einsicht in den zunehmenden Bedeutungsverlust abendländischer Kultur noch einmal formulieren, wenn er in dem Gedicht Im Dritten Stil einen vorweggenommenen poetischen Abschied vom ‚Alten Europa‘ und seinem vielleicht wichtigsten Erinnerungsort inszeniert: Vielleicht Sind wir wie diese zarten Gestalten Auf römischen Wandmalereien bereits Silhouetten vergangener Tage¹⁷³.

Und man mag noch einmal an Rolf Hochhuth denken, der bereits 30 Jahre zuvor für die einstige ‚Hauptstadt der Welt‘ augurisch voraussah: Nur eine Fabel bleibt sie für Völker, die sie überflügeln […] Reisende aus Japan, Indien, Borneo […] befragen ihren Guide: War hier Europa irgendwo?¹⁷⁴

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From where I’m standing… Vom realistischen Standpunkt in Daniel Defoes Robinson Crusoe zur posthumanen Umwelt mit Ursula Damms Turnstile

1 Schiffbruch Das große Problem daran, Schiffbruch zu erleiden, ist, dass man die Übersicht verliert. Robinson Crusoe strandet bekanntermaßen in Daniel Defoes gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1719 als einziger Überlebender auf einer einsamen Insel. „Wer niemals selber in Seenot gewesen ist,“ so berichtet er uns über das Unglück, das ihm widerfährt, „kann die Bestürzung der Menschen in einer solchen Lage weder beschreiben noch sich vorstellen; wir wußten nicht, wo wir uns befanden, auf welches Land es uns verschlagen hatte, ob es eine Insel oder ein Festland war, bewohnt oder unbewohnt“¹ // It is not easy for any one, who has not been in the like Condition, to describe or conceive the Consternation of Men in such Circumstances; we knew nothing where we were, or upon what Land it was we were driven, whether an Island or the Main, whether inhabited or not inhabited ². Weil aber das Schiff auf eine Sandbank gelaufen ist und jeden Augenblick zu bersten droht, wagt die Besatzung mit ihrem Beiboot den Weg zu jener Insel, die sich in einiger Entfernung abzeichnet. Das Unternehmen geht jedoch nicht gut aus: Das Boot kentert in der rauen See und nur Robinson wird unbeschadet ans Ufer gespült. Zu seinem Entsetzen muss er am nächsten Morgen feststellen, dass sich die Besatzung aufgrund mangelnder Ortskenntnis völlig umsonst in die Fluten gestürzt hat, denn bei Ebbe ist zu erkennen, dass das Schiff gerade einmal eine Viertelmeile vom Strand entfernt ist. Robinson macht denselben Fehler nicht zweimal und sieht zu, dass er sich, um einen geeigneten Ort für einen Unterschlupf zu finden, erst einmal einen Überblick verschafft und auf den nächstgelegenen Hügel klettert, wo ihm klar wird: „[D]aß ich nämlich auf einer Insel gestrandet war, die rundherum vom Meer umgeben war, kein Land in Sicht […]. Ich sah auch, daß die Insel, auf der ich mich befand, wüst und unfruchtbar war“³ // that I was in an Island environ’d every Way with the Sea, no

 Defoe 1973, 61.  Defoe 2008, 38.  Defoe 1973, 75. https://doi.org/10.1515/9783110793062-011

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Land to be seen […]. I found also that the Island I was in was barren ⁴. Robinson macht schließlich das Beste aus seiner Situation.Vor allem baut er sich eine Behausung und trotzt damit dieser „wüsten“ Insel einen Schutzraum ab, den er als sein Eigen betrachtet. Robinsons Auslassungen dazu sind exemplarisch für die Akribie, die den gesamten Roman prägt: Ehe ich mein Zelt aufschlug, zog ich vor der Vertiefung einen Halbkreis mit einem Halbmesser von etwa zehn Yard vom Felsen aus und einem Durchmesser von etwa zwanzig Yard von einem Ende zum anderen. In den Halbkreis steckte ich zwei Reihen kräftiger Stangen, die ich fest in die Erde trieb, bis sie wie Pfähle dastanden. Das dickere Ende war vom Grund etwa fünfeinhalb Fuß entfernt und oben zugespitzt. Die beiden Reihen hatten voneinander einen Abstand von etwa sechs Zoll. Dann nahm ich noch die auf dem Schiff zerhauenen Kabelstücke und legte sie reihenweise, eins aufs andere, innerhalb des Halbkreises bis oben hin zwischen den Pfahlreihen, und von innen spreizte ich andere Stangen, etwa zweieinhalb Fuß hoch, wie Streben gegen die Pfähle. […] Als Eingang zu meiner Wohnung machte ich nicht eine Tür, sondern eine kurze Leiter, auf der man hinüber- und herübersteigen konnte; wenn ich drinnen war, zog ich die Leiter über die Palisade zur mir zurück und war meiner Meinung nach auf diese Weise gegen alle Welt umzäunt und verschanzt⁵. Before I set up my Tent, I drew a half Circle before the hollow Place, which took in about Ten Yards in its Semi-diameter from the Rock, and Twenty Yards in its Diameter, from its Beginning and Ending. In this half Circle I pitch’d two Rows of strong Stakes, driving them into the Ground till they stood very firm like Piles, the biggest End being out of the Ground about Five Foot and a Half, and sharpen’d on the Top: The two Rows did not stand above Six Inches from one another. Then I took the Pieces of Cable which I had cut in the Ship, and I laid them in Rows one upon another, within the Circle, between these two Rows of Stakes, up to the Top, placing other Stakes in the In-side, leaning against them, about two Foot and a half high, like a Spurr to a Post […]. The Entrance into this Place I made not by a Door, but by a short Ladder to go over the Top, which Ladder, when I was in, I lifted over after me, and so I was completely [sic] fenc’d in, and fortify’d, as I thought, from all the World ⁶.

Seine Behausung ist bei Weitem nicht das Einzige, was Robinson einzäunt. Es folgen mit den Jahren diverse Weideflächen für seine Ziegen sowie eine Art Sommerlaube als Zweitwohnsitz; außerdem legt er Felder an, auf denen er Gerste pflanzt. Nach und nach wird so der einst vermeintlich „wüste“ (barren) Raum der Insel strukturiert. Der Prozess der Zivilisation erweist sich in Defoes Roman folglich als ein Prozess der Rasterung und Aneignung, in dem innen von außen, das Selbst vom Anderen, ‚zivilisiert‘ (also britisch) von ‚wild‘ (quasi alle anderen) im physischen wie übertragenen Sinne abgegrenzt wird. Einhergehend mit diesen Grenzziehungen

 Defoe 2008, 46.  Defoe 1973, 82–83.  Defoe 2008, 51–52.

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wird dabei auch die Position des Subjekts zur Diskussion gestellt, welches sich zuallererst in die Lage versetzen muss, diese Unterscheidungen vorzunehmen. ‚In die Lage versetzen‘ ist dabei durchaus wörtlich zu verstehen, denn ‚realitätseffektive‘ Beschreibungen, wie Robinson sie uns liefert, implizieren für ihren Übermittler eine bestimmte Positionalität – nämlich genau jene, wie sie Robinson auf dem Hügel sucht, und wie sie ihm während des Schiffbruchs gefehlt hat: eine Position des Überblicks, der uneingeschränkten Übersicht über nicht weniger als ‚alles, was es zu sehen gibt‘. Was man dafür hinter sich lassen muss, ist die eigene Situiertheit, die eigene Eingebundenheit in Umgebung und Ereignisse. Genau dafür muss Robinson auf den Hügel klettern. Michel de Certeau benennt in Die Kunst des Handelns diese Perspektive als Œil solaire – Sonnenauge – und als regard de dieu (Blick Gottes). Sein Beispiel ist der Blick vom World Trade Center: Auf die Spitze des World Trade Centers emporgehoben zu sein, bedeutet, dem mächtigen Zugriff der Stadt entrissen zu werden. Der Körper ist nicht mehr von den Straßen umschlungen, die ihn nach einem anonymen Gesetz drehen und wenden; er ist nicht mehr Spieler oder Spielball und wird nicht mehr von dem Wirrwarr der vielen Gegensätze und von der Nervosität des New Yorker Verkehrs erfaßt. Wer dort hinaufsteigt, verläßt die Masse, die jede Identität von Produzenten oder Zuschauern mit sich fortreißt und verwischt. […] Sie [die erhöhte Stellung] verschafft ihm Distanz. Sie verwandelt die Welt, die einen behexte und von der man ‚besessen‘ war, in einen Text, den man vor sich unter den Augen hat. Sie erlaubt es, diesen Text zu lesen, ein Sonnenauge (Œil solaire) oder Blick eines Gottes (un regard de dieu) zu sein. […] Ausschließlich dieser Blickpunkt zu sein, das ist die Fiktion des Wissens.⁷

Es ist genau eine Überblicksgeste jener Art, wie Certeau sie beschreibt, die Robinson in die Lage versetzt, uns seine minutiösen, hyper-genauen Beschreibungen zu liefern. Welches Ideal wird hier eigentlich bedient? Robinsons Beschreibung seiner Behausung illustriert (wie unzählige andere Passagen im Roman) bestens das, was Roland Barthes in seinem Essay Der Wirklichkeitseffekt als „Luxus der Erzählung“⁸ bezeichnet: die minutiöse Wiedergabe von Kleinigkeiten, die für den Fortgang der Geschichte im Grunde völlig unerheblich sind; deren Sinn also nicht darin besteht, den Plot voranzutreiben, sondern vielmehr den Eindruck von Wahrhaftigkeit oder, wie Barthes es nennt, einen Wirklichkeitseffekt zu erzeugen. Wirklichkeit in welchem Sinne aber? Das Versprechen des Realismus, wie es uns im modernen Roman (und Robinson Crusoe wird häufig als eines der ersten Exemplare dieser Gattung gehandelt) begegnet, lautet Barthes zufolge in etwa so: Dass wir die Dinge, die beschrieben werden, genau so vorfinden würden, wenn wir selbst eines Tages dorthin kämen; dass die Wiedergabe also in diesem Sinne objektiv  Certeau 1988, 180.  Barthes 2006, 165.

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sei; dass Robinson in seiner Erzählung nichts verfälscht oder fantasiert habe, sondern wir ihn im Grunde in seiner Funktion als Beobachter bezüglich der Bewertung der Sachlage vernachlässigen können.⁹ Robinson, so das Versprechen, gewährt uns völlige Transparenz, ist als Erzähler gewissermaßen ‚durchsichtig‘. Er personifiziert damit Certeaus göttlichen Blick: Weil Robinson, so die Logik der Geschichte, von einem Hügel herabblicken kann, kann er uns seine streng ‚realistischen‘ Beschreibungen liefern. ‚Von einem Hügel herabblicken‘ bezeichnet dabei ebenso den tatsächlichen Akt, den Robinson vollzieht, wie auch im übertragenen Sinne eine allgemeine kognitive Fähigkeit der Abstraktion. Ist dagegen irgendetwas einzuwenden? Zumindest sollte man sich – mit Barthes – vor Augen führen, dass dieser Effekt durch bestimmte symbolische oder ästhetische Praktiken hervorgebracht wird und keinesfalls ‚einfach so‘ vorhanden ist. Denn zwar vermittelt uns der Roman den Eindruck, dass alle diese Beschreibungen so minutiös sein müssen, weil die Situation eben ‚genau so gewesen ist‘. Tatsächlich, sagt Barthes, bezeichnen hyper-präzise Darstellungen dieser Art – wie viele Pfähle werden in welchem Abstand und welcher Form wo und wie tief den Boden gesetzt – nicht nur den Sachverhalt an sich, sondern letztlich die gesamte Kategorie des Wirklichen gleich mit. Robinsons Yards, Halbkreise und Abstände „von etwa sechs Zoll“ sind für den Verlauf der Geschichte unerheblich, haben in ihrer Überschüssigkeit aber dennoch eine Bedeutung: Sie vermitteln Wahrheitstreue. Sie „sagen“: „wir sind das Wirkliche.“¹⁰ Die ästhetische und die kognitive Ebene arbeiten hier

 Dass also, um es in einem Wort zu sagen, im Realismus sehr viel mehr Rhetorik steckt, als dieser zugeben mag; auf diese implizite Verleugnung werden wir am Ende noch einmal zu sprechen kommen. Formal realism als Programm des modernen Romans, mit Robinson Crusoe als Prototyp und Paradebeispiel, findet sich paradigmatisch herausgearbeitet bei Ian Watt in The Rise of the Novel (1974), aber auch Myths of Modern Individualism (1996). Den Roman auf den Realismus einer bürgerlichen Moderne zu reduzieren, hieße allerdings, die Kontinuitäten zu den ihm (historisch) vorangehenden und auch nachfolgenden Erzählformen zu vernachlässigen, die sich letztlich alle einem vergleichbaren Problem stellen: der ästhetischen Aufbereitung des Verhältnisses von Individuum und Welt, vgl. Lüdeke forthcoming 2023.  „[I]n dem Augenblick, in dem diese Details angeblich direkt das Wirkliche denotieren, tun sie stillschweigend nichts anderes, als dieses Wirkliche zu bedeuten; das Barometer Flauberts, die kleine Tür Michelets [und genauso die Pfähle und Halbkreise Robinson Crusoes] sagen letztlich nichts anderes als: wir sind das Wirkliche; bedeutet wird dann die Kategorie des ‚Wirklichen‘ (und nicht ihre kontingenten Inhalte); anders ausgedrückt, wird das Fehlen des Signifikats zugunsten des Referenten zum Signifikat des Realismus: Es kommt zu einem Wirklichkeitseffekt, zur Grundlegung dieses uneingestandenen Wahrscheinlichen, das die Ästhetik aller gängigen Werke der Moderne bildet“ (Barthes 2006, 171). Bezeichnenderweise – so jedenfalls die literaturgeschichtliche Legendenbildung – wurde Robinson Crusoe vom zeitgenössischen Publikum mitunter als Tatsachenbericht missverstanden: „written in so natural a manner, and with so many probable incidents, that,

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zusammen; was wir verstehen – und verstehen können – wird maßgeblich beeinflusst von den Darstellungsmitteln, denen wir uns zuwenden. Was wir gemeinhin Objektivität nennen und häufig versucht sind, als unmittelbares und naturgegebenes menschliches Vermögen hinzunehmen, wird hier als voraussetzungsreiche Kulturpraktik ausgestellt. Dass sich dieser Effekt nicht allein deshalb ergibt, weil wir es bei Robinson mit einer fiktionalen Geschichte zu tun haben, sondern dass wir artverwandte Effekte auch bei ‚echten‘, bei ‚realen realistischen‘ Darstellungen beobachten können, werden wir im Folgenden sehen, wenn wir uns von Defoes frühem Roman hin zu einer rezenten Arbeit der Künstlerin Ursula Damm wenden. Denn das Problem des „Wirklichkeitseffekts“ hat mehr als eine literaturgeschichtliche Relevanz. Vielmehr schlägt sich hier eine generelle epistemologische Problemstellung nieder: das, was Donna Haraway als „Politik der Positionierung“ bezeichnet, und was jedwede Technik des Sehens und Beobachtens, jedwede „Optik“ unweigerlich immer auch ist („an optics is a politics of positioning“).¹¹ Was Haraway in ihrem Essay zu „Situated Knowledges“ umtreibt, ist, sozusagen, die düstere Vergangenheit der Objektivität: ihre Rolle als Machtinstrument; die mit ihrer Hilfe bewerkstelligte Selbstermächtigung, die – paradoxerweise, möchte man fast sagen, – mit der Negierung jedweder Subjektivität (genauer aber: mit der Negierung der Begrenztheit des Subjekts) einhergeht. Was Barthes also als ästhetisches Paradigma unter die Lupe nimmt und Certeau als westliche Kulturpraktik und Alltagshandeln fokussiert, stellt Haraway in einen wissenschaftsgeschichtlichen und erkenntnistheoretischen Zusammenhang. Im Kern geht es jeweils um dieselbe Sache: um das Problem des Standpunkts, das in den plakativeren Ausprägungen des Realismus nur allzu gern unter den Teppich gekehrt wird. Demgegenüber braucht es, so Haraway, „standpoint theories“, die diesen „conquering gaze from nowhere“, die Macht, zu sehen, ohne gesehen zu werden („the power to see and not be seen, to represent while escaping representation“), entkräften können, damit der Akt der Beobachtung wieder der Möglichkeit der Kritik zugeführt wird.¹²

for some time after its publication, [Robinson Crusoe] was judged by most people to be a true story“ (so ein anonymer Rezensent 1753, zitiert in Watt 1996, 172).  Haraway 1991, 193.  Haraway 1991, 186, 188. „This gaze,“ so Haraway, „signifies the unmarked position of Man and White“ (1991, 188). Haraways Analyse steht also im Kontext der critical theory der späten 1980er Jahre und versteht sich explizit als feministische Wissenschaftskritik. In genau dieser Funktion nimmt sie sich dann einer allgemeinen epistemologischen Problemstellung an.

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Ursula Damms Arbeiten erforschen genau solche Prozesse der Positionierung als onto-epistemologische Praktik. In ihrer Arbeit Turnstile ¹³ entpuppt sich der realistische Standpunkt – vom europäischen Westen gerne als Alleinstellungsmerkmal und aufklärerische Errungenschaft für sich beansprucht – langsam, aber sicher als nicht rein menschliches Vermögen. Er erscheint vielmehr als Potential einer posthumanen Umwelt, welches sich im Zusammenspiel von menschlichen und nichtmenschlich-digitalen Akteuren zuallererst entwickelt.¹⁴

Abb. 1: Innenansicht der Station Schadowstraße, Düsseldorf

 Ursula Damm obliegt die künstlerische Gesamtgestaltung von Turnstile. Für den LED-Stream und die Grafikprogrammierung zeichnet Felix Bonowski und für den Sound Yunchul Kim verantwortlich. Die ausführenden Firmen sind: Fa. Glas Wagener, Kirchberg (Glasfassade); Fa. TDC, Poznań, Polen (LED-Wand); Fa. VAB Vereinigte Holzbaubetriebe, Memmingen (Glasfassade der LED-Wand); Fa. Sachsenglas, Chemnitz, Hunsrücker Glasveredelung, Chemnitz. Vgl. Ehmann und Lux 2016, 229; Schürmann (o. J.); Sick 2016.  Das Prinzip der Appropriation, das damit infrage gestellt ist, schlägt sich natürlich nicht nur in der Wissensgeschichte des Westens oder dessen ästhetischen Praktiken, sondern ebenso ganz konkret in Prozessen der Kolonialisierung nieder.

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2 Karte Bei Turnstile handelt es sich um eine Installation im öffentlichen Raum der U-BahnStation „Schadowstraße“ in der Düsseldorfer Stadtmitte. Sie besteht wesentlich aus 21 hochrechteckigen Glaspaneelen und einer LED-Wand und ist formal und inhaltlich mit der Architektur der Station eng verzahnt (Abb. 1). Entsprechend ist sie im Kontext der Planung und des Baus der sogenannten Wehrhahnlinie, eines zusätzlichen U-Bahn-Tunnels für verschiedene ÖPNV-Linien, in den Jahren 2002 bis 2016 entstanden. Die zuvor besprochenen Aspekte von Wirklichkeitseffekt (Barthes), Situiertheit des Blickes (Haraway) und Praktiken des Sehens (Certeau) werden im Folgenden mit medialen Erscheinungsformen und Kontexten des 21. Jahrhunderts zusammengebracht. Denn Turnstile wohnt gerade die Qualität inne, den in der Erzeugung von Wissen und Realität inhärenten ‚Blick‘ bzw. den Wandel im Wesen des ‚Blickes‘ vor dem Hintergrund technischer sowie epistemischer Veränderungen sichtbar und so verschiedene Techniken des Sehens fassbar zu machen. An den Auf- und Abgängen sowie auf der Zwischenetage und der Gleisebene sind Paneele in die Wände eingelassen, welche kartografische und diagrammartige Gestaltungen aufweisen (Abb. 2 und 3). Ursula Damm bediente sich hier Luftbildaufnahmen des Düsseldorfer Katasteramtes und wertete die vorgefundene städtebauliche Situation hinsichtlich des Parameters ‚Mobilität‘ wie folgt aus, ehe sie die Karten in 21 Segmente auf- und über die oben genannten Bereiche verteilte: Die großen, mehrspurigen Straßen der Stadt sind mit langen und breit gezeichneten Achsen als die Hauptverkehrsadern gekennzeichnet. In den Schnittpunkten dieser Linienzeichnung sind weitere, kleinere Straßen in ein sich nun vernetzendes, geometrisches Schema oder Muster aufgenommen. Als Resultat entstehen durch Schließung der Schnittbereiche segmentierte Diagramme in Form von Polygonen und Kreisen, die ihrerseits in ein optisches und mathematisches Beziehungsverhältnis gesetzt sind und zu größeren Gebilden erweitert werden. Farbige und numerische Kennzeichnungen, das heißt rötliche, orange und grüne Farbtöne sowie Gradzahlen, verdichten das geometrische Konstrukt zu einer Wissensfolie über dem leicht transparenten Luftbild. Das Ergebnis kann sowohl als Diagramm gelesen sowie auch als Bild gesehen werden. Zudem wird den Betrachtern und Betrachterinnen eine Anleitung über ein zugrunde liegendes ‚Programm‘ angeboten, dass die Annäherung von bildlichen Luftaufnahmen und formal-geometrischen Konstruktionen nicht nur auf sprachlicher Ebene unterstützend leisten oder einleiten soll, sondern den bildlichen und diagrammatischen so auch um einen textlichen Darstellungsmodus erweitert – Darstellungsmodi, die ganz entscheidend in der abendländischen Wissenserzeugung und -kommunikation sind.

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Abb. 2: Ursula Damm, Turnstile, 2016, Gesamtansicht des Kartenmaterials

Das Programm liest sich wie folgt: • wähle einen Ort (Ursprung) | • bestimme die Bewegungsachsen von Personen und Verkehr | • schaue, ob diese Achsen in Winkeln zueinander stehen, die durch Spiegeln und Drehen ein Polygon bilden, das sich nach allen Seiten gleichmäßig ausdehnt | • zeichne dieses Polygon, um alle natürliche Geometrie des Ortes näherungsweise zu bestimmen | • schaue, ob ausgehend von diesen, dem Ort eigenen Geometrien, eine Flächenstruktur (Parkettierung) möglich ist, die die Ursprungs-Geometrien rhythmisch wiederholt | • untersuche, ob und wie im Luftbild des Ortes vorhandene Areale sich in die gefundene Geometrie des Ortes einfügen | • verstärke vorhandene Strukturen durch Entwicklung ihrer Geometrien | • verbinde vorhandene Strukturen in die Logik der Ursprungs-Geometrie | • schaue in die Umgebung: wie können Orte miteinander vernetzt werden über Einsatz von geometrischen – also mathematisch be-

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Abb. 3: Ursula Damm, Turnstile, 2016, Glaspaneel vor den Auf- und Abgängen zum Ausgang Jan-Wellem-Platz

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schreibbaren –Generierungsschemata? | • welche Proportionen bauen diese Geometrien zueinander auf?¹⁵

Damms Arbeit setzt sich zudem mit der Mediengeschichte von Luftbildaufnahmen auseinander und nähert sich damit auch aus technologiegeschichtlicher Sicht dem Prinzip des Überblicks, des göttlichen Auges. Bereits die Darstellungsweise der Wandpaneele erzeugt mit ihrer Grobkörnigkeit und den nicht gestochen scharfen Umrissen der Straßenschluchten den Eindruck einer ‚alten‘ Technik, das heißt einer Analogfotografie. Es ist unerheblich, dass das fotografische Ausgangsmaterial der Wandpaneele sicherlich verschiedene Stufen der Digitalisierung durchlaufen hat; den Luftbildaufnahmen Damms ist eine spezielle Materialität eigen, die sehr dezidiert auf die Anfänge der Luftbildfotografie verweist. Dabei werden insbesondere Merkmale evoziert, wie sie für Panorama oder Luftbildaufnahmen mit ihren höherempfindlichen Filmen und dem damit verbundenen Verlust feiner Details früher typisch waren: Kennzeichnend für das Auflösungsvermögen von Luftbildern sind jenseits der chemischen auch optische Parameter, die in der großen Distanz zwischen dem Motiv und dem lichtempfindlichen Material (oder Sensor) zu Limitierungen durch die Beugungsschärfe zum Tragen kamen. Die Instabilität der Fluggeräte erschwerte gestochen scharfe Aufnahmen zudem maßgeblich. Zu Beginn der Luftfotografie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren diese Geräte zuerst Fesselballons wie jener von Gaspard-Félix Tournachon, besser bekannt als Nadar (1820–1910), oder jener von James Wallace Black (1825–1896), die erstmals 1858 beziehungsweise 1860 erfolgreich zu diesem Zweck verwendet wurden.¹⁶ Aber auch Drachen, Zeppeline und gar Brieftauben wurden in der Folgezeit für Luftbildaufnahmen in Anspruch genommen – gewiss mit unterschiedlichem Erfolg.¹⁷ Obgleich eine Gesamtdarstellung der Luftbildaufnahmen inklusive der geometrischen Schemata existiert (Abb. 2), hat Damm diese in Segmente zerschnitten und über weite Bereiche der Station verteilt angebracht. Diese Bereiche sind gerade solche, welche den die Station betretenden Menschen im wahrsten Sinn des Wortes zum Passanten machen, nämlich die Zwischenebene, die als Verteilerplattform für die unterschiedlichen Richtungen der Bahnlinien dient, sowie die Auf- und Abgänge der Treppenhäuser. Die Funktion dieser Räume ist im höchsten Maße die eines Transitbereichs und mit dem Durchschreiten und Passieren verbunden. Während dieser Handlung werden die Segmente der Luftbildaufnahmen sequenziell erfahrbar und damit gewissermaßen der Produktionsprozess von Luftbildaufnahmen

 Damm 2016, Inschrift eines Paneels von Turnstile.  Vgl. Rasch 2021, 84.  Vgl. Brons 2006 zur Brieftaubenfotografie.

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reproduziert beziehungsweise deren mediengeschichtliche Vergangenheit hervorgerufen: Größere Areale konnten über serielle Fotografien nur durch Reihenbildkameras und Bildflüge zu einem Gesamtbild gefügt werden. So stellen sich Damms Analyseergebnisse der Mobilität und ihrer Zentren eher nur für die ausgewählten Ausschnitte und damit einzelne Viertel ein, nicht aber für ganz Düsseldorf. Im Sinn der realgeografischen Entsprechung sind die jeweiligen Paneele mit ihren spezifischen Kartenausschnitten in die Himmelsrichtungen der abgebildeten Areale ausgerichtet. Diese logische Verteilung der Paneele fügt sich mit dem Befund, dass das Epizentrum der Mobilität an der Stelle der Station „Schadowstraße“ lokalisiert ist (Abb. 2). Wir können es nur vermuten, aber was Robinson gerne von ‚seiner‘ Insel hätte, wäre Überblicken wie diesen Luftbildern wahrscheinlich ähnlich; nicht zuletzt wegen der diversen Ein-, Aus- und Abgrenzungen von Räumen, die Robinson auf der Insel ebenso anhand geometrisch-mathematisch geprägter Handlungen vornimmt, wenn er etwa Halbkreise zeichnet, um eine Palisade zu bauen. Und wie in Robinsons ‚realistischen‘ Beschreibungen, erzeugen viele der unzähligen Details in den Wandpaneelen keine Bedeutung an sich, im Gegenteil: für viele Betrachterinnen und Betrachter sind die Informationen erst einmal verwirrend: Wofür steht diese Linie, für was steht diese Zahl? Diese Details erzeugen also zunächst und vor allem den Eindruck von Wahrheitstreue, Anbindung an die Wirklichkeit, und abstrakter Objektivität. Diese Art der Draufsicht, wie sie bei Robinson über die Topografie der Insel in der erhöhten Schrägsicht oder in der leicht erhabenen Sicht beim Vorzeichnen des Schutzwalls stattfindet und wie sie sich in den Paneelen von Turnstile in der Vogelperspektive der Straßenzüge zeigt, über der die urbane Mobilität zu schwarzen geometrischen Rastern geronnen ist, kontrastiert mit der großen zentralen LEDWand über der westlichen Tunnelöffnung.

3 Drehkreuz Bei der großen LED-Projektionsfläche rückt nun insbesondere das Verhältnis von ‚Bild‘ und seinem semiotischen, ikonischen und indexikalischen Verweispotenzial in den Fokus. Es wird zu zeigen sein, dass den Projektionen von Turnstile – wie allen Bilderzeugnissen – ein eigener ‚Blick‘ inhärent ist und dass dieser hier nun nicht transparent bleibt, sondern über künstlerische Mittel gezielt eine Opazität erhält und als solcher fassbar wird. Wir haben es also mit einer Dynamik zu tun, die entgegengesetzt zu Robinson Crusoes Überblicksgewinnung läuft. Um diese Dynamik näher nachzuvollziehen, sollen und müssen die Turnstile zugrunde liegenden

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Aspekte von Digitalität gleichsam zur Sprache kommen wie die allgemeine Funktionsweise und der Installationsaufbau.

Abb. 4: Ursula Damm, Installationsschema zu Turnstile, 2016

An einem Ende der Station ist die benannte LED-Projektionsfläche oberhalb des Einund Ausgangs des U-Bahn-Tunnelhalbrundes angebracht und überspannt als liegendes Querrechteck dessen lichte Weite (Abb. 1 und 4). Links und rechts wird sie von den vertikalen Glasschächten der Aufzüge und den durchfensterten und diagonal nach oben strebenden Auf- und Abgängen der Treppen gerahmt, die auf der Verteilerebene in eine durchgehende Panoramaverglasung mit Blick auf die tieferliegenden Gleise und Bahnsteige übergeht. Die LED-Wand ist als Time-basedMedia-Arbeit innerhalb der Installation konzipiert. Sie zeigt Bilder, die in einer Überlagerung von Videoaufnahmen aus der Vogelperspektive, verschiedenen Filtern und einer aus diesen Aufnahmen errechneten Computersimulation gebildet sind. Die Videoaufnahmen werden von einer erhöhten Kamera oberhalb der Station auf der Schadowstraße eingefangen. Die Aufnahmen aus der Vogelperspektive werden dabei nicht einfach übertragen, sondern durch ein Video-tracking-System, das heißt durch spezielle Algorithmen gesammelt, berechnet und mit Bildfiltern versehen. Gesammelt und aus-

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Abb. 5: Ursula Damm u. Felix Bonowski, LED-Stream von Turnstile, 2016

gewertet werden hier vor allem Bewegungsspuren. Erkannt werden diese, indem jedes neue Kamerabild mit einem Mittelwert eines ‚menschenleeren‘ Platzes verglichen wird. Es entstehen so Datensätze von statischen, ehemals bewegten und sich dazu verändernden Bildanteilen. Dabei werden insbesondere Richtung, Geschwindigkeit und Farbigkeit als Parameter erkannt. Für die LED-Visualisierung heißt das, dass alles, was eine gewisse Mobilität aufweist, fokussiert und mit einem leichten und transparenten Bewegungsschleier versehen wird, der als farbige Spur die zurückgelegten Bahnen als solche deutlicher kenntlich macht und das Ephemere der Bewegung einfängt (Abb. 5). Die restlichen Bereiche der übertragenen Aufnahmen rücken durch einen semi-transparenten Filter in den Hintergrund. Alles Statische, das heißt der Boden, Aufzugschächte, Werbetafeln und so weiter bleiben so in einem Nebel der Unschärfe und Ungewissheit. Gleichzeitig werden alle Bewegungen ausgewertet, zu Daten verarbeitet und übersetzt. Diese Übersetzung zeigt sich in Form von geometrischen Gebilden, die auf die Mobilität im Video auch visuell Bezug nehmen. Kleine braune Balken mit einem flimmernden Bündel schwarzer Linien sondieren das Bildfeld nach Bewegungspuren und geben die Informationen an rechtwinklige Dreiecke weiter, welche diesen Bereich nun scheinbar vermeiden. Stattdessen formieren sich die Dreiecke sukzessiv zu größeren

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Polygonen und diese wiederum zu Polygonclustern an solchen Arealen des Bildes, an denen keine oder geringere Mobilität existiert. Findet eine schnelle Bewegungsspur durch ein solches Habitat statt, wird es fragil und bricht gegebenenfalls auf. Die Neuformierung der Dreiecke zu Polygonen ist die Folge.¹⁸ Es ist kein Zufall, dass diese geometrischen Strukturen den Anschein von Lebewesen oder Entitäten mit einer eigenen Agentialität erzeugen. Gerade die Sonden erinnern an ein mit Flagellen versehenes Bakterium, wie etwa eines aus der E. coliGattung.

Abb. 6: Darstellung von Escherichia coli Bakterien

In naturwissenschaftlichen Bilderzeugnissen der Elektronenmikroskopie oder darüber hinaus verarbeiteten und bearbeiteten Bildern sind derartige Bakterien häufig ebenso orange dargestellt (Abb. 6). Es sind letztere Abbildungen, die durch ihr Erscheinen als Ergebnis von Internetsuchen das Bild des Bakteriums, sprich die Vorstellung über das Aussehen des E. coli, am ehesten ausmachen.¹⁹ Die Soundinstallation – ein aus digitalen Sounds erzeugtes helles Zirpen und Summen des Künstlers Yunchul Kim – verhält sich zum Video komplementär und verstärkt so

 Weiteres Bild- und Videomaterial zu Turnstile ist auf der Website von Ursula Damm einsehbar: https://ursuladamm.de/u-bahnhof-schadowstrasse/.  Eine einfache Online-Suche des Stichwortes ‚E. coli‘ verdeutlich diesen Befund. Nicht immer sind die Bakterien orange, aber fast ausschließlich werden sie in Farben mit einer hohen Leuchtkraft dargestellt.

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diese Assoziationen von miteinander kommunizierenden Wesen auch auf auditiver Ebene. Menschliche Bewegung und das Verhalten der virtuellen Entitäten stehen in Turnstile in einem Abhängigkeitsverhältnis. Dies sind keine Innovationen im Œuvre Damms. Bereits in früheren Arbeiten hat sie per Video-tracking Bewegungen gesammelt, ausgewertet und per Bilderzeugungsverfahren visualisiert. Diese Visualisierungen waren nun zuvor eher rein kartografisch oder architektonisch geprägt. So zum Beispiel inoutSite I aus dem Jahr 1998: Hier sind Änderungen der Gehrichtungen mit grünen Pfeilen und die Bewegungsspuren mit Röhren gekennzeichnet, während eine architektonisch anmutende Netzstruktur auf die Gesamtheit der Bewegungen für einzelne Areale des Bild- und Messfeldes zurückgeht.²⁰ In der Arbeit Zeitraum (51° 13.66 Nord, 6° 46.523 Ost) von 2005 wandelt das System Damms die menschliche Bewegung in einen virtuellen Körper mit deutlich amorpheren Charakteristika um, ohne die eigentlichen Live-Aufnahmen zu zeigen.²¹ Die menschlichen Subjekte amalgamieren hier eher mit einem virtuellen Körper. Das heißt, Menschen und digitale Erzeugnisse haben ähnliche Koordinaten innerhalb eines Raumes inne. Anders ist dies in der Arbeit Turnstile. Hier wird nun durch die gleichzeitige, wenn auch modifizierte Übertragung der Videoaufnahmen sowie durch die zusätzliche Erzeugung geometrischer Körper eine Dichotomie erschaffen – eine Dichotomie zwischen ‚menschlich‘ und ‚nichtmenschlich-digital‘. Obgleich auch hier die Akteure auf Grundlage der ausgewerteten Bewegungen generiert werden, geht ihr Verhalten der im Bildraum gemessenen Bewegung konträr – das ideale Habitat der digitalen Akteure entsteht dort, wo keine andere, vornehmlich menschliche Bewegung stattfindet. Digital erzeugte Akteure und die projizierten Wesen der Realität nehmen so unterschiedliche Orte ein. Ganz bewusst wird eine Konkurrenzsituation um den zur Verfügung stehenden Raum des Mess- und vor allem Bildfeldes inszeniert. Sowohl die analogen Luftbildaufnahmen wie auch die große Projektion aus Liveaufnahmen und PC-Simulation sind als Kartierungen und Auswertung der Mobilität zu verstehen. Der Parameter Mobilität ist für diese Kartierungen das abgesteckte Thema, der konkretisierte Grad der Abstraktion von Welt, so wie etwa politische oder geologische Karten auch nur bestimmte Aspekte von Welt abbilden und andere ausblenden. Jean Baudrillard führt in Simulacres et Simulation ein Gedicht von Jorge Luis Borges an, in dem eine Karte erzeugt wird, die in Größe, Proportion und Genauigkeit dem Territorium 1:1 entspricht.²² Baudrillard gibt nun  Vgl. Gallwitz und Perrier 2004.  Vgl. Ausst.-Kat. Düsseldorf, K20 Kunstsammlung NRW 2005, insb. Damm 2005, 8–11 u. Kruszynski 2005, 12–36.  Vgl. Baudrillard 1981, 9–11.

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zu bedenken, dass Territorien nicht mehr der Karte vorgelagert seien, da die Frage nach dem Original und dem Ursprung nicht mehr metaphysisch zu denken ist. Es sei daher möglich, dass die Karte selbst dem Territorium vorausgehen und dieses hervorbringen könne. Als gemachte Bilder haben Karten also im besonderen Maße die Eigenheit, Abbild, Repräsentation und Zeugnisse von Welt und gleichzeitig weltbilderzeugende Konstrukte zu sein.²³ Obgleich die mimetische Repräsentation vom urbanen Raum Düsseldorfs in den auf Fotografien basierenden Paneelen von Turnstile augenscheinlich wird, ist im besonderen Maß ein Wissen über urbanen Raum in diesen Karten enthalten, das erst durch seine Darstellungsform und das Medium sichtbar und lesbar wird. Die Darstellungs- und Visualisierungsformen beeinflussen die Wahrnehmung und Aufnahme des Wissens – was wir verstehen und verstehen können – und haben damit einen veritablen Wirklichkeitseffekt ganz im Sinne Roland Barthes’. Im besonderen Maß ist dieser Aspekt nun für hybride Systeme interessant, wie etwa solche einer Augmented Reality. In einer der ersten Moden von Augmented Reality, namentlich der App Pokémon Go, können über die Schnittstelle eines Smartphones im hybriden Raum – zwischen realer Topografie und virtueller Spielwelt – possierliche Comicwesen eingefangen und zu weniger possierlichen Wesen hochgezüchtet werden, um sie darüber hinaus gegeneinander kämpfen zu lassen. Orte auf der virtuellen Spielkarte, an denen Pokémons sich umtreiben und an denen Rationsstationen und Arenen lokalisiert sind, können bisweilen Orte der Realität sein, die in Vergessenheit geraten waren oder funktional eine primär andere Verwendung innehatten. Kurzum, die Kartenwelt und das Wissen um die Funktionsweise des Spiels haben neue Handlungsräume in der Realität erzeugt.²⁴ Zu den Paneelen und der Projektion von Turnstile führen Fragen nach dem impliziten (kartografischen) Wissen unter medialer Perspektive daher auch in den Bereich einer kollektiven Technologiegeschichte und darüber hinaus ebenso in den einer Geschichte der Stadtplanung: Die auf die Mobilität hin ausgewerteten Luftbildaufnahmen Düsseldorfs verweisen auf die Geschichte der Stadt, zeigen Plätze, die auf das Mittelalter zurückgehen, oder absolutistische Parkanlagen und Gärten. Sie weisen ebenso stark auf die Spuren der Zerstörung und des Wiederaufbaus während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Bausubstanz der Innenstadtkerne in NRW, insbesondere entlang von Rhein und Ruhr, war nicht selten über 70 % zerstört²⁵ und ermöglichte während des Wiederaufbaus neue und breitere Verkehrsadern in einem zuvor eher gründerzeitlich geprägten Stadtbild, das nur in  Vgl. Krämer 2012.  Vgl. Baudrillard 1981, 9–11.  Vgl. Bode 1995, Abb. 8; für Düsseldorf wird eine Zerstörung der innerstädtischen Bausubstanz von 80 % angegeben, vgl. Looz-Corswarem 2004, 48.

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Teilen modernistische Züge hatte.²⁶ Nach keinem anderen technischen Objekt wurden die ‚Bedürfnisse‘ der Stadt derart ‚neu‘²⁷ ausgerichtet, wie nach dem Automobil. Eine Leerstelle beinahe über der Station „Schadowstraße“ ist symptomatisch für den Städtebau dieser Zeit. Der sogenannte ‚Tausendfüßler‘, eine gigantische Autohochstraße, trennte zwischen 1962 und 2013 den Hofgarten und überspannte die Schadowstraße. Der Koloss aus Stahl und Beton wich dem Bau der Wehrhahnlinie. Gewissermaßen dokumentiert Turnstile nun die städtebaulichen Veränderungen über der Erde, die durch den Bau der Wehrhahnlinie erst möglich geworden sind. Jedoch ist die unterirdische Projektion auf der LED-Wand in Turnstile ein offenes Versuchsfeld und ihre Bilder sind ephemer: „Sie wurde nicht entwickelt, um die Dispositive der Stadt zu verändern, sondern die Wahrnehmung derselben zu gestalten.“²⁸ Äußerst spannend wirkte sich in dieser Sicht etwa die Bauphase des Kö-Bogens II mit der Errichtung und Verlagerung von Bauzäunen und Containern in das Messfeld der Simulation aus, und damit auf die Etablierung neuer statischer Parameter als Hindernisse, die im Realen zu umgehen waren und auf dem Screen ein herrliches Habitat für die digitalen Agenten bildeten. Die überirdischen Veränderungen wurden so auch für die Betrachterinnen und Betrachter unter der Erde im Darstellungsmodus der künstlerischen Arbeit erfahrbar. Turnstile räumt so gerade die Möglichkeit ein, Digitalität und Digitalisierung als wirkmächtige Parameter in städtebauliche Transformationen und ihrer Wahrnehmung einzubeziehen. Algorithmische Performance bricht so statische Setzungen in der Architektur und Stadtplanung auf und ermöglicht Entwürfe, die aus dem Handeln der Akteure des urbanen Raumes selbst hervorgehen.²⁹

 Gewiss lässt sich eine steigende Relevanz von Kraftfahrtzeugen in allgemein kulturellen wie städtebaulichen Kontexten bereits für das erste Viertel des 20. Jahrhunderts feststellen. Zu der Automobilisierung der Städte vgl. Kuhm 1997.  Bereits in der Charta von Athen des Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) von 1933 wurden im Zuge der funktionalen Neuaufteilung der Idealstadt die Stadtstraßen vorrangig als Transitlinien für Kraftfahrtzeuge verstanden, auf denen der Fußgänger und das alltägliche Leben eines Boulevards keinen Platz hatten. Die Innenstadtzerstörung hat vorhandene Ideale also viel eher in ihrer Umsetzung ermöglicht als gänzlich neu hervorgebracht. Vgl. Sennett 2018, 96–101.  Damm und Bonowski 2018, 166.  Vgl. Damm und Bonowski 2018, 166.

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4 Evidenz Eine Kuriosität von Ursula Damms virtueller Installation ist schlussendlich, dass sie uns einen Überblick präsentiert, den wir trotz dargebotener Vogelperspektive nicht unmittelbar verstehen können. Das ist insofern ungewohnt, als uns – wie auch Robinson auf dem Hügel – ‚einen Überblick gewinnen, haben oder behalten‘ als der Inbegriff von Wissen und Verstehen können erscheint. Aber wer hat eigentlich in Damms Projektion die Übersicht? Sie für uns zu beanspruchen, wird uns deutlich erschwert. Was wir sehen, ist eine Szene, die sich über unseren Köpfen abspielt, die wir aber aus der Draufsicht zu sehen bekommen. Ein Lichtschacht vor der LEDWand führt diese axiale Verbindung zusätzlich vor Augen. Ebenso ergreifen uns das hektische Treiben an den Bahngleisen, die quietschenden Bremsen der einfahrenden Züge, der feuchtnasse Geruch des Tunnels, der mit dem Zug in die Station getragen wird, das haptische Drängeln der ein- und aussteigenden Menschen – all das macht uns unsere Körperlichkeit und unsere Verortung im Untergrund bewusst. Die Vogelperspektive, die wir auf der LED-Wand dargeboten bekommen, ist also eine, die wir zwar betrachten können, die uns aber als Körperwesen unmöglich ist, eigens einzunehmen. Vor allem, weil es sich um eine Live-Aufnahme vom Geschehen auf dem Platz handelt, können wir die dargebotene Vogelperspektive niemals tatsächlich einnehmen: Wenn wir die Treppen hinauflaufen und – wie Robinson – ‚auf einen Hügel steigen‘, um auf den Platz herabzusehen, ist das Geschehen, das wir unten auf dem Screen beobachtet haben, immer schon vorbei. Hinzu kommen die diversen geometrischen Formen, die im Gegensatz zu den schwarzen Linien auf den Wandpaneelen ihrerseits agil sind und, anstatt die Mobilität menschlicher Subjekte stillzustellen, überhaupt erst von dieser erzeugt und ihrerseits in Bewegung versetzt sind. Aber natürlich nicht unmittelbar: Ohne das Zutun von Algorithmen, Kameras und überhaupt komplexer Informationstechnologie bewegte sich hier gar nichts, wäre auch das Bewegungsbild der Passanten an sich überhaupt nicht möglich. Und damit gilt für das Gesamtszenario im Hinblick auf die Frage, ‚wer sieht‘ oder ‚wer schaut‘ letztlich, dass wir es mit einer kollektiven Perspektive zu tun haben, an deren Erzeugung sowohl menschliche als auch nichtmenschlich-digitale Akteure teilhaben. Dies zersplittert das Phantasma, das Certeau beschreibt: dass ein Subjekt sich selbst zur Quelle totaler Übersicht gleichzeitig reduzieren und ermächtigen könne; ein Œil solaire sein könne, das außer dem Auge im Grunde keinen Körper habe und jedem wechselhaften, mobilen, unübersichtlichen Lebenszusammenhang enthoben sei. Während dies auf den Wandpaneelen noch möglich zu sein scheint, unterläuft die Projektion der oberirdischen Momentaufnahmen auf einen Bildschirm unter

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der Erde in der Gegenüberstellung von Menschen und Nicht-Menschen diese Möglichkeit. Was genau ist in dieser Zersplitterung eigentlich infrage gestellt? Zur Debatte gestellt wird in Turnstile letztlich die Natur von Objektivität. Kann etwas objektiver sein als das Bild, das uns der Videoscreen präsentiert? Turnstile liefert uns eine Perspektive, die kein menschliches Subjekt einnehmen könnte, jedenfalls nicht allein. Aber gleichzeitig fehlen genau die Tugenden, die wir konventionellerweise mit Objektivität assoziieren. Das Versprechen der Objektivität, das Barthes beschreibt, wird nicht eingelöst – das Versprechen: ‚wenn du dort wärst, würdest du es genau so sehen, wie es hier abgebildet ist‘. Kein menschlicher Körper kann genau das sehen, was auf dem LED-Screen abläuft, sondern nur in der Zusammenarbeit von menschlichem Betrachter, technischem Apparat und digitalem Algorithmus werden diese Eindrücke vom städtischen Geschehen erfahrbar. So konfrontiert Damms Arbeit uns mit der Feststellung, dass Objektivität eben nicht der Default-Modus unserer Wahrnehmung und/oder der ‚Realität‘ ist, sondern dass Objektivität voraussetzungsreich ist, immer wieder neu und vor allem im Kollektiv von menschlichen und nichtmenschlichen, biologischen und digitalen Akteuren erzeugt werden muss. Objektivität ist damit also nicht etwa das, was erreicht wird, wenn alle Störfaktoren aus unseren Darstellungspraktiken herausgefiltert werden und nichts Subjektives darin mehr enthalten ist. Objektivität erscheint im Sinne von Turnstile vielmehr als das Resultat der Interaktion von Subjekt und Objekt, Mensch und Maschine, Körper und Algorithmus. In Turnstile scheitert die objektive Darstellbarkeit wissenschaftlicher Evidenz und widersetzt sich dem Œil solaire und dem Wunsch, im Blick von oben herab aufzugehen. Insofern vollführt Turnstile wirkungsvoll einen Akt der Kritik an einer epistemologischen Tradition, in der Konstruktivismus und Realismus einander in einer vermeintlichen Dichotomie entgegengesetzt werden, und verweist damit genau auf das veränderte Verständnis von Evidenz, das auch von Donna Haraway eingefordert wird. Haraway setzt gewissermaßen neben die selbstermächtigende ‚bad objectivity‘ eine Form von ‚good objectivity‘, die auf einem Bewusstsein für die Situiertheit jedweden Wissens fußt – ohne es sich dabei in einer trivialen Form von Relativismus bequem zu machen, der gar keine Anstalten mehr macht, sich um die ‚Realität‘ in irgendeiner Form überhaupt nur zu bemühen. Haraway prägt dafür, wie bereits erwähnt, den Begriff „situated knowledges“³⁰: I think my problem and „our“ problem is how to have simultaneously an account of radical historical contingency for all knowledge claims and knowing subjects, a critical practice for recognizing our own „semiotic technologies“ for making meanings, and a no-nonsense com-

 Haraway 1991, 183.

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mitment to faithful accounts of a „real“ world, one that can be partially shared and friendly to earth-wide projects of finite freedom, adequate material abundance, modest meaning in suffering, and limited happiness.³¹

Denn das Problem an einer trivialen Form von Konstruktivismus ist Haraways Analyse zufolge nicht zuletzt, dass eine übergeneralisierte Annahme von Gemachtheit die konkrete Betrachtung von Übersetzungs- und Mediationsprozessen verweigert und damit auch die Verantwortlichkeiten und Machtstrukturen hinter diesen Mediationen verschleiert. Es wird so ein Narrativ generiert, das genau dort unachtsam wird, wo tatsächlich Verantwortlichkeit hergestellt werden könnte („that loses track of its mediations just where someone might be held responsible for something“³²). Interessanterweise dekliniert Haraway die Anforderungen einer „usable doctrine of objectivity“³³ gerade am Beispiel des Sehens durch. Quasi als Gegenprogramm zur Ideologie des Überblicks – die Ideologie, die Certeau mit dem Begriff des ‚göttlichen Auges‘ versinnbildlicht – formuliert Haraway: „I would like to insist on the embodied nature of all vision, and so reclaim the sensory system that has been used to signify a leap out of the marked body and into a conquering gaze from nowhere.“³⁴ Einen solchen ‚leap‘ nimmt Haraway am Beispiel einer National Geographic Ausgabe, die den Errungenschaften der space photography gewidmet ist, sarkastisch auseinander: Diese Ausgabe recounts the exploits of the space race and displays the colour-enhanced „snapshots“ of the outer planets reassembled from digitalized signals transmitted across vast space to let the viewer „experience“ the moment of discovery in immediate vision of the „object“. These fabulous objects come to us simultaneously as indubitable recordings of what is simply there and as heroic feats of techno-scientific production.³⁵

Genau das Gegenteil passiert in Damms Turnstile. Zwar wird auch dort das komplette technologische Setup in seinem Wirken ausgestellt, aber eben ohne, dass dabei irgendeine Form von „god-trick“ vollzogen würde.³⁶ Insofern erfüllt Turnstile genau die Anforderungen dessen, was Haraway eine ‚anwendbare, aber nicht-unschuldige Doktrin der Objektivität‘ nennt: „insisting metaphorically on the particularity and embodiment of all vision (though not necessarily organic embodiment

     

Haraway 1991, 187. Haraway 1991, 187. Haraway 1991, 188. Haraway 1991, 188. Haraway 1991, 189. Haraway 1991, 189.

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and including technological mediation) […] allows us to construct a usable, but not an innocent, doctrine of objectivity.“³⁷ Die vermeintliche Unschuld einer Wirklichkeit, die ‚einfach so‘ gegeben und abgebildet ist, ist in Turnstile eindeutig konterkariert. Dass menschliche und digitale Akteure gemeinsam im bewegten Bild auf der LED-Wand auftauchen, öffnet nicht nur unsere Wahrnehmung des Stadtbildes (wie Damm es ausdrückt: nicht die Dispositive der Stadt sollen verändert werden, sondern ihre Wahrnehmung) durch die Feststellung, dass digitale Akteure immer und überall zugegen sein können. In der Ästhetik der Arbeit wird darüber hinaus in einer posthumanen Geste die Projektionsfläche mit der Realität unauflösbar verschränkt: Die digitalen Wesen sind offensichtlich sowohl gemacht als auch echt, das Wirken des Algorithmus ist vom Wirken der Menschen kaum noch klar abzugrenzen, und der althergebrachte Gegensatz von ‚Natur‘ und ‚Erfindung‘, von ‚Wirklichkeit‘ und ‚Imitation‘ verliert – ganz, wie Haraway es im Untertitel ihres Buches:The Reinvention of Nature fordert – seinen Status. Mitnichten geht es Haraway in diesen Überlegungen nur um ein immer genaueres Wissen von der Welt und/oder um eine andere Epistemologie, deren Ehrgeiz sich darauf beschränkte, bestehendes Wissen im Hinblick auf die ‚Wahrheit‘ zu korrigieren. Vielmehr hat das Prinzip: „only partial perspective promises objective vision“ auch eine ethische und letztlich eine soziale Dimension.³⁸ Denn nur – so Haraways Argument weiter – im Bewusstsein der Situiertheit und im Prozess der Positionierung wird auch ein echter Wechsel des Standpunkts und damit der Perspektive möglich: All these pictures of the world should not be allegories of infinite mobility and interchangeability, but of elaborate specificity and difference and the loving care people might take to learn how to see faithfully from another’s point of view, even when the other is our own machine.³⁹

Im Haraway’schen Sinne objektiv ist also diejenige und derjenige, die und der auch einen anderen Standpunkt einnehmen kann – etwas, was dem göttlichen Blick mangels Bewusstseins dafür, dass es sich bei ihm um einen Standpunkt unter vielen handelt, verwehrt bleibt. Objektivität nach Haraway bedeutet Unvollständigkeit, Fragmentiertheit, Nicht-Totalität – genau, wie es uns Turnstile in seiner paradoxen

 Haraway 1991, 189.  Haraway 1991, 190.  Haraway 1991, 190.

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Konstruktion des ‚Überblicks von unten‘ wortwörtlich vor Augen führt.⁴⁰ Objektivität nach Haraway bedeutet also notwendigerweise auch Kollektivität – ganz, wie die wimmelnden, digital erzeugten Formen der Simulation und Projektion der LiveAufnahmen nahelegen. Visuelle Eindrücke, wie Turnstile sie anbietet, are not the products of escape and transcendence of limits, i. e., the view from above [der Robinson’sche Überblick], but the joining of partial views and halting voices into a collective subject position that promises a vision of the means of ongoing finite embodiment, of living within limits and contradictions, i. e., of views from somewhere.⁴¹

Nur darüber kann das Feld des Wissens auf das Ethische hin geöffnet werden. Das Phantasma des Überblicks, der entkörperlichten und entsubjektivierten Beobachtung verweigert hingegen eine solche Öffnung, verkürzt ethische Beurteilung auf (vermeintlich) rationale Feststellung, und tut somit im Grunde keinem der beiden Aspekte genüge.

5 Frosch und Vogel Wir sind also, in dem ‚Überblick von unten‘, den Ursula Damms Turnstile uns gewährt, gewissermaßen Frösche und Vögel zugleich. Diese Paradoxie löst sich in dem Moment als solche auf, indem wir von einem Paradigma des realistischen Standpunkts zu dem einer posthumanen Umwelt wechseln: von einem Paradigma, in dem Wissen und Verstehen an einen entkörperten, allumfassenden, selbst nicht betrachtbaren Blick gebunden sind, hin zu einem solchen, in dem Wissen und Verstehen eingebettet, verkörpert, partiell und darum notwendigerweise kollektiv sind. In dieses Kollektiv der Wissenserzeugung sind humane wie nichthumane Akteure mit einbezogen, deren Perspektiven ineinander spielen und darum keinen Anspruch auf Widerspruchsfreiheit erheben – Frosch und Vogel gleichzeitig zu sein, ist in diesem Szenario also keine Anomalie, sondern ‚good epistemic practice‘. Haraway schreibt nach eigenem Bekunden sehr spezifisch aus dem „belly of the monster, in the United States in the late 1980s“⁴². Andere wagen sich durchaus weiter nach vorn im zeitlichen Bezug: So zum Beispiel Thomas Alexander, wenn er der Tradition der Philosophie als ‚Liebe zur Weisheit‘ eine Wandlung zur‚Liebe zum

 „But how to see from below is a problem requiring at least as much skill with bodies and language, with the mediations of vision, as the ‚highest‘ techno-scientific visualizations“ (Haraway 1991, 191).  Haraway 1991, 196.  Haraway 1991, 188.

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Wissen‘ („philepistemy“) in der Moderne attestiert.⁴³ Alexander meint das durchaus kritisch: Philosophy today stands in a problematic relationship to wisdom. Introductory texts still relish defining philosophia as „the love of wisdom.“ But, as anyone reading on discovers, the ideal of wisdom itself is long gone. In its place is the view that philosophy provides exceedingly clever and conflicting answers to puzzles that do not particularly relate to the conduct of life or the discovery of its profoundest meanings. Most of those puzzles have to do with the problems of the justification of beliefs, putting philosophy in an auxiliary relationship to the project of knowledge.⁴⁴

Dadurch ergibt sich eine Form von Wissen, die auf problematische Weise sowohl von ihrem ethischen wie ihrem ästhetischen Gehalt abgetrennt ist (eine Form von Wissen also, die „the quest for knowledge from that of the good life“ abtrennt).⁴⁵ So, wie Haraway „situated knowledges“ statt ‚bad objectivity‘ fordert, fordert Alexander gegenüber der reinen „philepistemy“ eine „eco-ontology“ oder schlichter: „a wisdom of inhabitation.“⁴⁶ Denn: [t]o look at the world merely in terms of a value-neutral epistemic field requires forcing the modernist dualism – the repression of wisdom as an end and a lack of acknowledgment of the erotic origins of thought from the start.⁴⁷

Der Irrglaube, man könne das Wissen um die Erfahrung bereinigen, erscheint hier also als charakteristisches Merkmal des philosophischen Moments der Neuzeit im Allgemeinen. Damit sind wir wieder in Robinsons Welt und bei den Anfängen des modernen Romans angelangt. Denn nichts anderes – die Unterdrückung jedes im weitesten Sinne erotischen Bezugs zur Welt, die Rasterung der Umgebung, die aus einem Habitat, einer Wohnstätte, einen Halbkreis macht, der in Yards und Zoll messbar und mit Pfählen absteckbar, aber substantiell kaum mit einem selbst verbunden ist – macht sich in Crusoes Beziehung zu ‚seiner‘ Insel bemerkbar. Die einzige substantielle Verbindung, die Robinson selbst zwischen sich und seiner Umgebung anerkennt, ist eine der asymmetrischen Nutzbarmachung zum Zweck des eigenen Überlebens. Hier geht es um Cleverness, nicht um Weisheit. Folgen wir Alexander, steht dies in Verbindung zur historisch je anders flektierten Rolle des Wissens: als

    

Alexander 2013, 74. Alexander 2013, 74. Alexander 2013, 75. Alexander 2013, 76, 79. Alexander 2013, 83–84.

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Instrument zur Gestaltung des guten Lebens in der Vormoderne und – sozusagen ‚wenn wir uns noch rechtzeitig besinnen‘ – der Zukunft, und demgegenüber Wissen als reine Information in der Moderne, zu der wir ebenso wie Crusoe nach wie vor zählen. Aber ganz so einfach scheinen die Dinge schlussendlich doch nicht zu liegen. Eine Begehrlichkeit hat der betont sachliche Crusoe doch: Geld. Geht es vor allen Dingen in der Anfangszeit auf der Insel häufig ums Überleben unter widrigen Umständen, rückt im Verlauf der Erzählung das Erwirtschaften von Überschuss immer wieder in den Fokus. Am Ende bringt Crusoe es zu beachtlichem Wohlstand. Dieser Umstand steht durchaus in Verbindung zum epistemologischen Paradigma, dem Robinson Crusoe und mit ihm – Alexander und Haraway zufolge – letztlich die westliche Moderne an sich verschrieben sind. Denn am Ende des Tages, so Haraway, ist das Problem nicht (nur) die Objektifizierung der Welt, sondern dass diese Objektifizierung eine Vorstufe und Vorbedingung der Appropriation, des „resourcing“⁴⁸ ist. Situiertes Wissen soll also letztlich nicht einfach ein ‚besserer Realismus‘ sein, sondern auch dieser Herrschaftsbeziehung Abhilfe schaffen: Situated knowledges require that the object of knowledge be pictured as an actor and agent, not a screen or a ground or a resource, never finally as slave to the master that closes off the dialectic in his unique agency and authorship of „objective“ knowledge.⁴⁹

Ist der moderne Roman also letztlich nichts als das Nebenprodukt einer epistemischen Ideologie der Moderne und im Grunde – wenn man es polemisch ausdrücken möchte – nur Propagandamedium und Selbstbestätigung der Bourgeoisie und ihrer Besitzansprüche?⁵⁰ Interessanterweise spricht Roland Barthes in seinem Text über den Wirklichkeitseffekt von Realismus als „Alibi“: In der realistischen Erzählung verbänden sich die ästhetischen Zwänge „zumindest als Alibi“ mit referentiellen Zwängen.⁵¹ Hier deutet sich also an, dass noch die nüchternste realistische Erzählung insgeheim stärker ästhetischen Impulsen folgen mag, als explizit zugegeben wird. In genau

 Zoe Soufoulis zitiert in Haraway 1991, 198.  Haraway 1991, 198. Dies impliziere im Übrigen auch, der Welt ihren eigenen Sinn für Humor zuzugestehen: „Acknowledging the agency of the world in knowledge makes room for some unsettling possibilities, including a sense of the world’s independent sense of humour“ (1991, 199).  Zur sich herausbildenden Mittelschicht als sozialhistorischem Kontext für den modernen Roman vgl. vor allem Watt 1974. Prägnant formuliert von James Joyce: „The whole Anglo-Saxon spirit is in Crusoe: the manly independence; the unconscious cruelty; the persistence; the slow yet efficient intelligence; the sexual apathy; the practical, well-balanced religiousness; the calculating taciturnity“ (Joyce 1912 zitiert in Watt 1974, 171).  Barthes 2006, 168.

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diesem Sinne entdeckt Sten Pultz Moslund passenderweise in Robinson Crusoe eine Art ‚ökologischen Subtext‘ (wenn man so will also eine unterschwellige „Weisheit des Bewohnens“ [wisdom of inhabitation]), in dem sich durchaus ein Bewusstsein für die Eigendynamik der einen umgebenden Welt und für die Verbundenheit, die man mit dieser erfährt, niederschlägt. Ganz im Sinne einer Logik des ‚Alibis‘, in der das Programm der referentiellen Genauigkeit eine Ausrede liefert für eine letztlich durchaus doch ästhetische (sinnliche und lebendige) Auseinandersetzung mit der Welt, der man rein utilitaristisch zu begegnen vorgibt, konstatiert Moslund zu Crusoe: Crusoe’s language appears to colonize all of perceivable reality in the novel, leaving nothing outside his anthropocentric and imperialist vision and control of the real.Yet I contend that this dimension of his language is incapable of sustaining itself once certain aisthetic qualities of the literary text are brought into play.⁵²

Beispielhaft führt Moslund hierzu Robinsons Beschreibungen des Brotbackens an: Vordergründig als Beherrschung der Umwelt präsentiert, entbergen diese langwierigen Beschreibungen doch letztlich nichts so sehr wie eine Vermischtheit mit dieser: If we pay attention to and gather all the bread-related referents or actors (human and nonhuman) that are scattered on the six pages that describe the bread-making process – e. g., „crop,“ „harvest,“ „invention,“ „utensils,“ „trees,“ „firewood,“ „coals,“ „burning,“ „seed,“ „ground,“ „growing,“ „sun,“ „rain,“ „water,“ „heat,“ „climate,“ „season“ […] – a great humannonhuman assemblage comes into view that teems with interacting participants and mediating forces (material and immaterial) in the production of bread. […] [T]he novel’s hidden, silenced, and unconscious reality is that Crusoe and all of his kingdom have never been and never will be anything other than a human-nonhuman hybrid. What emerges is a novel vibrating with nature-culture and human-nonhuman hybrids that go unregistered by the main character.⁵³

Noch bevor die moderne Objektivität also der postmodernen Kritik anheimfällt, und schon in ihrem (angeblich) ersten Aufkommen, dekonstruiert sie sich in ihrem Totalitätsanspruch selbst. Was hier infrage gestellt ist, ist eine einfache teleologische Erzählung von vormoderner Weltverbundenheit hin zum Realismus der Moderne und schließlich hin zu dessen Kritik. Robinson Crusoe ist deswegen interessant, weil der Text uns davor bewahrt, in einem weiteren Moment von ‚bad objectivity‘ eine Fortschrittserzählung zu konstruieren, der zufolge wir den plumpen, utilitaristischen Realis-

 Moslund 2021, 8.  Moslund 2021, 19–20.

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mus der Neuzeit nun zugunsten einer aufgeklärteren, posthuman sensibilisierten Existenz hinter uns lassen können. Die Draufsicht, welche die Wandpaneele an der Schadowstraße liefern, und der situierte Blick, den die LED-Projektion am selben Ort fordert, existieren in Turnstile bezeichnenderweise nebeneinander, sind Teil derselben Installation. Turnstile entspringt dabei unbestreitbar einem selbstreflexiven, (post)modernen Moment und steht damit augenscheinlich in einer völlig anderen Tradition als der schwerfällige, unironische Realismus Crusoes. Und dennoch macht sich in Robinson Crusoe, den expliziten Beteuerungen des Titelhelden zum Trotz, dieselbe Agentialität des Abgebildeten – die Agentialität von ‚seed‘, ‚sun‘ oder ‚rain‘ – bemerkbar, die Damms digital-menschlich bevölkerte und sich ständig neu erzeugende Projektion ‚füttert‘ und vorantreibt. Noch der trockensten Objektivität mag also immer schon ein Potential innegewohnt haben, dass sich die Ideologie der Nutzbarmachung doch wenden lässt hin zu der Befriedigung, die in der Feststellung liegt, wie Haraway es ausdrückt: „we are not in charge of the world. We just live here.“⁵⁴

Abbildungsverzeichnis Abb. 1 – Innenansicht der Station „Schadowstraße“, Düsseldorf | Archiv der Verfasser:innen. Abb. 2 – Ursula Damm, Turnstile, 2016, Gesamtansicht des Kartenmaterials | Ursula Damm, alle Rechte vorbehalten (Mit Dank für die freundliche Bereitstellung und Genehmigung). Abb. 3 – Ursula Damm, Turnstile, 2016, Glaspaneel vor den Auf- und Abgängen zum Ausgang Jan-Wellem-Platz | Ursula Damm, alle Rechte vorbehalten (mit Dank für die freundliche Bereitstellung und Genehmigung). Abb. 4 – Ursula Damm, Installationsschema zu Turnstile, 2016 | Ursula Damm, alle Rechte vorbehalten (mit Dank für die freundliche Bereitstellung und Genehmigung). Abb. 5 – Ursula Damm und Felix Bonowski, LED-Stream von Turnstile, 2016 | Archiv der Verfasser: innen. Abb. 6 – Darstellung von Escherichia coli (E. coli) Bakterien (CC BY-SA 4.0 Volunteer7: https://commons. wikimedia.org/wiki/File:102125192_ecoli.jpg [Abruf: 07. 05. 2022]).

Literaturverzeichnis Alexander, Thomas M. The Human Eros. Eco-Ontology and the Aesthetics of Existence. New York: Fordham University Press, 2013. Ausst.-Kat. Düsseldorf, K20 Kunstsammlung NRW 2005, Ursula Damm, Zeitraum (51° 13.66 Nord, 6° 46.523 Ost). Hg. Ursula Damm. Düsseldorf: 2005.

 Haraway 1991, 199.

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Dank Der vorliegende Band ist aus einer öffentlichen Vortragsreihe hervorgegangen, die im Wintersemester 2021/22 im Haus der Universität in Düsseldorf stattfand. Die Veranstaltung war Teil des interdisziplinären Studien- und Forschungsschwerpunktes „Kulturelle Grundlagen Europas“ an der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Wir danken den hieran beteiligten Kolleginnen und Kollegen Friederike Danebrock, Dr. Gero Faßbeck, Arne Leopold, Julia Mutzenbach und Dr. Sebastian M. Ostmeyer für die Ausarbeitung ihrer Beiträge. Zugleich gilt unser Dank Dr. Sieglinde Borvitz, PD Dr. Sonja Klein, Prof. Dr. HansGeorg Pott, Dr. Dennis Sölch und PD Dr. Tobias Winnerling für ihre Bereitschaft, eigens einen Beitrag für diesen Band zu verfassen. Für die Publikation des Bandes haben wir ferner von weiteren Stellen und Personen wertvolle Unterstützung erhalten. Wir danken besonders der Anton-BetzStiftung der Rheinischen Post e.V. sowie dem Dekanat der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf für die großzügige Unterstützung beim Druckkostenzuschuss. Bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags dup/ De Gruyter, namentlich Dr. Anne Sokoll, Dr. Eva Locher und Florian Ruppenstein, bedanken wir uns für die hervorragende und reibungslose Betreuung bei den Vorbereitungen und der Drucklegung. Düsseldorf im Herbst 2022

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Sebastian Hansen und Oliver Victor

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Borvitz, Sieglinde: Studium der Italianistik, Frankreichstudien und Ost-/Südosteuropawissenschaften. Dr. phil (Controcorrente. Die kruden Visionen von Ciprì und Maresco. Düsseldorf 2014; binationale Promotion). Akademische Rätin für Romanistische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Romanische Literaturen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Visuelle Kultur und Medienästhetik, Gouvernementalitätsstudien. Publikation u. a.: Prekäres Leben. Das Politische und die Gemeinschaft in Zeiten der Krise. Bielefeld 2020 (Hg.). Danebrock, Friederike: Studium der Anglistik und Germanistik an der Universität zu Köln. 2021 Promotion an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit einer Schrift zu On Making Fiction. Frankenstein and the Life of Stories (Bielefeld 2023). Zuvor Mitglied des DFG-Graduiertenkollegs „Materialität und Produktion“ an der Universität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Fiktions- und Erzähltheorie; Psychoanalyse und Literatur; gothic studies; Literatur, Materialität und Praxis. Faßbeck, Gero: Studium der Romanistik, Politikwissenschaft und Germanistik an der Albert-LudwigsUniversität Freiburg. Dr. phil. (Wirklichkeit im Wandel. Schreibweisen des Realismus bei Balzac und Houellebecq. Bielefeld 2021). Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Romanistik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: französische Gegenwartsliteratur, Literatur der Moderne, spanische Dichtung der Frühen Neuzeit. Publikation u. a.: Übersetzung von Federico Ferraris und Jean-Luc Nancys Ikonografie des Autors. Wien/Berlin 2021 (mit L. Viglialoro). Hansen, Sebastian: Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und der Université de Nantes. Dr. phil. (Betrachtungen eines Politischen. Thomas Mann und die deutsche Politik 1914–1933. Düsseldorf 2013). Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Europäische Kulturgeschichte, Aufklärung, bürgerliche Gesellschaft, Ästhetik, historische Geschmacksforschung, Literatur/Musik und Geschichte. Klein, Sonja: Studium der Germanistik, Anglistik, Pädagogik. PD Dr. phil. (Habilitationsschrift: Gottes herrlich Ebenbild. Der Körper im Werk Goethes). Akademische Rätin a. Z. am Institut für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Literatur vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, deutschsprachige Lyrik, Goethe, Literarische Anthropologie, Plant Studies. Publikationen u. a.: „Denn alles, alles ist verlorne Zeit.“ Fragment und Erinnerung im Werk von Durs Grünbein. Bielefeld 2008; Übersetzungen. Translations. Würzburg 2018 (Hg. mit K. Solibakke, B. Witte). Leopold, Arne: Studium der Kunstgeschichte und Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Promotion zu „Studien zur Intermaterialität geschnitzter Kästen im Hoch- und Spätmittelalter“. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kunstgeschichte an der Heinrich-Heine-Universität. Forschungsschwerpunkte: Materialität und Produktion von Kunst, diskursiv-historische Bedingungen der Kunst- und Wissenserzeugung, Kunst- und Kulturtransfer, digitale Vermittlungsmöglichkeiten von Informationen und Wissen, Kunst im öffentlichen Raum.

https://doi.org/10.1515/9783110793062-013

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Mutzenbach, Julia: Studium der Biologie, Philosophie und Jüdischen Studien an den Universitäten in Göttingen, Oulu (Finnland) und Düsseldorf. Von 2020 bis 2022 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Jüdische Studien an der Heinrich-Heine-Universität. Forschungsschwerpunkte: jüdische Kultur-, Wirtschafts- und Rechtsgeschichte der Frühen Neuzeit. Dissertationsprojekt: „Lebensverhältnisse jüdischer Landgemeinden nach dem Dreißigjährigen Krieg“. Ostmeyer, Sebastian M.: Studium der Musikwissenschaft, Katholischen Theologie, Klassischen Philologie, Katholischen Kirchenmusik, Komposition. Dr. phil. (Minne und Gnade in der „Klage“ Hartmanns von Aue. Berlin 2022). Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters (Prof. Dr. Ricarda Bauschke-Hartung) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Minnesang, lyrische Kleinformen, Deutsche Mystik, Gattungstheorie, mtl. Diskursforschung, Musik und Wort in mhd. Literatur. Pott, Hans-Georg: Studium der Germanistik und Philosophie. Professor i. R. für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (1983‒2011). Forschungsschwerpunkte: Alter, Aufklärung, Religion und Kulturgeschichte. Publikationen u. a.: Literarische Bildung. Zur Geschichte der Individualität. München 1995. Kurze Geschichte der europäischen Kultur. Paderborn 2005. Eigensinn des Alters. München 2008. Kontingenz und Gefühl. Studien zu/mit Robert Musil. München 2013. Aufklärung über Religion. Basel/Berlin 2021. Sölch, Dennis: Studium der Philosophie, Anglistik, Amerikanistik und Erziehungswissenschaften. Dr. phil. (Prozessphilosophien. Wirklichkeitskonzeptionen bei Alfred North Whitehead, Henri Bergson und William James. Freiburg 2014). Wissenschaftlicher Mitarbeiter/Assistent der Geschäftsführung am Institut für Philosophie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Philosophie (bes. 19./20. Jahrhundert), amerikanische Philosophie (Transzendentalismus, Pragmatismus, Neopragmatismus), Existenzphilosophie, Prozessphilosophie, Erziehungsphilosophie. Victor, Oliver: Studium der Philosophie und Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Dr. phil. (Kierkegaard und Nietzsche. Initialfiguren und Hauptmotive der Existenzphilosophie. Berlin/Boston 2021). Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Philosophie (bes. 19./20. Jahrhundert), Anthropologie, Existenzphilosophie und Existenzialismus. Publikation u. a: Europäische Utopien – Utopien Europas. Berlin/ Boston 2021 (Hg. mit L. Weiß). Winnerling, Tobias: Studium der Geschichte, Philosophie und Modernes Japan an den Universitäten in Hagen und Düsseldorf. PD Dr. phil. (Habilitationsschrift: Das Entschwinden der Erinnerung. VergessenWerden im akademischen Metier zwischen 18. und 20. Jahrhundert. Göttingen 2021). Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Wissensgeschichte der Frühen Neuzeit, Kulturkontakte in der Europäischen Expansion, Geschichtstheorie und Geschichte in Digitalen Spielen.

Index Abraham 122 Adam, Melchior 90, 93 Alemán, Mateo 38 Alexander, Thomas 248–250 Alexander der Große 29, 112 f., 132 Alfons VI. (Kg. v. Kastilien; Alfonso VI de Léon) 37 Anaximander 122 Ancillon, Charles 81, 87, 91 Aristoteles 86, 122 Assmann, Aleida 6 Ausländer, Rose 212 Barbarić, Damir 150 Barthes, Roland 229–231, 233, 242, 245, 250 Baudrillard, Jean 241 Belli, Giuseppe Gioacchino 10, 198–202 Beriga, Giulio Pacio de 84 Bernhard, Johann Adam 84 f. Bertino, Andrea C. 158 Béthune, Maximilian von (Maximilien de Béthune, duc de Sully) 103 Bianchi, Sarah 155 f. Black, James Wallace 236 Bonaparte, Napoleon 103, 129, 201 Bonini, Carlo 218 Borges, Jorge Luis 241 Bossong, Georg 40 Böttcher, Winfried 142 Brahe, Tycho 59, 73 Brinkmann, Rolf Dieter 191, 217 f. Bullart, Isaac 86 Bullart, Jacques-Ignace 86 Caesar, Gaius Iulius 6, 13, 17 f., 20–33, 112 f., 181 Camus, Albert 150, 154, 186 Canetti, Elias 172 f. Carducci, Giosuè 10, 202–205 Casaubon, Isaac 84 Cataldo, Giancarlo de 218 Catull 198 Certeau, Michel de 229–231, 233, 244, 246

https://doi.org/10.1515/9783110793062-014

Cervantes, Miguel de 4, 6 f., 38 f., 44 f., 47 f., 51, 53–55, 184 Chaudon, Louis Mayeul 91 Contarini, Alvise 102 Croze, Mathurin Veyssière de la 89 Crucé, Émeric 103, 106 Curtius, Ernst Robert 121 Dahlmann, Peter 87 Damm, Ursula 11, 227, 231–233, 236 f., 241, 244–248, 252 Dante Alighieri 205 D’Azeglio, Massimo Taparelli 203 Defoe, Daniel 11, 227 f., 231 Delius, Friedrich Christian 193, 220 Delmedigo, Josef Salomon 60, 73–76 Dilthey, Wilhelm 180 Eckermann, Johann Peter 196 Eich, Günter 10, 212 f. Einstein, Albert 136, 138 Ferdinand II. von Aragón (Ferrando II) Freud, Sigmund 136, 170 f., 173, 178 Friedell, Egon 135 f. Friedrich II. (preuß. Kg.) 104 f.

41

Galilei, Galileo 59, 74 f. Gans, David 60, 71–73, 76 Geldenhauer, Gerhard 90 Gesner, Conrad 95 Giovio, Paolo 93 Goethe, Johann Caspar 195 Goethe, Johann Wolfgang von 4, 9 f., 121–124, 126–131, 191 f., 194–196, 198, 211, 217, 220 Gorbatschow, Michail 101 Götten, Gabriel Wilhelm 87–89, 91 f. Grünbein, Durs 10, 191, 193, 221 f. Gryphius, Andreas 191 Habermas, Jürgen 146 Hafis 123 f., 126 Hagen, Friedrich Caspar

87

260

Index

Hammer, Josef von 123 Hannibal 112 Haraway, Donna 231, 233, 245–250, 252 Harless, Gottlieb Christoph 91 Heidegger, Martin 136, 171, 180 Heinrich IV. (frz. Kg.; Henri IV) 104–106, 109 Herder, Johann Gottfried 123, 128 Herodot 3 f. Heumann, Christoph August 86 Heyse, Paul 211 Hieronymus, Sophronius Eusebius 28 Hippokrates 70 Hirsching, Friedrich Karl Gottlob 91, 96 f. Hita, Ginés Pérez de 38 Hochhuth, Rolf 191, 213, 222 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 131 Homer 84, 121 Husserl, Edmund 9, 136–138, 178 Isabella I. von Kastilien (Isabel I de Castilla) 41 Isserles, Moses 71, 73 Jaspers, Karl 166, 182 Jöcher, Christian Gottlieb 83–87, 91 Johann II. (kastil. Kg.; Juan II.) 38 Julian, Graf von Ceuta 37 Juvenal 201, 221 Kant, Immanuel 104, 127, 133, 137 Karl der Große 6, 16 f., 22, 24–26, 28, 30–33 Karl II. (span. Kg.; Carlos II) 103 Karl III. (ostfränk. Kg.) 6 Karl V. (Kaiser) 41, 93 Karlingen, Pippin von 30 Keckermann, Bartholomäus 95 Kepler, Johannes 73 Kierkegaard, Søren 168 Kim, Yunchul 240 Koeppen, Wolfgang 211 Kohen, Tobias 60, 75–77 Konstantin der Große 30 Kopernikus, Nikolaus 59, 73, 77 Kükelhaus, Theodor 105 Le Bon, Gustave 169 f., 173, 176, 178 Leo III. (Papst) 26, 30 f.

Lerma, Herzog von (Francisco Gómez de Sandoval y Rojas) 42 Liron, Jean 89 f., 93 Loos, Cornelis 90 Löw, Jehuda 71–73 Lucae, Carl 88 Lucae, Friedrich 88 Ludwig XIV. (frz. Kg.; Louis XIV) 103 Luhmann, Niklas 138 Lukan 191 Lusitanus, Amatus ( João Rodriguez de Castelo Branco) 60, 70 f. Luther, Martin 84 Mahr, Johannes 193 Mann, Thomas 122 Marcel, Gabriel 171 Marquard, Odo 1 Martial 201 Mencke, Johann Burchard 83 Merian, Matthäus 3 Meyer, Conrad Ferdinand 212 Modena, Leone 73 Mohammed 124 Molin, Christophe de (Mylaeus) 95 f. Montaigne, Michel de 149 Montalto, Elijah 74 Montesquieu, Charles-Louis de 111 Morante, Elsa 10, 206, 210 Moravia, Alberto 213 Moschides, Gabriel Felix 75 Mosellanus, Petrus 65 Moses 122 Moslund, Sten Pultz 251 Müller, Enrico 151 Musil, Robert 135 Napoleon (s. Bonaparte) Neuschäfer, Hans-Jörg 53 Niceron, Jean-Pierre 87 Nietzsche, Friedrich 4, 9, 121 f., 132–134, 136, 138, 141–161, 168 f., 173, 176, 181 Nora, Pierre 6, 13 Ohly, Friedrich 25 Ortega y Gasset, José

9 f., 165–168, 173–187

Index

Ottmann, Henning Ovid 132, 191

156

Paquot, Jean-Noël 90–93, 97 Pasolini, Pier Paolo 213, 216 f. Paul, Jean 130 Paul IV. (Papst) 70 Paullini, Christian Franz 94 Penn, William 103 f. Perrault, Charles 95 Peter I. (Zar) 103 Petrarca, Francesco 192 Pfister, Christian 105 Philipp II. (span. Kg.; Felipe II) 41 Philipp III. (span. Kg.; Felipe III) 6, 41 f., 45, 48– 51, 54 Pieper, Annemarie 153 Pirandello, Luigi 210 Platon 46, 86, 122, 175 Plutarch 218 f. Properz 198 Putin, Wladimir 101 Quintilian

201

Reimmann, Jacob Friedrich 83, 85, 87 f., 94 f. Riedel, Manfred 152 Rilke, Rainer Maria 212 Roderich 37 Rousseau, Jean-Jacques 104, 127, 129 Ruderman, David 59, 78 Said, Edward

129

261

Saint-Pierre, Abbé de (Charles Irénée Castel) 103–105, 107–109, 116 Scholz, Olaf 101 Sloterdijk, Peter 173 Smith, Thomas 93 Sokrates 134, 184 Spengler, Oswald 135, 176 Stegmaier, Werner 159 Steiner, George 13 Sterne, Lawrence 195 Stolle, Gottlieb 95 f.

8,

Thales von Milet 122 Thou, Jacques-Auguste de 81, 93 Tibull 198 Tournachon, Gaspard-Félix (Nadar) 236 Toze, Eobald 8, 101, 104 f., 109–112, 114, 116 f. Trakl, Georg 121, 134 Trithemius, Johannes 82, 90, 95 Vergil 23 Vivar, Ruy Díaz de (el Cid) 37 Voltaire (François-Marie Arouet) 104 f. Voyer de Paulmy d’Argenson, Marc René de Wimpfeling, Jacob 82 Winckelmann, Johann Joachim Wood, Anthony 93 f. Zedler, Johann Heinrich 83 Zelter, Carl Friedrich 131

89

9, 133, 194–196