Ethik im Drohnenzeitalter: Band 2: Künstliche oder kulturelle Intelligenz? 9783495823897, 9783495491249

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Ethik im Drohnenzeitalter: Band 2: Künstliche oder kulturelle Intelligenz?
 9783495823897, 9783495491249

Table of contents :
Cover
Inhalt
I. Einführung: Ethik als Kommissionsentscheidung
II. Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Sachfragen
1. Künstliche Superintelligenz und Kulturnivellierung
Gesellschaftsstrukturelle und kulturelle Leitunterscheidung
Ökologisch-kulturelle Kommunikation
Kulturen der Aufklärung
2. News und Fake-News
Werte oder Paradoxien
Autopoiesis und Allopoiesis
Zum kultursprengenden Bewusstsein von Paradoxien
Von der Negation zur Irritation
Von Sinn zu Form
Differenz und Schemata
Empirie und Realität
Ein transjunktionaler Imperativ der Grenze zwischen empirischem und realem Mensch
Vom Durchschnitts- zum individuellen Muster
III. Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Sozialfragen
1. Platons und Luhmanns Formlogik
Zur technischen Entdifferenzierung von Idealismus und Empirismus
Zur Form der Menschenrechte
2. Moralische Kontrollmedien: Gerechtigkeit
Pädagogik oder Prozeduralisierung
Ideale als symbolische Generalisierungen
Recht und Gerechtigkeit
Vom normgeleiteten Kampf gegen Ungerechtigkeit zum Kalkül des Gerechten
Tragische Konflikte
Das Sonnengleichnis
Das Liniengleichnis
Das Höhlengleichnis
Die transjunktionale Funktion des Beobachters
IV. Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Zeitfragen
1. Das Eskalationspotential von Risiken
Statistisches und ethisches Kalkül
Operative Synchronizität und Diachronizität des Beobachtens
Von probabilistischer zu algorithmischer Vorhersage
Irreversible Freiheit
Machtanspruch und Ausscheidungskampf
Zerfall und Wiederaufbau
Transjunktionale Operationen der Autopoiesis
Kontrolle von Eskalationsdynamiken
Kontrollüberschuss
Alte und neue Prädiktionstechniken
Kontinuität oder Diskontinuität
Sinn und Seele
2. Der temporale Ort des Einzelnen
Der abundante Mensch
Hoffen als selbstreferenzieller Begriff
Negativität als Sinnressource oder als Kalkül
V. Schluss: Reflexionstheorie der Ethik als ungeschriebene Lehre
Outline placeholder
Ethische Marginalisierung von Semantiken
Von entmoralisierten Funktionscodes zu Wertsphären
Ethik als Semantik oder als Medium?
Die Form des Mediums
Verbreitungsmedien und Kommunikationsmedien
Das Unmarkierte als Medium
Markierungen des Unmarkierten
Zur Säkularisierungstendenz des Glaubens
Gewaltneigung als Formgebrauch
Wertentscheidungen von Ethikkommissionen
Literatur

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Friedenstheorien

5

Gertrud Brücher

Ethik im Drohnenzeitalter Band 2: Künstliche oder kulturelle Intelligenz?

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495823897

.

B

Gertrud Brücher Ethik im Drohnenzeitalter

ALBER FRIEDENSTHEORIEN

A

https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

Verlag Karl Alber Freiburg / München Alber-Reihe Friedenstheorien Band 5

Herausgegeben von: Pascal Delhom, Alfred Hirsch, Christina Schües Wissenschaftlicher Beirat: Robert Bernasconi, Claudia von Braunmühl, Gertrud Brücher, Hauke Brunkhorst, Monique Castillo, Hajo Schmidt, Eva Senghaas, Christoph Weller

https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

Gertrud Brücher

Ethik im Drohnenzeitalter Band 2: Künstliche oder kulturelle Intelligenz?

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

Gertrud Brücher Ethics in the Age of Drones Volume 2 Artificial or Cultural intelligence? How can it be that it remains untold who launches cyber-attacks and whose battle drones destroy entire countries? Volume 2 of »Ethics in the Age if Drones« discusses the contours of a world society that has adapted to the new reality of the ubiquitous computer. This requires new guiding distinctions, e. g. between news and fake news or whether codes and programs sensitize or desensitize for the existence of borders. In view of the development that social change is getting into a spiral of communication-technological self-acceleration, it is necessary to develop an ethics suitable for globalization, which ensures that the individual is not ignored but rather appreciated.

The author: Gertrud Brücher is a private lecturer in philosophy at the University of Marburg. Her main research areas are social theory and peace sciences within philosophy. Already published by Alber: Ethics in the Age of Drones. Volume 1: Killing and Taboo (2017).

https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

Gertrud Brücher Ethik im Drohnenzeitalter Band 2 Künstliche oder kulturelle Intelligenz? Wie kann es sein, dass im Dunkel bleibt, wer Cyberangriffe lanciert und wessen Kampfdrohnen ganze Länder verwüsten? Band 2 der »Ethik im Drohnenzeitalter« erörtert die Konturen einer Weltgesellschaft, die sich auf die neue Realität des ubiquitären Rechners eingestellt hat. Dies erfordert neue Leitunterscheidungen zwischen News und Fake-News, aber auch Codes und Programme, die für Grenzen sensibilisieren oder desensibilisieren. Angesichts der Entwicklung, dass der soziale Wandel in eine Spirale kommunikationstechnischer Selbstbeschleunigung gerät, gilt es, eine globalisierungstaugliche Ethik zu entwickeln, die dafür sorgt, dass der Einzelne nicht übergangen, sondern gewürdigt wird.

Die Autorin: Gertrud Brücher ist Privatdozentin für Philosophie an der Universität Marburg. Ihre Hauptforschungsgebiete sind Sozialtheorie und Friedenswissenschaften innerhalb der Philosophie. Bereits bei Alber erschienen: Ethik im Drohnenzeitalter. Band 1: Tötung und Tabu (2017).

https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

© VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49124-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82389-7

https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

Inhalt

I.

Einführung: Ethik als Kommissionsentscheidung . . . . . .

9

II.

Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Sachfragen . . . . 1. Künstliche Superintelligenz und Kultur . . . . . . . 2. News und Fake News . . . . . . . . . . . . . . . .

23 23 39

III.

Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Sozialfragen . . . 1. Platons und Luhmanns Formlogik . . . . . . . . . 2. Moralische Kontrollmedien: Gerechtigkeit . . . . .

78 78 92

IV.

Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Zeitfragen . . . . 1. Das Eskalationspotential von Risiken . . . . . . . . 2. Der temporale Ort des Einzelnen . . . . . . . . . .

133 133 171

V.

Schluss: Reflexionstheoretische Ethik als ungeschriebene Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

188

Literatur

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

7 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

I. Einführung: Ethik als Kommissionsentscheidung

Ethikkommissionen gehören zum festen Institutionenbestand. Weist dies auf die Bildung eines ausdifferenzierten gesellschaftlichen Subsystems Moral hin? Dessen Aufgabe bestünde darin, nicht nur nach bestem Wissen und Gewissen, sondern wissenschaftlich informiert zu werten und zu bewerten. Nicht mehr die Verdrängung, sondern die Inklusion des Moralcodes kündigt sich hier als Möglichkeit an, der moralisch aufgeladenen Netzkommunikation eine auf Fach- und Sachwissen gestützte Kontrolle der Moral entgegenzusetzen. Indem der Wert von Wertentscheidungen den Wert des Wertrelativismus als Markenzeichen einer modernen, nicht mehr in Stände, sondern in Funktionssysteme gegliederten Gesellschaft verdrängt, schwindet jedoch auch das kulturelle Profil, das die technische als moralische Überlegenheit des Globalen Nordens über den Globalen Süden ausgezeichnet hatte. Denn Wertentscheidungen fällen alle Kulturgemeinschaften auf je ihre Weise. Indem Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion und Massenmedien die moralische Dignität ihrer Operationen öffentlich bekunden und an der Glaubwürdigkeit von Bekenntnissen gemessen werden, verstetigt sich die moralische Kommunikation zur lingua franca der Weltgesellschaft. Die interessante Beobachtung Niklas Luhmanns (1990b), mit geradezu astrologischer Regelmäßigkeit komme es seit dem siebzehnten Jahrhundert jeweils in den 80er Jahren zu einer Ethikwelle, könnte folglich nur für den Typus der Übergangsgesellschaft von hierarchischer zu funktionaler Differenzierung zutreffen. Die voll verwirklichte globale Ausbuchstabierung des funktionalen Differenzierungsprinzips scheint diese Beschränkung gesprengt zu haben. Damit stellt sich die Frage nach den Kriterien einer massenkommunikativ wirksamen Ethik, die sich in Kommissionsentscheidungen spiegeln und durch dieselben wieder beeinflusst werden. Solche Kriterien zielen in eine bestimmte Richtung: Die Klärung gesellschaft9 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

Einführung: Ethik als Kommissionsentscheidung

lich umstrittener Forschungsfelder soll und kann gleichsam unter der Hand Richtlinien für eine Kontrolle der Moral mitliefern. Dies zeigt sich an der groß angelegten, über enge Kommissionsgrenzen hinausgehenden Initiative der Europäischen Union, ethische Kriterien für die Erforschung der Künstlichen Intelligenz als einer den Alltag zunehmend bestimmenden Technologie zu erarbeiten. Denn auf diesem Gebiet geraten Entwicklung und Implementierung in Konflikt mit einem Menschenbild, das im verantwortlichen, rational handelnden Subjekt ihr Zentrum gesehen hatte. Wohl begründete Normen, dieses für den westlich-abendländischen Wertediskurs zentrale Kriterium, scheiden aus. Denn welche Verfahrensweisen auch immer ersonnen werden mögen, so lässt sich doch kaum daran zweifeln, dass Erwartungen in einen von mindestens sieben Milliarden Menschen als konsensfähig, reziprok geltend und rational eingestuften Normenbestand kaum realistisch sein dürfte. Ähnlich hatte schon Immanuel Kant gedacht, als er den kategorischen Imperativ nicht als neue und höhere Norm, sondern als bloße Formel vorstellte und dies ganz im Sinne der mathematischen Funktion. Von dieser Beschränkung haben sich 19. und 20. Jahrhundert gelöst, um der fortschrittlichen westlich-abendländischen Kultur zur Verbreitung und allgemeinen Geltung zu verhelfen. Die globale Netzkommunikation hat die Grundlagen dieses eurozentrischen Ansatzes erschüttert und wirft die ethiktheoretische Diskussion auf die Ausgangsposition Kants zurück. Der zentrale Begriff, mit dem die nachlassende Bindekraft des überkommenen monokontextuellen Aufklärungsdiskurses beschrieben wird, lautet Polykontextualität. Eine Formel erfüllt im Gegensatz zur wohl begründeten und somit dem eigenen Anspruch nach universal gültigen Normen nicht die Funktion der Legitimierung von Handlungen, die im Namen der Norm getätigt werden. Sie konditioniert sehr viel eher Rechenoperationen. Übertragen auf das Feld sozio-moralischer Operationen benutzt die Systemtheorie einen Begriff der Konditionierung, der bloße Wenn-dann-Beziehungen herstellt, aber keine darüberhinausgehenden Begründungsansprüche erhebt: Wenn ich in einer bestimmten Weise unterscheide, bekomme ich Bestimmtes zu sehen. Dies Sehen stellt sich aber nicht als die Wirkung einer Form im SpencerBrownschen (1997) Sinne einer Modalität des Unterscheidens mit Notwendigkeit ein, sondern bleibt bloße Reaktion oder Resonanz auf Gesagtes, Gemailtes, Gejettetes. Sie ist weder kausal noch zufällig und dies lässt sich in einer durch elektronische Medien strukturierten 10 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

Einführung: Ethik als Kommissionsentscheidung

globalen Kommunikation nur noch im Bild des Netzes veranschaulichen. Beschleunigende Reaktionsreaktionen verstellen zunehmend, worum es eigentlich geht, was kontrovers, empörend, kritikwürdig ist, was tatsächlich gesagt und gemeint worden ist, aber auch was wünschenswert und verantwortlich sein könnte, kurz: weil sich inflationäre Kritik dieser Art in den reflexiven Schleifen ihrer selbst längst verfangen hat und über nichts mehr informiert, wird eine (Medien-) Epoche zu Grabe getragen, die sich als kritische profiliert hatte. Da Moral und Kritik jedoch eins sind, kann sich Ethik weder als deren Begründung noch als deren Kritik dilatieren. Sie muss sich neu entwerfen. Besser muss es heißen, erfinden und zwar im ursprünglich gemeinten Sinne des Auf- oder Wiederfindens, wenn nicht gar Wiedererinnerns einer Form, wie es die modernen Naturwissenschaftler, Newton, Kepler, Einstein, Heisenberg und von Weizsäcker – ihrem Selbstverständnis nach Platoniker – bezogen auf die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften gedacht haben (Pauli 1996). Wie sieht die Wiedererinnerung im Sinne einer immer wieder zeitgemäßen Reformulierung der Form innerhalb der Ethik aus? Mit Form wird im Zeitalter elektronischer und digitaler Medien zunächst an den Algorithmus als Formsprache der Programmierer gedacht. Der Begriff impliziert jedoch eine logisch-moralisch-ontologische Tiefendimension. Die Auflösung der Norm in reine Form kulminiert in der Relativierung der Kategorien von Raum und Zeit in Einsteins Relativitätstheorie, die Denkgewohnheiten in allen Richtungen erschüttert hat. Da »die Ereignisse der Vergangenheit und Zukunft in alle Ewigkeit präsent sind – zwar nicht für uns, aber für die Welt« wagte Kurt Gödel sogar die These von möglichen Zeitreisen (Taschner 2011, 64). Die Entwicklung im Bereich der digitalen Medien zeigt die als Big Data beschriebene Dauerpräsenz aller Ereignisse bereits als nutzbar. Solche Entwicklungen werfen die entscheidende Frage auf, ob die konsequente Auflösung der Norm in die Form auch gleichsam wie von selbst auf eine Ethik zusteuere, die im Sinne Platons den Einzelnen in den Vordergrund rückt. Zwar mag die Fokussierung auf den Einzelnen heute evident erscheinen, nicht aber die einhellige Bewertung. Einen solchen Konsens aber hatte Platon nicht gemeint, als er das für jeden Einzelnen Gute zum Kriterium erhob. Denn dieses Gute ist ein Korrelat der Form und eben nicht der Norm. Hinweise auf eine solche Umstellung von der Norm zur Form 11 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

Einführung: Ethik als Kommissionsentscheidung

lassen sich durchaus finden. Sie treten nach und nach als Korrelat der Netzkommunikation hervor und dies, obgleich die moralische Emphase gegenwärtig Wellen schlägt und insofern das genaue Gegenteil zu suggerieren scheint. Aber die bloße Tatsache, dass in diesen Kämpfen noch einmal die Fronten der Übergangsgesellschaft von der hierarchischen zur funktional differenzierten Gesellschaft rekapituliert werden, zeigt dieselben als bloße Rückzugsgefechte. Les Anciens kämpfen gegen Les Modernes, als befänden wir uns im siebzehnten, Aufgeklärte treten gegen Traditionalisten an, als wären wir noch im achtzehnten, Liberalisten gegen Sozialisten, als lebten wir noch im neunzehnten und Konservativ-Rechte gegen Progressiv-Linke, als wären wir noch im zwanzigsten Jahrhundert. Das World Wide Web aber hat alles verändert, weil die europäische, in solchen Verwicklungen sich selbst spiegelnde moderne Gesellschaft nicht länger als prototypische Entwicklungstendenz angesehen werden darf. Dass die Neuen Medien ein neues Wertungsgefüge hervortreiben, mag kaum überraschen, wenn man bedenkt, dass sich hierin die Weltbevölkerung mit sich selbst zu beschäftigen beginnt. Kant hatte die ethische Konsequenz dieser Selbstbefassung der Menschheit in veränderten Urteilsstrukturen des kategorischen Imperativs beschrieben. Der erste Band der vorliegenden Abhandlung hält in diesem Sinne Ausschau nach korrelativen Konstrukten in der zeitgenössischen Gesellschaft und stößt auf einen Imperativ der Grenze, der programmatischen Profilierung und der Autopoiesis qua systemtheoretische Reformulierungen der Naturformel, der Gesetzesformel und der Zweckformel des kategorischen Imperativs. Der zweite Band versteht sich als Beitrag zu einer breiter angelegten Diskussion über die Konturen einer Weltgesellschaft, die sich auf die neue Realität des ubiquitären Rechners eingestellt hat. Wie auch immer Modalitäten der ethischen Konditionierung von Rechenoperationen aussehen könnten, man landet angesichts zahlenmäßiger Stärke und kultureller Heterogenität beim einzelnen Nutzer als Adressaten normativ unentscheidbarer Präferenzen für oder gegen eine Kommunikationsofferte, von wem auch immer sie kommen mag. Solche »Ethik des Unentscheidbaren« bemisst sich nach Dirk Baecker (2018, 207) am einwandfreien Handeln, »dem alle Betroffenen, würden sie gefragt, zustimmen könnten.« Auch hier sind Imperative angesprochen, die nicht als welteinheitliche Verpflichtung auf gemeinsame Normen gemeint sein können, sondern nur als anschlussfähige Form. Dies Einwandfreie 12 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

Einführung: Ethik als Kommissionsentscheidung

im Sinne des Anschlussfähigen führt über das Konstatieren von Unentscheidbarkeiten hinaus. Aber steuert es allein aufgrund der Wirkmächtigkeit elektronischer und digitaler Medien zugleich in die Richtung einer bestimmten Ethik? In diesem Punkt lässt sich nur Klarheit gewinnen, wenn der Frage in allen drei Sinndimensionen des Sachlichen, Sozialen und Zeitlichen nachgegangen wird, wie eine Ethik aussehen könnte, die sich nicht am Begriff der Norm, sondern an dem der Form orientiert. Wenn man differenziert vorgeht, dann zeigt sich eine frappierende Zeitgenossenschaft Platons. Und hier bedürfte es Informationen aus einem breiteren disziplinären Spektrum unter Einbeziehung der alten und ältesten Geschichte, was im Rahmen dieser Abhandlung freilich nur angedeutet sein kann. Nicht aufzuschieben scheint jedoch die Berücksichtigung einiger zentraler Texte von Platon, zumal Netzkontakte und Immigration okzidentale und orientalische Welt einander näher rücken lässt. Analog der von Platon beschriebenen Kondition zeigt sich auch heute wieder, dass eine Ethik, die dem Einzelnen gerecht werden lässt, nur eine ungeschriebene sein kann. Denn Begriffe und erst recht Normen generalisieren und hintertreiben auf diese Weise das Anliegen. 1 Freilich wäre eine als ungeschriebene Lehre verstandene, reflexionstheoretische Ethik, außerhalb der antiken Akademie ein unfruchtbares Paradox, wenn ungeschrieben zugleich auch unkalkulierbar bedeuten würde. Ob mit dem Kalkül, das elektronische und digitale Medien im Zuge algorithmischer Informationsverarbeitung produzieren, allgemeine Berechenbarkeit einhergeht, scheint heute eher in Zweifel zu stehen. Noch offen ist die Frage, wer über wen Kontrolle ausüben wird, wir über Künstliche Intelligenz oder diese über uns. 2 Und genau in dieser Unsicherheit tritt die Rückführung der Norm in die bloße Form in ihrer Bedeutung zu Tage. Denn die Ansicht, dass mathematische Kalkulierung vollumfänglich die Konsequenzen menschlichen Handelns in ihren Nah-, Fern- und Nebenwirkungen zumindest im Prinzip berechnen und mithin kontrollieren könnte, ist ein Glaube, der erst mit den modernen empirischen Naturwissenschaften Fuß 1 Nach dem Paradigmenwechsel im Platonbild der Tübinger Schule (Krämer 1959; 1980; Gaiser 2004) wird der in der Antike gepflegten, insbesondere von Aristoteles bezeugten Lesart mehr Gewicht beigemessen als späteren Exegesen, die mitunter religiösen und weltanschaulichen Erkenntnisinteressen folgen. 2 Zu 25 unterschiedlichen Einschätzungen prominenter Autoren in Wissenschaft, Philosophie und Kultur siehe John Brockman (2019).

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Einführung: Ethik als Kommissionsentscheidung

fassen konnte. Bei Platon und einer platonisierenden scholastischen Tradition diente das Kalkül der Formel dem Auffinden analoger Strukturprinzipien, von Proportionen, aus denen sich Konturen dessen gewinnen lassen, was als das Gute, das Wahre und das Schöne umrissen wird. 3 Und die oben erwähnten, sich selbst als Platoniker bezeichnenden Begründer der modernen Naturwissenschaften waren noch überzeugt, dieselben mit Berechenbarkeit zusammendenken zu dürfen. 4 Da sich in diesem Punkt die heutige Zeit nicht mehr so sicher ist, stellt sich die Frage, wie der Rückbau der Norm in die Form vonstattengehen soll. Das normative Verständnis der Ethik hatte nämlich genau diese Entwicklung hin zum vertrauensvollen Überantworten der Handlungskompetenz an empirische, ihrem Ursprung nach naturwissenschaftliche Methoden zur Voraussetzung. Es genügte die Ausformulierung von Zweckformeln, die alle Wünschbarkeiten in komplexen Programmatiken ausdrucksfähig machen. Programme verlieren als zeitliches Äquivalent von Werthierarchien ihre ethischutilitaristische Prägekraft, wenn Zeitlichkeit nicht mehr im linearen Modell des Fortschreitens von einer zu negierenden schlechten Vergangenheit zu einer lichten, wertvolleren Zukunft abgebildet wird. Die Trias von Instantaneität, Konnektivität und Granularität fungiert als Kürzel für die neuen temporalen Strukturen, die sich in der digitalen Gesellschaft als Abkehr vom linearen Zeitpfeil abzeichnen. Alle drei Begriffe reflektieren den Einfluss, den die neuen Medien auf das Verhältnis der Menschen zueinander und zu sich selbst ausüben. Der erste medientheoretische von Marshall McLuhan inspirierte Begriff der Instantaneität geht den Konsequenzen der weltweiten Signalübertragung in Lichtgeschwindigkeit nach. Der Begriff

In den Altertumswissenschaften ist die Antike-Moderne-Antithese in den wesentlichen Punkten als sachlich unhaltbares historisches Narrativ zurückgewiesen. Statt einer Entwicklungstendenz von gegenständlich-unmittelbarem zu abstrahierendselbstreflexivem Denken lassen sich nach Arbogast Schmitt (2008) nur zwei Grundformen europäischer Rationalität aufzeigen, die in allen Epochen miteinander konkurrieren. 4 Am Hexenprozess gegen die Mutter von Johannes Kepler, bei der dieser die Verteidigung übernommen hatte, zeigt Ulinka Rublack (2018) die Kontinuität von Vormoderne und Moderne, die Vereinbarkeit eines mechanistisch gedachten Universums mit beseelten Himmelskörpern. Die 1618 beendete fünfbändige Weltharmonik Keplers setzt auf die platonische Proportionalität. 3

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Einführung: Ethik als Kommissionsentscheidung

der Konnektivität zeigt das Veränderungspotential unbegrenzter Verknüpfbarkeit. Und Granularität beschreibt Prozesse beschleunigter Auflösung in immer kleinere und detailgenauere Elemente, die eine auf digitale Medien eingestellte Gesellschaft zunehmend prägt. Der Mensch gerät als Handelnder in den Hintergrund und hervor tritt der Einzelne als ungewollt und unbemerkt in die volle Verantwortung für all das gestellt, was er mit seinen Forschungen betreibt, mit seinen öffentlichen Einlassungen aussagt und seinen Klicks auslöst. Zu einem zentralen Gegenstand ethischer Reflexion wird folglich die Beantwortung der Frage, wie von einer Kommunikationsofferte zur nächsten übergegangen werden soll, ohne dem Fortsetzungsgeschehen einen Drive ins Verhängnisvolle zu geben. An die Stelle der unentscheidbaren Konkurrenz der Werte tritt die Suche nach einer Formel, die zur Überleitung von einem personellen, sozialen, kulturellen, ethnischen Kontext zu einem anderen befähigt. Ein transjunktionaler Imperativ der gesuchten Art verknüpft auf eine Weise, der alle aus dem bloßen Grund zustimmen könnten, weil andernfalls das gesamte Netz in eine destruktive Dynamik geraten würde. Eine auf die neuen Medien reagierende Hervorhebung des Einzelnen unterscheidet sich grundlegend von der theorie- und methodengeleiteten Semantik des individuellen und kollektiven Subjekts. Die Verwendung personalisierter Daten findet sich in allen Bereichen der Wirtschaft, so im Erstellen von detailgenauen Käuferprofilen. Sie dominiert eine auf meine ganz spezifischen Anlagen und Beschwerden hin fokussierte Medizin, und sie gewinnt zunehmend an Einfluss auf die Präventionsarbeit der Polizei, die datenkomponierte Täterprofile nutzt. Schließlich beziehen Antiterroreinsätze und auf mögliche Gefahren im Voraus reagierende Militärinterventionen von hier ihre Informationen. So konzentriert sich das Weißbuch des Bundesverteidigungsministeriums seit 2006 auf das in der UN-Charta verbürgte individuelle und kollektive Selbstverteidigungsrecht, um dieses Recht den veränderten Verhältnissen angemessen neu zu definieren. Ganz im Sinne der raum-zeit-enthobenen Ereigniskategorie wird das zu verteidigende Selbst in seinen Konturen erweitert, sodass ihm nunmehr auch Bedrohungen aus dem prinzipiell offenen Horizont von Möglichkeiten eine unmittelbare Reaktion abnötigen. Das betreffen krisenhafte Erschütterungen in einem beliebigen Land, die als medial dauerpräsente Ereignisse das internationale System in verschiedenen Hinsichten destabilisieren könnten. 15 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

Einführung: Ethik als Kommissionsentscheidung

Solche mit dem Recht auf Selbstverteidigung legitimierten Militärinterventionen werden als Präventivkriege verstanden und mithin als Reaktion auf eine unmittelbare Gefahr. Sie sind recht eigentlich aber Präemptivkriege, die sich auf eine Zukunft beziehen, die in ihren gefährlichen Konturen erst im Verlauf des Militäreinsatzes ersichtlich sein können. Das Problem zeigt sich gewissermaßen als ein Produkt der Problemlösung. Die Folge ist eine Verstetigung von Auslandseinsätzen, denn der Rückzug würde den Prozess der Emanation des Gefährlichen und der Gefährder aus der potentiellen Gefahr unterbinden. Es ist mehr dieser präemptive, die gesellschaftliche Praxis neu strukturierende Denkgestus und weniger die stets kontroverse Beurteilung konkreter Einsatzpläne, die die Friedensethik herausfordert. Die Form der Unterscheidung von Wirklich und Möglich, von Vergangenheit und Zukunft ist es, die sich in ihrer ethischen Relevanz aufdrängt. Über die Frage lässt sich hingegen unbegrenzt streiten, ob die Feinde, gegen die ausländische Mächte ihr eigenes Land beispielsweise in Afghanistan präemptiv verteidigen, als Terroristen einzustufen sind, oder als Widerstandskämpfer und mithin als Einheimische, die ihr Land gegen eine bereits achtzehn Jahre mit Krieg überziehenden Koalition der Willigen verteidigen. Bedenkt man den Erfolg dieses deterritorialisierten Begriffs der Selbstverteidigung, dann mag in der Fixierung auf den Einzelnen nicht eine Entwicklung vermutet werden, die im Sinne der platonischen Ethik dem Einzelnen gerecht wird. Die Einwände sind bekannt: Die präemptive Personalisierung in der Wirtschaft verführt Konsumenten zum Erwerb nicht benötigter, aber typengerecht ausgewählter Produkte. Die präemptive Medizin motiviert Neben- und Folgewirkungen zeitigende operative Eingriffe, die möglicherweise nicht notwendig gewesen wären, weil veränderte und von den digitalen Techniken noch nicht zu erfassende künftige Rahmenbedingungen die ursprünglich richtig diagnostizierte, anlagebedingte Krankheit gar nicht hätte ausbrechen lassen. Und eine präemptive Polizei, die aufgrund konstruierter Täterprofile unterschiedliche Formen von Freiheitsentzug praktiziert, schafft eine Atmosphäre des allgemeinen Verdachts und der Angst, man könne selbst zum Opfer der Mustererkennung des nunmehr Überwachungsstaates werden. Wenn auch die Fokussierung auf das für den Einzelnen Gute gewissermaßen im Trend einer Gesellschaft liegen mag, die sich auf künstlich intelligente Maschinen, auf elektronische und digitale Netzstrukturen umstellt, so bleibt dieses Gute doch so sichtbar an 16 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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systemspezifische Interessen rückgebunden, dass es kaum als ethische Zweckformel taugt. Dies lenkt den Blick der Ethik auf sich selbst und mithin auf die Gründe, mit denen eine wissenschaftliche Disziplin sich selbst Kompetenzen überlegenen moralischen Urteilsvermögens zutraut. Zweifel beginnen mit dem Verfassen einer Abhandlung über Ethik. Denn die Krux besteht darin, dass mit der bloßen Einlassung auf das Thema moralisch Position bezogen wird. Die Gesellschaft hat dieses Problem durch Ausdifferenzierung und Professionalisierung nur scheinbar aus der Welt geschafft. Für Begründungs- und Grundlagenfragen ist eine Metaethik, für Fragen der Anwendung sind Bereichsethiken zuständig. Es ist der gesellschaftliche Erfolg der Ethik, sichtbar in der Gründung von Ethikzentren, von Ethikkommissionen und Ethikinstituten, neuen Berufsfeldern der Ethikberatung und einem häufig an die Stelle des Religionsunterrichts tretenden Unterrichtsfachs Ethik, der nach Gerhard Gamm und Andreas Hetzel (2015, 7–16) Ethik zum Problem werden lässt. Mit dem Anspruch der Praktischen Philosophie, Orientierungswissen für alle individuell und gesellschaftlich brisanten Entscheidungen bereitzustellen, das zum richtigen, moralisch einwandfreien Urteilen in allen Lebenslagen befähigt, das gut zu bewerten und zu urteilen erlaubt, wird der grundlegende Dissens in methodischen und theoretischen Fragen kaschiert. Weder Prinzipien noch Werte, Verfahrensweisen, Regeln oder Normen lassen sich in einer übereinstimmend klaren Weise so festlegen, dass Kommissionen mit eindeutigen Handlungsempfehlungen an die Öffentlichkeit treten könnten. Ethik wird sich selbst zum Gegenstand; sie müsste sich ihres Ortes auf der positiven Seite der moralischen Unterscheidung sicher sein, um dem modernen Wertrelativismus ein Paradigma der sachkundigen Wertentscheidung entgegensetzen zu können. Die genuin affirmative und apologetische Ausrichtung der expertokratischen Ethik müsste folglich durch eine genuin kritische Ethik in dem Sinne ersetzt werden, dass die ethische Relevanz ihrer eigenen begrifflichen Unterscheidungen mit reflektiert wird. 5 Die Selbstreferenzproblematik beschäftigt die Ethik jedoch nicht nur in Bezug auf die von ihr in Anspruch genommenen Kriterien für Wertentscheidungen. Auch im Gegenstandsbereich wird SelbstZur Frage, was dies für einzelne metaethische Positionen und für anwendungsbezogene Bereichsethiken bedeutet, siehe die Beiträge in Gamm/Hetzel (2015).

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bezüglichkeit als Problem der Selbstreproduktion und maschinellen Selbstreplikation in der Befassung mit Systemen Künstlicher Intelligenz zum Thema ersten Ranges. Und da diese Systeme immer weiter die gesellschaftliche Praxis durchdringen und damit für alle Bereichsethiken relevant werden, sieht sich die professionelle Ethik zur Wertung und Bewertung legitimiert, dies aber aus einer ganz anderen Warte als bisher üblich. Anhaltspunkte lassen sich finden, wenn man danach fragt, wie Ethik ihre eigenen begrifflichen Unterscheidungen reflektieren soll, wenn sie denselben immer dort in ihrem Gegenstandsbereich begegnet, wo es sich um selbstreproduzierende Systeme handelt. Das betrifft die zentrale allen moralischen Schemata zugrundeliegende Unterscheidung von selbstbestimmt und fremdbestimmt, die als Differenz von Autopoiesis und Allopoiesis nicht nur für Kognition und Psyche, sondern auch für organische, soziale und selbst maschinelle Systeme relevant ist. Im Falle der Technologien Künstlicher Intelligenz kollabiert die Unterscheidung und zwingt die ausdifferenzierte und autonom gesetzte professionelle Ethik zur dezidierten Wertung und Bewertung auf der Grundlage anderer Unterscheidungen. Diese müssen aber im Kern moralischer Natur sein, weil sie nur als solche ethisch relevant sind. Fehlt die hierzu notwendige Distanz und Ethikkommissionen sollen dennoch über Richtlinien für die Konditionierung und letztlich Kontrolle von KI-gesteuerten Systemen als Grundlage ihrer beratenden Funktion verfügen, so kann es sich nur um transjunktionale Formeln handeln, die sich als ethisch dimensioniertes Kalkül in den Rechenoperationen so niederschlagen, dass der Einzelne nicht übergangen, sondern gewürdigt werden kann. Ethisch reflektiert wird ein als bloße Entparadoxierung, als Schreiben wider Willen, gemeintes Kalkül. Auch die bei Luhmann (2008, 253–269) zu lesende vorsichtige Formulierung, Ethik solle die Aufgabe zugeteilt werden, vor Moral zu warnen, sieht sich in moralische Streitigkeiten hineingezogen, weil sie Gründe angeben muss, weshalb der Friede besser sein soll als ein beispielsweise als Humanitäre Intervention nobilitierter Krieg. Als Ausweg bietet sich an, moralische Kommunikation als Faktum vorauszusetzen und in ihren empirischen Erscheinungsformen im Hinblick auf die Frage zu beobachten, wie sie die von ihr selbst produzierten Probleme löst (Nassehi, Saake, Siri [2015], 2 FN 1). Damit schleicht sich aber wieder ein normatives Element in den Begriff der Problemlösung. Denn moralische ist als Kommunikation, die gut und schlecht 18 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

Einführung: Ethik als Kommissionsentscheidung

(böse) unterscheidet, weniger auf Lösung und mehr auf Streit aus, stehen doch Achtung und Missachtung auf dem Spiel. Lösung ist ein wertender Begriff, der positiv konnotiert, was Anderen destruktiv und gefährlich erscheint. Von dieser Zirkularität des Gegenstandes – die unvermeidlich in die Wertungs- und Bewertungspraxis hineingezogene Diskussion über Fragen der Ethik – ist im Folgenden auszugehen. Die Vielzahl und Heterogenität der Nutzer immer mit bedenkend, sind Unterscheidungen gefragt, die gewissermaßen auf der paradoxen Ebene wertender Wertenthaltung angesiedelt sind, weil nur auf diese Weise dem Einzelnen gerecht werden lässt. In theoretisch-methodologischer Hinsicht dienen die formlogische, von der mathematischen Logik George Spencer Browns (1997) inspirierte Systemtheorie Niklas Luhmanns und ihre netztheoretischen Weiterführungen als Grundlage. Dabei gilt es die weidlich vernachlässigte ethische Seite dieses Ansatzes im Kontext aktueller Fragestellungen herauszuarbeiten. Das Augenmerk richtet sich auf Form (Unterscheidung), Formgebrauch (Umgang mit der Unterscheidung) und Medium. Diese Begrifflichkeit möchte anders als die Begriffe der Latenz, der Möglichkeitsbedingungen und Vorverständigung, noch ohne ideengeschichtliche Assoziationen auskommen. Anhand dieses Instrumentariums werden aktuelle Probleme in den drei Sinndimensionen besprochen. Die sachbezogen-logische Dimension befasst sich mit Modalitäten des Umgangs mit der paradoxen Einheit der Unterscheidung von Realität und Empirie. Diese ist darin paradox, dass sie als eine Unterscheidung und somit als Einheit zu bedenken ist, zugleich aber auch als die Differenz zweier Seiten. Die politisch-gesellschaftliche Praxis gerät im Versuch, diese Paradoxie aufzulösen, in Streitigkeiten, wenn um die Unterscheidung zwischen News und Fake-News gerungen wird. Eine solche Verunsicherung fördert Verdächtigungen, üble Nachrede und Rufmord. 6 Wie nehmen sich vor diesem Hintergrund politisch-wirtschaftlichwissenschaftliche Bemühungen um eine möglichst umfassende Datenspeicherung aus, die mehr Sicherheit, bessere Gesundheitsvor-

Hier liegen die Gefahren eines Menschenrechtsdiskurses, in dem »Rights as Weapons« (Bob 2019) zum Normalfall werden, in dem es nur noch um strategischtaktische Differenzierungen des Rechts in Techniken der Camouflage wahrer Absichten und Motive, Angriffsmittel, Blockadeinstrumente, Provokation und Destabilisierung der Gemeinschaft des Feindes geht.

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sorge, gezieltere Produktion und Konsumption versprechen? Darf die Bevölkerung davon ausgehen, dass die gesammelten personalisierten Daten auf Fakts beruhen, oder muss sie fürchten, dass überwiegend Fakes gespeichert werden? Da die Ethik in dieser Frage nicht besser Bescheid weiß als die mit der Materie befassten Einzelwissenschaften, können nicht aus einer höheren Warte aus Wertentscheidungen gefällt werden. Durchaus notwendig und auch möglich scheint es jedoch zu sein, ausgehend von einem theoretischen Ort des einzelnen konkreten Menschen (Realität) einen transjunktionalen Imperativ (der Grenze) zu formulieren, der in dieser komplexen Gemengelage von Behauptungen und Gegenbehauptungen (Empirie) Anhaltspunkte für einen vertretbaren Formgebrauch liefern könnte. Im sozial-moralischen Themenfeld steht der Formgebrauch von System und Umwelt oder Selbst und Anderer im Zentrum, da in den neuen Technologien der Mensch-Maschine-Verschmelzung die Grenze zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung bis zur Unkenntlichkeit zu verfließen droht. Wie kann eine dezidiert nicht normative, sondern formlogische Ethik dazu beitragen, in der Diskussion um Menschen- und Weltbilder Vorschläge für einen Formgebrauch zu unterbreiten, der von allen Kulturen akzeptiert sein könnte? Und wieder ist die vorgängige Frage zu beantworten, welche der beiden Seite der Unterscheidung der theoretische Ort sein könnte, an dem der einzelne konkrete Mensch gewürdigt wird? Die systemtheoretische Auskunft ist eindeutig, es ist die Umwelt und ein sich selbst intransparentes Selbst, die als Ausgangspunkt ethischer Reflexion in Frage kommen. Da Ethik gewollt oder ungewollt sieben Milliarden Menschen adressiert und allein die Konstruktion eines globalen Normenbestandes vermessen wäre, können auch hier wieder nur transjunktionale Operationen des Wechsels von einer Kontextur zur anderen gesucht sein. Als Maßstab der Regelanwendung im Bereich gen- und nanotechnologischer Experimente und Künstliche Intelligenz nutzender Methoden der Eugenik (Eingriff in die Keimbahn), der Euthanasie (Sterbehilfe) oder der Sicherheitsvorsorge (mobile Eingreiftruppe) geht es um einen Imperativ der programmatischen Profilierung, der so beschaffen ist, dass der einzelne Mensch nicht zur Ressource und zum Material großtechnischer globaler Versuchsanordnungen degradiert wird. 7 Zur Diskussion der Auflösung ethischer Imperative in politische Konzepte siehe die Beiträge zu Just Peace (Werkner/Schües 2018), zu Just Policing (Werkner/Heintze

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Schließlich steht in der zeitlich-ontologischen Sinndimension ein Formgebrauch des Umgangs mit den Zeithorizonten an. Zu einem Problem eigener Art verdichten sich präemptive Techniken in dem Maße, in dem sich der seinem Selbstverständnis nach verantwortliche Akteur einer Wirklichkeit gegenübersieht, die als vorweggenommene Zukunft genau die innovativen Potentiale enthält, die sein eigenes Handeln legitimiert. Die Rolle des klugen, vorausschauend weitsichtigen Zeitmanagements kompetenter Akteure hat der Mensch im Futur 2 an die Maschine abgetreten; ihm selbst bleibt nur noch die Rolle des blinden oder kontemplierenden Reaktors. Wie lässt sich der immens gesteigerten Eskalationsgefahr terroristisch-antiterroristischer Operationen außerlegaler Tötungen begegnen, die von unbemannten Kampfdrohnen mit automatisierter Feinderkennung und eigengenerierten Einsatzplänen verantwortet werden? Zwar tritt die Figur des Täters jetzt hinter dem Menschen zurück, dies bewirkt indes nicht den Zusammenschluss einer gegen ihren Opferstatus rebellierenden Menschheit. Im Gegenteil scheint dieser technoide Sprung in den Maschinenraum selbstreproduktiver High-Tech-Drohnenkriege fixen Feinkonstellationen eher noch Vorschub zu leisten und damit Konflikte anzuheizen. In allen Phasen der Entwicklung und Implementierung die Eskalationsspirale tödlicher Eigendynamiken antizipierend, könnte ein ethiktheoretischer Beitrag nur darin bestehen, im Sinne der kantischen Zweckformel einen transjunktionalen Imperativ der Autopoiesis zu formulieren, der die alte prometheische Vorsicht zu einem Moment kultivierten Tätigseins in Politik, Wissenschaft und Technik, Recht, Wirtschaft und Erziehung werden lässt. Dieser formlogische Typ von Ethik, der den normativ besserwisserischen Stil vermeidet, ist nicht neu. Er sieht sich vielmehr in die okzidental-orientalische, von Platon und Aristoteles ausgehende Traditionslinie gestellt. Gemeinsame Ursprünge in der antiken Philosophie zu erinnern, 8 und für die ethische Diskussion der neuesten 2019), zu Human Security (Werker/Oberdorfer 2019), zu Responsibility to Protect (Werkner/Marauhn 2019). 8 Die systematische Erschließung des antiken Erbes seit Mitte des 8. Jahrhunderts beginnt in der islamischen Welt mit der Übersetzung fast der gesamten wissenschaftlichen Literatur der Antike (Philosophie, Medizin, Astronomie, Astrologie, Musiktheorie, Naturkunde, Agrikultur, Geheimwissenschaften) ins Arabische, gesamtgesellschaftlich verbreitet durch die »Kulturpolitik« der Abassiden. Siehe dazu Ulrich Rudolph (2013, 11 f.). Im heutigen Ägypten wird nach Constantin Schreiber

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Einführung: Ethik als Kommissionsentscheidung

Technologien fruchtbar zu machen, scheint angesichts der Brisanz christlich-säkular-moslemischer Konflikte besonders wichtig. Denn offensichtlich haben diese Konflikte das protestantisch-katholische des neunzehnten und das liberalistisch-sozialistische Kampffeld des zwanzigsten Jahrhunderts abgelöst. Hier zeigt sich, in welchem Maße die geänderte Blickrichtung von kulturspezifischen Semantiken auf kulturindifferente Formlogik, Hinweise auf eine den weltgesellschaftlichen Bedingungen kompatible (Friedens-) Ethik liefert.

(2019) Philosophie, u. a. Aristoteles und Avicenna schon in der sechsten Klasse auf hohem Niveau unterrichtet.

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II. Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Sachfragen

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Künstliche Superintelligenz und Kulturnivellierung

Im Vergleich mit traditionalen Global Communities, wie dem Christentum mit seinen weltweit 2, 2 Milliarden Mitgliedern und dem Islam mit 1,6 Milliarden Menschen, übernimmt die skandalumwitterte, aber ungebrochen erfolgreiche Internetplattform Facebook mit 1,9 Milliarden aktiven Nutzern pro Monat, nach dem Urteil seines Gründers Mark Zuckerberg, wesentlich effektiver und nachhaltiger Aufgaben der Gestaltung einer friedlichen und gerechten Weltgemeinschaft. Dieser sozial-moralische Anspruch besteht darin, die weltweite Netzgemeinde zu einer der Menschheit insgesamt zugutekommenden Keimzelle weltgemeinschaftlicher sozialer Infrastruktur fortzuentwickeln. Idealiter muss der Glaube an die Künstliche Intelligenz den religiösen Glauben an Gott nicht verdrängen, transformieren sich doch alle weltanschaulich-spirituellen Strömungen und Grundhaltungen in kommunikative Beiträge, die auf eine jeweils besondere Weise das rekursiv vernetzte Informationsgefüge strukturieren. Die Frage der Repräsentativität kultureller Besonderheiten erübrigt sich ebenso wie die Frage, wer verantwortlich zeichnet für schwarmintelligente Etappenresultate. Zu diesen zählen nicht nur Welcome-Zeremonien für Flüchtlinge, sondern auch Revolutionen, blitzschnell organisierte Demonstrationen und Aufstände, aber auch die Früherkennung von mutmaßlichen Gefährdern, die als potentielle Terroristen den Begriff des Schläfers abgelöst haben. Der soziale Akteur verflüchtigt sich. Damit tritt das Medium als selbstreproduzierendes System an die Stelle des Subjekts. 1 Als liberalistisches Individual-, als sozialistisches Kollektiv- oder als diskurs-zivilgesellschaftliches Inter-Subjekt hatte 1

Noch konsequenter versteht Röttgers (2015) Identität als mediales Selbst.

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Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Sachfragen

selbiges doch immer den gleichen normativen Imperativ eines mit Willen und Bewusstsein zu gestaltenden weltsozialen Insgesamt mit sich geführt. Für das westlich-abendländische Profil liegt es folglich nahe, dem Netz selbst Eigenschaften zu attribuieren, die das dialektische Prinzip von Trial and Error, von Position und Negation, von Konflikt und Ordnung, von Produktion und Destruktion fortschreiben. Andererseits macht sich mit einer geradezu schockierenden Evidenz das bloß noch Zerstörerische von Shitstorms, von Fake-News, von Gewaltandrohungen bis hin zum Gewaltaufruf gegen erklärte Feinde bemerkbar. 2 Dies verlangt eine korrektive Institution der Fact-Checker, die zwar dasselbe tut wie die Zensur; während letztere aber zum Steuerungs- und Überwachungsinstrumentarium autoritärer Staaten zählt, steht der technoide Filter der Idee nach im Dienste des gesellschaftlichen Fortschritts. Die Rede ist vom Filter-Bubble als einem die Ereignisflut strukturierenden Algorithmus, der verglichen mit tradiertem Wissen und Urteilen die Bewährungsprobe nur kürzer ansetzt, genau genommen in jene Gegenwart verlegt, die auch der Ort der milliardenfach geäußerten Meinungen ist. Aus dem bloß Kürzeren wird das Augenblickliche, das nicht mehr bezeichnet werden kann, weil es sich nicht mehr von einem Beharrenden unterscheiden lässt. Allein um hier Stellung beziehen zu können und sozialen Medien einen ethischhumanitären Auftrag erteilen zu können, müssten Operationen – die generative Eigendynamik des selbstreproduzierenden superintelligenten Systems – und dessen Beobachtung erneut auseinandergezogen werden. Dies verlangt eine erkenntnistheoretisch reflektierte Systemtheorie und nicht eine Theorie, die für das mehrdeutig-mehrwertige Ineinander multipler heterogen vernetzter Präferenzen nur ein anschauliches Modell bereitstellt, eben ein System im strukturfunktionalen Sinne eines distinkten Gegenstands. Da sich inzwischen die Probleme der informationstechnischen Vernetzung – zerfallende Staaten und internationaler Terrorismus – schärfer abzeichnen, wächst der Druck auf formale Organisationen, ethisch-moralisch dimensionierte Umstritten ist das Fortleben destruktiver Logik in zivil genutzten und weiterentwickelten Militärtechnologien. George Dyson (2014) erinnert an die Ursprünge des digitalen Zeitalters aus der Notwendigkeit, elektronische Computer zu entwickeln, die für den Bau der Wasserstoffbombe die notwendigen Berechnungen liefern können. Alle westlichen Fortschritte in der Weltraumtechnik, in Biologie und Medizin speisen sich aus destruktiven Impulsen.

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Künstliche Superintelligenz und Kulturnivellierung

Programme auszuarbeiten und folglich für die Neben- und Folgewirkungen der wissenschaftlich-technischen Entwicklung Verantwortung zu übernehmen. 3 Die Suche nach verantwortlichen Kommunikationsformen adressiert besonders jene Forschungsrichtungen, die sich mit Künstlicher Intelligenz und deren Implementierung befassen, aber auch soziale Medien, die die meisten Menschen erreichen und folglich einen weltweiten Einfluss geltend machen können. Wenn der Gründer von Facebook folglich die Suche nach einem Algorithmus zum Gebot der Stunde erklärt, der den globalen Kommunikationsstrom durch Selektionsmodi Gestalt zu geben vermag, so sind weder subjekt- noch intersubjektivitätsphilosophische noch akteursbezogene und steuerungstheoretische Ansätze angesprochen. Denn wo es um ein rekursiv vernetztes eigendynamisches Medium geht, dort bedarf es der formlogischen Klärung des Verhältnisses von Codes und Programmen. Und ein solches Verhältnis zu bestimmen, zu gestalten und zu visualisieren ist Sache einer Kultur. 4 Oder ist dies Sache der Netzstruktur? 5 Sofern man davon ausgehen müsste, dass die Semantik durch Konnektivität verdrängt wird, so erforderte dies immer noch Modalitäten des Verknüpfens, die irgendwie als sinnvoll, zumindest als akzeptabel gelten könnten. Der Vorschlag, Komplexität als Kulturform der Netzgesellschaft zu verstehen (Baecker 2018, 61–75), setzt auf Techniken der Abweichungsverstärkung, die verschiedene Selektionsofferten vermitteln. Dies führt zur Ausdifferenzierung von sozialen Nischen, von Peergroups und alternativen Milieus, die tradierte Semantiken obsolet erscheinen lassen, weil weniger Bücher als Chats gelesen werden. Erfolgreich oder problemlösend sind sozialpolitische Techniken dieser Art jedoch nur, sofern sie durch kulturelle Techniken ergänzt werden, die auf Die EU-Kommission arbeitet seit 2018 an ethischen Richtlinien für den Umgang mit Künstlicher Intelligenz, mit intelligenten Filterblasen, Gesichtserkennungsalgorithmen, intelligenten Killerdrohnen, die autonom ihre Opfer ausfindig machen und töten. 4 Zum modernen Kulturbegriff als soziales Gedächtnis, der zur Historisierung drängt und alles unter einem Vergleichsgesichtspunkt betrachten lässt, siehe Luhmann (1995a, 31–54). 5 Esposito (2018, 287) beschreibt das heutige Netzmodell in dieser Funktion des sozialen Gedächtnisses als Alternative zur Kultur. Siehe auch Baecker (2018, 61–75): Symbolüberschuss der Schrift- und Kritiküberschuss der Buchdruckgesellschaften bedürfen Semantiken, während der Kontrollüberschuss der Netzgesellschaft technisch bewältigt wird. 3

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transjunktionalen Operationen des Wechselns von einer Kontextur zu einer anderen beruhen. 6 In einer kulturell zerklüfteten Weltgesellschaft scheinen nur solche Operationen Kommunikationsofferten vermitteln zu können, die in ihren kulturellen Ligaturen beachtet werden. An die Stelle der kulturell bestimmten Semantik tritt Technik in Gestalt einer Ethik, die sich als »Technik der Kultur« und nicht als überlegenes Normprojekt verstehen lässt (Gerhardt in: Gamm/ Hetzel 2015, 61–81). Die Unterscheidung eines für Grenzen sensibilisierenden Komplexes von Codes und Programmen von einem für Grenzen desensibilisierenden Komplexes, honoriert die kulturellen Besonderheiten der Netzeinträge. Sie tritt an die Stelle bisheriger Leitunterscheidungen, wie religiös und säkular, fortschrittlich und rückschrittlich oder modern und traditional. Dabei erhebt sich die Frage, ob diese sehr abstrakte Unterscheidung, wie sie für die Analyse von Medien qua selbstreproduzierenden Systemen allein adäquat zu sein scheint, einen Bruch mit den vorangegangenen Unterscheidungen darstellt und wenn ja, in welchem Maße. Die Antwort auf diese Frage mag gerade dann entscheidend sein, wenn globale Kommunikationsströme ohnehin eine Mixtur kulturell differenter Leitunterscheidungen produzieren. Sollte diese abstrakte Unterscheidung eines für Grenzen sensibilisierenden Komplexes von Codes und Programmen und einem für Grenzen desensibilisierenden Komplexes einen formlogischen Untergrund aller anderen Leitunterscheidungen freilegen, dann wären Anhaltspunkte für eine globalisierungstaugliche Ethik gefunden. Dies gilt umso mehr, als an den Dialogen Platons gezeigt werden kann, dass die Anfänge der okzidental-orientalischen Kulturentwicklung von diesem Abstraktionsniveau ihren Ausgang genommen haben. 7 Und da die altgriechischen Texte ihrerseits von den altorientalischen Jedem der binären Codes muss nach Luhmann (2008, 185) »ein unsichtbarer ›dritter Wert‹ hinzugefügt werden, mit dem der Code sich selbst bezeichnet. In anderer Ausdrucksweise: die Gesellschaft muss eine Ebene für transjunktionale Operationen bereithalten, auf der entschieden werden kann, ob ein bestimmter Code, zum Beispiel der von Recht und Unrecht, angewandt oder nicht angewandt werden soll.« (Luhmann 2008, 185). Dieser dritte Wert entspricht, wie an anderer Stelle ausgeführt (Brücher 2017, 112–134), dem kategorischen Imperativ Kants. 7 Bestimmtheit und Unterscheidbarkeit, die Arbogast Schmitt (2008, 64 f.) als differentes Eines im Sinne des Grundprinzips bei Platon und Aristoteles herausarbeitet, zeigt sich in der Logik der Form bei Spencer-Brown (1997) als paradoxe Einheit von Unterscheiden (Markieren) und Bezeichnen (Bestimmen eines der beiden Seiten). 6

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Hochkulturen beeinflusst sind und hier wiederum frühe Kontakte zu den asiatischen fernöstlichen Kulturen nachgewiesen werden konnten, 8 berührt der formlogische Fokus einen ideologisch unverdächtigen Aspekt von Universalität. Angesichts der Tatsache, dass im internationalen Informationsaustausch nichtwestliche und folglich nicht der europäischen Aufklärung verpflichtete Gemeinschaften an Gewicht gewinnen, scheint nur ein abstrakter Leitgesichtspunkt plausibel. Allerdings sind damit nur sachlich-logische und sozial-moralische Fragen berührt. Aber wie relevant mag diese möglicherweise globalisierungstaugliche kulturkompatibel-abstrakte Leitunterscheidung sein, wenn man die zeitliche Sinndimension mitberücksichtigt? Die nutzerorientierte, auf die Optimierung individueller Präferenzen abstellende künstliche Superintelligenz reagiert auf Ge- und Missfallen anzeigende button clicks ebenso wie auf unzählige Meinungsäußerungen in Echtzeit. Dies aber bedeutet, die gesuchte soziale Infrastruktur konstituiert sich zeitgleich mit den Ereignissen das Netz überflutender Informationen, Strukturmuster und Organisationsformen. Dies ist der Grund, weshalb Wahrheit und Lüge, Meldungen und Falschmeldungen, Wirklichkeit und Wirklichkeitskonstruktion verschmelzen. Es fehlt die Zeit, die das eine vom anderen trennen ließen. Denn bis nachrichtendienstliche, juristische oder wissenschaftliche Überprüfungen zu Ergebnissen gelangt sein könnten, haben multiple Reaktionen aus Falschmeldungen längst Wirklichkeiten befördert, auf die nur wieder reagiert werden kann, die aber nicht mehr aus der Welt zu schaffen sind. Die erkenntnistheoretischen Grundprobleme, die bislang als intellektuelles Steckenpferd praxisferner Tiefenbohrungen philosophischer Spezialisten getrost ignoriert werden konnten, erobern die Alltagspraxis und hinterlassen dort nicht nur intellektuelle, sondern handfeste Konfusionen. Kaum noch feststellen lässt sich, von welcher Seite her und ob überhaupt Wahlen gezielt mit Falschmeldungen vom Ausland her manipuliert werden, wem ein Terroranschlag zuzurechnen ist, einem fanatischen Einzeltäter, einer Terrororganisation, womöglich aber auch NichtregierungsNahezu weltweite Kulturkontakte (Vorderer Orient, Zentralmediterrane Länder, Westeuropa, Mitteleuropa, Eurasische Zone, Südasien, Ostasien, Afrika, Amerika) auf den Gebieten der Religion, Bildenden Kunst, Architektur und Gesellschaft beschreibt Müller-Karpe (1998, Bd. 1–5) vom 3. Jahrtausend v. Chr. bis zum 2. Jh. v. Chr.

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Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Sachfragen

organisationen oder einem ausländischen Geheimdienst, der einen Prozess des regime change als Ergebnis siegreicher Aufstandsbewegung in Gang setzen möchte. Schließlich wird konstitutiv im Dunkel bleiben, wer Cyberangriffe lanciert und wessen Kampfdrohnen ganze Länder verwüsten.

Gesellschaftsstrukturelle und kulturelle Leitunterscheidung Die ethische Leitunterscheidung grenzsensibler und grenzignoranter Codes und Programme steht gewissermaßen als kulturelle Intelligenz der massenmedialen Unterscheidung von News und Fake-News gegenüber, die die Netzstruktur in eine chaotisch-destruktive Dynamik treibt. Gegenwärtig sieht es so aus, als würde sich letztere zur Leitunterscheidung der Weltgesellschaft gemäß dem systemtheoretischen Grundsatz entwickeln, dass demjenigen Subsystem – in diesem Fall den Massenmedien – ein funktionaler Primat zufalle, der die meisten Probleme produziere. Dies steht freilich zunächst dem politischen System zu, dessen Overkill-Kapazitäten alle Gewaltmittel übersteigen, die anderen Subsystemen als Mittel je ihrer Drohkommunikation zur Verfügung stehen. Indem das politische Gewaltmonopol die Entwicklung der übrigen Subsysteme nachholt und das bedeutet, sich zu globalisieren beansprucht, diffundiert das politische Kommunikationsmedien Macht ins gesamtgesellschaftliche Geschehen. Macht wird mikroskopisch, sie granuliert und hinterlässt weltweit politische Spuren der Gewalt. 9 Was in der Übergangsgesellschaft vom hierarchischen zum funktionalen Differenzierungsprinzip der Kampf um Anerkennung qua Kampf um Integration in die Funktionssysteme war, 10 das ist nach gelungener Vollverwirklichung der Kampf um Legitimität. Dabei handelt es sich um die Legitimität der Gewaltandrohung und Baecker (2017, 147) führt den Begriff des Granulierens im Sinne Kucklicks (2014) in die Systemtheorie ein, um den Beobachter qua Reproduktion einer Form (Differenz von Operation und Beobachtung) im Medium dieser Form (Einheit der Unterscheidung von Operation und Beobachtung) für empirische Anschlussforschungen brauchbar zu machen. 10 Der Ansatz beginnt in dieser Phase sich selbst zu historisieren: aus einem universale Geltung beanspruchenden normativen Konstrukt (Honneth 1992) wird ein nationalkulturelle Eigenheiten berücksichtigendes ideengeschichtliches Konstrukt (Honneth 2018). 9

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Gewaltanwendung. Diese lässt sich selbst vom politischen System nicht mehr unter Verweis auf Recht und Verfassung reklamieren, sieht sich Politik im Bemühen um die Globalisierung ihrer Operationen doch auf außergesetzliche Mittel verwiesen. Die Vision vom absterbenden Staat kehrt sich ins Bedrohliche. Indem die Systemtheorie dem Verknappen der Ressource Legitimität einen zentralen Platz im Analysefeld der nächsten Gesellschaft (Baecker 2007a) zuweist, zeigt sie die Dringlichkeit einer Ausarbeitung und Fortentwicklung der von Luhmann erst in Umrissen skizzierten reflexionstheoretischen Ethik. Luhmann (1975, 193 ff.) hatte im Kontext von Analysen soziokultureller Evolution früh auf dieses Phänomen der Entdifferenzierung von Geltendem und Gültigem hingewiesen, das jedem Richtmaß zu Leibe rückt. So kommt es im Zustand der Vollverwirklichung des funktionalen Differenzierungsprinzips zu beschleunigten Prozessen sozialen Wandels allein deshalb, weil Strukturen nicht mehr als Stabilisierungs-, sondern als Variationsmechanismus eingesetzt werden. Der Wandel selbst aber ist ziel- und richtungslos und damit ein selbstzweckliches Instrument der Destabilisierung. Eine kontinuierliche Verunsicherung bezüglich eigenen und fremden Erwartens als Umschreibung dessen, was ein zum Selektionsmodus evolvierter Strukturwandel bedeutet, hat für die einzelnen Funktionssysteme unterschiedliche Auswirkungen. Was für die Wirtschaft unter den neuen informationstechnisch erweiterten Möglichkeiten als positiv erscheinen mag, nämlich ein Herausarbeiten individueller Käuferprofile als erkennbare Momentaufnahme einer für Produktion und Vertrieb informativen Strukturfestlegung, das ist für die soziale Infrastruktur einer hervorzubringenden Weltgesellschaft desaströs. Denn die individuellen Links sind nur in der Lage, soziale Strukturen laufend wieder neu zu destabilisieren, sodass Muster und Richtlinien erst gar keine Orientierungsfunktion herausbilden können. Die Nachwirkungen einer Subjektkonzeption, die vom Individual- und Kollektivsubjekt als homologen Merkmalen des Menschlichen ausgegangen war, kommen jetzt in ihrer ganzen Tragik zum Vorschein. Denn sie machen blind für das Ausmaß, in dem die Produktion einer weltsozialen Infrastruktur mit deren Destruktion zusammenfällt. 11 Die Politisierung des Rechts transformiert völkerrechtlich verstandene Menschenrechte zum Recht auf deren gewaltsame Durchsetzung. Zur Kontroverse siehe Georg Lohmann (2013).

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Indes werden die alten Methoden der Legitimitätsbeschaffung auf die neuen fluiden Verhältnisse beschleunigter Erosion überkommener, konsolidierter Strukturen ungeachtet der Tatsache übertragen, dass die Orientierungsmarker konsensstiftender Verfahren jene Vorverständigungen voraussetzen, die als Traditionsbestand dem Veränderungsdruck der Modernisierung zum Opfer fallen. Dieses Paradigma selbstzwecklichen Wandels stößt im moslemisch-arabischen Kulturraum trotz kolonialer Vergangenheit noch immer auf Widerstand. Gerät der soziale Wandel in eine Spirale kommunikationstechnischer Selbstbeschleunigung, beginnen Produktion und Destruktion zu kondensieren, so stoßen großangelegte politische Projekte weltsozialer Modellierung an eine unüberwindliche Grenze. In eine solcherart ratlose Lage gebracht, beginnt ein Ordnungsverständnis an sich selbst zu zweifeln, das Chaos erwarten lässt, sobald gewaltbereite Stiftungsbemühungen erlahmen. Allein diese erlahmen unvermeidlich in dem Maße, in dem ein sich globalisierendes politisches System die ihm zugewiesenen Funktionen kaum noch in rechtsstaatlichen Grenzen erfüllen kann, gibt es im globalen Raum doch kein Weltrecht oder Weltbürgerrecht, dem Folge zu leisten die eigene als legale Gewalt auszeichnen ließe. 12 Das Chaos wird kommen – wie einst Aristoteles über die Unentrinnbarkeit des bevorstehenden Krieges gesagt hat – man weiß nur noch nicht wann. Das teleologisch-schicksalsgläubige Denken gelangt zu denselben Schlüssen wie ein geschichtsphilosophisch oder evolutionstheoretisch fundiertes sozialtechnisches Denken, das auf funktionierende Unterscheidungen der Kausalität (Ursache/Wirkung), der Rationalität (Zweck/Mittel) und des Konsequenzialismus (Grund/Folge) angewiesen ist, diese aber nicht mehr vorfindet. 13 Die verlorene Zeitkompetenz wiederzugewinnen, wird zur wissenschaftlichen Aufgabe ersten Ranges. Es gilt die Bedingungen möglichen Machens zu machen und zwar mit allen zivil-militärischen Mitteln, was den Widerspruch durch Gesellschaften

Die mangelnde Konsensfähigkeit eines Legitimitätskonstrukts Vorgriff auf eine Weltbürgerrechtsgesellschaft zeigt die Ablehnung des sog. dritten Pfeilers des UNSchutzverantwortungsstatuts (die nicht vom Sicherheitsrat autorisierte Militärinterventionen durch eine Koalition der Willigen rechtfertigen soll) von Seiten des Globalen Südens. Siehe dazu Peters/Krause (2018). 13 Ein aufgeregter Moralismus massenmedialer Berichtserstattung ist die Folge. Zur Konsequenz für die berufliche Praxis siehe die Beiträge in Großmaß/Anhorn (2013). 12

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Künstliche Superintelligenz und Kulturnivellierung

nicht dulden kann, die erst kürzlich meinten den Prozess der Dekolonisierung erfolgreich zu Ende geführt zu haben. Da jede Selektion aus einem Möglichkeitshorizont neue Möglichkeiten schafft und in diesem Sinne Potentialität bedingt, scheint das usurpatorisch angelegte Paradigma der Rückgewinnung von Zeitkompetenz theoretisch rückversichert. Die hier anschließenden Extrapolationen einer politisierten Moral qua universal gültigem Prinzip gesellschaftlichen Zusammenlebens dürfen jedoch den größeren Zusammenhang sich globalisierender politischer Systeme nicht außer Acht lassen. Dieser funktionalistische Terminus des politischen Systems steht als Plural in Parenthese. Denn Wahl- und Rechtsmechanismus, die konkrete Machtausübung und Rechtsprechung erst als legitim empfinden lassen, hält die Politik zwar in territorialen Grenzen. Da diese Begrenzung jedoch in Widerspruch zum funktionalen Differenzierungstypus steht, gerät ein auf seiner gewaltmonopolistischen Stellung beharrendes Politisches in einen Prozess zunehmend entgrenzter Gewaltpraktiken. 14 Wie Ordnung möglich sei, diese von Luhmann (1981, 195–285) seinerzeit neu in die gesellschaftswissenschaftliche Diskussion eingebrachte Frage, verunsichert bezüglich der gewohnten Antworten eines als Ergebnis von Ausscheidungskämpfen zu erwartenden Guten. Dies rührt an gewohnte Paradigmen liberalistischer und sozialistischer Provenienz. Denn ein unerschütterlicher finalistisch-fortschrittsbezogener Darwinismus lässt soziale Veränderungen als fortlaufendes Experimentieren mit Institutionen, Organisationen und Strukturen jeder Art im Sinne eines infiniten Progresses denken. Wie verhält sich der auf politischem, wirtschaftlichem und technisch-wissenschaftlichem Gebiet unbegrenzt experimentierfreudige Okzident zu einem stärker im Geiste experimenteller Vorsicht sozialisierten Orient auf dem Feld weltweit vernetzter sozio-technischer Organisationen? Die Antwort auf diese Frage ist vorbelastet durch geringschätzende Äußerungen Darwins. Dieser hatte 1881 in einem Brief an den skeptisch gesonnen Philosophen William Graham den Sinn der Übertragung der Lehre von der natürlichen Selektion auf

Hinzu kommt die Umstellung der allgemeinen Wehrpflicht auf ein »Freiwilligenarmee« genanntes Söldnerheer und private Sicherheitsfirmen, die Kriegsentscheidungen der Marktlogik unterwirft. Moralische Argumente einer Pflicht jedes Bürgers für die Sicherheit seines Landes, wie gerechtigkeitstheoretische Ansätze anführen, gehen am Problem vorbei. Siehe typisch Michael Sandel (2010).

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Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Sachfragen

die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft am Schicksal der Türken zu veranschaulichen gesucht. Im Kampf ums Überleben seien die Türken mittlerweile von den höher zivilisierten Europäern haushoch geschlagen worden. 15 Was im Hinblick auf den Diagnosetypus der Übergangsgesellschaft und gemessen an den Maximen einer korrespondierenden Semantik nur als rückständig beurteilt werden mag, das stellt sich aus der Perspektive einer voll entwickelten funktional differenzierten Weltgesellschaft vollkommen anders dar. Denn hier gewinnen Analysen an Gewicht, die quer zu westlichen abendländisch-aufklärerischen Diskurskulturen liegende Kontinuitäten sichtbar machen, die für die gesuchte weltsoziale Infrastruktur von großer Bedeutung werden könnten. Wenn etwa darauf hingewiesen wird, im nahöstlichen Kulturraum fehle ein Phänomen wie die europäische Aufklärung, weil es hier jene durch Völkerwanderung und Zusammenbruch des Römischen Reiches bedingte Unterbrechung eines der griechischen Philosophie erwachsenen Humanismus nicht gegeben habe, so verliert der kardinale Differenzpunkt medienwirksamer Kulturkampfrhetorik an Sprengkraft. 16 Für die computerisierte informationstechnisch infiltrierte Weltgesellschaft ist dieses Moment der Kontinuität philosophisch-naturwissenschaftlichen Denkens von herausragendem Interesse. Denn hier ist die Mathematik auf eine andere Weise kulturtragend bedeutsam als dies im westlich-abendländischen, durch die empirischen Wissenschaften geprägten Denken der Fall sein könnte. In seiner Kulturgeschichte, die sich von den griechischen Anfängen über die Blütezeit der islamischen Gelehrsamkeit bis ins frühneuzeitliche Europa erstreckt, deutet der Historiker John Freely (2013) bereits mit dem Titel »Platon in Bagdad« auf das zentrale Gewicht der Mathematik hin. Zu dieser gehörten Arithmetik, Geometrie der Ebene und des Siehe dazu Alper Birgili (2017, 19), der über den neu entflammten Anti-Darwinismus in den türkisch-sprachigen sozialen Medien aufklärt. Dieser geht auf das 1999 erschiene, in viele Sprachen übersetzte Buch von Adnan Oktar (Pseudonym: Harun Yahaya) »Darwin’s Hostility Towards Turks« zurück. 16 So vertreten die Gelehrten al-Afghani und ’Abdul um die Wende vom 19. Jh. zum 20. Jh. die Ansicht, »der Islam sei (im Gegensatz zum Christentum) schon immer eine vernunftorientierte, rationale Religion gewesen, sodass er nur zu seiner ursprünglichen Form zurückkehren müsse, um für alle Herausforderungen der Gegenwart gewappnet zu sein.« (Rudolph 2013, 108). Zu den ideologisch aufgeladenen Polemiken gegen »den Islam« und Kritik an den Islamwissenschaften, welche moralisierende Betrachtungen meiden siehe Ulrich Rudolph und Anke von Kügelgen (2016). 15

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Raumes, Harmonik und Astronomie. Zur Harmonik gehörte wiederum das Studium der Physik der Töne und die Analyse der mathematischen Beziehungen (Freely 2013, 40), die beides bewirkt haben, ein großes Interesse an Forschung und Indienstnahme von Naturkräften und die Durchdringung dessen, was hier erkannt und genutzt werden sollte mit Hilfe einer logisch-mathematisch geschulten Philosophie.

Ökologisch-kulturelle Kommunikation Das Bemerkenswerte ist am westlich-abendländischen Wissenschaftsdiskurs folglich die radikale Abkoppelung der Mathematik von der Philosophie, des Herstellbaren vom Denkbaren als eine historische Entscheidung, die zwar den wissenschaftlich-technischen Fortschritt und damit die weltweite Vormachtstellung des Okzidents möglich gemacht hat. Unter den Bedingungen einer radikalen Entkoppelung zeigt diese Wendung von der orientalischen zur okzidentalen Überlegenheit jedoch auch Konsequenzen einer quasi aussichtslosen »ökologischen Kommunikation« (Luhmann 1986), die auf der Grundlage empirischen Wahrheitsverständnisses Gefahren lediglich über- oder unterschätzen kann. 17 Solche Kommunikation sieht sich außerstande, eine auf die kognitiv-moralisch-projektiven Grenzen menschlichen Urteilsvermögens zugeschnittene und somit verantwortbare Technik zu instituieren. Was Luhmann an der mathematischen Logik Spencer-Browns fasziniert, mag der Verdacht sein, dass hier die Grundlagen für ein korrektives weltkulturelles Wissenschaftsverständnis gelegt sein könnten. Das Problem der Entfesselung von Naturkräften, ein ungewolltes Auslösen von zerstörerischen Eigendynamiken ökologischer, biound sicherheitspolitischer Art erscheint heute allein deshalb unlösbar, weil das Machbare und das Begreifbare als separate Gegenstände unabhängig voneinander forschender Disziplinen in einem Verhältnis kompletter Beziehungslosigkeit verharren. Die Allgegenwart des Prometheus-Mythos motivierte hingegen nicht nur das klassische Griechenland, sondern auch eine von griechischer Philosophie beeinIn den Anfängen der modernen Naturwissenschaften lag der Schwerpunkt noch auf der mathematisch-philosophischen (Platon) und nicht der empirisch-atomistischen (Demokrit) Fundierung. Zum berühmten Zitat Galileis, das Buch der Natur wäre in Zahlen und Dreiecken geschrieben, siehe Behrends (2010).

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flusste Levante, sowie okzidentales und orientalisches Mittelalter zu experimenteller Vorsicht. 18 Aber nicht eine solche einzufordern könnte angesichts weltweiter Forschungszusammenhänge Thema der Ethik sein. Weil auf gemeinsame Vorannahmen angewiesen, sind Sollens- ebenso wie Nützlichkeitsethiken in einem kulturell zerklüfteten Raum weltgesellschaftlicher Kommunikation problematisch. Informativ sind allenfalls Ethiken, die nach Modalitäten des Umgangs mit Widersprüchen Ausschau halten, die sich mit den Bedingungen des Übergangs von einer Kontextur in eine andere befassen. Auf diesem Umweg lässt sich das Machen und das Begreifen womöglich in einer neuer Weise verklammern. Allein dieser perspektivische Zugriff mag sich als tragfähig in Bezug auf heterogene Felder der Geistes-, Sozial-, Natur-, Kultur- und Technikwissenschaften erweisen. Ein kontextuelles Denken der gesuchten Art kittet den Bruch innerhalb des mathematisch-philosophischen Komplexes, indem Theorie, Praxis und Poesis als wechselseitiges Bedingungsverhältnis gedacht sind, ohne ihres je eigenen Gegenstandbereichs verlustig zu gehen. In allen drei Bereichen ist begreifendes Machen am Werk, aber in einer jeweils anderen Form. 19 Was ist damit gemeint und inwiefern lassen sich hieraus Hinweise auf eine kulturübergreifende Ethik entnehmen, die als Reflexionstheorie einleuchtet? Zum Begreifen gehören zunächst Modalitäten, Unvereinbares vereinbar zu machen, Formeln, die von einem Bereich zum anderen überleiten. Es gehören aber auch »Werte, die auf Abstand vom eigenen Handlungsdrang wie auch von den sozialen und technischen Verführungen der Umgebung schaffen.« (Baecker (2018, 213). Es ist folglich nicht mangelndes Könnens-Bewusstsein, sondern ein Wissen um die Unbeherrschbarkeit verselbständigender Eigendynamiken, die zu Vorsicht rät. Beispielhaft sind die Gefahren, dargestellt im Mythos vom Feuerbringer Prometheus: Zwar verfügen Menschen über göttlich-schöpferische handwerklich-technische Fähigkeiten, weil sie jedoch Schamgefühl, Mitleid und Recht entbehren, töten sie einander (so Platon in Protagoras 320 c8 – 323 a4). Das Können wird folglich nicht durch ein Gefühl von Verantwortung flankiert. 19 Bei Platon (Politeia 595c-597e) ist dies am Bettenbeispiel deutlich gemacht: Es gebe drei Betten, das erste ist als Produkt des Sprechens über das Bett Gegenstand von Spekulation und insofern von der Idee am weitesten entfernt, das zweite ist Gegenstand des Malers, der die Gesetze der Geometrie berücksichtigen muss und insofern der Idee des Bettes näherkommt, das dritte ist vom Handwerker nach den Maßstäben des Benutzers gebaut und insofern, falls man in ihm bequem liegen kann, der Idee am nächsten. 18

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Kulturen der Aufklärung Der Kategorische Imperativ Kants versteht sich in diesem Sinne als Set von Formeln des Umgangs mit unvereinbaren Normanforderungen in einer durch Konfessionsspaltung und Glaubenskriegen verunsicherten Zeit, in der habituelle religionsmoralische Gewissensentscheidungen nicht mehr genügen. Wenn im ersten Band der vorliegenden Abhandlung Kant in Bezug auf die hier interessierende Frage einer zu Sollens- und Nützlichkeitsethiken alternativen reflexionstheoretischen Variante als Repräsentant der Übergangsgesellschaft vom hierarchischen zum funktional differenzierten Gesellschaftssystem angeführt worden war, und Luhmann als wegweisender Theoretiker einer voll entfalteten funktional differenzierten Weltgesellschaft, so zwingt dies angesichts einer ins Globale vorstoßenden Aktivität der Funktionssysteme zur Skizze weiterer Parallelen. Dabei geht es nicht um mehr oder weniger immer konstruierte Ähnlichkeiten. Es geht vielmehr um einen Denkgestus, der zur Beachtung von logisch-epistemologischen, von sozial-moralischen und ontologisch-programmatischen Grenzen motiviert und damit dem eine historische Dimension verleiht, was als reflexionstheoretischer Typus von Ethik vorgestellt ist. Dieser Gestus wird in jeder Zeit auf eine den besonderen historischen Umständen geschuldeten Art und Weise von Konstrukten herausgefordert, die für diesbezügliche Entgrenzungen Argumente liefern. Die Aufklärung aber steht für beides, für die Kolonialisierung und für Prozesse der Dekolonialisierung, um die empfindlichsten Eckpunkte dieser Haltungsfrage im globalen kommunikativen Austausch anzusprechen. 20 Und dies ist der Grund, weshalb sich dieser Terminus kaum als Chiffre für moralische Vorzugswürdigkeit eignet. Da die Aufklärung mit dem Anspruch vernunftgeleiteten Unterscheidens zwischen bloßem Meinen und methodisch kontrolliertem Wissen aufgetreten war, ist sie kein historisch singuläres europäisches Projekt, sondern ein immer wiederkehrendes Motiv. Unterschiedlich sind die kulturellen Formen dieses Meinens und unterschiedlich sind die Verfahrensweisen, mit denen ein bloß Geglaubtes von wahrem Wissen unterschieden wird. Beide Aspekte weisen allein innerhalb der europäischen Aufklärung erhebliche Unterschiede auf. Eine atheZur ambivalenten Haltung der Deutschen gegenüber dem Orient, zwischen Faszination und Verachtung, siehe Croitoru (2018).

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istische französische Variante verhält sich diametral zur protestantischen von Deutschland her inspirierten Gestalt. 21 Und rationalistische, empiristische und transzendentalphilosophische Verfahren haben nicht zu jener einen Methode gefunden, die dem Zeitgeist geschuldeten Vorurteilen jeweils sicheres Wissen entgegensetzen ließe. Es blieb folglich stets beim wechselseitigen Verdacht, ein von Anderen geglaubtes Wissen sei bloßes Meinen. Hält man an einem moralisch konnotierten Begriff fest, der mit Aufklärung etwas Vorzugswürdiges meint, so lässt sich allenfalls eine kulturelle Gestalt dieses besonderen Meinens als eine Haltung beschreiben, die die genannte Problematik zum Ausdruck bringt. Kant mag als Repräsentant der von Luhmann so genannten Übergangsgesellschaft bezeichnet werden, da er sich um eine Sprache und Ausdrucksform für genau dieses Problembewusstsein einer vom Verdacht geleiteten wechselseitigen Zuschreibung bemüht. In der Kritik der reinen Vernunft heißt es, ein den Bereich empirisch erfahrbarer Dinge transzendierendes Wissen heiße schlicht Glaube. 22 Der weltgesellschaftliche Konnex lenkt den Blick auf weitere Gestaltungen aufklärerischen Denkens über die engen historischen und geographischen Grenzen hinaus, zunächst auf ottonische und karolingische Variante aufklärerischer Rückbesinnung auf antike Wurzeln. Im dreizehnten Jahrhundert versuchen Templer die Vereinbarkeit von Vernünftigkeit und irdischer Glückseligkeit aufzuzeigen. Schließlich werden die kritischen Einwände der Renaissance gegen ein dogmatisch verengtes christlich-scholastisches Denken als Aufklärung verbucht. 23 In der islamischen Welt verteidigen die Philosophen Nasr al-Farabi, Avicenna und Averroes die Selbstständigkeit der Vernunft. Abu Hamid al-Ghazali zweifelt die geltende als gültige Vernunft an. Abu Bakr ar-Razi tritt für eine vernunftgemäße Religion ein und der politische Denker der osmanischen Zeit Hasan Kafi al-Aqhisari steht für Herrschaftskritik. 24 Angesichts der zunehmenBahnbrechend war in Frankreich der »Traktat über die drei Betrüger« Moses, Jesus und Mohammed (Schröder 1992). 22 Näher zum Vergleich der transzendentalphilosophischen und systemtheoretischen Verhältnisbestimmung von Wissen und Glauben Brücher (2017, 88–134). Nach Volker Gerhardt (2016) ist der Glaube, weil eine Einstellung zum Wissen, irreversibel; er zeigt sich als epistemischer, szientistischer, moralischer, humanitärer oder religiöser Glaube. 23 Zu den Anfängen der Aufklärung im Mittelalter siehe Flasch/Jeck (1997). 24 Die Entwürfe verstehen sich als Rezeption der antiken Wissenschaften. Siehe Ru21

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den Bedeutung, die nicht-westlichen Philosophien in der globalen Netzkommunikation zukommt, 25 bleiben historische Erinnerungsmarken einer ursprünglichen Koinzidenz von unschätzbarem Gewinn für den Weltfrieden. Die gemeinsame Klammer dieser westöstlichen Aufklärungsbemühungen aber bleibt Platon, dessen Präsenz und Aktualität selbst in der europäischen Aufklärung Moses Mendelsohns (1767) Neufassung des Phaidon bezeugt. Auch die moderne, von der Kritischen Theorie ausgehende Dialektik der Aufklärung (Horkheimer, Adorno 1969) ebenso wie das gleichsinnige von der Systemtheorie formulierte Erkenntnisprogramm einer soziologischen Abklärung der Aufklärung (Luhmann 1970, 66–91) schreiben das Projekt der Freilegung verschütteter Fundamente fort: 26 Diese betreffen den einzelnen verletzlichen Menschen. Was der fundamentalkritischen Zurückweisung von ideologieträchtigen Menschen- und Weltbildern vorschwebt, ist letztlich von einer Ethik inspiriert, die wie die ungeschriebene Lehre Platons den Verzicht auf eben solche Bilder aus dem Grund fordert, weil bereits die begrifflich-theoretische Fassung den Einzelnen aus dem Blick geraten lässt. Die Alternative einer nichtdarstellenden Darstellung und einer nicht-begrifflichen Ausdrucksform lautet bei Platon: Esoterik im Sinne einer strikten Beschränkung auf mündliche Vermittlung und dialektische Erwägungskunst im Diskurs der Akademie. Das dazu erforderliche Raum-Zeit-Management geht jedoch im Zuge der Christianisierung mit den neuplatonischen Versuchen einer breitenwirksamen Vermittlung der neuen Lehre verloren. An die Stelle des Dialogs tritt die Unterweisung von der Kanzel aus. Die Vernunft wandert ab in jene exoterischen Schriften der christlichen Philosophie, die als Kirchenväter den Anspruch geltend machen, den Sinn der Überlieferung beider Traditionslinien, der jüdischen und der griedolph (2013). Analog den christlichen, waren die islamischen Aufklärungsetappen Rückbesinnung von religionsgeprägten Disziplinen – Recht, Theologie und Exegese – auf die antike Tradition. Nach S. Friederich Starr (2013) lag vor 1000 Jahren das Zentrum der Aufklärung in Zentralasien. 25 Zur Aktualität der islamisch-arabischen Philosophie siehe Geert Hendrich (2011). 26 Arbogast Schmitt (2008, 66–69) weist darauf hin, dass im Falle von Renaissance und europäischer Aufklärung bloß eine Rückbesinnung auf die hellenistische Epoche die öffentlichkeitswirksamen Diskurse bestimme und die Kontinuität des platonischaristotelischen Denkens durch das gesamte okzidentale und orientalische Mittelalter hindurch, bis heute unterschlagen werde.

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chisch-römischen Antike, aufbewahrt zu haben. Nun heißt es, nicht Verschriftlichung als solche vergewaltige den Einzelnen, zwinge ihn in ein begrifflich-theoretisches Korsett. Dies gilt von nun an nur noch für eine ketzerische Auslegung der alten Texte, die den ursprünglichen Sinn verfehlen. Nachdem beide Medien, Sprache und Schrift, qua Exegese der heiligen Schriften, per definitionem im Dienst des Einzelnen stehen, entfällt die ethisch relevante Differenz von Esoterik und Exoterik. Wer jetzt noch auf der Differenz beharrt und das bedeutet, ganz andere und neue Lesarten vorschlägt, der verrät, dass es dem Widersprechenden nicht um jeden Einzelnen, sondern ausschließlich um Profilierung der eigenen Person geht, die sich mittels Abweichung Gehör zu verschaffen sucht. Esoterik wird in der Folge diesen Sinn des Okkultismus, der geheimen Praktiken gepflegter Differenz interpretatorischer und ritueller Art bis in die Aufklärung beibehalten. Diese verfällt mitunter ins Gegenteil einer positiven Bewertung esoterischer Bewegungen als erwünschte Traditionsbrüche. 27 Der ursprünglich gemeinte Sinn einer kulturellen Form, die dem Einzelnen gerecht wird, geht jetzt auf den Kollektivsingular des Subjekts über. Als säkularisierter Formgebrauch projiziert das Subjekt die Idee einer sich selbst zugrundeliegenden göttlichen Vernunft nur auf den Menschen und überlässt die Belange des konkret Einzelnen wieder der Willkür der Interpreten. Um dieser zu entkommen und dem Einzelnen Gehör zu verschaffen, bleibt am Ende einer zweihundertjährigen liberalistisch-sozialistischen Schuldzuweisung nur die radikale Abwendung vom modernen Ursprungsprojekt der Subjektkonzeption des Menschen und schließlich die Ablehnung aller Formen humanistischer Indienstnahme des Einzelnen für konzeptionelle Zwecke. Die daraus erwachsene Postmodernediskussion hat die Menschen- und Weltbildproduktion zunächst atomisiert und dann pulverisiert. Aus rivalisierenden relativ homogenherkunftsbedingten Bildern sind an Life-Style und Milieus orientierte Identitätskonstrukte geworden.

In der rationalen Befassung mit den Träumen des Geistersehers Swedenborg verwirft Kant (2013) diesen Trend als Zeichen der Vernunftverweigerung, ohne ins Gegenteil vernunftgläubiger Leugnung übersinnlicher Fähigkeiten zu verfallen. Noch Georg Simmel (2005, 274–283) berichtet im 19. Jh. von einem Spiritismus-Boom in Europa und den USA mit vielfältigen Formen der Geisterbeschwörung und -befragung.

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News und Fake-News

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News und Fake-News

Werte oder Paradoxien Heute lassen sich alle Denkbewegungen mühelos jenem kulturwissenschaftlichen Bias zuordnen, in dem sich kulturkämpferisches ebenso wie kulturfolkloristisches Mit- und Gegeneinander bündeln. Alles erscheint plötzlich im Lichte der Kultur, sodass sich wohl sagen lässt, an der Frage der Leitkultur entscheide sich in der Weltgesellschaft sein oder nicht sein, wie im Mittelalter an der Frage der Religion. Im heutigen Fall geht es um den way of life, damals um die Wege zur Erringung des Seelenheils. Aufgrund dieser zentralen Bedeutung können ethisch relevante Theorien nicht abseitsstehen. Aber sie müssen vermeiden, sich allzu sehr in die Nähe jener Renaissance kulturwissenschaftlicher Strömungen des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts zu begeben, die im neukantianischen Bemühen um eine Konkretisierung des Transzendentalen die Differenz zum Empirischen unkenntlich gemacht und damit Hand an die Formlogik selbst gelegt haben. Bis in die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts markiert Kultur die konkreten Bedingungen möglichen Erkennens von Geschichte und Philosophie (Georg Simmel, Ernst Cassirer), von Soziologie (Max Weber) oder von Kunst (Aby Warburg). Luhmann geht es um eben diese Logik und mithin nicht um die schlichte Fortsetzung nachmetaphysischen Denkens, sondern um die Suche nach funktional äquivalenten Ausdrucksformen für das, was Kant mit der Unterscheidung von empirisch und transzendental zu fassen sucht. Nicht um Rettung des Transzendentalismus soll es im systemtheoretischen Setting gehen, sondern um die Wiederaufrichtung einer unkenntlich gewordenen, verschütteten Formlogik. Diese Logik war dadurch ruiniert, dass die vermittelnde Figur des Begründens die Form (empirisch/transzendental) auf das Medium (Diskurs) reduziert hatte. Indem nunmehr Reduktion an die Stelle der Vermittlung getreten war, blieb das kardinale Probleme der Paradoxie unbegründbaren Begründens der Sicht entzogen. Der Bodenlosigkeit des Begründens ließ sich nur noch mit Hilfe von Ausscheidungskämpfen und mithin politisch beikommen. 28 Luhmann sieht im Begriff der

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Indem das Bewusstsein für Paradoxien durch Werte ersetzt wurde, ließ sich die

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Konditionierung eine vermittelnde Figur, die nicht reduktionistisch verfährt und insofern nicht dazu zwingt, die Paradoxie zu ignorieren. Konditionierungen aber sind nicht mehr Sache einer auf SollensPrinzipien fokussierten Ethik, sondern fallen eher in den Bereich der Kultur oder der Kultiviertheit. Sie erinnern an vormoderne Tugendethiken, die Haltungen der Distanz, des Verzichts und der Askese nahelegen. Zugleich lassen sie an eine Art der Kalkulierung anschließen, wie sie Kant mit dem Kategorischen Imperativ vorgestellt hatte, und dies ist heute der Anknüpfungspunkt für die Suche nach zeitgerechten Reformulierungen. Dem ungeachtet hat sich ein begründungstheoretisch fundierter, fest im Denken von Ausscheidungskämpfen verankerter Begriff der Kultur durchgesetzt, der nach und nach dem Begriff der Gesellschaft den theorieleitenden Rang streitig macht. 29 Um die Möglichkeitsbedingungen der Einzeldisziplinen benennen und schließlich verändern zu können, richtet sich der Fokus nicht mehr auf die Hochkulturen. Was in den Vordergrund rückt, sind all jene alltagskulturellen Verrichtungen, in denen Echtes und Unverfälschtes auch, und schließlich vornehmlich der unteren Gesellschaftsschichten, in Pop, Rock und Punk gesucht wird. Der Hinweis, alles sei gesellschaftlich konstruiert, sieht sich durch den Zusatz kultureller Formung und Gestaltung um eine ästhetisch-moralische vergleichende Perspektive erweitert. 30 Damit sieht sich der Gegenwert, der Antipode ausgewechselt: Der Kampf gilt weniger dem, was angeblich vorgegeben-tradiertnatürlich und darin in seinem Dasein anerkannt werden muss; er gilt dem Fremdkulturellen nicht Akkulturationsfähigen. Und dies kann gewissermaßen alles sein, ein mit Islamismus identifizierter Islam, aber auch das Beharren auf der je eigenen kulturellen Identität. Dem sozialkonstruktivistischen Gegenwartsbewusstsein geht es immer um den Nachweis bislang verkannter oder unterschätzter Modulier-

Differenz zwischen diskursiven und gewaltsamen Problemlösungen nicht mehr aufrechterhalten. Dies lässt sich an der Semantik des Friedens zeigen (Brücher 2002). 29 Die soziologische Systemtheorie steuert dem entgegen: »Wenn keine Kultur frei ist vom kolonialen Sinn der asymmetrischen Wertung, braucht man Möglichkeiten, der Abwertung fremder Kulturen durch Politik, Wirtschaft, Religion und Wissenschaft mit einer Aufwertung des Eigensinns dieser Kulturen entgegenzutreten.« (Baecker 2003, 8). 30 Zur subsumptiven Perspektive eines regelrechten »Cultural Turn« siehe die Einführung in die Kulturwissenschaften von Bachmann-Medick (2006).

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barkeit. Kultur- transformieren sich in Machtfragen und verschmelzen mit politischen Themen. Der allabendliche TV-Kulturreport berichtet von Aufstandsbewegungen, von regimekritischen Events im In- und Ausland, von Skandalisierungen weltweiter Missstände, von Gewaltausbrüchen und Katastrophen. 31 Aufgrund dieser dem Phänomen selbst eingeschriebenen Tendenz zur Subsumption moralischer unter Fragestellungen ästhetischer und somit veränderbarer Natur, findet man bei Kant (1803) in seiner Abhandlung über Pädagogik, aber auch bei Luhmann (1995a, 31–54) jene Skepsis, die immer zugleich Distanz empfiehlt. Kant setzt der bloß kultivierten Artigkeit die Moralität gegenüber, Luhmann ein Kontingenzbewusstsein, das dem Zurschaustellen von Wissen und Bildung Zügel anlegt. Solche Skepsis kann freilich zu weit getrieben werden, so im Falle der historisch-materialistischen Sicht auf eine im Kulturellen bloß scheinhafte Wirklichkeit, der ein wahres Sein werktätiger Massen gegenübergestellt werden müsse. Andererseits bringt diese vereinfachte Sicht die Logik eines von Kulturzerstörung begleiteten gesellschaftlichen Wandels auf den Begriff, die im Ästhetischwerden des Moralischen immer auch eine Entfernung von der hart erarbeiteten und nur im Hässlichen wahren Wirklichkeit vermutet. Das Schöne ist das Beschönigte und das Hässliche ist das Ehrliche und Authentische, was sich allerdings wieder in dem Moment ins Gegenteil zu verkehren droht, wo dies Faktum nach einer darstellerischen Form verlangt. 32 Der sozialistische Realismus hatte jedoch nur etwas in einer besonders simplen und damit in ihrer Logik leichter zu durchschauenden Botschaft auszudrücken versucht, was mindestens seit Descartes und Hobbes die Moderne in ihrem besonderen Verhältnis zur Kultur ausmacht. Der entlarvende Blick der inkongruenten Perspektive imaginiert hinter der Harmonie, dem Gleichgewicht und dem Eingängigen das unschöne Gesicht wahrer Disharmonie, eigentlichen Ungleichgewichts und verstörend-irritierender Widersprüche. Wahre Wirklichkeit zeigt sich im Irrtum und in der Gewalt unverfälscht. Der irritierende Blick wird zum Markenzeichen einer modernen Victoria Ivanova (»Unterbrochene Vermittlungen«, in: Avanessian/Malik 2016, 81–94, 86) führt die zunehmende Absorption von Moralthemen durch den Kunstmarkt auf die Notwendigkeit darstellerischer Mittel zurück, ein »universelles Subjekt zu setzen«. 32 Die Logik dieser Umkehrfunktion zeigt sich in den Beiträgen des Themenheftes »Ästhetik im Konflikt« von Wissenschaft und Frieden (W&F), 4/2019. 31

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Kultur, die im Postmodernen ihre Steigerung und Verabsolutierung erfährt. 33 Dieser irritierende Blick, der zu sehen vorgibt, was andere nicht sehen, treibt zur Konfusion von News und Fake-News, sobald sich das Zeitmanagement von der gegenwärtigen Zukunft auf die Vorwegnahme der zukünftigen Gegenwart verlagert. Diese Verlagerung steht ihrerseits in Verbindung mit der schwindenden Autorität der modernen Funktionseliten in Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Recht, Erziehungs- und Gesundheitssystem als allgemein anerkannte Seher von Verborgenem. Wenn aber alle Welt weiß, dass der Schein trügt, aber das hinter dem Schein allein dem Kundigen aufleuchtende Wahre nicht mehr durch eine Rekonstruktion psycho- und soziohistorischer Befunde zu ermitteln ist, dann kommt es zum massenweisen Abfall vom Glauben an die Dignität datengestützter Fakten. Als Glaubenskrise greift dieser korrosive Prozess um sich und rührt an Erwartungssicherheiten in allen Bereichen des sozialen Lebens. Der enttabuisierte Begriff der Tatsache nimmt dem neuzeitlichen am Machen orientierten Realitätsverständnis seine Primärevidenz. Übernimmt die künstliche Intelligenz digitaler Medien die Aufgabe des Faktenchecks, so kann die menschliche Intelligenz einen Schritt weitergehen. Der Blick wendet sich vom Vergangenen, das erst nach dessen Aufarbeitung erfolgreich abgelehnt werden kann, auf das Zukünftige, an dem der Imperativ der Abolition abprallt, weil von ihm in Wahrheit niemand wissen kann und an dessen Neugestaltung sich deshalb idealiter alle beteiligen können. 34 Aus einer vorweggenommenen Zukunft ermittelte News sind sachlich-logisch betrachtet Fake News. Das gilt jedoch nicht für die sozial-moralische Perspektive, die auf eine Zweitcodierung von Wahrhaftigkeit und Verlogenheit zurückgreifen kann, und es gilt nicht für die zeitlichontologische Sichtweise, die vorhergesagte Zukunft mittels künstlich intelligenter Innovationsprojekte Gegenwart werden lässt. Im sozialen Fall beruht die Nicht-Identität von News und Fake-Fake-News auf Unterstellungen, Misstrauen, übler Nachrede, Feindbildung. Im temporalen Fall beruht sie auf einer unbegrenzten Machtfülle, der Sloterdijk (2002, 47 ff.) bezeichnet in diesem Sinne den Terrorismus als Explikationismus: Die nackte Realität der Verletzlichkeit sieht sich hier enthüllt. 34 Nach Baecker (2018, 86 ff.) wird die »unbekannte Zukunft« zum entscheidenden Faktor der Integration einer Netzwerkgesellschaft, im Gegensatz zur gemeinsamen Aufarbeitung von »Geschichte« (unter dem Aspekt von Dekadenz oder Fortschritt) der modernen durch Funktionssysteme strukturierten Gesellschaft. 33

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weder Logik noch Moral etwas anhaben können, weil das antizipierte Wahre schnell gemacht und folglich zur Tatsache geworden ist. Die gegenwärtige Gegenwart, der Augenblick, wird folglich als Standort und Ausgangspunkt von Projekten der Gestaltung einer besseren Zukunft entwertet. Was jetzt tatsächlich geschieht und folglich als Faktum informieren und in die Form von News gebracht werden kann, tritt in seiner Bedeutung zurück gegenüber dem, was geschehen könnte und aller Wahrscheinlichkeit nach geschieht, weil elektronische Datensammlungen und Prognosetechniken dies nahelegen. Sich schon heute auf ein Geschehen einzustellen, welches Hochrechnungen eruiert haben, gilt nun als vernünftiger und realistischer. Präemptive News sind in Wahrheit Fake-News, denn sie bestehen nicht den empirischen Test, der ermitteln lässt, ob etwas der Fall ist oder nicht. 35 Das präemptive Zeitmanagement verursacht folglich logische und ontologische Irritationen, die im Falle sicherheitspolitischer Risikovorsorge zur Umorientierung von Worst-Case-Szenarien zu Best-Case-Szenarien früher Gewinne durch Präemptivkriegsführung rät. Die Frage stellt sich im Anschluss an zeitdiagnostische Beobachtungen dieser Art, ob sich hier ein Trend abzeichnet, der sich zusammen mit einer voll verwirklichten funktional differenzierten Weltgesellschaft gleichsam wie von selbst einstellt? Für die Wissenschaft würde dies bedeuten, dass deren globalisierte, nicht länger funktional, sondern netzwerkartig strukturierte Gestalt verlangt, sich in ihrem Selbstverständnis von einer Fixierung auf empirisch validierbare Analysen zu distanzieren und offen zu sein für Formen der Partizipation von nicht-westlichen Wissenskulturen.

Autopoiesis und Allopoiesis Was aber bedeutet eine solcherart radikale Konklusion, die annehmen lässt, dass ein Diskurs über Wahrheiten und Werte im netzstruktuDiskutiert wird innerhalb des Rechtssystems die Umorientierung von der Repression (Strafe für Vergangenes) zur Prävention (Freiheitsentzug für ›Gefährder‹), bezüglich des Grundrechtsverständnisses des Bundesverfassungsgerichts die Vorverlagerung der Strafbarkeit von der Verfolgung konkreter Straftaten auf die Verfolgung von Einstellungen, die auf eine Aberkennung des Menschenrechts auf gleiche Freiheit hindeuten. Zum Irrationalismus der Entdifferenzierung von präventiver und repressiver Ermittlungstätigkeit siehe Thomas Fischer (2018).

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rellen Zusammenhang aufgerieben würde? Verlieren einander ausschließende globalistisch-liberalistische und kommunitaristischidentitär-kulturelle Ideologien ihren Orientierungswert? Das mag sein, aber es würden funktional äquivalente neue Dichotomien an ihre Stelle treten. Denn diese Perspektivenverengung auf die Alternative Einheit oder Differenz reicht als kulturtreibendes Movens bis in die Anfänge der Menschheitsgeschichte zurück. Funde aus einem Zeitraum vor dreihunderttausend Jahren sind die frühesten Kulturzeugnisse spezifischer Bestattungsriten, die auf ein Differenzbewusstsein hinweisen. 36 Die besondere Lagerung der Toten und allgemein die Totenbehandlung, setzt ein »differenzierendes und analysierendes Denken voraus« (Müller-Karpe 1974, 248). Vor dem Hintergrund späterer und besser erforschter Epochen unschwer zu deutende Beigaben mit Gesten der Verehrung, zeigen sich als Ausdruck eines Sinnerlebens. Einmal entstanden, scheint dieses Erleben immer differenziertere künstlerisch ausgestaltete Artefakte hervorzubringen. Der Tod wird im Horizont des Lebens, die Krankheit vor dem Hintergrund der Gesundheit, das Akzeptierte als Gegensatz zum Abgelehnten so intensiv bemerkt, dass es nach einem Ausdruck, einer darstellerischen Geste verlangt. Die ersten Zeugnisse vom Homo sapiens als kulturschaffenden Wesen sind formlogisch betrachtet dem weiten Begriff des Religiösen zuzuordnen. 37 Nicht nur formlogisch, sondern auch prähistorisch betrachtet, sind künstlerische Darstellungen von Alltagsszenen, wie Jagdgesellschaften, die Darstellung erlegter Tiere, rezenteren Datums. Erst zehntausend Jahre alt aber sind Kulturzeugnisse von Ackerbau und Viehzucht und damit offensichtlich verknüpft, die Darstellung kriegerischer Szenen, die erstmals Kämpfe zwischen Menschen zeigen. Da alle Menschen genealogisch auf die ersten Homo sapiens 36 Zu den Grundzügen früher Menschheitsgeschichte, der Entdeckung des Jenseits durch den Neandertaler, der Entstehung des homo sapiens und mithin des modernen Menschen, Datierung der Anfänge von Kunst und Religion im Paläolithikum, siehe Müller-Karpe (1998, Bd. I-V, Bd. I, 7); Parzinger (2015). Der von Hobbes, später von Rousseau prominent gemachte Vergleich des Urmenschen mit heutigen sog. ›Naturvölkern‹ (wild, bar jeder Kultur, in ständigem Kampf aller gegen alle) hält historischer Forschung nicht stand. 37 Nach Luhmann (2000, 53) involviert jeder Formgebrauch Religion, weil jede Operation des Unterscheidens den Beobachter und die Welt als unmarked state zurücklässt. Die außerordentliche Bedeutung der »frühen Religionen« (Müller-Karpe 2005; 2008) für die Kulturentwicklung verweist auf einen formlogischen Deutungskontext.

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zurückgehen und alle Kulturen ihre Anfänge reproduzieren, macht es durchaus Sinn, die Besonderheit eines systemtheoretischen Beitrags an der Vehemenz zu erkennen, mit der immer wieder der Blick auf die formlogische Differenz gerichtet wird. Es geht um die Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz, beim Thema Kultur in besonderer Weise um Autopoiesis (rekursiv) und Allopoiesis (linear): Die Menschen werden ihrer Abhängigkeit von einem ihrer Verfügung entzogenen Zusammenhang gewahr und ersinnen vergegenwärtigende Figuren, die Umgangsweisen mit der paradoxen Einheit von Leben und Tod, von Gesundheit und Krankheit, von Abhängigkeit und Unabhängigkeit erlauben. Immer handelt es sich um das Zugleich zweier Seiten einer Unterscheidung und dem einen Unterschied, der bemerkt wird, der erschreckt und nach Formen der Aneignung verlangt. Nicht das Sterben an sich, nicht Naturkatastrophen oder Krankheiten verunsichern von Grund auf, begleiten dieselben Mensch und Tier doch seit jeher. Allein das Differenzbewusstsein wirft aus der Bahn und zwingt zur Suche nach Modalitäten der Entparadoxierung. Der Umgang mit weniger erschreckenden Differenzen werden dann nicht mehr unter dem spezifischen Begriff der Religion, sondern unter dem weiteren, umfassenderen Begriff der Kultur gefasst. Für die zunehmend in Kulturstreitigkeiten verstrickte Weltgesellschaft geht es nur noch um die Frage, wie dieser gemeinsame Bodensatz aller Kulturen und Religionen zu versprachlichen ist und wie mit der Ausdifferenzierung und mit vermeintlich widersprüchlichen Sinnstrukturen umgegangen werden soll. Dieser Rückgang auf Anfänge ist nicht nur im Hinblick auf erste Manifestationen kulturfundierenden Differenzbewusstseins aufschlussreich, zeigt sich dieses Bewusstsein hier doch in seiner einfachsten und somit signifikantesten Gestalt. Formlogische Einfachheit und Klarheit findet man auch an der Stelle, wo sich die Sprache zu verschriftlichen beginnt. Denn sobald Texte verfügbar sind, potenzieren und verfestigen sich Fehl- und Missverständnisse. Platon, der an der Schwelle zwischen mündlicher und schriftlicher Kulturvermittlung lehrt, warnt vor dieser formspezifischen Gefahr in der Akademie (Szlezák 1985). Bei Platon wird sich die gesuchte Formlogik am präzisesten aus genau diesem Grund beschreiben lassen, weil hier noch jenes Bewusstsein für die Ursprünge zukünftiger Kulturstreitigkeiten vorhanden ist, das heute nahezu verschüttet zu sein scheint. Nicht ideengeschichtliche Kontroversen sollen hier aufgegriffen und fortgeschrieben werden. Vielmehr stößt die Suche nach funk45 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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tional äquivalenten formlogischen Figuren auf diese Anfänge, die nicht nur die okzidentalen Semantiken bestimmen, sondern auch für die orientalische Tradition von prägender Bedeutung sind. Dabei kann die zeitgenössisch-systemtheoretische Fassung des Problems eine Brückenfunktion übernehmen, da hier eine Formensprache entwickelt worden ist, die funktional äquivalente Problembeschreibungen räumlich und zeitlich weit auseinanderliegender Kulturen sichtbar werden lassen. Systemtheoretisch gesehen geht es bei der formlogischen Differenz um den genannten Gegensatz von Autopoiesis und Allopoesis. 38 Die Moderne wählt gegenüber der vormodernen Betonung der Selbstreferenz, der Selbstfundierung kosmischer Abläufe die entgegengesetzte Präferenz für das Gemacht-Veränderliche und mithin das Fremdreferenzielle. Das Gemachte tritt dem nur mäßig oder gar nicht modulierbaren Gewachsenen entgegen und beginnt dasselbe nach und nach zu entwerten. 39 Das Schicksal wird entmachtet, in die eigene Hand genommen. Mit zunehmender Komplexität und Vernetzungsdichte rückt der Präferenzcode jedoch gleichsam von selbst wieder auf die andere Seite der selbstregelnden, sich selbst hervorbringenden, lernenden Systeme. Luhmann (1984, 43) hat den innerhalb der Biologie entwickelten Begriff der Autopoiesis zu einem Sinn- und Nicht-Sinnsysteme übergreifenden Konzept ausgearbeitet: Als Elemente gelten jetzt »nur Elemente für ein System« und nicht für etwas außerhalb, eine Umwelt. Dies Übergreifende manövriert die Gesellschaft auf einem gewissen Entwicklungsstand technologischer Selbstperfektionierung Künstlicher Intelligenz in Schwierigkeiten. Es begegnet dem Einzelnen als ein dem Werden und Vergehen übereignetes eigendynamisch gewordenes Ganzes, etwas gewachsen Gemachtes oder gemacht Gewachsenes: Autopoiesis kondensiert mit Allopoiesis.

Der Sinn dieser Unterscheidung findet sich in immer wieder neuen Formeln. Für die modernen Naturwissenschaften wird die Differenz einer platonisch-mathematischen und einer demokritisch-empirischen bestimmend, die nach Pauli (1996, 323) ihr Pendant in der mittelalterlichen Unterscheidung von platonischer und alchimistischer (oder hermetischer) Unterscheidung hat. 39 Dies führt im Falle von Einwänden gegen Experimente und Manipulationen am menschlichen Embryo, einer vollkommenen Liberalisierung der Eugenik in argumentative Schwierigkeiten, wenn an einem handlungs- und diskurstheoretischen Ansatz festgehalten werden soll. Typisch dazu Habermas (2005). 38

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Das Phänomen als solches, die selbstreferenzielle Reproduktion der Bildung eines Selbst aus Elementen, die selbst hervorgebracht worden sind, ist ein altes, wiederkehrendes Motiv. Aber die Formen der Veranschaulichung wandeln sich. Was sich durch die Zeiten hindurch ändert, ist die Lokalisierung der selbstreferenziellen Reproduktion in der Weltseele (Platon), 40 in Gott (Plotin), im Subjekt (Kant). Heute ist der Computer ein Kandidat für die mögliche Verortung. Da die charakteristischen Merkmale der ersten drei Chiffren Ununterscheidbarkeit, Unkalkulierbarkeit, Unbeeinflussbarkeit und Steuerungsresistenz sind, stellt die neue KI-Chiffrierung vor besondere Probleme. 41 Denn Denken und Anschauung beginnen zu implodieren und werden als erkenntnisleitendes Schema unbrauchbar. Aber sind die Chiffren wirklich so weit voneinander entfernt? Da das Innen/Außen-Schema im Falle der selbstreferenziellen Reproduktion nicht greift, ist auch die Frage irrelevant, ob es sich um einen der Welt zuzurechnenden bloß erlebbaren, oder um einen Gegenstand handelt, der einem Akteur zuzurechnen und insofern Produkt von Handeln ist. Die Unterscheidung von gemacht und gewachsen zeigt sich spätestens seit der Entwicklung von selbstreplizierenden computerisierten Systemen als falsche Fährte. Sie setzt die regionalontologisch verstandene Unterscheidung von Innen (erkennendes Subjekt) und Außen (erkanntes Objekt) voraus. Wenn die Weltseele Platons insofern ebenso innen wie außen ist, als alles Beseelte – im altgriechischen Verständnis das Prinzip der Bewegung schlechthin – als Teil der Weltseele verstanden wird, so sind die mythologischen Vergegenständlichungen dieser Weltseele zugleich bloßes Konstrukt und also Gemachtes. Sie sind aber auch Vorgegebenes, Gewachsenes und in allem Lebendigen anwesend. 42 Dasselbe gilt für die christliche, die Innen-Außen-Differenz transAuch hier kondensiert Autopoiesis mit Allopoiesis. Emanation und Reabsorption ereignet sich in allem Bewegenden-Bewegten. Die Einzelseelen (das Einzelbewegte) partizipieren an der Weltseele (das Allesbewegende), so Platon (Timaios in: Werke 41d-42d). Sofern das, was der Handwerker hervorbringt, gut ist und d. h. dem Menschen zugutekommt, brauchbar ist, handelt es sich um die Reproduktion der Idee des Hervorgebrachten (z. B. des Bettes, das seine Funktion erfüllt). 41 In der Politeia (509d – 511e) werden von Platon diese Attribute des idealen Gegenstandes der Mathematik am Dreieck verständlich gemacht: Die umgrenzende Linie lässt sich, weil eindimensional, nicht darstellen, sondern muss die Form einer Fläche – eines sichtbaren Strichs – annehmen. 42 Nach Michael Bordt (2006, 242) sind die beiden metaphysischen Prinzipien Platons, der nous (das Erkennende) und die Idee des Guten (das Erkannte) zwei Aspekte 40

47 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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zendierende Gottesfigur. Und dasselbe gilt wieder für den kantischen Begriff des Subjekts, der als Transzendentales dem Menschen vorgegeben und somit äußerlich ist, als Empirisches jedoch beeinflussbar, sichtbar und verfügbar erscheint. Da der Mensch und zwar jeder Einzelne zugleich empirisches und transzendentales Subjekt ist, kann er nur als paradoxe Einheit der Differenz von transparent und intransparent recht verstanden sein. Diese Paradoxie weicht einem theopoetischen Einheitsbegriff zugleich göttlicher und menschlicher Zurechnung in heute hochaktuellen Konzepten des Neomythos, der wissenschaftliches und mythisch-religiöses Denken in eins setzt und menschliche Endlichkeit negiert. Hier geht es darum, den Gott-Menschen wissenschaftlich zu machen. 43 Autopoesis wird durch die Allopoiesis des Menschen verdrängt und damit alles Unheimliche von totaler Machbarkeit abgelöst. Was verändert sich aber, wenn dieses Prinzip der Autopoiesis, der selbstreferenziellen Reproduktion, weder auf einen leeren Signifikanten (Gott) noch auf einen seine Endlichkeit bestreitenden Gott-Menschen, sondern auf eine Maschine projiziert wird, beziehungsweise, wenn eine Maschine vom Menschen geschaffen worden ist, die nach diesem Prinzip der Selbstreplikation nachweisbar – weil von Fachleuten gebaut – funktioniert? Handelt es sich dabei um etwas ganz Anderes, etwas Drittes, das die Begriffe des Autopoietischen und des Allopoietischen transzendiert? Diese Frage lässt sich möglicherweise verneinen, da bislang nicht sicher ist, ob der Mensch als Kulturwesen oder doch besser als Naturwesen beschrieben werden kann. Diese Kontroverse zieht sich seit der Antike durch die gesamte Menschheitsgeschichte, beginnend im 5. Jh. v. Chr. mit Platon als Vertreter der differenziellen Genesis einer Zäsur und Lukrez’ De rerum natura V 931, der »die Anfänge der Menschheit als tierähnlich, roh und bar jeder Sitte und Moral darstellt.« (Müller-Karpe 1974, 13). Heute zeigt die Soziobiologie immer mehr Ähnlichkeiten zwischen

derselben Realität. Beide sind Ursache einer Struktur und Ursache des bestmöglichen Zustandes als Prinzip der vernünftig-guten Bewegung (Seele). 43 Zu neumythischen Strömungen siehe die Bände von Linus Hauser; der 1. Band (2004) befasst sich mit Mesmerismus, Spiritismus, Theosophie, Ariosophie, Astrologie und Welteislehre in der Zeit vom 18. Jh. bis 1945, der 2. Band (2018) mit Sciencefiction und Organisationen wie Jungdeutschem Orden, Scientology, Church of All Worlds, Cthulhukulte, ab 1945, der 3. Band (2016) mit szientistischer Esoterik in der gegenwärtigen Wissenschaftselite, die eugenische und totalitäre Fantasien beinhaltet.

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menschlichem und tierischem Sozialverhalten und mehr noch all dem auf, was unter Moral subsummiert wird. Aus diesem Grund dürfte sich Menschsein quer zur Unterscheidung von Gemachtem und Gewachsenem realisieren. 44 Auch der Computer ist nur in dem, was durch technische Bauteile erstellt worden ist, ein gemachtes Produkt, aber nicht in seinen in Gang gesetzten selbstreplizierenden Operationen, nicht im Moment seiner Komplexität, der Vernetzungsdichte und -geschwindigkeit der Codes, sondern nur im Algorithmus, im zweiwertigen Code selbst. Das Beängstigende von selbstreplizierenden Systemen, etwa von Ziele erkennenden und schließlich definierenden Killerdrohnen, liegt ja nicht im Moment des Gemachten. Es verbirgt sich in der Autopoiesis, nicht in der Allopoesis. Was im Computerzeitalter demnach neu sein könnte, ist eine gewisse Unausweichlichkeit, mit der sich die Paradoxie der Allopoiesis als Autopoiesis und der Autopoiesis als Allopoiesis, in der sich der Demiurg als Konstrukt und als Konstrukteur offenbart. Während sich mythologische Konstrukte der veranschaulichenden Darstellung des Paradoxons im Begriff der Weltseele, der in Gleichnissen vermittelten biblischen Fassung eines im Relativen repräsentierten Absoluten oder im zugleich abstrakten und konkreten Begriff des Subjekts jeweils als gesellschaftlich konstruiertes Narrativ entlarven ließen, scheinen mit der Computerisierung alle Wege abgeschnitten, die es erlauben, dem Problem der Paradoxie auszuweichen. Die bloße Vermutung, Konstrukte wie die Weltseele, Gott oder Subjekt seien bloßes Produkt psychischer Bedürfnisse der Orientierung und Tröstung, war in der Lage, die hier zum Ausdruck gebrachte Formlogik zu übersehen. Der Computer strukturiert den Alltag nicht minder nachhaltig und unausweichlich wie alle kulturstiftenden Narrative es vermocht haben mögen. Jetzt könnte wieder neu und illusionslos mit Hilfe des systemtheoretischen Instrumentariums erinnert werden, was die Anfänge der ideengeschichtlichen Entwicklung in der platonischen Formlogik zum Ausdruck zu bringen versuchen. Die Relevanz einer vergleichenden Perspektive, die älteste und neueste Formlogik zusam-

44 Die Verunsicherung äußert sich heute in der Anthropozän-Idee als neuem Epochenbewusstsein, das den Menschen als Teil unkontrollierbarer Eigendynamik technisch produzierter Natur begreift, siehe Horn/Berghthaller (2019); Crutzen (2019).

49 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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menspannt, drängt sich im Zusammenhang mit dem aktuellen kulturkämpferischen christlich-moslemischen Schismas geradezu auf. 45

Zum kultursprengenden Bewusstsein von Paradoxien Was steht hinter dieser Koinzidenz von moralisch-religiösem und technologischem Skandalon? Es ist die genannte Entdifferenzierung von Allopoiesis und Autopoiesis, von Gemachtem und Gewachsenem, von Konstruiertem und Gewordenem, die offensichtlich auf einer bestimmten Entwicklungsstufe technischen Fortschritts beginnt, ein kulturstiftendes Bewusstsein von Werten in ein kultursprengendes Bewusstsein von Paradoxien zu transformieren. 46 Dies erschüttert die Grundfesten einer Logik, die sich ganz auf die Frage konzentriert hatte, ob etwas der Fall ist oder nicht. Dieses basale Interesse der Logik artikuliert sich konform dem Zeitgeist jeweils als Wahrheit, als Wahrheitsanaloges, als Kontingenzbewusstsein, oder als eine bloß noch in Gestalt struktureller Koppelung festzuhaltende materiale, in Strukturen sichtbare Wirklichkeit. 47 Das untrügliche Zeichen dieser Paradoxierung ist das Problem der Unterscheidungsresistenz von News und Fake-News. Nicht die Tatsache einer von Interessen diktierten fehlerhaften, gezielt wirklichkeitsverfälschenden Berichterstattung ist erstaunlich und womöglich noch nicht einmal deren Massierung in Krisen- und Umbruchszeiten. Bemerkenswert und womöglich Anzeichen für ein neues Problemverständnis ist die Aufmerksamkeit für das Faktum einer prekären, intransparenten Differenz zwischen der unschuldigen

Die Seele ist im Islam wie bei Platon und Aristoteles (2017) durch Selbstbewegung gekennzeichnet. Siehe die Studie von Nizar Samir Gara (2003, 231) zur Rezeption der Philosophie des Aristoteles im Islam am Beispiel der Rezeption der Seelenlehre des Aristoteles bei Ibn Sina (Avicenna), die Verbindungslinien gemeinsamer kultureller Wurzeln aufzeigt. 46 Aus euphorischen Transhumanisten, bei denen Science Fiktion und KünstlicheIntelligenz-Forschung ineinander übergehen, sind inzwischen vielfach neuhumanistische Posthumanisten geworden, die vor den unabsehbaren Folgen warnen. So zeichnet Nick Bostrom (2014) das Szenario einer kommenden Revolution, an deren Ende eine Weltordnung steht, die von einem, rücksichtslos eigene Selbstreplikationsinteressen verfolgenden, allmächtigen KI-Potentaten (Singleton) beherrscht wird. 47 Diesem Problem gehen die Beiträge in Soziale Systeme. Zeitschrift für Soziologische Theorie, Heft 2/Jg. 7. 2001 nach. 45

50 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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Information und deren verunstalteten, von Mitteilungsabsichten gezinkten Variante. Diese ist als Desinformation nur anerkannt, wenn sie den eigenen Absichten entgegensteht. An die Stelle entlarvender Ideologiekritik und Aufklärung tritt ein Bewusstsein für die paradoxe Einheit der Differenz von News und Fake-News als massenmedialer Effekt einer auf Information reduzierten Wirklichkeit. Indem konzediert wird, dass unser Wissen über die Wirklichkeit medial vermittelt ist, 48 scheinen tradierte Kontroversen zwischen idealistischer und materialistisch-naturalistischer Weltsicht, schließlich zwischen empiristischer und konstruktivistischer Betrachtung, obsolet. Das Informative ist das Wirkliche, weil es als Ausgangspunkt wirklichkeitsverändernden und -gestaltenden Handelns wirkt. Das homologe Argument lautet: Wenn Wirklichkeit jenseits von Information nicht als solche zu gelten hat, Information aber das Überraschungsmoment aus der Ereignisflut herausfiltert und in einen leicht fassbaren Zusammenhang bringt, so ist es die neue weil vereinfachte Sicht auf bisher wenig Neues, das News als Fake-News und vice versa ausweist. Aus der erkenntnistheoretischen These, die Wirklichkeit sei gesellschaftliche Konstruktion (Berger/Luckmann 1982) folgt jedoch erst dann die These, Theorien seien Verschwörungstheorien, wenn das Konstruieren einer bösen Absicht entspringt (Hepfer 2015, 24). In ihrer konfliktsystemischen Variante gehört das Unterstellen böser Absichten allerdings zur Logik kommunikativen Anschlussgeschehens: Nicht die wechselseitige Erwartungsunsicherheit bezüglich der wahren Absichten des Gegenübers strukturiert in diesem Fall die Interaktion, sondern die wechselseitige Sicherheit vom Anderen ausgehender Schädigungsabsichten. 49 Im Kontext konsolidierter Konfliktsysteme tritt die gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit als Verschwörungstheorie in Erscheinung. Strategien der Versicherheitlichung als zugleich kognitive, moralische und programmatische Reaktion auf globale störanfällige zivil-militärische Technologien kommen in konflikttheoretischen Abhandlungen keineswegs nur die

So Luhmann (1996, 9): »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir über die Massenmedien.« 49 Dies zeichnet Konflikte dann aus, wenn sie sich zu sozialen Systemen fortentwickeln: »Ego betrachtet (zunächst in Grenzen, dann allgemein) das, was Alter schadet, eben deshalb als eigenen Nutzen, weil er annimmt, daß Alter das, was Ego schadet, als eigenen Nutzen ansieht. Entsprechendes gilt für Alter.« (Luhmann 1984, 531). 48

51 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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Funktion der situationsangemessenen Institutionen- und Regimebildung zu. 50 Da ein Definitionsmerkmal böse Absichten nur als Unterstellung Bestand hat – bleibt das Selbst als Chiffre eines Selbstreferenzverhältnisses doch konstitutiv intransparent – ist das hinter der Konstruktion verborgene Faktische an die Frage ›Was können wir wissen‹ zurückverwiesen. In diesem Punkt hat Kant die moderne Semantik auf den Weg gebracht: In der Bestimmung der Vernunft als ihr eigener Gerichtshof, 51 geht es um die kritische Bestandsaufnahme dessen, was der Verstand dem Menschen als vernunftgemäße Meinung empfiehlt. Ohne im eigentlichen Sinne vernunftkritischer Selbstreflexion des Verstandes können dem Krieg der Meinungen keine logisch-erkenntnistheoretischen Gründe entgegentreten, ist es doch der wertvolle Zweck selbst, der die Durchsetzung mit allen Mitteln verlangt. Jede Beantwortung der Frage nach den Grenzen des Wissens und den hier abgeleiteten Legitimitätsschranken muss folglich Modaltäten der Unterbrechung des Zirkels einer sich selbst gegen Zweifel immunisierenden Vernunft benennen. Wo immer die Friedensfrage explizit oder implizit mit der Frage nach den Grenzen des Wissens verknüpft wird, schiebt sich das Thema Selbstreferenz vor alle theoretisch-praktischen Anliegen.

Von der Negation zur Irritation Die moderne funktional differenzierte Gesellschaft lässt nach Luhmann (1990, 392 ff.; 401 ff.) Grenzen des Wissens nur noch als Limitationalität und das bedeutet, als Funktionsauftrag des Wissenschaftssystems denken und nicht mehr als logisch-epistemologisch gesichertes Wissen um Grenzen. 52 In ihrer Funktion markiert dies Siehe dazu grundlegend Buzan/Waever/deWilde (1998); für die Friedens- und Konfliktforschung Rothe (2017). 51 »Man kann die Kritik der reinen Vernunft als den wahren Gerichtshof für alle Streitigkeiten derselben ansehen; denn sie ist in die letzteren, als welche auf Objekte unmittelbar gehen, nicht mit verwickelt, sondern ist dazu gesetzt, die Rechtsame der Vernunft überhaupt nach den Grundsätzen ihrer ersten Institution zu bestimmen und zu beurteilen. Ohne dieselbe ist die Vernunft gleichsam im Stande der Natur, und kann ihre Behauptungen und Ansprüche nicht anders geltend machen, oder sichern, als durch Krieg.« (Kant 1781, B779). 52 Der systemtheoretische terminus technicus lautet Kontingenzformel: Wenn es auch zur Aufgabe der Wissenschaften gehört, alle Selbstverständlichkeiten in Zweifel 50

52 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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Grenzbewusstsein kein Wissen, sondern die an das Wissenschaftssystem gerichtete gesellschaftliche Aufforderung, ihr methodengeneriertes Wissen nicht mit Wahrheit zu verwechseln. 53 Dieser Modus der Kultivierung ist an die Autorität der Funktionssysteme geknüpft, im Falle der Wahrheitsfrage an das Ansehen der Wissenschaft. Er erodiert in dem Maße, in dem sich die Gesellschaft auf digitale Medien einstellt und in eine Netzgesellschaft übergeht. Damit ändert ethische Reflexion ihren Adressaten. Sie wendet sich nicht mehr in erster Linie an Funktionsträger in ihrer Kompetenz, für Gerechtigkeit, für Legitimität, für Partizipation, für Bildung und Sozialisation zu sorgen. Ihre vornehmliche Aufgabe besteht jetzt darin, ein Bewusstsein für die Rolle zu wecken, die jeder einzelne Nutzer für die Art der Anschlusskommunikation spielt. Nur so ist Ethik gewissermaßen auf der Höhe der Zeit, indem sie den Trend zur Personalisierung in allen Funktionsbereichen, zu einer auf Big Data zurückgreifenden Predictive Analytics aufgreift und ein Kalkül anbietet, das weiterreicht, als das an kurzfristigen Macht-, Profit und Kontrollinteressen ausgerichtete Kalkül der Funktionssysteme. Eine Ethik der Selbstadressierung fällt insofern aus dem Selbstverständnis der modernen funktional differenzierten Gesellschaft heraus. Sie äußert sich in einem diffusen Syndrom der Postmoderne. Kultur, so kann es jetzt bei Baecker (2003, 70) heißen, trete als »Kultur der Irritation« in Erscheinung. Das Irritierende rührt aus der verlorenen Sicherheit, mit der Krieg von Frieden, Fiktion von Wirklichkeit, Geist von Materie, Lebensinteressen von Lebensrechten, Mensch von Maschine unterschieden werden können. 54 Der wirklichzu ziehen, zu kritisieren, kontingent zu setzen, so schmälert allein die Kontingenz ihrer eigenen Methoden des Kontingentsetzens die Autorität der Wissenschaften und zwingt diese, ihre Überlegenheitsansprüche gegenüber anderen Funktionssystemen aufzugeben. Luhmann spricht (2017, 579) von einer »Domestikation der Negation«, der Überführung ins Bestimmbare, um anderen die Übernahme von Selektionsannahmen nahezulegen. 53 Der Gottesvorbehalt des Grundgesetzes erfüllt dieselbe Funktion für das Rechtssystem, das von der Gesellschaft aufgefordert wird, seine verfahrensförmige Rechtsprechung nicht mit Gerechtigkeit zu verwechseln. Ebenso wie die Gerechtigkeit als eine selbstsubstitutive Ordnung nur selbst gerecht sein kann, ist nur die Wahrheit selbst wahr. Das zusammenfassende Modell liegt nach Luhmann (1981a, 378 f.) im Gottesbegriff, »der die allgemeinste aller selbstsubstitutiven Ordnungen, die Welt, repräsentiert.« 54 Ausführlich zu Entdifferenzierungsprozessen Brücher 2004; 2004a.

53 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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keitskonstituierende Zirkel von News und Fake-News als quasi unumgängliche Folge eines auf Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung geschrumpften Realitätskontakts gehört dazu. Die Suche nach Kriterien, die die verlorene Unterscheidbarkeit wiedergewinnen ließen und somit Orientierung schaffen könnten, erscheint in einer Netzkommunikation schon deshalb aussichtslos, weil nicht das Verhindern, sondern das Verstärken von Abweichung die Kommunikation antreibt und beflügelt. Ist die nach- oder postmoderne Kultur nicht länger eine Kultur der Negation, der Kritik an schlechten Verhältnissen, sondern eine Kultur der Irritation, so bleibt die Rolle des beobachtenden »Kulturarbeiters als Krieger in den Netzwerken der Codierungen, als Kundschafter des Rauschens, als Künstler der Varietät« (Baecker 2003, 71) ungeklärt. Aber fest steht, dass sich dieser Terminus nicht auf eine Expertokratie beschränkt, sondern alle Nutzer des globalen Netzes mit meint. Damit stellt sich weiter die Frage nach der Rolle dieses beobachtenden Kulturarbeiters, dessen Einträge die Modalitäten des Umgangs miteinander bestimmen. Muss jetzt vom Beobachter als erkenntnistheoretischem auf denselben als ontologischen Ausgangspunkt rückgeschlossen werden, mit all den damit verbundenen Hoffnungen, gestalten und steuern zu können) Ist Beobachten von Irritation zugleich Empfehlung und Konstruktionsanleitung? 55 Irritation nimmt den Platz ein, der bisher der Negation zuerkannt worden war und fungiert infolgedessen als positiver Operator. 56 Der von Johan Galtung (1978, 189–216) entwickelte revolutionäre Funktionalismus hatte diesen Gedanken in praktische Politik übersetzt. Er unterscheidet sich darin vom historisch-dialektischen »Verbesserungsevolutionismus«, dass er nur für den Zusammenbruch sensibilisiert, aber keine Richtlinien für die Zeit danach zur Verfügung stellt. Dass ein gesellschaftspolitisches Forcieren allgemeiner Irritation aber letztlich zu etwas Gutem führt, wird nicht bezweiAuf diese seit Hegel bestehende Versuchung verweist Schönwälder (in Schönwälder/Wille 2004, 12). Bühl (2000) zeigt die Fallstricke, wenn er Luhmann unterstellt, die Weisung »draw a distincion« Spencer Browns als Konstruktionsanleitung statt als Analyseeinstieg ausgegeben zu haben. 56 Luhmann (2008, 63) spricht von einer Umstrukturierung des Gebrauchs von Negationen im Sinne »einer systemtheoretischen Umformulierung der These Wittgensteins, daß der Negation nichts entspreche.« Weil systeminterne Relation, ließe sich Negation als Enttäuschung von Erwartungen, aber nicht als negatives Faktum feststellen. 55

54 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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felt, denn nur in diesem Geiste ließ sich sinnvoll eine Friedens- und Konfliktforschung betreiben, die »Frieden mit friedlichen Mitteln« (Galtung 1998) in Aussicht stellt. 57 Das Positive der Bestimmungsleistung beschränkt sich im Falle einer Irritation, die die Funktion der Negation übernimmt, auf einen Sinnkontext, genauer, auf friedliche und unfriedliche »Kosmologien« (Galtung 1998, 367–416). Auf diese Weise meint der revolutionäre Funktionalismus, Irritationen gezielt platzieren zu können. Dieser Ansatz rechnet allerdings mit distinkten Eliten und Gegeneliten, mit Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, die das Geschäft des Negierens stellvertretend für die Menschheit übernehmen können. Die gesamtgesellschaftliche Umstellung der Printmedien auf digitale Medien wirkt zunächst perfektionierend und beschleunigend. Abläufe erscheinen durch die schiere Datenmenge, auf die zurückgriffen werden kann, besser berechenbar und gewünschte Kulturformen erscheinen programmierbar. Diese gezielt oder erratisch steuernde Sozialkybernetik sieht sich früh durch Luhmann (1984) auf seine erkenntnistheoretischen Blindstellen hingewiesen. Sinnsysteme können nur sich selbst verändern; Andere können sie nur irritieren, stören oder zerstören. Ausgemacht ist mithin keineswegs, dass Konflikte nur eine Immunfunktion in der Gesellschaft übernehmen und damit letztlich in einen Friedenszustand münden. Sie können sich ebenso zu einem selbstreproduzierenden, Gewalt eskalierenden autopoietischen Konfliktsystem verselbständigen. Krieg kann sich verstetigen. Terror und der Krieg gegen ihn (Meggle 2003; Baecker 2018a) stehen im Verdacht, sich in dieser Richtung zu entwickeln.

Von Sinn zu Form Nicht der Sinnbegriff führt aus dieser unheilvollen Schleife, weil er die Engführung auf einen positiven und negativen Wert und damit unvermeidlich verfeindende Moral einschleust. In diesem Punkt hat sich die Systemtheorie jedoch weiterentwickelt, indem sie über Phänomenologie und hier anschließende Soziologie hinausgeht und die sinnhafte nicht für die gesellschaftstheoretisch interessante letzte Zu den Problemen und Ambivalenzen dieses Ansatzes siehe Brücher (2002, 187– 224).

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55 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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Unterscheidung hält. Bevor Sinn und somit die Positiv/NegativUnterscheidung relevant sein kann, macht sich die Markierung von Positivem und Negativem in ihrer ganzen Praxisrelevanz bemerkbar. Vorrangig ist jetzt die Frage zu beantworten, in welcher Art und Weise das wirkt, was als Unmarkiertes nicht bezeichnet und somit weder zustimmend noch ablehnend behandelt werden kann. Die systemtheoretische Antwort, sie wirke als Irritation, als Rauschen, als Problem der Varietät, umschreibt die wirkmächtige Seite des Jenseitigen und damit genau das, was eine zur Lösung gesellschaftlicher Probleme aufgeforderte Soziologie benötigt. Ethik und Friedensethik, aber auch eine ethische Probleme einbeziehende Soziologie bedarf jedoch weitergehender Überlegungen. Für sie ist die Frage relevant, ob die Annahme eines per se irritierenden unmarked state nicht bloß das religionssoziologische Argument wiederholen könnte. Diesem gemäß dient der Glaube zunächst der Bewältigung von Angst, er bezieht sich im Kern auf den Umgang mit dem Unbekannten, Schrecklichen und Gefährlichen. Dagegen sprechen die oben erwähnten prähistorischen Funde, die in der Zeit vor der neolithischen Revolution Gesten der Verehrung und nicht den Umgang mit Gefahren bezeugen. Wenn Tod, Krankheit und Verwüstung zwar schreckliche, aber nicht unbekannte Phänomene sind und wenn erst das Differenzbewusstsein fundamental verstört und nach einer Ausdrucksform verlangt, dann muss die Irritation als säkulare Variante des religionssoziologischen Arguments noch einmal genauer auf ihren Platz im formlogischen Setting hin untersucht werden. Denn dieser Platz und nicht die Wirkung ist bestimmend für die uns interessierende Frage nach den ethischen Implikationen der formlogischen Figur der Irritation. Naheliegend ist zunächst die Vermutung, dass die Irritationen des unmarked state (Unbeobachtbares) leicht behoben werden könnte, wenn das verstanden ist, was irritiert. In diesem Fall ist der unmarked state ein Synonym des unmarked space (noch Unbeobachtetes). Genau dies ist aber nicht möglich, da es zwei irreduzible Formen des Unmarkierten gibt. Nach Luhmann (2000, 22) kann der unmarked space als Sinn oder Welt durchaus dem Bereich der Determination zugerechnet werden, nicht aber der unmarked state, das Unbeobachtbare (Luhmann 2000, 53). Das Irritierende aber lässt sich gar nicht genau lokalisieren, es ist innen ebenso wie außen. Denn für Psychisches und Soziales gilt, »dass derartige Systeme im Modus der selbsterzeugten Unbestimmt56 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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heit operieren und diesen Modus mit allem, was sie tun, mitreproduzieren – gleichsam als Medium, das sie voraussetzen und reproduzieren müssen, um überhaupt die Möglichkeit zu haben, etwas Bestimmtes bezeichnen zu können.« Und selbsterzeugte Unbestimmtheit heißt, »dass das System rekursive operiert und dabei auf vergangene Zustände zurückgreifen muß, die es nicht voll erinnern kann, und auf zukünftige Zustände vorgreifen muss, über die erst in künftigen Gegenwarten entschieden werden kann.« (Luhmann 2017a, 105). Die Folgerung, dass ein solches System seinen eigenen Willen nicht binden könne, verwehrt die reduktionistische nachmetaphysische Interpretation, die den irritierenden unmarked state in den noch irritierenden, weil noch nicht durchschauten unmarked space transformiert. Nachmetaphysisches sieht sich hier durch ein postontologisches, nicht-reduktionistisches Denken verdrängt, das sich mit Aussagen über ein Sein des Jenseits der Markierung – noch nicht Bestimmtes oder Unbestimmbares – zurückhält. Nach wie vor ist es das Differenzbewusstsein, welches aus der Bahn wirft und nach geeigneten Bearbeitungsformen suchen lässt und nicht die schlichte Tatsache, dass der Anschein trügen kann und dass unehrliche Menschen einen selbst womöglich hinters Licht führen. Die irritierende Konfusion in Bezug auf sachgemäße News und fingierte Fake-News trifft das gewohnte Problemlösungsdenken ins Mark, weil sich hierin die nachmetaphysische, dem soziomoralischen Fortschritt vertrauende Grundhaltung erschüttert sieht. Es gibt keine Entwarnung mehr für massenmediale Antizipationen einer ökologischen, atomaren und gentechnologischen Selbstgefährdung der Gattung, weil man nicht wissen kann, ob Expertisen in die Kategorie von News oder von Fake-News gehören. Irritation greift um sich und beginnt Kritik als probates Reaktionsmuster nach und nach zu ersetzen, sobald die negativen Seiten des industriell-technischen Fortschritts die kognitiv-moralische Orientierungsfunktion des Subsummierens von Unerkennbarem auf das noch nicht Erkannte diskreditiert hat. Vor diesem Hintergrund und insbesondere im Hinblick auf unklare Grenzlinien zwischen gelebter religiöser Praxis und politisierter, fundamentalistischer Religion, bedarf die ethiktheoretische Reflexion einer neuen, mit unverbrauchten Begriffen geführte Auseinandersetzung über die transzendentalphilosophische Frage. Die Systemtheorie ringt gegenwärtig mit der Interpretation des unmarked state, der in seinem Theoriestatus zwischen Transzendenz und Transzendentalem 57 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Sachfragen

angesiedelt ist. Soll es eine exklusiv als soziologisch verstandene Systemtheorie geben, so liegt eine detranszendentalisierte pragmatische Lesart des Transzendentalen nahe. Dieser Auslegung gemäß hat Spencer-Brown den unmarked-state eingefügt, da Menschen für ihre Argumentation eine letzte Referenz von Gewissheit benötigten. Dies ist jedoch eine Sichtweise, die den entgrenzenden, im Globalen Süden als kolonialistisch verdächtigen Gebrauch von Unterscheidungen nahelegt. Denn sofern nun das Unmarkierbare bloß ein Unmarkiertes, ein noch nicht durchschautes, unberücksichtigtes, vernachlässigtes Feld ist, müssen andersdenkende Kulturen aufgeklärt, bekehrt werden. Es geht nicht mehr um einen mit allen Kulturen kompatiblen Formgebrauch, den Umgang mit der Unterscheidung von unmarked state und unmarked space. Es geht wieder um den erwartungssicheren Glauben an den wissenschaftlich-technischen und moralischen Fortschritt, der die Unterscheidung aufhebt. Im moralischen Fortschritt inbegriffen ist ein fortschrittliches Religionsverständnis, das Glaube auf ein Kommunikationsmedium des Religionssystems reduziert. Irritation verwandelt sich in Orientierung, wenn an einen guten Gott geglaubt wird, der die Menschen nicht täuscht, wie Descartes seinem Cogito ergo sum entwarnend hinzufügt (Huonder 1968, 62). Die Sinnenwelt muss nicht schon deshalb als trügerisch angesehen werden, weil man sich bezüglich der eigenen Wahrnehmungen nicht sicher sein kann. Allein die Konkurrenz von Gottesbildern hat diese Lösung hinfällig gemacht. Heute tritt das initiale Theorieproblem im Zusammenhang mit den Gefahren des internationalen Terrorismus erneut mit der Frage auf, wo die Grenze zwischen Religion und Fundamentalismus anzusetzen sei. 58 Wenn diese Frage im soziologischen Bias durch die Antwort vorentschieden ist, dass die Unterscheidung gläubig/ungläubig das Funktionssystem Religion konstituiert, so findet sich darin die moderne Gesellschaft in ihrem Selbstverständnis gespiegelt. Funktionsträger und Funktionsempfänger können jetzt nur noch angehalten werden, mit den Ungläubigen gnädig, nachsichtig und gewaltlos umzugehen. Der inklusive Glaube scheint mit gruppenintegrierendem Glauben in eins zu fallen, sieht er sich als konfessionell gespaltenes Phänomen doch kaum noch in der Lage, an der Zu den methodologischen Fragen der Terrorismus-Forschung aus fuzzy-logischer und formtheoretischer Sicht siehe die Beiträge in Baecker (2018a). »Zum Formgebrauch des religiösen Fundamentalismus« Brücher im selben Band, 159–184.

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58 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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bloß paradoxen Differenz der Einheit von Wissen und Glauben festzuhalten. Er muss Glaubenswahrheiten als konfessionelle Markenzeichen herausarbeiten. Für den achtungsvollen Umgang mit Ungläubigen qua Andersgläubigen und damit für moralisch motivierten Gewaltverzicht, gibt es jenseits bloßer Bereitschaft, Recht und Gesetz und somit die Autorität von politischem System und Rechtssystem anzuerkennen, streng genommen nur eine Möglichkeit: Die ›Gläubigen‹ sind angehalten, eine säkulare Glaubensvariante zu wählen. Dies aber bedeutet, das Religionssystem muss sein spezifisches Medium Glaube als provisorisches und mithin als irrtumsanfälliges Wissen um ein realgeschichtlich verstandenes zukünftiges Heil gerechten Friedens insinuieren. Wenn dieses Arrangement im säkular konditionierten Globalen Westen seit dem Westfälischen Frieden von 1648 auch funktioniert haben mochte, so sieht es sich in der globalen Konfrontation mit theokratisch orientierten Ländern des Globalen Südens erneut in Frage gestellt. Auch hier liegt einer der Gründe, weshalb heute angesichts der medienbedingten Konfusion von News und Fake-News das Sammeln und Auswerten von personenbezogenen Daten als Grundlage für die Erarbeitung von ethischen Richtlinien Künstlicher Intelligenz problematisch ist. Individuelle Präferenzen aktivieren einen kaum in Daten zu übersetzenden Hintergrund, der im Falle andersgläubiger Vorverständigungen als falsche Wiedergabe von Fakten, als Fake-News erscheint. Der unmarked state droht mit dem unmarked space der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien identifiziert zu werden, mit ungeregelten Macht- und Besitzverhältnissen, mit unzulänglicher Forschung und mit unvollständiger Verrechtlichung. Skandalös ist jetzt ein noch immer fehlendes globales Gewaltmonopol, ein noch nicht durch perfektes Monitoring in ihrer Effizienz gesichertes wissenschaftliches Wissen, noch nicht big-data-gesteuerte sichere Prognosen individuellen und kollektiven Verhaltens. Das Irritationspotential dieses ›Noch-nicht‹ wächst mit der Furcht, dass China und mithin ein Land des Globalen Südens in diesem technologischen Wettlauf den Globalen Norden überholt. Sobald jedoch mit der Kontroll- die Legitimitätsfrage als Frage in den Vordergrund getreten ist, wessen Selektionen sich in ihren globalen Ordnungsansprüchen werden durchsetzen können, nehmen Begründungsethiken die Form von Plausibilitätsrhetorik an. Dieser Hintergrund spielt der form-logisch interpretierten Sys59 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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temtheorie als eine mit allen Kulturen kompatiblen Sprache eine kaum zu unterschätzende Bedeutung zu. Die Vermutung ist jedoch, dass sich die hypostasierte Bedeutung auf eine postontologische Lesart beschränkt. Gemeint ist eine Sichtweise, die sich nicht mehr von der Frage leiten lässt, was ist und was nicht ist, was als bloßer Schein gelten soll und was als Sein anerkannt werden muss, was realitätsgerechte und was verzerrte Wahrnehmung bedeutet. Und der entscheidende Punkt, der hier die theoretischen Weichen stellt, ist die Interpretation des unmarked state. Die Preisgabe der bei Luhmann eher am Rande erwähnten subtilen Differenz von unmarked state und unmarked space droht nur die Legitimitätssemantiken zu modernisieren, deren Logik jedoch unbeschadet zu lassen. Und die Vermutung wäre im Anschluss daran, dass Luhmann mit der Ausarbeitung von Rudimenten einer reflexionstheoretischen Ethik genau dies hatte verhindern wollen. Die Anlehnung an Spencer-Brown ist in Bezug auf die Begrifflichkeit von der Absicht getragen, möglichst wenig Konzessionen an alteuropäisches, identitätslogisches Denken zu machen. So wird der unmarked space zwar für Welt und der unmarked state bevorzugt für das unbestimmt Bleibende verwendet. 59 Luhmann vermeidet jedoch die Raummetapher, da er anders als Spencer-Brown das draw a distincion nicht wieder in Identität auflösen will. Gleichwohl wird der space sachlich eingespielt, wo ontologische (Sein/Nichtsein) Referenzen angesprochen sind: Der »unmarked state« wird nach Luhmann (1990, 18) zum »Nicht-Sein«, sobald eine Form im Beobachten realisiert wird. Dies Realisieren vollzieht sich mit jedem Kreuzen einer Unterscheidung, denn jetzt muss die andere Seite bezeichnet werden. Keine Unterscheidungsoperation könne das ganz eliminieren, was als Rest der Welt, als »unmarked state« durch die Unterscheidung betroffen ist. Dem Verzicht auf die Differenzierung von unmarked state und unmarked space und somit auf ein Anknüpfen an die Differenzierung von Transzendenz und Transzendentalem bei Kant, mag auch als Reflex der gesellschaftsstrukturellen Entwicklung funktional differenzierter Systeme verstanden werden. Hier gerät die Soziologie gleichsam in Konflikt mit sich selbst, da sie als Reflexionstheorie der Gesellschaft das Transzendente nur als Glaubens- und mithin als Zur Begrifflichkeit im Zusammenhang mit Religion siehe Luhmann (2000, 22), mit Identität (Luhmann 1990, 14–30), mit Freiheit (Luhmann 1990, 75–94).

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Kommunikationsmedium des Religionssystems behandeln kann, ohne in disziplinfernen Gebieten wildern zu müssen. Allerdings zwingt sie ihre eigene Diagnose der informationstechnisch erzwungenen Befassung mit Kontroll- qua Legitimitätsfragen und hieran anschließender Behandlung der komplexen Problematik des religiös legitimierten Terrorismus zu eben dieser disziplinären Grenzüberschreitung. Und da dieses generalisierende Theoriedesign zum Kern der form-logischen Auslegung gehört, ist die stärkere Einlassung auch auf ethiktheoretische Fragestellungen keine Konzession der Soziologie an alteuropäisches Denken.

Differenz und Schemata Aber kann es überhaupt eine theoretische Ansatzhöhe für religionsund kulturübergreifende Konzeptionen geben? Diese Frage rührt an den Grundkonflikt zwischen einer Betrachtungsweise, die auf Einheit oder auf Differenz, auf das Globale oder das Lokal-Partikulare als charakteristische und zugleich erstrebenswerte Positionen setzt. Die erste, dem Universalismus der europäischen Moderne verpflichtete Perspektive fordert globale Gefolgschaft. Der in postkolonialen Ansätzen vorherrschende widerständige Lokalismus konzentriert sich auf das Trennende und verliert die Gemeinsamkeiten aus dem Blick. Interessanter scheint gegenwärtig eine dritte Position, die davon ausgeht, dass sich inzwischen eher globale Milieus herausgebildet hätten, »die mit existierenden politischen und ethischen Institutionen und Werten verschränkt werden« (Avanessian/Malik (2016, 51). Diese Milieus seien zugleich global und partikular. 60 Die Systemtheorie kann diese Entwicklung fassen, indem sie dem Begriff der Differenz den des Schemas gegenüberstellt. Damit werden Modalitäten des Umgangs mit Ambiguität, Vieldeutigkeit, Mehrwertigkeit und Paradoxien herausgearbeitet. Es geht nicht allein um das Aushalten einer Differenz, die den Orientierungsbedürfnissen der Menschen entgegensteht. Wo es um Schemata und nicht bloß um

60 Die Diskussion dreht sich um den Begriff der Glokalisierung (Robertson 1998). Typisch für diese Position ist die Betonung eines mit Demokratie, Freiheit und Frauenrechten kompatiblen Islam bei Katajun Amirpur (2013). Zum Nebeneinander von Weltkultur und Lokalpatriotismus z. Z. des Hellenismus siehe Angelos Chaniotis (2019).

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Differenzen geht, ist an das identitätslogische Profil insofern noch weiter gerührt, als der Begriff der Differenz ein mit sich Identisches voraussetzen muss, das in Differenz zu etwas Anderem tritt. Wenn dieses Etwas aber selbst schon in einer durch Schemata mediatisierten Gestalt gegenübertritt, dann wird Epistemologie zur Medientheorie. Der Gegensatz zu bloßen Differenzen tritt hier hervor: »Schemata bewähren sich in der Verknüpfung bewusster und sozialer Operationen – operational untereinander, strukturell miteinander – immer dann, wenn sie wie Raum und Zeit, Wirklichkeit und Möglichkeit, Ursache und Wirkung, Zweck und Mittel, Problem und Problemlösung, Ding und Medium, System und Umwelt aufgerufen und variiert, aber auch zugunsten anderer Schemata gekreuzt werden können.« (Baecker 2017, 139). Solche Schemata müssten nicht-schematisch gebraucht werden, um Redundanz und Varietät zu liefern und das bedeutet, um Irritationen entgegenwirken zu können. Der Gebrauch von Schemata macht es möglich, Intransparenz dort zu kontrollieren, wo Probleme auftreten. Indes täuscht der Begriff des Schemas Stabilität, strukturelle Invarianz bloß vor. Tatsächlich existiert ein Schema nur, »indem es benutzt wird, und nur in den Momenten, in denen dies geschieht.« (Luhmann 1996a, 317). Die oben genannten Prozesse der Entdifferenzierung kategoraler Schemata deuten jedoch darauf hin, dass weder der schematische noch der nicht-schematische Gebrauch der Schemata noch länger die Praxis strukturieren, dass vielmehr Schemata ihren Nutzwert verlieren. Typisches Beispiel ist die nahezu unbemerkte Verdrängung der Semantik des Krieges durch den Begriff des Auslandseinsatzes oder der Humanitären Intervention gewissermaßen als Fortsetzung des Friedens mit anderen Mitteln.

Empirie und Realität Wenn jedoch Schemata ihren Orientierungswert verlieren, so stellt sich erneut die Frage, wie von der immer schon schematisierten Reflexion der Differenz von Denken und Sein zum Denken des Seins überzugehen ist. Was ist dieses Sein, an dem Luhmann (1997, 36 f.) dadurch meint festhalten zu können, dass sich Erkenntnis der Differenz von Empirie und Realität verdankt? Diese Frage überrascht, weil sie einer konstruktivistischen, aber auch einer postontologischen Weltsicht entgegenzustehen scheint. Da Luhmann indes keinen so62 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

News und Fake-News

zialen oder radikalen, sondern einen operativen Konstruktivismus (1990a) vertritt, ist die Frage berechtigt. Wirklichkeit ist nicht bloß gesellschaftliche Konstruktion, und sie ist nicht eine reine Projektionsfläche subjektiver Perspektiven. Denn um in der Lage zu sein, soziale und radikale Urteile dieser Art zu fällen, müsste der Binnenraum der Welt verlassen werden können. Die postontologische Sichtweise verzichtet nur auf die Entdifferenzierung von state und space im Begriff des Unmarkierten, aber sie kann die erkenntnistheoretische Fragestellung nicht aus der Welt schaffen. Der operative Konstruktivismus sagt seinerseits nur etwas über Funktion und Funktionsverlust von Schemata aus, über die Art der Reflexion der Differenz von Denken und Sein. Der aktuelle Streit über die Frage, welche Informationen News und welche Fake-News sind, verstrickt die Öffentlichkeit in epistemologische Probleme. Luhmann (1997, 36 ff.) benennt das Problem, lange bevor es in den Verbreitungsmedien die Wogen hochschlagen lässt. Die Konfusion zeigt sich jetzt als späte Folge eines Prozesses der Entdifferenzierung von Empirie und Wirklichkeit. Sie weist darauf hin, dass das moderne empirische Wahrheitsverständnis seine Primärevidenz verloren hat. Indem Luhmann auf den wunden Punkt sozialwissenschaftlicher Methodologie mit der Frage hinweist, weshalb empirisch erhobene Daten und Realität koinzidieren sollten, findet er wieder zur kantischen Problembeschreibung zurück. Dies scheint notwendig, nachdem Selbstreferenztheorien, wie sie sich innerhalb der Linguistik, der Semiotik, der Biologie, der Kybernetik und der Kognitionswissenschaften entwickelt haben, 61 von der Realität allzu sehr abgesehen hatten. Dies zeigt sich bereits an der grundbegrifflichen Beschränkung auf eine referenzlose Sprache, ein referenzloses Zeichen, eine referenzlose Information. Der Intention nach handelt sich dabei nicht um einen Rückfall in überwundene solipsistische Positionen, denn die Wirklichkeit werde keineswegs geleugnet; sie werde vielmehr als mediatisierte Form operativ verstanden. Als solche ist sie auf die Belange des Systems zugeschnitten. Es kommt mithin darauf an, wie dieses allen Begriffen zur Seite gestellte Operative zum Zuge kommt. So bleibt die Distanzierung vom Solipsismus der idealistischen Tradition mitunter ein lapidares Bekenntnis, denn die selbstreferenziell hervorgebrachte Wirklichkeit

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Beiträge zu den einzelnen Ansätzen finden sich in Baecker (2005).

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enthält gerade keine Informationen über etwas nicht Hervorgebrachtes. Der kognitiven korrespondiert infolgedessen eine praxeologischmoralische Seite, denn eine irrelevante Wirklichkeit muss vom System in ihren Ansprüchen nur so weit berücksichtigt werden, als es für das System wichtig erscheint. Während das Bekenntnis zur nichtsolipsistischen Theorieanlage zunächst bloß eine Offenheit für die Paradoxie der Ausgangssituation signalisiert, sind die theoretischpraktischen Schlussfolgerungen präziser Art: Nur das vom System Brauchbare qua operativ Verwendungsfähige ist zu berücksichtigen. Eine Paradoxie macht sich bemerkbar, sobald eine Unterscheidung, wie empirisch und transzendental, als Bedingung möglichen Erkennens reflektiert wird. Denn will man mit der Unterscheidung arbeiten, so muss sich eine Grenze zwischen der einen und der anderen Seite ziehen lassen. Dazu aber ist es wiederum erforderlich, etwas zu bestimmen, das sich per definitionem jeder Bestimmung entzieht, nämlich ein Vor-jeder-Erfahrung. Einigt man sich nun auf ein referenzloses Zeichen und auf referenzlose Information, so scheint man sich dieser misslichen Unterscheidung entledigt zu haben. Denn nunmehr ist die Möglichkeitsbedingung als dasjenige System identifiziert, dessen Informationsverarbeitungsmaschinerie die Wirklichkeit nur als Umwelt benötigt: Das Immunsystem schematisiert die Umwelt nach Harmlosem und Gefährlichem. Selbst als System ist die Möglichkeitsbedingung immer noch zu unspezifisch, um sich dem Empirischen anzuverwandeln. Zu diesem Urteil kommt es unweigerlich, wenn man den alten strukturalistischen Systembegriff durch einen Begriff ersetzt, der das sinnhaft Konstituierte hervorhebt. Was einen Augenblick lang so konkret und fassbar schien, das verflüchtigt sich, und das System wird als bloßes Produkt seiner operativen Verwendung durchschaut: System ist nunmehr nur die eine Seite einer Unterscheidung, deren andere Seite als Umwelt gleichursprünglich gedacht werden muss. Das System findet in der Paradoxie von Einheit (System und Umwelt als eine Unterscheidung) und Differenz (System und Umwelt als die beiden Seiten der Unterscheidung) seine einzige Substanz, oder sein nichtidentisches Identisches. Dieser Gedankengang ist nur insofern neu, als er Erkenntnisgewinne mit Hilfe einer zeitgemäßen neokybernetischen Sprache festzuhalten sucht, die in der von Luhmann so genannten alteuropäischen Semantik verloren gegangen waren. Das kann allerdings nur gelingen, wenn innerhalb der Selbstreferenztheorien nicht jene Re64 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

News und Fake-News

flexionsschritte einfach wiederholt werden, die nach und nach die Transzendentalphilosophie aushöhlen mussten. Die Schritte sind bekannt: Nachdem aus der von Kant hervorgehobenen denknotwendigen Unterscheidung eine zurechnungsfähige Operation des Unterscheidens von Empirisch und Transzendental geworden war, stieß man unweigerlich auf die Kuriosität einer Unterscheidung, die ihr Versprechen gar nicht einlöst. Denn aus dieser Perspektive betrachtet macht die Unterscheidung von Empirisch und Transzendental gar keinen Unterschied. Sie ist steril, weil sie immer nur Empirisches zu bezeichnen vermag. Das gilt selbst für den ideal-abstrakten Gegenstand der Mathematik, deren Formensprache als Sprache empirisch daherkommt und dies nach dem Grundsatz, dass Aussagen über Zahlen immer auch Aussagen über die Aussagen von Zahlen implizieren. 62 Die Unterscheidung verlässt nicht die Welt empirischer Fakten und Daten, sondern vermag lediglich, manche besonders ausgezeichneten Fakten und Daten in den Rang einer Bedingung für die Möglichkeit anderer Fakten und Daten zu heben. Auf der Grundlage dieser Kritik konnten sich die Einzelwissenschaften guten Gewissens auf das Sammeln und Auswerten von Daten verlegen, ohne sich von der Philosophie weiterhin verunsichern zu lassen. Erst mit Luhmann treten wieder die alten Irritationen jener Fragestellung auf, mit welchen Argumenten und aus welchem Grund selbst erzeugte empirische Daten und Realität dasselbe sein sollten. Sie können von Seiten der empirischen Wissenschaften deshalb nicht mehr durch Todschweigen und Übergehen aus der Welt geschafft werden, weil Luhmann diesen Zweifel nicht als Philosoph, sondern als Soziologe formuliert. Nun lässt sich diese Frage allenfalls noch in ihrer Sprengkraft dadurch entschärfen, dass man sie weder ignoriert noch dementiert, aber als methodologischen Rigorismus einstuft, den es zu vermeiden gilt, um sich nicht aller Erkenntnismittel zu berauben. Verzichtet man nämlich auf jegliche Kausalaussagen und setzt an deren Stelle bloße Korrelations- und Kovarianzanalyse, wie Luhmann es in seinen Bänden über Gesellschaftsstruktur und Semantik vorgeführt hat, dann lässt sich nicht mehr zu Ergebnissen gelangen, die der politischgesellschaftlichen Praxis Anhaltspunkte liefern könnten, kurz: Mit

Diesen Unentscheidbarkeitsbeweis Kurt Gödels testet Luhmann (2008, 177 f.) in seinen logischen Konsequenzen für die Moral.

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der triftigen Kausalaussage steht und fällt die Praxisrelevanz der Sozialwissenschaften. 63 Thomas Luckmann (Luckmann/Giesen 1982, 3) sieht einen Ausweg, indem er das Provisorische der im empirischen Datum vergegenwärtigten Realität hervorhebt, »(provisorisch periodisierte) Perioden« und »(provisorisch umschriebene) Datenkorpora«. Um des theoretisch-praktischen Zugriffs willen muss es zunächst darum gehen, das Konstrukt realitätsadäquater Methode der Annäherung an die Wirklichkeit unbeschadet zu lassen und alles Weitere späteren Korrekturen und eventuellen Falsifikationen vorzubehalten. Mit dieser Lösung rehabilitiert Luckmann das auf empirische Detailstudien gestützte sozialwissenschaftliche Erkenntnisprogramm und verwirft das luhmannsche als wissenschaftlich unfruchtbar. Diese Argumente haben nichts an ihrer Aktualität eingebüßt; sie sind nach wie vor nicht von der Hand zu weisen. Denn worauf sollten sich politisch-gesellschaftliche Handlungsprojekte fernerhin stützen, wenn das viel beschworene wissenschaftlich Erwiesene nicht mehr als solches gelten darf, weil es unter Vorbehalt formuliert wurde. Gleichwohl bietet das Provisorium keine tragfähige Lösung, weil es das von Kant beschriebene und heute von Luhmann wiederholte Problem nur temporalisiert: Die Irrtümer produzierenden mangelhaften Erkenntnisverfahren produzieren ein positives Wissen, das sich in der Zukunft nur dann bestätigen oder widerlegen lässt, wenn es nicht zuvor die Wirklichkeit gestaltet hat. Diese Chance, falsifiziert werden zu können, ist mithin gar nicht gegeben, wenn politisch-gesellschaftliche Großprojekte die provisorischen Erkenntnisse durch ein nunmehr im wahrsten Sinne reales Handeln in Wirklichkeit verwandelt haben. Solche Zusammenhänge gelangen nur bei besonders skandalträchtigen politischen 64 oder wissenschaftlichen Betrugsmanövern an die Öffentlichkeit. Das Empirische müsste mithin ein reines Prüfverfahren bleiben, mit dem eine von ihm unabhängige Wirklichkeit auf ihr Sein hin geMaking Things Happen heißt es bei Woodward (2003). Mit denselben Motiven wird innerhalb der Wissenschaftstheorie und heute insbesondere den Computerwissenschaften (Pearl 2009; Pearl/Mackenzie 2018) für eine handlungsbasierte, politisch brauchbare Kausaltheorie geworben. 64 George W. Bush legitimierte mit gefälschten Geheimdienstinformationen die Militärintervention in den Irak. Zum Insider-Bericht des ehemaligen CIA-Chefs von Europa siehe Drumheller (2007). Faktenfälschungen haben Tony Blair den Spitznamen »Bliar«, Lügner eingebracht, vgl. Davis/Rentoul (2019). 63

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testet werden kann. Dies vermochte Kant auf der Grundlage des zeitgenössischen Forschungsstandes noch in Bezug auf naturwissenschaftliche Gegenstände unterstellen, die sich zum Erkenntnissubjekt wie ein Objekt verhalten. Zur Bezeichnung dieser angewandten, durch Erfahrung zu bestätigenden oder zu widerlegenden Vernunft verwendet Kant den Begriff der reinen Vernunft, später des Verstandes. Es geht um Formen des Schlussfolgerns, die als notwendige und als allgemeingültige Bedingungen Erfahrung erst möglich machen. Kant denkt an Naturgesetze, die der Empirismus von David Hume in reine Erfahrungswerte und Gewohnheiten verwandelt hatte. Für Gegenstände hingegen, die im Objektbereich auftauchen, von einem Objekt aber darin unterschieden sind, dass sie ein Selbstverhältnis aufweisen und gleichwohl nicht Subjekt genannt werden können, reserviert Kant in der ›Kritik der Urteilskraft‹ die Bezeichnung Gesellschaft, Organ oder Organismus. Solche Gegenstände zeichnen sich durch Wechselwirkungsprozesse aus; sie sind weder Subjekt noch Objekt und können infolge ihrer opaken Oberfläche weder von außen beeinflusst noch von innen gezwungen werden gleich einem vernünftigen Subjekt, das sich selbst einem moralischen Gesetz unterwirft. Das Einzige, das Kant als Äquivalent jenes Selbst sich selbst bestimmender vernünftiger Subjekte auf der gesellschaftlichen Ebene anerkennt, ist die Öffentlichkeit. Durch erzwungenen Gesetzesgehorsam, sei es der legalistischen, sei es der moralischen Gesetze, lassen sich Gesellschaften nicht zur Vernunft bringen. Dieses gesellschaftlich Vernünftige versteht Kant als Verzicht, nicht nur Interessen, sondern selbst den Fortschritt des Menschengeschlechts, mit Gewalt erzwingen zu wollen. Der Neukantianismus verwirft schließlich nicht nur die Differenz zwischen empirisch und transzendental als religiöses Relikt. Auch der für Kant wesentliche Unterschied zwischen Gegenständen, die als Objekt recht begriffen sind, und Gegenständen, die sich zu sich selbst verhalten, ohne Subjekt zu sein, werden fallengelassen. 65 Idealismus und Historismus hatten bereits gezeigt, dass sich historische und gesellschaftliche Phänomene nicht mehr bloß zu sich selbst, sondern durchaus zu uns verhalten, wenn sie als Produkt gemachter Verhältnisse, als Ergebnis von Macht, gedeutet sind. Über den Begriff des Machens und der Macht ließ sich auf diese Weise ein Wechsel im Zur Notwendigkeit, den Neukantianismus zu überwinden siehe Röttgers (2002, 64–70).

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Kategoriengebrauch vom Subjekt/Objekt- zum Schema von Produzent und Produkt, von Macher und Gemachtem vollziehen. Dazu musste eine weitere Unterscheidung Kants, nämlich diejenige von Selbst- und Fremdbestimmung, von Autonomie und Heteronomie, entdifferenziert werden. Aus dem als Kritik verstandenen Selbstverhältnis der Vernunft wurde erneut ein Verhältnis zwischen mächtigen Akteuren, die aufgrund ihres Expertenwissens sich selbst Vernunft attestierten, während all jene unaufgeklärten, noch in Unvernunft und Irrationalität befangenen Menschen der Unterweisung bedürfen. 66 Der Diskurs der Kritik, der sich jetzt etabliert, dient nur noch als Stütze der hegemonialen Stellung normativer Instanzen. 67 Diese Zusammenhänge werden gerne unterschlagen, wenn methodologische Fragen angesprochen werden. Das gilt besonders in der Diskussion der negativen Soziologie Luhmanns. Diese relativiert mögliche Erkenntnisgewinne empirischer Sozialforschung unter Verweis auf den unendlichen Regress, in den das Beobachten von Beobachtungsweisen gerät. Da dies ein Argument war, mit dem Kant seinerzeit den Empirismus in seine Schranken verwiesen hatte, bieten sich auch gegen Luhmann wieder dieselben Denkmittel an, nämlich die Umstellung von Erkenntnis auf Macht. Wer die Macht hat, oder sich beschafft, die Wirklichkeit nach seinen Vorstellungen, systemtheoretisch ausgedrückt, gemäß spezifischer Operationen unterscheidenden Bezeichnens zu gestalten, der muss sich von der Frage nicht mehr irritieren lassen, ob das seinen Projekten zugrunde gelegte Datenmaterial die Wirklichkeit wiedergibt, oder ob sich nur eigene an Projekten orientierte Perspektiven wiederfinden. Lässt sich die Systemtheorie für die praxisorientierte Empirie zurückgewinnen, ohne die epistemologische Ansatzhöhe wieder zu verlieren? Lässt sich die Koinzidenz von Empirie und Wirklichkeit empirisch feststellen, sofern die Perspektive der gesellschaftstheoretisch geprägten Tatsachenbeschreibung transparent gemacht wird? Der Gedankengang ist nachvollziehbar: Sollten theoretische Begriffsentscheidung und empirische Tatsachenfeststellung ohnehin zirkulär Auf der Schwelle zwischen selbst- und fremdfundierter Kritik denkt Friedrich Schlegel (1979, 60) das Wesen der Kritik noch als eine die volle Subjektivität erhaltende Form der Objektivierung, als Nachkonstruieren des Denkens eines anderen »bis in die feinere Eigentümlichkeit seines Ganzen«, was Kenntnisse in Philosophie und Geschichte voraussetze. 67 Siehe zu diesem Aspekt Avanessian 2015, 24–46, der gegen einen sinnentleerten Gebrauch des Begriffs wieder an die »immanente Kritik« im Sinne Foucaults erinnert. 66

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sein, so zeigen sie sich als Angelegenheit der Entscheidung. Eine bestimmte Unterscheidung gibt den Blick auf eine bestimmte Wirklichkeit frei. Insofern ergeben sich für die Forschung erkennbare Folgen je nachdem, mit welchen Unterscheidungen die Theorie arbeitet. 68 Diese Versöhnung von Empirie und Systemtheorie gibt Anhaltspunkte in dem Maße, in dem die einzelnen Schritte deutlich gemacht werden. Bei der luhmannschen (1997, 36 ff.) Frage, ob Empirie und Realität in ihrem Verhältnis empirisch geklärt werden könnten, steckt nämlich insofern eine besondere Schwierigkeit und Uneindeutigkeit, als deren Verhältnis zur Unterscheidung von empirisch und transzendental bei weitem nicht geklärt ist. Denn zwar mag die luhmannsche der von Kant benutzten Unterscheidung funktional äquivalent sein, aber Luhmann geht einen Schritt weiter. Das Schema Empirie/Wirklichkeit ist nämlich als Reaktion auf die neukantianische Wende konzipiert, die Transzendentales als noch nicht empirisch Erforschtes trivialisiert hatte. Im systemtheoretischen Schema wird gewissermaßen vorgeführt, was man zu sehen bekommt, wenn man die Wende zu Ende denkt. Die Logiksprache Spencer-Browns ist dabei eine probate Methode, die Denkwege aufzuzeigen: Am Anfang steht die Frage, wie die im Anschluss an die neukantianische Wende entstandenen empirischen Psycho- und Sozialwissenschaften formaliter vorgehen. Diese Ausgangsfrage lenkt das Augenmerk auf ein Forschungsverfahren, das die Unterscheidung von transzendental und empirisch wieder in sich einführt. Dies Wiedereinführen – re-entry – kann nur auf der Seite der Empirie anschließen. Dies ist aber auch die einzige Seite, auf der Anschlüsse möglich sind, denn die andere Seite der Empirie ist die Bedingung der Möglichkeit, Empirisches feststellen zu können und bleibt somit konstitutiv verborgen. Was zum Vorschein kommt, wenn die Unterscheidung in sich selbst wiedereingeführt wird, oder in sich selbst wieder vorkommt, ist der Zweifel, dass Empirie und Wirklichkeit koinzidieren könnten Jetzt handelt es sich nämlich nicht mehr um jene Empirie, die Kant vor Augen hatte, nämlich die durch Erfahrung bestätigte Erfahrung. Um diese ging es David Hume und John Locke, und diese ist es auch, welche Kant zum Gegenbegriff des Transzendentalen nötigt. Jene Empirie aber, die aus dem Selbstspiegelungsverhältnis von EmIn diesem Sinne schlägt Helmut Thome (2003) soziologische Werteforschung im Anschluss an Luhmann vor.

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pirisch und Transzendental hervorgegangen ist, kann nicht mehr der Gegensatz zum Transzendentalen sein, weil sie nun die gesamte Unterscheidung repräsentiert und zwar deren Einheit als ein ungeteiltes Ganzes. Die hier gemeinte Empirie hat all die relevanten Methoden der Erhebung in sich aufgenommen, die konkretisierten Bedingungen der eigenen Möglichkeit. Es ist aus den Statistiken hervorgegangene, aus qualitativer Erfahrung extrapolierte, aus Simulationen erschlossene, oder aus Gruppenexperimenten sichtbar gemachte Empirie. Eine der Realität und nicht mehr dem Transzendentalen gegenübergestellte Empirie gibt den Blick auf ihr Zustandekommen, auf die Methoden als die sie bedingenden Möglichkeiten frei. Ohne Statistik, ohne Erhebungsverfahren, ohne Simulation und Experiment keine Empirie. Die Rede vom Empirischen ist damit ein offenes Bekenntnis zur Zirkularität ihres Zustandekommens. Die Methode konstruiert das, was als sichtbarer Beweis anerkannt wird. Empirie ist das methodisch kontrollierte Erscheinen von Wirklichkeit, eine bestimmte Perspektive und will nichts Anderes sein. Das methodisch kontrollierte Sehen der Wirklichkeit verhehlt nicht den Zweck, sofern es die Zirkularität seines Zustandekommens nicht leugnet. Dies deutlich zu machen, könnte geradezu als besonderer Beitrag der Selbstreferenztheorie anerkannt werden. Der Zweck gibt sich in der Entscheidung zur Methode, anders gesagt, zu diesem und keinem anderen unterscheidenden Bezeichnen zu erkennen. Was ist also zu bemängeln, warum soll dennoch an der Irreduzibilität der Unterscheidung von Empirie und Realität festgehalten und somit die Form der Unterscheidung von transzendental und empirisch rehabilitiert werden? Eine sinnvolle Antwort auf diese Frage lässt sich eigentlich nur finden, wenn man die moralischen Begleiterscheinungen dieser den Zweck nicht verhehlenden Entscheidung zur Methode, zu einem bestimmten unterscheidenden Bezeichnen bedenkt. Wenn Selbstreferenztheorien nämlich Prinzipien und Werte als unentscheidbar voraussetzen, so bedeutet dies, dass selbige entschieden werden müssen, soll die Praxis nicht zum Erliegen kommen. Was aber geschieht mit dem konkret einzelnen Menschen; gibt es für diesen überhaupt noch einen theoretischen Platz?

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News und Fake-News

Ein transjunktionaler Imperativ der Grenze zwischen empirischem und realem Mensch In ethischer Hinsicht lautet die zentrale Frage folglich, ob der Hinweis auf die zirkuläre Konstruktion von Empirie zur Grenzziehung oder zur Grenzüberschreitung motiviert. Diese Frage ist deshalb von ethischer Relevanz, weil es hier um das Schicksal von dem geht, was auf der anderen Seite der Empirie auftaucht. Dies ist nämlich die noch nicht methodisch kontrollierte, gleichsam rohe Wirklichkeit. Diese rohe noch nicht perspektivisch geordnete, oder noch nicht manipulierte Wirklichkeit ist freilich niemand anderes als der begegnende andere Mensch in seiner Fremdheit. Es ist der Mensch als unbearbeitetes Rohsubjekt, als Einzelner. An dieser Stelle zeigt der Versuch, die luhmannsche Erkenntniskritik in ein Argument für den Erkenntnisanspruch der empirischen Forschung rückzuverwandeln, seine problematischen Züge. Denn sollte das ganze Problem einer im empirischen Datum nicht erreichten Wirklichkeit durch die selbstkritische Haltung der empirischen Forschung behoben werden können, so wäre es schnell aus der Welt zu schaffen. 69 Es bedürfte nur jener immer wieder zu beteuernden Vorläufigkeit, um dem Einzelnen gerecht zu werden. Der Hinweis auf die fehlende Koinzidenz von empirischem Datum und Wirklichkeit zielt jedoch gerade nicht auf den begründungstheoretisch abgesicherten und somit gegen Kritik immunisierten Geltungsanspruch. 70 Aus diesen Argumenten ergeben sich Anhaltspunkte für die oben gestellte Frage, was dieses Sein sei, dessen Intransparenz kontrolliert werden soll. Und die kurze Antwort könnte lauten: Es ist der verletzliche Einzelne, auf dessen Sein getroffen wird, wenn Selbstreferenz ins Leere greift. Der von Luhmann in seinen ökologischen und/oder menschlichen Konsequenzen transparent gemachte Zirkel einer Empirie, die der Wirklichkeit immer auf den Fersen bleibt und Das Stichwort lautet »Selbstreflexivität«. Für Sicherheitspolitik, Internationale Beziehungen und Friedenswissenschaften siehe das Themenheft »Selbstreflexivität – Ein Beitrag zu Frieden und Sicherheit? S+F Sicherheit und Frieden, 4, 23. Jg. 2017; Brock/Simon (2018). 70 Das Irreduzible dieser Unterscheidung als paradoxer Einheit zeigt die Theorieintention Luhmanns nicht als Ablösung der Erkenntnistheorie durch eine soziologische Monadologie autopoietischer Systeme (Bühl 2000, 6), sondern als Rettung des konkret Einzelnen angesichts der Nivellierungstendenzen des empirischen Wahrheitsverständnisses in den Sozialwissenschaften. 69

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Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Sachfragen

alle Fluchtwege abschneidet, wo immer sich Menschen als bloße Menschen und nicht als Funktionsträger und Funktionsempfänger, als Daten oder als Daten-Verweigerer zeigen, werden entweder als fruchtlose, nicht anschlussfähige reine Reflexion um der Reflexion willen von der gesellschaftlich relevanten Kommunikation ausgeschieden. Oder sie werden vereinnahmt, zum Beitrag umfunktionalisiert. Die Konklusionen der differenzialistisch-systemtheoretischen Sichtweise sind somit eindeutig: Es kommt zur Aufwertung der mit dem Rohsubjekt Mensch identifizierten Realität gegenüber den usurpatorischen Tendenzen der Subsumption unter den Einheitsbegriff der Empirie. Diese Überlegungen sichern dem einzelnen Menschen und nicht bloß Bild und Konstruktion desselben einen Platz in der Theorie. Und sie leisten einen systemtheoretischen Beitrag zur Ethik, der über die von Luhmann explizierte reflexionstheoretische Kritik der Moral hinausgeht. Dieser ergibt sich aber nicht nur aus der Art und Weise, in der der einzelne Mensch berücksichtigt werden kann. Hinzu kommt, dass die Modalitäten des Umgangs mit der beschriebenen Paradoxie von Empirie und Realität zusätzlich einen ethischen Imperativ hervortreten lassen. Diese Unterscheidung von Empirie und Realität ist erinnerlich darin paradox, dass sie sowohl als eine Einheit zu bedenken ist, gleichzeitig aber auch als Differenz zweier Seiten, von denen jede für sich in einer ganz eigenen Art und Weise die Wirklichkeit darstellen lässt. Die Sorge um den Verbleib des konkret Einzelnen steigert sich in dem Maße, in dem kontinuierlich perfektionierte Datengewinnung und Datenaufbereitung den gläsernen Menschen Wirklichkeit werden lässt. Es ist die skandalöse Konfusion von News und Fake News, die im flächendeckenden Installieren von vernetzten künstlich intelligenten Systemen eine weitere Reduktion des Menschen auf empirische Datenträgerschaft befürchten lässt. Die Verunsicherung führt die Gefahren der Datenspeicherung deutlich vor Augen. Darf die Bevölkerung davon ausgehen, dass die gesammelten personalisierten Daten auf Fakts beruhen, oder muss sie befürchten, dass überwiegend Fakes gespeichert werden? Und da die mit der Materie befassten Einzelwissenschaften mit der Klärung solcher Fragen überfordert sind, ergeben sich für die Ethik keine Richtlinien für Wertentscheidungen. Die Warnung vor dieser Technik, oder sogar der Kampf gegen dieselbe, könnte sich doch schwerlich auf einen Wert der Wahrheit stützen, der in der Paradoxie von Empirie und Realität gerade aufgerieben wird. 72 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

News und Fake-News

Ethische Richtlinien müssten infolgedessen von dieser Paradoxie ihren Ausgang nehmen, um daran anschließend nach Formen der Entparadoxierung Ausschau zu halten, die in einem global vernetzten World Wide Web tragfähig sein könnten. Durchaus notwendig und auch möglich scheint es nämlich zu sein, ausgehend von einem theoretischen Ort des einzelnen konkreten Menschen, einen transjunktionalen Imperativ (der Grenze) zu formulieren, der in dieser komplexen Gemengelage Anhaltspunkte für einen vertretbaren Formgebrauch liefern könnte. Dieser müsste dem Einzelnen in seinem Selbstsein Schutz bieten, was nur in einem theoretischen Rahmen möglich ist, der den Menschen differenzialistisch denkt. Unmöglich wird dies hingegen in einem Setting, das den Menschen mit identitätslogischen Idealtypen des aufgeklärten, vernünftigen Subjekts oder verantwortlichen Akteurs gleichsetzt. Die Reduktion des Menschen auf Nähe und Ferne zu einem Idealtypus fordert die Ethik nicht sonderlich heraus, da von ihr im Grunde nur erwartet werden kann, den psychologischen, politischen, ökonomischen, juristischen und pädagogischen Bemühungen um die fortschreitende Angleichung des realen an den idealen Menschen mit begründungstheoretisch gesicherten Sollensprinzipien unter die Arme zu greifen. Ganz anders sieht sich die Ethik im Falle der Begründung von transjunktionalen Imperativen in die Pflicht genommen. Denn in diesem Fall bedarf es nicht nur einer plausiblen, sondern einer mit allen Kulturen kompatiblen Formel der Überleitung von den Kontexturen empirischen Menschseins (psychische und sozialen Systemreferenzen) zu den Kontexturen realen Menschseins (konkret Einzelne). Wenn es folglich zunächst darum gehen muss, zu verhindern, dass die eine auf die andere Seite reduziert wird, der Einzelne hinter dem individualistischen oder kollektivistischen Sozialtypus verlorengeht, wenn mithin die Grenze eine zentrale Bedeutung behält, so ist in ethiktheoretischer Hinsicht noch nicht viel gewonnen. Denn die Semantik der Grenze lässt einen negativen oder positiven Wert assoziieren, der, je nach ideologischem Hintergrund, zu bewahren oder zu überschreiten ist. Und da sich die Moderne in ihrem Selbstverständnis mit dem Neuen und Überraschenden identifiziert, setzt sich die positive Bewertung der Grenze dem Verdacht einer rückständigen Gesinnung aus. Die Wertsemantik macht Grenze zu einem politischen Begriff, der Partei ergreifen lässt. Mit diesem ins sozial-moralische Fach gewechselten Begriff werden die sachlich-logischen Probleme 73 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Sachfragen

übersprungen, die der schnellen Politisierung Widerstand entgegenbringen lassen. 71 Nach der mathematischen Logik Spencer-Browns lässt erst das Markieren im Sinne der Grenzziehung zwischen zwei Seiten einer Unterscheidung etwas bestimmen. Bevor Grenze ein Wert oder eine Norm sein könnte, muss sie als eine logische Funktion, als transjunktionale Operation recht begriffen sein. Als solche handelt es sich zunächst um eine Formel oder ein Kalkül der Vermittlung verschiedener Kontexturen. 72 Inwiefern verändert das World Wide Web diese grundlegenden Einsichten? Statistische Methoden der Annäherung an empirisches Menschsein – die nur Muster identifizieren lassen – werden nun durch die algorithmische Methode digitaler Medien ersetzt und diese suchen nicht den durchschnittlichen, sondern einen ganz bestimmten Menschen in den für ihn typischen Merkmale zu erkennen? Ist hier der reale Mensch gemeint, angesprochen und womöglich erfasst? Instantaneität erübrige Vermittlung, kann es jetzt heißen (Baecker 2018, 14). Die Frage bleibt aber doch, ob dies nicht nur für Vermittlung im technischen Sinne gilt. Sind auch transjunktionale Operationen im sachlich-logischen, sozial-moralischen und zeitlich-ontologischen Bereich betroffen? An dieser Stelle geht es uns zunächst nur um die sachliche Sinndimension und infolgedessen um die eventuell hinfällig gewordene ethische Formel, die zwischen dem empirischen und dem realen Menschen vermittelt muss, weil andernfalls der einzelne verletzliche Mensch gegenüber dem immensen Bedarf an Humanressourcen schutzlos bliebe. Das Sammeln und Speichern von immer mehr personalisierten Daten und die Komplettierung fehlenden Wissens durch Zusatzinformationen über Personen mit analogen Merkmalen, so genannten People Like You, sind zwar komplexen Strukturen auf der Spur. Das Interesse gilt jedoch ausschließlich dieser ganz besonderen Person. Es geht um die Annäherung an Identität, mithin an Unverwechselbares, das Möglichkeiten der Wiedererkennung bereitstellt. Komplexität So auch Gamm/Hetzel 2015, 10): Die Gesellschaft verfüge nicht über ein »Wissen um Werte und Normen, um deren Legitimationsgründe und Anwendungsbedingungen.« »Wo die Grenzen einer solchen ethischen Wissensgemeinschaft bereits feststehen, befinden wir uns bereits jenseits der Moral, die jede Art von Zugehörigkeitskriterien zu Gemeinschaften (und sei es derjenigen der Menschheit) auf ihre unethischen Implikationen zu befragen hätte.« 72 Zur transjunktionalen Operation der Grenze als zeitgemäße Reformulierung der kantischen Naturformel des kategorischen Imperativs vgl. Brücher (2017, 143–149). 71

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News und Fake-News

wird zur Quelle der Identitätsgewinnung, zum unerschöpflichen Arsenal der Entdeckung von Besonderheiten, die sich durch Abweichungsverstärkung bilden und also Störungen nicht verhindern, sondern produzieren und suchen.

Vom Durchschnitts- zum individuellen Muster Damit ist Irritation, Unruhe und die kontinuierliche Auflösung von erfolgreich gebildeten Identitäten Voraussetzung für das Entstehen neuer Identitäten und dieses Kontinuieren von Neuheit ist wiederum Voraussetzung dafür, dass es weitergeht und nicht aufhört. Dieses Charakteristikum hatte Luhmann (1982; 1997, 413–594) als evolutionären Movens moderner Gesellschaften beschrieben. Diese benutzen im Gegensatz zu den Stammes- und hierarchisch organisierten Gesellschaften ihre Strukturen nicht als Stabilisierungs-, sondern als Variationsmechanismus. Eine solche Gesellschaft ist in gewisser Weise nicht existenzfähig; sie frisst, wie alle Revolutionen, ihre Kinder und wird folglich als Übergangsgesellschaft eingeordnet. Was also bedeutet der Topos der nächsten Gesellschaft, der in der Systemtheorie diskutiert wird? 73 Ist die Übergangszeit mit der globaltechnologischen Wende zu einem neuen Typus der Netzgesellschaft beendet? Diese Frage bleibt unbeantwortet, denn es ist bisher nur die Rede von einem Kommenden, das jedoch in der Perspektive des Postcontemporary (Avanessian/Malik 2016) bereits heute stattfindet. Die damit verbundenen temporalen Umdispositionen werden weiter unten genauer zu betrachten sein. Nach den bisherigen Ausführungen ist jedoch bereits jetzt erkennbar, in welchem Maße die netzstrukturellen Begriffe der Instantaneität und Komplexität in die Rolle von Einheitsformeln geraten, die empirisches und reales Menschsein umfassen, oder die auch nur einen diesbezüglichen Anspruch geltend machen könnten. Luhmann hatte mit der als irreversibel eingeführten Unterscheidung von Operation und Beobachtung dem einen Riegel vorschieben wollen. Operationen (des Unterscheidens von empirischem und realem Menschsein) werden als beobachtete Operationen zu Schemata, Skripts (Menschenbilder). Big Data aber verspricht, solche erkenntZur Frage, ob die Netzstruktur die funktionale Differenzierungsform verdrängt siehe Baecker (2007a; 2018), Lehmann (2015).

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Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Sachfragen

nistheoretischen Hindernisse aus dem Weg zu räumen, indem das, was den Menschen kennzeichnet, immer kleinformatiger, granulierter ausgebreitet wird. Gleichwohl ist ein solcher Prozess akkumulierten Wissens nicht in der Lage, der epistemischen Differenz ernstlich etwas anzuhaben, da ein solcher Vorstoß in mikroskopische Bereiche, zusammen mit der Einsicht in komplexe Zusammenhänge des Menschseins, auch die Einsicht in dessen Kontingenz hervortreibt. Denn die Form, in der eine solche Beobachtung sich rühmt, den einzelnen Menschen in seinen Wünschen und Ängsten durchschauen zu können, tritt als paradoxe Einheit von Komplexität und Kontingenz in Erscheinung. Was auch immer am Menschen entdeckt werden mag, es könnte auch anders sein. Da die moderne Gesellschaft jedoch in ihrem eigenen Quantifizierungs- und Optimierungsparadigma gefangen ist, verstellt sie sich selbst die Sicht auf diese Differenz. 74 Eine als bloße Kulturform, und nicht als Insgesamt von Merkmalen, begriffene Komplexität bringt dies zum Ausdruck. (Baecker 2018, 61–75). Es handelt sich um die Bewältigung von Problemen des Sinnüberschusses, die mit jedem Auftauchen eines neuen Mediums auftreten: Die Sprache produziert zu viel Referenz, die Schrift zu viel Symbole, der Buchdruck zu viel Kritik und die elektronischen Medien zu viel Kontrolle. Heute steht es an, die unkenntlich gewordene Einheit des Sinns, das Zerfasern in heterogene Singularitäten zu kompensieren und zwar durch die Konstruktion neuen Sinns. Da Sinn aber zweierlei bedeutet, nämlich Selektionszwang und Verweisung auf andere Möglichkeiten des Selegierens, müsste Komplexität, sofern sie sich als Kulturform der Netzgesellschaft herausbilden sollte, in genau dieser Weise nach Auswegen aus dem Kontrollüberschuss suchen lassen. Ein Erfolg wird nicht zuletzt daran zu messen sein, ob es gelingt, die Differenz zwischen dem realen und dem empirischen Menschen intakt zu halten. Die Kulturform tritt mithin als paradoxe Einheit von Komplexität und Kontingenz in Erscheinung. Um die wachsenden Kontrollmöglichkeiten überhaupt einer Enttäuschungsgefahr auszusetzen, müsste die Grenze zwischen dem

Siehe dazu Nassehi (2019): Mit technisch produzierten immer kleinteiligeren Mustern (Digitalisierung) versuche die moderne Gesellschaft das Problem ihrer eigenen Trägheit, Musterhaftigkeit und Widerständigkeit zu lösen und produziere folglich immer nur neue Muster. Erst die soziologische Aufklärung über dies Faktum biete eine Chance, mit unsichtbaren Mustern richtig umzugehen.

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News und Fake-News

realen und dem empirischen Menschen fest im Bewusstsein eines jeden Netzteilnehmers verankert sein. Dies ist aber, wie oben ausgeführt, nicht als Norm oder Wertfestlegung möglich, sondern nur als Kalkül, als transjunktionale Operation des Wechselns von einer Kontextur (empirischer Mensch) zur anderen Kontextur (realer Mensch). Unter Anleitung des kantischen Kalküls der Naturformel des kategorischen Imperativs läge es beim einzelnen Nutzer, sich stets selbst die Frage zu beantworten, wie eine Welt aussähe, in der ein konkreter Mensch mit all den über ihn gesammelten Daten in eins fiele. In welcher Funktion auch immer dieser Einzelne tätig sein mag, es wäre seine Sache, für jeden einzelnen Fall zu prüfen, ob Grenzziehung oder Entgrenzung im entsprechenden Wirkungsbereich der Gentechnik, der Eugenik und Sterbehilfe, der Humanitären Intervention und der Erforschung Künstlicher Intelligenz Wertentscheidung hervorbringt, die den menschkonstituierenden Unterschied nivellieren oder erhalten.

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III. Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Sozialfragen

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Platons und Luhmanns Formlogik

Die Leere der Selbstreferenz stößt nicht auf nichts, sondern, wie wir gesehen haben, auf den einzelnen verletzlichen Menschen. Dessen Realität zeigt sich, weil auf Daten beruhender Empirie unerreichbar, als dasjenige Sein, mit dem die Ethik befasst ist. Diesem Hinweis auf den theoretischen Ort, an dem die Ethik den Einzelnen findet und nicht verfehlt, korrespondiert in der sozialen Sinndimension ein analoger Gedanke. Hier geht es nicht um das generelle Verhältnis des Menschen zur Welt, das sich im Schema Empirie/Realität darstellt. Die Rede ist vom Verhältnis der Menschen zueinander, das bekanntlich mit dem Verhältnis zu sich selbst auf engste in Zusammenhang steht. Wenn die Konturen der Selbst- und Fremdbeziehung auch schon immer als fluide gedacht werden mussten, so rückt das Objekt dem Subjekt in den neuen humantechnologischen Methoden so nahe, dass dem Schema von Selbst und Anderem der Gegenstand abhandenzukommen scheint. Soweit es sich um künstlich intelligente Techniken handelt, lautet die Frage nunmehr wie folgt: Wo liegen die Grenzen zwischen dem personalen, sozialen, organischen und maschinellen Selbst zum personalen, sozialen, organischen und maschinellen Anderen? Der Beobachter trifft auf Selbstreferenz im Subjektund im Objektbereich. Er sieht sich dadurch um die entscheidende Differenz gebracht, die ihm bislang Anhaltspunkte für die Ausarbeitung einer normativen, um Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und Selbsthervorbringung bemühten Ethik geliefert hatte. Nachdem die expertokratische Ethik mit den Funktionssystemen die Überzeugung teilt, dass ein solcherart ideales Selbstwerden des Einzelnen professioneller Unterweisung bedarf, bemüht sie sich darum, ihm die Last der Wertentscheidung in allen Lebensbereichen

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Platons und Luhmanns Formlogik

abzunehmen. 1 Man sieht: Selbst- und Fremdbestimmung haben sich lange vor den raffinierten Mensch-Maschine-Verschmelzungen verfilzt, sie haben sich so ineinander verhakt, dass der freiheitsemphatische Geist aus den inhaltsleeren Forderungskatalogen entwichen ist. Dies mag das Ende der normativen Ethik sein und der Beginn einer anderen, einer form-logischen Variante. Diese nimmt wieder von der Stelle ihren Ausgang, an dem Platon seine Überlegungen, was das Gute sei, begonnen hatte. Eine im Subjekt- und Objektbereich anzutreffende Selbstreferenz findet bei Platon Ausdruck im Begriff der Seele, soweit sie das Selbst charakterisiert, und im Begriff der Weltseele, soweit sie das Andere inkludiert. Diese Koinzidenz im Ausgangspunkt setzt sich fort in der Koinzidenz einer daraus folgenden Form-Logik, die Schritte auf dem Weg zu dem erkennen lässt, was für den Einzelnen gut sein könnte. Sucht man nach einem theoretischen Ort, an dem die Ethik ihre Sache ernst nimmt und nicht in Politik, Kontrolle und Management übergeht, so kann dies nur die Selbstreferenz des Selbst sein. Wenn sich der Einzelne in seinem Selbst allein aufgrund der zirkulären in sich zurücklaufenden Bewegung nicht vollkommen transparent sein kann, um wie viel weniger vermag er Andere in ihrem Selbstsein zu durchschauen. Es steht ihm lediglich frei, zu beobachten, aber damit erreicht er nicht die Autopoiese, sondern nur das, was seine Schemata erkennen lassen. Die Ethik sieht sich wieder auf den Ausgangspunkt der Frage zurückgeworfen, wie sich verantwortliches Handeln in einem solchen aus Selbstreferenzen (Beseeltem) bestehenden Feld zurechtfinden soll und stößt hierin auf Platon, den genau diese Frage umgetrieben hatte. Die innovativen Potentiale einer Theorie verbergen sich nicht nur in Entdeckung und Bearbeitung neuer Themen, sondern auch im Wiederaufgreifen von Theorieproblemen, die als ungelöste von der Tradition beiseitegeschoben worden sind, um damit bestimmten praktischen Bedürfnissen der Implementierung neuer Techniken Argumente zu liefern. Ein prominentes Beispiel ist der cartesianische Gerhard Gamm und Andreas Hetzel (2015, 9) erinnern an die sarkastischen Bemerkungen Kants in der Beantwortung der Frage: »Was ist Aufklärung?« und fügen der hier angeführten bequemen Unmündigkeit in Fragen des Verstandes, des Gewissens und der Diät, heutige Dienstleistungen des »Ethikexperten hinzu, der mir sagt, wo’s lang geht: wann man Hand an sich legen darf, wann Tiere und zu welchen Zwecken getötet werden können, der ›Mensch‹ in frühen Stadien seiner Embryonalentwicklung entsorgt oder abgetrieben werden darf usw.«

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Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Sozialfragen

Siegeszug der logisch, moralisch und ontologisch bedeutsamen Unterscheidung von res cogitans und res extensa des siebzehnten Jahrhunderts, das sich erfolgreich bemüht, die im Prometheus-Mythos sinnfällig-kulturprägende Ablehnung von Maschinen in kollektive Zustimmung zu verwandeln. Die zählebige Wirkung einer recht besehen begründungstheoretisch ungesicherten Unterscheidung hält bis heute an, nachdem sie sich in den nachfolgenden Jahrhunderten noch einmal zur radikalen Dichotomie von Subjekt und Objekt steigern sollte. So zeigt Des Chene (2001), dass sich die konstruktivistische Kritik an der Subjektphilosophie nicht länger als Bruch mit der Tradition verstehen müsse, sondern auf ältere Logiken wie den mittelalterlichen Aristotelismus zurückgreifen könne. Die Zeit nach erfolgreich gesetztem Schnitt ist durch die zunehmende Konsolidierung jenes mechanistischen Weltbildes gekennzeichnet, dessen fiktionale bloß konstruierte Struktur weder durch philosophische noch durch wissenschaftliche Bemühungen in ein wohl begründetes konkludentes Modell überführt werden konnte. Aber es bedurfte erster Rückschläge des Fortschrittsoptimismus, um an den wunden Punkt der Künstlichkeit und Arbitrarität der erkenntnistheoretischen Dichotomie zu rühren und der Einsicht wieder Raum zu geben, dass sich Selbstbezüglichkeit und Selbstreproduktion nicht auf den Subjektbereich beschränken, sondern auch im Objektbereich auftreten können. Anlass liefern im achtzehnten Jahrhundert die neuen moralisch entfesselten Kriege absolutistischer Herrscher, die ihr unbegrenztes Ius ad bellum mit Hilfe neuer, in ihrer Zerstörungskraft immens gesteigerter Handfeuerwaffen ausüben konnten. 2 Vor diesem Hintergrund hatte der erste Band dieser Abhandlung der kantischen Transzendentalphilosophie zur Einhegung entfesselter Destruktivkräfte systemtheoretische Äquivalente gegenübergestellt. Im vorliegenden Band geht es darum, die immer wieder abgedrängte Selbstreferenzproblematik in ihrer spezifisch systemtheoretischen Neuformulierung den platonischen Dialogen zu konfrontieren. Nicht nur kommt denselben nach wie vor die Bedeutung eines in jeder Epoche neu zu aktualisierten Ursprungstexts zu. 3

Da auf der großen Weltbühne »bei Menschen und ihrem Spiele im großen gar keine vernünftige Absicht« erkennbar sei, sondern eher Torheit, kindische Eitelkeit, oft auch kindische Bosheit und Zerstörungssucht, wählt Kant (1784/1967, 41) als Referenzformel guter und schlechter Wirkungen den Begriff der Naturabsicht. 3 Nicht zufällig ist Alfred North Whiteheads in Process and Reality geäußerte 2

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Platons und Luhmanns Formlogik

Darüber hinaus lassen sich Theoriegewinne auf dem Feld interkultureller Verständigungsmöglichkeiten erzielen. Denn aus einer wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive gesehen, gilt die bleibende Relevanz der platonischen Texte nicht nur für die okzidentale Kultur, sondern auch oder mehr noch für die orientalische Tradition (Freely 2009). Ihrer Anerkennung stehen jedoch Abgrenzungsbedürfnisse gewachsener Gemeinschaften entgegen, die in der Wiedererinnerung des Gemeinsamen nicht zu übersehen sind. Keinesfalls aber handelt es sich um bloße Ursprünge, die zeitlich so weit zurückreichen, dass ihre Rekonstruktion nur noch von historischer, jedoch nicht mehr von einer Bedeutung für unser heutiges Selbstverständnis wäre. 4 Auch hat sich die schroffe Entgegensetzung von Platon und Aristoteles gewissermaßen als Exponenten einer idealistischen und einer empirischen Tradition nicht halten lassen. Sie entspringt dem später von liberalistischer und sozialistischer Seite aufgegriffenen Bemühen der Aufklärung, philosophische Diskurse in weltanschaulich-ideologische Lager aufzuspalten und somit parteipolitisch verwertbare diametrale Schulen als einander widersprechende Lehrmeinungen zu skizzieren. 5 Andererseits stehen hinter solchen Kontroversen gewichtige Theorieprobleme, die selbst innerhalb einer bestimmten Richtung wieder zu ähnlich gelagerten Entzweiungen führen. Das gilt selbst heute, wo die technologische Entwicklung selbstreproduzierender Maschinen diesem Grundkonflikt die Basis entzogen zu haben scheint. Wenn Platon eher für die idealistisch-technikkritische Haltung steht und Aristoteles für den empirisch-technikaffinen Standpunkt, 6 so mag der Rückgang auf zentrale platonische Texte, die in der gesamten Kulturgeschichte ihre Spuren hinterlassen haben, aufschlussreich sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie in ihrer FormBemerkung berühmt, die gesamt Philosophiegeschichte sei eine Reihe von Fußnoten zu Platon. Siehe dazu Christoph Kann (2001). 4 Werner Heisenberg (1969) und Richard von Weizsäcker (1971) weisen darauf hin, dass die gesamte moderne Naturwissenschaft von Platonikern (Galilei, Newton, Kopernikus, Keppler) begründet worden sei. 5 Die sog. platonischen Körper (den Elementen zugeordnete quasi atomare kleinste Teilchen) des Thimaios sind ein Beispiel für die Gewaltsamkeit der ideologischen Inanspruchnahme. Der aristotelische Begriff der Erfahrung seinerseits steht, qua erlebt Durchgestandenes, dem empirischen, von konkreten Lebenserfahrungen gerade abstrahierenden Verfahren geradezu entgegen. 6 Zum Weg von der aristotelischen Praxis zur Technisierung der Lebenswelt siehe Wolfgang Krohn (2002).

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logik der Theorie selbstreferenzieller Systeme konfrontiert werden. Denn der angesprochene Theoriestreit, der mehr ein Streit um Grundsatzprobleme ist, entspricht den beiden vom Altphilologen Arbogast Schmitt (2008) bis in die Anfänge datierten stets nebeneinander herlaufenden Formen rationalistischen Denkens. Eine gegenständlichunmittelbare konkurriert mit einer abstrahierend-selbstreflexiven Sichtweise, wobei in bestimmten Epochen jeweils eine der beiden Varianten die Meinungsführerschaft zu übernehmen scheint. Platon spricht in Bezug auf die Klärung über das Seiende und Nicht-Seinende im Sophistes (246 St. 1A) von einem Riesenkrieg, der wegen der Uneinigkeit über das Sein herrsche. »Die Einen ziehen alles aus dem Himmel und dem Unsichtbaren auf die Erde herab mit ihren Händen, buchstäblich Felsen und Eichen umklammernd. Denn an dergleichen halten sie sich und behaupten das alles sei, woran man sich stoßen und was man betasten könne, indem sie Körper und Sein für einerlei erklären, und wenn von den anderen einer sagt, es sei auch etwas, was keinen Leib habe, achten sie darauf ganz und gar nicht und wollen nichts anderes hören.«

Zur technischen Entdifferenzierung von Idealismus und Empirismus Wenn wir es heute mit maschinellen künstlich intelligenten Systemen zu tun haben, die eine auf sie zugeschnittene Wirklichkeit konstruieren, dann verwandelt sich die empirische, unmittelbar erlebbare Wirklichkeit in jenes formale, aus Zahlen und Formeln bestehende Konstrukt, in dem Platoniker das Ferment des Wirklichen erkennen. Zugleich geht es Platon und durchaus auch dem im formlogischen Denken beheimateten Luhmann um eben das konkret Einzelne in seiner Besonderheit, um dessen Wohl Empiristen besorgt sind. Nimmt man den systemtheoretischen Grundsatz ernst, man könne die (Welt-) Gesellschaft nicht ablehnen, da man in seinen eigenen systemkritischen Einwänden zur Stabilisierung des kommunikativen Selbstreproduktionsmechanismus beitrage – was mit der weltweiten Entwicklung und breitflächigen Instituierung von künstlich intelligenten Apparaturen evident scheint – so muss Ethik nicht kapitulieren. 7 Aber es kommt auf ihr Verständnis von Technik Digitalisierungsdebatten bekommen es mit dem Problem zu tun, dass die erfolgreich voranschreitende gesellschaftliche Konstruktion mit Technik eine gesellschaft-

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Platons und Luhmanns Formlogik

an. Die Komposition einer Ethik, die sich auf der Suche nach einer Formel des Normgebrauchs sehr viel eher als Technik der Kultur begreifen lässt, denn als Begründung allgemein geltender Normen, führt auf diesen Weg. Hier verbergen sich Anhaltspunkte auch für Technikbestrebungen, kulturelle Dispositionen in die AlgorithmenSprache zu integrieren. Für ein solches Projekt müssten Informatiker und insbesondere auch Wirtschaftsinformatiker gewonnen werden. Denn nur die Begeisterung im Sinne der platonischen Liebe zur Weisheit, des Eros, kann bewerkstelligen, was der moralische Zeigefinger und ein normativer Forderungskatalog nur verspielen würden. Zunächst aber geht es um die Frage, wie eine solche Technik der Kultur im Rückgriff auf Platon den alten Gegensatz zwischen dem maschinenstürmenden Idealismus und dem technikaffinen Empirismus und Materialismus hinter sich lassen kann und damit, wie Formalismus und ethisches Interesse für das Einzelne und den Einzelnen zusammenzudenken sind. Eine Brücke vom Formalen zum Gegenständlichen findet sich bei Platon selbst in seinem Siebenten Brief (Platon 1964), der die Erkenntnisschritte aufzeigt, mit denen eine Annäherung an das Einzelne einzig denkbar scheint. Der Text zeigt seine aktuelle Brisanz, wenn man ihn mit den von Luhmann (2008, 122) als »Steigerung der analytischen Leistung« vorgestellten Rückführungen konfrontiert. Die Stufenfolge oder Erkenntniskaskade dient Platon, ähnlich wie später Luhmann die ›Rückführungen‹, als Argument für den Verzicht auf eine durchformulierte präskriptive Ethik. Die Übersetzung der Theoriesprachen wird in dem von Platon skizzierten Weg der Erkenntnis ein formlogisches Pendant der systemtheoretischen Entparadoxierung wiedererkennen. Nachdem sich gezeigt hat, dass auch im detranszendentalisierten nachmetaphysischen Entwurf die immer gleichen formlogischen Probleme im Gewand eines jeweils neuen Theoriedesigns hervorbrechen, scheint ein solcher Rückgang gerechtfertigt. Luhmann (2008, 122) benennt eine Stufenfolge der Rückführungen »(1) von Freiheit (der niemand aus moralischen Gründen widersprechen kann) auf Kontingenz und von Kontingenz auf Kom-

liche Reaktion auf Technik zunehmend schwieriger macht. Zu diesem Prozess vgl. für die USA J. R. Rankin (2018) und für Deutschland zwischen 1955–1990 F. Bösch (2018). Erste robotergesteuerte Supermarktfilialen, wie z. B. in Stuttgart »Emmas Enkel« oder Restaurant-Ketten in vielen Städten, feiern die Entbehrlichkeit von Personal als Fortschritt.

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plexität; (2) von sozialen Freiheitsschranken auf doppelte Kontingenz und (3) von Idealen oder regulativen Ideen, die selbst Werte darstellen auf Kontingenzformeln und von Kontingenzformeln auf Probleme, die als Katalysatoren dienen …«. Platon seinerseits benennt vier Schritte, die notwendig seien, damit Erkenntnis zustande kommen kann. Der fünfte falle mit dem Seienden selbst zusammen, wobei diese Koinzidenz allein aufgrund der Einbettung der gesamten Abfolge in ein differenztheoretisches Konstrukt nicht den Schluss nahelegt, die platonischen Ideen – die Einholung dieses Seienden – seien letztlich doch als Idealtypen zu verstehen. Die vier einander bedingenden Schritte sind: (1) Name, (2) Definition, (3) Abbild im Sinne von Darstellung und (4) Idee. Die Nähe zur formlogisch-systemtheoretischen Denkweise zeigt sich bereits darin, dass Platon den Sinn der Stufenabfolge an mathematischen Beispielen aufzeigt. »Nimm als Beispiel einen Einzelfall … und dann übertrage das auf alles. Zum Beispiel gibt es ein Ding, das man Kreis nennt. Sein Name ist eben gerade das Wort, was wir jetzt ausgesprochen haben. Das zweite ist seine Definition: sie besteht aus Substantiven und Verben. Der Satz nämlich ›Dasjenige Ding, dessen äußerste Punkte überall gleich weit von der Mitte entfernt sind‹, das wird etwa die Definition sein, das den Namen rund und gleichförmig gebogen und Kreis trägt. An dritter Stelle steht das, was gezeichnet und wieder ausgewischt wird, gedrechselt wird und wieder zerstört werden kann. Von all dem erleidet der Kreis selbst, auf den alle die genannten sich beziehen, nichts, da er etwas anderes ist als sie. Das vierte aber, die Erkenntnis und die Einsicht und die wahre Meinung, stützt sich auf diese Dinge. All dies ist als eine Klasse aufzufassen, da es nicht in Sprachlauten noch in räumlichen Formen, sondern in der Seele existiert: dadurch ist es deutlich etwas anderes als das Wesen des Kreises an und für sich und als die drei vorhin genannten Dinge. Unter ihnen aber kommt der Einsicht (in machen Übersetzungen: Geist, G. B.) dem fünften am nächsten, durch Verwandtschaft und Ähnlichkeit, die anderen sind weiter entfernt. Ganz gleich steht es mit geraden Figuren, mit Farbe, Gut und Schön und Gerecht, mit jedem geschaffenen und natürlich gewordenen Körper, Feuer, Wasser und allem ähnlichen, mit jedem Lebewesen und dem Charakter, jedem Tun und Leiden.« (Platon 1964, 35, 342b; 36, 342c, d) Die vierte Kondition, die Idee, lässt sich, wenn man die altgriechische Bedeutung von Seele als Prinzip der Bewegungen 84 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

Platons und Luhmanns Formlogik

zugrunde legt, mit den heutigen Begriffe der Konnektivität und Suche nach Korrelationen umschreiben. Eine solche Suche folgt dem Pfad katalytisch wirkender Probleme. Die systemtheoretische Übersetzung lässt sich im Vorgriff auf nachfolgende Ausführungen wie folgt zusammenfassen: Namentlich genannt wird etwas Konkretes; Luhmann nennt Freiheit als den für das westlich-abendländische Selbstverständnis zentralen Begriff. Die Auslegungsvarianten sind indes uferlos, ein Sachverhalt, auf den der Begriff der Kontingenz aufmerksam macht. Die weitere, durch Definitionsbemühungen zu gewinnende Präzisierung öffnet die Kontingenz der Assoziationen auf ein Problemfeld, das als Komplexität, als prinzipiell auch anders mögliche Auslegung erscheint. Dies zwingt die Definitionsbemühungen in einen Vergleich mit allen kursierenden und in Zukunft möglichen Definitionen. Im Blick auf Gefahren, die einer Gemeinschaft in ihrem Zusammenhalt aus der Variabilität von Auslegungsmodalitäten erwachsen, konstruiert eben diese Gemeinschaft genuin beschränkte Freiheitsrechte, deren Herleitung wiederum kontingent und somit anfechtbar ist. Aus dieser dem Problem der Komplexität erwachsenden Notlage – denn die Kontingenz ist eine wechselseitige, doppelte – ergibt sich ein weiterer Schritt der Präzisierung, den Platon mit der Notwendigkeit zur Darstellung oder Repräsentation dessen umreißt, was ausgesagt werden soll. Luhmann nennt Ideale und regulative Ideen als Formen dieses Darstellens. Nach Platon verfehlt jede Darstellung die gemeinte Idealität, weshalb gesagt werden könne, das Denkbare sei realer als das Sichtbare. Luhmann fasst die Unerreichbarkeit im Begriff der Kontingenzformel. Jedes der platonischen Erkenntnisschritte und der Abfolge von Rückführungen bei Luhmann, markiert spezifische Funktionen, die nicht etwa zusammengenommen und somit in ihrer Summe Erkenntnis garantieren. Ihre Leistung beziehen dieselben aus ihrer Funktion innerhalb der gesamten Schrittfolge. Das bedeutet: Wort oder Name an sich weisen in die falsche Richtung, ohne eine Klärung desselben im Kontext einer grammatischen und sinnkonstituierten Bedeutungszuschreibung. Wort und Begriff weisen wieder in die falsche Richtung, ohne die Rückbindung an repräsentative Bilder schaffende Vorstellungskraft. Was allen drei Funktionen aber wiederum vorausgeht, ist die Idee, wobei dies Vorausgehen seinerseits als Funktion zu verstehen ist: Idea oder eidos bei Platon, Kontingenzformel bei Luhmann, begrenzen die Beliebigkeit kontingenter Interpretation, was sich im Faktum einer gewissen Evidenz im Negativen nieder85 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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schlägt. 8 Die zweifelsfreie Identifizierung von Gerechtigkeit im Konkreten, und mehr noch die genaue Angabe dessen, was unter dem Gerechten oder Guten zu verstehen ist, gelingt kaum. Im Urteil, dass etwas ungerecht und ungut sei, lässt sich jedoch unschwer Konsens finden. Aber es ist nicht nur diese Funktion einer Stoppregel, die Beliebigkeit in Schranken hält. Idee und Kontingenzformel sind der Ort oder die Quelle eines prinzipiell unzerstörbaren Kontingenzbewusstseins. Und dass dies nicht allein für sozial-moralische und damit per se aushandlungsbedürftige, sondern für schlechtweg alle Begriffe gilt, versucht Platon durch die Wahl der Beispiele verständlich zu machen. Diese sind in der Regel mathematischer Natur und damit in ihrer formalen Gestalt auf alle Sachverhalte übertragbar. Um diese generalisierbare Rückbindung und somit die Erweiterung der Aussagekraft auf sachlich-logische und zeitlich-ontologische Themenbereiche bemüht sich auch die sinnfunktionale Kontingenzformel (Luhmann 1990, 396 f.): Limitationalität schränkt nicht nur die Selektionsfreiheit jener Wissenschaftssysteme ein, die Kontingenzbewusstsein als Thema wissenschaftstheoretischer Selbstdarstellung hochhalten. Sie zeigt sich vielmehr als Faktum schwerlich vermeidbarer Kontroversen. Auch auf sozial-moralischem Gebiet sind die Kontingenzformeln von Politik und Recht, nämlich Legitimität und Gerechtigkeit nicht nur als Idealtypen zu verstehen und somit an einen empirischen historisch-gesellschaftlich konstituierten Legitimitätsglauben und an soziokulturell bedingte Vorstellungen gerechten Handelns geknüpft. Hinzu kommt das Faktum schwerlich zu unterbindender Kontingenz und mithin die paradoxe Einheit von Kontingenz und Notwendigkeit, sichtbar am globalen Wettbewerb um weltkulturelle Dominanz, um die Macht der Soft Power. Diese ist es, die sozial-moralische Idealität auf ihre Funktion zu reduzieren zwingt. Nicht minder weisen die zeitlich-ontologischen, Sinn darstellenden Kontingenzformeln von Wirtschaft und Religion, Knappheit und Gott, auf die paradoxe Einheit von Kontingenz und Notwendigkeit hin: Weil es kein welteinheitliches Menschen- und Weltbild gibt

8 Platon stellt im Sophistes (680) die Frage, ob es auch Ideen vom Hässlichen und Bösen gebe und wählt statt der Antwort eine Umschreibung: Es seien zwei Arten der Schlechtigkeit in der Seele anzuführen, die eine wohne ihr ein wie dem Leibe die Krankheit (als Aufruhr und Krankheit der Seele), die andere wie die Hässlichkeit (als Unverstand).

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und infolegessen keine globale Einigung auf den Formgebrauch der Unterscheidung von primären und sekundären Bedürfnissen, bleibt der globale Konsens bezüglich institutionell und waffentechnisch gestützter Just-Peace-Programmatiken aus.

Zur Form der Menschenrechte Die Rekonstruktion dieses funktionalen Zugangs zu den drei Sinndimensionen, der am differenziellen Formgebrauch ablesbar ist, soll noch einmal am Begriff der Menschenrechte beispielhaft erläutert werden. Die gesuchten Funktionen richten sich nach dem Stellenwert eines Begriffs im Kommunikationsgefüge, man kann auch sagen, in der Kultur, oder in eingespielten Modi der Verständigung. Die Diskursethik spricht von konsensualen Vorverständigungen, wo so kommuniziert wird, als würden alle dasselbe meinen, wenn sie sich eines bestimmten Begriffs bedienen. Dem kritischen diskursethischen Einwand nach zielt die notwendige Ergänzung allerdings nur auf den Erhalt des im Wahrheitsbegriff immer mitschwingenden Idealen. In diesem Sinne haben die Menschenrechte eine zugleich axiomatische und axiologische Bedeutung, denn jeder meint zu wissen, was gesagt wird (sachlicher Sinn) und wie das Gesagte moralisch einzuordnen ist (sozialer Sinn) und was jetzt getan werden muss (zeitlicher Sinn). Die Idealität ist gleichsam dreifach abgesichert und damit gegen Anfechtungen geschützt. Ethik hat die Funktion, die Geltung von Moralmaximen und mithin die fraglose Anerkennung von Werten wissenschaftlich zu stützen. Will sich ein solches Programm gleichwohl als kritisches verteidigen, so gelingt dies der Intention nach durch die Reduktion des Begriffs Kritik auf die Konfrontation einer imaginierten idealen Gesellschaft mit den in der Realität vorgefundenen Defiziten. Erst in der Rückfrage nach der Form eines solchen Bezeichnens wird das Autoritative dieses diskursethischen Verfahrens sichtbar, das ein Wissen um den Idealtypus immer schon voraussetzt. Da jetzt einsetzende Kritik den parteiischen Blick eines hypostasierten Idealen reflektiert, lässt sich mit der Stufenleiter Platons fortfahren: Name: Eine dichotome Struktur macht sich bemerkbar, sobald man nach der Form eines Bezeichneten, wie den Menschenrechten, fragt. Als sinnverstandener Begriff erschöpft sich dessen aktuelle Verwendungsmöglichkeit im zustimmenden affirmativen Gebrauch. Die 87 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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sinninhärente Potentialität, das auch anders möglich sein des Begriffsverstehens, reduziert sich auf die Negation. Es gibt nur Achtung und Missachtung der Menschenrechte. Man könnte also sagen, wer sich in der westlich-abendländischen Sprachgemeinschaft und den hier dominierenden politisch korrekten Regeln bewegt, für den muss die Form als Dichotomie verstanden sein. Indes hat die medienbedingte Globalisierung der Kommunikation die Bedingungen für die Handhabung dieser schlichten Ja/NeinDichotomie suspendiert. Dies bringt die Gesellschaft in Konflikt mit sich selbst. Denn als Code jeder Sprachverwendung bleibt der Ja/ Nein-Dualismus irreversibel. Das bloße Aussprechen des Wortes Menschenrechte aktiviert den Ja/Nein-Code. Wer nein sagt, manövriert sich ins gesellschaftliche Abseits. Wo die bloße Nennung schon hinreichende Verständigungsmöglichkeiten bietet, lassen sich die Vorbehalte moslemischer, hinduistischer, buddhistischer, konfuzianischer und bis vor kurzem noch evangelischer und katholischer Kulturgemeinschaften, je nach Freund- und Feindstatus, lediglich als noch unaufgeklärt, oder als Zeichen von Menschenfeindlichkeit, als Signum eines ›genozidalen Volkes‹ einordnen. Immigration und transnationale Kommunikation zwingen jedoch dazu, gewohnte Diskurspraktiken zu transzendieren und zur zweiten Stufe in der Abfolge der von Platon benannten Erkenntnisprogredienz zu gelangen. Definition: Auf dieser zweiten Stufe stellt sich die Frage nach der Begriffsklärung. Über die praktisch-politisch-rhetorische Verwendung des Begriffs hinaus wird nach den semantischen Konnotationen und hier auftretenden Widersprüchen gefragt. Die Ebene der bloß symbolischen Generalisierung als Anzeige für die Funktion schlichter Namennennung wird zugunsten der Semantik verlassen. In symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien ist nach Luhmann (1990, 189) nämlich bereits »ein Hinweis enthalten auf eine paradoxe Fundierung des Wissens, aber der Hinweis ist so gefasst, dass das Kommunikationssystem der Gesellschaft ihn aufnehmen und verarbeiten kann, ohne ins Oszillieren gebracht und blockiert zu werden.« Und genau diese Funktion gesellschaftlicher Selbstimmunisierung gerät auf der zweiten Stufe in Gefahr. Begriffliche Reflexion kann gesellschaftliche Bestandsinteressen nicht mehr berücksichtigen und das bedeutet für die Menschenrechtsformel eine Herauslösung aus dem Opportunismus des Wertediskurses. Luhmann (1995, 229–236) gelangt davon ausgehend zur Diagnose einer dreifachen Paradoxie: 1. Es handelt sich um Natur88 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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recht, das sich in die Gesellschaft hinübergerettet hat 2. Es handelt sich um vorpositive Rechte, die positiviert worden sind und 3. Man erkennt Menschenrechte erst an den Verstößen. Auf der Ebene definitorischer Präzision ist die schlichte Ja/Nein-Dichotomie aufgebrochen und Zweitcodierungen wie Natur/Kultur, Natur/Gesellschaft, Vorpositiv/Positiv wecken ein Interesse an den Gründen für die ablehnende Haltung nichtwestlicher Kulturgemeinschaften. 9 Darstellung: Nun gewinnt die dritte Erkenntnisstufe der Reflexion von Repräsentationen an Bedeutung, da sich die blockierenden Wirkungen der vergegenwärtigten Paradoxie bemerkbar machen und gewohnte Freund/Feind-Zuordnungen an Orientierungskraft verlieren. Erst wo die Differenz von Evokation – das Aussprechen eines Wortes signalisiert die Rechtgläubigkeit einer politisch korrekten Gesinnung – und begrifflicher Spezifikation zum Thema wird, kommt es zur Problematisierung der modellogischen Repräsentanz. Für den westlich-abendländischen Kulturkreis bestimmend ist der von Max Weber als veranschaulichendes Modell konzipierte Idealtypus. 10 Kontraktualistische Gerechtigkeitstheorien geraten auf dieser Ebene nicht anders als kommunitaristische und diskursethische Theorien mit nichtwestlichen Modellen in Konflikt. Denn die Menschenrechte gelten hier noch lange nicht als begründungstheoretisch abgesicherter und nur noch global durchzusetzender Wert. 11 Im kontraktualistischen Modell liegt die Last der Begründung auf der Konstruktion eines hypothetischen Gesellschaftsvertrags, im Falle des Kommunitarismus auf der Annahme gemeinsamer Interessen einer regionalen Gemeinschaft und bei der Diskurstheorie ist es die Hypothese deliberativer Einigungsprozesse, die vorpositive Rechte annehmen lassen. Diese legitimieren den gewaltgestützten Vorgriff auf ihre universale

Zum prekären Verhältnis von Moral und Religion als Hintergrund des gegen den Westen erhobenen Vorwurfs der Selbstermächtigung und Selbstvergöttlichung siehe (Brücher 2017, 88–112). 10 Auf der Suche nach der »Objektivität« sozialwissenschaftlicher Erkenntnis gelangt Max Weber (1991, 73) zur Bedeutung von »Gedankenmodellen«, die durch begriffliche Steigerung bestimmter Aspekte der empirischen Wirklichkeit gewonnen werden. Zu Konzeption und Rezeption des Idealtypus siehe Uta Gerhardt (2001). 11 Zu den gegen kosmopolitischen Skeptizismus sprechenden Argumenten des kosmopolitischen Kognitivismus, der die internationale Ethik mit Anwendungs- und Übertragungsfragen befasst, siehe Wolfgang Kerstin 1998, 523). Dissens zeigt sich z. B. in der nicht-interventionistischen Lesart der Schutzverantwortung durch den Globalen Süden. Siehe Shanti Aboobaker (2017). 9

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positivrechtliche Geltung. 12 Offensichtlich gehen allein vom veranschaulichenden Idealtypus Gefahren für den Weltfrieden aus. Es sind dies Gefahren, die sich in der Konfrontation mit einem erstarkenden moslemisch-fundamentalistischen Dschihadismus potenzieren. Dem terroristisch-antiterroristischen Weltkonfliktsystem immanent bleibt eine Diskussion, die zu Darstellungszwecken komponierte Idealtypen gerechten Friedens und daraus abzuleitende Interventionsbefugnisse zum Thema macht. Mit allen Mitteln durchzusetzendes vorpositives Recht bezieht seine Legitimität aus einander wechselseitig bestätigenden Verweisungen eines Gewünschten auf ein dieses ermöglichende Wünschbare: Gerechtigkeit plus Freiheit plus Sicherheit plus Selbstverwirklichung plus Wohlstand. 13 Die im Idealtypus visualisierte Darstellung entfernt im Anschluss an den Iconic Turn noch mehr vom realen Leben, indem er das Gewünschte in drastisch lakonischen Bildern zu vermeidender Übel mit einer nicht mehr kritisierbaren Evidenz ausstattet. Im Gegensatz zu Modellen guten Lebens, die bezogen auf werthierarchische Festlegungen immerhin Auseinandersetzungen über Prioritäten und Ausnahmeregelungen zulassen, und damit kulturspezifische Differenzen registrieren lassen, betritt die ikonographische Ethik mit der ganzen Autorität moralisch gestützter Intuition die internationale Bühne. 14 Will man das, was sich hier ereignet, im Aufbau erkenntnisprogredienter Näherung noch verstehen, so muss man eine weitere, und zwar die letzte Stufe in Augenschein nehmen. Idee: Das Schreckensbild der Menschenrechtsverletzung in Gestalt von Tod und Zerstörung steigert den Idealtypus in seiner Sichtbarkeit, dies aber bloß als Negativvariante eines zweifelsfrei Abzulehnenden, eines Schlechten und Bösen. Was die Menschenrechte sind, erfährt man in der Konfrontation mit dem, was sie nicht sind. Damit sehen sich allenfalls die Abwehrrechte angesprochen, aber nicht die inzwischen numerisch gewichtigeren Anspruchsrechte. Nur in weitere Probleme führt ein Konklusionsverfahren, das mit eingeschobe-

Für diese drei Richtungen stehen im Hinblick auf ethische und friedensethische Themen die Namen John Rawls, Michael Walzer, und Jürgen Habermas. Zur Kritik siehe Teubner (2000; 2007). 13 Zur Entparadoxierung von pax et justicia et securitas et modestas et caritas des altrömischen Rechts in modernen Friedensbegriffen vgl. Brücher (2002, 135–141). 14 Grundlegend ist der Aufsatz von Gottfried Boehm (2001), der eine interdisziplinäre Diskussion ausgelöst hat. Siehe Maar/Burda (2004). 12

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nen metarechtlichen Ebenen operiert und somit nur die Menschenrechtsskala erweitert auf ein Recht zur Herstellung der Bedingungen eingelöster Anspruchsrechte. Aber auch ohne diese Einseitigkeit legt die Ikonographie des Bösen ein Grunddilemma offen, das in den vorangegangenen Erkenntnisschritten eher verdeckt und begrifflich umschifft werden konnte: Im Bild zeigt sich das konkretisierte Gewünschte als abstrakt, als entrückt und schlechterdings nicht mehr zugänglich. Insofern ist nach Platon das Denkbare realer als das Sichtbare. 15 Letzteres changiert zwischen immer individuellen Bedeutungsnuancierungen. Ein jeder sieht hinter dem gemeinsam angestimmten ›Nicht sein von …‹ etwas anderes. Und ein jeder hat andere Vorstellungen von den jetzt notwendigen Handlungsschritten, die Negatives abwehren und Positives herbeiführen könnten. Während das Bild in der abwehrenden Haltung durchaus Konsens stiftet, potenziert es Dissens, sobald die Bestimmung eines Positiven ansteht, dessen unzweifelhafte Existenz und Geltung erst so entschieden die Schreckensbilder hatte ablehnen lassen. Dieser Dissens entsteht aber nur, weil das individuell gedachte Positive so präzise und unverrückbar erscheint. Wäre das Gedachte nicht realer als das Sichtbare, so ließen sich mühelos Kompromisse durchsetzen. Das Problem des nachmetaphysischen Diskurses, der den Anspruch erhebt, die Figur des Transzendentalen auf die Realität ihres sicht- und fühlbaren Kerns empirischer Fakten zurückgeführt zu haben, erscheint vor diesem Hintergrund als konsensstiftendes Narrativ, als Dogma eines nicht negierbar idealtypisch Positiven. Diese dogmatische Wende rührt aber allein aus der Reduktion der Idee auf den Idealtypus und das bedeutet, aus der unverhältnismäßigen Gewichtung der Darstellung gegenüber den anderen Erkenntnisschritten.

Dies zeigt Platon in der Politeia (509d-511c) an drei Gleichnissen, dem Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis, die die überragende Bedeutung der Idee erläutern. Zur Politeia siehe die Beiträge in Höffe (2011).

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2.

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Pädagogik oder Prozeduralisierung Wie aber ist der Vorrang der Idee des Guten und Gerechten und die Nachrangigkeit der positiven und negativen Identifikation derselben in der Wirklichkeit bei Platon zu verstehen? Luhmann (1997, 190– 202) schlägt angesichts der langen Geschichte nachmetaphysischen Denkens und einer in dessen Verlauf weidlich diskreditierten transzendentalphilosophischen Lösung die Unterscheidung von Medium und Form vor. Damit greift er de facto auf das platonische Vergleichsschema zurück, wie es zunächst im Sonnengleichnis dargelegt ist. Im Hintergrund steht bei Platon die Frage nach der Bedeutung des Prädikats, letztlich nach dem, was wir meinen, wenn wir das Urteil fällen, dies sei gut, schön, gerecht. Luhmann argumentiert im Kontext einer für die heutige Zeit charakteristischen Soziologisierung des Sinns, die Bestimmungs- in Verfahrensfragen aufgelöst hat. 16 Das Gute taucht jetzt allenfalls noch in Gestalt des Gerechten auf, das sich durch langjährige Prozeduralisierungen in ein Problem von gerechten, letztlich juridischen Verfahrensmodalitäten verwandelt hat. Die fehlende Eindeutigkeit eines Urteils, das jedem einzelnen Menschen gerecht werden könnte, sieht sich in der prinzipiellen Unabschließbarkeit des Verfahrens berücksichtigt: Wenn Urteile als ungerecht wahrgenommen werden, so lassen sich auf dem Wege immer neuer Verfahren Gerechtigkeitsansprüche einklagen. Selbst dort, wo ein Fall juristisch abgeschlossen ist, springt die Gesellschaft mit Vorschlägen für alternative massenmediale, politische oder kirchliche Verfahrensformen in die Bresche. Die prinzipielle Unabschließbarkeit von Verfahrensweisen korrespondiert jedoch nur scheinbar der Unabschließbarkeit individueller Gerechtigkeitsaspirationen. Es handelt sich um eine sozialtechnische, auf Legitimitätsglauben gegründete Lösung. Und dieser Glaube bezieht sich auf eine Institution, die ihre Funktion nur bis zum Glaubensverlust erfüllt. Auch für Platon existiert diese Lösung der stabilisierten Erwartungshaltung, der Herrschaft verfahrensförmigen Rechts. 17 Da Normierungen jedoch alle Einzelfälle über einen Leisten schlagen, Siehe dazu Clam (2000, 297 f.). Umfangreich traktiert Platon diese Frage in den Nomoi. Siehe dazu die interdisziplinären Beiträge in Zehnpfennig (2008). 16 17

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handelt sich nur um die zweitbeste Lösung. Die beste Form der Konfliktregelung besteht für ihn in einer durch Paideia vermittelte Fähigkeit, einem Jeden gerecht zu werden. Wer dies vermag, nennt Platon einen göttlichen Menschen, einen Philosophenkönig. Zweitrangig ist für die heutige Zeit, und für unseren Zusammenhang, wie realistisch eine solche Pädagogik des Lernens von gerechtem Denken und Denken des Gerechten sein kann. Aristoteles verwirft den Philosophenkönig als Institution schlechthin. Aber er ist darin von einem durch den fehlgeschlagenen Versuch in Syrakus desillusionierten Platon letztlich nicht weit entfernt. 18 Nun hat eine global vernetzte Kommunikation die Akzeptanzbedingungen für verfahrensförmige Lösungsmodi unerreichbar hoch angesetzt. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die kommunikativ vernetzte Welt-Gesellschaft in der Legitimation faktischer Entscheidungen weniger auf Verfahrensmodi und mehr auf Programmatiken setzt. Diese sind weder auf den hypothetischen Konsens der gesamten Weltbürgerschaft noch auf die nachweisbare Effizienz von Verfahrensweisen angewiesen. Denn jetzt gültige Normen und Effizienzkriterien lassen sich als Produkte programmatischer Hervorbringung heute noch nicht in ihren Konturen beschreiben. Sie können deshalb auch nicht aktuelle Handlungsweisen in die Schranken weisen; sie fungieren nur als Recht auf Intervention in komplexe Systeme, nicht als Recht auf körperliche Unversehrtheit. Die Bildung von Ethikkommissionen ist in einer solchen Weltlage nur konsequent. Diese sind im Prinzip nach dem Vorbild der antiken Akademie konzipiert und befassen sich folglich mit Problemfeldern ethischer Vorentscheidungen, die zu reflektieren ausdifferenzierte Subsysteme des Rechts, der Wissensvermittlung und Erziehung überfordern würden. Wenn Funktionalität und Notwendigkeit solcher Kommissionen auch nicht anzuzweifeln sein mögen, so ist noch lange nicht klar, welche Art der Ethik hier zum Zuge kommen soll. Denn für die Ethik gilt grundsätzlich nichts anderes als für die einzelnen Funktionssysteme. Auch in deren Arbeit fließen ethische Metaentscheidungen, die ihrerseits nicht allzu sehr in Frage gestellt werden dürfen, um den Diskurs innerhalb der praktischen Philo-

Platon gibt die Vorstellung von der besten Regierungsform auch nach dem gescheiterten Versuch in Syrakus nicht auf (vgl. Wickert 1949, 47 f.), aber Chancen der Realisierbarkeit sieht er jetzt eher in der zweitbesten, der Rechtsordnung.

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sophie und erst recht zwischen dieser und den Einzelwissenschaften nicht zu behindern. Da sich Luhmann (2008, 57–79) um einen supertheoretischen im Sinne eines Ansatzes bemüht, der erkenntnistheoretische und normative Fragestellungen transzendiert, mag die Arbeit von Ethikkommissionen hier Anregungen finden. Der zu diskutierende Schlüsselbegriff lautet Kontrolle (Luhmann 2017a, 96–120): Moralische Kommunikation kontrolliert Interaktion, Ethik kontrolliert die Art und Weise, in der moralische Kommunikation auch als Kontrolle von Intransparenz gelingen kann. Die gemeinte Intransparenz bezieht sich auf die Gegenwart, vergangene ebenso wie zukünftige. Mit dieser geschichteten Problemkonstellation werden sozialwissenschaftliche Bemühungen um eine Abschottung von Ethik, Philosophie und Theologie hinfällig. Auch sieht sich eine versozialwissenschaftlichte philosophische Ethik in ihrem Selbstverständnis erschüttert. Denn als Normen begründende übergeordnete Moral, die sicherstellt, dass die Moral ihre Funktion der Integration ungestört erfüllen kann (Luhmann 2008, 7–24), bedürfte es einer einheitlichen Gesellschaftstheorie, die die integrierenden Margen festlegt. Im Blick auf eine zusehends konsolidierte globale Netzstruktur liegen die Vorteile der luhmannschen Distanzierung auf der Hand. Denn das integrationstheoretische Normverständnis führt das konflikttheoretische Double als Botschaft immer mit sich: Integration und Konflikt tragen in gleicher Weise zur Normverwirklichung bei, wobei es bislang nicht gelungen ist, zwischen produktiven und destruktiven Konflikten einen nicht bloß lapidar-rhetorischen Unterschied erkennen zu lassen. 19 Mit dieser konflikttheoretischen Erweiterung des Normbegründungsprogramms haben sich die Aufgaben der Ethik geändert. Diese muss von nun an nicht nur Argumente dafür anführen, weshalb das als gut geltende Gute befolgt werden soll, weshalb das Geltende auch gelten soll. Sie muss jetzt auch Gründe dafür bereitstellen, weshalb es gut sein kann, schlecht zu sein, anders gesagt, Konflikte zuzulassen, oder sogar zu schüren. Die Ethik sieht sich wie die Theologie in die Theodizee-Problematik hineingezogen, wenn an sie die Frage gestellt wird, warum sie das Schlechte nicht nur zulasse, sondern weit schlimmer noch, recht-

Zu den Konsequenzen der ausgeblendeten Eskalationsproblematik siehe Brücher (2011).

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fertige. Die Religion hatte für das göttliche Zulassen immerhin die menschliche Freiheit als Beweggrund anführen können. Für eine Rechtfertigung aber fehlen der säkularen Ethik nach Kant, der sich hier gegen den Utilitarismus von Jeremy Bentham richtet, vernünftige Gründe in jedem Fall. Denn um normwidriges Handeln – einer prospektiven höheren Norm willen – rechtfertigen zu können, müsste der Mensch nicht nur die Beweggründe der Anderen kennen. Er müsste auch sich selbst transparent, und damit eben nicht sich selbst sein. Die von Kant auch als »Tücke des Herzens« bezeichnete Neigung zum Selbstbetrug 20 lenkt die Aufmerksamkeit auf ein Problem, das bei Luhmann (2008, 309) als »Intransparenz des Selbst für sich selbst und für andere« angesprochen ist. Zu dieser, zugleich sachlichen und sozialen Begründungsnot tritt die Unerkennbarkeit der Zukunft, und damit verbunden, die unübersehbaren Neben- und Folgewirkungen des eigenen Handelns. Ohne die nachweislich authentische und nicht bloß vorgeschobene Güte der guten Absicht lassen sich Konflikt und Gewalt jedoch nicht legitimieren. Begründungstheoretische Ethiken, so lautet die Schlussfolgerung, bieten angesichts von moralischer Bivalenz und kulturellem Dissens vorzugswürdiger Normen nicht das metaethische Fundament von Kommissionsdiskursen. Denn sie orientieren sich allzu sehr an Idealtypen und mithin an repräsentativen Modellen, an Bildern und Konfigurationen einer guten Gesellschaft, oder am Ideal von mir und meinesgleichen bevorzugter Lebensweisen. Auf diese Weise vernachlässigen sie die Reflexion des paradoxen Insgesamt der Erkenntniskaskade.

Ideale als symbolische Generalisierungen Ein quasi Bilderverbot – in religiösen Semantiken auf Gott bezogen – richtet sich im systemtheoretischen Kontext gegen ein Ideal, das sich als Legitimitätsformel eines global durchzusetzenden Idealtypus

Täuschung und Falschheit liege im »radikal Bösen der menschlichen Natur welches (indem es die moralische Unterscheidungskraft in Ansehung dessen, wofür man einen Menschen ansehen soll, verstimmt, und die Zurechnung äußerlich und innerlich ganz ungewiß macht, den faulen Fleck unserer Gattung ausmacht, der, so lange wir ihn nicht herausbringen, den Keim des Guten hindert, sich, wie er sonst wohl tun würde, zu entwickeln.« (Kant (1793) RGV, Ak. VI 38).

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sichtlich überschätzt. Ideale können nach Luhmann in modernen Gesellschaften nur den Rang symbolischer Generalisierungen beanspruchen. 21 Idealtypische Programmatiken setzen ein übereinstimmendes Bild von abzulehnender Vergangenheit und zu erstrebender Zukunft voraus. Diese beiden Temporalperspektiven der gegenwärtigen Vergangenheit und der gegenwärtigen Zukunft sind jedoch nicht globalisierungstauglich. Nicht tauglich bedeutet: Weder lässt sich unsere Vergangenheitsbewältigung als Maßstab der Bewertung anderer Gemeinschaften verwenden – hat doch jedes Land seine eigene Präsentation von Geschichte. Noch lassen sich spezifische, immer gesellschaftspolitisch und kulturell bestimmte Projekte der Zukunftsgestaltung generalisieren. Das programmatische Denken richtet sich in beiden Fällen bloß nach einem Bild vom Abgelehnten und vom in Zukunft Gewünschten. Wenn also gesagt wird, die globalisierungstaugliche Kommunikationsofferte bedürfe eines Bilderverbots, so wird damit nicht einem religionsmoralischen Gebot Folge geleistet, sondern es wird auf ein schlichtes Faktum regiert: Die vom programmatischen Denken geleitete Kommunikationsofferte transportiert Bilder, die im besten Fall Likes und Smilies provozieren. Im schlechten Fall wird jedoch ein Shitstorm von Hasskommentaren und Verbalinjurien losgetreten, der aus einander bekämpfenden Netzgemeinden Bilder und Sprache bezieht. Der Sachverhalt ordnet sich als ein Verhältnis vom Deutlichen zum Undeutlichen in Bildsprache und Sprachbilder, die sich ihrerseits auf negativen und positiven Idealtypus verteilen lassen. Mit den Bildern von Toten und Verstümmelten, die ins Netz gestellt werden und in den Verbreitungsmedien ins Auge stechen, wird die gegenwärtige Vergangenheit zur Echtzeitpräsentation mit der Botschaft, dass jede Nichtintervention die globale Wirklichkeit nach diesen Bildern formen wird. Auf der Seite des Undeutlichen sieht sich die Zukunft mit Sprachbildern in die Form eines negativen oder positiven Idealtypus gebracht. Diese wird in ihrer Funktion symbolischer Generalisierung praktisch-strategisch umsetzbarer Komplexprogramme vor Augen geführt. Das Sichtbare ist undeutlicher als das Denkbare, weil die Formlogik im Akt der Darstellung notwendig ver-

Zur Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien siehe Luhmann (1975, 170–191).

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fälscht wird. Für unseren Fall: Die Frage: Opfer oder Kollateralschaden klärt sich nicht im Bild von Getöteten im Fernseher. 22 Unter der Hand und kaum bemerkt hat sich der Globale Norden vom Modell eines allgemeinen UN-gestützten Gewaltverbots verabschiedet. An dessen Stelle tritt ein Recht auf den einseitigen Gewaltgebrauch durch jene waffengestützte Macht, die ein solches Recht als Teil einer Just-Peace-Programmatik geltend macht. 23 Angesichts dieser Weltlage und dem aussichtslosen Insistieren auf einer Lösung, deren gewaltmonopolistischen Voraussetzungen auf globaler Ebene nicht gegeben sind, treten die Metabedingungen des Legitimitätsglaubens in den Vordergrund. Innerhalb der Systemtheorie werden anknüpfend an diese Problematik eine Reihe von Reaktionsmöglichkeiten durchgespielt. Luhmann (2008, 123–135) lenkt das Augenmerk auf funktionale Äquivalente, die Ansatzpunkte zu einer Konsolidierung zunehmend fragmentierter Sozialbeziehungen jenseits konsolidierten Rechts aufzeigen. Im Gegensatz zum Recht, das an Erwartungen kontrafaktisch, also auch im Enttäuschungsfall festhalten lässt, veranlasst die Anschlussrationalität Ego dazu, Selektionen von Alter hinzunehmen, sich lernend auf enttäuschte Erwartungen einzustellen und eigene Selektionen an fremde anzuschließen. Als Unsicherheit absorbierender Problemlösungsmodus steigert schließlich Liebe die Hinnahme der fremden Erwartung zur umfänglichen Akzeptanz der ganzen Person. 24 Beide Lösungen adressieren nicht mehr bloß das Rechtssystem, sondern nehmen stärker auch das politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche, erzieherische und religiöse Subsystem in die Haftung. Dies reagiert auf transnationale Wirkungsspektren dieser Systeme. Im Rahmen der globalen Netzstruktur verlieren systemspezifische Einflüsse jedoch ihren Charakter als funktional äqui22 Platons Liniengleichnis, das die formlogische Struktur der Unterscheidung von deutlich und undeutlich beschreibt, wird weiter unten angesprochen. 23 Eine heutige Studie des bereits 1979 zwecks Früherkennung von Krisen und Konflikten gegründete US-amerikanische National Intelligence Council (NIC) (2017) konstatiert das Zerfallen des internationalen Systems in einzelne umkämpfte regionale Einflusssphären, in dem immer mehr dominante Staaten ihre regionalen Interessen aggressiv durchzusetzen versuchen. 24 Vom Wettrüsten atombewehrter Staaten alarmiert, bilden sich nach dem 2. Weltkrieg Non-Violent-Konzepte sozialer Verteidigung, die an Gandhi anknüpfen. Dieser vertritt einen Begriff der Liebe, der weder auf Gefühl noch auf Berechnung gegründet ist und der dennoch als rationale Kalkulation konzipiert ist. Siehe dazu Brücher (2008, 194–257).

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valente Lösungen für bestimmte Probleme und verwandeln sich in beliebige Daten, deren Relevanz aus ihrer Beziehung zu analogen Daten abgeleitet wird. Das moderne Denken in den Kategorien funktionaler Äquivalente bildet sich im künstlich intelligenten Netz in jenes vormoderne Denken in Proportionen zurück, mit der Platon die okzidental-orientalische Kulturentwicklung in Gang gesetzt hat.

Recht und Gerechtigkeit Das heterogene Insgesamt aller auf der internationalen Bühne konkurrierenden Rechtsgemeinschaften mag nach und nach ein Verständnis für die paradoxe Konstitution des Rechts wecken und der kulturspezifischen Selbstimmunisierung Steine in den Weg legen. Luhmann (2000a) hat mit einer Abhandlung »Die Rückgabe des zwölften Kamels« in diesem Sinne eine Diskussion über Gerechtigkeit ausgelöst. Dabei geht es ihm nach Teubner und Zumbansen (in: Teubner 2000, 189–216) um »Rechtsverfremdung« und somit weder um die Frage der mythischen Gewalt eines Rechts, das sich selbst begründet (Jaques Derrida) oder um die Ermittlung einer Grundnorm des Rechts (Hans Kelsen) noch um die ultimate rule of recognition (Herbert Hart). Der Fokus richtet sich hingegen auf die innere Paradoxie des Rechts und mithin darauf, ein problematisches Selbstverhältnis aufzudecken. Denn das Recht ist ein selbstimplikativer Begriff. Man muss im Recht sein, oder sich im Recht fühlen, um zwischen Recht und Unrecht unterscheiden zu können. Es gibt keinen rechtsexternen Maßstab der Gerechtigkeit, weil ein jeder Vorzugswert und mithin auch das Ideal des Gerechten, seinerseits selbstimplikativ ist. In diesem Punkt weist die Erinnerung an funktional äquivalente Leistungen der Anschlussrationalität und Liebe keinen Ausweg, weil auch das Kleinarbeiten von Problemen, oder die Weigerung, auf eine aggressive Aktion eine entsprechende Reaktion folgen zu lassen, im wertethischen Kontext eingeordnet werden. Dies zeigt sich gegenwärtig im unentscheidbaren Streit über die Legitimierbarkeit von Menschenrechtsinterventionen, die das völkerrechtlich kodifizierte Gewaltverbot der UN-Charta außer Kraft setzen. Keine höhere Norm führt aus der Immanenz eines selbstimplikativen Vorzugswertes heraus. Entkommen lässt sich diesem Zirkel nur mit Hilfe eines Kalküls oder einer Formel, die mit der Paradoxie auf eine Weise umgehen 98 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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lässt, die den Frieden nicht gefährdet. Im Gegensatz zu einer Norm, die auch im Enttäuschungsfall Geltung beansprucht, bietet ein Kalkül nicht für alle gleich- oder ähnlich gelagerten Fälle eine Lösung, sondern nur für einen ganz bestimmten Fall. Eine Nähe zum Utilitarismus besteht nur zum Schein. Denn der für jeden einzelnen Fall immer wieder neu zu errechnende höhere Nutzen bleibt ebenso kontrovers wie die Interpretation von Gerechtigkeit und Frieden. Kant hat erinnerlich mit dem kategorischen Imperativ eine solche Formel angeboten. Diese hat allein die Funktion, aus dem Zirkel der immunisierenden Selbstbegründung heraus zu führen. Ebenso wie eine mathematische Formel nur für die Rechenoperation benötigt wird und danach jede Bedeutung verliert, so bieten Natur-, Gesetzesund Zweckformel des kategorischen Imperativs eine Kalkulationsgrundlage nur für den Augenblick der Entscheidung. Darin unterscheiden sie sich grundsätzlich von Normen, die ihre Funktion nur erfüllen, wenn sie als Werte, oder als ein Gut eingestuft werden. Die imperativische Formel Kants setzt einen gemeinsam geteilten Normbestand voraus, alle wollen das Gute. Nicht übereinstimmend sind indes die Vorstellungen darüber, was jeweils darunter zu verstehen ist und wie dieses zu erlangen ist. Im Gegensatz zu den Klugheitsregeln hypothetischer Imperative, die Anhaltspunkte zur effizienten Mittelwahl liefern, bewegen sich die Formeln des kategorischen Imperativs nicht in Zweck/MittelZusammenhängen. Ihre Sorge gilt nicht der Effizienz, sondern der Glaubwürdigkeit, und diese lässt sich nur durch ein widerspruchsfreies Schlussfolgern erreichen. Wieder in Analogie zur Rechenoperation gedacht: Im Falle der widersprüchlichen Konklusion kommt ein falsches Ergebnis heraus und das bedeutet, der Frieden gerät in Gefahr. Kant hatte das ethische Kalkül in einer wissenschaftlichen und juridischen Theoriesprache verständlich zu machen gesucht. An anderer Stelle (Brücher 2017, 135–200) wurde ausgeführt, weshalb diese Bemühung in einer Zeit, die Entscheidungsprozesse zunehmend auf künstlich intelligente Maschinen überträgt, durch eine kybernetisch-systemtheoretische Sprache ergänzt werden sollte. Und sofern die globale Netzkommunikation tatsächlich nach und nach dafür sorgt, dass ein Denken in den Kategorien analoger Daten das moderne Denken in Kategorien funktionaler Äquivalente verdrängt, wird es Platon sein, der ein weiteres Mal zur wegweisenden Referenzfigur wird, an der sich die Rückbildung der Norm in eine bloße Formel im Computerzeitalter zeigen lässt. 99 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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Platon greift neben der mathematischen Formelsprache auch auf Gleichnisse und Mythen zurück. Und da im islamischen Kulturraum das platonisch-aristotelische Traditionsgut noch weit ungebrochener wirksam ist als im säkularisierten Christentum, ist das exemplifizierte gleichsinnige Kalkül der islamischen Rechtsparabel über die Rückgabe des zwölften Kamels eminent aussagekräftig. Denn die moderne Formel des kategorischen Imperativs ist in ihrer ursprünglich gedachten Funktion einer Normenprüfformel heute verkannt und wird in der Regel nur noch als Wegweiser für die Normbegründung angeführt. Wir finden die kantische Reflexionsfigur in der islamischen Rechtsparabel wieder, die sich mit der Frage nach den Wegen befasst, die aus der rechtsimmanenten Paradoxie herausführen. Zum Inhalt der Parabel: Der Wille eines Vaters, dem Erstgeborenen die Hälfte der Kamelherde, dem Zweiten ein Viertel und dem Dritten ein Sechstel zu vererben, kann wegen der auf elf Kamele geschrumpften Herde nicht ohne Streit erfüllt werden. Die gerechte Teilung gelingt erst, nachdem der Richter ein zwölftes Kamel als Leihgabe überlässt. Auf dieser neuen Berechnungsgrundlage erhält der erste sechs, der zweite drei und der dritte Sohn zwei Kamele; das zwölfte Kamel kann zurückgegeben werden. Das zusätzliche Kamel erfüllt seine Funktion der Auflösung des Rechtsparadoxes nur im formalen Rahmen der Rechenoperation, der materiale Rahmen der väterlichen Autorität ist durch den Verlust des einen Kamels und den Tod des Verfassers, der ein neues Testament hätte erstellen können, nicht mehr gegeben. Bei dem weder religiös noch säkular konditionierten Surplus geht es um die Auflösung einer paradoxen Gerechtigkeit, die zugleich als Folge und als Voraussetzung des Rechts das friedliche Zusammenleben unmöglich macht. Luhmann entfaltet die gesuchte Funktion im Anschluss an die islamische Rechtsparabel als eine Figur, die zwecks Errechnung der testamentarisch festgelegten prozentualen Aufteilung des väterlichen Vermögens auf die drei Söhne notwendig ist, nach erfolgreich beendeter Operation jedoch wieder entbehrlich wird. Was ist diese Formel, die ein Gerechtes zu errechnen sucht, im Gegensatz zu einer Norm, die für ein Gerechtes, oder doch zumindest für die Annäherung an und die Herstellung von gerechten Lösungen steht? Die Funktion einer zugleich notwendigen und nichtnotwendigen und somit paradoxen Formel wird bei Luhmann in einer Weise hergeleitet, die sich anhand der platonischen Erkenntnisschritte verdeutlichen lässt. 100 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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Name: Kamel ist als das zu einer Herde von elf Kamelen hinzukommendes zwölftes, etwas Konkretes und Sichtbares. Es ist als Symbolfigur für eine Rechenoperation jedoch unsichtbar und bedarf folglich weiterer begrifflicher Klärung. Definition: Für die verschiedenen Erscheinungsformen der Paradoxie (sichtbar/unsichtbar) sucht Luhmann eine Reihe von Bezeichnungen, die als begriffliche Spezifikationen fungieren: Gewalt (rechtsetzend/rechtserhaltend), Redundanz (begründungsunfähiges Begründen), Parasit (ausgeschlossene Dritte), Punkt/Null (Kontinuität/Diskontinuität), Beobachter (1./2. Ordnung). Diese Begriffe sind Anzeige für immer neue Aspekte der Leistungskraft der Kamel-Figur. Für wechselnde Funktionen steht jeweils ein Begriff, der die notwendigen Verständigungsgrundlagen bereitstellen. Die weiteren Erkenntnisschritte beziehen sich alle auf die Deutung der paradoxen Einheit von Brauchen und Nichtbrauchen. Darstellung: Gewalt ist nicht darstellbar, weil jeder Akteur sich selbst nur als Reaktor versteht. Gewalt ist folglich für die einen, was für die anderen Verteidigung ist. Redundanz ist nicht darstellbar, weil dieses Zusätzliche, das man nicht zum unmittelbaren Verstehen braucht, nur kontextbezogen die Funktion erleichternden Verstehens erhält. Der Parasit ist nicht darstellbar, weil das ausgeschlossene Dritte jener Unterscheidbarkeit entbehrt, die ihn visualisieren und modellogisch darstellen ließe. Es handelt sich um einen moralischen Begriff der Zuschreibung, der auf alles Kreatürliche, oder sogar auf alles Stoffwechselnde, anwendbar ist. Der Punkt oder die Null sind nicht darstellbar, weil man Eindimensionales nicht sehen kann. Schließlich ist auch der all diese Funktionen einbegreifende Beobachter nicht darstellbar, weil er als mark mit dem Markierten identisch ist, weil er als Aktor, der eine Unterscheidung macht, nicht selbst unterscheidend bezeichnet werden kann. Was der 2. Beobachter sieht, ist ein Unterschied zum 1. Beobachter – real oder eingebildet, dies kann er nicht wissen. Offensichtlich vermerkt die luhmannsche nicht anders als die platonische Darstellung das Faktum nicht darstellbarer Formlogik. Alles Dargestellte ist immer auch Irreführung. Dies wird einer ikonographischen Kultur, die alles und jedes im drastischen Bild vor Augen führen möchte, zum Verhängnis. Denn sie verliert jeden Impetus, die Dinge richtig und angemessen zu erfassen und interessiert sich nur für das effektsteigernde Extrem. Idee: Weil von individuellen Hintergrundüberzeugungen abhän101 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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gig und auf konkrete Situationen abgestimmt, ist die gesuchte Orientierungsgröße nur über die Negativfassung erreichbar und darin als Ideal des Gerechten unerreichbar. Diese Differenz von Erreichbarkeit der Negativfassung (Ungerechtigkeit) und Unerreichbarkeit der positiven Fassung (Gerechtigkeit) gehört zu jenen Fällen, die sich nicht lösen lassen, wenn die Unterscheidung von unmarked state und unmarked space unterschlagen und das Jenseits rechtsinterner Lösungen mit dem bloßen Hinweis auf das noch undifferenzierte Unmarkierte beantwortet wird. Die bloß errechnete Gerechtigkeit bleibt auch dann prinzipiell unbestimmbar (unmarked state), wenn die Lösung am Ende als gerecht angesehen wird. Sie mündet nicht in ein generalisierbares Gerechtigkeitskonzept, eine allgemein geltende Norm. Wird die errechnete Gerechtigkeit hingegen als noch nicht bestimmt angesehen (unmarked space), dann wird aus dem Kalkül eine hypothetische Norm, der alle zustimmen könnten, wenn sie ihren Verstand benutzen, oder wenn sie lange genug diskutieren. Auf dieser Grundlage lassen sich alle Handlungen, folglich auch Kriege, als Vorgriff auf eine universale Rechtsordnung legitimieren. Wie sähe nun im speziellen Fall der islamischen Rechtsparabel eine Lösung aus, die alle Hoffnung auf ein Markieren des noch nicht Markierten richtet? In diesem Fall wird der Rechtsfrieden von einem Einigungsprozess erwartet, der einen der Brüder benachteiligt. Denn Gerechtigkeit muss unter den neuen Bedingungen neu bestimmt werden. Was geschieht nun aber, wenn keiner verzichten möchte und jeder auf seinem Anteil beharrt? In diesem Fall, so lautet der sozialdarwinistische und historisch-dialektische Vorschlag des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, sind Ausscheidungskämpfe das einzige Mittel, neue Kräfteverhältnisse und damit eine neue Berechnungsgrundlage für das zu schaffen, was als gut und gerecht anerkannt wird. Nur auf der Grundlage der freiwilligen, oder der unfreiwilligen, nämlich durch Kampf entschiedenen, Einigung bleibt die Rechtstranszendenz der Gerechtigkeit immanent. Dies scheint schlüssig, weil nur hier rechtsimmanente Anschlussoperationen möglich sind. 25 Damit ist aber nur daran erinnert, dass Erfahrung nicht erfahrungstranszendent gemacht werden kann. Der nachmetaphysische Dies betrifft besonders den theoretisch-gesellschaftlichen Ort der Transzendenz in der Gestalt des Opfers. Zur Diskussion siehe Jean Clam (2008), der eine Beschränkung auf Rechtsimmanenz in Luhmanns Gerechtigkeitskonzeption gewahrt sieht.

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Subtext geht aber darüber hinaus, denn er suggeriert, dass die rechtstranszendente Gerechtigkeit (globale Menschenrechtsordnung) noch unbekannt sein mag, aber nach und nach durch Aufklärung, Bildung, wissenschaftlichen Fortschritt und schließlich durch eine Perfektionierung detailgenau den Einzelfall abbildender Logarithmen, Gestalt annehmen wird. Eine solche Argumentation zieht jedoch nur wieder den kantischen, gegen Dogmatismus, Empirismus, Realismus und Atheismus erhobenen Vorwurf auf sich, hier werde eine erfahrungstranszendente reine Annahme als Wissen behandelt. 26 Wird das errechnete Gerechte hingegen als Vorgriff auf eine normative Gerechtigkeit begriffen, dann entspricht das bloß für die Rechenoperation geborgte Kamel einem fake, einem Betrug; der Richter täuscht die Söhne, er nutzt deren kognitive Unterlegenheit aus. Die paradoxe Figur einer zugleich notwendigen und entbehrlichen Gerechtigkeit hat Kant an den Postulaten der praktischen Vernunft in der Sach-, der Sozial- und der Zeitdimension, an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit anschaulich gemacht. Und da uns diese Figur ideengeschichtlich näher ist, sollte sein Vorschlag kurz erwähnt werden. Der Gedankengang ist folgender: Eine unter den gegebenen Voraussetzungen schlechthin unerreichbare Gerechtigkeit lässt sich nur durch ein verfahrenstechnisches Surrogat von Postulaten kompensieren. Andernfalls bleibt nur das absolutistische Ius ad Bellum, das die Kräfteverhältnisse, de facto also die Waffen, entscheiden lässt, wessen Gerechtigkeitsvorstellung gelten soll. Jeder einzelne Mensch müsste seine Handlungen im Geiste dieses Als-Ob beginnen. Als bloßes Kalkül sind Gott, Freiheit und Unsterblichkeit nur im Akt der Entscheidungsfindung notwendig (unmarked state), aber sie sind entbehrlich als konfessionsgebundenes Gottesbild, oder als empirisch nachweisbare Entscheidungsfreiheit, oder als religiöser Glaube an ein Leben nach dem Tod (unmarked space). Und gleichwohl nehmen diese Postulate für sich in Anspruch, über eine rein pragmatische Bedeutung hinauszugehen. Die systemtheoretische Reformulierung in den Begriffen der Selbstreferenz, der Kontingenz und der Autopoiesis zeigt die formlogische Seite und baut dem pragmatistischen Missverständnis vor. 27

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Vgl. Kant (1781), Vorrede der Kritik der reinen Vernunft B, 30. Ausführlich dazu Brücher (2017, 112–134).

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Vom normgeleiteten Kampf gegen Ungerechtigkeit zum Kalkül des Gerechten Da die kantische Postulatenlehre als metaphysischer Ballast beiseitegeschoben worden ist, greift die Systemtheorie auf die alte Sprache in Gleichnissen und Mythen zurück, um einer Figur näherzukommen, deren Bedeutung auf das punktuelle Errechnen einer nur für diesen einen Fall gerechten Lösung beschränkt ist. Was ist diese nur situativ belangvolle Idee eines Angemessenen und Gerechten, ist sie ein nicht Bestimmbares, das nicht normiert werden kann, oder ist sie bloß ein noch Unbestimmtes, das sich prinzipiell normieren lässt? Innerhalb der Systemtheorie stellt sich unvermeidlich wieder dieselbe Frage, die innerhalb des Neomarxismus von Theodor W. Adorno mit einer negativen Denkfigur des Utopischen als radikaler Kritik und von Ernst Bloch mit einer konkreten Utopie beantwortet worden ist (Bloch/Adorno (1985). Scheiden beide Lösungen unter den Bedingungen von Weltgesellschaft und globaler Netzstruktur aus, so bleibt nur das ethisch dimensionierte Kalkül. Vor nahezu zweieinhalbtausend Jahren setzt Platon an dieser Problemstelle mit seinen Reflexionen über das Gute ein. Das in Stadtstaaten mit je spezifischen Verfassungen zergliederte antike Griechenland mochte zusammen mit seinen überseeischen Koloniebildungen den Anblick eines weltgesellschaftlichen Kaleidoskops im Kleinen geboten haben. Gerechtigkeit als Idee des jedem Einzelnen Zukommenden zu verstehen, ist folglich nicht das gewollte oder ungewollte Resultat einer bestimmten Konzeption und Lehre, sondern ergibt sich aus den Beschränkungen einer nur vom Negationspol aus bestimmbaren und somit als Positives unbestimmbaren Idee. Der Umkehrschluss jedoch, der im Kampf gegen Ungerechtigkeit das Gerechte erblickt, führt am Problem vorbei, weil auch das Ungerechte normiert, standardisiert werden müsste, um den Kampf als Mittel der Herbeiführung des Gerechten aufwerten zu können. 28 Vom Rechtsstandpunkt aus gesehen ist Gerechtigkeit notwendig und nicht notwendig.

Im Sophistes behandelt Platon den problematischen Status der Idee als BedingendBedingtes kritisch und stellt u. a. auch die Frage, ob es Ideen von Schlechtem und Bösem geben könne, oder ob es sich hierbei ausschließlich um die Abwesenheit oder die Negation des Guten handele. Vgl. oben FN 91.

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Das Kamel versinnbildlicht ein Gerechtes, das ist und nicht ist. Es bietet sich geradezu als ideale Symbolfigur an, weil das milde lächelnde, behäbige und zugleich wendige, scheinbar unbeschränkt belastbare, ungemein kluge und stolze Tier paradoxerweise zugleich als dümmlich gilt, zumindest in diesem Sinne als Verbalinjurie gegen einen unliebsamen Menschen verwendet wird. Mit dieser Konzession an die Paradoxie des Gerechten wiederholt die systemtheoretische Textauslegung der islamischen Rechtsparabel die Vorbehalte Platons gegen die Verschriftlichung einer Lehre, die statt einer höheren Norm nur eine höhere Idee kennt. Diese Idee des Guten umreißt die komplexe, in der luhmannschen Textexegese dargelegte Sachlage: Wenn jede einzelne Situation ihre eigene Gerechtigkeit beherbergt, dann sind nicht nur Kenntnis der Gesetzesregeln und Bereitschaft zum Rechtsgehorsam vonnöten, sondern noch etwas grundlegend Anderes. Und dieses Zusätzliche ist es, das den Richter der Parabel in die Lage versetzt, das von den Söhnen als inkompatibel empfundene Verhältnis von Recht (testamentarische Quotierung) und Gerechtigkeit (einem Jeden vom Vater zugewiesenen Anteil) vereinbar zu machen. Die operative Funktion des Kamels beschränkt sich auf genau diese Situation; sie lässt sich nicht zur Lösung eines anderen Konflikts nutzen. Platon hat die ganz besonderen, immer nur auf den Einzelfall bezogenen Schlichtungsmethoden des weisen Herrschers Solon vor Augen, wenn er die Frage nach dem Guten und Gerechten stellt. Vor diesem Hintergrund gewinnen die operativen Funktionen des Kamels an Klarheit. Dieses symbolisiert nicht bloß die einzelnen Funktionen. Denn ein Symbol kann sich von der konkreten Situation lösen und auch für andere Situationen brauchbar sein. Das Kamel ist mithin keine Symbolfigur für die Gewaltsamkeit eines Rechts, das sich voraussetzen muss, um Recht sprechen zu können. Das Kamel ist aber auch nicht etwas Überflüssiges (Redundanz), da es im Moment des Streites benötigt wird und es ist nicht das ausgeschlossene Dritte (Parasit), denn nicht sein Fehlen, sondern sein Vorhandensein löst den Konflikt. Als reine Funktionsstelle bedürfen auch Punkt und Null einer Ergänzung durch denjenigen Menschen, der dieselbe erkennt und nutzt. Erst der Begriff des Beobachters nimmt das positiv-aktive Moment in die Deutung des Kamels auf, das bisher gefehlt hatte. Als Aktor, der eine Unterscheidung macht, ist dieser zwar formal und kann deshalb nicht nur auf personale, sondern auch auf soziale, organische, physische und maschinelle Distinktionen übertragen werden. 105 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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Da der formalisierte Begriff der Form Spencer-Browns aber nicht schon auf einen Gegenbegriff des Materialen/Inhaltlichen festgelegt ist, sondern allgemein und übergreifend die paradoxe Einheit und Unterschiedlichkeit zweier Seiten meint, ist der Begriff nicht leer. Im Gegenteil enthält der Hinweis auf die Paradoxie der jeweiligen Unterscheidung im zweiten Schritt eine dezidierte Aussage über die Art und Weise, in der Beobachten gut sein kann. Es kommt mithin ein ethisches Moment in dieses rein formalistische, aber als solches aus seiner Frontstellung gegen das Materiale gelöste Verhältnis. Denn das übliche Formal-Material-Schema hatte alle Verantwortlichkeit, alle Moralität und ethiktheoretische Reflexion nur als Sache derjenigen angesehen, die sich in material-inhaltlich interessierten Themenfeldern tummeln. In sozial- und naturwissenschaftlich-technischen Bereichen tätige Experten sahen sich von den Zumutungen des Verantwortungsdiskures befreit. Dieses Arrangement und diese Arbeitsteilung funktionieren nicht länger, und dies deutlich gemacht zu haben, mag die Absicht Spencer-Browns gewesen sein. Die Technikwissenschaften im natur-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Bereich sollen gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. 29 Aus sozialphilosophischer Perspektive erübrigt sich die Frage, »ob die Verantwortung für das Zustandekommen von Innovationen und für die Folgen von Innovationen getrennt werden sollten oder nicht. In der Innovation ist die Folge intentional schon mit verändert.« (Röttgers 2008, 452) Für die Art und Weise dieser Verantwortung hat Luhmann mit einer nichtnormativen Theorie die terminologischen Weichen gestellt. Ein Ansatz hingegen, der das Normative auf direktem Wege anvisiert, reproduziert immer nur dieselbe klassisch-moderne Arbeitsteilung. Die ethische Reflexionstheorie fragt nach den Konsequenzen für ein Handeln, das die paradoxe Konstitution von Normen und Werten nicht ignoriert und deshalb nicht länger die rhetorische Klaviatur des moralisch Einwandfreien und moralisch Unangefochten bedient. Denn die immer selbe Klage über das Schlechte der Verhältnisse und

Die Anwendungen und Deutungen der Laws of Form in Mathematik, Logik, Naturwissenschaft, Philosophie, Systemtheorie, Therapie und Beratung gründen nach Schönwälder/Wille/Hölscher (2004, 205) in einer Praxis, die von der gemeinsamen Entstehung von Prozess (Unterscheidung) und Inhalt (Zeichen) als Resultat einer KoEmergenz getragen ist.

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das Zurückbleiben gegenüber den moralischen Erwartungen, ermutigt ein politisch-gesellschaftliches Handeln, das sich mit anspruchsvollen vielversprechenden Programmatiken aus der Affäre zieht. Vor diesem Hintergrund wird die positive Drehung der Funktion deutlich, die in der Rechtsparabel dem Kamel zufällt. Es steht weniger für die Gewalt der Rechtsverfügung und mehr für das Gegenteil der Leihgabe (Gute), weniger für das ausgeschlossene Dritte und mehr für das Eingeschlossene (Wahrheit) und weniger für die Indifferenz und mehr für die Klarheit eines Weges (Wirkmacht). Ihren Sinn für die Gegenwart erschließt die Parabel folglich nicht im direkten Anschluss an den modernen, von der Negation aus konstruierten Sinngehalt der Begriffe. Wie wir gesehen haben, erlaubt erst die unterschlagene Differenz von unmarked state und unmarked space eine Begriffsfassung, die das Ideale – Wahrheit, Gerechtigkeit, Wirkmacht – als Kritik am Fehlen derselben deduziert: Das Bestimmen des Unbestimmten führt umweglos zu den ganz konkreten Bedingungen von Defiziten und somit auch des Kampfes gegen Fake-News, gegen Ungerechtigkeiten und gegen eine Politik, die den sozialen Wandel blockiert. All dies kann im Einzelfall sinnvoll und erfolgversprechend sein, aber es taugt weder zum Begreifen noch zum Umgang mit der Paradoxie von Recht und Gerechtigkeit. Denn jedes der beiden Begriffe ist in einem selbstimplikativen Verhältnis befangen und damit in sich paradox. Recht muss auf rechtlich einwandfreie Weise nicht nur gesprochen, sondern allererst gesetzt werden. Aber nicht nur das juristische Urteil muss sich als Entparadoxierung bewusst sein, auch ein Unterscheiden von gerecht und ungerecht darf nicht vergessen machen, dass moralische Kriterien nicht von allen geteilt werden und insofern immer beides hervorbringen, gerechte Lösungen für die Einen, und ungerechte Lösungen für die Anderen. Die im Falle der Parabel in Gestalt eines Kamels auftretende Figur des Beobachters trägt allein dadurch zum Frieden bei, dass sie gerade keinen Recht und Gerechtigkeit konstituierenden Unterschied setzt. Diese Rolle könnte allein dem Richter zufallen, der kraft Richterrecht eine Entscheidung fällt. Es ist vielmehr eine rechts- und gerechtigkeitstranszendente Unterscheidung von unmarked space und unmarked state, die zur Einigung führt. Das bedeutet, die Brüder müssen einverstanden sein (oder das Einverständnis muss durch List erzeugt werden), dass die Sphäre von Rechtsund Gerechtigkeitsfragen verlassen wird, die Streit und Einigung zu Lasten eines der Söhne unvermeidlich macht. Es wird mithin der 107 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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sichtbar-konkrete Bereich (space) zugunsten eines unsichtbar-abstrakten Bereichs (state) verlassen. Es wird nicht mehr argumentiert, sondern gerechnet. Um dazu bereit zu sein und nicht von vornherein eine solche Mogellösung aus moralischen Gründen auszuschließen, 30 müssen noch zwei weitere Unterscheidungen gemacht sein. Zunächst muss anerkannt werden, dass innerhalb des konkret-sichtbaren Diskurses über Recht und Gerechtigkeit nur ungefähre, immer wieder neuen Dissens erzeugende Lösungen gefunden werden können. Und es muss akzeptiert sein, dass nur im unsichtbar-abstrakten Bereich der mathematischen Lösung ein Höchstmaß an Genauigkeit so erzielt werden kann, dass der Streit nicht sofort wieder ausbricht. Und schließlich muss mit einer nur für dieses eine Mal gefundenen Lösung einverstanden sein und folglich vom normativ-moralischen Standpunkt abgerückt werden, der allein erwartungsfeste Regelungen als solche anerkennt. In der aktuellen globalen Netzstruktur sind die Hürden für die Akzeptanz der dreifachen Variante der Form unmarked space/ unmarked state höchst unwahrscheinlich. Sehr viel eher findet sich eine normativ-moralische Grundhaltung bereitwillig mit Worten und Waffen geführter Ausscheidungskämpfe um eine globale Werteordnung nach je meinen Vorstellungen. Die Defizite von Recht und Gerechtigkeit werden mithin als vorübergehend betrachtet und nicht als konstitutiv; sie gelten als bloßes Noch-Nicht des unmarked space und nicht als das Niemals des unmarked state. Die Suche nach funktional äquivalenten nicht-polemogenen Lösungen mag in Postkonfliktgesellschaften groß sein. Dies gilt jedoch zumindest gegenwärtig nicht für den siegreich aus dem Kalten Krieg hervorgegangenen Globalen Norden. Die Katastrophe des Peleponnesischen Krieges hatte seinerzeit Platon, die Verwüstungen der absolutistischen Kriege hatte seinerzeit Kant und die Zerstörungen der beiden Weltkriege hatte seinerzeit Luhmann dazu bewogen, der Form des Kalküls gegenüber der allgemeingültigen Norm mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Dieser Aspekt wird ausführlich im Beitrag von Baecker »Wie steht es mit dem Willen Allahs?« (in: Teubner 2000, 145–176) diskutiert.

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Tragische Konflikte Ins Fahrwasser genuin moralischer Fragestellungen gerät das westlich-abendländisch-säkulare Rechtsverständnis, das die Paradoxie auf die Simultaneität von rechtssetzender und rechtserhaltender Gewalt bezieht. Die erste ist usurpatorisch und somit im ursprünglichen Sinne Gewalt, die zweite ist als Recht legitimiert. 31 Der hier angesprochene Konflikt zeigt das Recht in seiner selbstimplikativen Stellung, die voraussetzen muss, was sie rechtfertigt. Wenn sich aber die Schlichtungsfunktion des Kamels nicht nur auf ein, sondern auf zwei Sozialsysteme bezieht und zweierlei Rechtssysteme – testamentarische Verfügung und Leihregelung – aufeinandertreffen, dann liegt ein Fall von tragic choice vor. 32 Zumindest muss von inkompatiblen Regelungssystemen gesprochen werden, solange man den Fall rechtsund gerechtigkeitsintern begreift und das bedeutet, innerhalb der Sozialdimension von Sinn abhandelt. Denn der Ausgangspunkt der Vereinbarung war so beschaffen, dass die Söhne auf das Angebot des Richters gar nicht hätten eingehen dürfen, weil die Leihgabe unter den gegebenen Bedingungen der dezimierten Herde unmöglich als eine solche behandelt werden konnte. Tragische Konflikte sind insofern unlösbar, als genau das fehlt, was zur Schlichtung erforderlich ist, nämlich die gemeinsam geteilten Kriterien, Recht und Unrecht zu unterscheiden. 33 Das bedeutet, weder Gewalt noch Redundanz repräsentierende Gründe noch der kontrafaktische Ausschluss des Dritten, das Behaupten einer Wahrheit oder die Entscheidung zur konservativen, auf Kontinuität setzende Option, oder die Diskontinuität bevorzugende progressive Aufstandsförderung sind in der Lage, solcherart Konflikte zu lösen. Sollte es bei der Rechtsparabel auch oder wesentlich auf den Umgang mit tragic choices ankommen, dann würde es sich im Hinblick auf die gegenwärtigen weltpolitischen Konflikte noch einmal mehr um ein aktuelles Beispiel handeln. Und gerade unter dem Aspekt des Zusammenpralls von inkompatiblen Rechtskulturen, die in immer grausameren Ausscheidungskämpfen 34 um die weltgesellschaftliche Suprematie rinDen Referenztext liefert die »Kritik der Gewalt« von Walter Benjamin (1965). Zum Begriff siehe Luhmann (2008, 245). 33 Deshalb entsteht ein »Problem der unrechtmäßigen Entscheidung über Recht und Unrecht« (Luhmann 2008, 246). 34 Diese Progredienz der Grausamkeit – die öffentliche Schau der IS-Hinrichtungen ist die erklärte Antwort auf die veröffentlichte Behandlung der Guantanamo-Gefan31 32

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gen, zeigt sich die Rechtsparabel als Lehrstück. Denn sie demonstriert die Lösung des rechtsintern unlösbaren tragischen Konflikts durch einen Wechsel von der sozialen zur sachlichen Sinndimension, von der Normfixierung zur mathematischen Logik, die statt einer höheren Norm eine höhere Reflexionsebene als Ausweg anbietet. Dies ist der Grund, weshalb die Anfänge differenztheoretischen Denkens als gemeinsame Klammer der okzidental-orientalischen ideengeschichtlichen Entwicklung Aktualität gewinnt. Denn die Geschichte des Islam durchzieht die Differenz von altgriechischem und altorientalischem Erbe als hochexplosives Gemisch, das sich heute im Problem des islamistischen Fundamentalismus als tragischer Konflikt, zunächst zwischen innerislamischen Rechtsschulen (Orthodoxe Mullah-Theologie versus politischen Islam), und schließlich im Weltmaßstab zwischen orientalischem und okzidentalem Denken des Rechts und der Gerechtigkeit bemerkbar macht. 35 Dieser innerislamische Konflikt ist auch für den Umgang des Westens mit dem erstarkenden Islam insofern von großer Bedeutung, als hier zwei Traditionslinien aufeinandertreffen, die ein sich globalisierendes politisches System unmittelbar affizieren. Auf altgriechischen Einfluss geht die Betonung der Freiheitsrechte zurück, die keiner Unterweisung durch den Westen bedarf. In diesem Punkt gibt es für den Vorderen Orient jene ungebrochene Tradition der antiken Bildung, die im europäischen Raum, mit Ausnahme der platonischen Dialoge, Vandalen-Sturm und Völkerwanderung zum Opfer gefallen war. Die Unterordnung des Einzelnen, und das funktionale Selbstverständnis als nützliches Glied eines straff organisierten Reiches, geht wiederum auf die ihrerseits ungebrochene Tradition der altorientalischen Großreiche, der Ägypter, Assyrer, Mesopotamier und Perser zurück. Diese waren als hydraulische Kulturen immer auf ein straff organisiertes Gemeinwesen angewiesen. Ohne gut funktionierendes Bewässerungssystem wären die Menschen in diesen kargen Regionen

genen – hat bereits Clausewitz als die unvermeidbare Folge der napoleonischen Aufkündigung des Ius in bello beschrieben. Zur Aktualität der Eskalationslogik siehe Brücher (2011, 126–155). 35 Die Muslimbruderschaft richtet sich nach Rudolf Steinberg (2018) in ihrer Rechtsorientierung nach dem Standard der Mehrheitsgesellschaft (in Europa analog den Christdemokraten); junge revolutionäre, gewaltbereite Islamisten organisierten sich heute eher im Salafismus.

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nicht lebensfähig gewesen. 36 Platon hatte den seinem Urteil nach servilen Charakter der unfreien Völker der frühen Hochkulturen verachtet, aber deren mathematischen und astrologischen Leistungen, die Erfindung von Schrift und Zahlensystem bewundert, die die Griechen übernommen haben. Vor diesem Hintergrund und der Tatsache, dass der Westen seit der Aufklärung das in Europa über die Archive der wenigen versprengten Klöster bewahrte platonische Erbe in der Lesart der mittelalterlichen Patristik weitgehend bloß noch als überwundenes Traditionsgut wertet, ist das veranschaulichende Beispiel der Parabel interessant. Es zeigt die lange historische Linie einer heute wieder aktuellen mathematischen Formlogik. Denn bei Platon geht es stets um Unterscheidungen, die zunächst nur als Hinweis auf sachlichen, sozialen und zeitlichen Sinn fungieren. Diese bezeichnen nichts Bestimmtes, sondern markieren die aktuelle Form. Um sich mit den unzähligen, in individuellen Prioritäten wurzelnden Konkretionen des Wahren, des Guten und Erfolgversprechenden nicht aufhalten zu müssen, greift Platon zu Vergleichsschemata, deren Formlogik in Gleichnissen anschaulich gemacht wird. Wir brauchen Einsicht in deren unmittelbare Relevanz, um der Frage nachgehen zu können, weshalb das rechts- und gerechtigkeitstranszendente logisch-mathematische Verfahren keineswegs zu moralischer Indifferenz führt. Im Gegenteil stützt diese Form des Umgangs mit der Paradoxie von Recht und Gerechtigkeit eine dezidiert ethische Grundhaltung. Zunächst kommt es darauf an zu zeigen, dass sich die Paradoxie von Recht und Gerechtigkeit als einander voraussetzend und einander behindernd nur auflösen lässt, wenn in allen drei Sinndimensionen, der sachlichen, der sozialen und der zeitlichen, ein Wechseln der Kontextur des Rechts zur Kontextur der Gerechtigkeit gelingt. Die Kunst des Wechselns tritt an die Stelle der brachialen Methode der Subsumption der einen auf die andere Wertebene. Da der Begriff der Kontextur im Gegensatz zum Begriff des Kontextes nicht einen bloßen Sinnbezug meint, sondern ein darüber hinaus gehendes Logiksystem, 37 können die üblicherweise angebotenen VermittlungsZum Zusammenhang despotischer Macht mit den natürlichen Grundlagen der hydraulischen Gesellschaft vgl. Wittfogel (1977). 37 Innerhalb einer Kontextur greift nach Gotthard Günther die zweiwertige Logik; zur Vermittlung verschiedener Kontexturen bedarf es einer polykontextualen Logik. Günther hat sich hierzu nicht nur von Aristoteles distanziert, sondern schließlich der pythagoräischen Zahlenspekulation Platons zugewendet, vgl. Köpf (2005, 231). 36

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methoden der Reziprozität und Perspektivwechsel nicht ausreichen. Denn die hier angesprochene Differenz ist von einer grundlegenden Art, die durch Toleranz und allgemeine Bemühungen, sich in einen Anderen hineinzuversetzen, nicht einfach überwinden werden kann. Hier ist an den bereits oben erwähnten Grundkonflikt zwischen einer gegenständlich-unmittelbaren und einer abstrahierend-selbstreflexiven Sichtweise zu erinnern. Als diametrale Modalitäten der Gegenstandskonstitution sind diese beiden Formen rationalistischen Denkens von globaler kulturhistorischer Bedeutung, weil der Streit über die richtige und angemessene Position die gesamte ideengeschichtliche Entwicklung durchzieht. Bereits in den Dialogen Platons werden entsprechende Methoden des Formgebrauchs diskursiv entfaltet. Entscheidend ist, dass es bei diesen Dialogen nicht um die gute und bessere Begründung einer bestimmten Position geht, sondern ausschließlich um die Frage, wie von den Kontexturen gegenständlich-unmittelbarer Betrachtung zur den Kontexturen einer abstrahierend-selbstreflexiven Sichtweise gewechselt werden kann. Wie sieht diese Operation aus, die mitunter inkommensurable Kontexturen des Rechts und der Gerechtigkeit vermitteln lässt? Wir werden sehen, dass Platon im Sonnengleichnis eine bildsprachliche Annäherung an das unternimmt, was die form-logische Systemtheorie als transjunktionale Operation der Grenze beschreibt. Im Liniengleichnis ist die vermittelnde Figur einer transjunktionalen Operation programmatischer Profilierung avisiert. Und im Höhlengleichnis sind nicht nur Probleme, sondern auch Dynamiken des infiniten Regresses in aufsteigender und in absteigender Linie betrachtet, des Fortschritts und des Rückschritts. Und es ist eine Haltung nahegelegt, die solchen Eigendynamiken in positiver und negativer Richtung begegnen lässt, in systemtheoretischer Sprache: eine transjunktionale Operation der Autopoiesis.

Das Sonnengleichnis Im Gegensatz zu einer theoriebegrifflichen Darstellungsweise, die wieder ganz eigene Unklarheiten erzeugt und das Erfragte mit neuem Sinn überfrachtet, möchte ein Gleichnis nur Analogien sichtbar machen und nicht die Wirklichkeit abbilden. In diesem Sinne nähert sich das Sonnengleichnis (Platon Politeia 507a-509b) der Frage nach dem, was wir meinen, wenn wir vom Guten und Gerechten, und darüber 112 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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hinaus nach der Bedeutung eines beliebigen Prädikats fragen, anhand der Unterscheidung von Sichtbarem und Denkbarem. Zweierlei Formen werden einander konfrontiert und aus ihrer Parallelisierung wird auf ein logisches Faktum rückgeschlossen, das ein Medium erkennen lässt: Die erste Form Sehen (Operation) und Gesehenes (Beobachtung) bedarf des Lichts als unabdingbarem Medium. Aber es bleibt nicht bei dieser Gegenüberstellung von Medium und Form. Denn ebenso entscheidend ist die Quelle dessen, was als Medium fungiert. Im Falle des Lichts handelt es sich dabei um die Sonne. Die zweite Form Denken (Operation) und Gedachtes (Beobachtung) bedarf einer Idee (eidos, idea) als unabdingbarem Medium. Aber auch hier bleibt es wieder nicht bei dieser Gegenüberstellung von Medium und Form. Denn entscheidend ist auch in diesem Fall die Quelle dessen, was als Medium fungiert. Und im Falle der Idee des Menschen, des Bettes, des Baumes, der Freiheit oder der Unfreiheit, ist dies die Idee des Guten. Nicht nur einem Menschen wird man gerecht, wenn man alle Gesichtspunkte in Betracht zieht. Dasselbe gilt für einen beliebigen Sachverhalt oder eine Idee. Platon vertritt die abstrahierend-selbstreflexive Form von Rationalität, die zwischen dem Sichtbaren und dem Denkbaren allenfalls formale Analogien ausmachen lässt. Im Gegensatz dazu ermuntert die gegenständlich-unmittelbare Form von Rationalität zu inhaltlichen Aussagen, die zustande kommen, indem Sichtbares (Empirie) mit Denkbarem (theoretisch/methodisches Setting) in eins gesetzt wird. Andererseits sind Hinweise auf Material-Inhaltliches durchaus von Bedeutung. Im Sophistes lässt Platon den Gesprächspartner den subsumptiven und reduktionistischen Argumentationsstil der Sophisten kritisieren, die vorgeben in der Lage zu sein, Selbsttäuschung und Fehlurteile durch besseres Wissen ersetzen zu können. 38 Der sokratische Gesprächsstil hingegen zielt nur auf die Gegenüberstellung diametraler und inkompatibler Positionen und entfaltet, im immer wieder neuen Blick auf ein und dasselbe Problem, Modalitäten des Formgebrauchs. Diesem gemäß lässt sich einer Sache nur gerecht werden, wenn die Grenze zwischen der Kontextur des Augenscheinlich-Sichtbaren und der Kontextur des Konzeptuell-Denkbaren 38 Zum Verhältnis von Logos und Dialektik im Argumentationsstil der Sophisten siehe Peter Kolb (1997). Bernhard Waldenfels (2017, 38) verweist auf die von Platon vorgeführten Streitkünstler »die in erster Linie sich behaupten, wenn sie etwas behaupten …«.

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gewahrt bleibt. Die sprachliche Anleihe bei Spencer-Brown ist angebracht, wenn man bedenkt, dass im platonischen Diskursstil die Unterscheidung zwischen Sein und Nicht-Sein, zwischen Wahrheit und Irrtum prinzipiell quer zur Unterscheidung von Sichtbarem und Denkbarem liegt. Systemtheoretisch reformuliert lässt sich die Relation von Denken und Gedachtem als Codierung und Zweit- oder besser als Supercodierung beschreiben. Denn bei dem jetzt gesuchten Medium handelt es sich um etwas, das jenseits von Erkenntnistheorie und Moral angesiedelt ist. Die Operation des Denkens konstituiert sich als Form unterscheidenden Bezeichnens von etwas Denkbarem oder Gedachten nicht ohne mediale Vermittlung durch die Idee (idea, eidei). Form (Denken/Gedachtes) und Medium(Idee) werden einander nicht bloß konfrontiert. Vielmehr handelt es sich um eine re-entry-Figur, denn die Unterscheidung von Denken und Gedachtem kommt in medialer Gestalt als Idee noch einmal in sich selbst vor. 39 Das bedeutet für die Frage nach dem, was wir meinen, wenn wir sagen, etwas sei gut oder gerecht, folgendes: Ein Denken (Operation) des Gerechten ist nur im Medium eines Konstrukts, einer wie immer konzipierten Theorie der Gerechtigkeit ein Gedachtes (Beobachtung). Das re-entry-Verhältnis ist weder ein Bedingungsverhältnis oder ein Verhältnis der Möglichkeitsbedingung, noch ist es eine Kausalrelation. Denn was Konditionierung und kausale Verknüpfung qua Modalitäten der Relationierung nicht sichtbar machen, ist die Funktion der Auflösung einer Paradoxie. Die Idee hat als Medium der Form des Unterscheidens von Denken und Gedachtem jedoch genau diese Funktion: Sofern nämlich Denken immer Denken von Etwas ist, stehen beide in einem Verhältnis der Rekursion. Das eine ist das andere, aber nicht als Identität, sondern als Differenz. Weil Idee für diese mediale Entparadoxierung steht, kann das Materiale, oder die Materie, nur als Idee, und mithin als bloße Spezifikation, an dessen Stelle treten. 40 Andernfalls würde der Reduktionismus die Entparadoxierung erübrigen: Denn man bekommt es jetzt nicht mehr mit einer DiffeIn der Geschichte der Philosophie hat Hegel die hartnäckige Fehlinterpretation der platonischen Ideen als etwas, das in einem eigenen Reich residiere und nur der Intuition und nur Eingeweihten zugänglich sei, mit dem Hinweis richtiggestellt, man habe sie nicht im Bewusstsein, sondern sie würden durch das Erkennen im Geiste hervorgebracht, vgl. Tydecks (2003, 8 f.). 40 Soll die Idee erfasst, unterschieden werden, so wählt Platon als andere Seite der Idee die unbegrenzte oder unbestimmte Zweiheit und nicht die Materie oder das 39

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renz von Denken und Gedachtem, sondern mit der Einheit eines richtig Gedachten, nämlich Materiellen oder Materialen, zu tun. Im Bereich des Denkbaren übernimmt die Idee des Guten die Funktion einer höchsten Idee. Dies ist aber nicht im Sinne einer höchsten Norm oder Regel zu verstehen, sondern als Maßstab aller Regelanwendung. Dieser zwingt dazu, alle Aspekte und Relevanzen eines Gegenstandes zu berücksichtigen. 41 Wenn sich dieses Gute auch nicht kodifizieren und noch nicht einmal schriftlich fixieren lässt, so bedeutet dies nicht, dass es sich in seiner Formlogik nicht fassen ließe. Zwar vermeidet die Systemtheorie aus naheliegenden Gründen diesen Begriff des Guten, aber sie meint nichts grundsätzlich anderes, wenn der Gedanke einer dem Präskriptiven näherkommenden Formlogik an Ersatzbegriffen durchgespielt wird. Gegenwärtig handelt es sich dabei um den Begriff der Kontrolle, der als Kontrolle von Intransparenz jeder Versuchung vorbeugen möchte, in die ideengeschichtlich orientierte inhaltlich-substanzielle Umschreibung des Vorzugswertes zurückzufallen. Denn dies würde bedeuten Theoriegewinne preiszugeben, die Luhmann mit der Rückführung von Idealen auf Kontingenzformeln erzielt hat. Diese Formeln gebieten nur dem beliebig-destruktiven Negationsgebrauch Einhalt; sie erhalten Begriffen wie Gerechtigkeit, Legitimität, Freiheit, Gott oder Gleichheit ihre Funktion einer Stoppregel. Es liegt durchaus im Interesse der Systemtheorie, und nicht nur einer historischen oder fachspezifischen Rekonstruktion von Ursprungstexten, eine mit Schriftlichkeit assoziierte Kultur in Beziehung zu ihren Anfängen zu setzen. Natürlich wird weiterhin geschrieben und offensichtlich stagniert auch der Buchdruck in keiner Weise; dennoch wird die Verbreitung des Personal Computers zunehmend als kulturveränderndes Datum mit noch unbekannten Konsequenzen gehandelt. Und diese Wahrnehmung ist es, die ein Interesse an den besonderen Chancen und Risiken eines Mediums, aber auch an der Quelle des Mediums, als spezifisches Theorieinteresse weckt. Es geht dabei um eben jene Theoriestelle, die bei Platon dem Licht im Verhältnis des Sehens zum Sichtbaren, und der zugeordneten Quelle

Materielle. Zweiheit ist im Gegensatz zur Zahl Zwei z. B. das Große und Kleine. So Aristoteles in der Metaphysik 987b; vgl. Physik 209 b-210a. 41 Der Blindheit, die in dem vorreflexiven Bezug auf das Gute liegt, lässt sich nach Platon nur entkommen, wenn es gelingt, alle Dissense darüber auszuräumen, was gut und schlecht ist (vgl. Stemmer 1992, 186).

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der Sonne auf der einen Seite, und auf der anderen Seite der Idee im Verhältnis des Denkens zu einem gedachten Gegenstand, mit der zugeordneten Quelle des Guten zukommt. Denn eine von Big Data gespeiste Informationsbeschaffung und -verarbeitung nimmt für sich in Anspruch leisten zu können, was Platon anstrebt, nämlich jedem Einzelnen gerecht zu werden.

Das Liniengleichnis Da es auch Platon um genau das geht, was heute an medienbedingten kulturellen Transformationen beschrieben wird, ist die soziale Sinndimension zur bisher besprochenen sachlichen Dimension hinzuzunehmen. Um das weitere Gebiet des Wertens und Bewertens zu fassen, fügt Platon – in systemtheoretischer Sprache ausgedrückt – ein weiteres re-entry hinzu: Das Sichtbare und das Denkbare kommen als re-entry-Konzeption noch einmal in sich selbst vor und zwar als Differenz von deutlich und undeutlich, von bestimmt und unbestimmt. Weil zugleich derselbe und ein neuer Gedanke, benötigt Platon (Politeia 509c-511e) für die Veranschaulichung dieses re-entry ein weiteres, das Liniengleichnis. Auch dieser Unterschied von deutlich und undeutlich, von bestimmt und unbestimmt findet sich auf der Seite des Sichtbaren: Das Spiegelbild ist in seiner Wiedergabe deutlicher als der Schatten. Die Analogie auf der Seite des Denkens leitet zum theoretischen Gegenstand, wie ihn Platon am mathematischen Beispiel des später so bezeichneten goldenen Schnitts vor Augen führt: Die Wiederholung eines identisch festgehaltenen Teilungsverhältnisses bringt zwar immer Kleinteiligeres und somit Unbestimmteres und Undeutlicheres zu Tage, aber sie ändert nichts an der Formlogik. Die Proportionen bleiben gewahrt. Die beiden Teile, die etwa eine dreißig Zentimeter lange Linie in ein Verhältnis von drei zu sieben trennt, scheint in ihrer Proportion deutlich, deren fünfmalige Wiederholung vermittelt jedoch ein konfuses Bild, in dem die Verhältnisbestimmung nicht mehr unmittelbar ins Auge sticht. Diese zunehmende Diffusion ereilt die Verkleinerung ebenso wie die Vergrößerung. Dies gibt wichtige Aufschlüsse für die Formlogik der sozialen Sinndimension. Denn auf dem Feld des Sozialen spielt eine geringere Rolle, was identifiziert wird; wichtiger ist die mehrheitliche, möglicherweise konsensuale Zustimmung. Es geht mithin um die propor116 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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tionale Akzeptanz auch dort, wo die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht demokratisch geregelt sind. Institutionalisierung beruht nicht auf faktischem, sondern auf unterstelltem Konsens, auf supponierten Mehrheiten. Nur die Unterstellung von Erwartungserwartungen motivieren auf allen Seiten zu bestimmten Verhaltungsweisen. Einrichtungen des sozialen Lebens, die Erwartungen erwartbar machen, gründen auf einer Proportion, die erst den Eindruck allgemeiner Verbindlichkeit vermittelt. Während die sachliche Sinndimension im Entweder-Oder fußt – entweder sichtbar oder unsichtbar – beruht das Soziale auf dem Sowohl-als-auch eines nur gradualistisch zu beschreibenden, mehr oder weniger deutlichen Bestimmtseins. Wahrheit tritt als Ideologie, Diskurs als Rhetorik, episteme als doxa in Erscheinung. Wenn Luhmann zur Ausarbeitung einer alternativen Ethiktheorie motiviert, dann sind die Konsequenzen dieses Reduktionismus gemeint der sich seiner – bei Platon beschriebenen – formlogischen Stellng nicht bewusst ist. Moralische Kommunikation, das übliche Werten und Bewerten, soll aus diesem Grund nicht ein weiteres Mal begründet; es soll vielmehr sondern in den Resultaten unvermeidlicher Missachtung kritisiert werden. Die Kritik zielt auf eine alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens prägende Identität von Sozial und Moral. In der durch Émil Durkheim begründeten Tradition ist eben dieses Diffundieren des Moralischen in alle Verästelungen zwischenmenschlicher Beziehungen in eine sozialmoralische Form gebracht. Diese lässt sich zwar in ihren empirischen Erscheinungsweisen rekonstruieren, aber nicht in ihrer Wahrheit in Zweifel ziehen. 42 Die an diese Theorietradition anschließende soziologische Mediatisierung der Moral spiegelt die moderne Art und Weise, Recht und Gerechtigkeit nicht als paradoxes, sondern als ein Verhältnis der Komplementarität zu betrachten und damit in ihrer Sprengkraft misszuverstehen: Rechtsnormen sind nach und nach einzulösende Gerechtigkeitsansprüche, die nur richtig, zum Beispiel als Fairnessprinzip, verstanden werden müssen, um den Sprung in die kodifizierte Praxis zu schaffen. Da die von John Rawls (1979) vorgestellte Theorie das Gerechte erst aus der Perspektive einer vollends ignorierten Realität – der Definition von Gerechtigkeitskriterien unter einem SchleiNicht zufällig stellt Detlef Horster in seiner Zusammenstellung wichtiger Texte Luhmanns zur Moral den Aufsatz »Arbeitsteilung und Moral: Durkheims Theorie« an den Anfang (Luhmann 2008, 7–24).

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er des Nichtwissens – in eine unproblematische Beziehung zu gesellschaftlichen Rechtsnormen bringen kann, lässt Luhmann die hier anschließende Theoriediskussion beiseite und sucht in einem konkreten Fall den verlorenen Realitätsbezug wiederzugewinnen. Damit ist die an Fällen interessierte Rechtswissenschaft eher gefragt als eine Soziologie, die am empirischen vom Fall abstrahierenden Datum orientiert ist. Sie ist auch eher gefragt als Richtungen der Philosophie, die auf das soziologisch-empirische Verfahren der Hypothesenbildung zurückgreifen, um für ihre normativen Aussagen allgemeine Verbindlichkeit geltend zu machen. Das in der oben besprochenen islamischen Rechtsparabel veranschaulichte Bild der Paradoxie, und die passgenau auf die Besonderheit der Lage zugeschnittene Entparadoxierung, arbeitet zwei einschränkende Konditionen der Lösung heraus. Diese haben genau mit jenem Rückgriff auf ein Denken von Proportionen zu tun, wie es das Liniengleichnis veranschaulicht. Denn zwar bietet die Mathematik die beste Annäherung an die Formlogik, an die Idee oder das Seiende, aber die in ihrer Methode liegenden Beschränkungen müssen nach Platon gleichwohl bedacht sein. Da ist zum einen das in die Irre geleitete Vorstellungsvermögen angesichts einer nicht darstellbaren Form – wie im Falle der nur als Fläche sichtbaren Linie – zu nennen. Die zweite methodisch bedingte Einschränkung betrifft das Verfahren der Hypothesenbildung. Dieses beruht auf Kriterien, die ihrerseits nur mittels Rückgang auf weitere, im neuen Hypothesenverfahren ermittelten Kriterien bewiesen werden können und dies ad infinitum. Für die an dieser Stelle interessierende Paradoxie von Recht und Gerechtigkeit handelt es sich um das Rechts- qua Ursprungsparadox, das ausgeblendet sein muss, um den Rechtsvorgang nicht zu behindern. Denn bevor diese anspruchsvolle Relation überhaupt ins Spiel kommt, muss ein Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Rechts ausgeräumt sein. Luhmann (1989, 11–64) gibt auf die Frage nach dem Ursprung die Antwort »Am Anfang war kein Unrecht«. Da jede Rechtspraxis stets in einer Situation mit historisch gegebenem Recht operiere, habe das Recht keinen Ursprung. Die Form dieser Aussage lautet: Am Anfang steht Differenz, nicht Einheit. Mit diesem Ausgangspunkt lassen sich auch jene Fälle transitionalen Rechts so genannter Post-Konflikt-Gesellschaften fassen, die je nach politischer Positionierung als Siegerjustiz oder als Sieg der Menschenrechte kommentiert werden. Die Rechtswissenschaften müssen in diesem Punkt Klarheit anstreben und dies ins118 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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besondere im Blick auf retroaktives Anwenden aktuellen Rechts auf ein Unrechtsregime, das erst nach dem Regimesturz in Kraft gesetzt wurde und an dem sich die Gestürzten zur Zeit der Handlungen nicht orientieren konnten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Retroaktivität als fundamentale Perversion der Rechtsidee empfundenen, die zur Verdoppelung des Unrechts führe. 43 Mit dem Standpunkt Luhmanns, Recht beginne in der Mitte und müsse mit jedem Rechtsetzungsakt folglich immer schon vorausgesetzt sein, hält er sich in dieser Frage bedeckt. Denn Mittendrin ist immer, während und nach dem Unrechtsregime. Rechtssetzung und Rechtsvollzug sind demnach mehr als Ereignis und weniger als Struktur einzuordnen, verliert sich der Ursprung doch in nie endenden Begründungen und bleibt insofern immer willkürlich gesetzt. Luhmann nimmt diese Kalamität zum Anlass in die Soziologie zu wechseln und sich stärker mit dem Umfeld zu befassen, das neuem und altem Recht eine Funktion zuteilt. Was in Deutschland und Japan nach dem Ende des Kalten Krieges als Erfolg verbucht wird, das ist in den mit kriegerischen Mitteln von außen erzwungenen Regimewechsel im Nahen Osten kläglich gescheitert. Bis heute bleibt die kollektive Akzeptanz eines Rechtsimports aus, der sich erfolglos von seinem Stigma zu befreien versucht, Völkerrecht gebrochen zu haben. Indem die Systemtheorie den Grundbegriff des Handelns (Rechtssetzung/Rechtsvollzug) durch den Begriff des Erwartens (Konformität/Abweichung) ersetzt, wird der Fokus vom Begründen auf den Begründungs-Diskurs verlagert, der Erwartungskontexte spiegelt. Diese werfen ein Licht auf unterschiedliche Bedingungen für die Annahme oder Ablehnung von Normen, die mittels robuster oder softer Methoden durchgesetzt werden sollen. Soziologie und Philosophie sehen sich in Fragen des Begründens und Legitimierens jedoch in dem Maße wieder hineingezogen, in dem sich im Zeitalter der Globalisierung das Rechtsparadox in eine Praxis ununterbrochener Umsturzbewegungen und terroristischer Attacken verwandelt. Die Paradoxie – die unbegründbare Begründung, die ursachelose Verursachung – prägt den globalen Raum anders als konsolidierte Transitionsgesellschaften, die wieder zur Normalität zurückgekehrt sind. Sie mutiert von einem rechtsethischen und rechtsSiehe dazu Marc Amstutz, Rechtsgenesis – Ursprungstext und supplément, in: Teubner (2008, 125–151, 127).

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philosophischen Problem zu einer soziologisch und sozialphilosophisch relevanten Frage problematischer Erwartungshaltungen. Aus der ehemals bloßen Transitional Justice werden dauerhafte Tragic Choices. 44 Inwieweit gibt das Liniengleichnis Anhaltspunkte für den Umgang mit derlei Problemen? Im sozialen Bereich geht es um Werte im Sinne von Näherungswerten eines mehr oder weniger verbindlichen Sollens. Graduelles tritt aufgrund situationsabhängiger Geltungen an die Stelle des Absoluten und Apodiktischen. Freilich gibt es Problemkonstellationen, in denen allen Beteiligten sofort einleuchtet, dass so und nicht anders gehandelt werden muss. Normative Primärevidenz aber mag selten vorkommen und bleibt selbst dann von historischgesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig. Die zunehmende Flexibilisierung von Verbotsnormen, wie etwa der Folter oder dem Vorbereiten und Führen von Angriffskriegen, führt dies vor Augen. Der adäquate situationsgemäße Umgang mit Werten findet sich offensichtlich weder auf Seiten des Bestimmten und Deutlichen, anders gesagt, auf Seiten »unverzichtbarer Normen« (Luhmann 2008, 228–252). Er findet sich aber auch nicht auf Seiten des Unbestimmten und Undeutlichen, anders gesagt, der Kontingenz und Unentscheidbarkeit. Dies gilt um so mehr im globalen Kommunikationsraum, der als Horizont von Wertentscheidungen präsent ist. Wenn Platon (vgl. Theaitetos 202b-c) den Dialog als einen Vorhang des Gebens und Nehmens des Logos beschreibt, so legt er das Gewicht auf mehr oder weniger Deutliches und somit auf das Unabgeschlossene jedes Begründungsvorgangs. Jedoch selbst wenn Normen das Gute bloß approximativ erkennen lassen, so bedeutet dies nicht, dass auf Wertentscheidungen verzichtet, oder dass selbige unendlich hinausgezögert werden könnten. Aufgrund des faktischen Handlungsdrucks legt Platon das Gewicht auf die Proportionalität der Form. Eingedenk der Tatsache, dass Handlungsgebote und -verbote den Einen deutlich und sogar unzweideutig erscheinen, den Anderen aber unklar und zweideutig, müssen Präferenzen auch im Hinblick auf eine Funktion im kommunikativen Setting analysiert werden. Und dieses Setting lässt sich beschreiben. Es enthält kontext-

Das Problem ist alt: Indem die moderne Gesellschaft unentscheidbare Fragen an Organisationen delegiert, schafft sie wieder neue Konfliktfälle. Siehe Calabresi/Bobitt (1978).

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bezogene und subjektive Programmatiken, mit denen sich die Kommunikationsteilnehmer im Diskurs profilieren. Aber es gibt einen Maßstab und diesen intendiert Platon mit dem Begriff des Proportionalen. Den Philosophen unterscheidet vom Sophisten, dass er den bloß proportionalen Charakter der Standpunkte in Rechnung stellt und nicht den Anspruch geltend macht, die eigenen Vorstellungen vom Gerechten und Guten seien allen anderen Vorstellungen überlegen. Indem das verbindende Moment die Proportion ist, und nicht etwa der kleinste gemeinsame Nenner, wird der gradualistische Charakter von Gerechtigkeitsvorstellungen konzediert und damit die gemeinsame Teilhabe an der Idee des Gerechten. Diese konkretisiert sich sowohl auf Seiten des Unzweideutigen und Prinzipiellen als auch auf Seiten des Vagen und Kontingenten.

Das Höhlengleichnis Die Wahrheit einer Idee des Guten, die Legitimitätsdiskurse antreibt, lässt sich jetzt schlechterdings nicht mehr hinter soziologisiertem Sinn verbergen oder als unzeitgemäße Frage längst überwundener Essentialismen beiseiteschieben. Sofern im weltgesellschaftlichen Kontext tragische Konflikte überhandnehmen, lenkt dies den Blick auf die zeitliche Sinndimension und mithin auf die Frage nach dem rechtoder unrechtmäßigen Verurteilen von Handlungen, die vor dem Regimewechsel rechtskonform und danach Unrecht sind. Tragische Konflikte erfordern ein differenziertes Zeitschema, das formlogische Probleme dieser Art erfassen lässt. Mit dem Höhlengleichnis stellt Platon im siebten Buch der Politeia (514a–519b) ein entsprechendes Schema vor und zwar in einer die gesamte okzidental-orientalische Kulturentwicklung prägenden bildsuggestiven Kraft. In diesem bekanntesten der drei Gleichnisse behandelt Platon das Vor und Nach im Bereich des Sichtbaren und Denkbaren, und des Deutlichen und Undeutlichen als Etappen der Annäherung an die Wirklichkeit: Im Gleichnis nähern sich innerhalb der Höhle gefesselte Gefangenen der Wirklichkeit, indem sie den Kopf wenden und nicht mehr bloß die vom Feuerschein an die Wand gespiegelten Schatten, sondern die vorbeigetragenen Bilder von Gegenständen erblicken. Eine weitere Etappe progredienter Erkenntnis ist erreicht, nachdem ein Befreiter den Aufstieg gewagt und, noch ganz vom Licht geblendet, Gegenstände umrissartig wahrnimmt. Indem sich die Augen an die 121 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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Helligkeit gewöhnen, werden die Gegenstände immer klarer und deutlicher erkennbar. Dies bereichernde Differenzerleben motiviert den Befreiten, wieder in die Höhle zurückzukehren, um alle Mitgefangenen zu befreien. 45 Zu den bisher in den beiden ersten Gleichnissen eingeführten Unterscheidungen kommt mithin eine weitere hinzu, die aus gewissen Schlussfolgerungen methodischer Hindernisse im Vorgang unterscheidenden Bezeichnens abgeleitet wird. Im Liniengleichnis war zwar die Mathematik als diejenige Disziplin genannt, die dem Wahrem am nächsten kommt. Aber die Schwierigkeiten, theoretische Gegenstände in einen sprachlich ausdrucksfähigen Sinn zu verwandeln, verfälschen das Wahre ebenso wie die Tatsache, dass mathematische Aussagen nur auf dem Boden von Hypothesen möglich sind, die auf Axiomen beruhten, welche wiederum nur mittels hypothetisch gesetzten noch grundlegenderen Axiomen bestätigt werden könnten. Dieser aus methodischen Erfordernissen unabdingbare Abstieg in immer tiefere Schichten des Begründens korrespondiert nach Platon ein Aufstieg, der nicht anders als sein Gegenstück, durch das Ineinandergreifen von Hindernissen verstanden werden muss. Die Etappen dieses Aufstiegs wurden oben bereits im Zusammenhang mit den Erkenntnisstufen der Ideenlehre genannt: Wort, Begriff, Darstellung, Idee. Es war gesagt worden, dass es sich bei dieser Abfolge nicht um ein kumulatives, sondern um ein differenzielles Verhältnis handele. Jede der zu erklimmenden Stufen des Erkennens markiert eine Differenz zu jeder anderen Stufe, sodass insgesamt neun Relationen bedacht sein müssen. Um dies zu beherrschen, bedarf es der Unterweisung durch die Akademie, die an beliebigen gerade anfallenden Einzelthemen dies Frage- und Antwortspiel wiederholt. So lautet die Aussage im Zusammenhang mit der Rekonstruktion des Vorangegangenen und des Vorangehens beispielsweise nicht: Am Ende einer erfolgreichen historischen Erforschung des Neolithikums werden wir wissen. Sie lautet vielmehr: Die historische Erforschung dieser Epoche wird eine aus Überresten namhafter Fundorte erschlossene gegenwärtige Vergangenheit sichtbar machen, die jedoch durch eine schlechterdings unerreichbare vergangene Ingo Klär (1969) beschreibt Auf- und Abstieg als Stufen der Annäherung an die und Einstellung gegenüber der Wirklichkeit: Aus dem Sophisten wird der Philosoph und aus diesem wird der Politiker, der aus Verantwortungsgefühl gegenüber seinen Mitmenschen, selbst auf die Gefahr hin getötet zu werden, wieder hinuntersteigt.

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Gegenwart in ihrem Erkenntnisgewinn eingeschränkt ist. Die systemtheoretische Sprachanleihe ist in diesem Fall kein Anachronismus; sie bringt vielmehr ein formlogisches Faktum in einer für uns heute verständlicheren Formulierung zu Bewusstsein. Der Mythos hat bei Platon die Funktion, eine bezogen auf die Faktizität des Geschehenen unsichere Kenntnis (doxa) bei gleichzeitig zu gewinnender Einsicht in formlogische Zusammenhänge (episteme) zu vereinen. Analog konzentriert sich die Ideenlehre auf die Differenz zwischen einem auf die Zukunft bezogenen Meinen, das Rückschlüsse aus der Beschaffenheit eines Gegenwärtigen zieht und hier durchaus ein mehr oder weniger deutliches, im Sinne von realistisches, Bild gewinnen lässt. Diese aus Worten (common sense), Begriffen (semantischer Sinnkontext) und Darstellung (Modell) zusammengesetzte Idee eines Kommenden (gegenwärtige Zukunft) ist zwar bloßes Meinungswissen, aber Platon kennt durchaus Abstufungen ernstzunehmender Wahrscheinlichkeit. 46 Wissen im Sinne des Erkennens kann sich jedoch nur auf etwas Unveränderliches beziehen und dies ist allein die formlogisch bedingte Differenz. Die Kluft zwischen dem Meinen und dem Erkennen ist unüberbrückbar und folglich sind faktisch Gewesenes (vergangene Gegenwart) und zukünftig sich Ereignendes (zukünftige Gegenwart) unerreichbar. Die in Klammern hinzugefügte systemtheoretische Begrifflichkeit zeigt, wie wenig trivial, oder bloß historisch, derlei Theorievergleiche sind. Denn mit dieser systemtheoretischen Formulierung ist ein Punkt getroffen, den Platon im Höhlengleichnis bildsprachlich zum Ausdruck zu bringen sucht. Was in den tieferen Schichten des Höhlenlebens vor sich geht, kann derjenige, der den Aufstieg gewagt und der sich in den neuen sonnenbeschienenen Verhältnissen zurechtzufinden gelernt hat, nicht mitteilen. Denn es gibt niemanden, der imstande wäre, seine Aussagen durch einen Abstieg zu bestätigen. Erstens würde das nicht an die Dunkelheit gewöhnte Auge nichts erkennen können, und zweitens würde der allen Heimkehrern und Eindringlingen vorauseilende Ruf denselben zur Gefahr werden. Die Höhlenbewohner würden diese Fremden allein aus Abschreckungsgründen töten mit dem Argument: Wer hinaufsteigt, kommt blind zurück. 46 Eikasia bildet die untererste Stufe des Erkennens von Schatten; Pistis meint das Fürwahrhalten. Siehe zu diesen Begriffen in Platons Höhlengleichnis Lizano-Órdovás (1995).

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Aber genauso wie es für die Erdenbewohner nicht möglich ist, die ganze Realität der Höhlenmenschen zu Gesicht zu bekommen, so bleiben die Höhlenbewohner notwendig in Unkenntnis über das Leben unter der Sonne. Denn diese kennen nur die Schatten all der vorbeigetragenen Gegenstände und halten dieselben für die volle Wahrheit. Wie also sollte die bloße Erzählung an diese Gewissheit rühren können. 47 Auch im Falle des Höhlengleichnisses schafft die Differenz von Sichtbarem und Denkbarem eine Komplikation, die das Bild auf mehrere Bedeutungsebenen verteilt. Das Sichtbare als Frage nach dem, was sich tatsächlich ereignet hat, zielt auf die historisch relevanten Zeitdimensionen, auf gegenwärtige Vergangenheit und gegenwärtige Zukunft. Auf der Seite des Denkbaren befindet sich hingegen eine bloß logisch erschlossene prinzipiell unerreichbare vergangene und zukünftige Gegenwart. Die Figur des Guten, die ein von Empirie gesättigtes Meinen von formlogischem Wissen mittels gestaffelter, ineinandergreifender Unterscheidungen verknüpft, korrespondiert nicht nur mit dem Theoriedesign der neueren Selbstreferenztheorien. Es beseitigt zudem gewisse Verständigungsprobleme zwischen dem okzidentalen, der Aufklärung verpflichteten Westen und dem orientalisch-islamischen, in der antiken Tradition stärker verankerten Kulturraum. Die Konzentration auf Religion lässt eben diese gemeinsamen und durchaus bis heute prägenden Wurzeln beiseiteschieben. Alle Bemühungen um Annäherung und Versöhnung mit dem voraufklärerischen Orient lassen sich auf einer solchen Grundlage nur als nachholende Entwicklung aller nichtwestlichen Kulturen verstehen. Allein eine solche Haltung wird von denselben als neokoloniale Anmaßung und als Angriff auf das je Eigene empfunden. 48

Es bleibt die Frage, woher dieser Impuls zum Aufstieg, zur Erkenntnis, und zum Abstieg des Philosophen zum Politiker, der sich für das Gemeinwesen verantwortlich fühlt und gleichsam opfert, herkomme. Platon (Symposion 204a–b) nennt nicht Ehrgeiz und Geltungsbedürfnis (begründungsdiskursive Überlegenheit), sondern den Eros, die Liebe zu den Menschen und zur Weisheit. 48 Für die afrikanische Position zeichnet sich die Abkehr von den westlichen Modellen der Wohlstandsproduktion und -akkumulation und eine Rückbesinnung auf die eigene verschüttete Sozialethik als grundsätzlicher Bruch mit Paradigmen und Praktiken ab, so das alternative Gesellschaftsmodell des Wirtschaftswissenschaftlers Felwine Sarr (2019). 47

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Nun ist es keineswegs so, dass Bruch, Zäsur und Neuanfang nur Bedeutung für das westliche Denken hätten. Aber im Gegensatz zum islamischen Kulturkreis gewinnen Brüche als Momente gesellschaftlichen Wandels im christlich-säkularen Kontext ein Eigengewicht und mehr noch einen genuinen Wert, der im globalen Interaktionsraum als subversive Gefahr wahrgenommen wird. 49 Schon aus diesem Grund scheint ein von soziomoralisch-politischen Wertungen abstrahierender und ganz auf die Formlogik konzentrierter Fokus allein noch in der Lage, die notwendigen Voraussetzungen für interkulturelle Verständigung zu liefern.

Die transjunktionale Funktion des Beobachters Abschließend wäre zu fragen, welche Schlussfolgerungen sich aus den vorangegangenen Überlegungen für eine praktische Ethik ergeben, die mit widersprüchlichen Sozialfragen befasst ist. Da Wertentscheidungen, wie sie von den Ethikkommissionen avisiert werden, immer im Blick auf globale Kommunikationsströme getroffen werden müssen, sei es in strittigen Fragen Künstlicher Intelligenz, gentechnischer Manipulationen oder militärischer Interventionen, ist der grundsätzliche Perspektivenwechsel von der Norm zur Form bereits ein Gewinn. Denn eine begründungstheoretische Ethik, die den hypothetischen Konsens aller wohlmeinenden, aufgeklärten und verantwortlichen Akteure bezüglich eines bestimmten Normenbestandes zugleich voraussetzt und handelnd herbeizuführen sucht, richtet ihre Aufmerksamkeit auf Defizite, die zu beseitigen sind. Und da es selbige überall gibt, fördert sie eine abolitionistische Grundhaltung, die angesichts uneinheitlicher Handhabung des Regel-Ausnahme-Schemas die Weltgesellschaft nicht im Willen vereint, gegen ein Übel anzukämpfen. Sehr viel eher fördert ein ethisches Engagement dieser Art dissoziative Prozesse und letzten Endes Failed States. An ethischen Diskursen beteiligte Experten, aber auch jeder moralisch kommunizierende Nutzer des World Wide Web, trägt gewollt

Diese Fixierung auf das Negative und das Negieren, ein »Denken des Nichts«, das friedliche Beziehungen im globalen Raum hintertreibt, sieht der in Südafrika lehrende Kameruner Politikwissenschaftlicher Achille Mbembe (»Restitution ist nicht genug« in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 09. 10. 208, Nr. 234, 11) als Ursprung des Kolonialismus.

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oder ungewollt eine Mitverantwortung dafür, dass sich Normkonflikte nicht zu tragischen Konflikten fortentwickeln. Wo dies systematisch und nicht bloß okkasionell misslingt, dort laufen moralische Appelle ins Leere und die Skandalisierung von Menschenrechtsverbrechen wird zur Legitimierung einer eigenen Lizenz zum Töten. Luhmann (2008, 246) nennt extreme Fälle – Folter, internationale Interventionen und die nachträgliche Verurteilung von »Verbrechen«, die zur Zeit ihrer Begehung durch positives Recht (aber nicht durch angeblich »überpositives Recht«) gedeckt waren. Da die Rechts- und Gerechtigkeitsstandards nicht global synchronisiert werden können, gewinnen im Netz grassierende Konflikte zunehmend Züge des Tragischen. Somit erhebt sich die Frage, in welche Richtung das Engagement einer praktischen Ethik zielen würde, die nicht bloß auf Negatives und auf Maßnahmen der Negation dieses Negativen fokussiert ist, ohne Defizite bestreiten zu wollen, oder gesellschaftspolitische Bemühungen um deren Beseitigung leugnen oder entmutigen zu wollen. Aber in Anbetracht einer unüberwindlichen Perspektivendifferenz bedarf die ethische Reflexion einer Umkehr der Blickrichtung auf die Positivität transjunktionaler Operationen, die mit den Gegebenheiten unvereinbarer Positionen umgehen lassen. Keine höhere Norm, aber ein Kalkül ist denkbar, mit dem die Netzkommunikation der neuen Medien im Sinne einer kulturellen Intelligenz innovativ wirken könnte. 50 Mit dieser begrifflichen Anleihe bei der Ökonomie wird ein Plädoyer für das friedenstaugliche Kalkül, das an die Stelle der Konflikte schürenden Norm treten soll, allerdings suspekt. Es provoziert den von Martin Heidegger 1924 in seiner Marburger Antrittsrede über Platons Sophistes geäußerten Einwand, der zählenden Methode der Sophisten liege kein dialektischer Prozess zugrunde, sondern die kleinliche Haltung des Berechnens. Rechnen meine folglich nicht zählen, sondern auf etwas rechnen, berechnend zu sein. Dennoch sei die Mathematik dem Wissen darin näher, dass sie sich nicht in der Differenz von Sein und Schein verfängt. 51 Bei dem gesuchten ethi-

In diesem Sinne auch Röttgers (2008, 444): »Verantwortung für Innovation« nehme die »Pluralität der Moralen als Ausgangspunkt«. Zum Spannungsverhältnis von Reform und Innovation siehe die Beiträge in Corsi/Esposito (2005). 51 Zur ambivalenten Haltung Heideggers gegenüber der Mathematik siehe Tydecks (2003, 2). 50

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schen Kalkül kann somit kein nützlichkeitsphilosophisches Schlussverfahren gemeint sein, das den allgemeinen aus den privaten Nutzenerwägungen ableitet. Für diese Funktion einer nicht berechnenden Innovation steht in der Parabel die Figur des Kamels und zwar insbesondere an jenen Stellen im luhmannschen Interpretament, wo sie ins Positive eines versöhnlichen Umgangs mit dem tragischen Konflikt zwischen zwei aufeinandertreffenden Regelungssystemen gewendet wird. Das bedeutet: statt Gewalt Frieden, statt unbegründbares Begründen die plötzlich einleuchtende Lösung, statt Ausschlussverfahren des Unerwünschten und folglich autoritative Setzung, Einschluss aller Seiten, statt zeitliche Indifferenz volle Berücksichtigung aller Umstände. Da hochgesteckte Erwartungen dieser Art mit einem Verständnis von Ethik kollidieren, das im begründungstheoretisch abgefederten normierund kodifizierbaren Sollen aufgeht, scheint die in der Parabel gesuchte Theoriestelle nur als »Kontrolle von Intransparenz« (Luhmann 2017a, 96–120) denkbar. Damit wird die Weltgesellschaft in der Komplexität heterogener Orientierungen zwar gewürdigt, aber es ließe sich nach wie vor fragen, ob sie im Sinne der Rechtsparabel gewürdigt ist. Denn es liegt durchaus nahe, im puren Festhalten am Begriff der Kontrolle als Zentrum aller denkbaren Vorzugspositionen, berechnendes Denken zu vermuten. Diese Interpretation trifft jedoch nicht die systemtheoretische Intention. Bereits der Paradigmenwechsel vom Begriff des Handelns zum Begriff des Erwartens und der daraus hergeleiteten Genese des Sozialen aus reflexiv gewordenem Erwarten, erlaubt es nicht länger, Kontrolle unter steuerungstheoretischen Gesichtspunkten zu betrachten. Das von sozial-moralischen Ge- und Verboten aus rekonstruierte Verhältnis zu Anderen und Fremden verwandelt sich in eine sachlichlogische Relation und stellt den Dualismus von Selbst und Anderem in den Kontext einer Trias: Wenn das Selbst seine eigene Markierung ist, dann zeigt es sich als paradoxe Einheit der konstituierenden Differenz zum Anderen. Es gibt nicht zwei kontrastierende Pole, sondern eine Dreifachdifferenz von Selbst-Selbst (Selbstbeziehung), SelbstAnderem (Fremdbeziehung) und Beziehung von Selbst- und Fremdbeziehung (kulturelle Transferbeziehung). Konzepte der Kontrolle sind zwar vordergründig gesehen auf Maximierung und Effektivierung angelegte Verhältnisbestimmungen und insofern auf den Dualismus von Selbst und Anderem angewiesen. Denn Beherrschen der Anderen setzt Selbstbeherrschung voraus, und dies als Optimum 127 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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erreichbarer Intensität. Dieser auf Steigerung bedachte Problemlösungsansatz kapituliert jedoch vor einem trilogischen, in sich differenzierten Begriff des Selbst als Relation erster, zweiter und dritter Ordnung (Glanville 1993). 52 Wenn moralische Kontrolle allein deshalb Kontrolle von Intransparenz ist, weil sie es immer mit dieser Dreifachrelation des Selbst zu tun bekommt, dann ist eine intransparente Vergangenheit involviert, die nicht voll erinnert werden kann und eine unzugängliche Zukunft, die in ihren Konturen Resultat des Handelns sein wird (Luhmann 2017, 105). Aus diesem Grund lässt sich weder den eigenen Vorfahren gerecht werden – woher sollen wir wissen, ob wir nicht im Kontext damaliger Präferenzen ähnlich gehandelt hätten? Noch lässt sich den fremdkulturellen und andersdenkenden Zeitgenossen gerecht werden, deren Handeln im Verein mit unserem Handeln bestimmt, was Zukunft sein wird. Moralische Kontrolle kann sich insofern sinnvoll nur auf die eigenen Attributionsgewohnheiten beziehen und der überbordenden Kulpabilisierung Zügel anlegen. Moralische Kontrolle bedarf als Kontrolle intransparenter Selbstbeziehung nicht bloß eines Höchstmaßes an personaler, sozialer und – wie heute angenommen wird – an maschineller Intelligenz. Es bedarf zunächst einer kulturellen Intelligenz, eines entparadoxierenden Formgebrauchs, eines Habitus der transjunktionalen Operation. Das führt zum Thema der Rechtsparabel zurück. Denn die hier thematisierte Gerechtigkeitsproblematik gewinnt jetzt deutlichere Züge im Zusammenhang mit der operativen Funktion des Beobachter-Kamels, in der dieser Habitus der transjunktionalen Operation in gewisser Weise Gestalt annimmt. Was markiert diese Figur, um all die Namen der Leerstellen zusammenfassen zu können, die das ununterschiedene Zwischenreich der Pattsituation, den tragischen Konflikt, meinen? Der Ort, den dieser Beobachter besetzt hält, dieses Niemandsland, ist weder innen (System der Brüder) noch außen (Umwelt des Rechts). Besteht das Problem dennoch in der Rechtfertigung der Mogelei, die Gründe anführen müsste, warum das Familiensystem der Brüder in seinem Bestand erhalten werden muss, oder warum es gut sein soll, eine testamentarische Regelung umzusetzen, deren ungleiche Bevorzugung womöglich als ungerecht gelten könnte? Daran ließe sich zweifeln, Zu den friedenstheoretischen Implikationen einer solchen Konzeption des Selbst siehe Brücher (2015).

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denn wenn sich die Söhne auch diese väterlichen Standards zu eigen gemacht haben, so könnte der gerechtigkeitstheoretische Impetus ja auch dahingehen, vom Ziel der Vertragserfüllung zum Ziel der Aufklärung über die Ungerechtigkeit der Verfügung überzugehen. Letztere Präferenz würde das westlich-abendländische Denken sehr viel eher wiederspiegeln als die strikte Einhaltung von Verträgen. Dennoch bleibt der luhmannsche Befund: Legitimations- qua moralische Semantiken enden in der Ausweglosigkeit infiniten Begründens. Noch aus einem anderen Grund kann es nicht auf die Frage der Rechtmäßigkeit eines rechts- und gerechtigkeitstranszendenten Verfahrens ankommen, das unter moralischen Gesichtspunkten betrachtet, als klandestin und unehrlich erscheint. Ein Beobachter, der eine solche moralische Bewertung vornehmen könnte, hält sich nämlich weder innen, noch hält er sich außen auf. Er operiert vielmehr auf der Grenze von Recht (Verfahren) und Gerechtigkeit (Moral) und dies ist ein Ort, an dem ein solches Urteil unmöglich gefällt werden könnte. Die Frieden stiftende Wahrheit der operativen Funktion ist gar nicht auf der Seite des Sichtbaren, des Systembestandes (Familie, Rechtssystem), sondern auf der Seite des Denkbaren, der Arithmetik zu suchen. Allein diese erlaubt es, den tragischen Konflikt des Zusammenpralls zweier auf den ersten Blick inkompatibler Vereinbarungen nachzukommen. Um dies zu erläutern, kann an das im Liniengleichnis von Platon genannte Beispiel des Kreises erinnert werden. Dessen Wahrheit ist nicht in seiner Gestalt – der Darstellung im Gemälde oder in der Plastik – zu suchen und somit einem Veränderlichen, sondern in seiner unveränderlichen, mathematisch fassbaren Idee – das von allen äußeren Punkten aus gleich weit Entfernte. Der Beobachter verfehlt den Kreis, indem er etwas von Darstellung zu Darstellung Wandelbares unterscheidet, den im Kreidestrich konstituierten Unterschied zwischen Innen und Außen. Denn dieser Unterschied zeigt sich erst als Effekt der Darstellung. Die eindimensionale Linie, die den Kreis konstituiert, lässt sich hingegen nicht visualisieren. Zu sagen, das Dreieck gebe es nur im Medium der Darstellung, weil es sich ohne den Beobachter gar nicht als Unterschied zu etwas Anderem feststellen lasse, lokalisiert den Beobachter systemimmanent. Der Beobachter ist jetzt nicht mehr identisch mit dem mark, dem Machen des Unterschieds; er befindet sich nicht auf der Grenze, sondern entweder hüben (Beobachter 1. Ordnung) oder drüben (Beobachter 2. Ordnung). Es ist Sache des 2. Beobachters, mittels Be129 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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obachten der Art und Weise, wie der 1. Beobachter beobachtet, den von diesem konstituierten sachlichen (Logik), sozialen (Moral) und zeitlichen Sinn (Ontologie) zu beschreiben. Was der 2. Beobachter beobachtet, ist etwas Dargestelltes und folglich Trennendes. Sucht er aber gewissermaßen von seinem privilegierten Außenposten nicht bloß Trennendes, sondern Verbindendes, so hat er lediglich zwei Möglichkeiten: Er kann parteiisch werden und sich mit einem der beobachteten Beobachter solidarisieren und behaupten, dessen Unterscheidungsmodi seien dem Wahren, Guten und Durchsetzungskräftigen näher als die Modalitäten der anderen Beobachter. Er hat aber auch die Möglichkeit, von der Primärevidenz der Güte, Wahrhaftigkeit und Fortschrittlichkeit des eigenen Wertesystems auszugehen und alle beobachteten Beobachter daran zu messen. Da der Beobachter jedoch nur eine Funktion der Unterscheidung von Innen und Außen ist und insofern mit dem mark identisch, kann dem zweiten Beobachter gegenüber dem ersten kein privilegierter Erkenntnisstandpunkt zugebilligt werden, sondern nur ein prinzipiell anderer Standpunkt. Der 2. Beobachter vermehrt die Zahl der Darstellungen, um im Bild der platonischen Erkenntnisschritte zu bleiben. Aber er verändert nichts an der Idee/Form. Denn um das, was er am 1. Beobachter beobachtet, richtig, angemessen und den Tatsachen entsprechend, beurteilen zu können, müsste er sich selbst als Beobachter 1. Ordnung verleugnen und zum potenten Subjekt werden, das nach Gusto der Welt vorschreibt, wie diese zu denken und zu werten habe. Der Wechsel von Kontexturen erfolgt somit aus dem Wissen um die Unvermeidlichkeit des Unterscheidens und mithin Wertens als Momente des Bezeichnens und nicht aus einem vermeintlichen Wissen, dass alle Werte gleichrangig nebeneinanderstehen. Was muss also bedacht sein, wenn man an einer Deutung festhalten will, die die operative Funktion des Kamels im Beobachter sucht? Als Grenze (weder innen, noch außen), als mark (mit der Unterscheidung identisch), als Leerstelle (Reduktion von Komplexität), als Intransparenz (Selbst-Anderer), als Gewalt (Machen einer Unterscheidung), als Redundanz (begründungsunfähiges Begründen), als Parasit (ausgeschlossenes Drittes), als Null (Indifferenzpunkt von Kontinuität oder Diskontinuität)? Liegt die Besonderheit des Beobachter-Kamels womöglich darin, all diese Funktionen in sich zu vereinen? Wie aber sollte dies möglich sein, ohne dazu befähigende kulturelle Vorgaben? Berücksichtigt man dieselben jedoch vollumfänglich und dies in der 130 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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geforderten Version einer ins Positive gewendeten Leerstelle, dann wird man im Beobachter-Kamel eine Chiffre für die transjunktionale Operation (Operation/Beobachtung) sehen wollen. Gerechtigkeit lässt sich im globalen Kontext nicht als generalisierbarer Idealtypus behaupten, sondern gibt sich als programmatische Profilierung in ihrer Funktion (Leerstelle, Intransparenz, Gewalt, Redundanz, Parasit, Null) offen zu erkennen. Nur in dieser zurückgenommenen Form ist das Desiderat der Gerechtigkeit in der Lage, Anhaltspunkte für das Wechseln von Kontexturen zu liefern. Dies beantwortet die Frage nach der operativen Funktion des Beobachter-Kamels. Würde sich dieses auf einen Beobachter beziehen, der teilen, verletzen muss, um das Problem der Paradoxie – innerhalb des Rechts entsteht Unrecht, die Anwendung des Rechts kann ihre Rechtmäßigkeit nicht mehr plausibel machen – zu lösen, dann wäre das Problem der Vielschichtigkeit des Paradoxes nicht gelöst. Denn der Frieden stiftende Schnitt – die Mogelei der Einführung einer rechtstranszendenten Größe (zwölftes Kamel) – würde die familiäre Gemeinschaft nur auf Kosten einer neu etablierten Feindschaft zwischen Brüdern und Richter erhalten. Die operative Funktion bezieht sich folglich auf den Beobachter als mark einer kulturellen Intelligenz, die Kontexte auf eine friedliche Weise zu wechseln erlaubt. Beobachter und kulturell bereitgestellte Modalitäten sind mithin ein und dasselbe, wie immer die Zurechnung ausfallen mag: Person, Attitüde, soziales Konfliktlösungsmuster oder Algorithmus. Was geschieht jedoch, wenn die Gegenwartskultur keine entsprechenden transjunktionalen Operationen ausgebildet hat, weil sie ein Menschen- und Weltbild vertritt, das selbige nicht zu bedürfen meint? Die luhmannschen Reflexionen über unterschiedliche Typen von Konflikten: Widersprüche, autopoietische Konflikte, tragische Konflikte lenken die Aufmerksamkeit auf dieses Fehlende. Die kulturelle Dimension schiebt sich im Diskurs über Recht und Gerechtigkeit in den Vordergrund, wenn man die operative Funktion des Kamels als dreifachen Friedensauftrag beschreibt. Es sichert zum einen den inneren und den äußeren Frieden: Das Testament kann erfüllt und das Versprechen gegenüber dem Richter gehalten werden. Es bestätigt jedoch zusätzlich die Wahrheit eines arithmetischen Faktums, das unabhängig davon ist, ob der zu schlichtende Streit überhaupt ausbricht (der Vater stirbt) und ob der Richter auf die Idee der Lösung kommt (Flexibilität und Bereitschaft des Richters, die Grenze positiven Rechts zu überschreiten). 131 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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Heutiges Insistieren auf einem Recht zur Rechtswidrigkeit stößt auf das Problem, dass allein die Vielzahl und Heterogenität legitimitätsstiftender Theorien – Rechtsschulen im globalen Raum – die operative Funktion leerlaufen ließe. Spezifiziert man das zwölfte Kamel als Gerechtigkeit, so kann dieselbe zwar als Kontingenzformel des Rechts zum Rechtsgehorsam motivieren, indem sie in Aussicht stellt, durch immer wieder neue Verfahren und eventuell neu eingeführte Rechtsnormen, schließlich auch für mich eine akzeptable Lösung finden zu lassen. Das, was hier als Rechts- qua ausdifferenziertes Subsystem der Gesellschaft thematisiert wird, existiert jedoch nur als konkrete Rechtsgemeinschaft, die mittels Handhabung des Codes (Recht/Unrecht), mittels einer bestimmten symbolischen Generalisierung (Recht/Rechtsstaat) und einer bestimmten Kontingenzformel (Gerechtigkeitstheorie) Konflikten zu begegnen sucht. Es ist folglich das hobbessche Thema des inneren Friedens nicht transzendiert. Im Zeitalter der Globalisierung ist es aber der Weltfriede, der zum Problem wird. Infolgedessen handelt es sich bei der operativen Funktion um die Funktion der transjunktionalen Operation, die als Recht auf rechtswidrige Entscheidungen falsch verstanden wäre, weil sie nur die Ius ad Bellum-Lösung des politischen Absolutismus aufgreifen und in die heutige Weltgesellschaft überführen würde. 53 Die Faktizität eines von allen bewaffneten Einheiten in Anspruch genommenen reziprok geltenden Rechts zur rechtswidrigen Gewalt müsste soziale Ordnung unmöglich machen. Die Antwort auf die systemtheoretische Frage, wie soziale Ordnung möglich sei, sieht sich durch die Paradoxieproblematik ins Innerste ethiktheoretischer Fragen hineingezogen.

In seiner Funktion als Militärdekan der Führungsakademie der Bundeswehr bemüht sich Hartwig von Schubert (2019) um eine theologisch-philosophische Rechtfertigung von Militäreinsätzen zur Durchsetzung rechtsstaatlicher Gewaltmonopole unter Berufung auf Luther und Kant, die aus der biblischen Substitution der Schwerter in Pflugscharen ein Sowohl-als-auch werden lässt. Zur Kritik am legal pacifism siehe Brücher (2008, 87–107; 2017c, 433–449).

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IV. Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Zeitfragen

1.

Das Eskalationspotential von Risiken

Statistisches und ethisches Kalkül Die Kalkulation von Risiken ist die moderne Art und Weise der Unsicherheitsabsorption mit Hilfe von Statistiken, in denen die Schadenshöhe mit der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schadens verrechnet wird. Das statistische Kalkül tritt an die Stelle des ethischen Kalküls der Zweckformel des kategorischen Imperativs, mit der Kant ein Verhaltensregulativ im Angesicht unsicherer Zukunft und der niemals gänzlich vorauszusehenden Neben- und Folgewirkungen des Handelns entworfen hatte. Dieser Imperativ, eine Maxime des Handelns so zu wählen, dass die Menschheit sowohl in der eigenen Person, als auch in der eines jeden anderen, niemals als bloßes Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich betrachtet werden kann (Kant 1907, BA 67), wird nur dann entbehrlich, wenn die statistische Methode als funktionales Äquivalent des ethischen Imperativs taugt. Es ist die Plausibilität dieser axiologischen Vorentscheidung, die in Frage steht, nicht Sinn und Brauchbarkeit der statistischen Methode als solcher. Dabei können wir uns nur mittelbar auf die Systemtheorie stützen, die das angelsächsische Missverstehen des ethischen Kalküls als bloßer Norm (Luhmann 2008, 25–55) fraglos übernimmt. Auf der Grundlage dieses Verständnisses werden nämlich ganz andere funktional äquivalente Arten der Unsicherheitsabsorption hervorgehoben, die im Gegensatz zum kantischen Vorschlag mit unrealisierbaren Voraussetzungen belastet sind. Um der normativen Regulierung eine Leistungskraft vergleichbar der Planungssicherheit statistischer Vorhersagen zubilligen zu können, müsste allgemeine Verbindlichkeit hergestellt, globale Geltung gemacht und im Extremfall erzwungen werden. Während das statistisch gewonnene Zukunftsvertrauen nur 133 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Zeitfragen

eine gute, KI-gestützte und global expandierende wissenschaftlichtechnisch-politisch-administrative Infrastruktur benötigt, verlangt das normative Sicherheitsäquivalent globale Umerziehungsprogramme, akkulturierende Sozialisationstechniken, die die Menschheit auf ein einziges Wertesystem einschwört und in einem univoken Weltrecht synchronisiert. Als ernstzunehmendes Äquivalent der statistischen Kalkulierung erfordert das normative Kalkül dieser Lesart gemäß ein totalitäres System. Eben dies ist der Grund, weshalb bereits Kant, der vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem politischen Absolutismus ein realistisches Ethikkonzept entwirft, nicht die individuell, kulturell und situativ bestimmte Maxime (Präferenz) zum Ferment ethischer Regularien macht, sondern einen bestimmten Modus des Kalkulierens. Dieser adressiert jeden Einzelnen in Anbetracht der Tatsache, dass ein noch so enttäuschungsfest gezimmertes Set von Maximen, eine global verbindliche Präferenzordnung, machtlos gegenüber dem unwilligen Einzelnen wäre. Nichts könnte diesen daran hindern, sich in der Rechtfertigung seiner Handlungen nicht auf die geltende Norm, sondern auf die Ausnahme von dieser Norm zu stützen. Und den Kritikern bleibt nur der Ausweg, die Güte der Absichten anzuzweifeln, die hinter der Selbstpositionierung auf Seiten der Ausnahme stehen. Zwar merkt auch Luhmann die Probleme einer moralischen Kommunikation kritisch an, die der Güte eigener Maximen vertraut, und er kritisiert die problematische Identifizierung der Norm mit dem Regel/Ausnahme-Schema. Aber er kehrt nicht zur kantischen Lösung zurück, sondern setzt erinnerlich auf funktional äquivalente Modalitäten der Unsicherheitsabsorption, auf den kognitiven Erwartungsstil, die so genannte Anschlussrationalität und auf Liebe. Deren Vorzüge liegen in der Andersartigkeit eines Erwartungsstils, der auch andere Präferenzen wahrnehmen und akzeptieren lässt. Und da ein gesellschaftlich prämiertes moralisches Unterscheiden den Präferenzcode von Norm und Recht mit dem Guten gleichsetzt, und konstitutiv ausblendet, dass das Regel/Ausnahme-Schema als eigentlicher Präferenzcode nicht minder dem Schlechten und Bösen zuarbeitet, gehört es für Luhmann (2008, 270–347) zur wesentlichen Aufgabe der Ethik, vor Moral zu warnen. Die Gegenüberstellung von ethischem und statistischem Kalkül deckt sich folglich nicht mit der von Luhmann einander konfrontierten normativen und statistischen Form, die Unsicherheitsabsorptionen auf eine je eigene Weise leisten, indem sie die Zukunft an etwas bin134 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

Das Eskalationspotential von Risiken

den: an die kontrafaktische Geltung im einen Fall, an die Strenge der empirischen Überprüfung der Vorhersage im anderen Fall. Gleichwohl können weder Anschlussrationalität (Bürokratie, Verwaltung, arbeitsteiliges Handeln, Kooperation) noch Liebe (fraglose Anerkennung der Selektionen und Perspektiven des Anderen) die Kriterien eines Guten liefern, vor dessen Hintergrund erst Ethik als Kritik moralischen Unterscheidens gedacht sein könnte. Denn auch hier vermag der Vorzugswert nicht alleine stehen; er kommt nur als Zweiseiten-Form und mithin nur zusammen mit seinem Gegenwert im sozialen Leben vor, mit Anschlussverweigerung und Hass. Das eine kann sich als das andere ausgeben, die Verweigerung als Motiv für die Optimierung rationalen Handelns und der Hass kann vorgeben, durch die Ablehnung der Hassenden die Liebe zu stärken. Folglich lässt sich das ethische Maß der Moralschelte nur an der Art des Umgangs mit dieser Kalamität finden und eine solche Modalität wäre ein operativ zu verstehendes Drittes: Da es eine Mehrheit von binären Codes gebe und die Gesellschaft folglich polykontextural operieren müsse, sei jedem Code ein unsichtbarer dritter Wert hinzuzufügen, mit dem der Code sich selbst bezeichnet. Es sind transjunktionale Operationen, die entscheiden lassen, ob ein bestimmter Code, wie etwa Recht und Unrecht, angewandt werden soll oder nicht (Luhmann 2008, 185). Bei diesem dritten Wert geht es nach Luhmann darum, die Moral auf die Gesellschaft zu beziehen und da die gegenwärtige Ethik in ihrem Bestreben, die Moral nicht mit Kritik zu belasten, sondern mit Gründen zu versorgen, in dieser Funktion kontinuierlich scheitere, müsse die Soziologie einspringen. Diese wirft keinen normativen, sondern einen empirischen Blick auf die Moral und bekommt jetzt allerorten Moralinsaures zu Gesicht, so zum Beispiel im Umgang mit einer offenen Zukunft, in die hinein sich Menschen so oder anders entwerfen können. Diese Kontingenz zu sehen und also andere Sichtweisen und Entwürfe gelten zu lassen, stehen jedoch Hindernisse entgegen, und die auf Statistiken gestützte Kalkulation von Risiken ist eines dieser Hindernisse.

Operative Synchronizität und Diachronizität des Beobachtens Für unseren Zusammenhang fallen insbesondere zwei Einwände ins Gewicht, die sich gegen die Ausschließlichkeit richten, mit der nur die 135 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Zeitfragen

Perspektive des Systems und mithin des Akteurs berücksichtigt werden kann, während die Sichtweisen und Handlungen der Umwelt, der von diesen Aktionen Betroffenen, unterbelichtet bleiben. Die Unsicherheitsabsorption der statistischen und digitalen Quantifizierungen bläht gleichsam die selbstzentrierte, egozentrische Perspektive des Akteurs zum Umfassenden der ganzen Wirklichkeit auf, in der die Umwelt, der Andere, der Feind, nur als »Negativkorrelat des Systems« (Luhmann 1984, 249) und mithin als Bild existiert. Dieser kommt nicht in seiner Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung zu Wort. Die in ihren Risiken berechnete Aktion muss davon ausgehen können, dass die Zeit stehen bleibt, bis das Werk vollbracht ist; sie muss ausblenden, dass in der Umwelt ihrerseits gehandelt wird. Dies Nicht-sehen-wollen operativer Synchronizität aber kommt daher, dass Beobachten und Diagnostizieren nur mit Hilfe von Unterscheidungen, von temporalen Schematisierungen möglich sind, die faktische Gleichzeitigkeit als Sukzession von Ereignissen erscheinen lässt. Konflikte können sich mithin nicht nur aus dem Grund gewaltsam aufschaukeln oder riskante Technologien verhängnisvolle Wirkungen hervorrufen, weil Handlungen grundsätzlich riskant sind und weil falsch kalkuliert worden ist. Hinzu tritt als zusätzlicher Eskalationsfaktor dies Nicht-sehen-können und Nicht-sehen-Wollen eines temporalen Widerspruchs zwischen operativer Synchronizität und Diachronizität des Beobachtens: Was gleichzeitig geschieht, erscheint dem Betrachter als Sukzession von Ereignissen. Infolge dieser Kalamität fällt die Selbst- und Fremdbeschreibung notwendig falsch aus: Das Selbst (personal, sozial) wird als Subjekt aufgewertet, als Akteur, der die Umwelt als Objekt abwertet, zum bloßen Reaktor degradiert. Dies gilt selbst für den Fall, dass der Andere als Feind wahrgenommen und damit in die Position des Täters rückt. Denn die Unterscheidung von Täter und Opfer verbleibt mit ihrer Schematisierung innerhalb der sozialen Sinndimension und berührt nicht die temporale Relation. Das Eskalationspotential dieser Asymmetrisierung wird noch deutlicher, wenn die Perspektivendifferenz von System und Umwelt, die jedes verfeinerte Kalkulationsinstrument stumpf werden lässt, terminologisch präzisiert wird. Die exakte Trefferquote kann nämlich nichts daran ändern, dass System und Umwelt durch eine unüberbrückbare Perspektivendifferenz getrennt sind. Risiko ist ein Begriff, der nur die Perspektive des Egos (Intervenierender, Akteur, Entschei136 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

Das Eskalationspotential von Risiken

der) umschreibt. Aus der Perspektive von Alter (Intervenierter, Betroffener) wird die ›gut kalkulierte‹, ›wohl abgewogene‹ Aktion zur Gefahr (Luhmann 2008, 348–361). Es sind folglich einander widersprechende Perspektiven, die eine Lösung globaler Probleme ökologischer und technologischer Selbstgefährdung der Gattung, waffentechnologischer Entwicklung, des internationalen Terrorismus und militärischen Interventionismus vereiteln. Und es ist die doppelte Blindheit der Selbstzentrierung, die in Risiken ein Eskalationspotential sehen lässt. Ethik greift infolgedessen nicht diesseits, sondern nur jenseits dieser Perspektivendifferenz.

Von probabilistischer zu algorithmischer Vorhersage Aber ist es nicht verfrüht, bereits an dieser Stelle nach ethiktheoretischen Konsequenzen Ausschau zu halten? Nimmt der computertechnische Schritt von der statistischen, so genannten probabilistischen, zur algorithmischen Vorhersage dem Beobachter nicht jede Bedeutung? Und verschwindet damit nicht jene Referenzfigur, der transjunktionale Operationen zuzurechnen wären? Der Computer stützt sich im Verknüpfen von Kontexturen auf statistisches Kalkül, wie könnte in einem selbst den Programmierern mitunter nicht mehr transparenten Innenraum ein ethischer Kalkül Fuß fassen können? Diese Frage scheint berechtigt, wenn man den historischen Platztausch der Referenten erinnert. Die Geschichte der Moderne beginnt mit der Substitution des Beobachter-Gottes durch den Beobachter-Menschen. Damit verliert die Unterscheidung vom Ganzen und seinen Teilen die Bedeutung eines zentralen und alles bestimmenden Welteinteilungsschemas, da das Ganze zu beobachten und zu beeinflussen dem Menschen nicht möglich ist. Menschliches Beobachten benötigt einen Standpunkt, eine Perspektive, ein vom Menschen ausgehendes ordnendes Prinzip, das auch von diesem verantwortet werden muss. Luhmann (1991, 47) weist darauf hin, dass der Systembegriff seine historische Karriere um 1600 begonnen habe, nachdem die Erfindung des Buchdrucks ganz neue Anforderungen an Katalogisierung, Strukturierung und Ordnung gestellt habe, für die ein Rückgriff auf das alte Ordo-Modell nicht mehr ausreichte. Mit dem Subjektbegriff stilisiert sich der Mensch als System aller Systeme, als das ordnende Prinzip schlechthin. Davon beeinflusst ist die Art und Weise, wie mit dem Zeitschema umgegangen wird. Auch die Zeit gibt 137 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Zeitfragen

Ordnung nicht länger vor, sondern bedarf der perspektivischen Konstruktion der Blickrichtung zurück oder nach vorn. Was geschieht nun aber, wenn die Beobachterposition vom Menschen und mithin dem System, zum Cyberspace und also dem Netz wechselt? Unweigerlich, so lauten die Diagnosen der soziologischen Systemtheorie, gerät alles auf den Prüfstand, ähnlich dem kardinalen Paradigmenwechsel vom Beobachter-Gott zum Beobachter-Mensch. Angesichts dieser epochalen Aufgabe können natürlich immer nur ganz kleine Felder beleuchtet werden. Uns geht es an dieser Stelle um die Frage, was unter den neuen Bedingungen aus der oben erwähnten doppelten Blindheit wird. Ist zu erwarten, dass es mit der neuen Beobachter-Figur des Netzes besser wird, oder schlechter? Zunächst fällt ein Hang zum Schlechteren auf, denn was beim algorithmischen Prognoseagent grundsätzlich wegfällt, ist ein Abgleich der prognostizierten mit den wirklich eintretenden Ereignissen und damit eine zumindest rudimentäre Beachtung der Umwelt, des Anderen. 1 Entwickeln sich im Falle der von Menschen ausgehenden statistischen Vorhersage die Verhältnisse anders als die Wahrscheinlichkeitsanalysen hatten erwarten lassen, so waren Methoden oder Theorien fehlerhaft und müssen korrigiert, nachgebessert werden. Und es spricht dann für die Güte der Theorie, wenn sie die eigene Irrtumsanfälligkeit reflektiert und nicht ignoriert oder überspielt. 2 Diese Differenz von gegenwärtiger Zukunft, die in Prognosen antizipiert wird und zukünftiger Gegenwart, die über die Qualität der Verfahren entscheidet, entfällt in der algorithmischen Vorhersage. Denn diese hypostasieren nicht Kausalrelationen, sondern entdecken Korrelationen in einem das Weltwissen speichernden Datenmeer (Big Data). Sollten Kaufangebote nicht akzeptiert (predictive shopping), eine aufgrund spezifischer Verdachtsmomente festgenommene Personengruppe die Kriminalitätsrate nicht senken und/oder das Vertrauen in den Rechtsstaat untergraben (predictive policing), 3 sollte Was bleibt, ist nach Arnim Nassehi (2019) eine Gesellschaft sich selbst bestätigender und hervorbringender Muster. Das System kann gleichsam seine andere Seite, die Umwelt, nicht mehr beobachten. 2 So wird Selbstreflexivität als Haltung und als theoretische Position zur Lösung des Problems. Zur Kritik siehe Brücher (2017a). 3 Zum wohlwollenden medialen Diskurs von politischen Vorstößen zur Einführung von Predictive Policing in Deutschland, ungeachtet der 1956 von Philip K. Dicks verfassten und von Steven Spielberg 2000 verfilmten Dystopie »Minority Report«, siehe kritisch Simon Egbert (2017). 1

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Das Eskalationspotential von Risiken

eine bestimmten Gefahren vorausreagierende militärische Intervention (preemptive strike) entgleisen, oder der zur Verhinderung einer prognostizierten Krankheit vorgenommene operative Eingriff gegenteilige Effekte auslösen (predictive medicin), so werden lediglich die Korrelationen um weitere ergänzt. Diese technologische Revolution rührt an die Akteur-Stellung des Systems und schmälert somit auch die Bedeutung der Perspektive in deren doppelten Blindheit. Entfallen damit die Probleme der abgedunkelten Gleichzeitigkeit von operativer Synchronizität und Diachronizität des Beobachtens und wird die Perspektivendifferenz von Risiko und Gefahr irrelevant? Oder steigern künstlich intelligente Systeme das Nicht-sehen-können und Nicht-sehen-wollen ins Unermessliche? Müssen sie sogar als Eskalationspotential sui generis betrachtet werden, weil sie das menschliche Kontingenzbewusstsein vollends austrocknen? Techniken der Vorhersage und der reaktiven Vorwegnahme eines in der Zukunft liegenden Ereignisses suspendieren die zeitliche Differenz und damit auf den ersten Blick das Anstößige der beschriebenen doppelten Blindheit. Denn die Tatsache, dass exakt zu dem Zeitpunkt, an dem ein Akteur mit weltveränderten Projekten tätig wird, simultan irreversible Eingriffe von unzähligen anderen Akteuren erfolgen, die einander wechselseitig konterkarieren und in ihrer Legitimität beeinträchtigen, ist nur in einer faktischen Wirklichkeit relevant. Aber sie ist irrelevant, wenn eine virtuelle, bloß prognostizierte Wirklichkeit Ausgangspunkt des Handelns ist. Die virtuelle Welt ist wie die transzendente Welt oder der Tod ein Gleichmacher; Subjekt und Objekt, Täter und Opfer, Akteur und Betroffener verschmelzen im Irrealis bloß möglicher, dem Vernehmen nach aber vorweggenommen-realer Verläufe. Auch der perspektivische Unterschied von Risiko und Gefahr wird hinfällig. Denn der riskante preemptive strike kommt ja angeblich einer Gefahr zuvor und hebt damit die Differenz im Akt selbst auf. Die zweifache Blindheit wird folglich noch einmal verdoppelt. Denn operative Synchronizität und diachrones Beobachten hindern die Menschen nach wie vor am realitätstauglichen Handeln und nach wie vor stellt sich die Perspektivendifferenz von Risiko und Gefahr einer gemeinsamen Problemdiagnose in den Weg. Die bloß riskant erscheinende von künstlich intelligenter Technik gesteuerte Intervention wird den Intervenierten zur Gefahr. Aber es fehlt jetzt jedes Sensorium, um selbiges noch als anstößig thematisieren zu wollen 139 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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und zu können. Die Inflationierung der Opfersemantik spiegelt die Inhaltsleere einer differenzlosen und somit undifferenzierten Sicht. Die ethische und sozialwissenschaftliche Diskussion berührt die genannten Probleme jedoch in der Regel eher aus dem Blickwinkel der modernen Subjektphilosophie und beklagt infolgedessen den Verlust einer offenen Zukunft, in die hinein das selbstverantwortliche menschliche Subjekt gestaltend wirken kann. Denn die Digitalisierung und Automatisierung der Entscheidungsabläufe führt zur Substitution des kalkulierenden Menschen durch die kalkulierende Maschine. Die Maschine verliert ihren Charakter eines bloßen Instruments der Informationsgewinnung und -verarbeitung, um sich in einen handelnden, autonom entscheidenden Akteur zu transformieren. Und dies geschieht durch eben jene Perfektionierung eines algorithmischen Prognoseverfahrens, das genau diejenige Zukunft schafft, die es voraussagt. 4 Auch auf diesem Feld einer heraufziehenden dystopischen Wirklichkeit der den Menschen umgebenden ›intelligenten‹ Dinge (Internet der Dinge), die sich selbst steuern und reproduzieren, die einander koordinieren und miteinander kommunizieren, die den Menschen nicht nur in eine subordinierte Position zwingen, sondern womöglich als Störfaktoren wahrnehmen, scheint es nur möglich, die Gefahren entweder zu überschätzen oder zu unterschätzen. Zwar werden Freiheitsräume durchaus konzediert, aber die Netzstruktur ist so beschaffen, dass selbige als Potential der Irritation negativ zu Buche schlagen. So beschreibt der Sicherheitstechnologe Bruce Schneider (2018) bereits mit seinem Titel »Click Here to Kill Everybody« das Internet als Sicherheitsrisiko ersten Ranges. Durchaus realistische Szenarien seien Morde über Remote Hacks in Bordcomputern von Autos, gehackte Biodrucker zwecks Auslösung einer weltweltweiten Epidemie, Cyber-War oder auch nur das Abgreifen von Sparguthaben, die Umprogrammierung von Steuerungs- und Sicherheitssoftware durch Kriminelle, das Hacken privater Daten, Quantencomputer, die grenzenlose Möglichkeiten eröffnen und um eine Milliarde Mal schneller als jeder bisherige Computer arbeiten, sollen nach dem Urteil von Fachleuten in wenigen Jahren implementiert werden können. Die bereits ausgereifte 5G Technologie des weiterentwickelten mobilen Internets hat die Fähigkeit, die Welt mit dem Internet der Dinge, dem selbstfahrenden Auto und der komplett automatisierten Fabrik völlig zu verändern und – wie Thiemo Heeg in der Frankfurter Allgemeine Zeitung (25. 10. 2019, Nr. 248, 17) betont – besser zu machen. Zu den Problemen siehe Lenzen (2018, 81–195).

4

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Das Eskalationspotential von Risiken

der Zugriff auf Herzschrittmacher durch Erpresser, staatliche Massenüberwachung, Spionage-Hacks gegen andere Länder und vieles mehr. Andererseits wird mit Vorschlägen zur Verbesserung von Sicherungs-Apps und der Gründung einer Behörde zur Beratung der Regierung in Sicherheitsfragen, vergleichbar der amerikanischen National Cyber Office, durchaus auch optimistisch in eine Zukunft geblickt, in der ein wirklich gefährlicher Internet-Terrorismus eher als unwahrscheinlich eingeschätzt wird, weil anonyme Eingriffe dieser Art unspektakulär seien. Auch solche höchst alarmierenden Aussichten einer nach und nach vollendeten digitalen Infrastruktur lassen sich gewissermaßen kleinreden, hier im Medium politischer Kommunikation, die Mittel der Gegenmacht zu entwickeln empfiehlt. Was sicher erscheint, ist mithin allein die Unerkennbarkeit und Unkalkulierbarkeit einer durch Wahrnehmung (psychisches System) und Kommunikation (soziales System) unerreichbaren, zugleich geschaffenen und zum Schöpfer mutierenden Technologie. Ist der Prognoseagent kein Mensch, sondern ein Algorithmus, dann scheinen gewissermaßen alle Wege abgeschnitten, die das Problem der Blindheit bewusstmachen und problembewältigende Umgangsweisen ersinnen lassen. Wenn dennoch der Mensch als Korrektor ins Feld geführt werden soll, so muss erstens bedacht sein, dass dieser im Medium der Wissenschaft und mithin eines Funktionssystems der Gesellschaft tätig wird. Zweitens muss im Auge behalten werden, dass in der Regel sehr unterschiedlich ausfallende Statistiken je nach Interessenlage wiederum nur in politisch, wirtschaftlich, rechtlich und pädagogisch mediatisierter Form Programme und Projekte der Zukunftsgestaltung beeinflussen. Die selbsterzeugte Blindheit der nur im eigenen Medium kommunizierenden Funktionssysteme gefährdet Mensch und Natur einfach dadurch, dass Politik nur Fragen behandelt kann, die im Machtmedium artikuliert werden. Die Wirtschaft lässt nur Profit versprechende Perspektiven entwickeln, das Recht nur jurifizierbare Probleme registrieren, die Erziehung nur kindgerechte Fragen stellen, 5 und die Wissenschaften nur empiDie von Johan Huizingas »Homo ludens« bereits 1933 geschilderte kulturbestimmende Haltung des Puerilismus wird von Nassehi (2019) im Zusammenhang mit der Klimadebatte als wieder aktuelles Stilmittel beschrieben, das unter Einsatz des Kindes Greta Thunberg Inszenierung mit der Sache selbst verwechsele. Charakteristisch sei »die Leugnung von Unterscheidungsvermögen«, das Zusammenfallen von Zeichen und Bezeichnetem, von »Äußerung und Geäußertem, Sagen und Meinen, Intention 5

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risch überprüfbare Themen traktieren. Aber, und dies ist der ethisch springende Punkt, sie kann ihr Nichtsehen-können nicht kommunizieren. Aus diesem Grund sind Bereichsethiken, die auf der Basis dieser Blindheit eine wertende Vergleichsrechnung zwischen Geleistetem und Gewünschten aufmachen, nicht ausreichend. 6 Nachdem die digitalen Medien ein weltumspannendes Netz globaler Information und Kommunikation installiert haben und ein kommunistisches China, das kapitalistische Formen des Wirtschaftens integriert hat, in dieser Entwicklung besonders weit fortgeschritten ist, tritt ein Praxisproblem in den Vordergrund, das im traditionellen Liberalismus-Sozialismus-Schema nicht mehr angemessen dargestellt werden kann. Denn der Widerspruch zeigt sich jetzt nicht als Rivalität und Interessenkollision der einzelnen Funktionssysteme; er macht sich vielmehr innerhalb des Netzes als Kollision zweier Zeitschemata bemerkbar: Eine offene sieht sich durch eine vorherbestimmte Zukunft überlagert und schließlich verdrängt. Die Zukunft findet in einer durch Künstliche Intelligenz supervidierten digitalen Kommunikation schon heute statt. Dies wirft die moderne Gesellschaft unvermeidlich aus der Bahn, bleibt das Konstrukt einer offenen und zu gestaltenden Zukunft für selbige doch unverzichtbar. Dieses bereits im Zusammenhang mit dem Problem unterscheidungsresistenter Netzkommunikation von News und Fake News erwähnte präemptive Denken steht in Widerspruch zum modernen Temporalschema. Sind Algorithmen, nicht aber Menschen in der Lage, die Zukunft vorauszusehen, so entfällt der Gestaltungsraum freier und aufgrund dieser Freiheit auch verantwortlicher Subjekte. Mit dieser Feststellung bewegen wir uns aber nur auf dem Feld einer bis heute gepflegten Aufklärungssemantik, die bereits Kant auf ihre unkritischen Momente hingewiesen hatte. Freiheit bemisst sich nach Kant nicht an den empirisch nachweisbaren Fähigkeiten, weltverändernd tätig zu werden, sondern umgekehrt an der Unfähigkeit der Wissenschaft, alle für das menschliche Handeln wesentlichen Determinanten bestimmen zu können. Das Ferment der Freiheit ist nicht das faktische Können, sondern die Komplexität, aufgrund derer die

und Rezeption, Wollen und Können, Inneres und Äußeres, Bedeutung und Interpretation, Sein und Schein, Signifikant und Signifikat«. 6 Zum Problem der Bereichsethiken am Beispiel der Technikethik siehe Christoph Hubig (2015, 83–100), der vorschlägt, von der Anwendung der Ethik zu einer Ethik der Anwendung überzugehen.

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Das Eskalationspotential von Risiken

Menschen nicht anders können als einander Freiheit, im Sinne von Zurechenbarkeit, zu unterstellen. 7 Die Umstellung von probabilistischer Vorhersage, die auf Statistiken beruht und algorithmischer Prognostik berührt jedoch beide Arten des Verständnisses. Weder die am nachweisbaren Können aufgewiesene Freiheit noch an nicht nachweisbarer Determination festgemachte Freiheit scheinen noch plausibel. Für den ersten Begriff mag diese Befürchtung auf der Hand liegen, denn Statistiken prognostizieren nur einen Durchschnittswert, bloße Wahrscheinlichkeiten bestimmter Trends und Entwicklungen. Sie machen nur Aussagen über Trefferquoten, aber nicht über tatsächlich eintretende Ereignisse und tangieren folglich nicht den Einzelfall. Dieses Kann, aber Muss nicht, ist ein vom Einzelnen nutzbarer Freiraum, weil er hoffen lässt, nicht zum Durchschnitt zu gehören, oder mittels Veränderung der Rahmenbedingungen dafür sorgen zu können, dass sich das Gesamtbild des Durchschnittlichen verändert. Im präemptiven künstlich intelligenten Zeitmanagement fehlen jedoch Freiräume dieser Art, denn enttäuschte Prognosen ergänzt Big Data um zusätzliche News, die hier verarbeitet werden und die den Innenraum der Maschine nicht verlassen. Aber auch das attributionstheoretische Freiheitsverständnis von Kant und von Luhmann 8 verliert auf den ersten Blick seinen ethisch relevanten Sinn, wenn Handlungen und Entscheidungen nicht mehr dem Menschen, sondern der Maschine zugerechnet werden. Diese verspricht, all die Determinanten einer rundum betreuten und komplett versorgten Menschheit herzustellen und bestätigt somit jenes determinierte Menschsein, das bisher von der Wissenschaft nicht nachgewiesen werden konnte. Im KI-gestützten Cyberspace müssen Determinanten nicht vorab bestehen und somit auch nicht nachgewiesen werden, bildet die Vorwegnahme einer durch sie hervorgebrachten Determination doch die Grundlage von Prognosen. Auch das komplexitätstheoretische Argument scheint folglich hinfällig,

»Zur Problematik des Freiheitsbegriffs in Kants Moralphilosophie« bezüglich der Vermittlung von theoretischer (Noumenalität) und praktischer (Phänomenalität) Freiheit siehe Dietrich in: Ingensiep/Baranzke/Eusterschulte (2004, 169–194). 8 »Selbst wenn die Prozesse hochkomplexer Systeme voll determiniert wären (wofür viel spricht), wäre unter der angegebenen Bedingung eines mehrfachen gegenläufigen Komplexitätsgefälles die Unterstellung von Freiheit eine notwendige Kalkulationsvereinfachung.« (Luhmann 2008, 99). 7

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Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Zeitfragen

wenn Big Data doch eben diese Komplexität, nämlich das Weltwissen selbst, abrufbar und nutzbar machen soll.

Irreversible Freiheit In diesem letzten Punkt täuscht der Schein, denn der mit Quantencomputer und 5G erhoffte Umbau der gesamten Infrastruktur beruht auf einer verkürzten und nicht auf einer repräsentierten Komplexität. Das in ständigem kommunikativem Austausch befindliche Datennetz verknüpft nur Informationen. Kommunikation aber ist kein monologischer, sondern ein trilogischer Vorgang differenter Selektionen. Er funktioniert nur und ausschließlich als paradoxe Einheit der Unterscheidung von Information, Mitteilung und Verstehen (Luhmann 1984, 203). 9 Indem die maschinelle Kommunikation nur mit Informationen (Daten) zu tun hat, verfehlt sie mit Notwendigkeit Mensch und Welt. In einer nur auf Verknüpfung und Vervielfältigung von Information fokussierten Aufgabenverteilung zwischen Mensch und Computer fällt dem Menschen im veröffentlichten Bewusstsein freilich der moralisch anrüchige Part gewollter Einseitigkeit, der Pflege von Vorurteilen, von Feindbilder produzierenden Gegensätzen und geschichtsklitternden Ideologien zu. Der Computer übernimmt hingegen als Maschinerie der Relationierung von Relationen in den Augen der Nutzer den Part des Objektiven, des vorurteils- und interesselosen Spiegels der Welt. Als Metapher ist der Spiegel vielsagend, weil er nicht auf die Verdoppelung der Realität, sondern der Beobachtung hinweist und somit auf die Entstehung einer virtuellen Realität. Hier interagieren Anwender und Datenverarbeitungsmaschine in der Produktion von Informationen. 10 Im weit verbreiteten Technikvertrauen liefern die Nutzer gern und massenhaft. Informationen generieren Informationen. Bei den Suchmaschinen starten Nutzer die Suche mit der Eingabe eines Wortes und die Maschine reagiert passgenau mit einer Information über Begriff (DeObgleich nicht nur Bewusstsein, sondern auch Gesellschaft und Maschinen anschlussfähige Offerten selegieren und insofern mit ja oder nein antworten können, dürften nach Luhmann (1997, 303) Computer kaum zur »Modellierung, Formalisierung und Automatisierung von Kommunikation« in der Lage sein. 10 Zur Spiegelmetapher im Kontext der Suche nach den Strukturen des telematischen Gedächtnisses siehe Esposito (2018, 346–358). 9

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finition), Darstellung (Genealogie) und Idee (theoretische Kontextierung) als zusammengetragene Informationen über dieselben. Wir hätten damit die platonische Erkenntniskaskade vor uns als einem Verfahren, welches vor Augen führt, dass die elektronische Spiegelfläche nicht die Realität, sondern nur den Beobachter plus die beobachteten Beobachter spiegelt. An dieser Stelle jedoch trennen sich Platons Erkenntnisprogramm und die maschinelle Wissensproduktion. Für platonisches Vorgehen und Computerverfahren gilt zunächst derselbe Befund: Datengewinnung und Verarbeitung führen nicht zum Verstehen der Realität, sondern nur zur Vervielfältigung der Worte, Begriffe, Darstellungen und Ideen. In Relationierung und Kompilation kommt es zum reflexiven Beobachten, zum Beobachten des Beobachteten. Die Realität wird auf den informativen Gehalt, auf das Überraschende, auf die Differenz zum Nichtwissen befragt. Jeder Nutzer gibt andere und wieder andere Suchbegriffe ein und trägt damit zur autopoietischen Produktion und Reproduktion einer operativen, virtuellen Realität bei. Die Erkenntnisstufen werden auf die Information reduziert; Aspekte der Mitteilung und des Verstehens verschwinden. Zugleich verschwindet damit unweigerlich jegliche Bedeutung und zurück bleibt exponentiell gesteigertes, so genanntes Wissen. Eben dies werfen Platon und Aristoteles den Sophisten vor, die alles Wissen von ihrem Informationswert her betrachten, die verblüffen, überraschen und beeindrucken sollen durch das Spiel mit Worten, dem Abrufen von Assoziationskontexten. Solches Wissen, mit dem man brillieren und etwas machen kann, lässt sich wie eine Ware verkaufen. 11 Nichts an ihrer Aktualität hat eine Beschreibung verloren, mit der Platon die Vorgehensweise von Rhetor, Maler und Handwerker in Bezug auf Nähe und Ferne zur Realität/Wahrheit miteinander vergleicht. 12 Beim Rhetor nehmen Worte Bezug auf Worte, Begriffe auf Begriffe, Darstellungen auf Darstellungen, Ideen auf Ideen. Alles ist, was es ist und muss seine Wahrheit nicht unter Beweis stellen. Denn diese Wahrheit und insofern Nähe zur Realität, stellt sich nicht durch die Kombination und Vervielfältigung von Informationen her, sondern nur durch die Aktualisierung des DiffeAristoteles vergleicht dies Vorgehen mit einem Schuster, der statt das Schuhmacherhandwerk zu lehren, viele Arten unterschiedlicher Sandalen anbiete, vgl. Schirren (2009, 1445). 12 Zum Vergleich siehe oben II 1, 34 FN 18. 11

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renzbewusstseins auf jeder einzelnen Erkenntnisstufe im Sinne der oben beschriebenen Logik: Das Wort ist das Wort und ist es nicht, da es in Differenz zu jeder anderen Erkenntnisstufe steht und insofern nicht nur als informierende Überraschung taugt. Es kann zudem als Mitteilung eines Mitteilenden verstanden werden und, auf der höchsten Stufe bedachter Komplexität, als Differenzial.

Machtanspruch und Ausscheidungskampf Das Problem der Komplexität ist demnach weiterhin ein Hemmschuh und bleibt widerständiges Prinzip einer KI-verwalteten Welt, die als eine bessere Welt präsentiert wird. Noch immer scheint das Aufklärungstandem in voller Fahrt, das einen mit technischem Fortschritt einhergehenden moralischen Fortschritt erwarten lässt: Die an der Macht befindliche sich selbst moralische Integrität bescheinigende Mensch-Maschine-Akteurs-Position bekämpft mit gutem Gewissen die böse, weil andersdenkende und -urteilende Mensch-MaschineAkteurs-Position. Diese unüberwindliche doppelt kontingente Realität bleibt als Sprengsatz nahender Dystopie ein Hoffnungsschimmer, zugleich aber auch der Keim globaler Katastrophen. Offensichtlich wohnt der neuen Technologie eine inhärent polemogene Stoßkraft inne. Claus Pias (2019) weist darauf hin, dass die Zeitform der Präemption als eine kapitalistische Strategie des Kalten Krieges zur Verdrängung des Sozialismus konzipiert worden sei und diesen Geist des Ausscheidungskampfes noch heute in sich trage. Sie gehe auf eine 1964 von der American Academy of Arts and Sciences formulierte Agenda »Kommission für das Jahr 2000« zurück. Im Lichte ihrer Programmatik befinde sich der Westen bereits im postindustriellen digitalen Zeitalter; bei ihm sei die Zukunft in den Projekten der Digitalisierung bereits Gegenwart, während der sozialistische Osten noch im Industriezeitalter verharre. Den außerordentlichen Erfolg dieser Strategie führt Pias wesentlich darauf zurück, dass das Zukunftsversprechen eines westlichen Systemgewinns nicht nur auf technologischen und politischen Argumenten beruht habe, sondern durch ein epistemologisches Design, das Konstrukt einer bereits gegenwärtig stattfindenden Zukunft, abgesichert worden sei. Man findet hier den Ursprung für ein vielfach rezipiertes präemptives Legitimitätskonstrukt des waffengestützten Vorgriffs auf eine zukünftige Weltbürgerrechtsordnung, mit dem Habermas (2000) 146 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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den völkerrechtswidrigen Kosovokrieg gerechtfertigt hatte. Auch die Prüfkriterien für Effizienz werden durch dieses neue programmatisch ins Leben gerufene erkenntnistheoretische Setting ausgehebelt. Wenn nämlich die Zukunft schon heute begonnen hat und die Zeitgenossen deshalb Sorge tragen müssen, den Anschluss nicht zu verlieren, dann werden die bisher in der Vergangenheit gesuchten Möglichkeitsbedingungen zum Projekt, zum Design. Das Interesse verlagert sich von den empirischen Voraussetzungen für Wohlstand, für wirtschaftliche Standortvorteile, für gerechte Verteilung und für Sicherheit auf die Erfindung konkreter »Zukünfte« (Srnicek/Williams 2015), die dem Zwang zur Rückversicherung in datenbasierten Forschungsergebnissen nicht mehr bedürfen. Was entbehrlich wird, ist die Arbeit all jener Einzelwissenschaften, die sich im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert darangemacht haben, die neukantianische Reduktion des Transzendentalismus auf Empirismus mit konkreten Expertisen zu unterfüttern und gleichsam programmatisch gegen Anfechtungen abzusichern. Dazu hatte man die konkreten sprachlich-sozialen und pathogenpsychischen Bedingungen dessen herauszuarbeiten gesucht, was heute möglich und schließlich wirklich geworden ist. Der heimliche Abschied vom metaphysikkritischen Denken, welches Transzendentales als bloße Empirie hatte entlarven wollten, ist von der Furcht angetrieben, eine Kenntnis historischer Möglichkeitsbedingungen könne die innovative Kraft behindern und aus bloßer Scheu vor negativen Folgewirkungen zögerlich machen. Nichts hindert hingegen waghalsige Unternehmungen, wenn ermöglichende Bedingungen Teil des Projekts sind. Solche Zusammenhänge aufzuzeigen, bleibt nach Pias (2019) Sache der Geisteswissenschaften, die mithin keineswegs als obsoletes alteuropäisches Unternehmen am Ende sind. Denn sollte die epochale Wende der Digitalisierung das Produkt einer aus Datenspuren gewonnenen durch Regelkreise installierten gewesenen Zukunft qua Kampfprojekt des Kalten Krieges sein, dann trägt sie die falschen monokausalen Annahmen eines Kampfes als Menetekel und damit als Sprengsatz in sich. Nachdem der Westen im Systemantagonismus als Sieger hervorgegangen ist, setzt ein der Zeitsemantik des so genannten Futur 2 entsprungenes libertär-kapitalistisches Unternehmertum den Kampf fort, indem es sich selbst als exportfähiges Modell Silicon Valley mit allen für eine globale Expansion notwendigen politisch-militärisch-sozialen Mitteln ausstattet. Die gesamtgesell147 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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schaftliche Umstellung auf digitale Medien, die Personen überwachen, Bedürfnisse steuern und Meinungen manipulieren lässt, petrifiziert systemantagonistisches Denken als ein mit immer wieder anderen Gegnern erneuerbares Projekt. Die Konklusionen dieses Ansatzes sind weittragend: Indem sich die Logik des monokausalen bipolaren Denkens und die Ontologie einer schon stattgefundenen Zukunft als bloßer Sieg einer Konfliktpartei und mithin nicht als logisch-ontologisch, sondern bloß als machtpolitisch rückversicherte Position offenbart, ist das Transitorische der neuen Epoche eingeschrieben. Denn es rechnet mit der fraglosen Anerkennung eines global erweiterten totalitären Projekts von Seiten der Weltbevölkerung, eine Annahme, die der internationale Terrorismus Lügen straft. Das Wirklichkeitskonstrukt löst die selbstauferlegten Fesseln des kybernetischen Regelkreises einer temporalen Immanenz, einer nicht mehr offenen, sondern immer schon gewesenen und damit bekannten Zukunft in dem Maße, indem sie das politische Kampffeld nicht verlässt und hier unweigerlich durch alternative Machtpolitiken herausgefordert wird. Damit sind neben Terroranschlägen grassierende Aufstandsbewegungen gemeint, die inhaltlich beliebig und immer wieder neu semantisiert werden können.

Zerfall und Wiederaufbau Das präemptive Zeitmanagement zwingt die Ethik ins selbe Kalkül und legitimiert eigene Handlungsschritte als Vorgriff auf eine normative Weltordnung, die schon heute die Grenzen des Legitimen und Angemessenen abstecken. An die Stelle der Vergangenheitsbewältigung, der Aufarbeitung im Zeichen einer besseren Zukunft, tritt der Kampf gegen alternative Projekte und es treten Bemühungen um die Zerstörung fremder Zukunftsentwürfe. Am Grundaxiom eines durch Ausscheidungskämpfe bewerkstelligten historischen Fortschritts ändert sich folglich durch die Umkehr des Zeitpfeils nichts. Was sich aber unwiederbringlich ändert, sind Euphemismus und Illusion einer bloß dem Schlechten und Überlebten geltenden Negationspraxis. Der Fokus der Negation des Negativen gibt sich im weltgesellschaftlichen Kontext als Vernichtung des Anderen und Andersartigen offen zu erkennen. 13 13

Nüchtern kommentiert Baecker (2018, 76): Bei der Zeit der nächsten Gesellschaft

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Das polemogene Movens netzstruktureller Informationsgewinnung und -verarbeitung erhält von systemtheoretischer Seite eine weitere Zuspitzung. Der Begriff der Netzstruktur als Gesellschaftsstruktur eigener Art, unterscheidet sich darin von der modernen funktionalen Differenzierung, dass nicht länger Inklusion in die Funktionssysteme als Ziel und Maxime gilt. Was Netzkommunikation eint, ist vielmehr ein markenbestimmendes Exklusionskonzept. Hier konstituieren sich jene sozialen Milieus, wie sie oben in ihrer Zwitterstellung jenseits von kämpferischem Lokalismus und Globalismus beschrieben worden sind. Durch ihren Hang zur Abgrenzung tendieren sie zur Radikalisierung. 14 Wenn aber angenommen wird, dass auf einem bestimmten Entwicklungsniveau elektronischer Medien, lernender Algorithmen und sich selbst programmierender Computer die Gesellschaftsstruktur zu metamorphosieren beginnt, so wirft dies ein bestimmtes Licht auf den funktionalen Differenzierungstypus. Könnte es sein, dass diese Gesellschaftsform nur zusammen mit der falschen Selbstbeschreibung Bestand haben konnte, Politik sei als ein über Massenvernichtungswaffen verfügendes und folglich im höchsten Maße gefährliches Subsystem in gleicher Weise globalisierungstauglich, wie all die anderen Funktionssysteme? Die Semantisierung unerwünschter Ablehnung und Zerstörung als Hass, als Hate Speech, spiegelt die Hilflosigkeit einer wieder nur über- oder unterschätzenden Bewertung im Netz granulierender Macht und Gewalt. Aus dem Blickwinkel gesellschaftlicher Differenzierungstheorien hat es geradezu den Anschein, als sei ein Verbleiben des Politischen im hierarchischen Modell – Gewaltmonopol, Nationalstaat, Rechtsstaat, demokratisches Repräsentationsprinzip – Bedingung für die moralische Emanzipation von Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Erziehung und Religion gewesen. Indem gewaltmonopolistische Herrschaft das Prinzip territorialer Selbstbegrenzung durch den Anspruch auf globale Funktionserfüllung in Gestalt universaler Sicherheitsvorsorge preisgibt, sehen sich alle übrigen Funktionssysteme in einen weltweiten Ausscheidungskampf waffengestützter Regime hineingezogen.

»handelt es sich um eine Zeit des Zerfalls, der Entropie, als Voraussetzung des Aufbaus einer vorübergehenden Ordnung, einer Negentropie.« 14 Siehe oben das Kapitel I, 2 News und Fake-News.

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Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Zeitfragen

Die Wissenschaft konnte sich mit einem spezifischen, nämlich empirisch-analytischen Wahrheitsverständnis nur deshalb global vernetzen, weil sie nicht verdächtigt wurde, als Trojanisches Pferd kolonialer Expansion militärisch embedded zu sein. 15 Effiziente Wirtschaftsverflechtungen setzen nämliches Vertrauen voraus und pädagogisch-therapeutische NGO-Aktivitäten werden nur geduldet, so lange die Rüstung der Herkunftsländer programmatisch der Landesverteidigung dient. Mit der Normalisierung von Auslandseinsätzen – das bedeutet, der schwindenden Legitimationsbedürftigkeit – erodieren die infrastrukturellen Bedingungen für weltgesellschaftliche Transaktionen der einzelnen Funktionssysteme und die Reichweite von Kontrollbefugnissen wird zur alles beherrschenden Legitimitätsfrage. Das funktionale Differenzierungsprinzip hatte offensichtlichseine Stabilität keinewegs aus der Wechselseitigkeit einander kontrollierender Systeme Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion und Erziehung bezogen. Vielmehr konnte ein System der checks and balances nur funktionieren, solange eine in das Selbstverständnis eingebaute Ignoranz unangetastet geblieben war. Diese betrifft die Sonderstellung des politischen Systems. Am Problem menschenrechtlich legitimierter außergesetzlicher Tötungen, unkontrollierbarer Einsätze von Killerdrohnen gegen Terrorverdächtige, werden die Grenzen der Globalisierung des politischen Systems deutlich. Seine Plausibilität hatte dieser moderne funktional differenzierte Gesellschaftstypus offensichtlich aus der falschen Selbstbeschreibung einer gesamtgesellschaftlich wirksamen Umstellung des hierarchischen auf das funktionale Differenzierungsprinzip bezogen. Zunehmend deutlich wird heute allerdings, dass ein als moralisches Zentrum und als gewaltmonopolistische Spitze fortdauerndes Politisches als Konzession an das alte hierarchische, territorial geerdete System, eine Voraussetzung für die Befreiung der übrigen Funktionssysteme von moralischen Bindungen und Zwängen gewesen war. Die Vollendung des funktionalen Differenzierungstypus bringt diese Kondition in zweifacher Weise zu Bewusstsein: Mit dem Anspruch des Politischen, die ihm zugewiesenen gewaltmonopolistischen Funktionen an allen Orten der Welt und zu jeder ihm anAus völkerrechtlicher Perspektive betont Anthony Anghie (2005) die Kontinuität des kolonialen, imperialen Charakters internationalen Rechts, einer civilizing mission vom 16. Jh. bis zum war on terror unserer Zeit.

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gemessen erscheinen Zeit auszuüben, entfallen die Voraussetzungen für die Autonomie der übrigen Funktionssysteme. Dies zeigt sich in der Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus als einem Phänomen, das seine Novität aus dem verlorenen Rückhalt jeweils im marktwirtschaftlichen oder im planwirtschaftlichen Gesellschaftsmodell bezogen hatte. Infolgedessen konfundieren einst ideologisch scharf getrennte Profile in beiden Richtungen, in Bezug auf die Wahrnehmung von Vorteilen – Stichwort Marktliberalismus – und von Nachteilen – Stichwort Finanzkapitalismus. 16 Auch ein sich selbst als modern legitimierendes von gesamtgesellschaftlichen moralischen Verpflichtungen entbundenes positivistisch-verfahrenstechnisches Rechtswesen durchläuft einen Prozess der Re-Moralisierung in dem Maße, in dem die Politik zur weltweiten Wahrnehmung ihrer Funktion – Stichwort Terrorismusbekämpfung – eine als Menschenrechte chiffrierte Moral dem Recht insgesamt und besonders dem Völkerrecht vorordnen muss. Derselbe Umschwung ereignet sich im Bereich der Wissenschaft, die ihr Kommunikationsmedium Wahrheit durch politisch korrekte Sprache und den Nachweis von Praxisrelevanz im Sinne eines politisch gewünschten Outputs von Forschung ersetzen muss. 17 Folgerichtig wird für die nächste Gesellschaft auf eine marginale Bedeutung der Regierungsform (Autokratie, Technokratie, Demokratie) gegenüber erfolgreichen Projekten von Zerfall und Wiederaufbau geschlossen (Baecker (2018, 95 ff.). Ein Rückbau der Funktionssysteme in bloße Wertsphären stellt sich als das Ergebnis fortschreitender Re-Moralisierung der Funktionscodes wie von selbst ein. Denn Zerfall und Wiederaufbau sind orientiert und mit bestimmten Zweckformeln versehen, mit Ideologemen eines Besseren. Und dies ist der Ort, an dem sich ethische Reflexionen ins Gespräch bringen. Jedenfalls ist ein Begriff des Erfolgreichen als historischfaktischer Befund missverständlich, weil erst für eine zukünftige Gegenwart aussagekräftig. Als diagnostisches Kriterium einer gegenwärtigen Zukunft bleibt Erfolg ein normatives nützlichkeitsethisch rückversichertes Postulat. Damit sehen sich realistische Chancen glo-

Als Wegbereiter der neoliberalen Versöhnung der ideologischen Rechts-LinksGegensätze gilt Abraham Maslows Entdeckung der Ressource Mensch als Einheit von Emanzipation und Wachstumsstimulation, vgl. Dietz (2018). 17 Siehe dazu die Beiträge in Brunner/Scherling 2012; zu den Menschenrechten zwischen Bildung und Ausbildung vgl. Brücher im selben Band, 69–83. 16

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baler Akzeptanz auf ein Minimum reduziert, denn die Wertung bleibt im angelsächsischen Utilitarismus gefangen. Indes richtet der systemtheoretische Kontext den Blick nicht auf nützlichkeitsphilosophische Erwägungen, sondern auf semantischgesellschaftsstrukturelle Korrelationen. Jetzt bekommt der Begriff des Erfolgreichen einen Sinn, der weder an hellseherische Begabung noch an historische Rückschau gebunden ist. Es sind geradezu die mangelnden Aussichten auf den welteinheitlichen Konsens bezüglich der Frage, welche Strukturen den Menschen nutzen oder schaden und infolgedessen aufgebaut oder zerstört werden sollen, die das Gesamtgeschehen in einer bestimmten Richtung dynamisieren.

Transjunktionale Operationen der Autopoiesis Da jeder neue Präferenzwert, wie Soziale Intelligenz oder Kontrolle von Intransparenz, unweigerlich in die utilitaristische Falle gerät, bedarf es jener ausgearbeiteten Theoriebautechnik, die dem in der globalen Netzkommunikation nicht zu versprachlichenden Guten einen prominenten Platz zuweist. Vor dem Hintergrund einer so zu verstehenden reflexionstheoretischen Ethik bekommt das Erfolgskriterium der adäquaten Berücksichtigung von Zerfall und Wiederaufbau im Zukunftsentwurf einen imperativischen Zuschnitt. Denn es ist ja zunächst nur auf die globale Polykontextualität hingewiesen, die den Vorteil der einen als Nachteil der anderen empfinden lässt. Was in den Augen der einen als Zerfall, das erscheint den anderen als Aufbau. 18 Angesichts dieser Perspektivendifferenz müssen projektivem Denken verhaftete Funktionssysteme Zerfall und Wiederaufbau im Zukunftsentwurf vorsehen, um erfolgreich operieren zu können. Jetzt gewinnt der Begriff des Erfolgreichen eine Rückbindung an jene transjunktionalen Imperative, die eine ethiktheoretisch fortentwickelte Systemtheorie als zeitgemäße Fassung des kategorischen Imperativs zur Diskussion stellt. Dieser Befund, demzufolge den einen als Zerstörung gilt, was den anderen als Aufbau oder als Wiederaufbau hoch willkommen ist, So werden von Seiten so genannter »Transformationsgesellschaften« umweltpolitische Initiativen des Globalen Nordens vielfach nicht als Rettung des Globus, sondern als Mittel der Sicherung ökonomischer Vorteile durch Benachteiligung des Globalen Südens interpretiert. Zur Diskussion siehe die Beiträge in Peters/Burchardt (2017).

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lässt sich in einem transjunktionalen Imperativ der Autopoiesis im Sinne einer aktualisierten Version der kantischen Zweckformel 19 anerkennen. Da moralische unvermeidlich beide Seiten bindet, kann die Zerstörung fremder Lebenswelten nicht als Aufbauprojekt einer besseren Zukunft plausibel sein. Vielmehr etabliert selbige Präferenz oder Maxime einen moralischen Standard, der sich simultan daranmacht, eigene Lebenswelten zu unterminieren. Aus diesem Grund wird ein Kalkül Kultureller Intelligenz vorgeschlagen und nicht eine unbezweifelbare Norm. Hier sehen sich die antizipierten Reaktionen der anderen auf meine Aktionen berücksichtigt, die den Handelnden prinzipiell, und nicht nur im Stadium der Noch-Latenz, verborgen sind. Nur unter der Voraussetzung, dass eben jene Intransparenz im Zukunftsentwurf antizipiert ist, können Operationen erfolgreich sein. Wenn vor diesem Hintergrund eine mit ihrer besonderen Strukturform von Netzwerken schritthaltende Kulturform ein bestimmtes Verhältnis zum Phänomen der Zeit pflegt, dann sollte bedacht sein, dass moralische unweigerlich symmetrische Kommunikation ist (Luhmann 2008, 277). Die wechselseitige Bindekraft gilt folglich auch für eine der technischen Entwicklung angemessene Kulturform, die nicht auf Dauer setzt, sondern Zerfall und Aufbau antizipiert. Diese unvermeidliche Reziprozität zielt ins Innere der kantischen Aussage: Weil den einen Zerstörung ist, was von anderen als Aufbauprojekt eines Besseren gelobt wird, kann Grenzüberschreitung nicht als Präferenz und Eigenwert einer zeitgemäßen Kulturform angesehen werden. Dabei verweist dieses Kann auf die Konditionen der erfolgreichen oder sozialen Intelligenz. Grenze verliert als ein mit allen Mitteln zu verteidigender oder zu überschreitender Wert jede Funktion, um als transjunktionale Operation und mithin als zentraler Modus des Wechselns von Kontexturen ethisch zu informieren. Fernerhin gilt, dass den Programmen, den Projekten und Zukunftsentwürfen, die politisch-militärisches, wirtschaftliches, rechtliches, wissenschaftliches und erzieherisches Handeln leiten, nicht der hohe Rang eines von allen zu erstrebenden Besseren gebührt, sondern bloß die Bedeutung einer transjunktionalen Operation der programmatischen Profilierung. Nur in dieser Form werden all die Projekte guten Lebens und die zugeordneten Risikokalküle der Ande»Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner eigenen Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest!« (Kant GMS, BA 67).

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ren, Andersdenkenden und Feinde uns und Unseresgleichen nicht zur Gefahr. Drittens schließlich gewinnt diese unvermeidliche Asymmetrie und Nichtkoinzidenz der Wertung eine Dynamik, die Ego und Alter in eine Gewaltspirale der präemptiven Verteidigung eines noch nicht, aber in Kürze zu erwartenden Angriffs zwingt. Erfolgreich sind mithin ausschließlich Kulturformen, die ein Wissen um diese Eigendynamik in den Massenmedien gegenwärtig halten und das bedeutet, einen transjunktionalen Imperativ der Autopoiesis als Art und Weise kommunizieren, wie intransparente Aktions/Reaktions-Zyklen von Prozessen des Aufbaus und Zerfalls allein noch kontrolliert werden können. Ohne diese Zwischenschalten ethiktheoretischer Überlegungen ist die Aussage ebenso radikal wie apodiktisch, indem sie die erkenntnistheoretisch-konstruktivistische durch eine ontologische Lesart ersetzt. Es heißt nicht mehr bloß, wenn ich in einer bestimmten Weise unterscheide, bekomme ich Bestimmtes zu sehen. Es heißt jetzt: Die Netzstruktur selbst ist es, die sich reproduziert, indem sie destabilisiert, zerstört, was soeben erst aufgebaut worden ist. Die Unterscheidung von Aufbau und Zerfall korrespondiert mit der Zeiterfahrung einer Netzgesellschaft, die hier ihre kulturelle Form des Umgangs mit permanenten Strukturveränderungen gefunden hat. Diese Beobachtungen können sachlich gesehen richtig sein, aber sie geben noch keine Hinweise auf variable Modalitäten des Formgebrauchs. Zu einer Kulturform, die eine solche Zeiterfahrung verarbeitet, gehört infolgedessen, dass die wechselseitig verschränkten Perspektiven dieser Differenz, die doppelt kontingente Ausgangssituation dieser Erfahrung, in der angebotenen Kulturform mitverarbeitet wird. Diese Ergänzung drängt sich geradezu auf. Denn sofern den einen als Zerfall erscheint, was den anderen Aufbau bedeutet, verliert die Unterscheidung ihre differentia specifica einer unausweichlich mit dem Netz gegebenen Strukturform und verschmilzt zur Einheit. Das eine ist das andere und nur in den Augen unterschiedlicher Betrachter erscheint dieselbe Operation als das eine (Zerstörung) oder das andere (Aufbau). Hierin zeigt sich das ganze Ausmaß der Tragik, und die Systemtheorie könnte in Bezug auf die neuen im Begriff der Künstlichen Intelligenz gebündelten Gefahren einen ähnlichen Beitrag leisten, wie ihn Luhmann (1986) bezüglich der Ökologieproblematik ausgeführt hat. In dieser Situation beginnt die modernitätsspezifische Konstruktion linearer Zeitlichkeit, die von einer schlechten Vergangen154 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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heit in eine bessere Zukunft fortschreitet, in ihren besonderen Möglichkeitsbedingungen zu kostspielig zu werden und schließlich nicht länger hinnehmbar. Das betrifft zunächst den Umweltstatus, den Status eines systemrelativen Weltausschnitts, in den die Natur gedrängt werden musste, um den Funktionssystemen ein Maximum an Gestaltungsfreiheit zu garantieren. Der Akzeptanzverlust zeigt sich in der ökologischen Bewegung, die anders geartet ist als die sozialen Bewegungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, die als Arbeiter-, Studenten- oder Frauenbewegung typisch moderne Interessenkonflikte um gerechte Macht-, Einfluss- und Verteilungsstrukturen darstellen und nicht an die epistemologischen Bedingungen der funktionalen Differenzierungsform rühren. Eine um das Thema Mensch erweiterte Ökologiebewegung, die die neuen Techniken genetischer Manipulation, Künstlicher Intelligenz oder staatlicher Überwachung und Kontrolle im Visier hat, würde nicht nur das Weltbild erschüttern; sie würde auch das Menschenbild aus den Angeln heben. Das Veraltete der überkommenen Temporalisierung tritt hier noch deutlicher zutage, da es nunmehr der Umweltstatus des Menschen ist, der den Überwachungs- und Steuerungsinteressen von Staaten und Weltkonzernen entgegensteht. Das ist der Fall, wenn Umwelt nicht als systemrelativer Weltausschnitt, sondern als Welt sui generis anerkannt sein will. Es wäre mithin der ins Innere verwertungsrationaler wirtschaftlicher und politischer Systemlogik hineingezogene Mensch, der zum massenhaften Protest herausforderte. Aufbegehrt wird gegen die Zumutung, der einzelne Mensch solle sich als Teil, anders gesagt, als Ressource einer KI-gesteuerten weltgesellschaftlichen Ganzheit begreifen. Dass der Mensch nicht auf den Akteur reduziert werden konnte, zeigte sich bereits in der problematischen Parteinahme für den Durchsetzungsstarken, der die Verhältnisse in seinem Sinne zu gestalten vermag. Die Gegenwart mit Handeln gleichzusetzen bedeutete folglich für die Menschen, in Agierende und Reagierende, in Mächtige und Ohnmächtige, in Täter und Opfer unterteilt zu werden. 20 Der einzelne Mensch aber ist mehr und etwas Anderes als diese Begriffe ihm attribuieren. Insofern war die spezifische Lösung dieses Problems, wie sie Liberalismus und Sozialismus angeboten hatten, ohnehin unbefriedigend. Sie wollte bloß an der Parteinahme etwas ändern Christoph Menke (2018) kritisiert davon ausgehend sogar die (Menschen-)Rechte als Petrifizierung des Prinzips der Ungleichheit.

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und auf die Reagierenden, die Ohnmächtigen und Opfer aufmerksam machen. Denn jenseits von Zuschreibungen tritt der Einzelne wieder aus dem Gesichtskreis. Diese Parteinahme ließ nur einen Konkurrenzkampf um Anerkennung entbrennen, der ein Ende nicht vorsieht, weil Reagierende, Ohnmächtige und Opfer auch subjektive Selbstund Fremdzuschreibungen sind.

Kontrolle von Eskalationsdynamiken Einer Kontrolle von negativen Dynamiken steht der Umstand entgegen, dass es psychische und soziale Systeme nicht nur mit einer Umwelt zu tun haben, die noch unbestimmt erscheint, weil es nicht ausreichend Kenntnisse gibt. Viel wesentlicher und durch zusätzliches Wissen nicht zu beheben, ist eine mit jeder Operation einhergehende Unbestimmtheit, die selbsterzeugt ist. An dieses bereits oben im Zusammenhang mit der Unterscheidungsresistenz von News und Fake News erwähnte höchst irritierende Moment selbsterzeugter Unbestimmtheit muss hier erinnert werden. Instabilität und Kontrollbedürftigkeit sind konstitutiv, da sie aus der rekursiven Operationsweise von Sinnsystemen herrühren: Der Rückgriff auf vergangene Zustände erfolgt ohne genaue Erinnerung und vorgegriffen werden muss auf zukünftige Zustände, die noch nicht existieren. Die Folgerung, dass ein solches System seinen eigenen Willen nicht binden könne, verwehrt die reduktionistische nachmetaphysische Interpretation, die den irritierenden unmarked state in den noch irritierenden, weil noch nicht durchschauten unmarked space transformiert. Damit beschreibt Luhmann die Konditionen von Instabilität und Kontrollbedürftigkeit, wie sie sich mit dem historischen Wechsel vom Beobachter-Gott zum Beobachter-Mensch darstellen. Noch einmal müssen wir infolgedessen fragen, inwieweit der mit Einführung elektronischer und digitaler Medien stattgefundene erneute Wechsel vom Beobachter-Mensch zum Beobachter-Netz daran etwas geändert hat. Diese Frage drängt sich auf, da es jetzt nicht mehr die AkteursStellung des idealiter Subjekts, realiter Systems zu sein scheint, der zugemutet wird, die Folgen der selbsterzeugten Unbestimmtheit kontrollieren zu können. Wo bleibt die Unbestimmtheit, wenn der NetzBeobachter die spezifischen Schranken des Erkennens, des Handelns und des Programmierens und mithin sachlich-logische, sozial-moralische und zeitlich-ontologische Bedingungen außer Kraft setzt? 156 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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Alle drei Sinndimensionen, die dem Beobachter-Mensch im Gegensatz zum Beobachter-Gott nur als Differenz zugänglich sind, scheinen beim Beobachter-Netz wieder zur Einheit verschmolzen. Die Operation des Erkennens sieht sich nicht mehr im Medium eines Beobachtungsschemas verfälscht, sondern kann auf alles (n = all), auf Big Data zugreifen. Das Handeln Egos (Systems) sieht sich in seinem Gestaltungsdrang nicht länger dadurch moralisch gezügelt, dass es in seiner Umwelt (Alter) auch auf alter Ego (Mitmenschen) trifft. Denn die Netzgemeinde ist weltumspannend und somit eine große Community, anders gesagt: Operationen bewegen sich ohnehin in einem Raum der Interoperativität. Und die gesellschaftlichen Projekte sind nicht mehr durch die Falsifikation statistischer Prognosen gefährdet. Denn algorithmische Vorhersagen schaffen die prognostizierte Realität. Die jeweils auf die sachliche, die soziale und die zeitliche Sinndimension zielenden Einheitsbegriffe lauten erinnerlich Granularität (Auflösung in immer detailgenauere Elemente), Konnektivität (unbegrenzte Verknüpfbarkeit) und Instantaneität (Signalübertragung in Lichtgeschwindigkeit holt die Zukunft in die Gegenwart). 21 Instantaneität erübrige Vermittlung, kann es jetzt heißen (Baecker 2018, 14). Um wie viel mehr gilt dies für eine in allen drei Sinndimensionen wiedergewonnene Einheit. Erübrigt sich der ganze Aufwand, den Kant betrieben hatte, um Anhaltpunkte für den Wechsel vom Besonderen (Empirischem) zum Allgemeinen (Transzendentalem) und vice versa, vom Gebotenen (Moralität) zum Erlaubten (Legalität) und vice versa, vom Zweck (Zukunft) zum Mittel (Gegenwart) und vice versa, mit der Ausarbeitung von vermittelnden Formeln betrieben hatte? Werden auch jene transjunktionalen Formeln hinfällig, mit denen die Systemtheorie eine zeitgemäße Fassung des kategorischen Imperativs anbieten könnte. Sind nunmehr Grenzen bedeutungslos und gilt ähnliches für identitätsstiftende Semantiken, programmatische Profilierungen? Und erübrigt sich auch ein Nachdenken über transjunktionale Formeln, mit denen Eskalationsgefahren begegnet werden könnten? Solche Gefahren beziehen sich auf einen Wirkungsaspekt, der vom utilitaristischen Kalkül prinzipiell nicht erfasst wird und damit Die neuen technischen Bedingungen und Wertschöpfungsmodelle (Kunde als Produkt) entziehen sich dem privaten und staatlichen Zugriff und unterminieren in ihrer Intransparenz das Rechtssystem. Zu Selbstbestimmung und Wettbewerb im Netz siehe Udo di Fabio (2016).

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nicht mehr als funktionsspezifisches Projekt der wissenschaftlichen Diagnose und Prognose, der Bildung und Umerziehung, der Verrechtlichung, der überwachenden Sicherheitsvorsorge, der Prophylaxe und Therapie gehegt und enteignet werden kann. 22 Das Beobachter-Netz entfernt den Menschen kaum anders als der Beobachter-Gott von Kompetenzen im weitesten Sinne, vom Wissen, vom moralischen Unterscheiden und von schöpferischem Tun. Ist das einzige, was den Menschen jetzt noch bleibt, eine Verstandestugend, wie sie Aristoteles in der Nikomachischen Ethik mit dem Begriff der Phronesis zum Ausdruck bringt? 23 Dieser zufolge gelangt man zum guten Leben, wenn man sich in sein Schicksal fügt. Während die bisherigen Beobachter-Figuren als Ausdruck des Logos, der Gnade Gottes oder des aufgeklärt-vernünftigen Subjekts so ausgestattet waren, dass sie hinreichend Motivation zu moralisch einwandfreiem Handeln, zur Achtung des Rechts und zum Gesetzesgehorsam bereitstellten, ist nicht zu sehen, wie das Beobachter-Netz in diese Funktionsstelle treten könnte. Und das führt wieder auf eine Überlegung zurück, mit der diese Abhandlung begonnen hatte. Diese betrifft die Vermutung, dass die vierte Medienepoche des Computers zentrale Probleme in sachbezogenen, sozialen und temporalen Fragen so zuspitzt, dass sie sich von philosophischen oder fachwissenschaftlichen Spezialgebieten in Alltagsprobleme verwandeln. Als solche aber lassen sie sich kaum noch wegrationalisieren. Denn gegen die beängstigende Übermacht der heutigen Beobachter-Figur des Netzes hilft weder Glaubensverweigerung noch eine zum Besseren führende Revolte.

Kontrollüberschuss Als Bollwerk gegen Glaubensverweigerung und gegen Revolten fungieren Mythos, Religion und Ethik auch als Kontrolltypen. Unter diesem spezifisch soziologischen Blick spricht allein deren große Anzahl und Heterogenität dagegen, dass die globale Netzkommunika-

Zur Verdrängung der Eskalationsproblematik siehe Brücher (2011) und zu Bemühungen um ethiktheoretische Berücksichtigung siehe Olav L. Müller (2007, 42 ff.), Brücher (2017, 155 ff.). 23 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch VI, 5 und VI, 8–13. Zum Begriff siehe Aubenque (2007). 22

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tion von hier aus mäßigende Impulse zu erwarten hätte. Denn im Computerzeitalter wird jeder Nutzer relevant, ist es doch seine Meinung, die Schneeballeffekte lostritt und mithin politische Ordnungen destabilisiert, Revolten auslöst, kulturelle, religiöse und ideologische Überzeugungen beeinflusst und all dies ohne Rückhalt in jener religiös konnotierten, ökonomisch interpretierten Invisible Hand, die mit dem Moralphilosophen und Ökonom Adam Smith assoziiert wird. Es gibt heute allenfalls Surrogate, die zwar dasselbe meinen, aber auf sprachliche Anleihen im mythologisch-religiös-ethischen Komplex verzichten. So adressiert das soziologische Konzept der Resonanz (Rosa 2019) ein kollektives Wir, das den entfremdenden Effekten der wachstumsorientierten Dynamisierung mit einem neuen Weltverhältnis entgegentritt. Aber was könnte ein soziologisch semantisierter Moralappell ausrichten, wenn es ein solches durch wissenschaftliche Öffentlichkeitsarbeit zu formendes globales Wir nicht gibt? Und wo liegt der Ansatzpunkt, wenn die Wissenschaft in ihrem Urteil ihrerseits nicht in einem Wir geeint ist? Zwar trifft dies bereits für eine vom Buchdruck geprägte und grundsätzlich auf jede Gesellschaft zu. Aber die elektronischen Medien steigern die Heterogenität in einem Maße, das die Kritik am falschen Weltverhältnis zu einem Moment beschleunigter Auflösung von bestehenden Strukturen, und auf diesem Umweg, in einen Beitrag zu allgemeiner Dissonanz verwandelt. Den Grund für den Orientierungsverlust vermutet Baecker (2007a, 173) in der Art des Kontrollüberschusses der Verbreitungsmedien der Kommunikation, die dazu zwingt, Kommunikation vom Empfänger her zu denken und nicht länger vom Sender, von dessen Motiven, Absichten und Intentionen. Plausibilitätsstrukturen scheinen zunächst bloßer Effekt der Diffusion von Meinungen, Grundhaltungen und Herangehensweisen zu sein. 24 So unterscheiden sich die Anklagepunkte nur unwesentlich, mit denen Franz von Assisi zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts und Martin Luther Anfang des sechzehnten, einen bis in klerikale Kreise reichenden Sittenverfall der zeitgenössischen Gesellschaft an-

Dies rührt aus der Unmöglichkeit, Kausalitäten zu bestimmen: Sind kollektive Meinungen den Multiplikationseffekten der jeweiligen Medien anzulasten, oder handelt es sich bei den Medien um bloße Instrumente, die transportieren, was von allgemeinem Interesse ist? Für Baecker (2018, 14 ff.) entscheiden sich an dieser Frage die Margen der Kommunikation mit Maschinen.

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prangern. Aber die begrenzten Einflussmöglichkeiten, die Wanderpredigern und nur wenigen Schriftkundigen vorbehaltene Faksimileausgaben eröffneten, ließ vor Erfindung von beweglichen Lettern die vorbildhafte Lebensführung als effiziente Methode der Praxisveränderung erscheinen. 25 Indem das Medium Buchdruck mit Erziehungs- und Bildungseinrichtungen nicht nur zur Vervielfältigung von Meinungen, sondern vor allem von Lese- und Schreibvermögen beitragen konnte, wird Destruktion als eine Form der Negation aufgewertet. Denn es gilt zunächst zu beseitigen, was in der Vergangenheit Macht und Reichtum einer zahlenmäßig kleinen Schicht vorbehalten hatte. Die kumulative, eskalierende Empörungsbereitschaft tritt in ihrer Endphase als gleichsam primärevidentes Argument für das stärkste zur Verfügung stehende Mittel der Gewalt in Erscheinung. 26 Die elektronisch ermöglichte Partizipation an öffentlichen Diskursen zeigt sich nun als eine von semantischer und mithin rechtfertigungspflichtiger Formung und Gestaltung befreite Moral. Aus diesem Grund macht sich im gesellschaftspolitischen Alltag ein Hypermoralismus breit als Symptom sich selbst legitimierender Kontrolle. Sofern nämlich Ethik als Reflexionstheorie der Moral angesichts selbstevidenter Sicherheits- und Menschenrechtsbedürfnisse entbehrlich scheint, bleibt dem jetzt einsetzenden Wettlauf konkurrierender Kontrollangebote nur noch die gesteigerte Emphase. Indes zeigt allein die Tatsache, dass Kontrolle nicht nur von unterschiedlichen, sondern auch von einander wechselseitig diskriminierenden Akteuren ausgeübt wird, dass Rechtfertigungspflichten zwar im Bereich westlicher Ingroups in manchen Ländern obsolet erscheinen mögen. 27 Aber im Kontext einer globalen MassenkomGroßen persönlichen Reichtum an Arme zu verteilen war eine Handlung Franz von Assisis, die mimetische Effekte auslöste. Auch die geschickte Art des Umgangs der damaligen Papstkirche (Gregor IX.) mit konkurrierenden religiösen Strömungen, wie die von Franziskus ausgelöste Armutsbewegung (Heiligsprechung schon eineinhalb Jahre nach dessen Tod), wirkte Tendenzen der Abspaltung entgegen. Siehe dazu Volker Leppin (2018). 26 Weder der Erfolg des gewaltlosen Regimewechsels vom planwirtschaftlichen Einparteienstaat zum markwirtschaftlichen Mehrparteiensystem der 90er Jahre des 20. Jh.’s, noch Failed States produzierender gewaltsamer arabischer Frühling und Terrorismus fördernde westliche Militärinterventionen (Regime-Wechsel qua »Revolutionen von Oben«) des beginnenden 21. Jh.’s konnten daran etwas ändern. 27 Dies erklärt die spärlichen systemtheoretischen Beiträge zur reflexionstheoretischen Ethik. Nach Baecker (2018, 210) hat sich die Funktionszuweisung, vor den 25

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munikation tobt ein zusehends blutig verlaufender Konkurrenzkampf um die Güte ethischer Reflexionstheorien der Moral. Dieser Kampf wird heute nicht mehr als Diskurs um die Deutungshoheit der liberalistischen oder sozialistischen Ideologien ausgetragen, 28 sondern erscheint als innerreligiöser Zwist, als Life-Style-Konkurrenz, oder als Konflikt zwischen säkularer und religiöser Orientierung. Die Frage bleibt damit aktuell, wer wessen Kontrolle und mit welchen Argumenten angesichts einer wild wuchernden Kommunikation legitimiert, die sich daranmacht alles außer Kraft zu setzen und zwar nicht nur jene altehrwürdigen und nicht mehr als zeitgemäß betrachteten Sitten, Gebräuche, Gewohnheiten und Überzeugungen, an deren Überwindung die Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts interessiert gewesen war. Was durch die neuen medial erzeugten Einflussmöglichkeiten jedes einzelnen Nutzers aus den Angeln gehoben wird, ist ein jetzt und hier generiertes provisorisches Muster, das sich zu einer heute angemessenen Struktur fortentwickeln ließe, wenn dazu die Zeit und die Ruhe bliebe. Es gibt aber weder das eine noch das andere. Denn selbst der sehr plausible Strukturvorschlag ist für die Netzgemeinde nichts anderes als das einzelne Sandkorn für die Wüste. Aber sie ist für die einzelne Nutzerperson eine möglicherweise anschlusswertige Selektion und von diesem Zeitpunkt an ein potenziell selbstperpetuierendes Muster. Die blockierende Gleichzeitigkeit von Irrelevanz und Höchstrelevanz einer jeden ins Netz gestellten Selektionsofferte ist eine erkenntnistheoretische und praktische Herausforderung, auf die das moderne Problemlösungsdenken meint eine Antwort gefunden zu haben. Diese bewegt sich in den theoretisch-praktischen Bahnen, die das zeitgenössisch-nachmetaphysische Diskursprinzip vorgibt. Und dies ist, nachdem sich das Projekt der Detranszendentalisierung im Sinne umfassender Aufklärung durch die Auflösung von Strukturen in fluide Ereignisse überlebt hat, der Vorgriff auf die Bedingungen der Möglichkeit gerechten Friedens und immerwährender Gesundheit. Wieder stoßen wir folglich auf den präempftiven Zeitkomplex als Paradigmenwechsel, der geradezu eine neue Ethiktheorie provoziert.

polemogenen Aspekten der Moral zu warnen, in der Disziplin nicht durchgesetzt. Dies mag für konsolidierte Wohlstandsgesellschaften nicht überraschen. 28 Der von Marxisten forcierte Gegensatz zwischen Werten und Interessen überzeugt seit beendetem Systemantagonismus allenfalls noch als Gegensatz von Marktwirtschaft und Marktgesellschaft. Siehe dazu Sandel (2012).

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Alte und neue Prädiktionstechniken An dieser Stelle schließt sich ein Kreis, denn was als computergenerierte, sich selbst legitimierende Kontrolle beschrieben wird, das entspricht dem Zeitalter des Geistes, das Joachim von Fiore (1130/35– 1202) als Endzeit ausmacht, weil der Geist nicht mehr in einem anderen, sondern nur noch in sich selbst gegründet ist. Klarer ist die umgekehrte Formulierung: Geist ist die Bezeichnung für Selbstreferenz. Indem eine nur der göttlichen vergleichbare global-universale Kontrolle von künstlich intelligenten maschinellen Systeme ausgeübt wird, erheben sich Zweifel, ob es sich bei dieser selbstreferenziell prozessierenden Entität um eine gute handelt. 29 Die Sukzession von Sprache, Schrift, Buchdruck/Verbreitungsmedien, Computer reproduziert offensichtlich ein mythologisches Erzählmuster des zwölften Jahrhunderts. Man findet hier gleichsam die Neufassung des christlichen Mythos dreier Zeitalter – des Vaters, des Sohnes und des Geistes – den Joachim von Fiore als temporale Ausfaltung der sachlichen, der sozialen und der zeitlichen Dimension beschreibt. 30 Dem Zeitalter des Vaters entspricht im kommunikations- und systemtheoretischen Bild die in Mythen ausdrucksfähige Sprache, die in Rede und Gegenrede kaum einzugrenzende Assoziationshorizonte aufspannt. Dem Zeitalter des Sohnes korrespondiert das zu Taten anspornende Schriftstück, das in seiner Wirkung auf den Leser jedoch so unberechenbar ist, dass es einer kontrollierenden Einrichtung bedarf, die immer wieder auf die prinzipielle und unaufhebbare Differenz von gelesenem Wort und gemeinter Sache hinweist. Religion kommt in diesem Zusammenhang die Funktion der Aufklärung über Unsichtbares zu, das sich als Gegenbegriff zum Sichtbaren zwar in künstlerischen Darstellungen visualisieren lässt. Aber solche Darstellungen dürfen nicht ontologisiert, nicht mit der Wirklichkeit – zum Beispiel als Glaube an Gespenster – verwechselt werden. 31

Die Literatur zum Pro und Contra ist inzwischen uferlos. Zur Kritik an einer unaufhaltsam sich selbst instituierenden KI-Welt siehe typisch den französischen Philosophen Gaspard Keonig (2019). Dieser sieht eine neue Form der Sklaverei heraufkommen, die im Kampf um Eigentumsrechte verhindert werden müsse. 30 Zum großen Einfluss Fiores auf die Geistesgeschichte siehe Matthias Riedl (2004). 31 Auch dieses Korrektiv verschwindet in einer digitalisierten Welt, die analog der im 18. Und 19. Jh. praktizierten Techniken der Gesprächsaufnahme mit Geistern, die 29

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Der Unvorhersehbarkeit und Unberechenbarkeit von handlungsmotivierenden Texten ist die Notwendigkeit von Kommunikationsund Verbreitungsmedien geschuldet, die als Zusatzeinrichtung zu Sprache und Schrift Selektionskriterien bereitstellen. Die Motivation ist jetzt nicht länger diffus und ungesteuert; sie ist vielmehr in Macht, Recht, Wahrheit, Geld und konfessionsgebundenem Glauben konditioniert. Derartige Engführungen bedürfen nicht nur der Aufklärung über die logischen, moralischen und ontologischen Grenzen des Erkenntnisvermögens, sondern mehr noch der Legitimation des mit ihnen verbundenen Freiheitsentzugs. Diese Funktion der Rechtfertigung und der Kritik von Kontrolle erfüllen Ethiken. Heute scheinen wir folglich im Zeitalter des Geistes angekommen, das die Prophezeiung als dritte und letzte Phase der Menschheitsgeschichte nennt. Die systemtheoretische Reformulierung entfernt sich nicht wesentlich vom Original. Der überlieferten Vision nach handelt es sich um drei trinitätstheoretisch darstellbare Epochen. Noch ganz dem Platonismus verpflichtet, entspricht im geschichtstheologischen Denken des italienischen Abts dem ersten Zeitalter des Vaters die sprachlich mediatisierte und aufbewahrte Bedeutungsvielfalt eines Wortes, das der Vielfalt der Welt entspricht. Ein Wort ist immer nur kontextbezogen von Bedeutung und bezieht seine ganze Sinnfülle aus dem schier unendlichen Assoziationsraum des jeweils Sprechenden und Hörenden. Das zweite Zeitalter des Sohnes ist bestimmt vom Medium der Schrift, das praktischen Bedürfnissen entsprungen ist. Die Welt sieht sich jetzt aus dem Blickwinkel eines bestimmten Interesses als Gedächtnisstütze und als Informationsübertragung perspektiv geordnet. Der später hinzukommende Buchdruck sprengt nicht das Erzählmuster, denn er ist recht besehen eine bloße Steigerung; er reduziert ein weiteres Mal und vervielfältigt differente Modalitäten der Reduktion, sodass es vordergründig gesehen wieder zu einer weltabbildenden Vielfalt kommt. Genau betrachtet handelt es sich aber nur um eine Vervielfältigung von Perspektiven und mithin um eine noch weitere Entfernung von dem, was als Realität oder als Welt im Sinne eines Ganzen gemeint ist. Um dem gerecht werden zu können, wird schließlich der Begriff des Ganzen für obsolet erklärt (Luhmann 1984, 20–29). Entwicklung von extraterrestrischen Sprachen zum Gegenstand öffentlicher Diskussion macht, vgl. Daniel Oberhaus (2019).

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Nach diesem ganz auf praktische Bedürfnisse hin ausgerichteten Zeitalter, das Schrift und später erfundenen Buchdruck in eins setzt, folgt etwas tatsächlich Anderes, das in der damals üblichen christologischen Darstellungsform als Zeitalter des Geistes bezeichnet wird. Wie in den Augen bestimmter Informatiker heute – so der oben genannte Mark Zuckerberg – war auch Joachim von Fiore davon überzeugt, dass es sich bei diesem Geist um einen guten handelt. Dieses Gute lässt sich freilich auch nüchterner als strukturelle und kulturelle Kompatibilität fassen (Baecker 2007; 2007a; 2018). Genau betrachtet ist dies jedoch der tiefere Sinn der Ethik als einer Reflexionsebene, die nach der Güte der Kriterien moralischen Unterscheidens fragt. Was die beiden Umbruchzeiten von mündlicher zu schriftlicher und von schriftlicher zu elektronischer Kommunikation einander annähert, ist die Zeit als Grenzerfahrung und nicht als Fortschreiten oder als Fortschritt. Spürbar wird diese alt-neue Erfahrung an den Komplikationen, die den modernen empirischen Prüfmethoden durch die computerisierte Informationsbeschaffung und -verarbeitung erwachsen. Denn deren Glaubwürdigkeit ist abhängig von der zur Verfügung stehenden Zeit. Wenn als Wirklichkeit nur gilt, was mit Hilfe bestimmter Methoden der Datenaufbereitung anerkannt ist, dann wird der zeitintensive Prüfvorgang zum Faktor der Wirklichkeitskonstruktion. Wird die Zeit knapp, dann bricht sich ein Konservativismus Bahn, der aufgrund ausgebliebener detailgenauer Investigationen nur bestehende Plausibilitäten und Geltungen fortschreiben lässt. In dieser Situation, der den Wissenschaften, ähnlich wie den Kirchen zu Beginn der Neuzeit, einen Imageschaden einbringt, wächst der Künstlichen Intelligenz Bedeutung zu. So beginnen wissenschafts- und KI-fundierte, statistisch/probabilistische und algorithmische Prognosen in dem Maße auseinanderzulaufen, in dem Menschen mit der schieren Datenflut überfordert sind. Elena Esposito (2018, 395) hat den Unterschied zwischen statistischer und algorithmischer Prognostik in einem für unseren Zusammenhang besonders interessanten Aspekt herausgearbeitet. Sie zeigt Parallelen einer Big Data-basierten Prognosetechnik zu antiken Divinationspraktiken auf. Hier wie dort habe man es mit Entscheidungsprozeduren zu tun, die »retrospektiv prozessieren«. Was geschehen wird, stellt sich als Effekt dessen dar, was entschieden worden ist. Wohlgemerkt handelt es sich um einen Effekt und nicht um ein Ergebnis oder eine Wirkung von Entscheidungen. Denn was gegenwärtige Entscheidungen und zukünftige Wirklichkeit verbindet, ist gerade keine Kausalrelation, 164 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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sondern eine aus der Komplexität heterogener Reaktionen auf Entscheidungen hervorgehende Korrelation, die unisono vom Netz erfasst und elektronisch verarbeitet wird. Was im modernen Zeitschema für die Offenheit der Zukunft als einen Horizont immer neuer und überraschender Ereignisse verantwortlich gemacht worden war, das zeigt sich nun als Moment der Vorherbestimmtheit, wenn nicht der Determination. Die Zeichenlesekunst der Magier oder Priester geht auf den Computer über und beginnt korrespondierende Temporalstrukturen zu rehabilitieren, die allerorten auf Prädeterminiertes stößt. Dass die Zukunft für den Menschen offen ist und damit in gewissen Grenzen ein zu gestaltender Raum, galt für Veränderliches bisher zwar als eine Banalität. Für den Menschen zentral schienen jedoch die unveränderlichen Eckdaten des Geborenwerdens und Sterbens, des immer gleichen Rhythmus von Tag und Nacht, von Monat und Jahr, des Lebens und des sicheren Todes. In den ephemeren Bereichen schien der Mensch frei, in den zentralen jedoch unfrei. Dieses Zentrale betrifft das kosmologisch Ganze. Alles Existierende ist davon betroffen und somit Teil desselben Ganzen. Der Mensch verdankt seine Sonderstellung nur der Einsicht in selbige Rhythmen, in Veränderliches und Unveränderliches. Dieses am immer Gleichen orientierte zyklische Temporalbewusstsein war bereits bei Platon in Anlehnung an altorientalische Kosmologien global dimensioniert. 32 Das christliche Mittelalter verändert dieses Denken nicht grundlegend und stellt dennoch die Weichen für den temporalen Paradigmenwechsel, indem das Gewicht noch stärker auf den menschlichen Umgang mit Unveränderlichem gelegt wird und damit die Moral in den Vordergrund tritt. Nur die ablehnende Haltung gegenüber dieser temporalen Begrenztheit, der Wille, wie Gott zu sein, führt ins Verderben, während ein Annehmen derselben auch dann zum Heil für sich und die Gemeinschaft wird, wenn Unglück und Tod nicht abgewendet werden können. Um selbst Zeitlichkeit subjektzentriert denken zu können, mussten die Zeithorizonte auseinandergezogen und neu im Schema verteilt werden. Unveränderliches und Veränderliches werden als Objektbereiche auf Vergangenheit und Zukunft verteilt, während die Gegenwart mit dem Subjekt zusammenfällt und somit im Zeitempfinden verschwindet. Zu den Strukturen des geographisch-kulturell weit ausgreifenden divinatorischen Gedächtnisses siehe Esposito (2018, 77–86).

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Kontinuität oder Diskontinuität Im Blick auf globale Kommunikationsströme mag es wichtig sein, ein Nachdenken über Welteinteilungsschemata von ihrem Ausgangspunkt im individuellen und kollektiven Subjekt zu lösen und folglich nicht mehr mit Max Weber beginnen zu lassen. Dessen Denken in Idealtypen zeigt das Bleibende und das Veränderliche als Gegensatz gesellschaftspolitisch konnotierter Perspektiven, die ein Entscheider wählen kann. Damit ist Zeitlichkeit endgültig von einem logischen in ein moralisches Phänomen überführt und darin missverstanden. Dies zeigt sich, sobald auf Texte zurückgegangen wird, die solche Schemata und Modelle im Nullpunkt ihrer Entstehung kommentieren. Bei Platon sind Schematisierungen, die sich zunehmend von dem lösen, was mit ihnen einmal gemeint war, ein Effekt der verschriftlichten und somit fixierten Rede und Gegenrede. Aufschlussreich ist diesbezüglich die bildsprachliche Genese der Zeit. Der Vater, heißt es im Timaios, wolle das Abbild (das Weltganze) seinem Urbild noch ähnlicher gestalten und schuf ein bewegliches Bild der Unvergänglichkeit, die Zeit und deren Erzeuger, die Planeten, Tag und Nacht, Monats- und Jahreszyklen als immer wiederkehrendes Gleiches. Das Gleiche, Unveränderliche aber ist allein die allenfalls mathematisch fassbare Form. Allenfalls bedeutet hier: Nicht die Differenz von Tag und Nacht, von Ebbe und Flut, nicht ein Was der zu beschreibenden Zeitspanne von Sonnenaufgang bis -untergang und mithin ein Sein werden und Gewesen Sein des je spezifischen nur als Bewegung begegnenden Tages markiert das Abbild des Unveränderlichen. Es ist allein die Form als jenes unveränderliche Sein, dessen unbeweglich Verharrendes in »Begriffe der Unvergänglichkeit nachbildenden und nach Zahlenverhältnissen Kreisläufe beschreibenden Zeit« (Platon, Timaios, 20) gefasst werden könne. Die andere Seite der Form einer nur im Modus der Codierung von früher und später erfahrbaren Zeit ist genau betrachtet das Medium einer mathematischen Zahlensprache, die im Abbild wieder nur als Annäherung an ein per se unfassbares, weil paradoxes bewegtes Unbewegtes erscheint. Indem sich Aristoteles (Physik VIII, 5) von dieser Sprache distanziert und die paradoxe in eine disjunktive Beziehung von Bewegen und Bewegtwerden überführt, bereitet er den Boden für ein Auseinanderdriften von systematischen und empirischen Wissenschaften. 33 Dieses aristotelische Interesse am systematisierend-kategorisierenden, für Lehrzwecke konzipierten Zugriff verführt zum 166 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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dualistisch-dichotomen Denken. Das zeigt sich auch am Naturbegriff. Dieser ist bei Aristoteles als das Naturseiende (Materie und Prozesshaftigkeit) auf die kontrastierende Spezifizierung eines bei Platon noch bewusst im Unbestimmten belassenen Phänomens bezogen, das wechselnd als Notwendigkeit (anánke) oder als Raum-Materie (chora) (Platon, Timaios 52a) umschrieben wird. Die abendländische Kulturgeschichte nimmt als Geschichte wechselnder Reduktionismen seit dem dreizehnten Jahrhundert hier ihren Ausgang, nachdem die aristotelischen Schriften durch den in Cordoba lehrenden arabischen Gelehrten Averroes auch im Okzident bekannt geworden waren. Aus diesem Grund ist es wichtig, jenseits der systemtheoretischen Rezeptionsbemühungen immer wieder auf die einfache platonische Formlogik zurückzugehen und genau hier Anknüpfungspunkte für aktuelle Theorieentwicklungen zu suchen.

Sinn und Seele Inzwischen hat der Computer begonnen, in Bezug auf die Konstitution der Zeit den Platz einzunehmen, den im subjektphilosophischen Weltbild das Bewusstsein innegehabt hat. Dies schlägt sich auch in der Logik nieder, die im Rahmen der Technikphilosophie Gotthard Günthers (1959) zu einer transklassischen nacharistotelischen Lesart findet. Die winzige Korrektur, die aus dem Topos der Selbstbewegung den Topos des »unbewegten Bewegers« gemacht hatte, scheint unter den Bedingungen immens erweiterter Verknüpfungstechniken nicht mehr plausibel. Die Paradoxie bewegenden Bewegtwerdens (Seele/ Konnektivität) entspricht der hochkomplexen Vernetzungsdichte computerischer Systeme eher als die disjunktive Beziehung von Bewegen (Subjekt) und Bewegtwerden (Objekt). Natürlich muss menschliches Bewusstsein unterscheiden, um bezeichnen, erkennen zu können. Aber wer sagt, dass disjunktives soziales und linear-zeitliches Denken noch greifen, wenn es nicht nur um mein und unser Bewusstsein geht, sondern um die Komplexität aller Operationen sachlichen, sozialen und zeitlichen Unterscheidens? Die Perspektive tritt an den Rand und die Polykontextualität dringt ins Zentrum. Siehe dazu Waldenfels (2017, 107): An die Stelle der Selbstbewegung, die Platon als Seele umschreibt, tritt bei Aristoteles der »unbewegte Beweger« als eine Denkfigur, die eines Ersten vor der Bewegung bedarf.

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Denn warum sollte, was für mich und für uns veraltet ist, für andere nicht hochaktuell sein? Und warum sollte, was für mich und uns wertlos geworden ist, anderen nicht etwas bedeuten? Ein Denken in Proportionen beginnt ein Denken in den Schemata von Ursache-Wirkung, Zweck-Mittel und Grund-Folge zu überlagern. Dadurch kommt es zu einer Wertabstraktion nicht in dem Sinne, dass der Gegensatz zwischen einem positiven Wert und seiner Negation in Frage gestellt würde. Aber der logische Formalismus muss nicht länger mit dem Wertformalismus von Positivität (wahr) und Negativität (falsch) in eins gesetzt werden, wenn »die Position nicht mehr zwingend dem Sein als Gedachtem und die Negation nicht mehr dem Denken zugeordnet ist …« (Klagenfurt 2016, 57). Dies tangiert modern-lineares Denken der Zeit, das sich jetzt mit einer Gleichrangigkeit der Zeithorizonte konfrontiert sieht. So kommt es zu einer problemverschärfenden Sicht, in der allenfalls »die Zukunft die Gegenwart als primären strukturierenden Aspekt der Zeit ersetzt.« (Avanessian, Malik 2016, 8). Unvermeidlich entfallen nach und nach die moralischen Implikationen einer als Aktionsforum gedachten Gegenwart, die an der Differenz von Erfahrung und Erwartung hatte ablesen lassen, was es abzulehnen und was es zu erstreben gilt. Das ist im Postcontemporary als Terminus technicus einer nicht nur gegenwärtigen, erhofften und gefürchteten, sondern in der Gegenwart stattfindenden Zukunft nicht mehr der Fall. Bloß vom Psychologischen her betrachtet, hat die Umkehr des Zeitpfeils sogar etwas Beruhigendes, zugleich aber auch Ernüchterndes. Denn wahrhaft irritiert nur die lähmende Unfähigkeit, im Angesicht einer bereits in Umrissen sichtbaren, aber eben noch nicht Wirklichkeit gewordenen Gefahr, nichts tun zu können. Zwar mag dem menschlichen Akteur der Handlungsspielraum abhandenkommen, aber dieser Verlust seiner Subjektposition wird kompensiert durch ein neues Wahrnehmungsmanagement, das Gefahren im Lichte abwehrender Strategien erscheinen lässt. In gewisser Weise verliert damit der Begriff der Gefahr jede Bedeutung, weil er aus dem modaltheoretischen Fundus gesplitteter Zeithorizonte lebt. Wenn die Zukunft schon heute stattfindet, dann ist immer schon wirklich, was zuvor bloß als mögliches erschienen war und genau in dieser Form Angst gemacht hatte. Die Wirklichkeit selbst wird zu einem operativen Begriff. Sie meint Potentialisierung und nichts weiter. Im Horizont permanenter Potentalisierungen weiß der Informierte nicht nur, was der Gebildete schon früher wusste, dass, wo die Ge168 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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fahr ist, auch schon das Rettende wächst (Hölderlin). Er sieht das Rettende an die Stelle der Gefahr getreten, weil selbige nur als Retrospektive einer antizipierten Konstruktion existiert und von Fachleuten längst durch präemptive medizinische, sozial-technische und zivil-militärische Interventionen aus dem Weg geräumt werden konnte. Damit hat sich das Temporalbewusstsein bereits auf die Stufe der elektronischen Medien gestellt, die sich bislang als bloß technische durch den abgeschnittenen Sinnhorizont ausgezeichnet hatten. Sinnsysteme und mithin genuin dem Menschen zukommendes Psychisches und Soziales sind in der klassisch-modernen Lesart wesentlich durch Kontingenz gekennzeichnet. Als doppelte Negation eines weder Notwendigen noch Unmöglichen ließ sich dieser Begriff freilich nach wie vor nur auf Gott beziehen. 34 Denn Menschen lassen sich von Notwendigkeiten nicht befreien. Aus diesem Grund wird Kontingenz nicht dem Menschen zugerechnet, sondern allenfalls der Kategorie Sinn als einer Zweiseitenform, bestehend aus Wirklichem und Möglichem. Für den Menschen wird ein bloßes Sich-bewusstwerden dieser Kontingenz reserviert. Im Zeitalter des Postcontemporary benötigt der Mensch nicht länger ein solches Bewusstsein, hat es sich dem Maschinellen doch assimiliert. Mit dieser Veränderung geht aber nicht nur verloren, was als spezifisch menschlich gegolten hatte. Von Grund auf in einem neuen Licht erscheint nun zugleich das Maschinelle, das in dieser entdifferenzierten Szenerie eingeschmolzener Zeithorizonte auf seine Weise die spezifische Eigentümlichkeit einbüßt. Wenn Mögliches als die operative Seite des Wirklichen mit diesem identisch ist, dann löst sich der Sinn des Sinnbegriffs in Nichts auf. Mit dieser Formulierung ist bereits die Richtung der Veränderungen angedeutet. Denn wird das Kontingenzbewusstsein gegenstandslos, dann bliebt nicht Nichts in der trivialen alltagssprachlichen Bedeutung. Vielmehr beginnt das menschliche Bewusstsein Form und Formgebrauch zu wechseln. Womöglich signalisiert dieses in Nichts aufgehende Sinnbewusstsein nur das erneute Einspielen der ontologischen Form von Sein und Nichts. 35

34 In diesem Sinne fungiert Gott als Kontingenzformel des Religionssystems, vgl. Luhmann (2000, 147–186). 35 Auf der Suche nach Ausdruckformen einer »Realität, die sich indifferent zur subjektiv-humanen Erkenntnis verhält und sich nicht über ein subjektivistisches oder anthropologisch bedingtes Wissen vermitteln lässt, also nicht primär kulturell, lin-

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Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Zeitfragen

Denn die Unterscheidung der Kybernetik 2. Ordnung 36 zwischen einer unmittelbaren Beobachtung 1. Ordnung und einer mittelbaren, die Beobachtungsschemata des Beobachtens erfassenden Beobachtung 2. Ordnung entfällt in einer von Big Data angereicherten Rundumbeobachtung, die in ihren Beobachtungsweisen selbst den Programmierern mitunter nicht mehr transparent ist und sich darin als ontologische Größe präsentiert. Was geschieht mit dem Sinnbegriff, sobald dieser in toto operativ verstanden wird? Technisch generierte Potentialität kommt ohne bewusstes und kommuniziertes Transzendieren des je Aktuellen aus und wird darin zum funktionalen Äquivalent von Sinn. Gewinnt der Sinnbegriff damit Züge der antiken Seele, die als Prinzip der Bewegungen in ihrem Richtungssinn nicht festgelegt ist, die alle Möglichkeiten der Relationierung umfasst, lineare und rekursive? Und mit welchem Gegenbegriff wäre ein so verstandener Sinn ausgestattet, wenn die Maschine ins Sinngeschehen hineingezogen wird? Noch radikaler formuliert: Von was würde sich ein MenschMaschine verschmolzenes Wesen abgrenzen? Dieser Frage lässt sich zunächst über eine andere Unterscheidung annähern, nämlich die von Leib und Seele. Deren schroffe Entgegensetzung ist ein spätes neuzeitliches Phänomen und wird ideengeschichtlich Descartes zugerechnet. 37 Sie beendet auf fast gewaltsame Weise eine irritierende und die Menschen seit der Spätantike quälende Frage, ob Seele nur im Leib vorkomme oder auch außerhalb. Letzteres ließ sich zwar logisch kaum abstreiten, wenn die gesamte mittelalterliche Patristik hindurch Platon als höchste philosophische Autorität anerkennen wollte. 38 Aber die aus einem Seelenprinzip der Bewegungen her folgerichtig geschlossene Seelenwanderung hatte die Kirche aus verschiedenen Erwägungen heraus bekämpft. Sie fürchtete die verunsichernden Gefahren der überbordenden menschlichen Phantasie, aber insbesondere Missbrauch und Manipulation durch professionelle Wahrsagerei. guistisch, politisch oder historisch kodifiziert ist …« (Avanessian (2013, 8), werden gegenwärtig die Begriffe Materialismus und Realismus neu vermessen. 36 Siehe dazu Elena Esposito »Die Beobachtung der Kybernetik« in Baecker (2005, 291–302). 37 Zu den philosophischen Nachwirkungen siehe Christof Gestrich (2019, 95–118). 38 Die Allgegenwart verstorbener und künftiger Seelen bildet nach Augustinus’ Bekenntnissen (Buch X, Kap. 8) zusammen mit den Lebenden eine Gemeinschaft. Im Fest Allerseelen wird diese noch im heutigen Katholizismus erinnerungskulturell vergegenwärtigt.

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Der temporale Ort des Einzelnen

Was am Geisterglauben, insbesondere an die unsichtbare Dauerpräsenz toter Körper geängstigt hatte, waren die maschinellen Relikte lebendigen Menschseins. Dies wirft die Frage auf, ob in den Techniken der Künstlichen Intelligenz, dem Internet der Dinge, den ›Lebensäußerungen‹ von Gebrauchsgegenständen und unterschiedlichen Varianten Mensch-Maschine-verschmolzener Mischwesen, womöglich der Kulminations- und Umschlagspunkt jener einst mit der Schriftkultur einsetzenden Entwicklung der Entfremdung und Verfremdung gesehen werden muss, die Platon antizipiert?

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Der temporale Ort des Einzelnen

Der abundante Mensch Der Grund, weshalb die Suche nach einem theoretischen Ort des Menschen eine zentrale Bedeutung gewinnt, mag bisher deutlich geworden sein. Dessen Marginalisierung ist jedoch beileibe nicht erst spätes Produkt einer auf Vollautomatisierung aller Tätigkeitsbereiche hinsteuernden Gesellschaft, die nur noch derjenigen Exemplare bedarf, die Maschinen bedienen können und die begütert genug sind, um in den Genuss des Produzierten zu kommen und folglich nicht an Störung und Zerstörung der hochtechnisierten, vernetzten Infrastruktur interessiert zu sein. Auch die moderne Subjektkonzeption reduziert den einzelnen Menschen auf seine Akteurs-Stellung. Und sie verteidigt die Position derer, die ungünstig von Aktionen betroffen sind, mit Hilfe einer Semantik der Menschenrechte. Diese sieht nur den Schutz derjenigen Menschen vor, die als Opfer anerkannt sind, nicht aber jene Exemplare, die zu Kollateralschäden oder zu Menschen erklärt werden, die Menschenrechte verletzen. In der sozialen Sinndimension, in Moralsemantiken, findet man offensichtlich nur Menschenbilder, aber keinen theoretischen Ort des konkret Einzelnen. Warum aber sollte sich die Praxis, und dazu gehört die Diskurspraxis der Ethikkommissionen, zu etwas verpflichtet sehen, was in der Theorie keinen Platz hat? Die Aufwertung des einzelnen Menschen und zwar nicht als Wertentscheidung, als zivilreligiöses und somit aus einer fremdkulturellen Perspektive anfechtbares Bekenntnis zu den Menschenrechten, sondern als formlogische Konklusion, als Einsicht in die Paradoxie von Empirie und Realität, wurde bislang in der sachlichen 171 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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Sinndimension beschrieben. Sie tritt dort hervor, wo sich die Gesellschaft in ihrem Vertrauen auf die datengestützte Differenz von Information und Desinformation erschüttert sieht. Da die Konfusion auf die Informationsflut und Datenfülle einander wechselseitig falsifizierender News zurückzuführen ist, die instantan überholt und veraltet erscheinen lassen, was noch eben frisch ins Netz gestellt worden war, handelt es sich um einen Effekt dessen, was als Zeitbeschleunigung beschrieben wird (Rosa 2005). Diese von Medien produzierte Erschütterung hebt ins allgemeine Bewusstsein, was Luhmann mit der unaufhebbaren, epistemologisch-form-logischen Differenz von Empirie und Realität hatte deutlich machen wollen: Der empirische Mensch wird in seiner Bestimmbarkeit funktionsgerecht moduliert und er wird im Falle einer voll automatisierten Infrastruktur schließlich, zumindest als massenhaft auftretende Spezies, entbehrlich. Der reale Mensch hingegen verweilt im Unbestimmbaren und liefert folglich keine Rechtfertigung für manipulative und letzten Endes eliminatorische Techniken. Im sozial-moralischen Kontext waren wir auf eine entsprechende Aufwertung des konkret einzelnen Menschen dort gestoßen, wo deutlich geworden war, dass Selbstreferenz im Subjekt- und im Objektbereich anzutreffen sind. Dieser an Platons Begriff der Weltseele erinnernde Befund beraubt allen entmündigenden Ethikkonzeptionen der fremdbestimmenden Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung die Grundlage. Nicht all die psychischen, organischen, sozialen und maschinellen Systemreferenzen des Menschen sind undurchschaubar. Es ist ausschließlich dessen Selbst, das sich selbst und allen anderen intransparent bleibt. Und dies ist die Stelle, an der Ethik mit ihren Reflexionen über das ansetzen kann, was für den Einzelnen gut sein könnte. Derselbe Ausgangsgedanke erfährt in der zeitlichen Sinndimension eine besondere Zuspitzung. Als Gegenstand der Wissenschaften stand der Mensch von Beginn an in Gefahr, auf eine Ressource für Versuchsanordnungen und Experimente reduziert zu werden. Die computergesteuerte Akkumulation relevanter Daten perfektioniert das Verfahren der Gewinnung von Humanressourcen, indem sie ermittelte Merkmale petrifiziert. Denn Daten sind immer gestrig; sie halten etwas Gewordenes fest, aber sie verschaffen keinen Zugang zu neuen Möglichkeiten, es sei denn, es handelte sich um hochgerechnete oder geäußerte Willensbekundungen, um Projekte, Programme, Ziele und Zukunftsentwürfe. 172 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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Das künftig Mögliche beschränkt sich auf Kondensate von Statistiken und Datenkonglomeraten. Wo aber hält sich der konkret Einzelne auf? Da man in Vergangenheit und Zukunft nur auf Menschenbilder trifft, müsste geschlossen werden, dass dem Einzelnen die Gegenwart gehört, der von wissenschaftlich-technischen Verfahren notwendig verfehlte Augenblick. Im modernen Temporalbewusstsein aber ist die Gegenwart mit dem Punkt identisch, von dem aus Handeln startet. Sie fällt insofern wiederum mit einer Funktionszuschreibung des Menschen als Akteur zusammen und verliert folglich ein weiteres Mal den Einzelnen aus den Augen. Jede Zeit sieht sich im Kontext einer Krise mit der Frage konfrontiert, ob die jeweils aktuelle Form der Temporalisierung zwingend ist. Der Begriff sozialer Zeit ist heute die Arena, auf der Kämpfe um adäquate Zeitkonzeptionen ausgefochten werden. Welcher Zeitpfeil gilt oder sollte gelten, so stellt sich die Frage. Soll weiterhin unangefochten sein, dass eine schlechte Vergangenheit die Lernvorlage für Aktionsformen bereitstellt, die eine besseren Zukunft bauen lassen? Oder haben sich die bisherigen Programmatiken in den üblen Resultaten von Totalitarismus, industriell produzierten zivilen (Holocaust) und militärischen (Atombombenabwürfen) Massenvernichtungen nicht so weit blamiert, dass über die Fortschrittskonzeptionen hinaus auch das Temporalbewusstsein als Möglichkeitsbedingung derselben in die Krise gerät? Soziologie sieht sich in ihrem Auftrag verunsichert, den nachmetaphysischen Diskurs mit empirischen Fakten und wirklichkeitskonstituierenden Zeitkonzeptionen zu stützen und somit die philosophische These zu bestätigen, bei den kantischen Kategorien handele es sich um restlos modulierbare Möglichkeitsbedingungen. Dies mündet in eine Soziologische Zeittheorie, die im Beobachten von Beobachtern zeigt, wie »die jeweilige Zeitsemantik einer Gesellschaft sozusagen der Bewältigung der strukturellen Bedingungen einer Gesellschaft dient.« (Nassehi 2008, 345). Die Zeit der kommenden Gesellschaft und das bedeutet, einer G5-kompatiblen Netzstruktur, muss jetzt als eine solche der Systeme bezeichnet werden (Becker 2018, 80–86). Denn die Zeithorizonte implodieren in der konstanten unterscheidungsresistenten Gegenwart. Was aber bedeutet dies für den einzelnen Menschen? Um diese Frage beantworten zu können, reicht nicht der soziologische Blick auf Korrelationen, die von der gesellschaftlichen Strukturform auf entsprechende Kulturformen schließen lässt. Denn die netzstrukturelle 173 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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Überlagerung und Modifizierung der funktionalen Differenzierungsform suspendiert den temporalen Ort der Differenz von Dauer und Veränderlichkeit. Und es war dieser Ort gewesen, an dem die luhmannschen Zeitanalysen den konkret einzelnen Menschen als Gegensatz zu den struktur- und kulturabhängigen Menschenbildern ins Spiel gebracht hatten. Dauer ist nach Luhmann (1980, 236) etwas Sinnkonstituiertes und mithin reine Zuschreibung. Die Sequenz von Ereignissen lässt sich hingegen nicht in Sinnstrukturen fassen, sie ist ein Sinn-Jenseitiges. Die vormoderne patristische Unterscheidung von Zeit und Ewigkeit findet hier eine neue Form der Codierung, aber in einer auf den ersten Blick umgekehrten Weise. Das Veränderliche ist das Bleibende, was aber Bestand hat und auf Bestandserhaltung aus ist, sieht sich von temporären Sinnkonstitutionen abhängig, eben von der sozialen Zeit der Gesellschaft (Nassehi 2008). In dem sich Ereignenden, im Augenblick, begegnen einander konkret einzelne Menschen. Man könnte auch sagen, das in der Begegnung operativ wirksame augenblickliche Ereignis trennt sich vom Beobachten der Situation und den hier auftauchenden Menschen. Folglich ist es die Differenz von Operation und Beobachtung, die dem konkret Einzelnen theoriebautechnisch einen Platz sichert. Diese Analyse ist auf die moderne funktional differenzierte Gesellschaft zugeschnitten, die von einer zu überwindenden schlechten Vergangenheit und einer zu erstrebenden guten Zukunft beseelt ist. Luhmann hatte deutlich gemacht, dass das simple dualistische Fortschrittsnarrativ mit seinem in die Zukunft weisenden Zeitpfeil differenzierter betrachtet werden müsse: Die Gegenwart hat nicht nur mit zwei Zeithorizonten umzugehen; sie bekommt es vielmehr mit einer viergliedrigen Konstellation zu tun. Jede einzelne bedarf jeweils besonderer Umgangsformen. Die gegenwärtige Vergangenheit lässt sich konzeptionell bearbeiten, im Narrativ aufarbeiten. Demgegenüber bleibt die vergangene Gegenwart zwar unzugänglich, aber sie wirkt trotz Unerreichbarkeit weiter. Auch Zukunft ist nur als gegenwärtige fassbar, nicht aber als zukünftige Gegenwart. Zukunftsentwürfe, etwa Risikoanalysen, die diese Doppelung ausblenden, verführen zu fahrlässigen Handlungen. Unbedenklichkeit und Leichtsinn erwachsen folglich dem modernen dualistischen Verständnis der Zeit, in dem Zukunft für Reversibilität steht, Vergangenheit hingegen für das Irreversible, das, was sich nicht mehr verändern lässt. Die Berücksichtigung des viergliedrigen Temporalschemas macht auf faktische Veränderungen von Bild 174 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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und Umgang mit der Vergangenheit aufmerksam. Auch die Zukunft bleibt letztlich unerkennbar und mithin überraschend, nicht aber die antizipierte im Planungsdesign repräsentierte Zukunft. Erst im Rahmen der von Luhmann (1970, 66 f.) als wissenschaftliches Vorhaben angekündigten Abklärung der Aufklärung, die das moderne Schema in ihrer Reflexivität beschreibt, zeigt sich, dass für eine nicht länger in Selbsttäuschung befangene Moderne Zeit nicht bloß soziale Konstruktion sein kann. Denn hinter der viergliedrigen temporalen Unterscheidung verbirgt sich eine neue Form der augustinischen Unterscheidung von tempus und aeternita. Gegenwärtige Vergangenheit und gegenwärtige Zukunft zeigen sich in den Projekten der Vergangenheitsbewältigung und der Zukunftsgestaltung als sinnkonstituierte und somit auf Dauer angelegte Veränderung. Unveränderlich hingegen ist eine Sinn-jenseitige Sequenz von Ereignissen. Gegenwärtige Vergangenheit bleibt einer vergangenen Gegenwart als unüberbrückbarem Gegensatz konfrontiert, ebenso wie eine zukünftige Gegenwart in der gegenwärtigen Zukunft grundsätzlich intransparent bleibt. Die Reduktion des Menschen auf den Akteur, den Macher und Gestalter beschränkt sich auf die temporale sinnvermittelte Vergegenwärtigung. Aber der konkret Einzelne findet noch genügend Raum im Unerreichbaren all der vergangenen Gegenwarten, die nur der Einzelne erinnert und der zukünftigen Gegenwart, die sich allen programmatischen Vergewaltigungen entzieht. Dieser zweifache zeittheoretische Ort des Menschen besteht aus all den Augenblicken, die nicht unterschieden werden können. Allein im Augenblick manifestiert sich auch bei Augustinus Ewigkeit in der Zeit. 39 Wie wir oben gesehen haben, entspricht dieser Moment temporaler Unzugänglichkeit bei Platon dem Punkt, der, weil eindimensional, nicht dargestellt und somit nicht visualisiert werden kann. Was sich aber nicht darstellen lässt, bleibt unbeherrschbar. Die gesamte okzidental-orientalische Kulturgeschichte schöpft aus dieser mathematischen Einsicht ihre Hoffnung. Zugleich sind einzig diese einmaligen Augenblicke Begegnungsstätten des konkreten Menschen und nicht eine kommunikationsstrukturell kontextierte, medial determinierte Konnektivität. Wenn mithin für die Soziologie Der Augenblick ist ganz ohne Dauer, erstreckte er sich nämlich auf eine Zeitspanne, so wäre diese teilbar und wäre kein ganz gegenwärtiger Augenblick (Conf. XI, 15, 18– 20), vgl. Hirschberger (1965, 361).

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auch zutreffen mag, dass die Zeit der Netzgesellschaft eine Zeit der Systeme ist, so gilt dies für Philosophie und Ethik nur im eingeschränkten Sinne. 40 Die Zeit des Menschen ist insofern nicht schlicht die Einheit der für ihn bestimmenden Systemreferenzen, die Zeit des Schichtarbeiters, der Frau oder dem Mann an der Kasse, im Klinikalltag, zu Hause bei der Familie oder im Supermarkt. Denn die Integration gelingt nur mittels psychischer und sozialer Fertigkeiten, nur mittels struktureller Voraussetzungen der Sozialisation, adaptierter Lernvorlagen und beherzigter Verhaltensregularien. Diese lassen sich mit Statistiken ein Stück weit erfassen und besser noch in der Netzgesellschaft durch prädiktive Analyse. All dies sind veränderliche Daten, die nicht erreichen, was als Realität in Differenz zur Empirie von Gewicht ist. Temporal betrachtet bleibt Realität der zeitlose, weil nicht unterscheidbare Augenblick einer doppelten Gegenwart, der vergangenen ebenso wie der zukünftigen. Der Verweis Luhmanns (1997, 1074) auf Augustinus gibt zu denken: »Diese zeitlose ›Gesamtzeitlichkeit‹ der Gegenwart tritt im modernen Denken an die Stelle der Ewigkeit.«

Hoffen als selbstreferenzieller Begriff Hält man sich die Bedeutung vor Augen, die jedem Nutzer im netzstrukturellen Gesamtzusammenhang zukommt, so sieht sich die Gegenwartsfunktion des Akteurs zugleich erneuert und überwunden. Denn es verhält sich beim einzelnen Netzeintrag nicht grundsätzlich anders als im Falle des berühmten Flügelschlags einer Möwe, die das Wetter zu beeinflussen vermag. 41 Damit rückt ein zunächst bloß experimentell gedachter Beitrag innerhalb sensibler Forschungsbereiche in ein anderes Licht. Analog den alten Streitfragen der Philosophie und Sozialwissenschaften, sieht sich auch die KI-Forschung zu kontroversen Ansätzen im Methodenverständnis gedrängt. Dem Zur Frage, wie sich die systemtheoretische zur modernen und vormodernen temporalen Codierung in Bezug auf das Friedensverständnis verhält, siehe Brücher Gegenwärtigkeit. Friedensethische Temporalisierungen, in: Schües/Delhom (2016, 31–63). 41 Dieser auf den Meterologen Edward Lorenz zurückgehende Schmetterlingseffekt ist nicht kausalanalytisch, sondern chaostheoretisch zu verstehen. Ähnlich die Metaphorik vom Dominoeffekt, zu den Wirkungen kleiner Eingriffe des Menschen auf das gesamte Ökosystem, siehe das pädagogisch aufbereitete Buch von Accinelli (2017). 40

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Der temporale Ort des Einzelnen

Desiderat Erforschung von Rekursionen steht das Desiderat des Erforschens durch Steuerung gegenüber. Dahinter steht die Erkenntnis, dass das Gehirn gemäß dem Motto »Denken nach Vorschrift« (Lenzen 2018, 35 ff.) nicht wesentlich anders arbeite. Die Funktionsweise einer mit künstlichen neuronalen Netzen (KNN) arbeitende Software würde sich nicht mehr bloß an Abläufen orientieren, die für die Modellierung der Funktionen des menschlichen Gehirns verwendet werden. Daneben gebe es den Vorschlag, Strukturen durch Trainieren der Netze auf eine Weise zu fixieren, die zu besseren Ergebnissen führen könnte. An steuerbaren Rückkoppelungssystemen und empirischen Kontrollhierarchien orientierte Modelle lassen erwarten, dass Künstliche Intelligenz nicht nur in ihren brauchbaren Fertigkeiten perfektioniert werden kann, sondern, wie Mitarbeiter von Facebook und Google anstreben, sich schließlich so etwas wie ein »gesunder Menschenverstand« für Rechner entwickeln lasse. 42 Dies fördert eine unbegrenzt permissive Haltung, denn Defizite und Gefahren beschränken sich auf das Stadium des Noch-nicht-perfekten, sie befinden sich im Warteraum der Sozialingenieure, wo sie keinen Schaden anrichten können. Diese durchaus nicht nur auf die Beschäftigung mit Fragen Künstlicher Intelligenz beschränkte Akzentverlagerung vom Erforschen von Rekursionen zum Erforschen durch Steuerung wird in dem Sinne partizipatorisch zustande gebracht, dass Forschung auf Daten zurückgreift, die im Netz aus den Hinterlassenschaften harmloser Einträge destilliert werden. Wissenschaft verwirklicht sich durch Partizipation, wobei es der Zustimmung von Probanden nicht mehr bedarf. Dies hat für die Forschung den Vorteil, dass der bei Interviews zu berücksichtige mimetische Effekt ausbleibt, der jedes Meinungsbild verfälscht. Denn der befragte Mensch neigt dazu, aus Angst vor dem Ansehensverlust einer möglicherweise hinterwäldlerischen Gesinnung erwartungskonform modifizierte Antworten zu geben. Sobald das aus Erwartungserwartungen bestehende Sozialsystem in seiner Differenz zum personalen System des Befragten jedoch bemerkt wird, greift Eigenverantwortung und Selbstbestimmung. Denn es eröffnet die Möglichkeit, couragiert gegen den Strom zu schwimmen. Dies verspricht ein Darpa-Programm Machine Common Sense (MCS), das Maschinenlernen auf das Verstehen von Sprache und den Umgang mit unvorhergesehenen Situationen konzentriert, siehe Technology Review Online vom 26. 11. 2018.

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Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Zeitfragen

Ein solches Differenzbewusstsein gibt es bald nur noch als »Lücke, die der Rechner lässt« (Baecker 2018). Niemand weiß, ob in einer vom Internet der Dinge bestimmten Welt das Nein zu Kaufangeboten, um das harmloseste Beispiel zu nennen, in Zukunft noch ohne Sanktionen bleiben wird, oder ob die gegenwärtig auf immer mehr Themen ausgeweiteten sozialen Psychostrategien des naming and shaming, solche Lücken nach und nach schließen werden. Infolgedessen wird man genauer nach der logischen Beschaffenheit der Lücke fragen müssen, nicht nach der technischen Lücke. Diese zu beurteilen sind philosophische oder soziologische Fähigkeiten nicht gewachsen. Was dürfen wir hoffen? Das war die Frage, die Kant im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft im Zusammenhang mit selbstregelnden Systemen gestellt hatte. 43 Bedenkt man nun, dass der forschende mit den erforschten Gegenständen zu einem sich selbst regelnden und hervorbringenden Ganzen zusammenzuwachsen beginnt, dann adressieren Beschreibungen und Appelle immer alle Nutzer zugleich, in welcher Funktion dieselben sich selbst auch immer verstehen mögen. Und diese Nutzer realisieren sich selbst in ihren Operationen als temporale Vierfach-Differenz: Mit bestimmten Forschungen, aber auch mit wütenden Netzeinträgen, wird eine Perspektive gegenwärtiger Vergangenheit oder gegenwärtiger Zukunft eingenommen. Man beabsichtigt, mit Hilfe einer Gen-Schere Pathologien zuvorzukommen, bevor sich diese im heranwachsenden Kinderkörper manifestieren können. Oder, aus Sorge um unser Land, werden Falschinformationen über eine missliebige politische Person im Internet durch streuende social bots und ganze Internetfarmen verbreitet. 44 Oder, ein zur Erhaltung und Durchsetzung höchster Werte und im vermeintlich sicheren Wissen um die Identifizierbarkeit von Tätern

Volker Gerhardt (1995, 442) weist darauf hin, dass die am Organismus von Kant aufgezeigte Dynamik, in der sich die Teile »dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, dass sie voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind«, im 20. Jahrhundert im Rahmen einer Theorie der »Selbstorganisation« von Biologie, Physik und Soziologie Aufmerksamkeit gefunden habe. 44 Da Facebook dem Marktplatztratsch früherer Zeiten vergleichbar sei, dämpft Bastian Benrath (»Unbequeme Wahrheitssuche« in: FAZ vom 13. 11. 2019, Nr. 264, 15) die öffentliche Empörung über die Äußerung Mark Zuckerbergs, das Verbreiten von Unwahrheiten falle unter Meinungsfreiheit, anderes würde zur Wiedereinführung der Zensur führen. 43

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Der temporale Ort des Einzelnen

und Opfern beschlossener Auslandseinsatz lässt alle verfügbaren Gewaltmittel mobilisieren. Solche Operationen sind zielorientiert und somit in sich intentional strukturiert selbst für den Fall, dass sie aus momentanen Affekten heraus, dem Druck der Öffentlichkeit oder wirtschaftlichen Standorterwägungen heraus erfolgen. Demgegenüber stehen vergangene und zukünftige Gegenwart derselben Operationen in einer unerkennbaren Beziehung zu Projekten und Intentionen. Gibt es dennoch einen Zusammenhang von gegenwärtiger und zukünftiger Gegenwart, so lässt sich dieser nicht mehr in den Kategorien von Ursache und Wirkung beschreiben, sondern allenfalls in der Sprache formlogischer Analogien. In einem von Big Data gespeisten globalen Netz beginnt das Denken in den Kategorien von Ursache und Wirkung durch Verknüpfungstechniken überlagert zu werden, die aus Analogien und Proportionen Rückschlüsse auf das ziehen, was war und was sein wird. Auch für Platon ist Kausalität zwar eine wichtige Erkenntnismethode. Da dieselbe aber nicht die Fülle der Relationierungen zu erfassen vermag, ist die Rekonstruktion von Proportionen weiterführend. Die weder im Erkenntnisvermögen der Pistes (auf Erfahrung gegründeter Sachkenntnis) noch im Erkenntnisvermögen der Dianoia oder Episteme (des mathematischen Berechnens) zu überbrückende Kluft zwischen gegenwärtiger Zukunft und zukünftiger Gegenwart, lässt sich erst im Nous (dem geistigen Sehen des Gesamtzusammenhangs) überwinden. Damit ist bei Platon keine Wesensschau gemeint, sondern ein von den Mitgliedern der Akademie für jeden Einzelfall durchzuexerzierendes Analogverfahren, das Sichtbares ins Verhältnis zu Denkbarem, Deutliches ins Verhältnis zu Unbestimmtem und Früheres ins Verhältnis zu Späterem setzt. Bedenkt man nun, dass im Rahmen globaler Netzstrukturen nicht allein Mitglieder der Akademie, die heutigen Ethikkommissionen, eine solche Kunst des Erwägens beherrschen sollten, sondern alle Nutzer, so mag hier eine pädagogische Aufgabe ersten Ranges vermutet werden. Denn angesichts dieser in Zeithorizonte eingespannten Möglichkeiten müssen sich Operationen nicht nur unter Hinweis auf das verantworten, was die gegenwärtigen politischen, administrativen, rechtlichen und industriell-technischen Bedingungen realisieren lassen. Sobald die Vierfachdifferenz der temporalen Unterscheidung bedacht wird, zeigt sich der Operator selbst in seinen Antizipationen dadurch behindert, dass sein Planen nicht auf eine 179 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

Ethik als Umgang mit widersprüchlichen Zeitfragen

wahre Zukunft im Sinne einer zukünftigen Gegenwart, sondern bloß auf eine gegenwärtige Zukunft gerichtet sein kann. Das Hoffen begrenzt sich selbst im Bewusstsein, dass Pläne und Projekte im Zustand ihrer Verwirklichung einer anderen Zeitdimension angehören, sodass weder größeres Engagement noch verbesserte Rahmenbedingungen diesen Mangel auszugleichen vermögen. Die gemeinten Grenzen sind letztlich Grenzen des Lernens, die nicht zu verstehen sind als Zweifel an grundsätzlichen Fähigkeiten von Mensch und Maschine. Sie stellen sich aufgrund der Andersartigkeit jener Situation ein, mit der es der Handelnde zu tun bekommt, der auf die nicht intendierten Wirkungen verwirklichter Programme reagieren soll. Inwiefern ist damit die Aristotelische Phronesis, die Klugheit im Sinne des moralisch-praktischen Urteilsvermögens und damit implizit der antike Fatalismus mit der Intelligenz der modernen Fortschrittsgläubigkeit versöhnt, beziehungsweise, wäre eine solche Versöhnung überhaupt erstrebenswert? Das moderne fortschrittsfixierte Hoffen erhält sich im Fokus einer Verfügungsgewalt, die im gegenwärtigen, intentional strukturierten Augenblick einen Hebel erkennen lässt. Im systemtheoretischen Setting ist die Gegenwart hingegen kein Horizont; sie ist vielmehr synonym mit dem temporalen Element, das im Gegensatz zu den beiden Horizonten der Vergangenheit und Zukunft nicht fassbar ist. Die Gegenwart ist Realität; sie ist dies als Gegensatz zur Empirie und markiert somit den theoretischen Ort des einzelnen Menschen. In der zeitlichen Sinndimension erfahren die in der sachlichen und der sozialen Dimension gewonnen Einsichten folglich zugleich eine Bündelung und Zuspitzung. Dies folgt sowohl bei Kant als auch bei Luhmann aus einer Kritik am utilitaristischen Denken: Da es keine sicheren Methoden der Antizipation zukünftiger Ereignisse geben kann, bleibt das richtige Handeln eine offene Frage. Wir wissen nicht, was wir tun sollen, weil wir nicht wissen können, was wir hoffen dürfen. Systemtheoretisch ausgedrückt: Wir können heute nicht wissen, wie weit morgen gegenwärtige Zukunft und zukünftige Gegenwart auseinanderklaffen. Kant markiert die Grenzen kalkulatorischer Fähigkeiten im Begriff der Mannigfaltigkeit, Luhmann in dem der Komplexität. 45 Kant (1781, KrV, B 454 ff.) gründet diesen Begriff in den Zusammenhang der Antinomien des Weltbegriffs, Luhmann (1975, 51–71; 1997, 145–171) denkt Welt als paradoxen Begriff der Gesellschaft.

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Negativität als Sinnressource oder als Kalkül In einer vom Internet vernetzten und verlinkten Welt bietet Komplexität Freiheit nur noch als technologische Unzulänglichkeit. Diese lässt sich an den Stellen fassen, wo Daten nicht erhoben, oder, wo die von Algorithmen prognostizierte Zukunft als Manipulation durchschaut und nicht durch erwartungskonformes Verhalten wahrgemacht wird. Für die Materialität dieses Fehlenden als Ferment von Freiheit und Menschlichkeit findet jetzt ein Begriff der Negativität Verwendung, der anders als die Begriffe der Negation und des Negierens nicht Operationen des Ablehnens und Zerstörens umschreibt, sondern den Platz besetzt hält, der bisher mit den Begriffen des Unverfügbaren und Unerkennbaren gemeint war. (Baecker 2018, 108–206) Steht Negativität für eine Sinnressource, die für Technik unerreichbar ist? Oder handelt es sich um eine imperativisch gemeinte operative Unerreichbarkeit, wie sie einem Begriff der Ethik vorschwebt, die sich als Technik der Kultur versteht? In diesem Fall wäre Negativität ein Kalkül, das im Sinne des kategorischen Imperativs und der transjunktionalen Operation ein Jenseits autopoietisch sich selbst fortschreibender Operationen festhält. Der kantische Imperativ schützt dieses Jenseitige mit der Empfehlung einer Wette auf die Zukunft, die von einem Handeln hervorgebracht wird, das die Menschheit sowohl in der eigenen Person, als auch in der eines jeden Anderen, niemals als bloßes Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich betrachten lässt. Und die Systemtheorie schützt dieses Jenseitige, in der der konkret Einzelne vorkommen darf, mit einem transjunktionalen Imperativ der Autopoiesis. Dieser stellt jede Operation unter den Vorbehalt der Frage, wie eine Welt aussehen würde, in der unzählige Mensch-Maschine-Konglomerate willkürlich evolvieren, die ihr selbständiges Wachstum von jeweils ganz unterschiedlichen algorithmischen Trainingsdaten aus starten. So gedeihen – um ein drastisches Beispiel zu wählen – russen- oder kurdenphobische Kampfroboter prächtig in selbstgeschaffenen Konfliktszenarien, ähnlich dem Säugling, dessen physiologische Ausstattung ein zum Wachstum erforderliches liebendes Umfeld hervorbringt. Vermutlich ergänzen einander die beiden Verständnisweisen, die Negativität als Sinnressource operativer Unerreichbarkeit oder als operatives Kalkül nutzen. Denn das erste ist recht besehen ein Hoffnungsraum, gleich dem Verweisungshorizont der Zukunft im modernen Denken der Zeit. Dieser lässt allererst ein Interesse entstehen, 181 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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Verhaltensmodalitäten und somit auch eine Ethik auszuarbeiten, die sich selbst als Technik der Kultur begreift. Die These, der Negation entspreche nichts, sie sei ein positiver Generator, 46 hat zu neuen Ansätzen ontologischen Denkens Anregungen geliefert. Hier wird dieses positive Generieren strikt unterschieden von jenem Positiven, das als Aufgipfelung einer zum Verfahren oder zur Diskurskultur geronnenen Kritik schließlich in die Selbstlegitimation des Kritisierenden und dem Zwang zur kritiklosen Annahme eines so zustande gekommenen Handelns mündet. Dieses offenbart sich als affirmativer Gestus par excellence, als »das unangreifbarste aller Legitimationsverfahren« (Avanessian 2015, 33). Wenn sich Negation somit nur als verkappte Affirmation bewährt, 47 dann stellt sich die Frage nach einem Positiven, welches nicht durch Negation des Negativen sichtbar gemacht und hervorgebracht werden kann, ein nicht Normatives. Denn wer kritisiert, kennt dem Vernehmen nach die Norm, gegen die verstoßen worden ist. Da eben solche Normen im funktionalistischen Sinne von Erwartungen, an denen auch im Enttäuschungsfall festgehalten wird (Luhmann 2008, 25–55), im westlich-abendländischen Verständnis nicht nur als positives Recht, sondern auch als Werteordnung verstanden werden, führt die über Negation und Kritik gesuchte Gemeinsamkeit zum globalen Konflikt. Denn andere Kulturgemeinschaften haben andere Normen im Sinne einer Rangordnung von Vordringlichem und Nachgeordnetem. So verwerfen zwar alle Kulturen das Töten, aber die Unterscheidung von Norm und Ausnahme oder die Verteilung von Opfer und Kollateralschäden verläuft entlang unterschiedlicher Menschen- und Weltbilder. Das für moderne Theorien zentrale Axiom der Kritik zunächst durch den Begriff der Irritation und schließlich durch den der Negativität zu ersetzen, ist insofern nicht bloß ein informationstechnischer Sachzwang, dem zu widerstehen wieder als neues Aufgaben46 Diese These, dem Nichts entspreche nichts in der Wirklichkeit, geht auf Parmedides, den Vorsokratiker des 6. Jh.s v. Chr. zurück und gründet in einer Existenzparadoxie: Da es nicht möglich ist, von etwas auszusagen, dass es nicht existiert, kann es kein Nichtseiendes geben. Als Bezugspunkt des Sprechens verwandelt sich das Nichtseiende in etwas Existierendes; es lässt sich gar nicht denken (vgl. Habermehl 1995) 47 »Das System immunisiert sich nicht gegen das Nein, sondern mit Hilfe des Nein; es schützt sich nicht gegen Änderungen, sondern mit Hilfe von Änderungen gegen Erstarrung in eingefahrenen, aber nicht mehr umweltadäquaten Verhaltensmustern.« (Luhmann 1984, 507).

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feld negatorischer Praxis verstanden werden könnte. Vielmehr lassen sich Irritation, Negativität und Unbeobachtbarkeit im Schnittpunkt der Gegenwart, im Augenblicklichen nutzen. Die kommunikative Begegnung und mithin etwas, das unterscheidendem Bezeichnen nicht mehr zugänglich ist, dient nunmehr als Ausgangspunkt für die gemeinsame Arbeit an globalisierungstauglichen Modalitäten des Wechselns von Kontexturen. Und dies zeigt sich als Sache jeden Nutzers, in welcher Funktion auch immer dieser tätig sein mag. Irritation, Negativität und Unbeobachtbarkeit sollen anders als der Begriff der Plastizität, den die moderne Anthropologie als Ort des Menschen vorgesehen hat (Baecker 2018, 200), nicht als Wegweiser für Erziehungs-, Züchtungs- und Manipulationsprogramme missverstanden werden. Denn ein solches Denken in den Kategorien von wissenden und kompetenten menschlichen Subjekten und unwissenden und inkompetenten menschlichen Objekten hat sich unter den netzstrukturellen Bedingungen der modernen Weltgesellschaft überlebt. Rollen und Positionen konfundieren. Das fünfzehnjährige Kind hackt sich in Verteidigungsprogramme und platziert einen wild wuchernden Trojaner, der selbst entscheidet, was werden soll. Oder, ein pfiffiger Infant verursacht ein Verkehrschaos selbstfahrender, perfekt auf alle Eventualitäten vorbereiteter und von sachkundiger Hand überwachter Automobile und freut sich an der Massenkarambolage. Das moderne Denken hatte sich so sehr auf Rollen- und Positionszuschreibungen verlassen, dass nicht bemerkt wurde, dass die Theoriestelle für den konkret Einzelnen – den Nutzer elektronischer und digitaler Medien – vakant geworden war. Ausdifferenzierungen innerhalb der modernen Semantik des Menschen als Individuum, als Person oder als Subjekt findet im Begriff der Normalität das einigende Band, das gleichwohl einer permanenten Zerreißprobe ausgesetzt bleibt. Denn normal ist man gerade als mutig abweichender und in diesem Mut zum Nein-Sagen sich selbst individuierender Mensch und dies unter der ständigen Gefahr, allzu kühn, oder anders als die Anderen, abzuweichen. Es ist Normalität, die als philosophischer Grundbegriff des 20. Jahrhunderts (Rolf 1999) den Einzelnen mit paradoxen Formvorgaben konfrontiert und Pathologien dort diagnostiziert, wo es misslingt, normal abzuweichen, abzulehnen, aufzubegehren oder sich schlechthin zu verweigern. 48 Im Netzzeitalter hat Thomas Rolf (1999, 287 f.) sieht in der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls einen Ansatz, der zwischen der individualmoralischen (Lebenskunst) und der politisch-

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Normalität seine disziplinierende Funktion jedoch eingebüßt, denn es lässt sich so leicht und gefahrlos in der Anonymität des Netzes unnormal sein, auch wenn es inzwischen Filtertechniken geben mag, die manche Fälle von Untugend herausfischen. Aber solche Überlegungen bewegen sich vorschnell im normativen Bereich, ungeachtet der Tatsache, dass jeder Nutzer heute Normsetzer und Normunterworfener in einer Person ist. Denn Normalität ist ein am Durchschnitt orientiertes Maß, das sich durch social bots und Internetfarmen manipulieren lässt. Der Nutzer weiß nicht, ob er im Falle einer bestimmten Meinung mit der Mehrheit oder mit einer Minderheit konform geht, was er aber mit Sicherheit weiß oder wissen sollte, ist die Bedeutung, die sein eigener Eintrag für die Weltgesellschaft hat. Wenn folglich moderne Orientierungsmarken nicht länger Halt geben und auf vormoderne Formen der religiösen Integration nicht mehr zurückgegriffen werden kann, so scheint es wieder ratsam, auf initiale Texte der okzidental-orientalische Kulturgeschichte zurückzukommen. Platon handelt ausführlich von der Negativität an den Stellen, wo er sich kritisch mit seiner eigenen Ideenlehre auseinandersetzt. Im Parmenides wird die Frage nach der Verhältnisbestimmung der vielen Abbilder und des einen Urbilds aufgeworfen. Urbild ist bei Platon ein Funktions- oder Suchbegriff, der mit verschiedenen Termini eine Richtung der Suchbewegung weist: idéa (wahrhaft Seiende), morphé (Gestalt), eidos (Form), parádeigma (Muster), génos (Gattung), physis (Natur), ousia (Wesen) to x auto (das x selbst), kath’ auto (an sich) (vgl. Schäfer 2007, 157). Das Verbindende von Urbild und Abbild ist allenfalls eine Annäherung, eine Ähnlichkeit, sodass gesagt werden muss, dass das Abbild durch einen Mangel, durch ein nicht Urbild-Sein auffällt. Negativität wäre demnach Privation, ein Fehlendes, das seinerseits durch verschiedene Weisen der Annäherung immer wieder anders ausfällt. Eine der Annäherungsweisen ist die parousia, die Gegenwärtigkeit, eine andere die methexis, die Teilhabe. Damit sind wir wieder bei der Gegenwart oder dem Augenblick, in dem der konkret Einzelne sich zur Geltung bringt oder vorkommt,

sozialen Dimension (Fairness) von Normalität vermittelt. Es wäre aber möglich, dass er mit diesem dezidiert vom Sozialen zum Moralischen wechselnden Fokus dem Einzelnen noch mehr aufbürdet. Indem Luhmann (1995; 1989, 149–258) die in den einzelnen Zuschreibungen enthaltenen Paradoxien sichtbar macht, hält er die Theoriestelle für den Einzelnen intakt.

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und zwar als Negativität, als Differenz zu dem, was als Urbild des Menschen im Unbestimmten bleibt. Aber es gibt unterschiedliche, gleichsam bessere und schlechtere Formen, die Differenz zu überbrücken. Das Schlechte und Böse ist nach Platon nur als Fehlen oder als Weniger des Guten feststellbar. Das verstrickt den Einzelnen bereits in Schlechtes, aber hindert ihn zugleich daran, andere Menschen als böse und schlecht zu identifizieren. Wenn man nun diese Konnotation der Idee als bloße Funktions- und Suchbewegung einblendet, dann zeigt sich die Unterscheidung von Einheit und unbegrenzter Zweiheit, 49 die an die Stelle des Guten und Bösen rückt, in ihrer operativen und damit temporalen Bedeutung. Nur die begrenzte Zweiheit des Ego und des Alter als alter Ego, das heißt, die gelungene Abgrenzung vom Anderen und die Achtung des Anderen in den ihm eigenen Grenzvariablen, macht es möglich, zugleich gesund und gut zu sein. Ausgehend von dieser Form lässt sich schließlich der Mensch als Einheit (im Sinne eines Gattungsbegriffs) in Beziehung setzen zu den sichtbaren Exemplaren, wie sie sich im Rahmen der Systemtheorie in einer nicht nur funktional, sondern auch formlogisch aufgeschlüsselten Sprechweise finden. Von Person ist die Rede im Kontext der Unterscheidung von Ego und Alter. Hier geht es ausschließlich um eine soziale Referenz des Menschen, dessen Form im Sinne Spencer-Browns eine andere Seite hat, und dies ist die Unperson (Luhmann 1995, 142–154). Das Individuum tritt als Gegensatz zu und als Negation der Gesellschaft in Erscheinung (Luhmann 1995, 125–141), und das Subjekt bleibt darin ein tückischer Begriff, dass es erst in der Identifizierung eines Objekts präsent ist (Luhmann 1995, 155–168). 50 In all diesen Fällen sieht sich der Mensch in Differenz zu dem, was er nicht sein will, nämlich Unperson, gesellschaftlich vereinnahmt, angepasst, oder zum Objekt gemacht. Er bemerkt allerdings nicht, dass mit der operativen Verwendung dieser Schematisierungen die Bedingung dafür geschaffen sind, seinerseits von Anderen in die ungünstige Position gezwungen zu werden. In jeder Situation muss sich der einzelne Mensch in Beziehung zu dem setzen, was er sich selbst und was andere ihm als Person, als

Vgl. Aristoteles (Metaphysik 987b; Physik 209b-210a), auch als »unbestimmte« Zweiheit übersetzt im Sinne fehlender Festlegung oder Gestaltung, siehe Stefan Volk (2005, 57 f.). 50 Zu weitergehenden funktionalen Annäherungen an den Menschen im Anschluss an Luhmann, siehe die Beiträge in Fuchs/Göbel (1994). Brücher (2004; 2004a). 49

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Individuum oder als Subjekt attribuieren. Unweigerlich kommt der Mensch als Beobachter und als Beobachtetes nur als Differenz vor und nicht als Einheit. Aber er ist Einheit als ein sich selbst und anderen intransparentes Selbst. Das Ungute kommt in dieses menschenbezogene Konstituens, wenn der Einzelne sich selbst und Andere auf Beobachtetes reduziert. Denn alles Beobachtete wird zum System, das sich von einer Umwelt abgrenzt, genauer, von einem nicht dazugehörenden Anderen. Als Zweiheit im Sinne einer Differenz ist der Mensch Beobachter und Beobachtetes und somit in dem begrenzt, was ihm Selbst- und Fremdzuschreibungen ermöglichen. Als Selbst können Menschen einander überall, auch im globalen Netz kommunikativ begegnen. Aber in diesem Fall verzichten sie auf das wechselseitige Beobachten, und mithin das urteilende und verurteilende Unterscheiden. Begegnen sich hingegen Systeme, Personen, Individuen und Subjekte, so treten Grenzen auf oder es werden Grenzen gezogen. Jeder Beobachter trägt die volle Verantwortung für die Grenzen, die er kommunikativ geltend macht. Ein bedauerlicher Fall von unbegrenzter Zweiheit liegt vor, wenn ein Einzelner die Idee qua physis seines Menschseins nicht mit dem Konkreten seiner Person in Einklang bringen kann, weil die gesellschaftlichen Erwartungen an sein Geschlecht, seinen gesellschaftlichen Stand, seine Hautfarbe oder seine kulturelle Herkunft nicht zu ihm passen. Gegenüber sich selbst und anderen wird man unweigerlich schlecht oder böse im Rahmen einer Kommunikation, die in der Begegnung die Selbstreferenz durch die Fremdreferenz absorbiert, sei es gegenüber sich selbst, oder einem Anderen. Dies wird unter unmenschlich verstanden. Unbegrenzte Zweiheit kann bei Platon folglich die Stelle besetzt halten, an der das Schlechte oder Böse thematisch wird, weil dabei – in unsere Sprache übersetzt – der systemreferenzielle Anteil des Menschen mit dem Selbst desselben verschwimmt, weil der Mensch sich selbst nicht als Umwelt seiner eigenen Systemreferenzen wahrnehmen kann. Im Selbst- und Fremdkontakt entsteht Ungutes, weil es Menschen in der Begegnung mit Sozialmasken zu tun bekommen. 51 Während im Falle psychostruktureller Entgrenzung erkennbar Pathologien vorliegen, für die das medizinisch-therapeutische Im Rahmen seiner Ausarbeitung des dialogischen Prinzips hat Martin Buber (1999) diese Differenz als Gegensatz von Bild-Menschen und Wesens-Menschen beschrieben.

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Funktionssystem zuständig ist, fallen die anderen Formen von Entdifferenzierung ins Gebiet der Moral. Und hier lassen sie sich in ihrem Wildwuchs als Stereotype, als Feindbilder und Vorurteile nicht begrenzen. 52 Negativität wird auf diese Weise als Privation, als Mangel zu etwas Positivem, da sie die Kluft zum Ausdruck bringt, die das unbeobachtbare Selbst, anders gesagt, das Urbild Mensch, von seinen beobachtbaren Abbildern, der Person, dem Individuum, dem Subjekt oder Akteur, trennt. Es ist Sache der Wissenschaft und Philosophie, semantisch-kulturelle Formen transjunktionaler Operationen der Vermittlung system- und umweltbezogener Kontexturen auszuarbeiten, an denen sich der einzelne Nutzer im Rahmen der globalen Netzstruktur orientieren kann.

Zu Ansätzen der Verwissenschaftlichung im Rahmen der Konflikt- und Friedenspsychologie siehe Sommer/Fuchs (2004). Zu den methodologischen Problemen dieser sozialpsychologischen Ansätze aus systemtheoretischer Perspektive, siehe Brücher (1988).

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V. Schluss: Reflexionstheorie der Ethik als ungeschriebene Lehre

Ethische Marginalisierung von Semantiken Der Multiplikationseffekt im Netz kursierender unkenntlich gemachter Kulturprovenienzen beginnt Semantiken als Ort der Suche nach Vorzugswerten austrocknen. Über das rein Ästhetische hinausgehende moralische Kulturprofile treten mehr und mehr in kämpferischideologischer Sprache der Identität und Abgrenzung im Bekenntnis zu Parteiungen auf – den Identitären, den Muslimas, den Globalisten, den Multikulturellen, den Transsexuellen. All diese Kommunitäten sind in ihrer Life-style-Orientierung mehr am Design und weniger an ethischer Reflexion interessiert. 1 Wird moralische zur politischen Kommunikation, so bringt sie Ethik nur noch als Begründung ohnehin geltender Normen hervor, oder als kritische Reflexion einer die Gültigkeit des Geltenden bloß absegnenden Ethik. Begründungs- und reflexionstheoretische Ethik bilden insofern die beiden Seiten der einen Form und dies ist einer der Gründe, weshalb die Systemtheorie dem Thema Ethik als medienhistorische Reminiszenz semantischer Ausdrucksformen den Rücken gekehrt hat. Aber lässt sich Ethik auf Semantik reduzieren, oder handelt es sich bei dieser Zuordnung womöglich um eine folgenschwere Fehlstellung des ursprünglichen Projekts? Diese Frage lässt sich sehr wohl beantworten, wenn man erneut an die ideengeschichtliche Genese dieser Entwicklung erinnert. Das Gute als eine dem Einzelnen gerecht werdende Operation ist bei Platon verstanden als mathematisch-logisches Bemühen um eine Rekonstruktion des in Frage stehenden Gegenstands – Individuum, Gesellschaft, Gruppe – mittels der Erkenntniskaskade: Wort, Bedeutung, Darstellung, Idee. Entscheidend ist Nach Ivanova (2016, 90 f.) kommt es zur Verschiebung im »Realitätsvermittlungsanspruch« des universellen Subjekts von den politisch instrumentalisierten Menschenrechten hin zur zeitgenössischen Kunst.

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Schluss: Reflexionstheorie der Ethik als ungeschriebene Lehre

dabei, dass die Verhältnisbestimmung nicht als Korrelation von Identischem dem Gerechten näherkommt, sondern nur als Differenz jeder Erkenntnisebene zu jeder anderen Erkenntnisebene. Damit ist die Semantik in ihrer normierenden Bedeutung für die ethische Frage nach dem Guten an den Rand gedrängt, um Form und Formgebrauch an deren Stelle treten zu lassen. Form ist erinnerlich die paradoxe Einheit der Differenz. Und Formgebrauch meint dann die Art und Weise, in der mit Paradoxien umgegangen wird. Der identitätslogische Ausgangspunkt im quod dixi dixi gründet hingegen in der Überzeugung, ein Wort würde durch die Definition in seiner Bedeutung festgelegt, durch Darstellung veranschaulicht und durch theoretische Kontextierung geklärt. Das autoritär-imperativische des Diktums rührt aus einer Interpretation der Erkenntnisstufen als Erweiterung des Identischen: ›Ein Mensch ist ein Mensch weil …‹. Damit wird aber nur eine gattungstypologische Aussage getroffen, die dem Einzelfall nicht gerecht wird. Gut für den Einzelnen ist der Blick auf den Anderen oder auf das Andere aber erst, wenn die Korrelation der einzelnen Erkenntnisstufen als paradoxe Einheit der Differenz von Wort und Definition und Darstellung und Idee verstanden wird. Was dies bezogen auf aktuelle theoretische und praktische Probleme bedeutet, ist die zentrale Frage einer Ethik, die nicht länger auf den üblichen Schlagabtausch zwischen Schulen fokussiert ist. Diese über zweitausend Jahre von semantischen Verkrustungen überlagerte und verunklärte formlogische Disposition gilt es wieder freizulegen. Reflexionstheoretische Ethik könnte als ungeschriebene Lehre genau auf dieses spezifische Verständnis von Form und von Formgebrauch hinweisen. Im Sinne Spencer-Browns gebührt nicht der Unterscheidung und dem Unterschied das letzte Wort, sondern dem paradoxen Zugleich von Einheit und Differenz. Eine solcherart konzipierte Ethik wäre eine transsemantische Ethik, die die Frage nach dem Vorzuziehenden und letztlich nach dem Guten medienkorrelativ betrachtet. Und vor diesem Hintergrund wäre die Frage neu zu stellen, ob es Algorithmen geben könne, die Unterscheidung und Unterschied von maschinellen und sinnkonstituierten Systemen in den Hintergrund drängen, um der Formlogik Raum zu geben. Der Unterschied wird von Luhmann (1984, 92–147) am Begriff des Horizontes festgemacht: Sinnsysteme öffnen den Verweisungshorizont auf immer neue und andere Möglichkeiten der Selektion, maschinelle Systeme strangulieren die Verweisungsvielfalt; sie dienen 189 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

Schluss: Reflexionstheorie der Ethik als ungeschriebene Lehre

weniger dem Erweitern als der Reduktion von Möglichkeiten. In der Ausweitung des Begriffs der Technik auf lebensweltliche, auf Psychound Soziotechniken der Problemlösung, wird allerdings die Differenz nicht als Unterscheidung, sehr wohl aber als materialer Unterschied wieder aufgeweicht. So kann schließlich die Aussage über Sinnsysteme dahingehend korrigiert werden, dass auch deren Selbstreproduktionsmechanismus einer Logik der Erweiterung durch Reduktion von Möglichkeiten folgt: Nicht das mit zusätzlichen und immer mehr Aufgaben bestückte Multitasking eröffnet Freiheitsräume der Gestaltung, sondern gezielte Fokussierung und Bündelung. Hier anschließende systemtheoretische Forschungen, die rasant voranschreitende computertechnologische Entwicklungen reflektieren, gehen inzwischen noch weiter und verringern nicht nur den Unterschied zwischen maschinellen und Sinnsystemen, sondern stellen das Zeitgemäße der Unterscheidung selbst in Frage. Der zentrale Begriff, an dem solche Nivellierung sichtbar gemacht wird, ist Big Data. Die auf Suchmaschinen gespeicherte Simultanpräsentation des gesamten Weltwissens, das themenspezifisch abrufbar alle Gesichtspunkte berücksichtigen lässt, restituiert gewissermaßen auf maschineller Ebene den technisch abgeschnittenen Verweisungshorizont. Daran knüpfen sich Hoffnungen in völlig neuartige Lösungen von Menschheitsproblemen, so etwa die Verfolgung von krankmachenden Ursachen in ihrer Verkettung bis ins letzte Glied. Da es im vorliegenden Zusammenhang, über die Frage medientheoretischer Korrelationen hinaus, um das Gute im Sinne jedem Einzelnen gerecht werdender Operationen geht, gewinnt die reflexionstheoretische Ethik Züge eines operativen Begriffs. Das hängt mit dem Stumpfwerden der erkenntnistheoretischen Bedeutung der Kritik zusammen. Der Wechsel von Medieneuphorie und Gesellschaftskritik zur Medienkritik, wie er oben als eine Folge der soziokulturellen Evolution beschrieben worden ist, setzt eine kulturelle Selbstverständigung voraus, die sich in den raumgreifenden globalen Milieus elektronischer Medien aufzulösen beginnt. Davon betroffen ist das wesentliche Identitätsmerkmal beschreibbarer Gegensätze zwischen Sinnsystemen und Nichtsinnsystemen organischer, physischer oder maschineller Art, mit der sich die Moderne gegen das okzidentale und orientalische semantische Erbe der grundbegrifflichen Stellung einer differenzlosen Seele abgegrenzt hatte. Wie lässt sich das operative nicht länger bloß kritische Moment des Ethischen beschreiben? Woran soll sich das für den Einzelnen 190 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

Schluss: Reflexionstheorie der Ethik als ungeschriebene Lehre

Gute ablesen lassen, wenn Sinn, und somit ein Unterscheiden von Positivem und Negativem, zusammen mit kulturtragenden und -bestimmenden Semantiken, zu Gunsten kulturindifferenter elektronischer Medien in den Hintergrund drängt? Und wie ist diese neue Akzentuierung einzuschätzen angesichts der Tatsache, dass die Frage der Legitimität und mithin der Semantik, durch technisch verlinkte Multiplikationseffekte von Kommunikationsofferten ungeahnte Destruktivkräfte entfalten können? Jeder einzelne Kommunikationsteilnehmer gibt dem je eigenen soziokulturellen Hintergrund mit jedem Beitrag Gewicht. Nichts ist bedeutungslos, alles wirkt. Dies aber erscheint für den Beobachter, der solche generativen Prozesse noch zu fassen sucht, in einer fluiden, wenig greifbaren Form. Operativ wirksame und beobachtbare Semantiken treten mehr und mehr auseinander und sie lassen sich von einem wissenschaftlichen Beobachter immer schwerer zur Deckung bringen, zumal sich der gemeinsame Hintergrund einer literarisch verbürgten Kultur verflüchtigt. An deren Stelle treten popkulturelle, an ökonomischen Verwertungsstandards gemessene Modifikationen. Noch ungeklärt scheint die Frage, ob die Fixierung auf differente, miteinander konkurrierende und einander zunehmend bekämpfende Semantiken angesichts polykontextualer globaler Bedingungen aufgegeben werden muss. Große philosophische Lehrgebäude sehen sich heute durch die bloße Natur des Mediums marginalisiert, zur Grand Theorie oder zum Narrativ herabgewürdigt. Die Auflagen an eine ethisch anspruchsvolle weltkommunikative Vernetzung bleiben unerreichbar hoch. Denn greifen könnten allenfalls Selektionsformen, die in der Lage sind, nicht nur mit den Kontrollüberschüssen zurechtzukommen, die vom wirtschaftlich und militärisch überlegenen säkularen westlich-abendländischen Weltpol ausgehen, sondern auch jene Überschüsse, die dem religiösen östlich-orientalischen Weltpol zugerechnet werden. Zu denken ist in erster Linie an die problematischen Seiten dieses Überschusses, an militärischen Interventionismus als die probate Methode der Überlegenen und Terrorismus als Mittel der Unterlegenen.

Von entmoralisierten Funktionscodes zu Wertsphären Die medienkorrelative Zuordnung von Funktionen zeigt die Verlagerung von Schwerpunkten, der Sprache zur Schrift, der Schrift zum 191 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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Buchdruck, des Buchdrucks zu den elektronischen und digitalen Medien. Offensichtlich sind Themen zwar semantisch konditioniert, aber sie beginnen sich im Zuge der globalen Massenkommunikation von ihrer Herkunft zu emanzipieren und in der global vernetzten Kommunikation der funktional differenzierten Ordnungsform den Kampf anzusagen. Der Netzbegriff signalisiert im Begriff des Netzwerkes eine Strukturform, die die bisherigen kulturbestimmenden Formen von Stamm, Schicht und Funktionssystemen ablöst. Das Netz bezeichnet gewissermaßen das Stadium, in das eine Weltgesellschaft eintritt, die an ihre eigene Moral nicht mehr glaubt und den Prozess der Entdifferenzierung ihrer handlungsleitenden kategorialen Unterscheidungen zu Ende geführt hat: Das Wissenschaftssystem verliert seine Autorität im Zuge eines Diskurses der Postmoderne, der zur Konfusion der Differenz von Rationalität und Irrationalität, schließlich von News und Fake-News drängt und damit ein Funktionssystem entbehrlich erscheinen lässt, das den Unterschied an konkreten Fällen empirisch aufzeigen sollte. Eine neue Daseinsberechtigung gewinnt das Funktionssystem in der Gleitbewegung von der sachlichen Sinndimension zu bloß noch sozial relevanten Fragen nach der gleichen und freien – oder auch unfreiwilligen – Partizipation am grandiosen Projekt wirklichkeitskonstituierender globaler Datenakkumulation. Was in sozialistischen Staaten der Mitarbeiterstatus im Staatssicherheitsdienst, das gewinnt in der heraufziehenden Netzgesellschaft anonyme Züge einer reflexiven Komplexität, die zum Sammeln und Auswerten von sensorübermittelten, alle Lebensvollzüge erfassenden Daten der gesamten Bevölkerung bedarf. 2 Das Rechtssystem verliert seine Autorität im Zuge eines Diskurses der Verrechtlichung, der zur Konfusion der Differenz von Rechtlichem und Außerrechtlichem drängt und damit ein Funktionssystem in Bedrängnis bringt, das friedensgefährdende Gerechtigkeits- in verfahrensförmig-pazifizierende Rechtsfragen zu verwandeln die Aufgabe hat. 3 Schließlich verzeichnet das Wirtschaftssystem einen In diesem Sinne versteht Baecker (2018, 130–141) die Wissenschaft der kommenden Gesellschaft nicht mehr durch Analyse charakterisiert, sondern durch Partizipation als Auskunftsbereitschaft über die eigene Person und über Andere – ein anderer Ausdruck für Spitzelwesen. 3 Im Konzept eines »Rechtsvollzugs wider Willen« empfiehlt Menke (2011, 92) ein funktionssprengendes Rechtsverständnis, das Recht mit der Politisierung seines Außen beauftragt: Statt eines Rechtssystems als Insgesamt nicht vernünftiger Individualität subjektiver Rechte, soll der Vernunftprozess der Allgemeinheit entscheiden, 2

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Akzeptanzverlust im Zusammenhang mit einem Diskurs über Populismus, der zur Konfusion von liberaler Marktwirtschaft und sozialistischer Planwirtschaft drängt und damit einem Funktionssystem Schwierigkeiten bereitet, von dem erwartet wird, Interessenskonflikte durch die Befriedigung von immer wieder neuen und anderen Bedürfnissen gegenstandslos zu machen. All diese Auflösungsprozesse aber kulminieren in einem Autoritätsschwund des politischen Systems im Zuge einer Praxis der Auslandseinsätze, die zur Auflösung der Differenz von Krieg und Frieden, von Innen und Außen, von Angriff und Verteidigung, von Kombattanten und Nicht-Kombattanten drängt. Denn Entdifferenzierungen dieser Art delegitimieren ein Funktionssystem, das die Aufgabe hat, den Frieden in einer von Machtkämpfen durchzogenen gesellschaftlichen Wirklichkeit im Ernstfall durch rechtstaatlich legitimierten Waffengebrauch zu sichern. 4 Was geschieht der Ethik, so wäre zu fragen, wenn sich entmoralisierte Funktionscodes wieder zu streitbarer Moralkommunikation im Kontext politischer, wirtschaftlicher, rechtlicher, wissenschaftlicher und pädagogischer Wertsphären zurückverwandeln?

Ethik als Semantik oder als Medium? Nimmt das reflexionstheoretische Verständnis einer moralisch enthaltsamen Ethik einen Faden wieder auf, den Platon in Auseinandersetzung mit den medialen Umbrüchen seiner Zeit zur Konzeption einer paradoxen sich selbst verunmöglichen Ethik bewogen hat? Es gibt keine ausgearbeitete Ethik Platons, weil sich das für jeden Einzelnen Gute nicht generalisieren und standardisieren lässt. Und es gibt im systemtheoretischen Setting keine ausgearbeitete Ethik, weil der Mensch als Umwelt sozialer, psychischer und organischer Systeme vom engmaschigen Geflecht menschbezogener Unterscheidungen nicht erfasst werden kann. Der Umstieg von der Was-Frage zur Wie-Frage führt in diesem Fall folglich nicht weiter. Er verlagert die

wie die Grenze zwischen Recht und Unrecht zu bestimmen sei. Im kontrafaktischen Vorgriff auf eine Welt der Gegenrechte soll das bürgerliche Recht überwunden werden (Menke 2018). Zur Diskussion des neomarxistischen Ansatzes siehe die Beiträge in Fischer-Lescarno/Franzki, H./Horst, J. (2018). 4 Zum Zusammenhang dieser Entdifferenzierungsprozesse mit dem Terrorismus vgl. Brücher (2004a).

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Unsicherheit über die Güte der Kriterien nur vom Präferenzcode zum Code als Ganzem. So belasten nicht nur Probleme der angemessenen Beschreibung des Menschen als Natur oder Kultur eine fruchtbare Diskussion über die ethische Vertretbarkeit von technischen Zugriffen auf menschliche Ressourcen. 5 Hinzu kommen grundsätzliche Zweifel, ob die Unterscheidung von Natur und Kultur überhaupt noch ein im Zeitalter künstlich intelligenter Systeme angemessenes Verständnis liefern könne, oder noch radikaler, ob die Maschine nicht als Teil der Natur gelten müsse. 6 Im Blick auf die ideengeschichtlichen Anfänge scheint dieser außerhalb ethiktheoretischer Fragestellungen sehr fruchtbare Umstieg der Fragetechnik ohnehin entbehrlich, weil das sokratische Verständnis dieses Was, auf das Platon Bezug nimmt, bereits enthält, was die Reflexion des Wie an den Tag legen soll. Denn sofern Sokrates jeden Versuch einer Annäherung an den Gegenstand der Klärung im Medium der delphischen Inschrift Erkenne dich selbst knüpft, ist die gewünschte Umwegigkeit schon garantiert (Mertens 1992). Welche Methode der Erkenntnisgewinnung gewählt werden mag, die eines Rückschlusses vom Einzelnen (Fall) auf das Allgemeine (Regel) oder vom Allgemeinen (Regel) auf das Einzelne (Fall), die unlösbare Frage der Identität stellt jedes Resultat unter Vorbehalt. Heute werden diese Probleme als Vor- und Nachteile von zwei- und mehrwertiger Logik diskutiert (Jansen 2014). Der Preis für die bewusste Hinnahme dieser Erkenntnisblockade ist allerdings hoch. Denn bleibt die Kategorie Mensch außen vor, so birgt dies die Gefahr in sich, dass Instrumentalisierungen für politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Zwecke unkommentiert bleiben. Wie aber sollte man mit dieser offensichtlichen Paradoxie umgehen? Im Versuch, eine Antwort auf diese Frage zu finden, verlagert sich das Interesse auf eine neue und besondere Weise von der Was-Frage nach dem Menschen auf die Wie-Frage nach einer Theo-

Nach Röttgers (2002, 26 f.) beginnt sich mit Aristoteles’ Bestimmung des Menschen als politischem Wesen und somit dem Primat der Kultur, Sozialphilosophie als Differenz zu der von Sokrates begründeten Ethik herauszubilden. 6 So der Wissenschaftstheoretiker George Dyson in einem Interview mit der FAZ (11. 10. 2014, Nr. 236, S. 18), die Natur sei zwar digital, aber mit Programmierung des genetischen Codes nur einmal in jeder Generation. Wir seien analoge Wesen, ebenso wie intelligente Maschinen, z. B. Drohnen, die entscheiden, ob es sich bei jemandem um einen bösen Menschen handelt, der getötet werde müsse. 5

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riebautechnik, die dem zu Verschweigenden einen prominenten Platz zuweist. 7 Ganz in diesem Sinne wird für eine globalisierte, auf die funktionale Differenzierungsform vollumfänglich eingestellte Gesellschaft eine Form von Politik imaginiert, die auf anthropologische Fundierung und Legitimierung verzichtet, weil eine solche Fundierung strukturell unmöglich geworden sei und weil sie zudem dem Menschen gar nicht zugutekomme. 8 Für den Menschen gilt die Umwelt der Gesellschaft als ein besserer Ort, da er hier als ganzer vorkommen darf und nicht bloß als Funktionsbündel perspektivisch aufgesplitterter Systemreferenzen, als heterogenes Insgesamt von psychischen, neuronalen, sozialen und biologischen Referenzen. Und nur hier ist er grundsätzlich mehr als eine in Funktionssysteme inkludierte Person, oder ein exkludierter, nur noch als infektiöser oder gefährlicher Körper wahrgenommener Mensch (Luhmann 1995, 262 f.). Allerdings bewegen wir uns mit dieser Feststellung, was gut für den Menschen sei, bereits in einem semantisch vorpräparierten Feld. Denn es wird hier ein Begriff bemüht, der als Einheit der Unterscheidung von Individuum und Gemeinschaft, von Besonderem und Allgemeinem schon mit diametralen Handlungsempfehlungen moralisch auseinanderdriftet. Folglich taugt der Mensch nicht als Referenzbegriff der Ethik, obgleich es um nichts anderes als den Menschen geht. Wenn dies aber so ist, und schon deshalb nichts anderes als Gegenstand der Ethik ausgemacht werden könnte, weil es Menschen wären, die dem ›Fortschritt‹ oder ›Gott‹ Höchstrelevanz zubilligen, dann bleibt als Referenz der Ethik statt des Subjekts nur das Prädikat. Es geht folglich um die Bestimmung des Guten und damit sind wir wieder bei Platon, der genau diese Frage nach der alternativen Zuordnung der Ethik zu Gunsten der Medien und zu Lasten der Semantik beantworten würde. 9 Spencer-Brown (1997, 67) spricht von einem »Schlupfloch durch eine Rangordnung von Sprachen«, erkennbar bei Wittgenstein, der eine ganze Menge über das sage, worüber nach seiner Aussage im Tractatus 2. Proposition, nichts gesagt werde könne. 8 Zur nicht-anthropologischen Bestimmung der von bestimmten Medien abhängigen Form des Menschen aus systemtheoretischer Sicht siehe Peter Fuchs (2007). 9 Als Bruch mit der Tradition kann sich die Systemtheorie nur begreifen, wenn sie sich auf die Aristotelischen Schriften beschränkt. Luhmann (1997, 929) stützt sich auf die Anfangssätze der Nikomachischen Ethik, wenn er die vormoderne Teleologie eines Handelns beschreibt, das im Streben nach einem Gut die Erkennbarkeit von demselben voraussetzen muss. 7

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Das Prädikat kann bekanntlich nicht alleine stehen, sondern bedarf eines Subjekts als Beobachter und als Beobachtetes. Ethik mischt sich in diese Kondition mit der Betonung ein, dass sich die Dominanz des Prädikats in der Weise spiegeln müsse, in der das Subjekt zur Darstellung kommt. Eben dies ist im formlogisch-systemtheoretischen Zugriff auf den Topos garantiert. Denn dieser hebt hervor, dass beides – das Subjekt als Beobachter und als Beobachtetes – im blinden Fleck der Operation des Beobachtens verschwindet und aus diesem Grund nur als Figur der Zurechnung auf einen Aktor, der eine Unterscheidung macht, verstanden werden kann. Die systemtheoretische Konklusion ist eindeutig: Wie immer der Mensch beschrieben und bezeichnet werden mag, unvermeidlich verschwinden Beobachter und Welt im blinden Fleck der Unterscheidung. Der konkret Einzelne wird sowohl auf Seiten des Subjekts/Referenten, als auch auf Seiten des Objekts/Referenz verfehlt. Das Beobachten als unterscheidendes Bezeichnen von Menschsein verfehlt den Menschen als Beobachter und als Beobachtetes, als Welt. Man könnte auch sagen, nicht auf Seiten der Form – des Unterscheidens von Gutem und Schlechtem aus moralischer Sicht – erschließt sich ein für Menschen Gutes. Aber was bietet sich als Alternative? Die Systemtheorie geht mit Platon konform, wenn diese empfiehlt, das Medium in Augenschein zu nehmen, das Menschliches und ideales Menschsein auf eine bestimmte Weise beleuchtet. Platon nähert sich bekanntlich dieser Funktion des Mediums, indem er Parallelen von Sichtbarem und Denkbarem formlogisch beschreibt: Die Bedeutung des Guten für alles Denkbare (in seiner Komplexität) entspricht der Bedeutung der Sonne für alles Sichtbare. Erst die volle Beleuchtung hebt die detaillierten Konturen eines Gegenstandes hervor. Und erst der multiperspektivische Blick auf das Einzelne und den Einzelnen lässt diesen erkennen, anders gesagt, diesem gerecht werden. Der Begriff des Guten sieht sich hier aus dem moralischen Kontext und damit aus sozialen Erwartungshaltungen gelöst, um als Bedingung oder als Bezugspunkt möglicher Erwartungsregulierung im Hintergrund zu wirken. Soll das Gute direkt und mithin vordergründig wirken, so müssen Vereinfachung in Kauf genommen werden, die Menschen Unrecht tun. Die Form und mithin all jene Unterscheidungen, die das Gute oder die Ethik als Anschlusskommunikation auf einer Seite bestimmen lassen, etwa auf Seiten der Kultur (Gender) und nicht der Natur 196 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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(Sex), oder auf Seiten der Menschenrechte (Legitimität) und nicht des positiven Rechts (Legalität), verfehlen das Gute und somit die Ethik. Dies gilt selbst für die Unterscheidung von Sinnsystemen und natürlichen oder maschinellen und somit Nicht-Sinnsystemen. Sogar hier verbietet sich das exklusive Verfahren, das Gutes nur als Sinnkonstituiertes und mithin als Form denken lässt. Denn es ignoriert die Komplexität oder die Multiperspektivität des Einzelnen. Wie aber verhält es sich mit dem Begriff des Mediums? Liegen hier die entscheidenden Margen für wertethische Urteile und zeitgemäße ethische Imperative im Umgang mit riskanten Technologien und, wenn ja, in welchem der drei Modalitäten, dem Verbreitungsmedium, dem Kommunikationsmedium oder dem form-logischen Medium?

Die Form des Mediums Diese Zwischenüberschrift scheint absurd, weil das Medium doch gerade den Gegenbegriff der Form (Unterscheidung) markiert. Auf der anderen Seite ist eben diese Unterscheidung selbst eine Form. Folglich schiebt sich das paradoxe Zugleich vor einen jeden Begriff dieser Unterscheidung. Die Form des Menschen und die Form des Guten, oder auch die Form der Ethik in der Einzahl, zeigt sich jetzt als paradoxe Gleichzeitigkeit der beiden Seiten (Sichtbar und Denkbar) und der einen Unterscheidung (sichtbar und denkbar als proportionale Relation), mit der recht besehen Spencer-Browns (1997) mathematische Logik die Konstruktion Platons wieder aufgreift. Die platonische Semantisierung der Paradoxie wurde oben an den vier Erkenntnisstufen (Wort, Begriff, Darstellung, Idee) deutlich gemacht: Wissen über den Menschen, über das Gute oder über Ethik wird zur paradoxen Einheit der Differenz einer jeden Stufe mit jeder anderen Stufe. Was noch weitergehend als Wahrheit anerkannt ist, lässt die erhoffte Gewissheit und Eindeutigkeit stets vermissen. Dies macht Platon im siebten Brief gegen den Anspruch seines ermordeten Freundes Dyonisius von Milet deutlich, der sich zugutegehalten hatte, die mündlich vorgetragene Konzeption des Guten in die Form einer geschriebenen und damit anwendbaren Lehre gebracht zu haben. Die medientheoretische Aktualität der platonischen Konstruktion zeigt sich an den zur Veranschaulichung an mehreren Stellen bemühten Darstellungsform des Gleichnisses oder Mythos. Hier ist das Medium die Botschaft ganz in der Bedeutung, wie sie Marshall 197 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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McLuhan (1967) in seinem populär gewordenen gleichnamigen Kaleidoskop vor Augen führt. Mit dieser Gleichsetzung ist keine Identität gemeint, vielmehr spiegelt sich in der Botschaft die Beschaffenheit des Mediums. So zeigt Platon im Phaidros die mediale Bedeutung des Guten anhand eines mythischen Gleichnisses über die Entstehung der Schrift an Defiziten: Dem Gott Theut wird von einem anderen Gott vorgehalten, seine Erfindung sei schlecht, weil die dialogische Auseinandersetzung unterbunden und das Gedächtnis geschädigt werde. Das Verbreitungsmedium korreliert gleichsam einer defizitären Geistesverfassung. Das geschriebene Wort verführt zu Generalisierungen, die in einem subsumptiven Verfahren den Einzelfall vergewaltigen. In einem ähnlichen Sinne wird die Erfindung von beweglichen Lettern bei McLuhan als mediale Kondition beschrieben, die auch im Hinblick auf ihre Schattenseiten Beachtung findet. Die vom Menschen geschaffene Umwelt werde zu seinem Medium, mit dem er seine Rolle bestimmt, heißt es hier. Die Erfindung der Lettern habe zu linearem und sequentiellem Denken geführt und habe das Denken vom Handeln getrennt. Allerdings teilte McLuhan Anfang der sechziger Jahre noch die Hoffnung seiner Zeitgenossen, dass Weiterentwicklung und Perfektionierung der elektronischen Medien, insbesondere Fernsehen und Folkmusik, das Denken dem Handeln wieder annähern könnte. McLuhan (2011, 250 f.) zeigt die Absorption der Botschaft durch das Medium an einer veränderten Weltsicht, die mit dem Buchdruck einhergegangen sei und stützt sich mit dieser Behauptung auf Francis Bacon. Dieser beschreibt in seinem Buch Advancement of Learning eine Dynamik, die dem Auffassungsvermögen der einfachen Leute entsprechend Gefälligkeit, Beredsamkeit und Abwechslung in der Darlegung, lieblichen Tonfall, Ausschmückung der Bücher mit Tropen und Figuren mehr Gewicht eingeräumt hätten als einem »Thema von Gewicht, dem Wert des Gegenstandes, der Richtigkeit des Gedankenganges, der Lebendigkeit der Erfindung und der Tiefe des Urteils.« Es sei dieses Interesse, eine möglichst breite Leserschaft anzusprechen und zu unterhalten, die die strenge Fachmethode der Scholastiker aus der Mode und schließlich in Verruf gebracht habe.

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Verbreitungsmedien und Kommunikationsmedien McLuhan beschreibt eine Form der Lektüre, der Aufmerksamkeit, des Interesses und der bevorzugten Themenwahl anhand der über die Zeiten wechselnden Verbreitungsmedien (Sprache, Schrift, Buchdruck, elektronische Medien). Im Blick auf die heutige global vernetzte digitale Kommunikation muss diese These einer konstitutiven Bedeutung des Mediums für die Botschaft in einem erweiterten Sinne verstanden werden, damit die platonische Lichtmetapher auch für die formlogische Stellung des Guten informativ sein kann. Luhmann (1997, 316–412) bezieht im Anschluss an Parsons neben den Verbreitungsmedien spezifische Kommunikationsmedien in Betracht, symbolisch generalisierte Formen wie Macht, Geld, Recht, Glaube, Liebe und im eingeschränkten Sinne auch die Moral. Damit ist eine speziell die westlich-abendländische Entwicklung charakterisierende Strukturform avisiert, die im Zeitalter digitaler Netzkommunikation relativiert werden muss. Das betrifft in erster Linie das Medium Glaube, das im Kulturvergleich differenzierter zu betrachten ist und zwar weniger bezogen auf semantische, kulturell geprägte Verständnisweisen. Zunehmend wichtiger werden die formlogischen Eckdaten. Denn die Medium/Form-Unterscheidung dient nicht nur der Beschreibung eines bestimmten Verbreitungsmediums (Sprache, Schrift, Buchdruck, Computer) in seinem Verhältnis zu charakteristischen Codes: Sprache konstituiert die Differenz von anwesend und abwesend. Für Schriftkulturen tritt das Veränderliche als Gegensatz zum Unveränderlichen in den Vordergrund; der Buchdruck rückt die Frage ins Zentrum, ob Selektionsofferten angenommen oder abgelehnt werden; und für eine Kommunikation, die sich auf den Computer stützt, wird die Entscheidung Fortsetzen oder Beenden zentral. Die Medium/Form-Unterscheidung dient jedoch nicht nur dazu, Einrichtungen des sozialen Lebens ausfindig zu machen, die zu vorauseilendem Gehorsam motivieren und somit Zwang entbehrlich machen. In dieser Funktion treten Macht, Geld, Recht, Wahrheit, Liebe, Bildung und Glauben als Kommunikationsmedien in Erscheinung. Verbreitungs- und symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien sehen sich hingegen in gewisser Weise durch eine darüber gebaute grundlegendere Unterscheidung von markiertem und unmarkiertem Bereich relativiert. Es ist diese Unterscheidung, die den differenten Medien einen logischen Ort zuweist.

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Das Unmarkierte als Medium Die Unterschiede von Sprache, Schrift, Buchdruck und Computer, ebenso wie die Unterschiede der einzelnen Kommunikationsmedien treten insofern, als sie in toto dem markierten Bereich zuzurechnen sind, gegenüber der noch wesentlicheren Frage nach der Form der Unterscheidung als Ganzer, zurück. Und diese Frage ist gleichbedeutend mit der Frage nach dem Umgang mit einer bestimmten Unterscheidung, der ethisch betrachtet in den wesentlichen Zügen bei allen Medien der gleiche ist. Was die zwischenmenschliche Konstellation prägt, ist die Art und Weise, in der Kontexturen gewechselt werden, mündlich, schriftlich, gedruckt oder gejettet, formlogisch ausgedrückt, in der eine transjunktionale Operation vollzogen wird. Man kann über Abwesende gut oder schlecht reden und man kann in Lektüre und Schrift böse Absichten oder gute hineinlesen und dementsprechend seine Reaktionen wählen. Und man kann die Chance zur Aktivierung von Shit-Storms im Netz ergreifen oder nicht ergreifen. Die Präferenz für die eine oder die andere Operation wird durchaus kulturell gebahnt, und dies nicht bloß durch die viel diskutierten psychosozialen Determinanten von Vorurteilen, Feindbildern und Stereotypen. Es gibt kulturelle Prägestrukturen, die sich auch aus ethiktheoretischen Quellen speisen. In diesem Sinne werden Nützlichkeits- und Sollensethiken heute darin kritisiert, dass die Hypostasierung global übereinstimmender Nutzenkalkulationen und global übereinstimmender normativer Präferenzen Erwartungshorizonte aufspannt, die unweigerlich enttäuscht werden. Dies provoziert jene typisch aggressiv-überschießenden Reaktionen, zu denen Frustrationen größeren Umfangs verleiten. Dem korrespondiert jene sowohl von geschichtsphilosophischer als auch von evolutionstheoretischer Seite gestützte positive Rolle, die in der westlich-abendländischen Moderne Konflikten und Kämpfen als Fortschrittsgeneratoren beigemessen wird. Diese philosophisch-wissenschaftlichen Richtungen sind federführend geworden, weil sich in ihnen die Gesamtarchitektur der epochalen Konfiguration einer übergangsgesellschaftlichen Konstellation noch nicht in Gänze realisierter funktionaler Differenzierung am konzisesten hatte ausformulieren lassen. In ihrer politisch metamorphosierten liberalistisch-individualistisch und sozialistisch-kollektivistischen Gestalt wurde die Güte von Gesellschaftsmodellen am Erfolg getestet, der in globalen Ausscheidungskämpfen erzielt wurde. Dabei stand in der Systemkonkurrenz 200 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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von Markt- und Planwirtschaft der Kampf um die leitgesellschaftliche Stellung von Wirtschaft und Politik im Zentrum einer moralischen Auseinandersetzung um das richtige Menschen- und Weltbild. Dieses Szenario einer liberalistisch-sozialistisch konnotierten Bipolarität gehört der Vergangenheit an. Unter dem globalen Einfluss der angelsächsischen Kulturproduktion der Soft Power, die seit der friedlichen Systemtransformation des Ostblocks ungehindert voranschreitet, weicht das gespaltene gesellschaftspolitische Modell zunehmend einem regelutilitaristischen Einheitsdenken. 10 Im Bewusstsein, dass ein welteinheitliches Regelsystem für alle nützlich sei, entfällt die Frage der Priorität. Freiheit und Gleichheit scheinen einander nicht länger auszuschließen. Kämpfe um die leitgesellschaftliche Stellung einzelner Funktionssysteme werden für beendet erklärt, um die Schlagkraft gegenüber einem beliebig zuzurechnenden gefährlichen Akteur zu erhöhen. Die Konflikt- und Kampfmetaphorik findet wieder Anschluss an apokalyptische christliche und moslemische Denkweisen. 11 Das Ausmaß, in dem politische Entscheidungsträger heute meinen, in Fragen wissenschaftlich-technischer Großprojekte auf den Rat von Ethikkommissionen und in Fragen Humanitärerer Interventionen auf die moralische Unterstützung der Kirchen angewiesen zu sein, 12 zeigt die Legitimationsbedürftigkeit riskanter Entscheidungen, deren Folgewirkungen unkalkulierbar sind. Kommissionen und wissenschaftliche Konsultationsprozesse sind zwischengeschaltete Medien, die verhindern sollen, dass politische Projekte und Programme vorschnell für ethisch unbedenklich erklärt werden, nachdem die Massenmedien hinlänglich über deren moralischen Vorzüge berichtet haben. 13 Diese Richtung findet sich in der US-amerikanischen, den Sieg des Liberalismus antizipierenden Philosophien schon früh. Siehe etwa Richard Brandt (1959) oder John Rawls (1955). 11 Manifest geworden ist das Denken in den Kategorien von Ausscheidungskämpfen im evangelikalen Fundamentalismus der Bush-Administration (vgl. Müller-Fahrenholz 2003). Zu den verschiedenen Varianten der Apokalyptik in Vergangenheit und Gegenwart siehe die Beiträge in Schipper/Plasker (2007). 12 Zur Diskussion des zivil-militärisch-humanitär-menschenrechtlichen Interventionismus des Globalen Nordens aus theologischer, ethischer und rechtlicher Sicht siehe die 24 Bände Gerechter Friede (Werkner/Jäger 2018–2020). 13 Zur Skandalisierung als Instrument der Normgenese (Luhmann 2008, 252) kommen Soft power-Zwangsmaßnahmen, psychischer Druck (pressure), Beschämen (shaming and blaming), Androhung oder Durchführung nicht-gewaltsamer Sank10

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Die mitlaufende Botschaft solcher Verfahrensweisen legt jedoch ungewollt den fragilen Untergrund des Formgebrauchs offen und nötigt aus diesem Grund dazu, ethische Reflexionen ins Feld der Logik auszuweiten. Denn die Botschaft signalisiert der Gesellschaft, dass jede Operation des Unterscheidens (von verantwortlich und verantwortungslos, von umweltschädlich und nachhaltig, von menschenrechtskonform und menschenrechtsverletzend) den Beobachter und die Welt als unmarkierten Bereich zurücklassen muss. Denn weder ist es möglich, die Kriterien der moralischen Bewertung in der Operation des Wertens mit zu bewerten selbst für den Fall, dass sie ihrerseits zum ethisch reflektierten Gegenstand gemacht werden. Immer schieben sich neue Kriterien hinter die erfolgreiche Aufklärung über latente Maßstäbe und Motive. Ebenso konstitutiv verborgen bleibt der Weltbezug, der komplette Relevanzbereich der Wertzuschreibung. Dieses Problem des doppelten Ausschlusses ist berücksichtigt, sobald sich die philosophische Ethik nicht länger mit der Moral einer sozialen Praxis eins glaubt, sondern an ihren Fähigkeiten grundsätzlich zweifelt, Besonderes unter Allgemeines subsumieren zu können (Hendrich 2015, 134). Was bleibt, ist eine genuin kritische Ethik, die Selbstreflexion an die Stelle der Begründung rückt. 14 Prinzipiell kann die professionelle, politisch beauftragte Ethik dieses doppelte Defizit nicht aus der Welt schaffen; sie kann sich nur bemühen, dasselbe in die Wertentscheidungen einzubeziehen. Aber wie soll dies geschehen? Genügt der Austausch eines zwar in Sachthemen bewanderten, aber in Fragen der Ethik ganz dem subjektiven Wohlmeinen überlassenen Expertenteams mit einer zwar ethiktheoretisch informierten, aber in Schulen aufgespaltenen Philosophie und konfessionell gespaltenen Religion, die zu Genetik, militärstrategischen Risikokalkülen, IT und KI wenig sagen kann? Oder bedarf es transjunktionaler Imperative, die gleich dem kategorischen Imperativ bloß als Bezugspunkte der Regelanwendung den fachlichen Austausch begleiten und allererst dafür sorgen, dass selbige den einzelnen Menschen nicht aus tionen, wie Wirtschaftsboykotte (boycotts), Ausschluss aus Gremien und Organisationen (exclusion) hinzu, vgl. Daase »Vom gerechten Krieg zum legitimen Zwang. Rechtsethische Überlegungen zu den Bedingungen politischer Ordnung im 21. Jahrhundert. In: (Werkner/Rudolf 2019, 13–32). 14 In diesem Sinne entfaltet Theda Rehbock »Ethik als Kritik und als Praxis« (in: Gamm/Hetzel 2015, 143–160) als Gegenentwurf zu einem dreifachen, szientistischrationalistischen, instrumentalistisch-technizistischen und objektivistisch-reduktionistischen Missverständnis.

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den Augen verlieren? Die übliche Bezeichnung für ein solches Thematisieren des Unmarkierten reiner Bezugspunkte der Regelanwendung lautet Metaphysik oder Religion. Mit dem Einspielen dieser Begriffe ist allerdings das Maximum an Konfusion eingehandelt und man wird einige Mühe aufwenden müssen, um nicht ein weiteres Mal Ethik durch politische Zugehörigkeiten zu den Realos oder Fundis ersetzen zu lassen. Luhmann (2000, 53) weist darauf hin, dass zwar ein spezifisches Thematisieren des Unmarkierten als Religion bezeichnet wird, darüberhinausgehend aber gelte, »dass jeder Formgebrauch Religion involviert, da jeder Formgebrauch einen unmarked state erzeugt«. 15 Dies sprengt einen zunehmend auf semantische Fixationen festgelegten Begriff, der sich als Moment des Trennenden zwischen die einzelnen Kulturen schiebt, diese auseinandertreibt und in Kampfstellung bringt. Zu einer anderen Grundhaltung prädisponiert hingegen die formlogische Bestimmung, weshalb für die folgenden Überlegungen hier ein Schlüsselsatz vermutet werden kann, dem zugetraut wird, für globalisierungstaugliche Ethiken Hinweise zu liefern. Denn nicht überall in der Welt wird Religion als ausdifferenziertes Funktionssystem begriffen; im Gegenteil überwiegen außerhalb des Globalen Nordens Haltungen, in denen ethische, rituelle, pragmatisch-rationale Handlungsmotivationen und Legitimationsformen ineinander übergehen. Selbige als vormodern abzuwerten und somit unter einen moralisch-politischen Vorbehalt zu stellen, setzt auf eine falsche Fährte, weil sie das Fortleben immer gleicher Formlogik im säkularen Text nicht erkennen lässt. Eine informationstechnisch vernetzte Welt bedarf infolgedessen ethischer Reflexionstheorien, die nicht nur säkulare, sondern auch religiöse Grundhaltungen ernst nehmen lassen. Denn auch säkulare Deutungsmuster gleiten formlogisch gesehen ins Religiöse, sobald scheinbar Primärevidentes enttabuisiert wird. Medientheoretisch betrachtet, sind Konfessionsspaltung und daraus erwachsene Ausdifferenzierung eines eigenen gesellschaftlichen Funktionsbereichs eine Lösung, die mit dem Kritiküberschuss der Buchdruckgesellschaft umzugehen erlaubte. Indem sich Parteiungen, Ingroups bildeten, die Das Kriterium des Thematisierens findet sich ähnlich bei Friedrich Kambartel (1998), der die Religion als Kultur des Verhaltens zum Unverfügbaren bezeichnet. Das bloß Implizierte umfasst hingegen Religiöses und Säkulares. Das Säkulare setzt an die Stelle des Thematisierens das Leugnen von Unverfügbarkeit.

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gegen andere polemisieren ließen und nach innen meinungsgenossenschaftlichen Schulterschluss möglich machten, ließ sich die Illusion von Friede und Gemeinschaft aufrechterhalten. Ein neues Medium kann freilich nicht als Ursache für bestimmte Entwicklungen gelten, weil ein und dieselbe Erfindung in anderen Kulturen durchaus anders gehandhabt wird. In der Systemtheorie wird im Anschluss an Luhmann das Problem nicht in erster Linie darin gesehen, dass mit diesem durch die Druckerpresse hervorgerufenen evolutionären Sprung breiter informiert werden konnte und somit eine kritisch denkende Bevölkerung allem Tradierten und Selbstverständlichen gefährlich werden musste. Noch wichtiger scheint zu sein, dass die selektive und subjektive, perspektivengebundene Lektüre einen Streit über die Wahrheit entbrennen ließ, der sich in Deutschland bis zur Konfessionsspaltung und zum überregionalen Religionskrieg gesteigert hat. 16 Die Frage stellt sich nun jedoch, wie weit die soziologische Reflexionslinie eines Umgangs mit medienspezifischen Sinnüberschüssen auch als Heuristik einer Ethiktheorie taugt, die nicht nur die neuen Technologien Künstlicher Intelligenz, sondern auch die globale kommunikative Netzstruktur berücksichtigen lässt. Denn hier geht es nicht nur um die gesellschaftlich relevante Frage, wie Intransparenz – im Falle der Moderne das kritisch-unberechenbare Individuum und im Falle der nächsten Gesellschaft die Unberechenbarkeit künstlich intelligenter Systeme – kontrolliert werde könne. Vielmehr spielt bereits die vorausliegende Frage eine Rolle, wie mit dem Unmarkierten umgegangen werden soll, anders gesagt, wie das Faktum eines mit jedem unterscheidenden Bezeichnen eingehandelten blinden Flecks verkraftet wird.

Markierungen des Unmarkierten Da es durchaus nichts Beliebiges ist, das im unmarkierten Bereich zurückgelassen wird, sondern Beobachter und Welt, sind in dem luhmannschen ›Schlüsselsatz‹, die beiden menschheitsgeschichtlich wichtigsten Zäsuren angesprochen. So wurde oben im einleitenden Kapitel auf die formlogische Bedeutung der aus Grabbeilagen erschlossenen Generell arbeiten Verbreitungsmedien nach Luhmann (1997, 312) parallel an der Delegitimierung der durch sie ermöglichten Gesellschaftsstruktur.

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Emanation des Differenzerlebens im Paläolithikum hingewiesen. 17 Das in Adorationsgesten zum Ausdruck gebrachte Erschrecken gilt den Überraschungen und Unwägbarkeiten der begegnenden Welt. Was erst sehr viel später im Neolithikum als Erschrecken verarbeitet wird, ist der Beobachter qua Mensch, der sich mit feindseligen Absichten gegen andere organisiert. Großflächige Abbildungen von Kampfszenen auf Felswänden gelten als Zeugnis. Dies ›Zurücklassen‹ von Beobachter und Welt im blinden Fleck der Unterscheidungsoperation lässt sich offensichtlich durch historische Hinweise veranschaulichen. Dieser Begriff des ›Veranschaulichens‹ ist mit Bedacht gewählt. Überreste, die auf eine Geistesverfassung und auf rituell-kultische Verarbeitungsweisen hindeuten, können immer nur den methodischen Rang eines plausiblen Narrativ in Anspruch nehmen. In der mathematischen Formsprache Spencer Browns ist von Erinnerung im imaginären Raum der Form einer oszillierenden Unterscheidung die Rede, wenn es um dies basale Differenzerleben geht. 18 Form tritt hier als Zweiseitenform zweier Differenzen in Erscheinung, nämlich der Differenz Beobachter/Welt und der Differenz Beobachter/Mensch. Im Ritus wird das in jeder Unterscheidung Ausgeschlossene erlebbar gemacht und damit für einen Moment integriert. Mit demselben feierlichen Akt realisiert der Mensch sich selbst als Beobachter des Unbeobachtbaren. Noch nicht die Modalitäten des Oszillierens von Beobachter und Welt in der ekstatischen Entrückung und ernüchternden Rückkehr ins begrenzte Diesseits macht Gesellschaft als Gesellschaft zum Problem. Erst die zweite, die Beobachter/Mensch-Differenz begründet Soziologie im weitesten Sinne. Bezogen auf philosophische und ethische Fragestellungen scheint hingegen bereits die erste menschheitsgeschichtliche Zäsur bedeutsam. Denn es bedarf jenes imaginären Raums, der den Beobachter zwingt, sich selbst gegenüber dem zurückzunehmen, was er beobachtet. Der Mensch erfährt sich gleichsam in dieser Phase nicht als potentiell mächtiger und somit wechselseitig gefährlicher Kontrolleur, sondern als staunender Beobachter. Das zweite, das neolithische Differenzerleben, rät tendenziell davon Die Übergänge finden sich an der Schwelle von der Altsteinzeit zur Jungsteinzeit, siehe dazu Müller-Karpe (1974). Auch für spätere Zeiten sind freilich »Gräber Spiegel des Lebens«. Zum Totenbrauch der Kelten und Römer siehe die Beiträge in Alfred Haffner (1989). 18 Zum Verweis auf Spencer-Brown siehe Baecker (2018, 49), der technopoetische Methoden des Umgangs mit Medienkatastrophen beschreibt. 17

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ab, sich als Beobachter gegenüber dem zurückzunehmen, was beobachtet wird. Gegenüber dem potentiell oder aktuell gefährlichen Menschen scheinen sehr viel eher Selbstbehauptung, Organisation und Bewaffnung ratsam. Ethik ist insofern von Beginn an im Kontrafaktischen gegründet, der gegenintuitiven Tendenz einer Rückbesinnung auf formlogische Primärerfahrungen eines Beobachters, der sich in Differenz zur Welt zu begreifen lernt. Um ein Bewusstsein der Form geht es allemal, wenn die selbstschädigenden Effekte der Sekundärerfahrung Beobachter/Mensch eingegrenzt werden sollen. Ethik kann deshalb nicht unmittelbar auf Moral bezogen sein. Denn es gilt die Unterscheidung von guten und schlechten, von friedlichen und unfriedlichen Menschen angesichts der Wechselseitigkeit negativer Zuschreibungen in die Schranken zu weisen. Allein wie könnte dies sinnvoll möglich sein, wenn jeder Akt der Vorleistung, der Interdependenzunterbrechung wechselseitiger Unterstellungen, wenn jedes Abstandnehmen vom Worst-case-Denken selbstmörderische Folgen nach sich ziehen könnte? Ethik gründet insofern nicht in Modalitäten moralischen Unterscheidens, Prinzipien eines Sollens, die für denjenigen zur Gefahr werden könnte, der Normen befolgt. Platon, der circa siebentausend Jahre nach der neolithischen Zäsur die Form zu ermitteln sucht, die dem Guten gemäß sein könnte, denkt folglich nicht in moralischen Kategorien. Als ungeschriebene Lehre gründet Ethik sehr viel eher in der Anamnesis jeder primären Formerfahrung, die den Beobachter zwingt, sich selbst gegenüber der beseelten Welt zurückzunehmen. 19 Denn bedenkt man den im alten Griechenland geläufigen Sinn des Begriffs der Seele als Prinzip der Bewegungen, dann handelt es sich bei dieser erinnerten primären Differenzerfahrung um eine Begegnung mit dem Phänomen reflexiver Relationierung, die im Prinzip bodenlos ist. Die ›Erinnerung im imaginären Raum der Form

Die Zäsur wurde stets einer Katastrophe zugerechnet. Um das nach der Niederlage im Peloponnesischen Krieg wiedererstarkte Athen vor neuen Expansionsbestrebungen zu warnen, erzählt Platon im Dialog von Timaios und Kritias einen Mythos von Atlanta, der das Schicksal der vom Meer verschlungenen, ihrem Expansionsdrang zum Opfer gefallenen, grausamen, habsüchtigen und gewalttätigen Seemacht vor Augen führt. Der historische Hintergrund ist umstritten (vgl. Nesselrath 2002; Görnemanns 2000).

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oszillierender Unterscheidungen‹, die Spencer-Brown als formlogisch primäreres Differenzerleben nennt, findet sich bei Platon – in den Dialogen vermerkt – in der Struktur der Akademiesitzungen: Jede Versammlung beginnt mit einer Anrufung der Götter als inszenierte Erinnerung der primären, in Gesten der Gottesverehrung zum Ausdruck gebrachten Differenzerfahrung. In dieser Grundhaltung gemiedener Hybris sollen alle Einzelfragen behandelt werden. Wie gefährlich dem Menschen in konsolidierten, institutionell verfassten Gesellschaften eine solcherart zurückgenommene Reflexion werden kann, hat Platon im Schicksal des Sokrates vor Augen. Obgleich die olympischen Götter nicht anzweifelnd, wurde dessen radikale Fragetechnik doch als Abrücken vom offiziellen Kult und damit als Kritik am Prinzip des griechischen Gottesbildes interpretiert. Das ist logisch betrachtet plausibel, da politische Macht dort bedroht zu sein scheint, wo der blinde Fleck des Formgebrauchs thematisiert wird. Man könnte sagen: Vom postneolithischen Standpunkt aus betrachtet ist die Erinnerung an den paläolithischen Standpunkt aufrührerisch. Wenn man zentrale Epochen und Zäsuren der Menschheitsentwicklung nur an einer Form qua Leitunterscheidung und nicht an Erzählungen festmacht, dann schließt die Rede von einem paläolithischen Standpunkt nicht weitergehende biblische Berichte von paradiesischen Urzuständen ein, ohne solche Schilderungen schon als bloßes Narrativ entwerten zu müssen. Aber die Zäsur der bildsprachlich als Vertreibung aus dem Paradies tradierten Differenz tritt jetzt schärfer hervor. Denn für die Form Beobachter/Mensch bedarf es eines anderen imaginären Raums, weil sich hier ein einziges Gattungswesen moralisch aufspaltet in ein gutes und schlechtes, ein freundliches und ein feindliches. Was imaginiert werden muss, ist ein unterschiedlich konnotiertes Abstraktum, ein Antlitz als schönes und als schreckliches. Dies ist die Geburtsstunde der Gottesbilder, die ebenso wie die Menschen gegeneinander mobilisiert werden können. 20 Von einer sachlich-logischen Funktion primärer Differenzerfahrung, wie sie in Votivbeigaben an Gesten der Gottesverehrung dargestellt sind, kommt es zur sozial-moralischen Funktion einer In diesem Sinne lässt sich von »Gott« als gesellschaftlicher »Einmalerfindung« »in welcher Gestalt, im Singular oder Plural, zornig oder barmherzig, sorgend und tröstend oder gleichgültig, auch immer« zur Lösung einer Gesellschaft sprechen, die sich selbst ein Problem ist. (Baecker 2018, 145).

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sekundären Differenzerfahrung, die in der Darstellung von Alltagsszenen das idealtypisch Schöne und das Schreckliche inszenieren. Um Gottesbildern auch die sachlich-logische Funktion und mithin einen Wahrheitsanspruch zuteilen zu können, musste der Polytheismus von einem Monotheismus abgelöst werden, der fremde Gottesbilder als falsche verwerfen und verfolgen ließ. 21 Bereits die Frage, ob Gott als Einer oder Viele zu verehren ist, bedeutet einen formlogischen Schnitt. Im Zeichen der primären Differenzerfahrung Beobachter/Welt ist diese Frage irrelevant, da die Komplexität der begegnenden Welt das Eine und Viele zugleich ist. Im Rahmen der zweiten Differenzerfahrung Beobachter/Mensch wird der Ausschlusseffekt des Vielen und das Insistieren auf dem Gottesbild als dem einen Gott jedoch ganz irdischer Herrschaftsabsichten verdächtigt. Was sich hier in diesem Schritt vom bloßen Gottesbild zum Gottesglauben vollzieht, ist nicht nur deshalb von großer Bedeutung für das ethische und insbesondere das friedensethische Denken, weil jetzt eine bestimmte Vorstellung vom Guten und vom Bösen ins Glaubenssystem integriert, mit einem Herrschaftsauftrag versehen und mit einem Wahrheitsanspruch ausgestattet, zur Zwangsbekehrung motiviert. Als ein Denkstil, der bis heute das soziokulturelle Bewusstsein prägt, konnte es durch die radikale Entkoppelung der Modalitäten der Verehrung und der Verbildlichung von bestimmten, raumzeitlich gebundenen, rituellen Praktiken kommen. Wie ist dieser Herrschaftsverdacht möglich, da sich der Glaube im Gegensatz zum rituellen Vollzug einer verehrenden Haltung und zum anschaulichen Bild doch zunächst vom hier und jetzt, mithin von sachlicher und sozialer Verortung löst und ganz im Zeitlich-AbstraktJenseitigen verortet? Um diesen Widerspruch zu verstehen, muss das monotheistische Glaubensnarrativ im Ursprungsmotiv der MosesGestalt als zugleich weltlicher und geistlicher Führer des Auszugs der versklavten Israeliten aus Ägypten erwähnt werden und zwar in seiner Funktion eines jüdisch-christlich-moslemischen Referenten göttlicher und menschlicher Gesetze.

Dieser z. Z. des großägyptischen Reiches unter semitischen Einwanderern entstehende Monotheismus geht vermutlich auf den Monotheismus des ägyptischen Pharao Echnaton zurück, der den Kultus auf die Verehrung des Sonnengottes Amun Re beschränkte, was seinerzeit bereits den Verdacht der Alleinherrschaft auf sich gelenkt hatte. Für das Kämpferische der biblischen Variante entscheidend ist nach Jan Assmann (2015, 106–119) jedoch ein »Monotheismus der Treue«.

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Zwar abstrahiert die im Glauben zentrierte Religion von dieser Welt, aber zugleich radikalisiert sie den Weltbezug, indem sie die hier und jetzt vorgefundene Welt negiert. Der Bau einer anderen, besseren Welt gerät als Auftrag gottesgläubiger Praxis in Konflikt mit Verhältnissen, in denen sich Andere eingerichtet haben. Als Befreiungsgedanke und Bruch mit einer schlechten Vergangenheit konnte sich das Glaubensnarrativ solange selbst der positiven Seite der moralischen Unterscheidung zurechnen, als Sklaverei und Knechtschaft soziokulturell vorgesehen und Institutionalisiert war. Denn hier geriet die gesellschaftsstrukturelle Praxis in Widerspruch zum Gleichheitsgebot der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Mit der formellen Überwindung von Feudalismus und Sklaverei als gesellschaftlich akzeptierte Institutionen, verliert der Glaubensimperativ der Negation des Negativen seine klar umrissene innerweltliche Zielrichtung und diffundiert ins Uferlose der Anklage schlechter Verhältnisse. Dies ist der Punkt, an dem auf okzidentaler Seite Glaubens- und Revolutionsparadigma, auf orientalischer Seite Glaubens- und dschihadistisches Paradigma verschmelzen. Für die ethische Diskussion stehen bezüglich dieser dritten Religionsform des Gottesglaubens zwei Fragen im Zentrum: Die eine bezieht sich auf immanente Neigungen zur Gewalt, die andere bezieht sich auf einen Hang zur säkularen Umformulierung von Glaubensimperativen. Beide Aspekte sind im Hinblick auf die Suche nach den Kriterien von eminenter Bedeutung, die in den Ethikkommissionen Wertentscheidung in allen Bereichen rechtfertigen. Das mag überraschen, wird aber schnell einsichtig, wenn man bedenkt, dass sich die dominierenden utilitaristischen und deontologischen Ausrichtungen dem Bewusstsein einer vom Beobachter unabhängigen Moral verdanken. Sobald der latente Selbst- (Beobachter) und Weltbezug (Beobachtetes) thematisch wird, gewinnt die Kommunikation religiöse Implikationen. Und sie tut dies gewissermaßen bei allen brisanten Themen. So beginnt eine digitalisierte Medizin den Begriff der Gesundheit auszuhöhlen, indem sie den eigenen Körper als Kontinuum potentiell-anlagenbedingter und aktuell-sensorerfasster Krankheit wahrzunehmen zwingt. Dies affiziert den Begriff leibseelischer Integrität, dessen Bewahrung im Menschenrechtskatalog an erster Stelle steht. Diese zu sichern und wiederherstellen gilt der Gesellschaft als legitimer Grund für zivil-militärische Interventionen. In religiöse Fragen greifen utilitaristische Bewertungsmaßstäbe aus, die einen hypostasierten allgemeinen, jedoch empirisch nicht 209 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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nachweisbaren Nutzen unterstellen. Dieser überträgt das religiöse Gleichheitsprinzip auf gleiche Nutzenerwägungen und muss im abweichenden Fall böse Absichten unterstellen, um nicht selbstwidersprüchlich zu werden. Dies Böse mit allen verfügbaren Mitteln zu bekämpfen, gehört zum ethischen Imperativ und bedarf keiner weiteren Begründung. Im zweiten Fall sollensethischer Ausrichtung zeigt sich die Moralität faktischer Moralvorstellungen an allgemeinverbindlichen Normen, die sich in derselben Weise einer Übertragung des Gleichheitsprinzips menschlicher Gottesebenbildlichkeit auf gleichen Vernunftgebrauch im Akt der Normbegründung verdanken. 22 Empirisch betrachtet sind Vorstellungen von nützlichen, von vernünftigen und rationalen Entscheidungen nicht einheitlich oder auch nur vielfältig; sie sind allzu häufig kontrovers und widersprüchlich. In einer an Verbreitungsmedien orientierten Epocheneinteilung mag dies, wie oben erwähnt, als Kritiküberschuss des Buchdrucks im Zenit der Konfliktträchtigkeit beschrieben werden. Der Ursprung liegt jedoch nicht im verbreitungsmedialen, auch nicht im kommunikationsmedialen Bereich. Er reicht vielmehr bis in die Anfänge eines sich herausbildenden Differenzbewusstseins von Medium (Beobachter) und Form (Beobachtetes). Relevant für ethische Fragestellungen ist zunächst die Form Welt (Eines/Anderes), dann die Form Mensch (Freundlich/Feindlich) und schließlich die Form Moral (Gut/Böse). Wie kommt es zu dieser positiven Bewertung von Kritik, Streit und Konflikt im Glaubensnarrativ? Der Glaube realisiert sich in den Augen der um ca. 1700 vor Christus als Fremdarbeiter ins reiche Ägypten massenhaft eingewanderten Israeliten mehr und mehr als ein idealtypisches Gegenprojekt zur Herrscherfigur des Pharaos, der in seiner Person Richter, Priester und Ordnungsmacht vereinigte. Während das Prinzip der Verehrung nur im sachlich-logischen Feld der Beschäftigung mit dem Differenzerleben als solchem befasst ist und das Prinzip der Verbildlichung den sozio-moralischen Bereich des menschlichen Zusammenlebens noch mit thematisiert, kommt es erst im Prinzip des Glaubens zu expansiven, zugleich universal gültigen und spezifisch gegen andere Formen des Glaubens gerichtete Bestrebungen. Das ist möglich, weil sich der Glaube vom Ort und von der besonderen historisch bedingten Situation unabhängig meint und Die von Jürgen Habermas rezipierte Gerechtigkeitstheorie von John Rawls (1979) ist in einem engen Zusammenhang von Sünde, Glaube und Religion verankert (Rawls 2010).

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folglich nicht im Hier und Jetzt verankert ist, sondern ungebunden und zeitenthoben auftritt.

Zur Säkularisierungstendenz des Glaubens Der Gottesbegriff wurde in unseren letzten Formulierungen bewusst weggelassen, um deutlich zu machen, worin das ethisch relevante Moment als ein formlogisches zu suchen ist. Ethik muss primäres (Beobachter/Welt) und sekundäres (Beobachter/Mensch) Differenzerleben gegenwärtig halten und zugleich kritisch Bezug nehmen auf das dritte Differenzerleben (Beobachter/Moral). Kritisch Bezug nehmen bedeutet, sich selbst in Differenz zum Glauben zu begründen. Aus der für den Gläubigen primärevidenten Beobachtung von Gut und Böse – nur so funktioniert Integration durch Abgrenzung – wird ein selbstkritisches Bewusstsein. 23 Dieses vergegenwärtigt, dass die zugrunde gelegte moralische Unterscheidung auf einen Beobachter zurückgeht, der mit anderen Beobachtern konfrontiert ist, die auf eine andere Weise unterscheiden. Die Bezugnahme auf Gott und somit das religiöse Bedeutungsspektrum ist gerade in Verbindung mit den drei typologisch ganz unterschiedlichen Fassungen der Verehrung, der Verbildlichung und des Glaubens immer dort eingespielt, wo die Tatsache als Problem empfunden und breitenwirksam thematisiert wird, dass jeder Formgebrauch einen blinden Fleck enthält und dies unvermeidlich. Gott steht für den blinden Fleck der zirkulären Konstitution, für Selbstreferenz. 24 Diese Repräsentanz kann sich erst im raum-zeit-enthobenen Glauben ganz von der Selbstreferenzproblematik und damit vom religiösen Bezug lösen und zwar aus dem Grund, weil der imaginäre Raum an eine Form erinnert, die jede sichtbare Bindung aufgehoben hat, um sich in der Ungebundenheit und mithin der Loslösung von allen historisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten nur noch aus der In diesem Sinne wird die Suche des Euroislam nach einer islamischen Identität vom orthodoxen Islam als Banalisierung der Religion begriffen, als bloß noch an Abgrenzung interessierter, bloßer Konfession. Siehe dazu, insbes. zu Frankreich, den in Marokko geborenen Autor Bernard Godard (2015). 24 Der Begriff der Selbstreferenz bietet sich an, falls man die 24 prominentesten Gottes-Definitionen des zwischen dem 12. und dem 18. Jh. immer wieder kopierten Liber (Buch der 24 Philosophen) überhaupt auf einen Begriff bringen will. Kurt Flasch (2011) hat das Buch erstmals übersetzt und kommentiert. 23

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einzigen Bindung zu Gott zu definieren. Indem der Glaube im Gegensatz zu Verehrung und Verbildlichung meint, auf jede Darstellung – im schönen, stilistisch ausgefeilten Kultus und im schönen, prachtvoll geschmückten Priesterkönig – verzichten zu können, wird möglich, was als Säkularisierung in die Geschichte eingegangen ist. Der raumzeitlich ungebundene Glaube kann sich, formlogisch betrachtet, mühelos vom Gottesbezug wieder lösen und auf prinzipiell alles richten. 25 Luhmann (1982; 2000; 1997, 316–396) benutzt für diesen bindungsfrei flottierenden Glauben den Begriff des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums und nennt die für den modernen funktional differenzierten Gesellschaftstypus charakteristischen Medien: Neben dem sich selbst so verstehenden Glauben als spezifischem Medium der Religion, stehen Macht als das Medium der Politik, Geld als Medium der Wirtschaft, Recht als Medium des Rechtssystems, Wahrheit als Medium der Wissenschaft und Bildung als Medium des Erziehungssystems. Es gehört zur Funktion dieser Medien, die Annahmemotive für eine unwahrscheinliche Selektion zu steuern, noch bevor Zwangsmaßnahmen nötig werden. Was in Bezug auf den religiösen Glauben evident erscheint, nämlich das Akzeptieren einer Entscheidung (Krankheit, Not, Entbehrung), die Gott, und mithin ein anderer, getroffen hat, wiederholt sich formlogisch bei allen Kommunikationsmedien. Der moderne Mensch glaubt an die friedenstiftende Funktion der monopolisierten Macht, an die unbegrenzte Problemlösefähigkeit des Geldes, an Gerechtigkeit als Ergebnis fortschreitender Verrechtlichung, an den Fortschritt durch Wissensgewinnung und an Selbstverwirklichung durch Bildung.

Gewaltneigung als Formgebrauch Für die ethische Reflexion ist dieser Schritt hin zum Glauben aus dem Grund besonders bedeutsam, weil er es ist, der das Legitimitätsdenken bis heute in seinen wesentlichen, weltgesellschaftlich dominanten Merkmalen bestimmt. Was aber ist das Entscheidende dieser

Nach Sloterdjik (1999, 553) findet der Prozess der Moderne in der Theologie seine Quelle. Kurt Flasch (2011, 112; 29; 63) stützt diese These mit dem Verweis auf zwei (II und XVIII) der insgesamt 24 Gottesdefinitionen des Liber: »Gott ist die unendliche Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgends ist« und »Gott ist die Kugel, die so viele Umfänge wie Punkte hat.«

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generell auf Ideale und idealtypische Funktionssysteme und heute zunehmend auf die Leistungsfähigkeit künstlich intelligenter Maschinen übertragbaren Religionsform? Diese Frage stellt sich insbesondere im Blick auf die Suche nach kulturellen Prädeterminationen für eine intrinsische, dem einzelnen Willen vorausliegende Gewaltneigung. Problematische Züge sieht Jan Assmann (2003) im Monotheismus, ohne denselben schon als Gefahr für den Frieden bezeichnen zu wollen. Die hier gemeinten formlogischen Momente, die zur Legitimierung von Gewalt im Namen Gottes verführen, lassen sich gerade in der Beliebigkeit der Applikation beschreiben. Der Monotheismus unterscheidet zwischen Gläubigen und Ungläubigen und charakterisiert die Beziehung als eine solche des Kampfes. 26 Dieser wird freilich zunächst, oder auch ausschließlich, als Kampf gegen eigene zu Gewalt und Unfrieden neigende Impulse verstanden. In diesem Punkt findet das jüdisch-christlich-moslemische Ideal der Askese, der Selbstzügelung und des Verzichts als Methoden der Selbstbezwingung, seinen Ursprung in den platonischaristotelischen Texten. Das Glaubensnarrativ lässt jedoch darüber hinaus zwischen wahren und falschen Göttern unterscheiden und fordert dazu auf, die falschen zu bekämpfen. Aber nur im Falle der Selbstadressierung verstrickt sich das Ideal nicht in Widersprüche. Diese Logik geht aus der Beschreibung des Senders der mosaischen Sinai-Offenbarung hervor, nämlich das Ich bin der ich bin (Jahwe) gleichsam als Erinnerung an die primäre Differenzerfahrung, die den Beobachter einer selbstreproduzierend opaken Welt gegenübertreten lässt. Diese Erfahrung ontologischer Selbstreferenz, die Gottesverehrung nahelegt, schließt die verehrende Vergöttlichung von Menschen aus. Dies ist der Vorwurf, mit dem das Exiljudentum nicht nur den altorientalischen und griechisch-römischen Kultpraktiken entgegentritt, sondern auch Tendenzen in der eigenen Geschichte. 27 Zur Bedeutung für die drei Religionen siehe den evangelischen Theologen Graf (2006), der die Konfliktneigung nicht dem Monotheismus, sondern der Auslegungsvielfalt religiöser Begriffe zuschreibt. Die vom einen Gott geoffenbarten mosaischen Gesetzestafeln gelten vielmehr als Friedensgarant. Dagegen sprechen Normkollisionen, die Legalität und Legitimität auseinandertreten lassen. Siehe dazu Brücher (2020). 27 Für einen erinnerungskulturellen Primat der Selbstbezichtigung spricht die Tatsache, dass die mit den späteren Israeliten in Verbindung gebrachten semitischen Einwanderer der Hyksos (»Herrscher der Fremdländer«) im 17. und 16. Jh. v. Chr. ca. 110 Jahre über Oberägypten herrschten, bis sie von den Ägyptern vertrieben wurden (vgl. Assmann 2019, 56–71). 26

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Um Gut und Böse unterscheiden und folglich in der Welt verorten zu können, müssen sich Menschen selbst göttliche Eigenschaften zusprechen. Das transhumane (göttliche) Moment der Gesetzestafel rührt folglich allein aus dem überlieferten und somit nicht mehr zurechenbaren Ursprung. Zur Sache des konkreten Menschen wird es, mit den Widersprüchen zurechtzukommen, die in der situationsangemessenen Normanwendung auftreten und die es ihm unmöglich machen, moralisch zu unterscheiden, ohne unmoralisch zu werden und das bedeutet, ohne Menschen zu schaden. Wie soll sich die philosophische Ethik auf einem Feld positionieren, das gewissermaßen alle Entscheidungen über unentscheidbare moralische Fragen in einen weltgesellschaftlichen Horizont miteinander kommunizierender Kulturen rückt, von denen eine jede Kultur vorwiegend das von Anderen zugefügte Unrecht, und weniger die eigenen Grausamkeiten in der kollektiven Erinnerung aufbewahrt? 28 Diesem Religionstypus den Kampf anzusagen und mithin jenen seit der Aufklärung propagierten Konflikt fortzusetzen, hat bisher das Problem nicht gelöst, sondern bloß petrifiziert. Vor diesem Hintergrund müsste eine Ethik, die nicht selbst zur treibenden gewaltlegitimierenden Kraft in einem bereits so diagnostizierten Weltkonfliktsystem (Krysmanski 1993, 110–145) werden will, formlogisch weiter ausholen und das bedeutet, sich nicht nur im säkular-religiösen Bedeutungsspektrum von Glaubenswahrheiten positionieren. In Anlehnung an die Wendung Spencer-Browns kann man auch sagen: sie sollte nicht nur die ›Erinnerung im imaginären Raum‹ der Form Beobachter/Moral wachhalten, sondern auch die Form Beobachter/Mensch und die Form Beobachter/Welt einbeziehen. Dies verlangt ein funktionaler Blick auf die kulturellen Aspekte von Wertentscheidungen. Denn Religionen ebenso wie Ethiken ringen immer wieder neu um eine angemessen überzeugende Form. Diese Einsicht lässt davor zurückscheuen, der Religion, dem Monotheismus oder heute dem Islam genuine Gewaltneigung zu unterstellen. Sieht man in diesem Ringen und nicht in temporären Definitionen wesentliche Momente des institutionalisierten Differenzerlebens, so lässt

Der erinnerungskulturelle selbstbezichtigende Umgang Deutschlands mit den Nazi-Verbrechen folgt dieser Logik im Rahmen des modernen Kulturverständnisses, das Kultiviertheit im Bruch mit einer schlechten Vergangenheit, als »Kultur der Zeit« (Baecker 2003, 161–180) sucht, die den Nachgeborenen eine moralisch privilegierte Stellung verschafft.

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dies innerhalb monotheistischer Offenbarungsreligionen die Stellen deutlicher hervortreten, an denen ein Verdacht genuiner Gewaltneigung zerstreut werden muss. Der Monotheismus ist auch ein Narrativ, mit dessen Hilfe verhindert werden soll, dass das raumzeitenthobene Abstraktum der Selbstreferenz allzu schnell in konkrete visualisierbare Vorzugspositionen übersetzt wird. Dieser Punkt scheint zentral, weil sich im Übergang von der primären paläolithischen zur sekundären neolithischen Differenzerfahrung gewissermaßen die gesamte Gewalterfahrung der Menschheit bündelt – im Judentum, Christentum und Islam als Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies erzählt. Die Sprache ist aus diesem Grund in Bibel und Koran an dieser Stelle besonders martialisch. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es immer Gott (das ontologische Prinzip der Selbstreferenz) selbst ist, der straft und der im Falle der verletzten Bündnistreue – dem Rückfall in die Vergöttlichung von Menschen und Dingen – vernichtend in Aktion tritt. 29 Im Namen Gottes Gewalt auszuüben, fällt unter den zu strafenden Fall der Selbstvergöttlichung. Lässt man die Menschheitsgeschichte nicht erst mit dem biblischen Sündenfall und mithin dem Neolithikum beginnen – womit sich die Gesellschaft dem Erzählmuster des auf Verbildlichung und Glauben gegründeten Religionsverständnisses verschreibt, dann zeigen sich drei form-logische Differenzen. Diese werden in allen Kulturen immer wieder aufs Neue ins Gedächtnis gerufen. Was nach der neolithischen als Katastrophe beschriebenen Zäsur in Schemen der Erinnerung auftaucht, ist die initiale Form Beobachter/Welt, mit der gleichsam die menschliche Geschichte ihren für uns heute erkennbaren Anfang macht. Nachdem die Gewalt als organisierte und somit von Menschen verschuldete in das Geschichtsbild Eingang gefunden hat, wird der Mensch als Sprengkraft der begegnenden Welt zum Beobachteten. Die Frage, wie und wo das Verehrungswürdige in den konkreten, den Menschen umgebenden, Dingen zu erkennen ist, wird mit einem anschaulichen Gottesbild beantwortet. Das kann zunächst nicht der Mensch als Gattungswesen sein, der sich im Gegensatz zur Tierwelt Unmissverständlicher ist die Botschaft in der biblischen Erzählung von der Sintflut, die als Zeugnis urgeschichtlicher Verankerung ungeachtet des polytheistischen Charakters auf den mesopotamischen Mythos des Atrachasis-Epos aus dem zweiten vorchristlichen Jahrtausends zurückgreift. Vgl. dazu J. Ch. Gertz (2007). 29

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auch gegen die Artartgenossen wendet. Neben Tieren werden auch Objekte zu Symbolträgern des Vollkommenen, Absoluten. So ist im alten Ägypten Ma’at als Gerechtigkeit, Wahrheit, Weltordnung und menschliche Ordnung im Thron des Pharaos visualisiert (Assmann 2006). Dieser tritt in den Sinnkontext des zugleich Guten, Wahren und Schön-wohlgeordneten in dem Augenblick, in dem er hier Platz nimmt. Person, Amt und Ort verschmelzen zu einer symbolischen Einheit und geben der Idee nach dem Pharao, in Erinnerung an all die vor ihm gefällten Urteile, Kraft und Phantasie, gerechte Problemlösungen zu finden. Wir haben hier geradezu ein Paradebeispiel für das generische Prinzip vor uns, das Spencer-Brown als Oszillation und Erinnerung im imaginären Raum der Form vor Augen hat: Formlogisch ist folgende Aussage enthalten: Soll der unmarkierte Bereich als unmarked state und mithin als nicht Markierbares, als Transzendenz oder Jenseits festgehalten werden, so bedarf es einer kultischen Form, die für alle sichtbar ist und die in rituellen Praktiken gleichsam in Praxis übersetzbar ist. Fehlt eine solche Kult-Form und der imaginäre Raum der Unterscheidung von markiertem und unmarkierten Bereich wird mit Chiffren und Metaphern bloß sprachlich avisiert, so lässt sich nicht verhindern, dass das Unmarkierte als bloßer unmarked space interpretiert wird, als noch Unbekanntes, aber im Prinzip Erkennbares. So changiert der religiöse Sinn zwischen dem unmarked state, dem Transzendenten und dem unmarked space, dem moralisch auszudeutenden und folglich in Wissen zu überführenden ›Willen Gottes‹. Dieser ist freilich nur einzelnen besonders erleuchteten Menschen bekannt und verpflichtet alle anderen zum Gehorsam. Darin liegt die Versuchung zur sozial-moralischen Instrumentalisierung. Der mit einem Bilderverbot belegte Gottesbezug des Monotheismus drängt gleichsam zur bildsprachlichen Übersetzung, zu einer in bestimmter Weise auszulegenden biblischen oder im Koran vermerkten Aussage. Der Streit der Interpreten transformiert sich in rivalisierende Gottesbilder, die Gläubige gegen Ungläubige separieren. Auf diese Weise hat die religiöse Sprache nach Jan Assmann (2006) ihre Übersetzbarkeit in die Gottesbilder der anderen Völker verloren und damit einen weiteren Konfliktstoff geschaffen. Recht besehen geht es bei diesen Konflikten jedoch immer wieder um die angemessene Form des Differenzerlebens und dies kann nur eine Form sein, die eine jede der kulturell in unterschiedlichen Epochen dominant gewordenen Form-Logik bedenkt. Dies ist not216 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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wendig, weil jede einzelne Form ein bestimmtes Problemfeld bearbeitet: die Konfrontation mit dem Problem der Komplexität (Beobacher/ Welt), mit dem Problem der Gewalt (Beobacher/Mensch) und mit dem Problem der Kritik (Beobacher/Moral). Aus diesem Grund erschöpft sich der Aufgabenbereich einer reflexionstheoretischen Ethik, die den Ethikkommissionen Anhaltspunkte geben könnte, nicht darin, vor Moral zu warnen und das bedeutet, auf die konfliktverschärfenden Züge einer wertenden Kommunikation hinzuweisen. Da das immanent Polemogene zum Glaubensnarrativ gehört und deshalb gegenteilige Positionen als konfliktfeindlich oder konfliktscheu verunglimpft werden, bedarf die Ethik der tiefergelegten Verankerung in einer Form-Logik, mit deren Hilfe die Kluft nicht nur zwischen den Religionen, sondern auch zwischen dem säkularen und dem religiösen Wertungsgefüge überbrückt werden kann. Nur in dieser Gestalt könnten Kommissionen ethische Richtlinien für die globale zivilmilitärische Technisierung des menschlichen Lebens zur Verfügung stellen. Im Blick auf eine dem Drohnenzeitalter angemessene Ethik gewinnen folglich die genannten historischen Erinnerungsmarken gegenständlicher Überreste oder schriftlicher Zeugnisse nicht das Gewicht eines kausalanamnetischen Beweises. Sie dienen der Veranschaulichung und Unterstützung einer formlogischen Konstellation. Damit ist die Richtung eingeschlagen, in der auch Platon seine Dialoge mit Stützen der Erinnerung versehen hat. Denn die Mythen, mit denen Platon ein dialogisch entfaltetes gedankliches Feld noch einmal am Ende durch ein veranschaulichendes Bild deutlicher zu machen sucht, gilt ihm, weil von Generation zu Generation weitergetragen, als Zeugnis verlorener Weisheit. Es ist gewissermaßen eine Logik, die sich beispielsweise im Mythos vom Totengericht (Platon, Gorgias 523A-525b) bildsprachlich dem Gedächtnis eingeprägt hat, nach der es besser sei, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun. Nicht sozial-moralisch, sondern sachlich-logisch von Vorteil ist diese Präferenz angesichts einer selbstbezüglichen, beseelten Welt, in der alle Operation rekursiv verknüpft ist und folglich den Operator, in welcher Form auch immer, unweigerlich heimsucht. Darstellung, Veranschaulichung, Bildgebung und damit auch das Geschichtsbild, vor dessen Hintergrund sich eine Gegenwart verortet, sind allerdings nicht bloß illustratives Beiwerk. Noch einmal ist an den siebenten Brief von Platon zu erinnern, in dem der Darstellung neben dem Wort, dem Begriff und der Idee eine erkenntnisbedingende 217 https://doi.org/10.5771/9783495823897 .

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Funktion zugesprochen wird. Nur in der Komposition eines differenziellen Ineinander von Erkenntnisstufen lässt sich Klarheit über ein Phänomen gewinnen. Und es ist die vierfach gebrochene Differenz (Wort, Begriff, Darstellung, Idee), in der das in Frage stehende Phänomen nicht als Prototypus, als statistischer Mittelwert oder als Allgemeines in Sicht kommen soll. Gesucht ist die für das Einzelne spezifische Besonderheit. 30 Und da dies der Ort ist, wo das Gute aufzufinden ist, muss auch der Darstellung eine ganz wesentliche Bedeutung zugesprochen werden. Das Geschichtsbild bringt sich als dauerpräsente Folie von Wertentscheidungen durchaus mit einer spezifischen Botschaft zur Geltung, die von den Ethikkommissionen aufgenommen und umgesetzt werden. Neben einem Hauptstrom überlieferungskultureller Weichenstellungen, gibt es zahlreiche Nebengleise erinnerungskultureller Prägung, die subkutan fortwirken. Für die Vielschichtigkeit nebeneinander wirkender Gedächtnisräume kann freilich der historische und kulturwissenschaftliche Blick eher sensibilisieren als die soziologische Konzentration auf Aktualität und semantischen Mainstream. Insbesondere aber sind es unmerkliche Kontinuitäten, die unter der Oberfläche fortwirken und jede Verabschiedungsrhetorik gegenstandslos machen. 31

Wertentscheidungen von Ethikkommissionen Kulturelle Intelligenz ergänzt die heute diskutierte Künstliche Intelligenz, aber auch eine um die kommunikative Kompetenz erweiterte Soziale Intelligenz um eine ethische Komponente. Diese beschränkt sich darauf, ethische Probleme im Blick auf die Weltgesellschaft zu formulieren und unterscheidet sich damit grundlegend vom bevormundenden Anspruch, eine Ethik für die Weltgesellschaft ausarbeiten zu wollen. Während letztere Wertentscheidungen nach den eigenen kulturell-ideell-subjektiven Standards fällt, sucht erstere bloß nach einer Formel, die nicht höhere Norm sein will, sondern Die historische Figur, an der seit dem 5. Jh. v. Chr. dieses Gute idealtypisch aufgezeigt wird, ist die für jeden Einzelfall eine gerechte Lösung ersinnende Rechtsprechung des griechischen Königs Solon; im jüdisch-christlichen biblischen Text entspricht dem das gerechte Urteil König Salomons. 31 Jan Assmann (2015, 289–391) unterscheidet angesichts heterogener und gegenläufiger Überlieferungen zwischen narrativer, historischer und performativer Wahrheit. 30

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bloßer Bezugspunkt von Regelanwendungen, anders gesagt, bloßer Bezugspunkt für das Wechseln von inkommensurablen Kontexturen auf eine Weise, die den Einzelnen nicht unter die Räder kommen lässt. Konkret bedeutet dies, bei allen Wertentscheidungen darauf zu achten, dass die Grenze zwischen dem empirischen (Daten) Menschen und dem realen (konkret Einzelnen) Menschen nicht verwässert wird und folglich das Problem der Komplexität Beachtung findet. Fernerhin sieht sich das soziale Problem der Gewalt nur dort adäquat berücksichtigt, wo Ziele des human enhancement technischer Optimierung, der zivilen (predictive policing) und militärischen (›Humanitäre Intervention‹) Sicherheitsvorsorge vor dem Hintergrund weltkulturell unterschiedlicher Menschen- und Weltbilder nicht als Umsetzung einer Norm missverstanden werden. Denn es handelt sich nur um die programmatische Profilierung einer bestimmten und nicht einer global verbindlichen Präferenzordnung. Schließlich gilt es bei Wertentscheidungen das temporale Problem der Autopoiesis KI-fundierter maschineller Systeme zu bedenken. In ihrem Ressourcenverbrauch scheinen derartige Systeme humane Reminiszenzen – verfassungsrechtlich abgesicherte Würde oder Rechte des Menschen als Menschen – nicht berücksichtigen zu können. Was ethische Positionierungen auf diesem Gebiet stets im Auge behalten müssten, wäre die Machtlosigkeit von Kritik und Moral gegenüber der Autopoiesis maschineller Systeme, sollte der kairos für Weichenstellungen verpasst werden. 32 Aber wie verhält es sich mit der ethischen Bewertung von technischen Systemen, die sich vom menschlichen Willen und Bewusstsein verselbständigen und selbstreproduktiv ganz eigene Optionen entwickeln können? Diese Frage irritiert, denn wir sehen uns hier einem Gegenstand konfrontiert, der im Sinne der Dritten Kritik Kants als ein in die Subjektposition gerücktes Objekt die Grenzen der menschlichen Urteilskraft übersteigt. Dies weckt Zweifel, ob dieser Sachverhalt überhaupt noch in eine Bereichs- im Sinne einer Technikethik fällt, die das Für und Wider spektakulärer KI-Innovationen anhand riesiger Big Data-gestützter Vergleichsrechnungen ermittelt. Plausibler mag angesichts der Radikalität der Fragestellung eher eine Grundlagen- oder Metaethik sein, die über das Faktum Zu den Konsequenzen für die Kriegsführung siehe Lenzen (2018, 211–222). Zur Kriegsführung 4.0 siehe W&F Wissenschaft und Frieden, 4/2018.

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ethischer Kapitulation informiert. Ein Gegenüber, das sich als Selbstreproduzierendes in einem Subjektstatus befindet, aber nicht als Person anzusprechen ist, kann nur gezwungen werden. Ethische KIRichtlinien verwandeln sich auf dieser Grundlage in Fielt Manuals, strategisch-taktische Gefechtsrichtlinien im Science-Fiction-Szenario eines globalen Ausscheidungskampfes zwischen Mensch und Cyborg. Es ist folglich dieses ins säkulare biologistisch-historisch-finalistische Glaubensnarrativ einer technoiden Heilsbotschaft eingewobene Denken, das die KI-Bereichsethik in den größeren Zusammenhang der Differenz-Logik rückt. Für die ethische Reflexion ist bedenkenswert, dass namhafte Pioniere und Theoretiker der künstlichen Intelligenz nicht den Glaubenscharakter bestreiten. Denn gegen die Selbstpositionierung als eine von Religion abgrenzbare Wissenschaft sprechen drei Gesetze der künstlichen Intelligenz, von denen es heißt, sie seien unumstößlich und entsprängen einem fachlichen Konsens. So verweist John Dayson auf drei in Fachkreisen anerkannte Grundsätze: 33 »Das erste, nach dem Kybernetiker W. Ross Ashby als Ashby’s Law benannt, sagt, dass jedes effektive Kontrollsystem so komplex sein muss wie das System, das es kontrolliert. Das zweite Gesetz formulierte der Mathematiker John von Neumann. Das besagt, dass das entscheidende Merkmal eines komplexen Systems seine eigene einfachste Verhaltensbeschreibung ist. Das einfachste vollständige Modell eines Organismus ist der Organismus selbst. Das dritte Gesetz besagt, dass jedes System, das so einfach ist, dass man es versteht, nicht kompliziert genug ist, um intelligent zu handeln. Jedes System, das intelligent handelt, ist deswegen zu kompliziert, um es zu verstehen.« Dieser letzte Satz gebe Raum für die trügerische Hoffnung, künstliche Intelligenz könne sich menschliche Intelligenz nicht restlos untertan machen, oder selbige sogar in ihrer Freiheit widersprechen zu können, zunichtemachen. Diese Hoffnung wird jedoch durch eine Logik enttäuscht, die naturwissenschaftlich-technische Innovation von Beginn an begleitet hat, nämlich die Fähigkeit, etwas herzustellen, das man nicht verstanden hat. Dyson verweist im genannten Beitrag darauf, dass sich ein

Ich stütze mich hier auf den Beitrag von George Dyson »Eine Frage des Glaubens. Der Schritt, dass die Maschinen selbst die Kontrolle übernehmen, vollzieht sich nicht in digitalen Computern, sondern anderswo« im Rahmen des Natur- und Geisteswissenschaften zusammenführenden »Possible Minds«-Projekt, abgedruckt in Süddeutsche Zeitung Nr. 220. 09. 2019, 9.

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Gehirn aufbauen lasse, das funktioniere, ohne dass verstanden sei, wie ein Gehirn funktioniert. Das Könnens-Bewusstsein dringt ins Material und bedarf nicht länger des Menschen. Dessen Selbstbild und Selbstbeschreibung als privilegiertes, vernünftiges, souveränes Subjekt verkehrt sich in ihren Konnotationen wieder ins Gegenteil eines Unterworfenen, eines Untertan, wenn nicht gar eines störenden, verdächtigen, gefährlichen Subjekts. Das Delegieren jeglicher Verantwortung ist somit tiefgreifend. Denn ein eigenständig operierender Code, der auf lokalen Maschinen gespeichert werde und das soziale Netzwerk sich selbst aktualisieren lasse, laufe zwar auf digitalen Computern, aber die analogen Rechenprozesse, die das System ausführt, seien insgesamt viel komplexer als der Code selbst. Die Konklusion ist alarmierend: »Das Modell eines Sozialdiagramms wird zum Sozialdiagramm selbst und verbreitet sich wild über den Campus und dann über den Planeten.« Analog zu Fragen, die sich im Politischen dort stellen, wo nicht verhandelbare Grundprinzipien mit Verfassungsrang – wie die Menschenrechte – suspendiert werden sollen, bedürfen auch technologische Innovationen, die auf die Abolition des Menschen in den Bedingungen seiner Selbstverantwortlichkeit und Fähigkeit zur freien Bindung zielen, darauf bezogene ethische Diskussionen. Detailfragen betreffend wissenschaftlicher Nutzenkalkulationen und diskursiv zu begründeter Normen sind hier fehl am Platz. Denn was zur Disposition steht, ist das Selbst- und Weltverständnis des Menschen. Ethik beginnt sich hier mit dem Glaubensprofil riskanter Technologien zu befassen, zumal dieses thematische Feld in den Bereich der Religion auf eine besondere Weise ausgreift. 34 Erinnerlich involviert jeder Formgebrauch Religion und dies an den Stellen nicht nur implizit, wo der im blinden Fleck der Unterscheidung verschwindende (wissenschaftlich-technische) Beobachter und die verschwindende (wissenschaftlich-technisch veränderte) Welt thematisiert werden. Indem die ethische Diskussion um philosophisch-konzeptionelle Fragen Künstlicher Intelligenz, Form und Formgebrauch mit bedenkt, kann sie die Grenzen ethischer Diskussion als Teil des Problems

Interessant ist, dass warnende Stimmen heute eher aus den Reihen der Pioniere kommen, so z. B. vom Internetvordenker Jaron Lanier, der in einem Interview (»Könnte man das Internet in die Luft jagen?«) in der F.A.Z. vom 12. 12. 2018, Nr. 289, 15) den Wettlauf um Künstliche Intelligenz für quasireligiösen Fanatismus und soziale Netzwerke für eine Sucht hält.

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entfalten. Kommunikation von Risiken kann Gefahren immer nur unter- oder überschätzen (Luhmann 1986). Sie produziert Utopien und Dystopien. Es ist mithin die Ohnmacht des Operationsmodus, die aus der Not heraus, Kommunizieren zu müssen, den Sprung von der Norm zur Form wagen muss. Das impliziert eine eindringliche Reflexion der historisch und kulturell weit ausgreifenden formlogischen Zäsuren, die im Laufe der Menschheitsentwicklung bestimmte Problemfelder in besonderer Weise haben hervortreten lassen. Die experimentelle Bedenkenlosigkeit unserer Zeit lässt sich nur aus der Verabsolutierung der sozio-moralischen zeitenthobenen Glaubensvariante verstehen, die Welt und Mensch und mit ihnen die Probleme der Komplexität und der Gewalt verharmlost. Der Beitrag einer reflexionstheoretischen Ethik könnte folglich darin bestehen, nicht nur an die problematischen Züge der Moral zu erinnern, sondern auch auf deren Komplexität, Kontingenz und Gewalt hinzuweisen.

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